Räume der Reputation: Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. 3515122338, 9783515122337

Dass sich Reputation und Anerkennung in vormodernen Gesellschaften, darunter im spätklassischen Athen, über Kommunikatio

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German Pages 375 [378] Year 2019

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
KAPITEL 1: EINLEITUNG
ERSTER TEIL: DIE RÄUMLICHE DIMENSION
EINLEITUNG: ATHEN LESEN
KAPITEL 2: ROLLE UND WAHRNEHMUNG VON ÖFFENTLICHEN INTERAKTIONSRÄUMEN
2.1 STRASSEN
2.2 AGORA
2.3 BARBIERLÄDEN
2.4 PARFÜMERIEN
2.5 SCHUHMACHEREIEN
2.6 BANKEN
2.7 WALKEREIEN
2.8 WIRTSHÄUSER, GASTHÄUSER UND WEINVERKAUFSSTÄNDE
2.9 SPIELHÄUSER
2.10 FREUDENHÄUSER UND ANDERE VERGNÜGUNGSORTE
2.11 BÄDER
2.12 GYMNASIEN UND PALÄSTREN
2.13 ANDERE SOZIABILITÄTSRÄUME?
ZWISCHENFAZIT
ZWEITER TEIL: DIE SOZIALE DIMENSION
EINLEITUNG: ZUR KOMMUNIKATIVEN SINNBILDUNG
KAPITEL 3: NORMIERUNG DES ÖFFENTLICHEN AUFTRETENS: DER KÖRPER ALS KOMMUNIKATIONSMEDIUM
3.1 GESTIK UND KÖRPERLICHES AUSSEHEN
3.2 GEHWEISE
3.3 SPRECHWEISE
3.4 SONSTIGE VERHALTENSNORMEN
KAPITEL 4: SELBSTINSZENIERUNG IN DER ÖFFENTLICHKEIT: ARTEFAKTE ALS KOMMUNIKATIONSMEDIEN
4.1 KLEIDER
4.2 KLEIDUNGSZUBEHÖR: DER STOCK
4.3 HÄUSER
4.4 GRÄBER
KAPITEL 5: DIE MACHT DER PHEME. ZUR BEDEUTUNG VON REPUTATION UND ANERKENNUNG
SCHLUSSBEMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
INDICES
ORTS- UND PERSONENREGISTER
STELLENREGISTER
ABBILDUNGEN
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Räume der Reputation: Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.
 3515122338, 9783515122337

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Rafał Matuszewski

Räume der Reputation Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.

Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

Historia – Einzelschriften 257

Rafał Matuszewski Räume der Reputation

historia

Zeitschrift für Alte Geschichte | Revue d’histoire ancienne |

Journal of Ancient History | Rivista di storia antica

einzelschriften

Herausgegeben von Kai Brodersen (federführend)

Bernhard Linke | Mischa Meier | Walter Scheidel | Hans van Wees Band 257

Rafał Matuszewski

Räume der Reputation Zur bürgerlichen Kommunikation im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr.

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Relief einer dreiseitigen Pfeilerbasis mit der Darstellung junger Athener beim Tierkampf. National Archaeological Museum, Athens, Giorgos Fafalis. © Hellenic Ministry of Culture and Sports / Archaeological Receipts Fund Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12233-7 (Print) ISBN 978-3-515-12249-8 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ...............................................................................................................

9

Kapitel 1: Einleitung ........................................................................................ 11 ERSTER TEIL: DIE RÄUMLICHE DIMENSION Einleitung: Athen lesen ...................................................................................... 25 Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen ..... 2.1 Straßen .................................................................................... 2.2 Agora ...................................................................................... 2.3 Barbierläden ........................................................................... 2.4 Parfümerien ............................................................................ 2.5 Schuhmachereien ................................................................... 2.6 Banken .................................................................................... 2.7 Walkereien .............................................................................. 2.8 Wirtshäuser, Gasthäuser und Weinverkaufsstände ................. 2.9 Spielhäuser ............................................................................. 2.10 Freudenhäuser und andere Vergnügungsorte ......................... 2.11 Bäder ...................................................................................... 2.12 Gymnasien und Palästren ....................................................... 2.13 Andere Soziabilitätsräume? ...................................................

27 27 48 63 69 77 84 86 92 110 113 139 153 169

Zwischenfazit ..................................................................................................... 174 ZWEITER TEIL: DIE SOZIALE DIMENSION Einleitung: Zur kommunikativen Sinnbildung .................................................. 179 Kapitel 3: Normierung des öffentlichen Auftretens: Der Körper als Kommunikationsmedium ....................................... 3.1 Gestik und körperliches Aussehen ......................................... 3.2 Gehweise ................................................................................ 3.3 Sprechweise ............................................................................ 3.4 Sonstige Verhaltensnormen ....................................................

180 180 210 218 224

6

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4: Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit: Artefakte als Kommunikationsmedien ............................................ 4.1 Kleider .................................................................................... 4.2 Kleidungszubehör: Der Stock ................................................ 4.3 Häuser .................................................................................... 4.4 Gräber .....................................................................................

234 234 254 257 266

Kapitel 5: Die Macht der Pheme. Zur Bedeutung von Reputation und Anerkennung ............................................................................ 276 Schlussbemerkungen .......................................................................................... 290 Literaturverzeichnis ........................................................................................... 296 Indices ................................................................................................................ 343 Orts- und Personenregister ................................................................................. 343 Stellenregister .................................................................................................... 352 Abbildungen ....................................................................................................... 371

Ἀγαθῷ Δαίμονι

VORWORT Die vorliegende Arbeit stellt eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Wintersemester 2016/17 eingereicht und im Sommersemester 2017 vor der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Danach erschienene Literatur konnte nur noch vereinzelt berücksichtigt werden. Mir verbleibt nun die angenehme Pflicht, an dieser Stelle allen denjenigen zu danken, die den Entstehungsprozess des Buches begleitet haben und deren Geduld und Entgegenkommen ich viel schulde. Der größte Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Kai Trampedach, der mir den vertrauensvollen Freiraum gewährte, immer ein offenes Ohr für meine Sorgen und Nöte hatte und mich während der Promotionszeit und darüber hinaus stets geduldig, wohlwollend und inspirierend begleitet hat. Noch bevor mein Fuß den deutschen Boden endgültig betrat, konnte ich bereits auf den Rat und die Unterstützung von Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Joachim Gehrke zählen. Dafür sowie für seine Einsicht, wegweisenden Anregungen und Bereitschaft, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen, gebührt ihm mein aufrichtiger Dank. Zu danken habe ich ferner meinen früheren akademischen Lehrern, die mein Interesse und meine Freude an der Antike geweckt und gefördert haben – Prof. Dr. Włodzimierz Lengauer und Prof. Dr. Ryszard Kulesza von der Universität Warschau sowie Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann und Prof. Dr. Tanja Scheer von der Universität Göttingen. Außer den Genannten hat mir eine Reihe von Personen während meiner peregrinatio academica Beistand geleistet und dadurch auf vielfältige Weise zum Zustandekommen dieser Arbeit beigetragen, von denen ich hier nur einige nennen kann: Prof. Dr. Bernard Eck, Prof. Dr. François Lissarrague, Prof. Dr. Emily Mackil, Prof. Dr. Christian Mann, Dr. Paul Millett, Prof. Dr. Robin Osborne, Prof. Dr. Nikolaos Papazarkadas, Prof. Dr. Marcel Piérart, Prof. Dr. Violaine Sebillotte Cuchet, Dr. Karolina Sekita. Besonderen Dank schulde ich Stefanie Däne für viele gemeinsame Gespräche und ihre unermüdliche Bereitschaft, bei sprachlichen Problemen zu helfen. Einige Passagen dieser Arbeit hat freundlicherweise Dr. Joanna Ayaita durchgesehen und sprachlich verbessert. Ihnen allen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Besonders verpflichtet fühle ich mich außerdem Dr. Marloes Deene, Dr. Benjamin D. Keim und Dr. Joanne F. Sonin, die mir großzügigerweise Einblick in eigene noch unpublizierte Texte gewährt haben. Meinen Mitdoktoranden und den Mitarbeitern des Heidelberger Seminars für Alte Geschichte und Epigraphik – insbesondere Dr. Irene Berti, Dr. Péter Kató, Dr. Mattia Marchesini und Dr. Cornelius Stöhr – danke ich für das freundschaftliche und kollegiale Miteinander, die horizonterweiternden Gespräche und angenehme Arbeitsatmosphäre. Auch auf meinen weiteren Stationen ist mir vielfältige Unterstützung zuteil geworden: Herzlich gedankt sei an dieser Stelle meinen neuen

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Vorwort

Kolleginnen und Kollegen am Fachbereich Altertumswissenschaften der Universität Salzburg, allen voran Prof. Dr. Monika Frass, die den Weg zur Drucklegung wohlwollend und verständnisvoll begleitet haben. In dieser letzten Etappe haben Sieglinde Fuger und Benjamin Stockmaier sich die Mühe gemacht, den gesamten Text sprachlich durchzusehen, wofür ihnen ebenfalls gedankt sei. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Historia Einzelschriften bedanke ich mich bei den Herausgebern, insbesondere bei Prof. Dr. Kai Brodersen, sowie bei den anonymen Gutachtern. Für die großzügige finanzielle Unterstützung, ohne die mein Promotionsvorhaben nicht hätte durchgeführt werden können, danke ich der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg (ein Promotionsstipendium und ein Abschlussstipendium) sowie der Universität Fribourg (ein Forschungsstipendium). Dank eines Grants des polnischen National Science Centres (Nr. 2012/05/N/ HS3/01535) konnte neuere, für mein Forschungsvorhaben relevante, Sekundärliteratur erworben werden. Wie der in Kanada lebende tschechische Schriftsteller Josef Škvorecký einst einräumte, sei das Exil in gewissem Sinne auch eine „schizophrene Erfahrung“. Tief empfundenen Dank möchte ich somit all meinen Freunden abstatten, die mir dabei geholfen haben, die Fremde zu einem vertrauensvollen Ort zu machen. Nicht zuletzt gilt aber mein Dank meiner Familie. Michałowi w szczególności. Salzburg, im August 2018

KAPITEL 1: EINLEITUNG Als die athenische Ekklesie im Herbst 403 v. Chr. ihre Souveränität nach der angstvollen Zeit der Gewaltherrschaft der pro-spartanisch gesinnten ‚Dreißig Tyrannen‘ zurückerhielt, war Athen in wirtschaftlicher und demographischer Hinsicht durch den langjährigen Peloponnesischen Krieg und die nachfolgenden politischen Wirren weitgehend ruiniert1. Trotz der angespannten Atmosphäre brauchten die Athener dennoch nicht lange, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Die finanzielle Lage der Polis begann sich in den 390er Jahren allmählich zu verbessern, was den Komödiendichter Aristophanes dazu angeregt hat, den Wiederaufstieg Athens in seiner 388 v. Chr. aufgeführten Komödie Plutos zu thematisieren. In diesem Stück laufen ein armer attischer Bauer namens Chremylos und sein Sklave Karion einem blinden, alten Bettler von Delphi nach Athen hinterher, da Chremylos vom delphischen Orakel die Weisung erhalten hatte, er solle, um seine Armut zu beheben, dem ersten Menschen nachfolgen, der ihm nach Verlassen des Tempels begegne. Der besagte alte Mann entpuppt sich dann als Plutos, der personifizierte Reichtum, der wegen seiner Blindheit die Gerechten, Anständigen und Vernünftigen von den Ungerechten, Unanständigen und Unvernünftigen nicht unterscheiden kann und dementsprechend den Reichtum ohne Rücksicht auf moralische Qualitäten verteilt. Chremylos kommt daher auf die Idee, den Gott des Reichtums im Heiligtum des Heilgottes Asklepios von seiner Blindheit heilen zu lassen. Sein Plan stößt aber plötzlich auf den Widerstand der Penia, der personifizierten Armut, welche die Protagonisten von der Schädlichkeit des allgemeinen Reichtums zu überzeugen versucht. Schließlich wird Penia jedoch in die Flucht geschlagen und der Plan des Chremylos in die Tat umgesetzt. Infolgedessen beginnt der nunmehr sehend gemachte Plutos seine Gaben besser zu verteilen: Die Anständigen und Gerechten sind jetzt reich, die Unanständigen und Ungerechten wiederum arm geworden. Das Stück endet mit einer feierlichen Prozession, in der Chremylos den Reichtum auf die Akropolis hinaus geleitet, wo jener im Tempel der Athena fortan seinen Wohnsitz haben soll. Damit präsentiert Aristophanes besonders anschaulich das, was die Athener im beginnenden 4. Jh. gewiss alle gemeinsam hatten – den Traum von einer besseren, reichen und gerechten Welt. Dies konfrontiert uns mit der Frage, inwiefern diese Wünsche in Erfüllung gingen. Lässt sich die athenische Demokratie des 4. Jh. v. Chr. als eine Schöne neue Welt beschreiben, in der Stabilität, Frieden und Freiheit gewährleistet waren? 1

Zur Geschichte Athens nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg s., exempli gratia, StrauSS 1987; Funke 1980; die Beiträge in LewiS/Boardman/HornBLower/oStwaLd 1994; ScHmitz 1988: 196–317; ScHwenk 1997; woLpert 2002; rHodeS 2009; Harding 2015. Zur oligarchischen Herrschaft der ‚Dreißig‘ s. etwa LeHmann 1972; ders. 1997 passim; németH 2006. Einen bündigen Überblick über die demographischen Veränderungen im Athen der Nachkriegszeit und deren ökonomische Auswirkungen bietet akrigg 2007.

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Kapitel 1: Einleitung

Vor Jahren hätte man diese Frage wahrscheinlich wohl verneint. Jahrzehntelang herrschte in der Forschung die Tendenz vor, die athenische Demokratie des 4. Jh. – im Gegensatz zu der des 5. Jh. – in schwarzen Farben zu malen. So erklärte im 19. Jh. etwa bereits Jacob Burckhardt das 4. Jh. für „ein mißratenes Kind des V.“ Jahrhunderts und „die Zeit des politischen Niederganges, von der an auch bei manchen modernen Gelehrten diejenige Erbaulichkeit aufhört, womit sie von den früheren griechischen Dingen zu reden pflegen“2. Diese Sichtweise speist sich weitgehend aus kritischen Äußerungen mancher spätklassischer Autoren, die ihren eigenen Lebenszeitraum als Epoche des Verfalls und der Dekadenz empfunden sowie den Rückgang des Bürgergeistes und bürgerlicher Tugenden beklagt haben. Doch war der Basler Gelehrte natürlich nicht der einzige, der sich vom Dekadenz- und Untergangspathos der spätklassischen laudatores temporis acti allzu gern verführen ließ. Die Ideen von der Krise bzw. der Stagnation der spätklassischen Demokratie, vom ‚Rückzug der Reichen ins Private‘ und der mangelnden militärischen wie finanziellen Einsatzbereitschaft der Bürger für ihr Gemeinwesen3, fielen auf besonders fruchtbaren Boden in der Ära des ‚Kalten Krieges‘, als sie zum Gegenstand zahlreicher Arbeiten der marxistischen und marxisierenden Althistoriker gemacht wurden. In diesen Forschungskreisen wurden die ‚klassenkämpferischen‘ Antagonismen, vor allem aber die Symptome der Schwächung und des Verfalls der demokratischen Grundlagen und sogar diejenigen des angeblichen Niedergangs der griechischen Polis ausführlich diskutiert, was eine weitere Entfaltung der These von der tiefen, allumfassenden – politischen wie ökonomischen – Krise der Demokratie Athens im 4. Jh. bewirkt hat4. Zwar fanden sich auch zu dieser Zeit vereinzelt kritische Stimmen der Forscher, die die fortdauernde Lebenskraft der spätklassischen Demokratie Athens betonten, dennoch haben es vor allem erst spätere profunde Untersuchungen der Funktionsmechanismen des demokratischen Systems ermöglicht5, die Krisenthese grundlegend in Frage zu stellen und darüber hinaus die schablonenhafte Darstellungsweise der Geschichte der athenischen Demokratie in klassischer Zeit – das 5. Jh. als deren Hochblüte, das 4. Jh. wiederum als Verfallszeit – entsprechend zu revidieren. In größerem Rahmen wurden die Ideen der älteren Forschung in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts hinterfragt, besonders im ein weites Spektrum an Problemen behandelnden Sammelband, der von Walter Eder mit dem vielsagenden Untertitel Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? herausge2

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BurckHardt 1957: 280; 278. Vgl. ferner etwa BengtSon 1960: 245, der eine Krise nicht lediglich der athenischen Demokratie, sondern der griechischen Poliswelt konstatiert („Das Ende des Peloponnesischen Krieges machte die große Krise der hellenischen Welt auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens offenbar“). Vgl. BurckHardt 1957 [1902]: 318 ff.; zum Rückzug ins Private bzw. zur im 4. Jh. steigenden Politikverdrossenheit in weiten Kreisen der Bürgerschaft s. curtiuS 1936: 483; ScHaeFer 1963: 393; Stier 1971: 73 f.; meier 1988b: 89. Stellvertretend seien hier genannt: moSSé 1962 (vgl. ferner dies. 1973); die Beiträge in weLSkopF 1974; von einer vornehmlich wirtschaftlichen Krise sind u. a. gLuSkina 1974; dies. 1975 und Pečírka 1978 ausgegangen. S. vor allem die wegweisenden Arbeiten von Mogens Herman Hansen (HanSen 1983c; ders. 1987; ders. 1989b; ders. 1991; vgl. ferner iSager/HanSen 1975) und Peter J. Rhodes (rHodeS 1985; ders. 1993).

Kapitel 1: Einleitung

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geben wurde6. Die Autoren der in diesem Werk enthaltenen Beiträge und vieler darauffolgender Studien haben überzeugend die vielfältige Vitalität der athenischen Demokratie aufzeigen können und dementsprechend nachgewiesen, dass das 4. Jh. in Athen alles andere als eine Krisenzeit war. Nunmehr besteht diesbezüglich in der Forschung weitgehender Konsens7. Gleichzeitig mit der Infragestellung der These von der Krise der athenischen Demokratie im 4. Jh. verbreitete sich aber die Annahme von einer Kontinuität und damit auch die Tendenz, die Demokratie der klassischen Zeit als eine statische Einheit zu betrachten. Bestimmte, vor allem institutionelle Veränderungen wurden dabei von vielen Forschern zwar in Betracht gezogen oder sogar „die lebendige, innovative Kraft der späten Demokratie auf vielen Gebieten“8 unterstrichen. Zu nennen sind die Einrichtung des Nomothesieverfahrens und die Ausweitung des Gerichtssystems, die Veränderungen von Befugnissen mancher Beamter und die Einführung neuer Richterfunktionen (wie die der diaitetai), die Einführung des Ekklesiastikon und die Veränderungen der Organisation der Boule (9 proedroi), die steigende Entpolitisierung und Professionalisierung der Strategie sowie schließlich die weitgehende Aufgabenteilung in der Finanzverwaltung9. Dennoch aber haben die Forscher sich dann nicht selten gegen einen Kontinuitätsbruch der Demokratie um die Wende vom 5. zum 4. bzw. im 4. Jh. ausgesprochen oder zumindest gegen einen Mentalitäts- und grundlegenden sozialen Wandel10. So hat Jochen Bleicken in einem wichtigen Aufsatz aus dem Jahre 1987 den Wandel der demokratischen Institutionen im Laufe des 4. Jh. untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass man dabei nicht von einem qualitativen Wandel der Demokratie sprechen könne11. Seine wertvolle Untersuchung fokussiert allerdings auf Demokratie als einer Staatsform und zeigt, dass die athenische Demokratie in klassischer Zeit allenfalls im verfassungspolitischen Sinne als eine Einheit aufzufassen sei. Den sozialen Aspekt spart Bleicken weitgehend aus, und obwohl er diesbezüglich einräumt, dass „wir auf bestimmten Sektoren konkrete Wandlungen beobachten“ können12, kommt er zu dem Schluss, es habe keine grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im 4. Jh. v. Chr. gegeben13. Unverkennbar ist dennoch, dass sich die athenische Demokratie des 4. von derjenigen des 5. Jh. in Einem grundsätzlich unterschieden hat: Darin nämlich, dass sie sich – trotz der chronischen gesellschaftlichen Paranoia in Bezug auf Verschwörun6 7 8 9 10 11

12 13

eder 1995. Vgl. ferner carLier 1996; LeHmann 1997: 86–121. Die ältere Sichtweise findet sich weiterhin u. a. bei SamonS 2004; romiLLy 2005. engeLS 1992a: 426. Vgl. rHodeS 1980; ders. 2009: 28–43 ; BLeicken 1987: 262–279. Vgl. engeLS 1992a. BLeicken 1987. Sein Beitrag stellt eine Auseinandersetzung mit einer Reihe von Studien Mogens Herman Hansens dar, in denen dieser zu zeigen versuchte, dass „die Reformen der ersten Jahrzehnte nach 403 die athenische Demokratie der Qualität nach verändert haben“ (Zitat: BLeicken 1987: 263). BLeicken 1987: 260: „So wurde ohne Zweifel richtig gesehen, daß im 4. Jahrhundert der familiäre Bereich und die persönlichen Interessen wichtiger werden und die Neigung zur Repräsentation deutlicher hervortritt“. BLeicken 1987: 262.

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Kapitel 1: Einleitung

gen, Hochverrat und Umstürzen14 – durch ihre besondere Stabilität auszeichnete. Es drängt sich folglich die Frage auf, wie die Ansicht von der Kontinuität und der Einheit der athenischen Demokratie über die Zeitspanne von fast 200 Jahren mit dem Fakt der auffälligen Stabilität der soziopolitischen Ordnung im Athen des 4., aber nicht des 5. Jh., zu vereinbaren ist. Allein diese Frage zeigt bereits, dass die Kontinuitätsthese relativiert werden muss. Auch wenn man die Auffassung von der Einheit der verfassungspolitischen Grundlagen der athenischen Demokratie in der klassischen Zeit für annehmbar hält, so darf daraus nicht a priori auf die Einheit der gesellschaftlichen, mentalen und ökonomischen Grundlagen geschlossen werden. Gewisse Indizien lassen darauf schließen, dass die athenische Demokratie im Laufe des 4. Jh. sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Transformationsprozessen unterlag, welche wohl breite Auswirkungen gehabt haben dürften. Denn gerade auch mentale Strukturen, darunter die kollektive Wahrnehmung sowie Normen- und Wertesysteme15, sind genauso wie soziale und ökonomische Strukturen nicht unbeweglich16. Von dieser Prämisse ausgehend, widmete sich die jüngere Forschung zunehmend der Untersuchung der spätklassischen Demokratie als einer Zeit der vielfältigen und tiefgreifenden Umwandlungen. Dies ist auch, was der Untertitel eines jüngst veröffentlichten, von Claudia Tiersch herausgegebenen Sammelbandes zur athenischen Demokratie im 4. Jh. – Zwischen Modernisierung und Tradition – gut zum Ausdruck bringt. Daran zeigt sich gleichzeitig anschaulich, wie sich Fragestellung und Forschungsperspektiven seit der Veröffentlichung des von Eder herausgegebenen Sammelbandes verschoben haben17. Um die gesellschaftlichen Umwandlungen der spätklassischen Demokratie Athens und ihre Spannungsverhältnisse besser zu erfassen und sich der Antwort auf die Frage nach den (sicherlich vielfältigen und komplexen) Gründen der soziopolitischen Stabilität anzunähern, erscheint es aber ratsam, den Blick von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des athenischen Gemeinwesens auf die Prozesse, darunter die Dynamik sozialer Verhältnisse und kultureller Praktiken, 14 15

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Dazu s. die instruktive Studie von roiSman 2006. Bezüglich der Terminologie ist eine Präzisierung erforderlich: Es soll nämlich zwischen den Werten einerseits und den moralischen Normen, Regeln bzw. Standards andererseits unterschieden werden. Die ersten verstehe ich hier als Grundhaltungen, die Menschen Orientierung verleihen; sie „sind tief und dauerhaft verankert im Menschen, sodass sie um ihrer selbst willen gelten“ (HradiL 2012: 541). Letztere sind weniger abstrakt und können, obwohl sie auf Werten basieren, von Menschen erschaffen, verändert oder abgeschafft werden. Die beiden oft vermischten Dimensionen des Moralkonzepts lassen sich unter dem von Max Weber geprägten Begriff ‚nomologisches Wissen‘ einer Gesellschaft subsumieren, welcher von einigen Althistorikern auch in Hinblick auf die griechische Antike gebraucht wird (vgl. vor allem meier 1988a: 44 ff. und HöLkeSkamp 2000: 24). Vgl. duBy 1991: 32. Die Umwandlungsgeschwindigkeiten in der Entwicklung unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche hat der französische Historiker Ernest Labrousse treffend charakterisiert. Ihm zufolge vollziehe sich der soziale Wandel langsamer als der ökonomische und der mentale noch langsamer als der soziale („sur l’économique retarde le social, et sur le social, le mental“: LaBrouSSe 1962: xi). tierScH 2016. – Ältere und neuere Tendenzen in der Erforschung der athenischen Demokratie bespricht rHodeS 2015; vgl. ferner tayLor/VLaSSopouLoS 2015b.

Kapitel 1: Einleitung

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zu lenken. Zahlreiche Studien haben bereits in den letzten Jahren diese Forschungslinie verfolgt und sich mit vielen, nicht selten miteinander verwandten, Fragen zur Lebenswelt, kollektiven Mentalität und Wertvorstellungen der Bürgerschaft Athens beschäftigt, wobei sie bisweilen bezüglich bestimmter Aspekte oder Phänomene zu mehr oder weniger diametral unterschiedlichen Schlüssen kamen18. Bekanntlich aber sieht ein und derselbe Berg, von verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, anders aus, und Ähnliches lässt sich wohl auch über die vergangenen Gesellschaften als Gegenstände historischer Erkenntnis sagen. Hinsichtlich der Fragestellung knüpft das vorliegende Buch vor allem an die bedeutenden Studien von Alain Duplouy, Josiah Ober, Saber Mansouri und Alex Gottesman an. In seiner wichtigen Monographie Le prestige des élites untersucht Alain Duplouy die Formen der sozialen Anerkennung in der griechischen Welt vom 10. bis zum 5. Jh. v. Chr. und argumentiert überzeugend, dass der andauernde Kampf um sozialen Rang, Prestige und Anerkennung einen wichtigen Mechanismus des Elitenaustauschs im archaischen und frühklassischen Griechenland darstellte19. Inspiriert durch Friedrich Nietzsche20 glaubt Duplouy gezeigt zu haben, dass die agonistische Mentalität – und darunter ist auch der stetige Agon um Reputation und Anerkennung gemeint – ein zentrales und beständiges Merkmal der griechischen Kultur tout court gewesen sei. Die zeitliche Beschränkung der Monographie Duplouys auf die Archaik und Frühklassik sowie der Fokus auf die Untersuchung der griechischen Eliten machen seine Studie zu einem wertvollen Anknüpfungspunkt für eine Untersuchung der bürgerlichen Kommunikation im spätklassischen Athen. Politische Kommunikation zwischen der Elite und der Masse der Durchschnittsbürger im demokratischen Athen ist Gegenstand des wegweisenden und mittlerweile zum Klassiker gewordenen Buches von Josiah Ober Mass and Elite in Democratic Athens21. Die Gründe des Erfolgs der direkten Demokratie Athens sieht Ober in dem Ausgleich der bisweilen widersprüchlichen Ansprüche der Masse der Bürger und der sozio-politischen Führungsschicht, der mithilfe rhetorischer Kommunikation erlangt und aufrechterhalten werden konnte. Obschon die Quellenbasis seiner Arbeit überwiegend aus dem 4. Jh. v. Chr. stammt, dehnt er seinen zeitlichen Untersuchungsrahmen auf die gesamte klassische Epoche aus, woraus hervorgeht, dass Ober von der Kontinuität und Einheit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder auch mentalen Strukturen im Athen der gesamten klassischen Zeit ausgeht. Diese Annahme, wie oben bereits angedeutet, scheint – genauso wie die Tendenz Obers, außerinstitutionelle, ökonomische und soziale Grundlagen der spätklassischen Demokratie herunterzuspielen – fragwürdig. Davon abgesehen ist 18

19 20

21

Aus der Fülle seien hier exemplarisch die folgenden einschlägigen Bücher herausgegriffen: oBer 1989; coHen 1991; ders. 1995; Hunter 1994; cHriSt 1998; ders. 2006; ders. 2012; Herman 2006; HarriS 2006; ders. 2013; Lanni 2006; dies. 2016; BrüggenBrock 2006; LiddeL 2007; rieSS 2012; gotteSman 2014. dupLouy 2006. Als Motto der Einführung des Buches hat dupLouy 2006: 11 beachtenswerterweise das folgende Zitat von Nietzsche ausgewählt: „so sollte man genauer reden, dass er [d. h. der Grieche – R. M.] den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht zu tragen vermochte“ (nietzScHe 1920: 377). oBer 1989.

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Kapitel 1: Einleitung

es Ober zweifelsohne gelungen, die rhetorischen Topoi, die zwischen Elitismus und Egalitarismus vermittelten, sowie die Kommunikations- und Interaktionsformen zwischen der Elite und der Masse der Durchschnittsbürger im klassischen Athen aufzuzeigen, die zum tragfähigen Ausgleich zwischen Ansprüchen der Masse und der Elite einerseits, dem Ideal der Gleichheit aller Politen und der Realität der sozialen Ungleichheit andererseits beitrugen. Da Obers Monographie vor allem die rhetorische Konstruktion von Konsens im demokratischen Athen thematisiert22, beschränkt sie sich auf die Betrachtung der Kommunikation ausschließlich im Rahmen der formalen politischen Institutionen und Entscheidungsforen – der Ratsund Volksversammlung sowie der Gerichtshöfe. Dass aber die politische Sphäre der demokratischen Institutionen mit der außerinstitutionellen, sozialen Sphäre in engem, wechselseitigem Verhältnis stand, dass also die Mechanismen des Funktionierens der athenischen Demokratie über den Rahmen des Institutionellen hinausgingen, dass sich die alltäglichen Handlungen der athenischen Bürger darüber hinaus auf ihre politische Rolle auswirkten und letztlich, dass sich gesellschaftliche Wertordnungen und Orientierungssysteme in verschiedenen Medien und alltäglichen Praktiken artikulieren und verhandeln ließen – das alles sind Erkenntnisse, die sich erst jüngst in der Altertumswissenschaft allenthalben durchgesetzt haben und denen erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In dem 2010 publizierten, gleichwohl bisher in der Forschung wenig rezipierten Buch La démocratie athénienne, une affaire d’oisifs? hat Saber Mansouri plausibel dargelegt, dass sich Politik bzw. politisches Handeln in der athenischen Demokratie nicht als eindimensionaler Prozess begreifen lässt, in dem ausschließlich die politische Führungsschicht im Rahmen der öffentlichen Institutionen die Geschäfte des Staates führte23. Mansouris Analyse weist einerseits auf die Handwerker und Händler als nicht nur politische Subjekte hin, sondern auch als aktive politische Akteure, denn Mansouri zufolge trug die wirtschaftliche Dynamik im 4. Jh. v. Chr. zu einer erhöhten sozialen Mobilität der banausoi und dadurch zu ihrer politischen Aktivität bei. Andererseits hat das Buch Mansouris auf die entscheidende Rolle der Agora als ein informeller politischer Raum des klassischen Athens aufmerksam gemacht. Auch Alex Gottesman setzt sich mit dem Stellenwert der außerinstitutionellen öffentlichen Sphäre in der athenischen Demokratie auseinander und zeigt in seiner Monographie mit dem Titel Politics and the Street in Democratic Athens, dass sich die öffentlichen Sphären im klassischen Athen – sowohl die institutionelle als auch die außerinstitutionelle – auf mehrfache Weise gekreuzt und überlappt haben24. Ähnlich wie Ober unterscheidet Gottesman nicht zwischen der Demokratie des 5. Jh. und der des 4. Jh. und scheint zu glauben, dass seine Erkenntnisse ohne weiteres Gültigkeit für die gesamte klassische Periode beanspruchen können. Der Klappentext preist das Buch als „the first in-depth study of the classical Athenian public sphere“ an. Jedoch stellt diese Monographie keine systematische Untersu22 23 24

Zum Vergleich mit der römischen Republik, genauer gesagt zu den Formen der Konsensbildung und ‚Schauplätzen‘ der Interaktion zwischen politischer Klasse und populus s. HöLkeSkamp 2006, insb. S. 377–396, ferner auch HöLkeSkamp 2013. manSouri 2010. gotteSman 2014. Für eine ausführlichere Besprechung des Buches s. matuSzewSki 2015.

Kapitel 1: Einleitung

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chung der athenischen öffentlichen Sphäre dar, sondern bildet vielmehr einen – freilich wichtigen – Beitrag, in dem anhand etlicher Fallstudien gezeigt wurde, wie man die politischen Angelegenheiten im demokratischen Athen mithilfe außerinstitutioneller Maßnahmen zu beeinflussen suchte. Das Buch Gottesmans hat folglich zwar auf die theatralische Dimension des öffentlichen Lebens im klassischen Athen und auf die mögliche politische Ausprägung jener in der Öffentlichkeit inszenierten Handlungen der Bürger und der Nicht-Bürger aufmerksam gemacht, hat dennoch die Erwartungen auf eine systematische Untersuchung der alltäglichen Kommunikation athenischer Bürger – ihrer Handlungsweisen, Praktiken und Strategien der Selbstdarstellung und -vergewisserung in der Öffentlichkeit – kaum erfüllt. Die vorliegende Arbeit sieht sich im Dialog mit der gerade erwähnten Forschungslinie und den genannten Studien, wobei sie die spätklassische athenische Bürgerschaft, ihre Lebensformen und ihr Normengefüge, aus einer etwas anderen Perspektive zu beleuchten beabsichtigt. Sie verfolgt in erster Linie einen alltagsgeschichtlich sowie kommunikationstheoretisch orientierten Ansatz und nimmt dementsprechend die bürgerliche Kommunikation im spätklassischen Athen zum Thema25. Der Begriff ‚Kommunikation‘ wird in dieser Arbeit nicht im alltagsgebräuchlichen Sinne von Informationsaustausch zwischen Kommunikationspartnern verwendet, sondern darunter ist das prozesshafte Herstellen und Übertragen von Sinn durch soziale Akteure26 und damit die Beeinflussung von Handlungen, Erwartungen und Einstellungen von Individuen zu verstehen. Es soll also in der vorliegenden Arbeit nicht darum gehen, den konkreten Ablauf der Kommunikation zu beschreiben, sondern es wird vielmehr nach dem Sinn von bürgerlicher Kommunikation, ihrer Verräumlichung und den ihr zugrunde liegenden normativen Vorstellungen gefragt. An dieser Stelle ist aber eine weitere Präzisierung bezüglich der verwendeten Begrifflichkeit notwendig. Es ist nämlich zwischen Kommunikation und Interaktion zu unterscheiden: Während körperliche Anwesenheit eines als Kommunikator (Aussageträger) fungierenden Menschen kein Kriterium für Kommunikation ist, da als Kommunikator ein Artefakt eingesetzt werden kann und dabei nur die Präsenz eines (oder mehrerer) Rezipienten notwendig ist, ist die wahrgenommene Anwesenheit eines als Kommunikator agierenden sozialen Akteurs und eines bzw. mehrerer Rezipienten eine unerlässliche Voraussetzung für Interaktion27. Nach Luhmann bilden sich Interaktionssysteme nur dann, wenn sich „Anwesende […] wechselseitig wahrnehmen“, was „die Wahrnehmung des SichWahrnehmens“ mit einschließt28. Die körperliche Präsenz von Menschen und ihre wechselseitige Wahrnehmung ist die konstitutive Voraussetzung von Interaktions25

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Wegweisend sind hierfür die Theorie des kommunikativen Handelns von HaBermaS 1981 und die Systemtheorie von LuHmann 1984. Zu methodischen Problemen, Möglichkeiten und Grenzen der Erforschung der Vergangenheit unter kommunikationshistorischem Aspekt s. depkat 2003. Zur historischen Verhaltensforschung s. nitScHke 1981; eLiaS 1997. ScHLögL 2014: 13, 29 („die Hervorbringung von sozialem [d. h. für die Beteiligten relevantem] Sinn unter Bedingungen doppelter Kontingenz“). Eine gute Orientierung über Kommunikations- und Interaktionstheorien und verwandte soziologische Konzepte bietet der Überblick von HaBenStein 2015: 17–30, s. ferner aBeLS 2004a; ders. 2004b: 201–262. LuHmann 1975: 10 (non vidi), zitiert nach HaBenStein 2015: 24.

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systemen. Gerade daher spricht Luhmanns Schüler André Kieserling, der das Phänomen der Interaktion in seiner eingehenden Monographie systemtheoretisch erfasst hat, von Interaktion als ‚Kommunikation unter Anwesenden‘29. Die Begriffe ‚Interaktion‘ und ‚Kommunikation unter Anwesenden‘ werden daher in dieser Arbeit synonym gebraucht. In diesem Sinne kann die bürgerliche Kommunikation als Oberbegriff verstanden werden und die Interaktion (Kommunikation unter Anwesenden) als eine spezifische Art von bürgerlicher Kommunikation. Diese Arbeit kann unmöglich die Gesamtheit der Fragen abdecken, die die ‚bürgerliche Kommunikation‘ aufwirft. Es sollen vielmehr verhaltensorientierte Aspekte untersucht werden, welche die soziale Stellung eines Atheners beeinflusst haben dürften, und jene kommunikativen Maßnahmen, mit denen die Zuschreibung von Reputation gesteuert werden konnte. „Kommunikation“, schreibt zu Recht Jörg Rüpke, „lässt sich nicht ohne Berücksichtigung des Raumes untersuchen, in dem sie stattfindet, der Reichweite, die sie besitzt, der sozialen Beziehungen, die sie herstellt, nutzt oder stabilisiert“30. Die vorliegende Arbeit gliedert sich daher in zwei Teile, die die zwei Dimensionen der bürgerlichen Kommunikation in der Öffentlichkeit – die räumliche und die soziale – behandeln31. In einem ersten Teil werden die öffentlichen Interaktionsräume in Athen dargestellt und hinsichtlich der Raumsemantik, d. h. der Bedeutungen, die den konkreten Räumen durch athenische Bürger zugeschrieben wurden, analysiert. Hierbei wird von Interesse sein, inwieweit sich die Raumwahrnehmung der Athener in der spätklassischen Zeit gewandelt hat und vor allem auf welche Weise der öffentliche Raum die bürgerliche Kommunikation strukturierte und wie er selbst kommunikativ geschaffen wurde. In einem zweiten Teil der Arbeit wird die soziale Dimension der bürgerlichen Kommunikation in den Blick genommen. Insbesondere wird hier der Frage nachgegangen, wie und über welche Medien die bürgerliche Kommunikation erfolgte. Dabei werden sowohl das Körperliche (Mimik, Gesten, körperliches Ausdrucksverhalten) als auch gewisse Artefakte (Kleider, Häuser, Gräber) als Aspekte eines instrumentell einsetzbaren Zeichensystems gedeutet und in ihrer Funktion als Kommunikationsmedien untersucht. Diese Analyse wird ferner ermöglichen, jene gesellschaftlichen Verhaltensnormen, Werte und Umgangsformen, die die Interaktion von Athenern geregelt haben, sowie die Formen und Strategien der bürgerlichen Selbstinszenierung in der Öffentlichkeit näher zu erkunden. Abschließend wird auf die Bedeutung von Reputation und Anerkennung in der Gesellschaft des spätklassischen Athen eingegangen, zumal sie – wie insbesondere Pierre Bourdieu gezeigt hat32 – soziales Kapital verschaffen und einen symbolischen Code der Kommunikation darstellen 29 30 31

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kieSerLing 1999. rüpke 2011: 134. Unter dem Begriff ‚Öffentlichkeit‘ ist hier aus systemtheoretischer Sicht ein kommunikativ konstruierter Raum zu verstehen, in dem auf Ehre und Reputation jedweder Individuen zu achten war (vgl. LuHmann 1984: 184). Zum Öffentlichkeitsbegriff als historischem Analyseinstrument s. maLz 2005. Zur Rezeption des wegweisenden Werkes von HaBermaS 1962 und anderen Öffentlichkeitskonzepten in der Altertumsforschung s. azouLay 2011; imHoF 2012; vgl. ferner gotteSman 2014: 4–8. Bourdieu 1987 passim; ders. 1992: 65–70.

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konnte, der den Verlauf von Kommunikationssequenzen steuert. Der thematische Zusammenhang zwischen Raum und Kommunikation wurde von der bisherigen althistorischen Forschung für die griechische Welt beinahe vernachlässigt. Zwar hat Kostas Vlassopoulos in einem 2007 publizierten, wegweisenden Aufsatz zu einer neuen Herangehensweise aufgefordert und angewiesen, den Blick verstärkt auf die ‚Freiräume‘ (free spaces) der athenischen Polis zu richten33, doch seinem Aufruf scheinen bisher wenige AlthistorikerInnen gefolgt zu sein34. Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Arbeit als erster größerer Beitrag zu diesem komplexen Forschungsgegenstand und als Plädoyer für einen Perspektivenwechsel. Um den Umfang der Untersuchung in erträglichen Grenzen zu halten und dabei der Fragestellung gerecht zu werden, sind gewisse Einschränkungen vonnöten. Die Arbeit beschäftigt sich, wie bereits ausgeführt, mit der alltäglichen Kommunikation unter Athenern in der spätklassischen Zeit. Ihr Hauptaugenmerk liegt demnach zum einen auf den Bürgern, obschon auch andere Gesellschaftsgruppen und -schichten gelegentlich Erwähnung finden, sofern sie auf die bürgerliche Kommunikation – zum Beispiel in gemeinsamen Interaktionsräumen – in irgendeiner Weise Einfluss nahmen. Zum anderen ist sie auf die Alltagskommunikation in öffentlichen, d. h. öffentlich zugänglichen, Interaktionsräumen beschränkt, so dass in zeitlicher Hinsicht die Festzeiten und in räumlicher Hinsicht die rein kultischen sowie rein politischen Zwecken dienenden Räume ausgeschlossen bleiben. Topographisch beschränken sich die Ausführungen auf das Gebiet des asty und des Piräus (Abb. 1–2). Hierzu muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass unter dem Begriff asty nicht – wie man gewöhnlich annimmt – der Stadtraum von Athen, d. h. das Gebiet intra muros zu verstehen ist, sondern vielmehr ein etwas größeres, aber nicht näher zu bestimmendes Gebiet, welches neben den städtischen Demen vermutlich auch das direkt an die Stadtmauern angrenzende Gelände umfasste35. Was wiederum den hier behandelten Untersuchungszeitraum angeht, so ist er auf die spätklassische Phase des demokratischen Athen begrenzt. Darunter ist jedoch nicht die Periode nach der Schlacht bei Chaironeia bzw. der Niederlage im Lamischen Krieg36 zu verstehen, sondern das Jahrhundert, welches sich über eine Zeitspanne von ungefähr den 410er Jahren bis zur Niederlage Athens im Lamischen Krieg 322 v. Chr.

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VLaSSopouLoS 2007. Unter dem Begriff free spaces versteht er „spaces that brought together citizens, metics, slaves and women, created common experiences and interactions, and shaped new forms of identity“ (S. 38). Die Studie von gotteSman 2014 bildet nur bedingt eine Ausnahme (vgl. oben S. 16 f. und matuSzewSki 2015). Etwas besser ist die Forschungslage zur römischen Antike, s. beispielsweise Laurence 1994; Laurence/newSome 2011; JenkynS 2013; HaBenStein 2015; ruSSeLL 2016; Hartnett 2017; roSiLLo-López 2017; vgl. auch Hartmann 2016. Hierfür spricht womöglich eine Stelle aus dem Opferkalender von Erchia, in dem die Opfer für Apollon Lykeios en astei vorgeschrieben wurden (LSCG 18, A. 3–5); es ist aber gut bekannt, dass das Lykeion außerhalb der Stadtmauer lag, während von einem anderen, in der Stadt befindlichen Heiligtum des Apollon Lykeios nichts bekannt ist. Vgl. ferner in derselben Inschrift die Kollokation ἐν ἄστε(ι) ἐν Ἄγρας (bezüglich Opfer für Zeus Meilichios und für Semele: LSCG 18, A. 39–40; 46–48), vgl. daux 1963: 623 ff. Vgl. etwa die Studie von dreyer 1999.

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erstreckte37. Ich habe mich entschieden, diesen ganzen Zeitraum als spätklassische Zeit zu bezeichnen, um das 4. Jh. deutlich vom 5. Jh. zu unterscheiden und damit seine Andersartigkeit zu betonen. Zum Schluss noch ein paar Worte zur Quellenbasis der Arbeit. Es ist eine oft in althistorischen Arbeiten anzutreffende Tendenz, eingangs darüber zu klagen, dass die Forschungsaufgabe wegen der „swiss-cheese quality of the evidence“ höchst erschwert war. In der Tat legen die Spärlichkeit und die Lückenhaftigkeit der Überlieferung dem Althistoriker gravierendste Hindernisse in den Weg, so dass notwendigerweise – um es mit den Worten von Sir Ronald Syme zu sagen – „[o]ne uses what one has“38. Die Arbeit stützt sich daher auf ein relativ breites Spektrum an Quellengattungen, welches neben den unterschiedlichen literarischen Zeugnissen – attischen Komödien, politischen und gerichtlichen Reden, publizistischen Schriften, ökonomischen und philosophischen Abhandlungen sowie den Werken antiker Lexikographen, Biographen und Scholiasten – auch die epigraphischen Zeugnisse umfasst. In der Altertumsforschung dürfte sich heutzutage wohl kaum noch jemand der Äußerung von Numa Fustel de Coulanges anschließen, der meinte „l’histoire se fait avec des textes“39. In dieser Arbeit werden daher ebenfalls archäologische Funde berücksichtigt. Herangezogen werden allerdings nicht nur die aus dem genannten Untersuchungszeitraum stammenden Quellen, sondern gelegentlich auch diejenigen aus früherer und späterer Zeit, wenn sie die wenig ergiebigen oder wenig eindeutigen Aussagen der spätklassischen Autoren ergänzen können. Als besonders aussagekräftig für meine Fragestellung erwiesen sich die Komödien und vor allem die Gerichtsreden. Dabei ergaben sich methodische Schwierigkeiten, die in der Beschaffenheit der beiden besagten Quellengattungen begründet liegen. Das größte Problem bei der historischen Auswertung von Komödien und Texten attischer Redner liegt darin, Aussagen mit topischen Zügen sowie Verzerrungen aufzudecken und den Grad der Übertreibung richtig einzuschätzen. Bisweilen lässt sich die Glaubwürdigkeit der in diesen Quellen greifbaren Aussagen und Informationen durch eine vergleichende Überprüfung unter Rückgriff auf andere Texte ermitteln. Dennoch darf das Fehlen von Parallelbezeugungen nicht von vornherein als Beweis für die Unglaubhaftigkeit einer konkreten Aussage aufgefasst werden. Denn die Redner und Komödiendichter erwähnen häufig Einzelheiten, die für die anderen Autoren bloß nicht erwähnenswert oder von keinem Interesse sind. Die den historischen Quellen entnommenen Auskünfte, darunter auch die fiktiven oder verzerrten, beziehen sich – wie Elke Hartmann geschickt formuliert hat – „auf erlebte Wirklichkeit(en), deren Wahrnehmungen sich zwar beträchtlich unterscheiden können, aber dennoch nicht völlig beliebig konstruiert sind, da sie gebunden sind an gemeinsame, kulturspezifisch vorstrukturierte Erfahrung“40. Von den ungefähr 150 attischen Reden, die im Rahmen dieser Untersuchung analysiert wurden, stammen alle, mit wenigen Ausnahmen, aus dem 4. Jh. v. Chr., 37 38 39 40

Zum chronologischen Rahmen des 4. Jh. s. auch LiddeL 2007: 89–94; rieSS 2012: 19 (mit etwas anders angesetzten Zäsuren). Syme 1968: 145. Zitiert nach marrou 1954: 77; oSBorne 2011: 6 Anm. 1. Hartmann 2016: 17.

Kapitel 1: Einleitung

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was den Vergleich mit dem 5. Jh. verhindert und uns dementsprechend der Möglichkeit beraubt, die diachrone Entwicklung von Sachverhalten und Phänomenen zu begreifen. In dieser Hinsicht erweist sich jedoch die attische Komödie als besonders wertvoll und verdient schon wegen der bruchlosen Kontinuität der Gattung eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ein beträchtlicher Wandel des Charakters und der Thematik der attischen Komödie in der klassischen Zeit – von der Alten über die Mittlere zur Neuen Komödie – ist nicht lediglich auf die Internationalisierung und Professionalisierung der Tätigkeit der Dramaturgen zurückzuführen41, sondern zeugt wohl ebenfalls von den Veränderungen des Geschmacks des athenischen Theaterpublikums und lässt damit einen graduellen Mentalitätswandel vermuten. Trotz möglichen spöttischen und rhetorischen Übertreibungen liefern attische Komödien und Reden dennoch wesentliche Informationen über das Alltagsleben, das mentale Selbstverständnis der Bürger sowie gesellschaftliche Normen und Werte42. Die besondere Tauglichkeit der Aussagen attischer Redner gerade zur Ermittlung herrschender gesellschaftlicher Normen und Erwartungen, von Kollektivvorstellungen und -einstellungen – auch wenn diesen Zeugnissen in Hinblick auf andere Aspekte mit der gebührenden Vorsicht zu begegnen ist, da sie doch ein bestimmtes Ziel verfolgten – liegt darin begründet, dass die Sprecher an die durchgängigen Einstellungen, Meinungen und Vorurteile anknüpfen mussten, um jeweils Hunderte oder Tausende von Laienrichtern bzw. Ekklesie-Teilnehmern für sich zu gewinnen. Hätte ein Redner – sei es vor Gericht oder in der Volksversammlung – unpopuläre Ideen oder befremdliche Meinungen vorgetragen, so wäre er meistens auf Widerstand seitens des Publikums gestoßen; seine Rede wäre – so ist es vielen Quellen zu entnehmen – durch Zwischenrufe, nonverbale Lautäußerungen und Tumult der Nicht-Einverstandenen oder Unzufriedenen unterbrochen worden43. Der einzig vernünftige Weg, um dieses ungewollte Szenario zu vermeiden und mit der Rede Erfolg zu erringen, bestand tatsächlich darin, ganz im Sinne der Zuhörerschaft zu sprechen und sich in der Argumentation an allgemein verbreiteten Einstellungen und Meinungen zu orientieren44. 41 42

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Vgl. konStantakoS 2011; Hartwig 2014. Bereits 1840 schrieb zu Recht ViScHer 1840: 21: „Da […] der Boden der Komödie der der Wirklichkeit ist […], so ist die Komödie für Sitten, Gebräuche und Einrichtungen aller Art eine wahre geschichtliche Fundgrube“. Ähnlich auch eHrenBerg 1962: 8: „[I]t is my belief that nowhere but in comedy are the facts of social and economic life given merely as a background. […] we have in comedy excellent evidence of many real facts, above all of those relating to the general conditions of life which form the background of the comic plot, a background self-evident to poet and audience“, hierzu vgl. ferner doVer 1974: 18–22; rademaker 2005: 223 („Even given the considerable difference in genre between comedy and oratory, both speak to the ordinary citizen, and clearly appeal to his values and views of morality“). Zu den Gerichtsreden als historische Quellen im Allgemeinen und als Quellen zur Erforschung sozialer Normen im Besonderen s. todd 1990b; doVer 1974: 8–14; oBer 1989: 43–49; roiSman 2005: 1–6; Hunt 2010: 7–10. Dazu s. S. 188 Anm. 47 unten. Zur Kommunikation von Rednern und Zuhörern s. treu 1991; woLpert 2003; roiSman 2004. oBer 1989: 43 mit Anm. 101; 45; HanSen 1991: 25; coHen 1995: 120; rademaker 2005: 223 f.; Herman 2006: 152; cooper 2007: 207.

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Kapitel 1: Einleitung

Um einen Einblick in die bürgerlichen Kommunikationsformen und -normen der spätklassischen Zeit zu erhalten, werden ferner die Quellen einbezogen, deren Entstehungsdatum etwas über den hier gewählten Untersuchungszeitraum hinausgeht. Gemeint sind die Komödien Menanders und insbesondere die für unsere Fragestellung wertvolle Schrift Charaktere Theophrasts, die 30 Skizzen von verschiedenen Menschentypen und deren meist sozial bedenklichen Verhaltensweisen und Eigenschaften in überspitzter Form vorführt45. Die Einbeziehung dieser Quellen ist dadurch berechtigt, dass ihr ‚dramatisches Datum‘, wie eingehende Untersuchungen gezeigt haben, wohl in die 330er und 320er Jahre fällt46. Durch einen Abgleich mit früheren Quellenbelegen können sie wertvolle Auskünfte liefern und unser Verständnis der Interaktionsnormen im spätklassischen Athen bereichern. Zum Abschluss sei noch angemerkt, dass historische Quellen nicht von alleine sprechen. Vom Forscher gefunden, nach den Regeln des Faches kritisch ausgewertet und arrangiert, ermöglichen sie eine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand und ergeben zusammen ein Bild der Vergangenheit. Demnach sollte nicht vergessen werden, dass ‚ein historisches Faktum‘ stets das Produkt einer doppelten Konstruktion ist – zunächst der sozialen, dann der wissenschaftlichen. Kurzum: caveat lector.

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Zu den Charakteren des Theophrast als Quelle zur Erforschung der spätklassichen bürgerlichen Mentalität und Etikette s. Leppin 2002 und vor allem miLLett 2007. Zum Datum der Niederschrift des Werkes und zum dramatischen Datum der Charaktere Theophrasts bietet einen informativen Überblick diggLe 2004: 27–37.

ERSTER TEIL: DIE RÄUMLICHE DIMENSION

EINLEITUNG: ATHEN LESEN Das Wort ‚Raum‘ ist heutzutage im Zeitalter der Globalisierung in aller Munde, Historiker nicht ausgenommen. Der sich seit dem Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre zu einem fächerübergreifenden Trend entwickelnde spatial turn hat in den Geschichtswissenschaften die ältere Erkenntnis verstärkt hervorgehoben, dass die Auseinandersetzung der Historiker mit der rein chronologischen Dimension der Geschichte nicht ausreichend, sondern einseitig und reduzierend ist1. Um eine historische Gesellschaft, ihre Ordnung, Entwicklung und Funktionsmechanismen genuin zu erkennen, muss sowohl Temporales als auch Spatiales untersucht werden. Denn Friedrich Ratzels Diktum gilt: „Im Raume lesen wir die Zeit“2. Die in den letzten Jahren intensiv diskutierten und rezipierten Arbeiten der Soziologen, Kulturwissenschaftler, Stadt- und Raumtheoretiker – allen voran Edward Soja, Henri Lefebvre, Yi-Fu Tuan, Rob Shields und Martina Löw – haben deutlich gemacht, dass Räume zwar physisch existent, aber gleichzeitig auch gesellschaftlich produziert (bzw. konstruiert) sind3. Öffentlicher Raum ist demnach nicht lediglich eine physisch greifbare Bühne menschlicher Handlungen und einfacher Container sozialer Beziehungen, sondern auch ihr Produkt und ihre Ursache. Die Menschen versehen Raum mit Bedeutung, die wiederum die Raumperzeption und die alltäglichen Verhaltensweisen prägt. Als Ergebnis bedeutungsstiftender Praktiken (signifying practices)4 wirkt der gesellschaftlich hervorgebrachte Raum auf soziale Prozesse zurück. Zusammenfassend formuliert: „Raum kontextualisiert […] nicht nur soziale Interaktionen und kommunikative Praktiken, sondern wirkt durch die räumliche Wahrnehmung der Akteure auf diese zurück […]. Gleichzeitig wird Räumlichkeit im Verlauf jenes Prozesses kommunikativ produziert, individuell angeeignet, intersubjektiv abgeglichen und so immer wieder von neuem hergestellt“5. Kurzum, Räume strukturieren nicht nur soziale Kommunikation, sondern werden selbst kommunikativ geschaffen. Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Teil der Arbeit der Versuch unternommen, das athenische asty, welches die Bühne bürgerlicher Interaktion, Selbstdarstellung und Selbstbehauptung darstellte, zu ‚lesen‘6. Untersucht werden

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Eine gute Orientierung zum spatial turn bietet der Überblick bei BacHmann-medick 2006: 284–328; s. ferner döring/tHieLmann 2008. Zur historischen Raumanalyse s. rau 2013. Vgl. ScHLögeL 2003; oSterHammeL 1998; koSeLLeck 2000. LeFeBVre 1974; tuan 1977; SoJa 1989; SHieLdS 1991; Löw 2001; ScHroer 2006. gottdiener 1986: 214. geppert/JenSen/weinHoLd 2005: 28. Wie tuan 1979: 387 treffend schreibt: „Place is not only a fact to be explained in the broader frame of space, but it is also a reality to be clarified and understood from the perspectives of the people who have given it meaning“.

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Einleitung: Athen lesen

dabei gewisse Typen von öffentlich zugänglichen Kommunikationsräumen7. Da die Menschen den Raum wertend rezipieren und da sich in der kollektiven Raumwahrnehmung die gesellschaftlichen Normen und Werte spiegeln, wird im Folgenden nach den gängigen Perzeptionsweisen (und ihren möglichen Umwandlungen) athenischer Interaktionsräume gefragt. Von Interesse ist ferner, in welcher Hinsicht eine bestimmte Raumwahrnehmung das Verhalten der in diesen Räumen handelnden Bürger beeinflusst hatte und umgekehrt. Welche Folgen für die bürgerliche Kommunikation hatte die Präsenz von Nicht-Bürgern in gemeinsamen Interaktionsräumen? Wie wirkten sich Präsenz und Handeln in bestimmten Räumen auf die Reputation der historischen Akteure aus? Wie strukturierten Räume das Verhalten, das Agieren und Kommunizieren von Athener Bürgern? Die Bewertung des Raumes ist zwar subjektiv, orientiert sich aber dennoch durchaus an gesellschaftlichen Konventionen, sozial geprägten Raumvorstellungen und Semantiken8. Die Gesellschaft als Kollektiv zwingt nicht selten den sozialen Akteuren gewisse Wahrnehmungsmuster des Raumes auf. Wie die öffentlichen Interaktionsräume in Athen wahrgenommen wurden, war von vielerlei Faktoren abhängig, zu denen unter anderem etwa (a) die Lokalisierung, (b) die Formen und die Moralhaftigkeit der dort stattfindenden Aktivitäten, (c) die Sozialstellung und die Moralhaftigkeit sowohl der Besucher als auch (d) des Inhabers und des Personals gehörten. All diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, wenn man unterschiedliche Raumwahrnehmungen, Vor- und Einstellungen sowie ihre kommunikative Herstellung erfassen will. Um den räumlichen Kontext bürgerlicher Kommunikation und die Raumkonstruktionen (darunter sind sowohl materielle Gestaltung als auch mentale Bilder und Vorstellungen gemeint) der Athener zu begreifen, müssen also die jeweiligen Räume deskriptiv, mittels ‚dichter Beschreibung‘ (thick description)9 dargestellt und analysiert werden. Das ist das Ziel des vorliegenden Teils der Untersuchung.

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Allgemein zum Begriff des Interaktionsraumes s. emme 2012. Vgl. VLaSSopouLoS 2007: 38. Vgl. rau 2013: 172. geertz 1973: 3–30.

KAPITEL 2: ROLLE UND WAHRNEHMUNG VON ÖFFENTLICHEN INTERAKTIONSRÄUMEN 2.1 STRASSEN Jedes alltägliche Eintreten in den öffentlichen Raum fing zwangsläufig mit dem Betreten einer Straße an, was sie offenkundig zu einem allgemein gebrauchten Begegnungskontext und einem prinzipiellen Interaktionsraum, ja einem Interaktionsraum par excellence, machte. Straßen sind in den Worten von Joseph Rykwert „human movement institutionalized“1. Sie sind nicht bloß als ‚Container sozialen Handelns‘ zu begreifen, sondern vielmehr als ein soziale Prozesse bedingendes Gefüge2. Die Strategien der menschlichen Bewegungen wie auch alle Handlungen, Interaktionsformen und Verhaltensweisen, die innerhalb der Straßen stattfinden, hängen maßgeblich von ihr (d. h. ihrer materiellen Gestaltung und ihrer Semantik) ab, aber auch die Straße selbst stellt doch ein unbeständiges, den menschlichen Aktivitäten unterliegendes Element der Landschaft dar. Die Rolle der Straßen als Teil des Kommunikationssystems ist unvergleichbar mit allem anderen, dennoch trotz (oder vielleicht gerade wegen) dieser Offensichtlichkeit schenkte man den griechischen Straßen und Wegen (anders als ihrem römischen Äquivalent), und insbesondere jenen intra muros gelegenen, in der Forschung bis vor kurzem wenig Beachtung. Die Archäologinnen Leda Costaki und Laura Ficuciello setzten sich in unabhängig voneinander in den letzten Jahren durchgeführten Studien mit der materiellen Ausprägung athenischer Straßen auseinander, brachten mit ihren Untersuchungen Klärung in diesen komplizierten Fragenkomplex und enthüllten viele bedeutende Facetten des attischen Straßennetzwerks3. Sich auf die Ergebnisse der genannten akribischen Abhandlungen stützend, wird im Folgenden versucht, die gesellschaftliche Dimension der Straßen, darunter das Straßenleben und die Straßenerfahrung der Athener, zu beleuchten. Straßenbild und Stadtbild Ganz im Sinne Lefebvres lassen sich auch athenische Straßen eben als Produkt gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse (darunter verstehe ich sowohl die symbolisch-diskursive Konstruktion als auch materiell-reale Produktion des Raumes) und gleichzeitig als Medium sozialen Handelns begreifen. Obwohl hier der Einfachheit halber der Begriff ‚Straße‘ verwendet wird, sollte man sich dessen bewusst sein, dass sich das Straßennetz im spätklassischen Athen durch eine starke Heterogenität 1 2 3

rykwert 1982: 105. Vgl. Löw 2001; HiLger 2011: 29 ff. coStaki 2006; FicucieLLo 2008; vgl. ferner korreS 2009.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

auszeichnete. Der Reichtum an Termini, die im Griechischen zur Bezeichnung unterschiedlicher Straßen, Wege, Durchgänge, Gassen und Gässchen gebraucht wurden, spiegelt die Vielfalt attischer Kommunikationsgänge bestens wider. Der Gebrauch dieser Termini wird durch allerlei Faktoren bestimmt – sei es beispielsweise von der Breite, dem Straßenbelag, der spezifischen Bestimmung und Funktion oder aber der Ausrichtung zum Verkehr bestimmter Verkehrsmittel (für den Fuß-, Tier-, Trage- oder Wagenverkehr) her4. Die Angaben antiker Autoren bezüglich griechischer Straßennomenklatur sind jedoch bisweilen unklar oder sogar widersprüchlich und daher nicht immer zuverlässig5. Immerhin galten die Substantive ὁδός und ἄγυια als allgemeine, auf keinen speziellen Aspekt zurückzuführende, Bezeichnungen einer Straße. Als im Prinzip immer noch haltbar erachtet werden kann jedenfalls die von Émile Burnouf im 19. Jh. vorgeschlagene Aufteilung der athenischen Straßen in drei Typen, nämlich „1˚ les grandes voies destinées aux communications de toute sorte; 2˚ les rues striées, pratiquées par les chevaux et les chars; 3˚ les rues destinées aux hommes à pied, impraticables pour les chariots“6. Wie den archäologischen Studien und dem erhaltenen Quellenmaterial zu entnehmen ist, handelte es sich bei der überwiegenden Mehrheit athenischer Straßen – anders als die homerische Odyssee suggeriert7 – um schmale Wege, enge Gässchen und Steigen. Einen viel erwartenden Besucher konnte das Stadtbild von Athen – wie Herakleides Kritikos im 3. Jh. v. Chr. berichtete – auf den ersten (nicht aber auf den zweiten) Blick enttäuschen, wobei er nicht nur schäbige Häuser (αἱ μὲν πολλαὶ τῶν οἰκιῶν εὐτελεῖς) als Grund dafür ansieht, sondern auch das – wegen des hohen Alters der Stadt – schlechte Straßenlayout (κακῶς ἐρρυμοτομημένη διὰ τὴν ἀρχαιότητα)8. Das athenische asty – anders als der durch Hippodamos neu gestaltete Piräus und etliche später angelegte Städte (wie z. B. das wiederaufgebaute Theben9) – musste in der Tat gewissermaßen chaotisch wirken10. Semantische Dimension und Bedeutungsgehalt bestimmter Straßen oder Stadtviertel des asty waren ein Ergebnis von bedeutungsstiftenden Praktiken, physischen Eigenschaften oder aber mythischen bzw. historischen Assoziationen. Gewisse Straßen zeichneten sich wegen ihrer spezifischen Bedeutung und Rolle durch grö4 5 6 7 8

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Einen ausführlichen Überblick über die griechische Terminologie der Straßen bietet LoLoS 2003. Vgl. ferner pritcHett 1980: 143–196. Vgl. beispielsweise die Definitionen der λαύρα in Schol. Aristoph. Pax 99 (eine enge Gasse) und im Etym. m. s. v. λαῦρα (eine breite Straße oder ein Stadtquartier), dazu Hennig 2000: 587, 593. BurnouF 1856: 78. In Hom. Od. 7,80 wurde Athen als weitstraßig beschrieben (εὐρυάγυιαν Ἀθήνην). Herakl. Krit. 72,4 Pfister; BNJ 369A F 1,1. Vgl. FicucieLLo 2008 passim; dies. 2012. – oSBorne 2009: 592 vergleicht die Dimensionen von Straßen in verschiedenen Poleis und weist dabei darauf hin, dass im 6. Jh. v. Chr. angelegte Städte engere Straßen (3–4 m für die meisten Straßen; 6 oder ausnahmsweise 9 m für Hauptarterien) aufwiesen als die im 5. Jh. v. Chr. geplanten (breitere Normalstraßen, aber ähnliche Dimensionen von Arterien). Vgl. auch coStaki 2006: 87 Anm. 162. Vgl. Herakl. Krit. 78,17 f. Pfister, BNJ 369A F 1,12 (καινῶς δὲ ἐρρυμοτομημένη διὰ τὸ τρὶς ἤδη ὥς φασιν αἱ ἱστορίαι κατεσκάφθαι διὰ τὸ βάρος καὶ τὴν ὑπερηφανίαν τῶν κατοικούντων). Als Merkmal städtischer Schönheit wird von Aristot. pol. 1331a, 30–37; 1331b, 1–12 ein orthogonales Straßensystem hervorgehoben. Vgl. maScHek 2014: 58.

2.1 Straßen

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ßere bzw. ordentlichere physische Dimension aus, insbesondere diejenigen, die zu kultischen (Heiligtümer und sonstige Kultplätze), kommerziellen (Agora, Hafen) oder industriellen (Handwerkerwerkstätten, Steinbrüche, Bergwerke) Zentren führten11. Verglichen mit der Standardbreite einer intramuralen athenischen Straße, die im Durchschnitt zwischen 3,5 m und 4,5 m betrug12, erscheinen der Panathenäische Weg (der innerhalb der Mauern verlief – vom Dipylon bis zur Akropolis) mit seiner durchschnittlichen Dimension von 29 m und die Akademie-Straße (außerhalb der Mauern – vom Dipylon zum Eingang der Akademie) mit bis zu 40 m als monumental und müssen für jeden ausgesprochen beeindruckend gewirkt haben13. Es verwundert nicht, dass solche Straßen, die nicht nur beachtliche physische Ausprägung besaßen, sondern auch reich an Bedeutung waren, als einzigartige Landmarken und wichtige Kommunikationsarena fungierten. Dies war sicherlich der Fall beim Panathenäischen Weg, der Tripoden- oder der ‚Heiligen Straße‘, auf die noch näher einzugehen sein wird. Da die meisten athenischen Straßen keine Namen trugen14, war es offensichtlich schwer, sie zur Orientierung in der Stadt zu benutzen15. Bei weitem die einzige Methode, den richtigen Weg in Athen zu finden bestand darin, die charakteristischen Merkmale der urbanen Landschaft zu erkennen und sich zu merken oder gewisse Assoziationen mit bestimmten Menschen, die in der entsprechenden Gegend gewohnt oder gearbeitet haben, herzustellen16. Stadtbewegung basierte weitgehend anstatt von Wegweisern auf mündlicher Kommunikation17. Dennoch waren gewisse Wege, wie die gerade erwähnten, zweifellos jedem Athener bekannt und dienten daher gelegentlich als Referenzpunkte. In diesem Zusammenhang soll hier noch auch auf einen weiteren, wesentlichen Aspekt der Straße als Landmarke hingewiesen werden. Bestimmte Straßen dienten aller Wahrscheinlichkeit nach als Demengrenzen, wie beispielsweise Rodney S. Young, Marle K. Langdon und neuerdings Gerald V. Lalonde am Fall der Grenze zwischen Melite und Kollytos gezeigt haben18. Allerdings ist diese Hypothese wegen der insgesamt unzureichenden Datenlage diskutabel und erfordert weitere Untersuchungen. Die athenische Straße lebte, und dies nicht bloß im metaphorischen Sinne. Ihre Breite und Gestaltung waren nämlich, wie die archäologischen Untersuchungen 11 12 13 14

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coStaki 2006: 3. Dazu ausführlich coStaki 2006: 87–94 (mit allen Angaben). Die Mehrheit der nord-und südwestlich der Agora ausgegrabenen Straßen sei coStaki 2006: 87 zufolge ca. 4 m breit gewesen. coStaki 2006: 88; oSBorne 2009: 592; vgl. ferner StroSzeck 2003: 75 ff. und dies. 2014: 33–39. Gelegentlich werden Straßen nach bestimmten Gewerben benannt, die in ihnen betrieben wurden (z. B. ἡ τῶν ἑρμογλύφων: ‚Straße der Hermenmacher‘ oder ἡ τῶν κιβωτοποιῶν: ‚Straße der Kastenhersteller‘), vgl. Leake 1821: 384; miLcHHoeFer 1891: lxxiv–lxxvi; JudeicH 1931: 183– 189; coStaki 2006: 191–207; FicucieLLo 2008: 22. – Nichtsdestotrotz sind Verweise auf unbenannte Straßen und Wege in zahlreichen Poletenurkunden zu finden. In diesen Fällen fungierten gewisse Straßen eben als topographische Referenzen, um die nähere Lokalisierung bestimmter Grundstücke zu ermöglichen (die Beispiele listet coStaki 2006: 159 Anm. 53 auf). Wege gehören neben Kanten, Quartieren, Knotenpunkten und Landmarken zu den von Kevin Lynch erarbeiteten urbanen Raumkategorien zum Zweck der Orientierung: LyncH 1960: 46–90. coStaki 2006: 192; Stenger 2014. Ling 1990: 209 f. Zu den Orientierungsproblemen im antiken Raum s. ferner graSSL 2002. young 1951; Langdon 1985: 12 f.; LaLonde 2006.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

ergeben haben, variabel – man veränderte sie bisweilen, baute sie um oder verbreitete sie entsprechend den Bedürfnissen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten19. Die ‚Heilige Straße‘, die ursprünglich eine Breite von 6 m aufwies, wurde im Jahre 338 v. Chr. um ca. 2 m verbreitert. Auch die an der modernen Amalias-Straße (zwischen Vasillisses Sophias und Xenophontos) ausgegrabene antike Straße wurde den Archäologen zufolge in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. von 4,5 m auf ca. 7 m ausgebaut20. Gründe für den Ausbau der Straßen oder die Änderung einer bestehenden Straßenführung waren recht divers. Einer davon könnte beispielsweise die Veränderung in der Landnutzung gewesen sein, wenn man etwa ein als Begräbnisstätte dienendes Gebiet in einen Wohnbezirk umwandelte21. Vorstellbar ist darüber hinaus, dass gewisse Straßen nicht unbedingt auf der ganzen Länge, sondern nur auf bestimmten Strecken verbreitert werden konnten, um ‚Parkplätze‘ zu schaffen, d. h. einen Raum, der ermöglichte, dass zwei Gespanne aneinander vorbeifahren konnten22. Das Aufkommen von Verkehr in bestimmten Gegenden hatte offensichtlich zur Folge, dass der Ausbau des Straßennetzwerkes bisweilen notwendig wurde. Plausibel erscheint zum Beispiel die Annahme, dass sich der ursprüngliche Standort des berühmten Eponymenmonuments23 gerade in einer ‚verkehrsregen Zone‘ befunden und damit den Verkehr teilweise behindert hat, so dass man es von dort wegräumen und danach an uns gut bekannter Stelle – vor dem alten Bouleuterion – wieder aufbauen musste24. Anhand der Spurrillen im erhaltenen antiken Straßenpflaster und der Kratzer auf den Steinen der Bauten versuchen die Archäologen grob einzuschätzen, in welchen Gebieten von Athen verstärkter Verkehr stattfand25. Wie nicht anders zu erwarten, können die Gegenden um die Stadttore und die Agora als solche bestimmt werden (daher waren sie auch relativ breit26). Das 4. Jh. v. Chr. (gewiss in der Eubulos- und insbesondere in der Lykurg-Ära)27 war die Zeit weitreichender Umwandlungen der urbanen Landschaft, was Demosthenes in seiner Dritten Olynthischen Rede aus dem Jahr 349/348 v. Chr. gut bezeugt, indem er von diversen groß angelegten Reparaturarbeiten, darunter auch der Straßen, spricht28. Beachtenswert ist dabei die Bemerkung der Archäologin Leda Costaki, dass im 19

Verengung von zwischen zwei Landgütern liegenden Wegen war ein nicht seltenes Motiv von Nachbarschaftskonflikten, s. z. B. Demosth. 55,22; 55,27. – Zu den Nachbarschaftskonflikten im klassischen Griechenland s. ScHmitz 2004: 456–464. 20 coStaki 2006: 91, 595 ff. (mit weiteren Angaben). 21 Ein Beispiel dafür aus der klassischen Zeit liefern die Ausgrabungen an der ErechtheiouStr. 18: s. ArchDelt 45, 1990, B1, 33; coStaki 2006: 163. 22 Vgl. deSpotopouLoS 1940: 334; coStaki 2006: 35. 23 In der südwestlichen Ecke der Agora, unterhalb des westlichen Endes der Mittleren Stoa: coStaki 2006: 170 Anm. 95; 279 f. (mit weiterer Literatur). 24 Quellenstellen zum Eponymenmonument hat ioakimidou 1997: 100 ff. gesammelt. Zum Monument s. ferner u. a. SHear 1970; ioakimidou 1997: 102–106, 274–280; kneLL 2000: 93–96; ma 2013: 123 f. 25 Dazu ausführlicher coStaki 2006: 55–63. 26 coStaki 2006: 194 f. 27 Vgl. kneLL 2000 und Hintzen-BoHLen 1997. 28 Demosth. 3,29: ἀλλ', ὦ τᾶν, εἰ ταῦτα φαύλως, τά γ' ἐν αὐτῇ τῇ πόλει νῦν ἄμεινον ἔχει. καὶ τί ἂν εἰπεῖν τις ἔχοι; τὰς ἐπάλξεις ἃς κονιῶμεν, καὶ τὰς ὁδοὺς ἃς ἐπισκευάζομεν, καὶ κρήνας, καὶ λήρους; („‚Aber wenn es damit schlecht steht, so sieht es wenigstens in der Stadt selbst jetzt

2.1 Straßen

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Grunde alle bekannten Fälle der Verbreiterung athenischer Straßen (mit der einzigen Ausnahme des Panathenäischen Weges) die extramuralen, d. h. die von bzw. zu den Stadttoren führenden Hauptstraßen betrafen29. Somit sind die Bemühungen der spätklassischen Polis erkennbar, den Zustand der wichtigsten Zufahrtsstraßen zu verbessern und dadurch den Zugang zum asty zu erleichtern. Die dahinterstehenden Gründe waren m. E. komplexer als die auf den ersten Blick plausible, letztlich aber allzu einfache Annahme, dass die Sorge um ökonomische Angelegenheiten diese Maßnahmen verursacht hätten30. Von breiteren und in einen besseren Zustand gebrachten Zugangsstraßen profitierten viele Händler, aber auch die Polis selbst, diese jedoch nicht nur im ökonomischen, sondern ebenfalls im politischen und kultischen Sinne. Die Verbreiterung und das größere Bemühen um Instandhaltung von Zufahrtsstraßen sollten nämlich die Bürger aus ländlichen Demen Attikas zur aktiveren Teilnahme am politischen und religiösen Leben ermuntern und ihnen diese nach Möglichkeit erleichtern31. Die Kenntnis der relativen Breite athenischer Straßen ermöglicht, eine Vorstellung vom Verkehrsfluss im asty zu bekommen und insbesondere davon, welche Wege für den Wagen- und welche ausschließlich für den Fußgängerverkehr bestimmt waren: ein für die Auffassung von möglicher Straßenerfahrung der Athener nicht unbeträchtliches Problem32. Die archäologischen Untersuchungen haben anhand der Wagenspuren in den innerstädtischen Straßen unzweifelhaft die Unrichtigkeit des Urteils etlicher Forscher erwiesen, dass es keinen Fahrzeugverkehr innerhalb der athenischen Mauern gegeben habe33. Auch wenn es die für den Wagenverkehr bestimmten Straßen (in den Schriftquellen als ἁμαξήλατος oder ἁμαξιτός bezeichnet34) intra muros gab, waren sie im Vergleich zu den außerstädtischen Straßen enger; dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Mehrheit der städtischen Wege nicht für den Wagenverkehr geeignet war. Das Problem stellte dabei nicht nur die Straßenbreite, sondern auch das uneinheitliche Bodengefälle dar, weswegen es zahlreiche Stufenstraßen gab35. Die Wagen traf man in Athen folglich vermutlich in den Hauptstraßen an, wo sie im Alltag zum Transport von Waren, Baustoffen und Anderem sowie während der religiösen Feste im Trauer- oder Hochzeitszug

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besser aus‘. Und was könnte jemand wohl dafür anführen? Die Mauerzinnen, die wir übertünchen, die Straßen, die wir ausbessern, Brunnen und derartige Tändeleien?“). coStaki 2006: 91 f. Wie dies im Lichte der Poroi Xenophons naheliegend wäre. Zu anderen Formen der Ermunterung zur politischen Teilhabe im Athen der Eubulos- und Lykurgära s. unten S. 281 f. Die Bestimmung der für den Wagenverkehr geeigneten Straßen hilft gleichzeitig die Zonen zu bestimmen, in denen sich gewisse Stätten – wie z. B. Wirtshäuser – befinden mussten, da viele davon ihre Waren (beispielsweise Wein in großen Amphoren) nur mithilfe von Wagen erhalten konnten. toynBee 1971: 92; vgl. ForBeS 1965a: 167 („Carriages and cars were mostly forbidden to enter the cities“); s. die Diskussion und Belege in coStaki 2006: 55–63. Z. B. Xen. hell. 2,4–10 bezeichnet die Straße vom Piräus zum asty als ἁμαξιτός. Vgl. young 1951: 166 f.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Verwendung fanden36. Die meisten städtischen Straßen waren den Fußgängern, aber auch den Tieren vorbehalten37. Es ist aus ikonographischen und schriftlichen Quellen gut bekannt, dass man unterschiedliche Arten von Waren auf dem Rücken von Tragtieren transportierte38. Für diese bildeten die Stufenstraßen und Steigen normalerweise kein großes Problem39. Die Präsenz der Tiere in athenischen Straßen regt zum Nachdenken über einen weiteren, für die Erfassung der Straßenerfahrung der Athener wichtigen Aspekt an: demjenigen der Sauberkeit. Straße als Bedrohung Das Gehen durch die athenischen Wege musste nicht immer zu den angenehmen Erfahrungen gehören, nicht selten konnte die Straße sogar eine gewisse Bedrohung für einen Passanten darstellen. Denn nicht nur stieß man dort wohl auf den von den Tieren hinterlassenen Unrat, sondern trugen selbst die Bewohner zur Verschmutzung der Straßen maßgeblich bei40. So berichtet der Redner in einer von Demosthenes verfassten Gerichtsrede, ein gewisser Kallikles habe „den Abfall direkt auf die Straße hinausgeworfen, wodurch er sie höher und enger machte“41. Dabei handelt es sich um einen Streit zwischen zwei attischen Bauern und bei der betreffenden Straße offenkundig um einen ländlichen, zwischen beiden Landgütern hindurchführenden Weg. Die Verhaltensweise des Kallikles entspricht aber, wie es scheint, nicht lediglich dörflichen Praktiken, sondern reflektiert grundsätzlich eine gewöhnliche Handlungsweise der Athener, auch derer, die im asty wohnten. Dies legt auch Aristophanes nahe, der in seinen Komödienstücken von schmutzigen Straßen berichtet und den Ausruf, der im alltäglichen Leben der Stadt vermutlich beinahe allgegenwärtig war, überliefert: ἐξίστω, den man mit „Vorsicht! Abstand halten“ übersetzten kann und welchen man beim Wegwerfen vom Dreck verwandte, um Passanten zu warnen42. Gewiss unerhört lustig – man fragt sich aber dabei, ob wirklich überspitzt und wie weit weg von der Alltagserfahrung – war für die Zuschauer im Theater die Szene aus den aristophanischen Acharnern. Dort verflucht der Chor einen gewissen 36 37

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Zu Transportmitteln der Antike, darunter Ochsenkarren s. BurFord 1960 und raepSaet 2002 (insb. S. 168–181). Die Straßenbreite von 3–4 m sah tHompSon 1948: 167 als ausreichend groß dafür an, dass zwei beladene Esel aneinander vorbeigehen konnten. Dagegen ermittelte kaiSer 2000: 88 in seiner Untersuchung von Empúries in Spanien 2 m als die minimale Breite, die für das Vorbeigehen zweier Tragtiere notwendig sei. Vgl. coStaki 2006: 88. Zu Equidae im Leben und Imagination der Griechen s. cHandezon 2005; griFFitH 2006a und 2006b, vgl. raepSaet 2002: 50–54, 68–71. Contra coStaki 2006: 61, die schreibt: „A stepped street was obviously only for pedestrians“. Wohl jeder Besucher des heutigen Griechenlands ist aber mit dem Bild von die Treppenstraße hinauf- bzw. hinuntergehenden bepackten Eseln oder Maultieren vertraut. Für ähnliche Verhältnisse in Herculaneum, Pompeji und Rom vgl. ScoBie 1986; dupré raVentóS / remoLà VaLLVerdu 2000 (non vidi); Hartnett 2017: 70–72. Demosth. 55,22: τὸν χλῆδον ἐκβαλὼν εἰς τὴν ὁδόν, ἐξ ὧν ὑψηλοτέραν τὴν αὐτὴν καὶ στενοτέραν πεποιῆσθαι συμβέβηκεν. Vgl. auch Demosth. 55,27 f. Aristoph. Ach. 616 f.

2.1 Straßen

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Antimachos und wünscht ihm, dass ihn jemand nachts in der Straße überfällt und dieser „nun rasch | Einen Stein will ergreifen im Dunkel der Nacht, | Dann lang’ er mit tappender Hand hinein | In ein dampfendes Häuflein – Menschendreck“43. Es sei hier noch hinzugefügt, dass es im klassischen Athen allem Anschein nach keine öffentlichen Latrinen im eigentlichen Sinne des Wortes gab (erst aus der römischen Zeit kennen wir zwei Beispiele44). Wenn jemand seine Notdurft verrichten musste, so zögerte er nicht lange, dies im öffentlichen Raum – auf dem Weg, dem Randstreifen oder in den Mistgruben – zu tun45. Auch allerlei Handwerker konnten möglicherweise nicht nur mit ihren Ständen oder Ausrüstung (z. B. Wäscheständer im Fall der Walker oder Gerber)46 in den Straßenraum drängen und auf diese Weise den Verkehr stören, sondern trugen auch weithin zur Beschmutzung der Straßen bei. Ein Beispiel dafür liefert die Ausgrabung des südwestlich der Agora gelegenen dreieckigen Kultgebäudes, welche in dessen Nähe eine tiefe Schicht von MarmorFlocken ans Licht brachte. Diese Stelle diente als ein Abfallhaufen für die unweit davon tätigen Marmorarbeiter47. Die Bewohner des asty und die dort Arbeitenden warfen bzw. schütteten also nicht selten allerlei Abfälle – Müll oder vor allem Spülwasser – durch Türen oder Fenster direkt auf die Straße hinaus. Dieser Fakt ist von großer Wichtigkeit, um sich die mögliche Stadterscheinung vergegenwärtigen zu können. Den Straßen entlang, an Straßenrändern, lagen wohl Müllhaufen verstreut herum, die letzten Endes zur ständigen Erhöhung des Straßenniveaus führten48. Da nicht viele der athenischen Straßen befestigt und elaborierter ausgearbeitet waren49, so ist es leicht sich vorzustellen, dass ein wichtiges Problem – nicht ausschließlich in der Regenzeit, sondern in Anbetracht der Praxis des Hinausschüttens von Flüssigkeiten auf die Straße und der Präsenz tierischen Urins auch bei gutem Wetter – der matschige Boden darstellte. Viele athenische Wege müssen in der Tat verhältnismäßig schlammig gewe43 44 45

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Aristoph. Ach. 1168 ff.: ὁ δὲ λίθον λαβεῖν | βουλόμενος ἐν σκότῳ λάβοι | τῇ χειρὶ πέλεθον ἀρτίως κεχεσμένον (Übers. L. Seeger). antoniou/angeLakiS 2015: 64. Vgl. gotteSman 2014: 29. Die Unrichtigkeit der von Vatin 1976: 556 dargestellten Deutung von Aristoph. Eccl. 320 ff. zeigt owenS 1983: 46, der ebenfalls bemerkt, dass „whenever necessary, citizens went ‚outside‘ or even defecated in the streets“. Vgl. HenderSon 1988: 1255 („Public urination and defecation were common sights but were conventionally ‚invisible‘ and not openly commented upon“). – Ähnliches gilt auch für die römischen Städte, vgl. Hartnett 2017: 71. Nach römischem Recht beispielsweise durften keine Gegenstände außerhalb der Werkstatt gelassen werden, obgleich es erlaubt war, dass die Walker die Kleider zum Austrocknen und die Radhersteller die Räder, sofern sie den Straßenverkehr nicht verhindern, auch außen aufstellen durften (Digest. 43,10,1,4), s. JoSHeL/peterSen 2014: 90. Zur widerrechtlichen Nutzung öffentlichen Straßenraumes und zu den antiken ‚Verkehrsregelungen‘ s. zimmermann 2002. LaLonde 1968: 132. LaLonde 1968 berichtet von Ergebnissen der Ausgrabung eines hieron, die zeigte, dass das Straßenniveau zwischen dem späten 5. Jh. v. Chr. und den Anfängen des 4. Jh. um mehr als eineinhalb Meter angestiegen sei, vgl. owenS 1983: 44; LieBeScHuetz 2015: 8. Aus der klassischen Zeit sind uns zwei Beispiele für befestigte Fahrbahnen aus dem asty bekannt: eine an der heutigen Aischylou-Str. 31 und eine an Parthenonos 19–25 ausgegrabene Straße, s. dazu coStaki 2006: 89 und insb. 52 f.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

sen sein und diesbezüglich nicht besonders ‚nutzerfreundlich‘, zumal es in Athen wahrscheinlich kaum gesonderte Bürgersteige gab, da die Mehrheit der Straßen, wie bereits bemerkt, sowieso nur für Fußgänger bestimmt war50. All dies führt zu der Frage nach einer möglichen Organisation und Durchführung der Instandhaltungsmaßnahmen von athenischen Straßen. Bedauerlicherweise verfügen wir für Athen nicht über Quellen, wie für Pergamon oder Thasos51, und sind daher diesbezüglich relativ schlecht informiert. Von athenischen Beamten oder sonstigen etwaigen Personen – astynomoi, hodopoioi und koprologoi –, die sich im Rahmen ihrer Verpflichtungen mit Straßen beschäftigt haben, berichtet in den 320er Jahren am ausführlichsten Ps.-Aristoteles in der Athenaion Politeia. Zu den Aufgaben der zehn durch Los ausgewählten52 Astynomen (fünf für das asty und fünf für den Piräus) gehörte unter anderem, darüber zu wachen, dass „kein Unratsammler innerhalb von zehn Stadien von der Stadtmauer Unrat ablädt. Sie verhindern außerdem, dass man (Gebäude) quer über die Straßen baut oder Balkone in die Straßen hineinragen läßt oder oberirdische Abflußrohre zur Straße hin anbringt oder Fenster, die sich zur Straße hin öffnen lassen. Sie bergen auch die (Leichen derer), die auf den Straßen gestorben sind, wofür sie Staatssklaven als Helfer haben“53. Ebenfalls durch Los wurden außerdem fünf Straßenaufseher (hodopoioi) gewählt, deren „Pflicht es ist, mit Hilfe von Staatssklaven die Straßen instand zu halten“54. Es stellt sich also die Frage, wo der Unterschied im Aufgabenbereich der Stadt- und der Straßenaufseher lag, wenn sich beide mit Straßen beschäftigen sollten. Der Erklärungsversuch von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff könnte auf den ersten Blick zutreffen, wonach die astynomoi für städtische und die hodopoioi für ländliche Straßen verantwortlich gewesen seien55, aber das diesbezügliche Schweigen des Ps.-Aristoteles scheint mir vielsagend. Vor dem Hintergrund dessen, was der Verfasser der Athenaion Politeia schreibt, ist meiner Meinung nach die Deutung überzeugender, dass die Astynomen für Sicherheit und Sauberkeit im öffentlichen Raum sorgten, die Straßenaufseher dagegen für den baulichen Zustand der Straßen (Ausbesserung der Löcher und Spurrillen usw.)56. Bei den von den Astynomen beaufsichtigten koprologoi (Unratsammler) handelt es sich entweder um öffentliche 50 51 52 53

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Dazu ausführlicher coStaki 2006: 36, 71–72; zum schlammigen Zustand der Straßen auch S. 78. Zu dem im 2. Jh. v. Chr. erlassenen Astynomengesetz von Pergamon s. kLaFFenBacH 1954 (= SEG 13: 521) und neulich SaBa 2012. Zu der in die Jahre ca. 470–460 v. Chr. datierten stèle du port von Thasos s. ducHêne 1992 (= SEG 42: 785). Vgl. Demosth. 24,112. [Aristot.] Ath. pol. 50,1 f. (Übers. M. Chambers). Vgl. auch Plat. leg. 6,763c, wonach die Agoranomen die Straßen im asty und diejenigen aus dem Lande in die Stadt führenden beaufsichtigen sollen (τῶν τε ὁδῶν ἐπιμελούμενοι τῶν κατὰ τὸ ἄστυ καὶ τῶν ἐκ τῆς χώρας λεωφόρων εἰς τὴν πόλιν). [Aristot.] Ath. pol. 54,1 (Übers. M. Chambers). – Aufgrund von Demosth. 3,29; 13,30 (vgl. auch Aischin. 3,25) hat kaHrStedt 1936: 143 Anm. 4 plausibel vorgeschlagen, die hodopoioi als reguläres Amt seien eine neue Errungenschaft im Jahr 348 v. Chr. gewesen. Vgl. pritcHett 1980: 145–153. Das Amt könnte in der Tat unter Eubulos eingerichtet worden sein, vgl. oBer 1985: 97, 215 f. wiLamowitz-moeLLendorFF 1893: 226 Anm. 80. Vgl. BuSoLt/SwoBoda 1926: 1116; rHodeS 1993: 596 f.

2.1 Straßen

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Sklaven57 oder, wie E. J. Owens recht überzeugend argumentiert hat, um Angestellte eines privaten Unternehmers, die die Mistgruben (koprones) zu entleeren beauftragt waren58. In einer seiner Komödien schreibt Eubulos spöttisch (dabei die unschönen Gerüche in thebanischen Häusern suggerierend), dass die Athener – anders als die Thebaner, die ihre Aborte direkt an den Haustüren haben (καὶ κοπρῶν‘ ἔχει ἐπὶ ταῖς θύραις) – weit rennen müssen, um ihre Notdurft zu verrichten, falls sie dies direkt in einem kopron machen möchten bzw. müssen59. Die koprones befanden sich allem Anschein nach spärlich verstreut60, so spärlich in der Tat, dass man sie aus diesem Grunde als topographische Referenzpunkte gebrauchen konnte61. Dies bezeugt ein Beschluss der Gemeinde der Kytheroi aus der 2. Hälfte des 4. Jh., der von der Verpachtung dreier Gebäude (einer Werkstätte, einem Wohn- und einem Nebengebäude) des Demos, die aber nicht in Kytheros selbst, sondern in Piräus lagen, an einen gewissen Eukrates handelt und in dem die Lage besagter Gebäude mit ἐπὶ τοῦ κοπρῶνος exakt bestimmt wurde62. Die Bewohner von Athen trugen folglich normalerweise gewisse Arten von Abfall, wie Exkremente63 oder Essensreste, aus ihren Häusern zum nächstgelegenen kopron, der periodisch von koprologoi entleert wurde. Dabei muss die Frage dahingestellt bleiben, wie viel von diesem Mist durch die koprologoi als Dünger weiterverkauft wurde. Die Beispiele aus anderen Poleis zeigen, dass der Dung gewinnbringend sein konnte und dass viele Bauern, die keine oder nicht ausreichend viele Tiere hatten, gezwungen waren, Mist zu kaufen64. Vor diesem Hintergrund ist beachtenswert, dass die athenische Polis nur an der Beseitigung von Mist interessiert war, nicht aber an der Gewinnabschöpfung daraus. 57 58

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martin 1974: 63; caiLLemer in DAGR, s. v. Astynomoi und s. v. Demosioi übersetzt den Begriff koprologoi als Straßenfeger (balayeurs), was jedoch fraglich ist, vgl. Vatin 1976: 556; owenS 1983: 45. owenS 1983. Es ist unvorstellbar, dass Unratsammler in einer Epoche ohne Elektrizität nachts gearbeitet hätten (so schreibt Harding 2015: 19). Zu athenischen Unratsammlern vgl. auch Aristoph. Vesp. 1184; Pax 9; Pollux 7,134. – Bei dem in [Demosth.] 25,49 im abfälligen Sinne erwähnten epistates kopronon handelt es sich wohl um eine erfundene Beschimpfung und nicht ein Amt; vgl. owenS 1983: 48 f., contra Vatin 1976: 558. Eubulos fr. 52 K-A = Athen. 10,417d. Einige Häuser hatten ihre eigenen koprones, wie die zwei aus Athen erhaltenen horoi (Steine, die markierten, dass das betreffende Haus oder Grundstück mit einer Hypothek belastet war) bezeugen: IG II2 2742 und Agora XIX H 110, vgl. auch Aristoph. Thesm. 485. – Zwei ausgegrabene Gruben außerhalb von Privathäusern in der Agora – eine mit den Ausmaßen von 0,75 × 1,30 m und der Tiefe von 0,50 m und die zweite, mit Steinen gepflasterte und mit den Ausmaßen von 1,10 × 1,70 m und der Tiefe von 1,15 m – wurden durch die Archäologen als koprones interpretiert: coStaki 2006: 94 f., 181 (mit weiterer Literatur). Dabei musste es sich offenkundig um Orte handeln, die für Wagen zugänglich waren. IG II2 2496,9–11: τὸ ἐργαστήριον τὸ ἐν Πειραεῖ καὶ τ|ὴν οἴκησιν τὴν προσοῦσαν αὐτῶι | καὶ τὸ οἰκημάτιον τὸ ἐπὶ τοῦ κοπρῶνος. Auch owenS 1983: 48, der zur Deutung der koprones als private Aborte neigt, bekennt diesbezüglich, dass „the fact that a kopron is mentioned to help locate a mortgaged property in Piraeus suggests that the koprones in the inscriptions were more than private latrine facilities“. Zur Wahrnehmung von Exkrementen in der Antike s. Van tiLBurg 2015. Vgl. HodkinSon 1988: 59 f.; aLcock/cHerry/daViS 1993: 149; auLt 1999: 556–559.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Nun ist es nicht klar, ob die koprologoi nur die koprones entleerten oder auch die Abfälle aus den Straßen abräumten. Man gewinnt aber anhand der erhaltenen Quellen den Eindruck, dass Letzteres im Aufgabenbereich der Astynomen lag, wobei dies die Frage aufwirft, wie oft sie die Reinigung der Straßen (und welcher) anordneten. Wurden derartige Reinigungsmaßnahmen zyklisch, bei Bedarf oder aus bestimmten Anlässen durchgeführt? Die Antwort bestätigt m. E. das bereits skizzierte Bild von relativ schmutzigen Wegen. Ein Dekret aus dem Jahre 320/319 v. Chr., das auch eine Pflichtübertragung von den in Piräus tätigen Astynomen an die Agoranomen bezeugt65, legt nämlich nahe, dass man die Straßen, nicht alle jedoch, sondern diejenigen, durch welche die Prozession läuft, und die Agora lediglich für gewisse religiöse Feste reinigte66. Zu der Zeit, von der besagtes Dekret aus Piräus spricht, war es – unter Androhung der Strafe von 50 Peitschenhieben im Falle der Sklaven und Metöken und vermutlich von Geldstrafe im Falle der Freien67 – verboten, die Agora und die Straßen mit Mist zu verunreinigen68. Bildeten tatsächlich die Feste den Grund für das Saubermachen der Stadt, so fabrizierte die Stadt – trotz der großen Anzahl an Festtagen – die Abfälle erheblich schneller und musste deswegen in ihrem Normalzustand verunreinigt gewesen sein. Man fragt sich des Weiteren, ob genauso wie vor kultischen Festen auch danach die Wege aufgeräumt wurden. Wohl unschwer ist sich nämlich vorzustellen, wie die Prozessionsstraße nach Festen ausgesehen haben musste, nachdem sie von zahlreichen Herden von Opfertieren passiert worden war. In dieser Frage ist man bedauerlicherweise weitgehend auf Spekulationen angewiesen. Die Sauberkeit des Raumes vor den Häusern scheint weitgehend ein privates Anliegen gewesen zu sein69. Das, was für einen modernen Betrachter als Schmutz wahrgenommen wird, muss jedoch nicht der Wahrnehmung der Menschen der Vergangenheit entsprochen haben. Denn wie die Anthropologin Mary Douglas in ihrem klassischen Werk formuliert hat, „jede Kultur muß ihre eigenen Begriffe von Schmutz und Unreinheit haben, die ihren Begriffen von der positiven Struktur, die nicht negiert werden darf, gegenüberstehen“70. Ergänzend dazu seien hier noch die Worte von Julia Kristeva zitiert, der zufolge „ce n’est donc pas l’absence de propreté ou de santé qui rend abject, mais ce qui perturbe une identité, un système, un ordre. Ce qui ne respecte pas les limites, les places, les règles. L’entre-deux,

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Auf Auftrag des Demades, vgl. geHrke 1976: 94; Hennig 1995: 247; o’SuLLiVan 2009: 313 f.; demetriou 2012: 194; E. M. HarriS 2013: 30. Vgl. das Dekret aus dem 3. Jh. v. Chr., in dem die Pflichten der astynomoi anlässlich der Prozession für Aphrodite Pandemos festgelegt wurden: IG II2 659. Da die Inschrift hier beschädigt ist, handelt es sich um eine Ergänzung: IG II2 380,40–43. IG II2 380,38–39: [μήτε] κοπρῶ|[σαι μήτ’ ἐ]ν τῆι ἀγορᾶι [μήτ’ ἐν τα]ῖ[ς ὁ]δοῖς, s. Vatin 1976: 557. Vgl. owenS 1983: 45 f.; coLe 2004: 49 f.; E. M. HarriS 2013: 30 f. Auch im Astynomengesetz von Pergamon (Z. 29–33) wurde festgelegt, dass die Hausbesitzer die Straße vor ihren Häusern im guten Zustand erhalten sollten; ähnliche Vorschriften finden wir auch in der stèle du port von Thasos (Z. 19–23), wo jedoch darüber hinaus gesagt wird, die epistatai sollen einmal im Monat die Straßen reinigen. Für die römische Welt vgl. ähnliche Regelungen in der Lex Iulia Municipalis: CIL I2 2,593. dougLaS 1985: 207.

2.1 Straßen

37

l’ambigu, le mixte“71. Der sich auf athenischen Straßen befindliche Müll – anders als der Mangel an persönlicher Hygiene72 – störte offensichtlich die kulturelle (anders aber als die kultische) Ordnung nicht wirklich und erschien somit für einen durchschnittlichen Athener wenig abscheulich. Er stellte für die Besucher und Bewohner des asty anscheinend kein großes Problem dar, sondern wurde als eine offensichtlich dazugehörige, beinahe natürliche Komponente des Alltagslebenes in der urbanen Landschaft betrachtet73. Darüber hinaus waren die Straßen, wie bereits bemerkt, nicht immer im besten Zustand. Während einige stets in einem guten Zustand gehalten wurden (wie der Panathenäische Weg), waren andere – insbesondere stark befahrene Straßen – reich an Spurrillen und Löchern, die man nicht immer professionell reparieren, sondern oftmals provisorisch mit unterschiedlicher Füllung flicken ließ. Archäologische Ausgrabungen haben gut gezeigt, dass zu diesem Zwecke in der Tat alles Mögliche – wie beispielsweise Knochen, Glas, Marmorsplitter, Scherben und sogar Ostraka (Letzteres in der Nähe der Agora) – zur Verwendung kam74. Derartig unebene Oberflächen konnten einige Schwierigkeiten bereiten. Eine weitere Art von Gefährdung des Straßenverkehrs und -lebens konnte durch die an den Straßen liegenden Gebäude entstehen. Nach einer bei Polyainos tradierten Anekdote soll Iphikrates die athenischen Bürger wegen einer schweren Finanzlage dazu überredet haben, die in die Straßen hineinragenden Teile von Privatgebäuden abzureißen oder zu verkaufen, „sodass ihre Besitzer zum Ausgeben von hohen Summen gezwungen wurden, wenn sie die Zerstörung oder Beschädigung des Gebäudes verhindern wollten“75. Die historische Glaubwürdigkeit dieser Nachricht ist zwar eher gering76, aber sie reflektiert ein gewiss existierendes Problem. Zwar sorgten die Astynomen für die Instandhaltung der Straßen, indem sie u. a. verhinderten, dass Dachrinnen und Balkone an Privathäusern nicht zur Straße hinaus erbaut werden, aber gefährlich für die Passanten waren sicherlich zusammenstürzende Häuser. Man weiß nämlich sowohl aus schriftlichen Quellen77 als auch archäologischen Befunden von leer stehenden, verlassenen und daher wahrscheinlich einsturzgefährdeten Häusern, wie denjenigen in der südwestlich der Agora (zwischen dem Areopagoshügel und der Pnyx) gelegenen sog. ‚industrial area‘ ausgegrabenen Häusern C, D 71 72

73 74 75 76 77

kriSteVa 1980: 12. Die Athener, genauso wie etwa die Römer, scheinen in ihrer Wahrnehmung streng zwischen der persönlichen Sauberkeit und derjenigen ihrer Umgebung unterschieden zu haben: Zur Hygiene- und Sauberkeitssensibilität der Römer vgl. JenkynS 2013: 39 f.; zur Wertschätzung und Bedeutung der persönlichen Sauberkeit als Distinktionspraxis in Athen s. unten Kapitel 3. Ähnliches wird häufig als typisch für alle vormodernen Gesellschaften angesehen, vgl. zur Geschichte von Schmutz, Gestank und Sauberkeit die Arbeiten von corBin 1982; VigareLLo 1988; coHen/JoHnSon 2005; aSHenBurg 2007; SmitH 2008. Vgl. coStaki 2006: 45 f.; StroSzeck 2003: 77. Polyain. 3,9,30. Hennig 1995: 243 f. young 1951: 247 entdeckte vor der Front eines von ihm untersuchten klassischen Hauses vier Pfostenlöcher, die möglicherweise Stützen für einen Balkon gewesen sein könnten; s. auch Hennig 1995: 245 Anm. 32. Thuk. 2,17,1; Xen. vect. 2,6; Aischin. 1,81 ff. mit Schol. ad loc. (vgl. aber tHompSon/Scranton 1943: 361).

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

sowie des Mikion und Menon78. Außer zur Zeit des Endes des Peloponnesischen Krieges, als viele Bürger zu ihren Häusern auf dem Lande zurückkehrten79, gab es – insbesondere im Laufe des 4. Jh. – weitere Gründe zum Verlassen eines Hauses oder sogar zur Verödung gewisser Stadtviertel, wie beispielsweise die zunehmenden Schwierigkeiten mit der Wasserversorgung80. Wegen all dieser möglichen Gefahren erforderte die Benutzung von Straßen im asty grundsätzlich unaufhörliche Konzentration. Denn bereits ein Moment der Unaufmerksamkeit konnte tatsächlich ein nicht allzu angenehmes Ende nehmen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lässt sich feststellen, dass all diese Faktoren – physische Erscheinung der Wege, ihr technischer Zustand, die sich dort abspielenden Handlungen – Einfluss darauf hatten, wie gewisse Straßen oder Stadtviertel wahrgenommen wurden und dass sie die Bewegungsstrategien der Menschen beeinflussen konnten81. Die sensorischen Faktoren konnten dabei eine Rolle spielen, und es ist leicht vorstellbar, dass man die stinkenden Gegenden (z. B. die Straßen, an denen die Gerber ihre Werkstätten hatten) zu vermeiden suchte82. Sklaven wiederum werden andere Strategien der Bewegung in der Stadt als die Freien gewählt haben, indem sie vermieden, an öffentlichen Folterstätten oder an den zum Zweck der Durchführung von Körperstrafen gelegentlich gebrauchten Mühlen83, woher das Schreien der gefolterten Sklaven mitunter zu hören war84, vorbeizugehen. Für Sklaven bot die Straße zeitweilige Anonymität, ja sie stellte einen Raum dar, in dem sich Sklaven ohne jegliche Kontrolle und, ohne das Minderwertigkeitsgefühl zu spüren, bewegen konnten85. Aus diesem Grunde bildete die

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85

SHear 1969: 394; camp 1986: 166; young 1951: 113 f., 183, 277. S. dazu coStaki 2006: 165, 175 ff. (mit weiteren Beispielen). Agora XXVII: 23. So Lauter-BuFe/Lauter 1971: 118 in Hinblick auf die Felsgegend des südwestlichen Athen, vgl. auch Lauter 1982: 49. Man sollte überdies im Gedächtnis behalten, dass die Lage der Freizeiteinrichtungen weithin von den Bewegungsstrategien der Menschen im städtischen Raum und auf den Verkehrslinien abhing, vgl. newSome 2011. Während der kultischen Feste hatten gewisse Straßen einen anderen Geruch als normal, wenn sie – wie die antiken Autoren bemerken (die Formulierung κνισᾶν ἀγυιάς in Aristoph. Equ. 1320; Av. 1233; Demosth. 21,51; 43,66) – mit Opferrauch erfüllt waren. – Vgl. allgemein zur olfaktorischen Wahrnehmung des Raumes (aus architektonisch-theoretischer Perspektive): BarBara/perLiSS 2006 und (aus einem kulturgeschichtlichen Blickwinkel): cowan/Steward 2007. Das Wort μυλών wurde als Synonym von ζητρεῖον bzw. ζήτρειον (Sklavenstrafhaus) gebraucht (vgl. Etym. m. s. v. ζητρεῖον). Als Orte ἵνα μὲν κολάζονται οἱ δοῦλοι nennt Pollux 3,78 μυλῶνες καὶ ζητρεῖα καὶ ζώντεια καὶ ἀλφιτεῖα καὶ χονδροκοπεῖα. Vgl. dazu kLeeS 1998: 199 ff. In einer ein wenig überspitzten Formulierung weist FLaig 2006: 33 darauf hin: „Neben der athenischen Agora, vor dem Hephaistos-Tempel, stellten Auspeitschungen einen sattsam gewohnten Anblick dar. […] Die Schmerzensschreie der Gepeinigten hallten vom Hephaistostempel über die Agora und strukturierten das Zentrum der Polis Athen als akustischen Raum“; vgl. rieSS 2012: 87. Die auf und nahe der Agora gelegenen Folterstätten bezeugen beispielsweise Aristoph. Plut. 874 f.; Isokr. 17,15. Vgl. ScHmitz 2004: 347; 388 Anm. 257. Vgl. [Xen.]. Ath. pol. 1,10; Plat. rep. 8,563 bc.

2.1 Straßen

39

Straße aus der Perspektive der Sklavenbesitzer eine Gefahr, da sie den Nichtfreien beste Gelegenheit zur Flucht bot86. Athenische Straßen, Wege und Gässchen schafften folglich einen öffentlichen Raum der Begegnungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, einen nicht nur von Häusern und Werkstätten, sondern dazu noch von Gräbern, Statuen, Hermen und allerlei Kultstätten übersäten Raum. Die Präsenz von Standbildern und Kultstätten gewisser Gottheiten an den Straßen weist überdies auf einen weiteren Aspekt des alltäglichen Lebens hin87. Abgesehen nämlich von oben erwähnten realen, augenfälligen Gefahren, stellten die Wege überdies eine andere Art von Bedrohung dar, eine durch die Athener instinktiv gespürte Gefährdung. Aller Art Grenzpunkte – Tore, Türschwellen, Kreuzungen – wurden in der griechischen Antike als liminale Orte angesehen, als abgesonderte Räume, die sich jeglicher Klassifizierung entzogen und daher gefährlich waren88. Im griechischen Glauben bildeten sie ideale Aufenthaltsorte für Geister, und deshalb benötigten Menschen beim Überqueren dieser göttliche Hilfe und Schutz. Dies hatte zur Folge, dass man bei Eingangstüren, Stadttoren und an verschiedenen Stellen an den Straßenrändern Statuen oder Kultstätten der Grenz- und Wegegötter aufstellte. Ein untrennbares Element des Stadtbildes von Athen waren folglich die schützenden und Übel abwehrenden Hermen (für Hermes mit den Beinamen Propylaios, Pylaios, Thyraios, Prothyros, Strophaios, Hodios)89, Agyieuspfeiler (für Apollon Agyieus)90 oder Hekataia (für Hekate Trioditis, Tetraoditis und Enodia)91. Insbesondere Kreuzungen und darunter in besonderer Weise Dreiwege erregten Furcht, da sie als unheimliche Orte, an denen sich Geister und rastlose Seelen aufhalten, wahrgenommen wurden. Bei Hekate, der Göttin der Dreiwege (mit der Epiklese Trioditos), aber auch der Straßen und Wege (mit Beinamen Enodia), suchte man Schutz davor, indem man nicht nur ihr geweihte Bildnisse oder kleine Heiligtümer (beide wurden als Hekataia benannt92) aufstellte, sondern periodisch gewisse rituelle Praktiken vollzog.

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Für die römische Perspektive s. JoSHeL/peterSen 2014: 97. Zur religiösen Dimension der persönlichen Erfahrung der Athener von Straßen s. BeSt 2015. JoHnSton 1991. Zu den Hermen s. LIMC V: 306, Nr. 187; ferner s. beispielsweise SieBert 1991; JaiLLard 2001; SeiFert 2006: 93–115; mcniVen 2009: 319–324. oSBorne 1985b: 65 (= oSBorne 2010: 363 f.) stellt fest, dass: „the herm re-presented the individual Athenian to himself, and this not just on a few special occasions in the year, as with the Dionysiac mask, but every time he set foot outside his house“. Vgl. aber dazu daVidSon 2014: 137–138, der behauptet, dass es sich dabei nicht um jeden Athener, sondern nur um Bürger in bestimmtem Alter handele. Kritisch zu solchen Deutungen äußert sich etwa ruBeL 2000: 194 f. – Zu Hermes als Gott der Tore und Wege vgl. zograFou 2010: 154–159, 165–169. Z. B. Aristoph. Vesp. 875 mit Schol. ad loc.; Demosth. 21,52 (mit macdoweLL 2002 ad loc.); Harpokr. s. v. Ἀγυιᾶς. Dazu s. FeHrentz 1993; SeiFert 2006: 134–141; zograFou 2010: 124– 132. Z. B. Aristoph. Vesp. 804; Lys. 594 mit Schol. ad loc.; Plut. mor. 193 f. (= reg. et imp. apophthegm.); Harpokr. s. v. ὀξυθύμια; Hesych. s. v. ἑκάταια. S. dazu JoHnSton 1991; Faraone 1992: 16 Anm. 51; zograFou 1999; dies. 2010: 109–122, 227–248; SeiFert 2006: 115–133; SeraFini 2015: 101–164. Schol. Aristoph. Vesp. 800–804: ἱερὸν Ἑκάτης, Ἑκάτης ἄγαλμα.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Während der νουμενία, bei Neumond, zusätzlich ebenfalls bei Vollmond93, reinigte und bekränzte man, Philochoros zufolge, Standbilder der Göttin94 und legte an ihnen δεῖπνα bzw. δόρπα, ‚Mahlzeiten‘, nieder95. Außerdem deponierte man an Kreuzungen verunreinigte Überbleibsel von häuslichen Riten, die sogenannten ὀξυθύμια bzw. καθάρσια96. Diese Orte, normalerweise wahrscheinlich angstvoll vermieden, zogen die Armen an, die anstelle von Hekate die deponierten Lebensmittel verspeisten97, und diejenigen, die mit Hilfe der Magie die Geister und Götter zur Seite schieben und so auf den Lauf der Ereignisse Einfluss nehmen wollten98. Gewiss weit überspitzt sind die Maßnahmen des von Theophrast dargestellten Abergläubischen: Wenn „er bei Ölsteinen an einer Wegkreuzung vorbeikommt, gießt er aus seinem Ölfläschchen etwas darüber, fällt auf die Knie, küßt den Stein, und erst dann entfernt er sich“99. Aber es ist wohl damit zu rechnen, dass die Athener, wenn sie gezwungen waren, eine Kreuzung zu überqueren, sich dort vorsichtshalber anders benahmen als an den übrigen Orten der Stadt. Da die Straßen eine primäre Arena der Kommunikation waren, so waren sie auch notwendigerweise eine primäre Arena einer spezifischen Art von Interaktion, nämlich des Streits100. Zu Recht bemerkt Barbara Kellum, dass die Konfrontation auf der strukturellen Ebene gewissermaßen in die Straße selbst integriert gewesen sei101. Jegliche Begegnung im öffentlichen Raum konnte sich abrupt in einen scharfen Wortwechsel, aggressiven Zank und sogar eine Schlägerei verwandeln, umso mehr als die Athener, anders als man bisweilen nachzuweisen versucht hat102, insgesamt betrachtet bei weitem nicht immer friedliebende und altruistisch agierende Menschen waren103. Aus dem Korpus der attischen Redner ist ersichtlich, dass es an Situationen mit Konfliktpotenzial im Alltag der Athener nicht mangelte und gerade die Straße häufig zur Szene des Streitspektakels wurde104. Die letzte 93 94 95 96 97 98 99 100

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Philoch. FGrHist 328 F 86. Theopomp. FGrHist 115 F 344 (= Porph., de abst. 2,16). Demosth. 54,39; Aristoph. Plut. 594 mit Schol. ad loc.; Plut. mor. 290d (= aet. Rom. et Gr.), 708 f. (= quaest. conviv.); Apollodor FGrHist 244 F 109a. Vgl. parker 1983: 30 f.; JoHnSton 1991: 219 f. Suda, Phot. und Etym. m. s. v. ὀξυθύμια. Vgl. JoHnSton 1991: 220 Anm. 17 (mit weiteren Belegen). Aristoph. Plut. 594–597. – In Demosth. 54,39 wirft interessanterweise Demosthenes seinem Gerichtsgegner Konon vor, dieser habe mitsamt seiner Freunde die der Hekate gegebenen Mahlzeiten (τά Ἑκαταῖα) gegessen. In Plat. leg. 933b erwähnt Platon die u. a. an Kreuzungen hinterlassenen Wachspuppen; s. JoHnSton 1991: 223 f. Theophr. char. 16,5 (Übers. D. Klose). Mit dem Streit als einer Art von Interaktion hat sich aus soziologischer Perspektive ausführlich Georg Simmel beschäftigt, s. SimmeL 1955. – Die Landstraßen stellten darüber hinaus einen Tätigkeitsbereich der Räuber dar, s. z. B. Xen. mem. 2,1,15; Demosth. 23,53 (ἐν ὁδῷ καθελὼν, hierzu vgl. todd 1993: 274 Anm. 18 und pHiLLipS 2008: 60; s. aber SoSin 2016, der einen anderen Deutungsvorschlag dieser Stelle bietet). keLLum 1999: 285. S. vor allem Herman 2006, vgl. auch ders. 1994 und 1995. Vgl. coHen 1995; cHriSt 1998. S. dazu ausführlicher rieSS 2012.

2.1 Straßen

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Formulierung bringt es auf den Punkt: Eine verbale Auseinandersetzung oder ein Gezerre weniger daran beteiligter Privatpersonen wurde – dadurch da sie im öffentlichen Raum der Straße eingesetzt hatte – zu einem öffentlichen, viele Menschen involvierenden Straßenkonflikt, ja einem Schauspiel, eines im Crescendo öffentlich abspielenden ‚Kampfs um Ehre‘105. Denn man hört bei attischen Rednern stets von Schaulustigen, die am Vorfallsort – οἷον εἴωθε γίγνεσθαι, „wie gewöhnlich“, fügt ein Redner in seiner Anklagerede hinzu106 – sofort auftauchten, um jegliche Raufereien mit Blicken zu verschlingen und jeglichen Streitigkeiten zuzuhören107. Gewiss betonen dies die Redner vor Gericht, um zu signalisieren, dass es viele Zeugen des Vorfalles gebe, die sicherlich jederzeit bereit wären, genau die präsentierte Version der Geschehnisse zu bestätigen108. Dies entsprach aber in gewissem Grade der Realität. Den Angriff des Atheners Simon auf einen Knaben namens Theodotos und dessen Verfolgung soll sich dem Redner zufolge sogar eine Menge von mehr als 200 Gaffern angesehen haben, einige davon sollen auch Hilfe geleistet haben109. Ohne jeden Zweifel eilten viele der sich in der Nähe befindenden Passanten zu den Orten, an denen sich etwas Gravierendes abspielte, wenn auch nur um der Befriedigung ihrer Neugier willen. Dabei darf man dennoch nicht von vornherein ausschließen, dass sich Athener in bestimmten Situationen ebenfalls von edelmütigeren Instinkten leiten lassen konnten110. Unruhen im öffentlichen Raum und Entführungen einer Person von der Straße (wie dies im Falle des gerade erwähnten Theodotos geschah) konnten viele Athener entrüsten, weil sie Assoziationen mit den Praktiken der ‚Dreißig Tyrannen‘ hervorriefen111. Viele Passanten und Zeugen des Vorfalls fühlten sich beinahe dazu verpflichtet, dem Geschädigten eine helfende Hand zu reichen, wie das Beispiel des Walkers Molon aus der 3. Rede des Lysias zeigt112. Anhand dieser Fälle ist ersichtlich, dass athenische Straßen bisweilen auch einen Raum der Solidarität und Kooperation darstellten. Ein nicht auszuschließender Beweggrund für Akte der Unterstützung und Kooperation in der Öffentlichkeit könnte sein, dass diese Gesten sichtbar waren. Die Visibilität derartiger Handlungen war für die nach Ehre und Ansehen strebenden Bürger nicht unerheblich, sie stellte überdies eine Chance dar, sich ergebene, für die Hilfe dankbare Personen zu gewinnen.

105 Vgl. BrüggenBrock 2006. 106 Aischin. 1,60. 107 Z. B. Aischin. 1,60; Lys. fr. 279,6 Carey; Lys. 3,27; Isokr. 18,5; vgl. auch Demosth. 47,60. Es ist offenkundig, dass Augenzeugen die Information über gewisse Geschehnisse weiter verbreiteten, vgl. Demosth. 21,85. 108 Vgl. [Demosth.] 45,13. 109 Lys. 3,27. Für weitere Beispiele der Hilfeleistung von Passanten s. cHriSt 2012: 28–41. 110 Vgl. SternBerg 2006. Dagegen äußerst sich cHriSt 2012, der für einen geringen Grad an Hilfsbereitschaft der Athener Unbekannten gegenüber plädiert. – Zu den Kooperationswerten vgl. ferner adkinS 1972: 112–119; rieSS 2012: 131 f. 111 Vor allem die Festnahmen der Menschen durch die ‚Dreißig Tyrannen‘ im sakralen Raum, wie der Agora oder eines Heiligtums, sah man als empörend und abscheulich an (Lys. 12,96; Demosth. 22,52; 22,68; 24,164); zur Festnahme auf der Straße s. Lys. 12,30. 112 Lys. 3,16.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Straße als Chance Bei all den oben skizzierten, möglichen gefährlichen Aspekten der Straße, wurde diese gleichzeitig als Raum der Gelegenheit betrachtet. Eine Konfrontation zwischen Ariston und Konon mitsamt seiner Söhne, die sich auf den Straßen und der Agora abspielte, ist dank der bereits in der Antike eifrig gelesenen demosthenischen Rede gut bekannt113; sie zeigt besonders gut, dass die Athener gewohnt waren, durch die Straßen zu spazieren. Der Ankläger in dieser Rede, Ariston, berichtet, dass er mit seinem Freund Phanostratos abends auf der Agora umhergegangen sei (περιπατοῦντος) und zwar ὥσπερ εἰώθειν, „wie es meine Gewohnheit ist“. Seine Beschreibung lässt es zu, die Spazierroute in groben Zügen zu rekonstruieren. Neben dem Leokorion114 und nahe den Läden eines gewissen Pythodoros115 (κατὰ τὸ Λεωκόριον, ἐγγὺς τῶν Πυθοδώρου) soll ihnen der bereits angeheiterte Ktesias, einer der Söhne Konons116, entgegenkommen sein. Dieser sei, nachdem er einen Schrei ausgestoßen und zu sich selber etwas gemurmelt habe, weiter in die Richtung des Demos Melite hinaufgegangen, um dort mit seinen Freunden bei einem gewissen Walker Pamphilos Wein zu trinken. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt trafen beide Spaziergänger abermals Ktesias, diesmal aber in Begleitung einer stark betrunkenen Runde – seines Vaters Konon und einiger Freunde. Dies geschah, als „wir uns von dem Bezirk der Persephone abwendeten und zurückgingen, gerade in der Nähe des Leokorions“117. Lassen wir an dieser Stelle die Geschehnisse und Folgen der in der demosthenischen Rede skizzierten Geschichte des Ariston beiseite und konzentrieren uns nur auf die bereits genannten Details. Aus dem Bericht Aristons geht hervor, dass er und sein Freund Phanostratos längere Zeit (zwischen der ersten und zweiten Begegnung mit der Familie Konons) in der Gegend der Agora verbrachten und durch dortige Straßen spazierten. Bemerkenswerterweise betont der Redner – und wir werden in weiteren Teilen dieser Arbeit noch sehen, dass er dies nicht ohne Grund tut –, er sei wie gewöhnlich (ὥσπερ εἰώθειν) spazieren gegangen. Es ist offenkundig, dass sich Ariston als einen vorbildlichen Bürger darstellt und gerade 113 Vgl. carey/reid 1985: 69–74; uSHer 2001: 245 ff.; Herman 2006: 156–159; BrüggenBrock 2006: 220–226; macdoweLL 2009: 242–245; rieSS 2012: 97 ff. 114 Zum Leokorion s. unten S. 129–132. 115 Offensichtlich dienten sie als eine Landmarke in Athen. Interessanterweise spricht der Redner im Plural von τῶν Πυθοδώρου, was mehr als eine Bude suggeriert. Dass es sich dabei um Läden handelt, wissen wir anhand von Isokr. 17,33, der Πυθόδωρον γὰρ τὸν σκηνίτην καλούμενον erwähnt, wobei es sich bei dem Wort σκηνίτης um einen Händler, der seiner Tätigkeit in einer Standbude (σκηνή) nachging, und nicht, wie BerS 2003: 69 Anm. 9 feststellt, um einen Zelthersteller handelt (vgl. auch IG II2 1672,13–15 und 171 aus dem Jahre 329/8 v. Chr., wo man von einem gewissen σκηνίτης Pamphilos erfährt, der verschiedene Baumaterialien für die Reparaturarbeiten des Eleusinion lieferte). Vgl. ferner Harpokr. s. v. σκηνίτης; Agora III, Nr. 625. – Der besagte Pythodoros sei Isokrates zufolge ein Bekannter des Bankiers Pasion und überdies phönizischer Herkunft gewesen (Isokr. 17,4), vgl. gotteSman 2014: 42 Anm. 47. Die Vermutung, Pythodoros sei möglicherweise selbst ein Bankier gewesen (so Agora XIV: 123), scheint wenig überzeugend. 116 Nicht mit dem berühmten athenischen Strategen zu verwechseln. 117 Demosth. 54,8: ἀναστρέφουσιν ἀπὸ τοῦ Φερρεφαττίου καὶ περιπατοῦσιν πάλιν κατ' αὐτό πως τὸ Λεωκόριον εἶναι.

2.1 Straßen

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daher präsentiert er en passant seine Spaziergänge durch athenische Straßen als eine Angewohnheit. Eine solche soziale Praxis entsprach nämlich den spätklassischen gesellschaftlichen Normen und Erwartungen an die Bürger. Auch wenn die Mehrheit der Straßen im asty wegen ihrer Dimensionen und ihrem Zustand nicht besonders gut geeignet für das Promenieren war, so war die Gegend der Agora mit dem Panathenäischen Weg und anderen vergleichsweise gut erhaltenen Wegen dafür ideal. Entgegen der populären Ansicht gehörte der Stadtbummel, das Spazieren (das Verbum peripateo taucht in antiken Texten nicht selten auf und eben von diesem Verb leitet sich der Name des Spazierweges unterhalb der Athener Akropolis, des Peripatos, ab118), zu einer bevorzugten Aktivität der Athener119, ja beinahe zu einer Verpflichtung im Falle der um ihre Reputation besorgten Bürger. Ein tüchtiger Bürger glich in der sozialen Vorstellung beinahe einem flâneur. Man spazierte nicht nur um des Vergnügens willen, sondern um sich sehen zu lassen, anders formuliert: um seine soziale Einstellung und daher auch Anständigkeit publik zu machen. Die Straße stellte für einen Bürger insofern eine Gelegenheit dar, denn gerade dort konnte er bestens seine soziale Stellung und seine Reputation durch alltägliche Formen der sozialen Interaktion aushandeln. Marloes Deene betont zu Recht, dass „the social recognition of one’s honour often came in ordinary forms of social interaction, such as forms of greetings or in the inclusion of exclusion in a formal or informal group“120. Diese alltäglichen Interaktionen auf der Straße unterlagen gewissen gesellschaftlichen Regeln, an die sich jeder Bürger anpassen sollte. Nur Misanthropen und verdächtige Individuen spazierten die Mauern entlang, mit einer griesgrämigen Miene121, nur arrogante Menschen gingen durch die Straßen mit gesenktem Blick und ohne jemanden anzusprechen122. Als Ausdruck der sophrosyne betrachteten die griechischen Autoren die frohgemute Gehweise auf der Straße123. Selbst in der Bewegungsstrategie offenbarte sich die soziale Hierarchie: Man sollte beispielsweise ehrwürdige Bürger auf der Straße durchlassen124. Man könnte annehmen, dass an gewissen Wegen (sowohl im als auch außerhalb des asty) Steinsitze (thokoi) gefälligkeitshalber zur Verfügung der Passanten aufgestellt wurden125, so dass sie sich während des Spaziergangs bzw. der Reise von den Strapazen ausruhen oder bequemere Umstände zum Unterhalten mit unterwegs getroffenen Menschen haben konnten. Bekannte auf der Straße anzusprechen, gehörte offen-

118 Die am Osthang der Akropolis befindliche Felsinschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. gibt den Namen des Weges und seine Länge von fünf Stadien und achtzehn Fuß (also ungefähr 1,1 km) an: IG II2 2639; traVLoS 1971: 229 Abb. 294; zum Peripatos-Weg vgl. Lauter 1982: 51. 119 So auch coStaki 2006: 212. Darauf wird im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlicher eingegangen, s. S. 216 f. 120 deene 2013a: 21. 121 [Demosth.] 45,68. 122 Theophr. char. 24,8. Vgl. zu anderen schlimmen Verhaltensweisen auf der Straße: Theophr. char. 15,6; 4,15. 123 Plat. Charm. 159b. 124 Theophr. char. 2,5. 125 Men. Dysk. 176.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

kundig zu den Regeln der Höflichkeit126, aber einen unbekannten Passanten dreist anzureden und mit einer Erzählung zu belästigen, wurde als Ausdruck der Ungehobeltheit verstanden127. Die Interaktion auf der Straße beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Kommunikation unter Anwesenden. Der Passant interagierte mit dem im öffentlichen Raum der Straße präsenten geschriebenen Wort – mit Statuen, Stelen, Grabstelen und Graffiti. Da der Leseakt in der griechischen Antike bekanntlich ein akustischer Prozess war – man las nämlich laut128 –, ist es leicht vorzustellen, welche Folgen dies für das Straßenleben in Athen hatte. Zwar sind auf uns keine Graffiti aus dem städtischen Raum Athens gekommen, aber die Beispiele aus der römischen Welt genügen, um sich davon zu überzeugen, dass man in antiken Gesellschaften gern verschiedene Graffiti im öffentlichen Raum einritzte, um sich einen Scherz über den Leser zu erlauben129. Auch der Stadtraum Athens war voll von derartigen Graffiti, wobei diese soziale Kommunikationspraxis lediglich durch literarische Quellen bezeugt ist130. Aristophanes, der ein einzigartig scharfes Auge und ein gutes Gehör für die Begebenheiten und Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens hatte, gibt in seinen Komödien nicht selten en passant die der Wirklichkeit entsprechenden Geräusche und das Stimmengewirr, Gerüche, Tumult, Handlungen, ja das wahre Kolorit des urbanen Straßenlebens, in meisterhafter Weise wider131. Dieses farbige Bild reproduziert die vieldimensionale Realität des athenischen Straßenlebens: brüllende Marktfrauen, sich herumtreibende Bettler, mit Besorgungen herumhantierende Sklaven, ihre Angelegenheiten erledigende und mit anderen schwatzende Menschen132 oder auch die auf bzw. an der Straße tätigen Prostituierten133, die die Passanten mit dem 126 Die Diskussionen betrafen natürlich alle möglichen Themen, sowohl aktuelle Fragen des politischen Lebens als auch die Banalitäten des Alltags, insbesondere persönliche Angelegenheiten, z. B. wie man der Einberufung zum Militärdienst entgehen könnte (Lys. 9,6). Damit bildete die Straße eine Fundgrube der Informationen für die Sykophanten (Demosth. 57,33). 127 So verhält sich der von Theophr. char. 4,15 dargestellte Bäurische. 128 SVenBro 1999: 56: „Before the invention of silent reading, writing aimed at the production of a voice, not at a representation of it“. Diese komplexe Problematik untersucht in einer brillanten Studie SVenBro 2005. 129 S. beispielsweise CIL 4,2360: „Amat qui scribit, pedicatur qui legit. | Qui obscultat prurit, paticus est qui praeterit. | Ursi me comedant et ego verpa qui lego“; vgl. keLLum 1999: 287. 130 Aristoph. Ach. 143 f.; Vesp. 97 ff.; Lukian. dial. meretr. 4,2; 4,3; 10,4. Zu Graffiti im klassischen Attika s. tayLor 2011a. 131 Nach wie vor grundlegend dazu ist eHrenBerg 1962. 132 Im spätklassischen Athen, wie in allen vorindustriellen Gesellschafen, stand die Straße an allererster Stelle für die Informationsübertragung, vgl. czarnowSki 1986: 209 f.; LeVitaS 1986: 233; HoLLeran 2011: 251. 133 Als Name einer Prostituierten ist das Wort Leophoros (‚Hauptverkehrsstraße‘) bezeugt (Hartmann 2006: 46). – Zu Recht schreibt FautH 1967: 359 f. (non vidi, zitiert nach coHen 2015: 4 Anm. 14), dass „‚das Hinauslehnen aus dem Fenster‘ zu einer hetärenhaften Praxis erotischer Anlockung gehörte“, vgl. Aristoph. Thesm. 797 ff.; Eccl. 878–882. – Für ‚das Hinauslehnen aus dem Fenster‘ in Thasos s. die Regelungen in der stèle du port mit graHam 1998, der die These von ducHêne 1992, derzufolge es sich in der Inschrift um Maßnahmen zum Schutz von Dächern gegen Schäden handele, überzeugend widerlegt; laut Graham gehe es um die Regelung des Kundenfangs durch Prostituierte. Vgl. ferner Henry 2002. Zur stèle du port vgl. auch coLe 2004: 53–57.

2.1 Straßen

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Anpreisen ihrer Leistungen behelligten134. Das Arbeitsgebiet der Marktfrauen und Händler beschränkte sich aber keinesfalls auf das Gebiet der Agora, sondern sie waren an allen hochfrequentierten Orten anzutreffen, wie den Toren oder größeren Straßen135. Viele Bauern verkauften ihre Waren direkt vom an einer Straße ‚geparkten‘ Wagen aus136, und manche Händler hatten ihre Geschäfte in an den Straßen gelegenen Gebäuden. Die Kollytos-Straße (der Demos Kollytos lag wahrscheinlich südlich des Areopag und westlich der Akropolis), stenopos Kollytos, fungierte als eine ‚Marktstraße‘137. Auch auf der antiken Koile-Straße, die von dem asty zum Piräus zwischen den Langen Mauern führte, haben die archäologischen Ausgrabungen die zur Straße offenen Bauten ans Tageslicht gebracht, welche als Warenstände interpretiert wurden138. Beide besagten Straßen – Kollytos und Koile – standen über den Pass von Hagios Lumbardaris in enger Verbindung139. Es wundert kaum, dass gerade die verkehrsreichen Straßen in dieser, mit dem Hafen in Verbindung stehenden Gegend als ‚Marktstraßen‘ dienten. Es ist leicht vorzustellen, wie der Alltag in dieser betriebsamen, bunten Umgebung voller unterschiedlicher, sich mischender Geräusche und Gerüche, aussehen musste. Die Akustik des Alltagslebens war voll „mit dem Lärm der Wagen, den vom Hafen kommenden und zu ihm hinstrebenden Fußgänger, den Ausrufen und Anpreisungen der Krämer wenigstens zu den Hauptverkehrszeiten“140. All dies und noch viel mehr fügte die Alltagsatmosphäre des athenischen Stadtlebens zusammen und bestimmte wesentlich die Straßenerfahrung der Athener141. Der asty-Raum verwandelte sich während der Festzeiten zeitweilig in einen ganz besonderen Ort, wenn die Prozessionsstraßen gereinigt wurden und sie demzufolge einen anderen Bedeutungsgehalt wie zur übrigen Zeit im Jahr annahmen. In einer ganz besonderen Weise bildete die Straße zu dieser Zeit eine Gelegenheit. Vor allem dann, wenn auf ihr die Menschenmassen entlangströmten und sich an einem Ort zu derselben Zeit eine beträchtliche Anzahl von Bürgern versammelte, war die

134 S. insbes. Aristoph. Eccl. 693–701; 881 f. (vgl. HaLLiweLL 2002: 127, 131); Theophr. char. 28,3 (dazu vgl. diggLe 2004 ad loc.). Vgl. Xen. mem. 2,2,4; Phrynichos fr. 34 K-A; Hesych. s. v. στατή. Zur reichen Terminologie der Prostitution im Griechischen s. kappariS 2011: 222–255. Zur Prostitution im klassischen Athen s. vor allem daVidSon 1997: 73–136; gLazeBrook/Henry 2011; coHen 2015. 135 Auch Bettler waren verständlicherweise vor allem an Orten anzutreffen, an denen der Verkehr gezwugen war, zu verlangsamen oder anzuhalten, wie Stadttore oder Brückenauffahrten. 136 S. z. B. Alexis fr. 9 K-A (= Athen. 10,431e). 137 Himerios in Phot. Bib. P. 375B Bekker: Στενωπός τις ἦν Κολυτὸς οὕτω καλούμενος ἐν τῷ μεσαιτάτῳ τῆς πόλεως […] ἀγορᾶς δὲ χρείᾳ τιμώμενος, vgl. coStaki 2006: 205. 138 Lauter 1982: 46, 48. 139 Lauter 1982: 52 Anm. 18. 140 Lauter 1982: 49. 141 Diese war je nach dem Status unterschiedlich; die wohlhabende Elite konnte für sich im öffentlichen Straßenraum gewissermaßen Privatsphäre schaffen, indem sie sich durch die Straßen nicht zu Fuß, sondern in einer Sänfte (ἐπὶ φορείου) bewegte, vgl. Deinarch. 1,36 (diese Stelle zeigt allerdings, dass solch eine Transportweise in der demokratischen Gesellschaft des spätklassischen Athen als Zeichen der tryphe wahrgenommen wurde und daher nicht gut angesehen war).

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Straße – wie Violaine Sebillotte schrieb – „un espace publicitaire“142. Denn gerade die Kultfeste stellten eine einzigartige Gelegenheit für jeden athenischen Bürger dar, sich durch die Teilnahme an der Prozession in der Öffentlichkeit als guter Polit zu zeigen. Die Nichtbeteiligung eines Bürgers an solchen Anlässen oder aber indezentes Verhalten in der Öffentlichkeit hatte nicht selten die Erosion des Vertrauens gegenüber dieser Person zur Folge. In besonderer Weise mit kultischen Aktivitäten verbunden waren die breiten Straßen (hodoi und plateiai), wie diejenigen in Piräus143, die ‚Heilige Straße‘144, die Straße nach Phaleron145 und der Panathenäische Weg. Insbesondere Letzterer, der vom Dipylon zur Akropolis führte und sich durch seine monumentale Dimension auszeichnete, war zur Zeit des Panathenäen-Festes Szene einer prächtigen, äußerst feierlichen Prozession, einer sich bewegenden Synthese des Polisbildes. Auf einer bestimmten Strecke entlang dieses Weges und zu seinen beiden Seiten wurden Löcher entdeckt, die höchstwahrscheinlich zum Aufstellen von Sitzbänken (ikria)146 oder eventuell von Verkaufsständen dienten. Die Benennung des Panathenäischen Weges als dromos und die diesbezügliche Deutung, er habe für die Durchführung der gymnikoi agones gedient, wurde zwar von Stephen G. Miller147 in Frage gestellt, aber es kann daran kein Zweifel bestehen, dass diese Straße dank ihrer Lage, materiellen Dimension und Bedeutung eine permanente Arena des Agons um die bürgerliche Reputation war. Als solche gedeutet werden können auch die im Gebiet des Kerameikos befindliche Straße mit den an ihr angelegten Ehren- und Staatsgräbern für Gefallene sowie die ca. 6 m breite Tripodenstraße148 mit den an ihr aufgestellten prächtigen Choregenmonumenten, welche sich vom Prytaneion auf der alten Agora zum Dionysos-Theater erstreckte und gewiss viele Spaziergänger anzog149. Ihr entlang wurden seit dem 4. Jh.150 die choregischen Weihgeschenke mit oben darauf platzierten Dreifüßen aufgestellt, welche die Errungenschaften der reichen Bürger, die für den Unterhalt der siegreichen Chöre aufkamen, und zugleich ihre Verdienste für die Polisgemeinschaft zum Ausdruck brachten151. Reichen, aber weniger erfolgreichen Bürgern blieb in der spätklassischen Zeit nur übrig, sich und 142 SeBiLLotte 1997: 310. 143 IG II2 380,19–20: ἐπιμεληθῆναι τοὺς ἀγορανόμους τῶν ὁ|δῶν τῶν πλατειῶ[ν], ἧι ἡ πομπὴ πορεύεται. 144 Paus. 1,36,3. 145 An einem (vermutlich dem zweiten) Tag der Eleusinischen Mysterien ging ein Festzug nach Phaleron, wo die mystai im Meer badeten: IG I3 84,35–36, vgl. diLLon 1997: 62 f.; coStaki 2006: 139 f. 146 camp 1986: 45 f.; kotSidu 1991: 131; coStaki 2006: 94; FicucieLLo 2008: 151 f. 147 miLLer 1995: 212–218. Vgl. auch StroSzeck 2003: 74 f. 148 coStaki 2006: 88, 224–230; miLLer 1970; roBertSon 1998: 287; greco 2001; ageLidiS 2009: 115. 149 Lauter 1982: 51: „Auf der Tripodenstraße konnte man sich ergehen, besinnlich den Gedanken an glänzende theatralische Erfolge und der Betrachtung der bildenden Kunstwerke hingeben, die an sie erinnerten und sie an Bedeutung vielleicht noch übertrafen“; s. ferner ageLidiS 2009: 119. 150 S. ageLidiS 2009: 118 für die These, dass die Choregen „bereits im späten 5. und frühen 4. Jh. […] ihre prunkvollen Denkmäler […] zu erbauen begannen“. 151 Dazu s. Lauter 1982: 50; ageLidiS 2009.

2.1 Straßen

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ihre Familie mithilfe anderer Kommunikationsmedien, wie beispielsweise Gräbern, oder einfach mit der persönlichen Präsenz im öffentlichen Raum und entsprechenden Verhaltensweisen zu inszenieren. Den räumlichen Kontext des dialogischen Verfahrens in den Sozialbeziehungen der Athener, worunter ich nach dem Soziologen Richard Sennett „Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit für andere Menschen“152 verstehe, bildete folglich in erster Linie die Straße. Gerade sie fungierte als primäres Theater menschlicher Aktivität im spätklassischen Athen und stellte deswegen den Raum der demokratischen Transparenz dar, „un lieu d’une transparence réalisée“153. Die Selbstinszenierung der Bürger im Straßenraum, ihre Verhaltensweisen und alle Handlungen wurden durch ihre Mitbürger aufmerksam beobachtet, und zu dieser gegenseitigen Kontrolle trug selbst die materielle Dimension athenischer Straßen bei. Die schmalen Sträßchen und Gässchen erleichterten die Überwachung des Straßenlebens und hatten größere Intimität zwischen Menschen zur Folge. Das Stadtbild Athens ähnelte in dieser Hinsicht einer ‚Inselkultur‘154. Prägnant bringen das Heide Lauter-Bufe und Hans Lauter auf den Punkt: „Die ganze Stadt ist dann wie eine einzige Wohnung“155. Genauso wie andere öffentliche Räume zeichnete sich auch die Straße in sozialer Hinsicht durch eine größere ‚Vieldimensionalität‘ aus: Straßen waren nämlich öffentliche Orte, die Angehörige verschiedener sozialer Schichten, unterschiedlicher Gruppen der athenischen Gesellschaft und Fremde zusammenführten. Allerdings waren, wie oben in groben Umrissen zu zeigen versucht wurde und was noch in weiteren Teilen der Arbeit näher untersucht wird, die Verhaltensweisen der Bürgergruppe auf der Straße von bestimmten sozialen Normen geprägt. Die Bürger sollten Konventionen der Höflichkeit und Regeln alltäglicher Geselligkeit folgen. Die bürgerliche Interaktion auf der Straße trug nicht selten Merkmale eines Schauspiels: Der Bürger, zumindest der gute, anständige Bürger, spielte seine Rolle gemäß dem sozialen Szenario, inszenierte sich selbst und seine Familie im öffentlichen Raum, um soziales Vertrauen zu gewinnen, seine sozialverträgliche Neigungen zu beweisen und damit seinen gesellschaftlichen Rang auszuhandeln. ‚Zu spielen‘ bedeutete im spätklassischen Athen ‚zu sein‘, ‚zu sein‘ bedeutete ‚gesehen zu werden‘. Der Straßenraum prägte die Menschen, ihre Raumwahrnehmung und alltäglichen Verhaltensweisen, obwohl sich diese entsprechend dem Sozialstatus gewiss unterschieden. In sozialer Hinsicht weist die Straße sowohl verbindende als auch trennende Wirkungen auf: Sie bildete eine Arena der alltäglichen Auseinandersetzungen, Kooperationen, des gegenseitigen Beobachtens. Trotz vieler Gefahren bot die Straße ebenso viele Chancen. Im Kampf um Ansehen und Ehre war sie jedenfalls von höchster Wichtigkeit.

152 153 154 155

Sennett 2012: 29. Zur demokratischen Transparenz vgl. Loraux 1978. Lauter 1982: 51. Lauter-BuFe/Lauter 1971: 123.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

2.2 AGORA Bekannt als Zentrum, Seele, Herz und Nabel der Polis, hat die klassische156 Agora Athens ihr physisches Gesicht infolge und dank der langwierigen Arbeit etlicher Archäologengenerationen beinahe vollauf enthüllt157. Und obwohl sie wahrscheinlich bei weitem das besterforschte Areal der antiken Stadt ist, lässt die Fachliteratur meist nur ihr materielles Antlitz bestaunen: ihre architektonische Gestaltung und Ausprägung. Hingegen bleibt die menschliche Dimension – ihr menschliches Gesicht sozusagen – oft in der Dunkelheit, als ob es für die Forscher abwesend, nicht greifbar wäre. Den Versuch eines Paradigmenwechsels in der Betrachtung der Athener Agora machte in den 1990er Jahren Paul Millett, der in seinem viel beachteten Essay Encounters in the Agora dazu aufforderte, die athenische Agora in unserer Vorstellung „wieder mit Menschen zu füllen“158. Auf den folgenden Seiten wird versucht, einen impressionistischen Blick auf die Agora als Soziotop zu werfen. Eine genauere Untersuchung der jeweiligen Interaktionsräume, von denen manche auf der Agora lagen, wird aber separat in den folgenden Unterkapiteln geschehen. Dass die Agora das Zentrum des soziopolitischen Lebens der alten Griechen war, kommt einer Binsenweisheit gleich. Sie war ein öffentlicher Raum par excellence, einer der von Kostas Vlassopoulos besprochenen ‚Freiräume‘ (free spaces)159, in denen sich Menschen unterschiedlichsten Alters, Standes und Geschlechts trafen und welche die sozialen Interaktionen und Beziehungen förderten und identitätsstiftend wirken konnten. Die athenische Agora stellte in der Tat einen Ort der kommunikativen Konstruktion von Identität dar, und dies vor allem deswegen, weil gerade sie in ganz besonderem Maße als Palimpsest wahrgenommen wurde, als – um den Ausdruck des serbischen Architekten und Künstlers Bogdan Bogdanović zu verwenden – ‚Depot gesammelter Erinnerungen‘160. Die Athener Agora war nämlich ein Spiegel vieler Auseinandersetzungen, Spannungen und Kontroversen, die das Leben der athenischen Demokratie markierten. Sie war ein Depot etlicher Schichten der Vergangenheit, der Erinnerungen an alltägliche Begegnungen und Ereignisse, der Verknüpfungen mit mythischen Geschehnissen oder religiösen Konnotationen. Es versteht sich daher von selbst, dass gewisse, symbolisch aufgeladene Orte auf der Agora alltägliche Verhaltensweisen der Menschen bedingen und die Herausbildung kollektiver Identität beeinflussen konnten161. In 156 Ihre Vorgängerin – die archaia agora – war höchstwahrscheinlich östlich oder nordöstlich der Akropolis gelegen (contra kenzLer 1997, vgl. ferner doronzio 2011), s. dazu u. a. SHear 1994; ScHnurr 1995a und dies. 1995b; LippoLiS 1995; miLLer 1995; papadopouLoS 1996; Luce 1998; roBertSon 1998; HarriS-cLine 1999; ScHmaLz 2006; martin-mcauLiFFe/papadopouLoS 2012. 157 Für einen zusammenfassenden Überblick s. wycHerLey 1956; camp 1986; ders. 2001: 257– 261; ders. 2010; camp/mauzy 2009; kneLL 2000: 63–114; gotteSman 2014: 26–43. S. ferner Agora XIV; Börner 1996. 158 miLLett 1998: 212 („repopulate it in our imagination“). 159 VLaSSopouLoS 2007, der den Ausdruck aus der Studie von eVanS/Boyte 1986 übernommen hatte. Vgl. ferner SoBak 2015. 160 Bogdanović 1994: 20. 161 Theoretische Überlegungen zur raumbezogenen Identität bieten u. a. weicHHart 1990; weicHHart/weiSke/werLen 2006: 21–38.

2.2 Agora

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diesem Zusammenhang heben sich insbesondere zwei Orte heraus: der nordwestliche Bereich der Agora zum einen und der Standort der Tyrannenmörderstatue zum anderen (s. Abb. 3a). Beide verband man mit der Idee der Freiheit und des Selbstopfers für das Wohl der Gemeinschaft. In der nordwestlichen Ecke der Agora befand sich nämlich der Bereich des göttlichen Retters und Beschützers der Polis. Dort lag die um 420 v. Chr. erbaute Stoa des Zeus Eleutherios mit dem Altar und der Statue des Zeus Soter162 davor. Gerade diese Gegend diente – offenbar nicht ohne Grund163 – im 4. Jh. v. Chr. als Aufstellungsort der Ehrenstatuen für Konon und Euagoras164, die als Befreier der Hellenen galten165, und nicht umsonst stellte man 378/7 v. Chr. den Volksbeschluss des Aristoteles mit der Einladung zum Zweiten Attischen Seebund gerade παρὰ τὸν Δία Ἐλευθέριον auf166. Bis zum Jahr 394/3 v. Chr., als die Athener den Strategen Konon und den König des zyprischen Salamis Euagoras mit Statuen für den Sieg über die spartanische Flotte bei Knidos im Sommer 394 v. Chr. ehrten, war die Tyrannenmördergruppe167 das einzige staatlich168 gestiftete Ehrenmonument im Bereich der Agora. Aufgestellt war diese Statue unweit des Leokorion169, bei dem Hipparch getötet worden war, offenbar an einer gut sichtbaren, vermutlich absichtlich isolierten Stelle – am Panathenäischen Weg, höchstwahrscheinlich dem Metroon gegenüber und auf der anderen Seite der Orchestra, wo sie von allen Passanten gesehen werden musste170. Im Norden wird das Gebiet der Agora von der Stoa Poikile begrenzt, einem Gebäude, welches in semantischer Hinsicht den bereits besprochenen Stellen in der nordwestlichen Ecke der Agora ähnelt. Denn sie wurde zum Zweck der Ausstellung von ‚patriotischen‘, d. h. die athenischen Heldentaten der historischen oder mythischen Vergangenheit darstellenden Gemälden (die berühmte Darstellung der 162 kroLL 1993: 54–57 plädiert dafür, dass gerade diese Statue auf athenischen Bronzemünzen abgebildet wurde, die Anfang des 2. Jh. v. Chr. im Umlauf waren und den nackt stehenden Zeus, mit dem Blitzbündel in der rechten, an den Leib angelegten Hand und mit dem linken ausgestreckten Arm, darstellen. Vgl. ferner oLiVer 2003: 104 f. – Zum Kult des Zeus Eleutherios/ Soter auf der Agora s. roSiVacH 1987; raaFLauB 2004: 102–117; vgl. ferner LeBreton 2013: 190–236. 163 Vgl. oLiVer 2007: 197; SHear 2011: 277 f.; azouLay 2014: 128. 164 Isokr. 9,57 (Agora III: Nr. 29). Dazu s. domingo gygax 2016: 192–196. 165 Demosth. 20,69 (‚ἐπειδὴ [Κόνων]‘ φησὶν ‚ἠλευθέρωσε τοὺς Ἀθηναίων συμμάχους‘). Vgl. Isokr. 9,56 (οἱ δ' Ἕλληνες ἠλευθερώθησαν); Deinarch. 1,14 (τοὺς Ἕλληνας ἐλευθερώσαντος). 166 IG II2 43,65–66; vgl. LiddeL 2003: 82; meyer 2013: 491 ff. 167 An die Stelle der angeblich von Xerxes entführten Tyrannenmördergruppe des Antenor trat 477/6 eine neue, diejenige von Kritios und Nesiotes. Eine ‚Biographie‘ dieser Statuen bietet jetzt azouLay 2014 (mit weiterer Literatur). 168 Im Falle der beim Altar der zwölf Götter aufgestellten Bildnisstatue des Leagros (IG I3 951) handelt es sich wohl um eine private Bildnisweihung, vgl. Seaman 2002: 109 f.; SHear 2011: 275 Anm. 45; azouLay 2014: 296 Anm. 19. Irreführend ist die Feststellung von neer/kurke 2014: 549, dass „Leagros met his death in 465/4 as leader of an ill-fated colonial expedition to settle in Thrace; the city found this setback particularly painful, erecting a memorial in the Kerameikos“. Zur Person des Leagros s. rauBitScHek 1939: 160–164 (= ders. 1991: 200–203). – Zur Aufstellung von Ehrenstatuen in Athen s. jüngst domingo gygax 2016: 124–131. 169 Zum Leokorion s. unten S. 129–132. 170 Zur Lokalisierung s. azouLay 2014: 56 ff. (mit der Karte auf S. 57), vgl. SHear 2012: 41.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Schlacht von Marathon, darüber hinaus Darstellungen der Schlacht von Oinoe, des Amazonenkrieges und des Trojanischen Krieges) und Beutegütern (wie beispielsweise die von den Spartanern auf Sphakteria erbeuteten Schilde) benutzt171. Die Visualisierung einer der Hauptbürgertugenden, der Tapferkeit der Athener, an einem so zentralen Ort erscheint durchaus verständlich, und es ist leicht vorstellbar, wie ein derartig genutzter und symbolisch und emotional behafteter Raum die alltäglichen Interaktionen der Bürger in dieser Gegend beeinflussen konnte. Insbesondere da man in spätklassischer Zeit mit dieser Stoa auch mehr grauenhafte Erinnerungen verband, da genau dort die ‚Dreißig Tyrannen‘ angeblich ca. 1400 Bürger hatten umbringen lassen172. Diese Gegend, zwischen der Stoa des Zeus Eleutherios und der Stoa Poikile, war auch von zahlreichen Hermen173 – darunter auch dreien, die geweiht wurden, um des Siegs Kimons über die Perser am Strymon und der Einnahme der thrakischen Stadt Eion 476/5 v. Chr. zu gedenken174 – gefüllt. Nach Robin Osborne und anderen Forschern seien sie von den Athenern mit solchen Werten wie Gleichheit, Freiheit und Widerstand gegen Tyrannei assoziiert gewesen175. All dies macht deutlich, dass gerade dieses Gebiet der Agora in klassischer, aber – wie neue Befunde zeigen176 – ebenfalls in hellenistischer Zeit eine besondere kommemorative Funktion erfüllte177. Am westlichen Rand der Agora lagen – außer der bereits erwähnten Stoa des Zeus Eleutherios – Bauten, die als Amtslokale dienten. Die Stoa Basileios, in der sich der Sitz des Archon Basileus befand und die gelegentlich für die Sitzungen des Areopags genutzt wurde178, bildete auch den Ausstellungsort der Gesetze und des Opferkalenders des Nikomachos. Dort – auf dem vor der Halle befindlichen Stein (lithos) – leisteten Archonten, Schiedsrichter (diaitetai) sowie Zeugen im Falle der Zeugnisverweigerung (exomosia) ihre Eide179. Weiter südlich lagen das Amtslokal des Rates der Fünfhundert, das Bouleuterion sowie das Metroon, in dem das Staatsarchiv untergebracht war. In der südlich des Metroon gelegenen Tholos hatten die Prytanen ihren Sitz. Im dem noch weiter südlich davon gelegenen Gebäude, welches früher als Strategeion gedeutet wurde, neuerdings aber aufgrund der in seiner Nähe gefundenen zahlreichen Poleteninschriften und einer großen Anzahl von in 171 Paus. 1,15. Vgl. caStriota 1992: 76–88. Quellenzeugnisse zur Stoa Poikile in: Agora III: 31–45. 172 Diog. Laert. 7,1,5. 173 Vgl. camp 2014: 98–101; kremmydaS 2012: 383. – Man hört auch von einer Hermenstoa (Aischin. 3,183), die jedoch bisher nicht lokalisiert werden konnte. roBertSon 1999 zufolge sei der Ausdruck ‚Hermenstoa‘ eine andere Bezeichnung der Stoa Basileios gewesen. In einem 1997 gehaltenen Vortrag plädierte hingegen Angelos Matthaiou für die These, dass sich das Gebäude, das heute als Stoa Poikile gilt, besser als Hermenstoa identifizieren lasse (berichtet von camp 2001: 261). 174 Aischin. 3,183 ff.; Plut. Kimon 7,4 f., vgl. Demosth. 20,112. 175 oSBorne 1985b; raaFLauB 2001: 323 ff.: BaLot 2014: 254 f. 176 camp 2014: 100. 177 Vgl. oLiVer 2007: 197. 178 [Demosth.] 25,23. 179 [Aristot.] Ath. pol. 55,5; 7,1; Plut. Solon 25,3; Demosth. 54,26. Vgl. dazu SommerStein/BayLiSS 2013: 38 f.; 91–100; 108–111; zum lithos vgl. SHear, Jr. 1994: 242–245.

2.2 Agora

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einem der Räume dieser Baustruktur geborgenen silbernen Tetradrachmen als Poleterion180, saßen vermutlich die öffentlichen Versteigerer (poletai). Die mit festen und eindrucksvollen Amtsgebäuden bebaute Westseite der Agora bezeichnete man deswegen summarisch als ta archeia181. Über diesem Gebiet erhob sich im Osten der Kolonos Agoraios mit dem dort befindlichen, sehr raffinierten und höchst beeindruckenden Hephaisteion182. Das Prestige dieses Monuments musste jedoch durch seine direkte Umgebung gemindert werden, denn gerade dort befanden sich qualmende und lärmende Werkstätten der Bronzegießer183. Ebendort hörte man ferner gelegentlich das Schreien der in der Folterstätte gemarterten Sklaven184. Daneben schwärmte darüber hinaus arbeitsloses Gesindel in der Hoffnung herum, ebendort eine Arbeit als Tagelöhner (μισθωτοί bzw. μισθαρνοῦντες) zu finden185. Die südliche Grenze der Agora wurde von Bauten beherrscht, die in erster Linie handelswirtschaftlichen Zwecken dienten. Im in der südwestlichen Ecke der Agora befindlichen Aiakeion, das in der Forschung lange als Heliaia interpretiert wurde, wurde Getreide gelagert186. In dem langen, zweischiffigen Säulengang (Südstoa I) wiederum befanden sich 16 kleine Räume, in denen wahrscheinlich Gelage abgehalten wurden. Ebendort speisten allem Anschein nach die Mitglieder des Kollegiums der Metronomoi, möglicherweise auch die Archonten, von denen sechs (Thesmoteten) dort ihren Sitz hatten187. Weiter östlich – neben dem Brunnenhaus – lag die Münzstätte (argyrokopeion). Nur an der Ostseite war das Gebiet der Agora von keiner festen, monumentalen Bebauung beschlossen. Östlich des Panathenäischen Weges befand sich lediglich der Gerichtshof, westlich davon wiederum ein offener Raum der Orchestra188. Dieses Gebiet, wie auch die Ostseite der Agora, wurde von Läden, Verkaufsständen 180 181 182 183 184 185

Agora XIX: 66–67; camp 2007: 657–660; ders. 2010: 51 f.; ders. 2014: 102. Agora III: 126; Agora XIV: 25. Vgl. reBer 1998. wycHerLey 1978: 68 f. Isokr. 17,15; vgl. oben Anm. 84. Zu den Kolonetai, Herumsteher auf dem Kolonos Agoraios, s. beispielsweise Aristoph. Av. 997 mit Schol. ad loc.; Pherekrates fr. 142 K-A; Com. adesp. fr. 828 K-A; Harpokr. s. v. κολωνέτας, vgl. ferner Kratinos fr. 281 K-A. Dazu s. FukS 1951 (= ders. 1984: 303 ff.). – Nach oBer 1989: 129, vgl. auch S. 192: Da ca. 90–95 % der athenischen Bürgergruppe einer Erwerbstätigkeit nachgegangen seien, wäre anzunehmen, dass unter den auf dem Kolonos arbeitssuchenden Sklaven und Metöken ebenfalls athenische Bürger anzutreffen gewesen seien; coHen 2000: 142 Anm. 60, ders. 2007: 163 und ders. 2015: 45 vertritt die wenig überzeugende Meinung, wonach beinahe alle Kolonetai Sklaven gewesen seien, vgl. gLuSkina 1975: 420 f. Anm. 36; s. aber tayLor 2011b: 120, ferner auch engeLS 1989: 137. – Vgl. ferner Ameipsias fr. 1 K-A (ap. Athen. 7,307d–e), wo eine Bühnenfigur in die Agora geht, um eine Arbeit zu finden. 186 Stroud 1993 und ders. 1998. Vgl. jedoch moreno 2007: 113 Anm. 163, der Strouds Deutung in Frage stellt. – Der Zusammenhang von Aiakos und Getreide habe kowaLzig 2007: 182 zufolge darin bestanden, dass dieser Heros als Retter aus Hungersnot wahrgenommen worden sei; s. jedoch die kritischen Bemerkungen von poLinSkaya 2013: 157 ff. 187 Agora XIV: 77 f.; rotroFF/oakLey 1992: 38; miLLett 1998: 216; Hyp. fr. 45,142 Blass; vgl. aber morgan 2011: 277. 188 In der Orchestra konnte man nach Plat. apol. 26d–e Bücher kaufen; vgl. Eupolis fr. 327 K-A; Agora XIV: 171; s. ferner caroLi 2016. In der Orchestra habe Timaios Sophist., Lex. Plat. s. v. ὀρχήστρα, zufolge das Monument der Tyrannenmörder gestanden.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

und Werkstätten eingenommen und hatte folglich vorrangig einen klar kommerziellen Charakter189. Dieser, notwendigerweise flüchtige, knappe und reduktionistische Seitenblick auf die Topographie der spätklassischen Agora sollte verdeutlichen, dass ihr Raum, zumindest in groben Zügen, einer gewissen Ordnung folgte. Bestimmte Handlungsarten wurden gewissen Sphären des Agorabereichs zugeordnet, und dies hat die alltäglichen Bewegungsstrategien der athenischen Bürger und ihre gegenseitigen Interaktionen im städtischen Raum gewiss beeinflusst. Interessanterweise widerspricht das gerade Gesagte dem von dem Komödiendichter Eubulos gezeichneten Bild: in Athen wird alles an demselben Ort zum Verkauf gelangen: Feigen, Aufseher und Trauben wie auch weiße Rüben, Birnen, Äpfel, Zeugen, Rosen, dann Mispeln, Würste, Honigwaben, Kichererbsen und Prozesse, auch Erstmilch, Quark und Myrten, Wahlurnen, Hyazinthen, Hammel, Wasseruhren, Vorschriften, Gesetzestexte190.

Diese Passage nahm man häufig in der Forschung für bare Münze und ihr folgend skizzierte man das Bild der Agora als ein ungeordnetes Durcheinander von Bewegungen und Objekten aller Art, Gerüchen und Stimmen, politischen und wirtschaftlichen Handlungen, Verwaltungsgebäuden und Verkaufsständen. Das Pandämonium der Geräusche und Gerüche stellte die Agora zwar ohne jeden Zweifel dar, ihr Raum war aber durchaus multifunktional und dynamisch. Nichtsdestoweniger aber war die Agora für die Athener in gewissem Sinne ein Vorbild der räumlichen Ordnung: In seinem Oikonomikos lässt Xenophon den Athener Ischomachos seine junge Frau über die ‚Schönheit der Ordnung‘ belehren. So solle im Haus alles an seinem rechten Platz sein, genau wie dies im Fall der Agora zu sehen sei191. Die Aussage des Ischomachos spielt auf die Tatsache an, dass der als Marktplatz dienende Teil der Agora in bestimmte Abschnitte (topoi, mere), je nach Warenart, unterteilt war. Man erfährt aus unseren Quellen beispielsweise vom Bereich der Parfümhändler192, dem der Lebensmittelhändler (d. h. der opson-Händler)193, der Fischverkäufer194, der Käsehändler195, der Ge189 Zum Bereich im Norden und im Osten der klassischen Agora als Konzentrationspunkten der Gewerbe s. camp 2003: 247 ff.; ders. 2007: 642–645. 190 Eubulos fr. 74 K-A (ap. Athen. 14,640b–c; Übers. C. Friedrich). 191 Xen. oik. 8,19–22. wycHerLey 1956: 8 (ähnlich auch in Agora XIV: 171) zufolge besitze diese Passage einen latent ironischen Unterton; „Xenophon too must be exaggerating“ schreibt er, aber m. E. spricht nichts für solch eine Deutung. 192 Quellen in Agora III: 202 f.; ausführlicher dazu unten S. 69–77. 193 Aischin. 1,65 mit Schol. ad loc. Zur Bedeutung von opson s. kaLitSunakiS 1926; daVidSon 1995; ders. 1997: 21–35. 194 Z. B. Aristoph. Vesp. 788–791; Ran. 1068; andere Quellen in Agora III: 195 f. – Zum symbolischen Gehalt des Fischkonsums, darunter zur Verknüpfung von Fischkonsum und revolutionärem Umsturz, s. daVidSon 1993; ders. 1997 passim; vgl. aber manSouri 2010: 140–144; zu Fischhändlern und Fischessern im athenischen Diskurs vgl. ferner möLLer 2011. 195 Lys. 23,6, wonach sich die in Athen ansässigen Plataier regelmäßig „am frischen Käse“ getroffen haben. Aufgrund des in dieser Passage verwendeten Verbs syllegomai kommt todd 2007:

2.2 Agora

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fäß-196 oder der Fleischverkäufer197. Eine Bühnenfigur in einer Komödie des Eupolis erwähnt den Ort, an dem man Bücher verkauft und beschreibt darüber hinaus ihre Route durch die Agora, indem sie bestimmte Teile erwähnt: „Ich ging hin zum Knoblauch und zu Zwiebeln | und zu Räuchermitteln und direkt zu Gewürzen | und rund herum Nippes“198. Außerdem bezeugen antike Autoren die Existenz eines Markts der guten Pferde199, einer Frauenagora200, wo vermutlich die für Frauen typischen Waren käuflich waren, und eines Marktes der Kerkopes, auf dem gestohlene Güter angeboten worden sein sollen201. Man könnte vermuten, dass sich diese ‚Märkte‘ – möglicherweise bis auf den Markt der Kerkopes, sollte man seine Existenz akzeptieren202 – innerhalb der klassischen Agora befanden. Man könnte hier viele weitere Beispiele anführen203, um die spezialisierte Aufteilung des wirtschaftlichen Bereichs der Agora präziser abzubilden, doch die bereits knapp angeführten zeigen deutlich, wie räumlich geordnet der Athener Markt gewesen war. Die Namen der an jenem Ort angebotenen Waren verwendete man als Referenzpunkte, die die Orientierung im Raum des Marktes erleichterten; diese Tatsache kann von einer festen Bestimmung gewisser Teile der Agora zeugen. Man darf dabei aber nicht allzu weit gehen: Es ist nämlich durchaus denkbar, dass es sich bei bestimmten Orten innerhalb der Agora um ‚ephemere Orte‘ handeln könnte,

196 197

198 199 200 201

202

203

611 Anm. 7 zu dem Schluss, dass „the Plataian expatriate community at Athens […] hold what may be more formal meetings (the verb is sullegomai) on the last day of each month at the fresh-cheese stalls“; ähnlich auch SoBak 2015: 685; 687. Quellen in Agora III: 204. Quellen in Agora III: 196 f. Zu athenischen Metzgern s. z. B. Alexis fr. 103,23 ff. (ein mageiros verkauft Ziegenköpfe); Theophr. char. 6,9; 9,4; vgl. BertHiaume 1982 (S. 44–59 zum Metzger; S. 62–70 zum Fleischverkäufer). Zum Verkauf und Konsum vom Aas und nicht geopfertem Fleisch in Athen s. parker 2010, vgl. naiden 2013: 241–250; zum Wildfleisch s. cHandezon 2009. Eupolis fr. 327 K-A: οὖ τὰ βυβλί' ὤνια. || περιῆλθον εἰς τὰ σκόροδα καὶ τὰ κρόμμυα, | καὶ τὸν λιβανωτόν, κεὐθὺ τῶν ἀρωμάτων, | καὶ περὶ τὰ γέλγη. Vgl. dazu oLSon 2014: 15–18. Theophr. char. 23,7. Theophr. char. 2,9; 22,10. Quellen in Agora III: 201 f. Vgl. wycHerLey 1978: 59 und vor allem FiSHer 1999: 58. wrenHaVen 2012: 88 f. zufolge sei es denkbar, dass gerade dieser Markt als Verkaufsort missgebildeter Sklaven gedient habe (ähnlich auch weiLer 2004: 346). Da laut Suda s. v. Ἀργεῖοι φῶρες die Argiver einen Ruf als Diebe gehabt hätten, vermutet wycHerLey 1956: 7, dass die in Athen bezeugte Agora der Argiver ein alternativer Name der Agora der Kerkopes gewesen sein könnte. Die Lokalisierung dieser Agora ist in den Quellen mit dem Verweis an die benachbarte Heliaia beschrieben. Allerdings hat Stroud 1998: 85–104 die Identifizierung des in der südwestlichen Ecke gelegenen und lange als Heliaia gedeuteten rechteckigen Peribolos in Frage gestellt und diesen Bau schließlich als Aiakeion identifiziert. Die Lage der Heliaia bleibt also unbekannt und es ist nicht auszuschließen, dass sie (und deswegen auch der Markt der Kerkopes) außerhalb der klassischen Agora zu suchen ist, denn wie SHear 2007: 104 (teilweise in Anlehnung an BLanSHard 1999, non vidi) schlussfolgert, gebe es in den Quellen keine Unterstützung dafür, dass Gerichtsprozesse auf der Agora stattgefunden hätten. Viele Forscher erkennen die Heliaia im unter der späteren Attalos-Stoa ausgegrabenen Gebäude A (so z. B. FiSHer 1999: 85 Anm. 21 mit weiterer Literatur). S. z. B. karVoniS 2007.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

d. h. um diejenigen, die lediglich ein paar Stunden pro Tag oder pro Woche jenem Zwecke gedient haben204. Ein solches Beispiel stellen möglicherweise die sog. kykloi dar, die als Verkaufsstätten von Sklaven gedeutet wurden und die, wie neulich argumentiert wurde, nur einmal im Monat stattgefunden haben205. Dasselbe lässt sich des Weiteren womöglich auch für den oben bereits erwähnten Markt der guten Pferde vermuten, denn man erfährt aus unserem Quellenmaterial von monatlich abzuhaltenden Viehmärkten206. Allerdings gab es gewisse Bereiche des Marktes, die sich durch Parallel- oder Simultannutzungen auszeichneten, wenn dort mehrere Handlungen gleichzeitig nebeneinander abliefen oder man bei einem Notfall dazu gezwungen war, den Nutzcharakter eines Raumes rasch zu ändern. Dies illustriert jenes Beispiel vom Herbst 338 v. Chr. gut: Als die Nachricht von der Einnahme Elateias durch Philipp in Athen eintraf und die Archonten davon erfuhren, „da sprangen die einen sogleich mitten von Mahle auf, ließen die Buden (skenon) auf dem Markte räumen und steckten die Hürden (ta gerra) in Brand; andere schickten nach den Strategen und riefen den Trompeter herbei. Die Stadt war voller Getümmel“207. Diese Geschichte lässt in besonderer Weise die Dynamik des Raumes der Agora erkennen. Provisorische Verkaufsstände aus einem bestimmten Bereich der Agora konnte man somit leicht entfernen, wenn dazu wichtige Gründe vorhanden waren, und das Gesicht gewisser Teile der Agora konnte demzufolge von einem Tag auf den anderen weitgehend geändert werden. Außer derartig schlichten und primitiven Marktbuden gab es aber möglicherweise innerhalb der und gewiss angrenzend an die Agora ein wenig festere Gebäude, die als Läden, Werkstätten und manchmal gleichzeitig Wohnräume gedient haben208. Bei den athenischen ergasteria handelt es sich oft nicht bzw. nicht immer nur um Werkstätten der Handwerker, sondern in manchen Fällen um Räume, in denen ebenfalls der Verkauf erfolgte209. Aber sie, gerade wie der ganze Raum der Agora, stellten immer auch einen Ort der alltäglichen Interaktionen dar, und dies interessiert uns hier besonders. Hier, genauso wie auf den Straßen, trafen sich Menschen, die verschiedenen Strata der Gesellschaft angehörten. Unter den Verkäufern waren sowohl Sklaven als auch freie Metöken und sogar athenische Bürger anzutreffen; unter den Pas204 Zum Konzept der ‚ephemeren Orte‘ vgl. rau 2013: 163. 205 Agora III: 188 f. Dazu LewiS 2016: 324; zu kykloi vgl. ferner moretti/Fincker/cHankowSki 2012: 237–241. Nach Pollux 7,11 seien auch andere Waren in kykloi verkauft worden, aber dieser Feststellung sollte man, wie arnott 1996: 284 (zu Alexis fr. 104), keinen Glauben schenken. 206 Aristoph. Vesp. 169 ff.; vgl. Theophr. char. 4,15; LewiS 2016: 324. 207 Demosth. 18,169 (Übers. W. Zürcher): καὶ μετὰ ταῦθ' οἱ μὲν εὐθὺς ἐξαναστάντες μεταξὺ δειπνοῦντες τούς τ' ἐκ τῶν σκηνῶν τῶν κατὰ τὴν ἀγορὰν ἐξεῖργον καὶ τὰ γέρρ' ἐνεπίμπρασαν, οἱ δὲ τοὺς στρατηγοὺς μετεπέμποντο καὶ τὸν σαλπικτὴν ἐκάλουν· καὶ θορύβου πλήρης ἦν ἡ πόλις. – Diese Passage bereitet einige Probleme, insbesondere bezüglich der Bedeutung von gerra, vgl. dazu adamS 1921; wankeL 1976: 849–854; gotteSman 2014: 39 Anm. 37. 208 Aus der umfangreichen Literatur hier nur der Verweis auf BettaLLi 1985; StanLey 1990; ferner auch HarriS 2002; karVoniS 2007; acton 2014. Zu athenischen Keramik-Werkstätten s. monaco 2000. Zum sog. ‚industriellen Gebiet‘ südwestlich der Agora s. young 1951. Einen guten Überblick über die nahe der Agora gelegenen Häuser und Werkstätten bietet tSakirgiS 2005, ferner auch dies. 2009. 209 eHrenBerg 1962: 125; HarriS 2002: 82 f.; d’ercoLe 2013: 68.

2.2 Agora

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santen zudem durchfahrende Fremde und die athenische Jugend. Isokrates wird um die Mitte des 4. Jh. behaupten, die Jugend habe in den guten, alten Zeiten die Agora tunlichst gemieden, aber wenn sie zum Durchqueren gezwungen gewesen sei, so habe sie dies mit Ehrgefühl und Selbstbeherrschung (μετὰ πολλῆς αἰδοῦς καὶ σωφροσύνης) getan210. Obwohl es sich dabei um eine wohl leicht übertriebene Feststellung handelt, so trifft es dennoch zu, dass es im 5. Jh. zum guten Ton gehörte, wenn sich junge Menschen aus ‚respektablen Familien‘ lieber an anderen Orten, darunter vor allem im Gymnasion oder in der Palästra, aufhielten211. Derartige Vorbehalte scheinen in Hinblick auf die aristokratische Jugend durchaus verständlich, denn solche Orte wie die Agora – ein Schmelztiegel von sich dort drängenden und brüllenden Menschen unterschiedlicher Herkunft, Geschlecht und Sozialstandes – waren für den Sozialisierungsprozess der Jungen sicherlich nicht besonders hilfreich. Aber junge Menschen aus weniger reichen Familien waren auf dem Markt gewiss nicht selten anzutreffen. Ohnehin lässt sich vermuten, dass das Bild der Verhaltensweise der jungen Leute, welches der Komödiendichter Phrynichos zeichnet, weithin der Realität entsprach und seinem Publikum aus dessen Alltagserfahrung vertraut war: Sie haben nämlich eine Art von Stachel in den Fingern, die Jugend unsrer Zeit mit ihrem Groll auf Menschen. Dann reden sie mit allen freundlich, wenn sie auf dem Markte sind. Und wenn sie auf den Bänken hocken, kratzen sie an denen rum, mit denen sie noch freundlich sprachen, hocken sich gemeinsam hin und lachen alle aus212.

Bei alledem ist es jedoch wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Agora einen Raum für zufällige und unkontrollierbare Begegnungen bot, darunter zwischen Mitgliedern desselben oikos, wie jene in einer Komödie Menanders geschilderte Begegnung des Herrn mit seinem Sklaven213. Genau wie die Straßen, so bildete auch die Agora einen Raum, in dem sich das Menschliche, das Göttliche und das Tierische vermischte und miteinander verknüpfte. Auf ihrem Weg auf die Agora seien in ihrer Nähe etwa die Gefährten des Sokrates, einer Anekdote nach, in eine unerwartet auftauchende, riesige Schweineherde geraten, die sie alle bedrängt und heftig beschmutzt haben soll214. Wenn man also an die Athener Agora denkt, so sollte man sich der unterschiedlichen Art der akustischen, visuellen wie olfaktorischen Reize bewusst sein, die die Wahrnehmung dieses Raumes maßgeblich beeinflusst haben mochten. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob der ganze Raum der Agora tatsächlich allen zugänglich war. Zwar wurde die Agora an sich nicht als sakraler Raum begriffen215, dennoch drückte sich eine gewisse Sakralität darin aus, dass bestimmten Personengruppen der Eintritt in die Agora genauso wie in die heiligen 210 211 212 213 214 215

Isokr. 7,48. Vgl. Aristoph. Nub. 991; Plat. Tht. 173c–d. Phrynichos fr. 3 K-A (ap. Athen. 4,165b–c; Übers. C. Friedrich). Men. Sam. 417. Plut. de gen. Soc. 580e–f. Vgl. gotteSman 2014: 37 f. roBertSon 1985: 174; contra miLLett 1998: 224 („Formal exclusion from the Agora reflected its status as a temenos or sacred space“).

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Bezirke verboten war, wie etwa Mördern oder Deserteuren216. Dabei handelt es sich aber m. E. nicht um den von Grenzsteinen der Agora markierten Raum217, sondern einen kleinen Teil davon, der von den dort aufgestellten, der kultischen Reinigung dienenden Wasserbecken (perirrhanteria) bestimmt war218. Etliche Fragmente großer Becken aus Inselmarmor wurden in der Umgebung der Tholos und des Bouleuterion gefunden219, was die Annahme nahelegt, dass gerade der westliche Rand der Agora, d. h. ta archeia, durch einen besonders sakralen und privilegierten Charakter gekennzeichnet war. Dorthin dürften sich Bürger aus ganz Attika gewiss recht häufig hinbegeben haben, da an der Umzäunung des Eponymen-Monuments, die als öffentliches Anschlagbrett diente, wichtige offizielle Mitteilungen auf geweißten Holztafeln ausgehängt wurden, etwa Mobilisierungsbefehle für die Bürger und Listen neu eingezogener Epheben, Gerichtsklagen (enklemata), Gesetzesentwürfe und die Tagesordnungen der Ekklesie220. Dies war daher eine Stätte von enormer Bedeutung für jeden Bürger. Das Besprengen mit Wasser aus einem Perirrhanterion, eine rituelle Abwaschung der Hände, beim Betreten des politischen und kultischen Teiles der Agora hob den Eintritt in die privilegierte Sphäre des Politischen hervor. Der wirtschaftliche Teil der Agora wiederum, so könnte man vermuten, konnte von atimoi vorbehaltlos besucht werden. Wie Les Halles für Émile Zola „ventre de Paris“ waren, so war die Agora der Bauch von Athen: Gerade dort konzentrierten sich nicht lediglich Verkaufsstände von Lebensmitteln und anderen Leckerbissen, sondern vermutlich auch zahlreiche Imbissstände und Schenken. Es ist leicht vorstellbar, dass diese – nach schmackhaften Speisen riechenden, von fröhlicher, trinkender Gesellschaft überfüllten – Stätten, eine besondere Anziehungskraft ausübten. Des Weiteren zogen besonders Orte, an denen man luxuriöse und für jeden begehrenswerte Waren feilbot, jede Menge Menschen an. Zu solch einem luxuriösen und daher nur in sehr beschränktem Umfang konsumierten Nahrungsmittel zählte in Athen Fisch, dem – wie James Davidson gut gezeigt hat221 – eine ganz bedeutsame Symbolik im athenischen öffentlichen Diskurs beigelegt wurde. Daher wird der Fischmarkt in vielen Komödien zu einem wichtigen Geselligkeitsort: „Ist es denn nicht allein der Fischmarkt“, fragt wohl rhetorisch eine Bühnenfigur in einer Komödie des Anaxandrides, „der das Menschenvolk zusammenführt?“222. Die Athener Agora war nicht ausschließ216 Vgl. z. B. And. 1,71 f.; Lys. 6,9; 6,24; Demosth. 24,60; 24,103; Aischin. 1,21; 3,176; Lykurg. 5. Hierzu s. Ste. croix 1972: 397 f., vgl. HarriSon 1971: 169–176. 217 Horoi der Agora: Agora XIX: 27 f. 218 Dass es sich dabei um einen kleinen Teil der Agora handelt, ist Aischin. 3,176 und 1,21 (mit Schol. ad loc.) zu entnehmen (contra Schol. Aischin. 3,176), so auch coLe 2004: 46 f.; vgl. pimpL 1997: 118–122, insb. S. 120. 219 pimpL 1997: 117. 220 Vgl. And. 1,84; Demosth. 20,94; 21,103; 24,18; 24,23; 24,25; Is. 5,38. Zur Lokalisierung des Monuments vgl. oben S. 30. 221 daVidSon 1993; ders. 1997 passim. purceLL 1995 argumentiert, dass Meeresfrüchte nie wirklich ihre negativen Konnotationen verloren haben. 222 Anaxandrides fr. 34 K-A (ap. Athen. 6,227c; Übers. C. Friedrich); s. dazu pauLaS 2010. – Beispielsweise pflegte sich der Redner Hypereides laut Hermippos fr. 68a II Wehrli (ap. Athen. 8,342c) frühmorgens auf den Fischmarkt zu begeben.

2.2 Agora

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lich ein Ort, den Menschen frequentiert haben, um agorazein, um zu kaufen und verkaufen, sondern ebenfalls um agoreuein, um miteinander zu diskutieren. Auch wenn das Einkaufen in vielen (nicht allzu armen) Familien eine Aufgabe der Sklavinnen bzw. Sklaven war223, so steht sicher zu erwarten, dass sich athenische Bürger nicht nur auf den politischen Bereich der Agora, sondern ebenfalls auf ihren wirtschaftlichen Teil begaben, um ihre Mitbürger zu treffen, zu quatschen und Neuigkeiten auszutauschen. In einer Komödie des Antiphanes kostet eine männliche Bühnenfigur Wein und „läuft dort auf dem Kränze-Markt umher“224. Aristophanes schildert ebenfalls Menschen, die auf dem Kranzmarkt ihre Zeit beim Plaudern verbringen225, und sogar „vor Sonnenaufgang“, hören wir in einem Komödienfragment des Pherekrates die an das Publikum gerichtete Anrede, „schwatzt ihr nach dem Bade auf dem Kranzmarkt, andre aber an den Duftölständen über Bergamottenminze wie auch Rittersporn“226. Die Agora und die in ihrem Bereich gelegenen Läden waren Orte des Gerüchts, des alltäglichen Quatschens, des Austausches unter Anwesenden. In einer Welt ohne Identitätsausweise und ausgebaute Bürokratie einerseits und ohne Massenmedien andererseits, erfuhren alle Handlungen ihre Autorisierung dadurch, dass sie sich vor den Augen Anderer abspielten. In vielen Fällen konnten daher nur Augenzeugen die Authentizität privater Urkunden und Vereinbarungen, aller Art Nachrichten oder sogar etwa die Identität einer Person bestätigen227. Dies erklärt, warum man im klassischen Athen bevorzugte, etwa die Zahlung des Mietzinses228 oder private Abmachungen gerade auf der Agora zu treffen und sich in diesem Interaktionszentrum der Polis auf alltäglicher Basis zu zeigen. Das, was ἐν τῇ ἀγορᾷ μέσῃ πολλῶν παρόντων geschehen ist, „mitten auf der Agora bei vielen Anwesenden“229, wird unbestreitbar wahr dank dem Blick der Anderen. Nirgends sonst konnte man darüber hinaus so schnell allerlei Neuigkeiten erfahren und sich über die das Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten und politischen Entscheidungen informieren lassen als auf der Agora. Die Frage λέγεταί τι καινόν; – „was gibt es Neues?“ – gehörte anscheinend zu denjenigen Phrasen, die in dieser Gegend stets zu hören waren230. Dort fanden am häufigsten politisch wie privat motivierte Auseinandersetzungen statt, welche verständlicherweise oft eine Menge Schaulustiger anlockten231, und insbesondere dort verbreitete man Klatsch über gewisse Personen oder

223 Lys. 1,8; 1,16; Xen. mem. 1,5,3; Theophr. char. 18,2; Men. Sam. 265 f. In Theophr. char. 22,7 ist es der Geizhals, der selbst seine Einkäufe macht. 224 Antiphanes fr. 83 K-A (ap. Athen. 9,380 f.; Übers. C. Friedrich): οἰνογευστεῖ, περιπατεῖ | ἐν τοῖς στεφάνοις. 225 Aristoph. Eccl. 302: καθῆντο λαλοῦντες ἐν τοῖς στεφανώμασιν. 226 Pherekrates fr. 2 K-A (ap. Athen. 15,685b; Übers. C. Friedrich): λουσάμενοι δὲ πρὸ λαμπρᾶς | ἡμέρας ἐν τοῖς στεφανώμασιν, οἳ δ' ἐν τῷ μύρῳ | λαλεῖτε περὶ σισυμβρίων κοσμοσανδάλων τε. 227 Vgl. unten S. 284 Anm. 55. 228 Demosth. 27,58. 229 Demosth. 29,12. 230 Demosth. 4,10. 231 Aischin. 1,60; 3,1; Hyp. 3,12; Demosth. 29,12; Theophr. char. 6,7.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Ereignisse232. Meidias sei Demosthenes zufolge in der Agora herumgegangen und habe dort gotteslästerliche und scheußliche Gerüchte (ἀσεβεῖς καὶ δεινοὺς λόγους) über ihn verbreitet233. In einem anderen Fall wiederum war es gerade Demosthenes, der laut Deinarch auf der Agora herumgehe und dort politische Reden halte234. Aus der demosthenischen Rede über die Truggesandtschaft erfährt man, dass sich in einer Zeit der politischen Ungewissheit auf der Agora „einzelne Gruppen [bildeten] und gar mancherlei Reden [fielen]“235. Die Agora stellte demzufolge einen Raum des Politisierens dar, dessen Formen sich jedoch von jenen Handlungen, die auf der Pnyx oder im Bouleuterion stattfanden, erheblich unterschieden. Zum einen konnte man auf dem Markt politische Angelegenheiten risikofrei diskutieren236, zum anderen nahm an derartigen Diskussionen ein breiterer Personenkreis – nicht nur Bürger, sondern überdies Jugend, Frauen, Fremde, Metöken und Sklaven – teil oder konnte zumindest dabei präsent sein. Derartige politisch orientierte Debatten und Streitereien fanden selbstverständlich nicht nur im Freien auf der Agora statt, sondern häufig in Läden und Werkstätten. Da sie an solchen Stätten durchaus unkontrollierbar waren, wird es leicht nachvollziehbar, warum man ergasteria im öffentlichen Diskurs bisweilen misstrauisch gegenüberstand. Sie konnten nämlich als Brutstätten von Intrigen und Komplotten dargestellt und wahrgenommen werden237. Läden als Orte des Politischen im Athen des 4. Jh. v. Chr. beschreibt Isokrates in seinem Areopagitikos geradezu, wenn er von einer besonderen Verhaltensweise und Angewohnheit seiner Mitbürger, mit einem Hauch von Tadel in seiner Stimme, folgendermaßen berichtet: Wir aber kümmern uns um unsere Verfassung überhaupt nicht, obwohl sie in einem heillosen Zustand ist, und wir machen uns auch keine Gedanken darüber, wie wir sie in Ordnung bringen können. Statt dessen sitzen wir in den Budiken (epi men ton ergasterion) herum, lamentieren über die gegenwärtigen Verhältnisse und behaupten, wir seien noch nie während der ganzen Zeit unserer Demokratie schlechter regiert worden238.

Die auf der Agora und unter so diversen Umständen gepflegten informellen Gespräche über Politik übten, so lässt sich vermuten, einen möglicherweise beträchtlichen Einfluss auf die Formierung der Ansichten und des politischen Bewusstseins einzelner Athener aus239.

232 S. beispielsweise Aristoph. Thesm. 577 f.; Nub. 1003; Demosth. 4,10; 18,169; 21,103 f.; 24,15; Isokr. 7,15 und 18,9 (ergasteria); Plut. Alkibiades 17,3; Nikias 12,1; vgl. ferner Aristoph. Eccl. 444. Zur Gestalt des Gerüchtemachers (logopoios) vgl. Theophr. char. 8. 233 Demosth. 21,104. 234 Deinarch. 1,12; 1,32. 235 Demosth. 19,122. 236 Vgl. unten Anm. 510. 237 Lys. 24, 19 f. Eine Verbrecherbande, z. B. eine Gang von Sykophanten, bezeichnete man daher als ἐργαστήριον, s. Demosth. 39,2; vgl. Demosth. 32,10; 37,39; 40,9. Vgl. LewiS 1996: 18. 238 Isokr. 7,15 (Übers. Ch. Ley-Hutton): ἧς ἡμεῖς διεφθαρμένης οὐδὲν φροντίζομεν, οὐδὲ σκοποῦμεν ὅπως ἐπανορθώσομεν αὐτήν· ἀλλ' ἐπὶ μὲν τῶν ἐργαστηρίων καθίζοντες κατηγοροῦμεν τῶν καθεστώτων καὶ λέγομεν ὡς οὐδέποτ' ἐν δημοκρατίᾳ κάκιον ἐπολιτεύθημεν. Vgl. ferner Hyp. 4,21. 239 Dazu vgl. ferner manSouri 2010: 125–147.

2.2 Agora

59

Die Agora wird zwar oft als Gerüchteküche begriffen, aber – insbesondere im Quellenmaterial des 4. Jh. – auch als überaus positiver Ort der alltäglichen Unterhaltung, des höflichen Austausches und der Spaziergänge240. Auf der Agora, genauer gesagt in einer der dort befindlichen Säulenhallen, spielt sich der von Xenophon im Oikonomikos geschilderte Dialog zwischen Sokrates und Ischomachos ab, wo der Letztgenannte auf seine Freunde (xenoi) wartet und – wie er bekennt – weiter warten möchte, bis sich die Agora leert241. Der Markt füllte sich mit Menschen gewöhnlich am Vormittag und gerade insbesondere zu dieser Zeit konnte man dort Xenophon zufolge Sokrates antreffen, der sich morgens in Gymnasien und Säulenhallen, nachmittags wiederum an noch anderen, hochfrequentierten Stätten aufzuhalten pflegte242. Besonders große Beliebtheit als Treffpunkte und als öffentliche Promenaden genossen etliche auf der Agora gelegene Säulenhallen – und dies nicht nur für den bereits erwähnten Sokrates, sondern offenbar unter breiteren Teilen der Bevölkerung. Sie konnten unterschiedlichen Zwecken dienen: So boten sie etwa Raum für politische oder wirtschaftliche Aktivitäten243, zugleich boten einige davon, die jedermann zugänglich waren, einen besonders geeigneten Raum für das gesellige Beisammensein. Die Beliebtheit von Säulenhallen als öffentliche Aufenthaltsräume hängt wohl damit zusammen, dass sie zugig und bedacht waren, d. h. gleichzeitig vor der prallen Sonne schützten und die Kühle sicherten – ein wesentlicher Faktor, wenn man die klimatischen Besonderheiten Athens beachtet244 –, und darüber hinaus lässt sich vermuten, dass dabei auch ihre topographische Situierung in Bezug auf die Agora eine Rolle spielte. Denn die Säulenhallen eröffneten reizvolle Ausblicke auf die Agora und ermöglichten denjenigen, die dort herumstanden oder saßen, sich am Anblick aller sich auf der Agora abspielenden Handlungen und Geschehnisse zu ergötzen245.

240 241 242 243

Vgl. Antiph. 6,39; Demosth. 11,17; 54,7; Plat. Gorg. 447a; Xen. oik. 11,14 f. Xen. oik. 12,2. Xen. mem. 1,1,10. Vgl. ferner Plat. apol. 17c–d. Contra gotteSman 2014: 36, der feststellt, die Säulenhallen hätten in klassischer Zeit keiner kommerziellen Funktion gedient, dies sei erst eine spätere Entwicklung gewesen. S. aber Aristoph. Eccl. 684 ff., ferner vielleicht auch Demosth. 34,37. Vgl. wycHerLey 1956: 18. 244 Dies gilt unabhängig davon, ob man die These von BreSSon 2014 ohne weiteres annimmt, der zufolge das Klima im Mittelmeerraum im Zeitraum von 500–1 v. Chr. generell kühler und humider gewesen sei als im 20. Jh. n. Chr. 245 So auch martin-mcauLiFFe/papadopouLoS 2012: 349: „All of the Classical stoas were positioned on the topographical limits of the civic center, with their colonnaded façades facing into the central open area of the Agora. This meant that while these buildings were marginal in a physical sense, they always offered direct and immediate visual, as well as aural, contact with both places and people across the entirety of the Agora; and even beyond to the Acropolis and Areiopagos. Socratic dialogues attest that these buildings were used as viewing platforms. On several occasions, stoas situate conversation, their open colonnades providing a general setting as well as a convenient and functional backdrop for observing things in the distance. Collectively, the stoas created a spatial framework that articulated the borders of the Agora and imparted it with a sense of volume. Individually, however, they afforded a series of framed views through their rows of columns“.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Der bereits erwähnte Ischomachos erholte sich (scholazein), wie der Schrift Xenophons zu entnehmen ist, in der Stoa des Zeus Eleutherios und wartete dort auf die mit ihm befreundeten Fremden (xenoi), als ihn Sokrates gesehen und sich zu ihm hinzugesetzt hat246. Ausgestattet waren solche allgemein zugänglichen Säulenhallen offenkundig mit Sitzbänken247, die ermöglichten, sich dort stundenlang müßiggängerisch aufzuhalten. Solche Stoai wurden also beinahe zu Freizeitzentren; man begriff athenische Säulenhallen jedoch nicht nur als Erholungsstätte und als Treffpunkt mit Freunden. Auch um private Geschäfte abzuwickeln oder Abmachungen zu treffen, waren sie perfekt geeignet, denn sie boten Schutz vor Menschengedränge248: Man erfährt beispielsweise von einem Schiedsverfahren, das in der Stoa Poikile stattgefunden hat249. Die Wahrnehmung und die Erlebniswelt einer Stoa konnte für einen Athener doch intensiv sein, insbesondere im Fall der Stoa Poikile – und dies aufgrund ihrer Ausstattung. Durchaus vorstellbar ist nämlich, dass man beim Besuch dieser Stoa den Eindruck haben konnte, gleichzeitig in der Gegenwart wie in der Vergangenheit zu spazieren. Die dort aufgestellten Beutegegenstände und Gemälde ließen sich nicht nur als ästhetischer Genuss erleben, sondern, im Gegenteil, bekräftigten auch die bürgerliche Identität und luden zum Andenken an die heroischen Taten der Vorfahren ein250, die gewissermaßen dank der väterlichen Verfassung (patrios politeia) und den daraus folgenden altüberkommenen Werten und Sitten zustande kamen. Angesichts der regen Aktivitäten, die sich im Raum der Agora vor den Säulenhallen abspielten, dürften sie dennoch kaum ruhige Orte der Erholung gewesen sein. Auch der Alltag in einer Stoa selbst konnte bisweilen durch eine gewisse Hektik und Erregung gekennzeichnet sein, denn Gespräche und Gerüchte führen oft zu Streitigkeiten, insbesondere bei einer höheren Anzahl von daran beteiligten Personen. Aus einer Passage in Theophrasts Charakteren erfahren wir, dass einmal mehr als dreißig Personen in einer Stoa dagesessen und einer Rede zugehört hätten251. Kein Wunder also, dass gerade diese öffentlichen Stätten im Laufe der Zeit zu Zentren des intellektuellen Lebens wurden. Über eine Person, die sich an diesem Ort des Philosophierens aufhielt und den dort gehaltenen Reden zuhörte, heißt es in einer Komödie des Theognetos, sie sei „mit Sprüchen aus der Bunten Halle angefüllt“252. Schließlich sei auf einen weiteren, wesentlichen Faktor hingewiesen, der weithin dazu beigetragen hat, dass der Raum, der sich vor den Säulenhallen erstreckte, 246 Xen. oik. 7,1 f. Auch andere Quellen bezeugen die Aufenthalte des Sokrates in der Stoa des Zeus Eleutherios: Plat. Thg. 121a; [Plat.] Eryx. 392a; Aischin. Sokr. in P. Oxy. 2889. 247 Ohnehin verfügte gewiss die Stoa des Zeus Eleutherios über Sitzplätze, wie [Plat.] Eryx. 392b; Xen. oik. 7,1; Aischin. Sokr. in P. Oxy. 2889 bezeugen. 248 Zu römischen Portiken als ‚places of escape‘ s. JenkynS 2013: 170. 249 [Demosth.] 45,17. 250 Vgl. für das ständige Rekurrieren auf die Heldentaten der progonoi, darunter insbesondere der Marathonomachoi, im athenischen Diskurs: Lys. 2,20–26; Isokr. 4,85 ff.; Aischin. 3,181–190; Plat. Mx. 240d–e; Lykurg. 104. 251 Theophr. char. 2,2. 252 Theognetos fr. 1 K-A (ap. Athen. 3,104b–c; Übers. C. Friedrich). – In frühhellenistischer Zeit lehrte Zenon stundenlang gerade in der Stoa Poikile, nach welcher seine Schule benannt wurde, s. Diog. Laert. 7,1,14.

2.2 Agora

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die Agora, als bevorzugter Ort zum Bummeln galt. Sie stellte nämlich eine relativ grüne Anlage im Stadtraum Athens dar, denn Kimon ließ die Agora im 5. Jh. mit Bäumen bepflanzen253. Es gab dort des Weiteren eine Fülle an Raum für freie Bewegung; dies war im Falle des asty, mit seinen schmalen und engen Wegen, von großer Bedeutung. Für jeden, der aus dem Gedränge der Straßen die Agora betrat, erschien sie wohl als ein verhältnismäßig idealer Raum zum Flanieren und zum Zeitvertreib. Das Ambiente, reizvolle architektonische Gestaltung und Ausschmückung der staatlichen Gebäude besonders am westlichen, aber auch am nordwestlichen und südlichen Rand der Agora, trugen weitgehend zur Wahrnehmung dieser Gegend bei und machten mitsamt sensorischen – akustischen und olfaktorischen – Faktoren das Raumerlebnis der Spaziergänger und der Passanten aus. Die obige Darstellung ermöglicht es, besser nachvollziehen und sich vorstellen zu können, was für eine Erlebniswelt die Agora für athenische Bürger darstellte, lässt aber dennoch gleichermaßen einen für unsere Überlegungen wichtigen Punkt nicht deutlich erkennen. Das skizzierte synchrone Bild soll abschließend durch den Verweis auf eine diachrone Differenz ergänzt werden. Es bleibt zu fragen, ob anhand des Quellenmaterials Schlüsse bezüglich möglicher Änderungen der Raumwahrnehmung und der sozialen Einstellung zur Agora als Kommunikationsort gezogen werden dürfen. In ihrem Aufsatz über die topographischen Anspielungen in den Komödien des Aristophanes stellt Suzanne Saïd bezüglich der Agora fest: „Dans les comédies d’Aristophanes, elle est d’abord l’antithèse de la Pnyx. Elle est pleine, quand l’assemblée est vide; elle est réservée aux potins et aux chicaneries, alors que la Pnyx est le lieu de la parole politique. Elle s’oppose aussi au gymnase, comme le cadre par excellence de la mauvaise éducation“254. Bei Aristophanes wird die Agora also als eine Gegenwelt zu derjenigen des idealen bürgerlichen Lebens konstruiert, als einen Gegensatz all dessen, was von einem tüchtigen Bürger erwartet wird und als anständig galt. Sie bringe Athener von wichtigen bürgerlichen Angelegenheiten und von der politischen Partizipation ab, sie verderbe die Jugend und werde hauptsächlich von dubiosem Gesindel frequentiert. Das ist, wie es scheint, nicht lediglich eine für die Komödie gattungstypische Darstellungsweise der Agora255, sondern entspricht vielmehr, zumindest bis zu einem gewissen Grad, der im 5. Jh. in bestimmten, das damalige gesellschaftliche Ethos bestimmenden Kreisen der Bürgerschaft gängigen Ansicht. Denn agoraioi – Menschen, die auf der Agora herumstanden bzw. Waren verkauften – wurden in den Quellen des 5. Jh. oft negativ mit loidoria, Verleumdung und Gerüchten, konnotiert256. Wiederum im Quellenmaterial des 4. Jh., in dem von agoraioi bemerkenswerterweise kaum zu hören

253 254 255 256

Plut. mor. 818d (= praecep. gerend.). Saïd 1997: 356. Hinzu s. wiLkinS 2000: 156–201. Vgl. die Darstellung des Wursthändlers in den aristophanischen Rittern: Er sei „gemein, aus der Agora und frech“ (Z. 181), unkultiviert (Z. 188), ein agoraios, niedriger Abstammung und habe eine schreckliche Stimme (Z. 218). Zur Verwendung dieses Begriffs in der attischen Komödie vgl. roSenBLoom 2002: 305–309.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

ist257, ist die Aufwertung des Gerüchts merklich, diesmal unter dem Wort pheme, der öffentlichen Rede258, und mit der Aufwertung der pheme ging die ‚Rehabilitierung‘ der Agora einher. Möglicherweise nicht ohne Grund erfahren wir erst aus einer Gerichtsrede aus dem 4. Jh. v. Chr. von einem Gesetz, das untersagte, einen Athener oder eine Athenerin wegen eines auf der Agora betriebenen Gewerbes zu beleidigen259. In diesem Fall hat ein athenischer Bürger namens Euxitheos in seiner um ca. 345/344 v. Chr. gehaltenen Rede in aller Öffentlichkeit eingestanden, seine Mutter habe wegen Armut auf der Agora gearbeitet; allein diese Tatsache sei jedoch kein Grund zum Zweifel an seinem Bürgerstatus. Solch eine unverhüllte Äußerung ist an sich schon bemerkenswert und hängt offenkundig mit der kollektiven Gesinnung gegenüber der Agora als eines bürgerlichen Handlungs- und Kommunikationsraumes zusammen. Die Richtigkeit dieser These wird im Folgenden anhand der näheren Analyse etlicher öffentlicher Räume überprüft. An dieser Stelle sei noch kurz auf die Ergebnisse der Untersuchungen von Julia L. Shear hingewiesen, die sich dieser Thematik aus einer anderen Perspektive genähert hat und zu einem ähnlichen Schluss gekommen ist. Ausgehend von der Analyse der von der Polis finanzierten Bauaktivitäten einerseits und der Aufstellungsorte von Inschriften und Ehrenstatuen andererseits zeigt Shear, dass sich die große Bedeutung der athenischen Agora als eines besonderen Ortes der politisch bestimmten, bürgerlichen Kommunikation erst nach den akuten politischen Krisen, d. h. den oligarchischen Umstürzen von 411 v. Chr. und 404/403 v. Chr., habe entfalten können. Zum 5. Jh., schreibt sie, „the Agora was default public space and not the focus of attention. The situation changed dramatically between 410 and 390 BC. At that time, the market square suddenly became the focus of attention and was remade into the space of the democratic citizen as one part of the democrats’ larger process of responding to the oligarchic revolutions of the Four Hundred and the Thirty“260. In der spätklassischen Demokratie sollte sich ein athenischer Bürger auf der Agora sehen lassen, um seine soziale Einstellung und damit einhergehende Anständigkeit unter Beweis zu stellen. Als Kristallisationspunkt aller Interaktionen stellte die Agora zunehmend einen der wichtigsten Räume der Diffusion von Anstandsregeln und kulturellen Trends dar, einen Raum, in dem Alltagsrituale und Verhaltensweisen wie in einem Schmelztiegel geformt wurden. Obwohl die (alte, später die neue) Agora schon früher als Mittelpunkt der Gemeinschaft galt – eben dort, zunächst auf der alten, dann an seinem neuen Platz auf der klassischen Agora, befand sich doch der Altar der zwölf Götter, der als Ausgangspunkt von Fernstraßen diente und von dem aus die Entfernungen gemessen wurden261 –, so wird sie erst 257 Nur in Hyp. 3,3 wird dieser Begriff klar pejorativ verwendet. 258 Davon wird noch in weiteren Teilen dieser Untersuchung ausführlicher die Rede sein, vgl. S. 276–289. 259 Demosth. 57,30 f. Zu diesem Gesetz vgl. ScHmitz 2004: 483 Anm. 50. 260 SHear 2007: 91. Vgl. auch dies. 2011: 263–285. Zur Agora als Aufstellungsort von Volksbeschlüssen vgl. LiddeL 2003: 81 f. 261 miLLett 1998: 211 f.; HöLScHer 1998b: 36 f. neer/kurke 2014 haben neulich dafür plädiert, dass der Altar der zwölf Götter zu Pindars Lebenszeit noch auf der alten Agora gelegen und erst

2.3 Barbierläden

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in spätklassischer Zeit zu einem wirklichen Zentrum des bürgerlichen Lebens. Zu dieser Zeit beginnt das Zentrum-Peripherie-Denken in Hinblick auf die Stätten der Erwerbstätigkeit und des Frequentierens der Dichotomie ‚das Anständige‘ – ‚das Unanständige‘ zu entsprechen. Denn je näher sich ein Bürger zum Zentrum befindet, desto näher ist er dem Ideal der bürgerlichen Anständigkeit262. Im spätklassischen Athen hat sich die Agora zum unbestrittenen gesellschaftlichen wie politischen Interaktionszentrum und zum primären ‚place of public display‘ entwickelt, der, wie Sitta von Reden erläutert, „symbolised the assembly of citizens and the equality of all its members“ und zugleich „the site of competition and ostentation, a showplace of differences in wealth and status“ war263. Aus diesem Grunde wird die Anwesenheit auf der Agora beinahe zu einer conditio sine qua non, um gesellschaftliche Stellung und Ansehen zu halten und zu festigen. Präsenz und Absenz gewinnen somit eine besondere Symbolik und werden zum schlüssigen Kriterium der Bestimmung bürgerlicher Reputation. 2.3 BARBIERLÄDEN In einem in der römischen Witzesammlung des Philogelos überlieferten Scherz fragt ein Friseur seinen Kunden: „Wie soll ich dir die Haare schneiden?“ (πῶς σε κείρω;), worauf eine bündige Antwort folgte: „schweigend“ (σιωπῶν)264. Dieser scharfzüngige Kunde soll einer bei Plutarch tradierten Tradition zufolge der Makedonenkönig Archelaos gewesen sein265. Abgesehen davon, inwiefern diese Anekdote historisch zuverlässig ist, weist sie auf eine offenbar unveränderliche Eigenschaft der Barbiere in vielen Epochen und Kulturen der Welt hin: ihre Geschwätzigkeit. Die Spezifität dieses Gewerbes – die seit der Antike durchaus konstant blieb – hat zur Folge, dass ein Barbier täglich vielen Menschen begegnete, welche ihre momentane Tatenlosigkeit während des Haareschneidens nicht selten mit Unterhaltung zu füllen suchten. Dies machte aus einem Friseur – insbesondere in kleineren Gemeinschaften – nolens volens einen Depositar der lokalen Nachrichten und Gerüchte wie auch zwangsläufig deren Austräger. Es kann daher nicht verwundern, dass in einem Zeitalter, in dem es keine Massenmedien gegeben hat, die Barbierläden diese

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danach auf die klassische Agora verlegt worden sei. Für weitere Literatur zum Altar s. neer/ kurke 2014: 540 Anm. 22. Vgl. Lys. 24,19 mit dem Kommentar von ScHmitz 2004: 437 Anm. 142: „Der Angeklagte betrieb sein Gewerbe in der Nähe der Agora und nicht am Stadtrand, gehörte damit den ehrbareren und nicht den schlecht angesehenen Gewerbetreibenden an“. Von reden 1995: 106 f. Die chronologische Differenzierung ist meine eigene; von Reden verfolgt vielmehr einen synchronen Ansatz. Philogelos 148. Plut. mor. 177a (= reg. et imp. apophthegm., Archelaos 2); mor. 509a (= de garr. 13); s. Beard 2014: 189, 213.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Funktion ausübten266. In einem griechischen Sprichwort heißt es, γλῶσσα γὰρ οἰκεῖ ὅπου ὁ κουρεύς, „die Zunge wohnt beim Barbier“267. Dass es sich dabei nicht ausschließlich um die Kolportage von belanglosen und für die Gemeinschaft wertlosen Gerüchten handelte, sondern ebenfalls um die Verbreitung wichtigster politischer Neuigkeiten, zeigt am besten ein Fall aus dem Jahre 413 v. Chr.268. Aus zwei Schriften Plutarchs erfahren wir, dass die Athener die Nachricht von ihrer Niederlage in Sizilien zuerst nicht anders als von einem Barbier aus Piräus erfuhren, welcher diese grässliche Neuigkeit von seinem Kunden gehört hatte269. Nachdem er dies erfahren hatte, soll er – so stellt es Plutarch dar – im Handumdrehen in die Stadt (εἰς τὸ ἄστυ) gelaufen sein und die Botschaft den Archonten mitgeteilt haben. Infolgedessen entstand auf der Agora große Verwirrung und Entsetzen, was zu einem Verhör des Barbiers führte und schließlich wurde er – da er nicht imstande war, den Namen seines Informanten wie auch nähere Informationen zu dieser Person anzugeben – für einen logopoios gehalten und daher auf die Folter gespannt. Seinen Leiden ein Ende setzte das Eintreffen der Boten, welche die Nachricht von der Niederlage der Athener bestätigten. Dieser Fall zeigt nicht allein deutlich, dass κουρεῖα in der athenischen Demokratie gewissermaßen als Nachrichtenagentur avant la lettre funktionierten, sondern verdeutlicht auch, welch großen Wert man auf die Glaubhaftigkeit der für das politische Leben der Polis relevanten Nachrichten legte. Die Tatsache, dass die Information vom Scheitern der Sizilienexpedition von einem Barbier verbreitet wurde, verringerte deren Gewicht und Glaubwürdigkeit nicht270. Erst sein Unvermögen, präzise Angaben zur Person zu liefern, von welcher er davon erfahren hatte, erschien den Athenern verdächtig und verursachte, dass der koureus an Glaubhaftigkeit verlor und als gefährlicher Gerüchtemacher (logopoios) bestraft werden sollte. Die Strenge der Strafe – er wurde auf einem Rad aufgespannt und lange ausgestreckt (Plut. Nikias 30,2: εἰς τὸν τροχὸν καταδεθεὶς ἐστρεβλοῦτο πολὺν χρόνον) – war vermutlich nicht bloß durch seinen Sozialstatus bedingt271, sondern hatte ihre Begründung wahrscheinlich darin, dass das Gerücht in diesem Fall eine 266 Für das antike Rom vgl. roSiLLo-López 2017: 177–179; für Venedig im 16.–17 Jh. s. de ViVo 2007. 267 App. proverb. I 78 (Paroem. Gr. I p. 391 Leutsch/Schneidewin). 268 Zum Zusammenhang von Klatsch und Politik im spätklassischen Athen s. gotteLand 2001. 269 Plut. Nikias 30; de garr. 13. Vgl. gotteLand 1997: 89, 95 f.; manSouri 2010: 129 f. 270 Contra LewiS 1996: 88: „Low-status or poor informants were thus less likely to be believed“. Es scheint, dass das Barbiergeschwätz erst in späteren Zeiten zu einem den Wert der Nachricht herabmindernden Ausdruck wurde, so z. B. in Polyb. 3,20,5. 271 Dabei handelte es sich um eine Strafe und nicht – wie im Falle der Sklaven während der Gerichtsprozesse – um eine Methode, Informationen zu entlocken. Hunter 1994: 154 schreibt zu Recht, dass „the body of the rumormonger was racked in order to ensure that the morale of the populace did not falter“. Sie vertritt die Ansicht, dieser Barbier sei höchstwahrscheinlich ein Sklave gewesen, während ihn beispielsweise BuSHaLa 1968: 63 Anm. 10 als einen in Athen ansässigen Fremden interpretierte. Angesichts der Tatsache, dass der Körper eines Bürgers als unantastbar galt (s. winkLer 1990: 48 f.), ist freilich sicher, dass er kein Athener war, vgl. aLLen 2000: 100; VLaSSopouLoS 2007: 42 f.. Aus einem anderen historischen Kontext wissen wir von einem Thraker namens Naris, der ein in Kardia als Barbier tätiger Sklave war: Charon von Lampsakos FGrHist 262 F 1.

2.3 Barbierläden

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Angelegenheit von enormem politischen Gewicht betraf und die Entscheidungen der Bürger daher von starken Emotionen beeinflusst waren. Die Gerüchtemacher (hoi logopoiountes) waren im öffentlichen Diskurs als ein Gegenbild eines anständigen Bürgers konstruiert und nicht selten wurde diese Bezeichnung durch die Redner auf ihre Gegner angewandt. Da der Barbier aus Piräus, durch die Verbreitung der Nachrichten von der vermeintlichen Niederlage, im Volk Panik auslöste und dadurch die Stabilität der Polis in Gefahr brachte, liegt es nahe, dass seine Handlungen von den Athenern als eine Art Sabotageakt und er selbst als ein Kollaborateur der athenischen Feinde verstanden wurde272. Derartige Verdächtigungen keimten offenkundig allenfalls nur vereinzelt und verringerten die soziale Wahrnehmung athenischer Barbiere und ihrer Betriebe nicht. Während sich der soziale Status des Barbiers aus Piräus nicht eruieren lässt (er könnte – wie auch andere Vertreter dieses Gewerbes – genauso gut ein Sklave, ein Metöke oder aber ein Freigelassener gewesen sein)273, kann man wohl davon ausgehen, dass die Kunden der koureia ein breites Spektrum verschiedener sozialer Gruppen repräsentierten. Dies reichte möglicherweise von Sklaven über Fremde, Metöken und Freigelassenen bis hin zu angesehenen Bürgern und ihren Kindern. Im Falle der bereits besprochenen Geschehnisse über das Scheitern der Sizilienexpedition stimmen beide Berichte Plutarchs hinsichtlich des Status des Kunden des bestraften Barbiers aus Piräus nicht überein. In Nikias’ Vita heißt es, der Kunde sei irgendein Fremder (ξένος γάρ τις) gewesen, nach De garrulitate wiederum sei er ein Sklave gewesen, dem es gelungen sei, von der Insel zu fliehen (οἰκέτου τινὸς τῶν ἀποδεδρακότων ἐκεῖθεν)274. Diese Inkongruenz soll uns hier nicht weiter beschäftigen; wesentlich ist nur, dass das Frequentieren der Friseurläden von verschiedenen Menschen üblich war und insbesondere die in der Nähe des Hafens gelegenen Betriebe von den nach Athen kommenden Reisenden, Kaufleuten und anderen Fremden aufgesucht wurden. Zwar platziert Platon die Barbiere unter denjenigen Gewerben, die in einer idealen Stadt überflüssig seien, aber in einer luxuriösen Stadt erforderlich sein könnten. Bei näherem Licht betrachtet stellt sich jedoch heraus, dass es sich dabei um eine nicht der Realität entnommene Vorstellung handeln kann275. Die Aufgaben eines Barbiers – das Haareschneiden, der Bartschnitt oder die Entfernung anderer Körperbehaarung und möglicherweise auch die Nagelpflege276 – erforderten nicht nur das fachspezifische Instrumentarium (wie diverse Scheren, Rasiermesser, Spiegel)277, 272 Komparatistisch gesehen scheinen die Friseure und Wirte Gewerbegruppen zu sein, die am häufigsten als Kollaborateure oder Geheimagenten gewirkt haben; vgl. z. B. BorodzieJ 1985: 89 zu Barbieren und Kneipenbesitzern im Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete. 273 Am Rande sei hier vermerkt, dass es nicht auszuschließen ist, dass im spätklassischen Athen auch Frauen als Friseurinnen gearbeitet haben; die weibliche Tätigkeitsbezeichnung κουρίς taucht als Titel der Komödien von Antiphanes (fr. 126–127 K-A), Amphis (fr. 23–24 K-A) und Alexis (fr. 112–114 K-A) auf. 274 gotteLand 1997: 95 f. 275 Plat. rep. 373c. 276 Vgl. nicoLSon 1891. 277 Ausführlicher dazu nicoLSon 1891: 53–56 und Boon 1991.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

welches in den meisten Häusern sicherlich fehlte, sondern auch – da es sich dabei notwendigerweise um Werkzeuge handelt, die technologisch nicht so weit elaboriert waren – eine gewisse Erfahrung und große Gewandtheit in deren Benutzung. Im kaiserzeitlichen Traumbuch des Artemidoros liest man interessanterweise, dass ein Traum, in dem ein Barbier dem Träumenden die Haare schneidet, ein gutes Omen ist, da niemand seine Haare selbst schneidet, außer wenn er unter großer Armut oder aber einem Unglück leidet278. Dies stimmte allem Anschein nach auch in Hinblick auf das spätklassische Athen279. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass das Besuchen der Barbierläden wahrscheinlich zu einer oftmaligen Notwendigkeit für die Mehrheit der athenischen Bevölkerung geworden war. In einer der Charakterskizzen beschreibt Theophrast spöttisch übertreibend einen Personentyp, der sich übermäßig um unwichtige Kleinigkeiten kümmert und interessanterweise sogar ein paar Mal pro Monat in den Barbier-Salon geht280. Auch wenn die Notwendigkeit, zu einem Friseur zu gehen, um seinen Bart oder die Haare schneiden zu lassen, im Normalfall seltener auftauchte, so besuchte man diese Stätten manchmal auch nicht um seiner selbst willen, sondern etwa aus anderen Anlässen – sei es um den Kindern die Haare schneiden zu lassen281, sei es einfach zwecks Unterhaltung oder um Auskunft über Neuigkeiten einzuholen282. Nicht ohne Grund nannte Theophrast athenische Barbier-Salons geschickt „weinlose Symposien“283. Dementsprechend konnten die Kunden eines Barbiers auf ein Gespräch hoffen. Sitzend und zuhörend an derartigen Stätten soll im 5. Jh. v. Chr. der Demagoge Hyperbolos eine Menge gelernt haben. Ein solches Geständnis legt ihm zumindest der Komödiendichter Eupolis in den Mund: gelernt habe ich viel in Barbierläden, wenn ich dort unbeobachtet gesessen und so getan hatte, als ob ich nicht verstanden hätte284.

278 Artemid. 1,22. 279 Vgl. Xen. mem. 1,2,54, wo es heißt, dass „jedermann schon während seines Lebens bei aller Liebe zu seinem Körper doch das Unnütze und Unbrauchbare entweder selbst entferne oder dies einem anderen überlasse“ (Übers. P. Jaerisch). Für die Annahme von röSSLer 1974: 1567 Anm. 287, der Bader habe Nägel und Haare geschnitten und Schwielen entfernt, gibt es keine Belege, aber es scheint plausibler zu vermuten, dass solche Aufgaben zum Metier eines Friseurs besser passen, nicht zuletzt wegen des notwendigen Instrumentariums und der spezifischen Fähigkeiten. 280 Theophr. char. 5,6 mit diggLe 2004 ad loc.; nach LewiS 1996: 17 betreffe diese Passage nicht die Differenz zwischen den sozialen Schichten, sondern vielmehr diejenige zwischen einem Städter und einem Landmann. 281 Vgl. Lys. 32,20. 282 Vgl. Aristoph. Av. 1439–1445; Plut. 337 ff.; Eupolis fr. 194 K-A; Theopomp. FGrHist 115 F 283b; Lys. 24,20; 23,3; [Demosth.] 25,52; Theophr. char. 11,9; Men. Sam. 510–513; Athen. 12,520d–e. Vgl. Buxton 1994: 11 f.; LewiS 1995. 283 Plut. qu. conv. 679a (= Theophr. fr. 76 Wimmer = 577 Fortenbaugh). 284 Eupolis fr. 194 K-A: καὶ πόλλ' ἔμαθον ἐν τοῖσι κουρείοις ἐγὼ | ἀτόπως καθίζων κοὐδὲ γιγνώσκειν δοκῶν. Vgl. eHrenBerg 1962: 354; oBer 1989: 148 f.; SoBak 2015: 695 mit Anm. 56; LiVingStone 2017: 57.

2.3 Barbierläden

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Selbst wenn es sich dabei um eine komische Übertreibung handeln mag, dass der Demagoge am meisten nicht an einem Ort des Politischen, unter streitenden Rhetoren und politisch aktiven Bürgern, sondern beim Friseur gelernt habe, indem er den Gesprächen der Menschen unterschiedlicher Herkunft zuhörte, so sollte man diese komische Darstellung nicht allzu schnell bagatellisieren, denn in diesen Worten verbirgt sich wohl etwas Reelles. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass unter den Besuchern athenischer koureia nicht selten auch wichtigere Probleme zur Sprache kamen und diese Orte als Räume des Austausches nicht bloß von Gerüchten oder Neuigkeiten, sondern auch von Ansichten, politischen Meinungen und anderen sozial nicht belanglosen Informationen waren285. Somit zählen die BarbierSalons zu den wichtigen Räumen der Interaktionen zwischen athenischen Bürgern und anderen Gruppen der Gesellschaft. Diese Tatsache kann von höchster Wichtigkeit sein bei der Untersuchung der Frage, wo und wie sich die politischen Ansichten der Bürger geformt haben könnten. Es hat sich folglich gezeigt, dass man im Quellenmaterial der klassischen Zeit keine Aussagen findet, welche eine pejorative oder abweisende Bewertung von Barbieren oder ihren Betrieben belegen würden. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: In einem beachtenswerten Passus aus der 24. Rede im Corpus Lysiacum, die für einen Behinderten geschrieben und in einem Prozess um die Fortzahlung seiner Invalidenrente gehalten wurde, sagt der angeklagte Behinderte zu den Dikasten: „Denn ein jeder von euch hat die Gewohnheit, der eine die Salbenbude, der andere die Barbierstube, ein dritter die Schusterwerkstätte, ein vierter einen anderen Ort, wie es sich gerade trifft, zu besuchen; die meisten gehen in die dem Markt zunächst gelegenen Buden, die wenigsten in die davon entferntesten […]. Denn ihr alle habt diese Gewohnheit, irgend einen Ort zu besuchen und euch ebendort aufzuhalten“286. Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, dass das Besuchen derartiger öffentlicher Stätten durch athenische Bürger nicht allein gang und gäbe war, sondern auch von ihrer sozialen Einstellung, d. h. von der positiv konnotierten Soziabilität, zeugte. Besonders prägnant wurde dies außerdem in der ersten pseudo-demosthenischen Rede gegen Aristogeiton zum Ausdruck gebracht, in der geradezu die Tatsache als ein Prüfstein für die unsoziale Stellung Aristogeitons diente, dass er „nie in eine Barbierstube oder eine Parfümerie oder aber eine andere Werkstatt in der Stadt geht. Doch ist er verbissen, menschenscheu, asozial; er kennt kein Wohlwollen, keine Freundlichkeit und keine jedem anständigen Menschen eigenen Gefühle“287. Ein Bürger, der unter anderem die Barbier-Salons mied, konnte somit als ein ungeselliger, unsozialer und dadurch anstößiger und schlechter Bürger an285 S. manSouri 2010: 125–148. 286 Lys. 24,20 (Übers. F. Baur): ἕκαστος γὰρ ὑμῶν εἴθισται προσφοιτᾶν ὁ μὲν πρὸς μυροπώλιον, ὁ δὲ πρὸς κουρεῖον, ὁ δὲ πρὸς σκυτοτομεῖον, ὁ δ' ὅποι ἂν τύχῃ, καὶ πλεῖστοι μὲν ὡς τοὺς ἐγγυτάτω τῆς ἀγορᾶς κατεσκευασμένους, ἐλάχιστοι δὲ ὡς τοὺς πλεῖστον ἀπέχοντας αὐτῆς […].ἅπαντες γὰρ εἴθισθε προσφοιτᾶν καὶ διατρίβειν ἁμοῦ γέ που. 287 [Demosth.] 25,52: οὐδὲ προσφοιτᾷ πρός τι τούτων τῶν ἐν τῇ πόλει κουρείων ἢ μυροπωλίων ἢ τῶν ἄλλων ἐργαστηρίων οὐδὲ πρὸς ἕν· ἀλλ᾽ ἄσπειστος, ἀνίδρυτος, ἄμεικτος, οὐ χάριν, οὐ φιλίαν, οὐκ ἄλλ᾽ οὐδὲν ὧν ἄνθρωπος μέτριος γιγνώσκων. Zu dieser Passage vgl. SoBak 2015: 691 ff.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

gesehen werden. Es ist somit nicht zu verkennen, dass das Frequentieren der koureia im spätklassischen Athen im Falle der sich um ihre Reputation kümmernden Bürger etwas mehr als nur ein Zeichen von gutem Ton war. Ein ἄνθρωπος μέτριος, ein anständiger Mensch, sollte sich demzufolge an öffentlichen Orten sehen lassen und seine Anständigkeit auf alltäglicher Basis durch die gesellige Interaktion mit anderen Bürgern in der Öffentlichkeit beweisen. Schließlich sei noch auf den topographischen Aspekt hingewiesen. Den bereits erwähnten Quellenpassagen ist zu entnehmen, dass sich viele (wenn nicht die meisten) koureia in lieux de passage, wie der Agora oder entlang der stark frequentierten Straßen (im asty sowie in Piräus), befanden. Dies verdeutlicht die nahezu performative Dimension des Frequentierens öffentlicher Stätten wie Barbierbuden. Es scheint im Lichte der bereits eingeführten Stelle aus der Rede Lysias’, dass man vorwiegend gerade diejenigen Barbierbuden besuchte, die sich im Stadtzentrum befanden, nicht zuletzt deswegen, um dort gesehen zu werden. Es versteht sich des Weiteren von selbst, dass das Besuchen gewisser Friseursalons von unterschiedlichen Faktoren mitbestimmt werden konnte. So konnten konkrete koureia als Treffpunkte der unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen dienen, wie beispielsweise der Mitglieder der Orgeones, der Demoten oder etwa der Eranistai. Einen Anhaltspunkt für diese Vermutung liefert die aus den 380er Jahren v. Chr. stammende Rede des Lysias gegen einen gewissen Pankleon, der seinem Gegner zufolge ein Metöke gewesen sei, sich selbst jedoch als einen zum Demos Dekeleia gehörenden Plataier bekennt und somit behauptet habe, die athenische Bürgerrechte zu besitzen288. Wie war dies zu prüfen? Wie wird denn im klassischen Athen eine Person identifiziert?289 In der Forschung ist es weitgehend umstritten, ob bzw. wozu man in Demen die Bevölkerungsliste des Demos (lexiarchikon grammateion) aufbewahrte290. Aber wir hören in diesem Fall interessanterweise von einem solchen Verzeichnis nichts, möglicherweise deswegen, da die Dokumente der Dekeleier in der Kriegsverwirrung in der Zeit der spartanischen Besetzung Dekeleias (413–404 v. Chr.) verschwunden sein könnten291. Den einzigen Weg, um den wahren Sachverhalt herauszufinden, stellte folglich eine Art von ‚Feldbefragung‘ dar. Man musste sich an die Orte begeben, die von Dekeleiern und Plataiern frequentiert wurden, um dort Auskunft einzuholen, ob jemand einen Menschen namens Pankleon kenne. Dabei erfahren wir u. a., wo sich die Dekeleier zu treffen pflegten, und zwar „bei dem Barbier nahe den Her-

288 Der genaue Status der in die athenische Bürgerschaft im Jahre 427 v. Chr. aufgenommenen Plataier ist umstritten ([Demosth.] 59,104; Isokr. 12,93; 14,51; Lys. 23,2 f.), hierzu s. gawantka 1975: 174–178; vgl. die divergierenden Ansichten von kappariS 1995 und caneVaro 2010; ders. 2013a: 196–208 (contra BLok 2017: 74 Anm. 116) bezüglich der Frage der Authentizität des Dekrets, mit dem die Plataier eingebürgert wurden. 289 Zu Umwandlungen von Praktiken des Identifizierens von Personen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa s. groeBner 2004. 290 Vgl. BLok 2017: 122–123 mit Anm. 89. 291 JoneS 1999: 84 argumentiert überzeugend, dass Pankleon u. a. gerade aus diesem Grund den Anspruch auf die Zugehörigkeit zum Demos Dekeleia durchgesetzt habe, da er wusste, dass es angesichts des Mangels einer Bevölkerungsliste des Demos höchst schwierig sein werde, den faktischen Tatbestand zu beweisen.

2.4 Parfümerien

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men“ (τὸ κουρεῖον τὸ παρὰ τοὺς Ἑρμᾶς)292. Zum einen wirft diese Stelle Licht auf den topographischen Aspekt: Dieser bei den Dekeleiern293 beliebte koureus hatte seinen Betrieb an der Nordseite der Agora294, in der Gegend nahe der Hermen. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei dem im Dekret der Demotionidai erwähnten Treffpunkt der Dekeleier in der Stadt (ὅπο ἂν Δεκελειῆς προσφοιτῶσιν ἐν ἄστει), wo eine weißgefärbte Tafel (ἐν πινακίωι λελευκωμένωι) aufgestellt werden sollte, genau um dieselbe Gegend nahe der Hermen handelt295. Zum anderen wiederum bestätigt sie die Annahme, dass gewisse Betriebe als Treffpunkte bestimmter Gruppen dienten und deren Mitglieder ihre Reputation und ihr Zugehörigkeitsgefühl durch die Interaktion an solchen Stätten zu stärken suchten. In diesem Abschnitt wurden einige Aspekte der athenischen Barbier-Salons als Interaktionsräume herausgearbeitet, die ich hier kurz zusammenfasse. Athenische koureia haben sich als öffentliche Räume erwiesen, die in der klassischen Zeit in der kollektiven Wahrnehmung nicht nur durchaus positiv konnotiert waren, sondern darüber hinaus auch als relativ wichtige Orte der Soziabilität der athenischen Bevölkerung, als Orte des gegenseitigen Meinungsaustausches und der Kreuzung von Ideen fungierten. In einem solchen – von verschiedenen Gruppen und Schichten der athenischen Gesellschaft wie auch von Fremden frequentierten – Milieu eines koureion kam es zweifellos zum (in Hinblick auf das Problem der Formierung politischer Ansichten beachtenswerten) Austausch von Meinungen und Nachrichten. Die Barbierläden gaben folglich einen Rahmen für die Intensivierung der sozialen Beziehungen. Dies konnte nur deswegen so erfolgreich sein, weil fast jeder hin und wieder das Bedürfnis verspürte, den Bart bzw. die Haare schneiden zu lassen. Die individuellen Bedürfnisse sind und waren auch in der Antike Antriebskräfte menschlicher Interaktionen. 2.4 PARFÜMERIEN Wie bereits anhand der aussagekräftigen Stelle aus der pseudo-demosthenischen ersten Rede gegen Aristogeiton gezeigt wurde, setzte sich ein athenischer Bürger, der einen Barbier-Salon, eine Parfümerie296 (myropolion) oder irgendein anderes 292 Lys. 23,3. 293 Der Ansicht von ScHmitz 2004: 434 Anm. 124 ist zuzustimmen, dass „es […] sich um Dekeleier handeln [wird], die nach Athen übergesiedelt waren und dort ein ständiges Gewerbe betrieben. Darauf weist der Umstand, daß man über städtische Ereignisse (nämlich über weitere Klagen gegen Pankleon) gut unterrichtet war“. Vgl. auch JoneS 1999: 83 ff. 294 Zur Hermenstoa s. oben S. 50 mit Anm. 173. 295 IG II2 1237,61–64. S. Hedrick 1990 (zu diesen Zeilen S. 54 f.); vgl. auch JoneS 1999: 85 Anm. 11, der spekuliert, ob diese Tafel nahe oder sogar im Inneren des besagten koureion gestanden haben könnte und bejaht beide Möglichkeiten. Dass eine solche Notiztafel im Inneren eines Betriebes aufgestellt werden sollte, scheint mir jedoch wenig wahrscheinlich. 296 Diesen – im Deutschen zweideutigen – Begriff verwende ich im Folgenden als die Übersetzung des griechischen – durchaus eindeutigen – Wortes myropoleion, d. h. als die Bezeichnung einer Verkaufsstätte von Düften und nicht deren Herstellungsstätte. Angesichts der Morphologie des Wortes myro-poleion kann man schlussfolgern, dass die lokale Herstellung von Duftölen eine

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Geschäft (ergasterion) en te astei nie besuchte, der Gefahr aus, als ein asoziales und daher unanständiges Individuum betrachtet zu werden297. Als einen solchen präsentiert Ps.-Demosthenes Aristogeiton, indem er ihn mit einem breiten Arsenal an verunglimpfenden Bezeichnungen beschreibt: Er sei verbissen (ἄσπειστος), menschenscheu (ἀνίδρυτος), asozial (ἄμεικτος) und kenne kein Wohlwollen (οὐ χάριν), keine Freundlichkeit (οὐ φιλίαν), keine jedem anständigen Menschen eigenen Gefühle (οὐκ ἄλλ᾽ οὐδὲν ὧν ἄνθρωπος μέτριος)298. Jeder einzelne dieser Begriffe beinhaltet eine stark emotionale, offensichtlich pejorative Bedeutung. Dass der besagte Angeklagte tatsächlich eine solche – durchaus misanthropische und unanständige – Person war, wie ihn der Redner darstellt, wird auch den Richtern in dem Moment klar, in dem sie hören, dass er sich u. a. in Parfümerien nie blicken ließ. Dies kann im Falle der ergasteria und koureia als verständlich oder zumindest nicht so merkwürdig erscheinen, da das Besuchen von solchen Geschäften durch alltägliche Bedürfnisse bedingt war, weniger jedoch scheint dies bei Parfümerien der Fall gewesen zu sein, wo man Waren anbot, die nicht unbedingt unentbehrlich im Alltagsleben waren, sondern eher für Luxuswaren gehalten wurden. Nicht viele athenische Bürger konnten sich die importierten oder auch die in Attika hergestellten Düfte leisten, da sie allem Anschein nach sehr kostspielig waren. Das Zeugnis von Hipparch299 legt nahe, dass eine Kotyle (d. h. ca. 0,27 Liter) eines Parfüms (μύρον) im spätklassischen Athen zwischen fünf und zehn Minen kosten konnte300, was dem Verdienst eines gelernten Handarbeiters für mehr als 500 Arbeitstage entsprach301. Zu den teuersten und raffiniertesten zählten insbesondere die syrischen302 oder ägyptischen303 Düfte; zweifelsohne gab es aber auch solche, die billiger und daher im

297 298 299 300

301 302 303

(von einem μυρεψός benannten Fachmann durchgeführte) Aktivität war, die im Normalfall räumlich vom Verkauf der hergestellten Waren abgegrenzt war. Vgl. maSSar/VerBanck-piérard 2013: 276 f. – Leider verfügen wir weder über archäologische Funde der Herstellungsnoch der Verkaufsanlagen von Parfümen im spätklassischen Athen. Zur hellenistischen und römischen Parfüm-Produktion s. Brun 2000: 282–306. Zu Herstellungsmethoden und Gebrauch von Duftstoffen im antiken Mittelmeerraum s. u. a. ForBeS 1965b: 1–50 und paSztHory 1990. Zu geschlechtsspezifischen Praktiken der Körperpflege (wie Schminken und Salben) und ihrer moralischen Bewertung vgl. FraSS 2002. Zu diversen Aspekten des Parfümverkaufs im klassischen Griechenland s. maSSar/VerBanck-piérard 2013. [Demosth.] 25,52. Vgl. Lys. 24,20. [Demosth.] 25,52. Hipparch fr. 4 K-A, vgl. Men. fr. 243 K-A. Beide Fragmente führt Athen. 15,691c an. Vgl. Plut. mor. 646b (= quaest. conviv.). Zu den teuersten Duftölen gezählt wurde auch die Kypros, die jedoch in der Mitte des 3. Jh. v. Chr. – dem Kyniker Teles zufolge – eine Mine für eine Kotyle kostete (Teles 2.2.106–9 [13H], p. 12, in: o’neiL 1977, nach reger 2005: 263). Vorausgesetzt, dass der durchschnittliche Tageslohn im 4. Jh. v. Chr. eine Drachme betragen hat. Vgl. Brun 2000: 281. S. z. B. Anaxandrides fr. 42,36 K-A; Mnesimachos fr. 4,59 f. K-A; Antiphanes fr. 200,9 K-A. Z. B. Dexikrates fr. 1 K-A; Ephippos fr. 8,1 K-A; Anaxandrides fr. 41 K-A; Achaios TrGF 20 F 5 (ap. Athen. 15,689b); Plat. Com. fr. 71,6 f. K-A; Strattis fr. 34 K-A; Theophr. odor. 30; 55. Einige ägyptische Parfümhändler, wie Deinias (Strattis fr. 34 K-A mit ortH 2009: 169 f.), und Verkäufer ägyptischer Parfüme, wie Peron (Anaxandrides fr. 41 K-A; Theopomp. fr. 1 K-A und fr. 17 K-A; ergänzt auch in Antiphanes fr. 37 K-A), haben sich in Athen einen beträchtlichen Ruf erworben.

2.4 Parfümerien

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gewissen Maße erschwinglich waren304. Man erfährt aus einem Fragment einer Komödie von Antiphon, dass die Frau (vermutlich eines Geizhalses)305 mit dem Myrrheöl (στακτή)306 für ‚nur‘ zwei Minen nicht zufrieden ist307! Auch wenn dies nicht mehr als eine komische Übertreibung darstellen mag, ist es nicht zu verkennen, dass man in einem athenischen myropoleion relativ aufwendige wie luxuriöse Waren erwerben konnte, unter anderem Duftöle zum Gebrauch beim Symposion308. Während die archaischen und frühklassischen Autoren den Gebrauch von Parfüm eher reserviert behandeln – nicht selten wurden sie mit der östlichen τρυφή und Verweichlichung assoziiert309 –, änderte sich allem Anschein nach die Einstellung gegenüber Duftanwendung durch Männer nach und nach seit den letzten Jahrzehnten des 5. Jh. v. Chr.310. Das häufigere Auftauchen von Parfüm in Satyrspielen und Komödien (insbesondere in der Mittleren Komödie) lässt sich nämlich nur teilweise mit dem Charakter dieser Werke erklären, die im Gegensatz zur Tragödie häufig das Symposion oder erotische Szenen zum Gegenstand haben und in denen daher der Gebrauch von Düften öfters Erwähnung findet. Der andere Grund dafür ist, wie Saara Lilja und ihr folgend andere Forscher zu Recht bemerkt haben, dass „using all kinds of fragrant stuffs, which had first been condemned as foreign, began to be socially acceptable“311. Auch bei der Berücksichtigung der Tatsache, dass Parfüm bei vielen Moralisten verpönt war, scheint das angebliche solonische Verbot der Par-

304 Die für Delos bezeugten Preise variieren zwischen 2 Drachmen 8 Obolen und 8 Drachmen für eine Kotyle, s. maSSar/VerBanck-piérard 2013: 275, die darüber hinaus daraus schlussfolgern, dass „this means that the perfume is worth between ten and eighty times the cost of the oil necessary to manufacture it“. – Nicht die ganze lokale Produktion von Duftölen war jedoch von geringerer Qualität als diejenige der aus dem Osten importierten Parfüme. Athenischer (oder sizilischer Herkunft) war ein gewisser Megallos, der Erfinder eines nach ihm genannten hochwertigen und viel geliebten Parfüms war, s. Strattis fr. 34 K-A; Anaxandrides fr. 47 K-A; Eubulos fr. 89,5 f. K-A; Pherekrates fr. 149 K-A; Amphis fr. 27 K-A; Aristoph. fr. 549 K-A. 305 Zu Recht bemerkt pütz 2003: 267, dass diese Worte nicht dem geizigen Mann zugeschrieben werden sollen, wie es Kock (K-A ad loc.) macht, da er sich über einen billigeren Kauf sicherlich freuen würde, sondern eher seiner Frau. 306 Dazu s. Steuer 1933. 307 Antiphanes fr. 222 K-A. Diese ‚billige‘ στακτή scheint ohnehin in Hinblick auf athenische Verhältnisse sehr kostbar zu sein. 308 S. dazu pütz 2003: 264–278, die zu Recht LiLJas 1972: 64 Interpretation von Xen. symp. 2,3 kritisch hinterfragt und zum Schluss kommt, dass diese Stelle cum grano salis genommen werden soll (pütz 2003: 274 f.). 309 Z. B. Polyzelos fr. 12 K-A. Diese Einstellung charakterisierte aber ebenfalls einige spätere Philosophen, wie beispielsweise den Peripatetiker Klearchos (Klearchos F 41 Wehrli2 = Athen. 15,687a). S. ferner Herter 1959: Sp. 634. 310 Das wachsende Interesse an Duftölen und Gerüchen überhaupt führte zu wissenschaftlichen Untersuchungen dieses Themenkomplexes, wie beispielsweise der Schrift des Theophrast Περὶ ὀσμῶν (De odoribus); für die kommentierte deutsche Edition s. eigLer/wöHrLe 1993. Weitere bekannte und verloren gegangene Schriften über die Düfte gibt ForBeS 1965b: 43 f. an (die Liste ist jedoch unvollständig). 311 LiLJa 1972: 65; so auch z. B. pütz 2003: 265 Anm. 5.

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fümherstellung und des Handels damit312 verdächtig und soll daher als eine spätere Erfindung betrachtet werden313. Im Quellenmaterial aus spätklassischer Zeit findet man des Weiteren kaum Belege für die Annahme, die Herstellung oder der Handel von Parfüm sei eine verbotene oder aber als unwürdig betrachtete Tätigkeit gewesen, wie in der Forschung hin und wieder suggeriert wird314. Vielmehr lässt sich der Eindruck gewinnen, dass beide Tätigkeiten im Athen des 4. Jh. v. Chr. ein durchaus gewinnbringendes Unternehmen gewesen sein konnten. Aus den Fragmenten einer Rede von Lysias gegen den Sokratiker Aischines von Sphettos erfährt man, dass dieser Schüler des Sokrates in große Schulden geriet, da er bei vielen Personen Darlehen aufgenommen hatte, um eine Herstellungsanlage von Duft-Essenzen aufbauen zu können (τέχνην μυρεψικὴν κατασκευάζεσθαι)315. Die Errichtung eines Geschäfts zur Parfümherstellung im spätklassischen Athen musste nicht unbedingt ein Weg in die Armut, sondern konnte ein Ausweg aus ihr sein. Nach dem Zeugnis einiger antiker Autoren sei Aischines arm gewesen, und dies, so scheint es, bereits bevor er in die Schulden geraten war316. Man kann folglich annehmen, dass Aischines sich aus der Herstellung von Parfümen erhebliche Einkünfte versprochen hatte. Er soll sogar die siebzigjährige Frau eines Duftölverkäufers namens Hermaios verführt haben, die „ihn statt des Hausierers zum Duftöl-Unternehmer machte“317. Abgesehen vom fraglichen Wahrheitsgehalt dieser Beschuldigung, macht die letztbenannte Formulierung deutlich, dass es der Besitz einer Parfümherstellungs- und Verkaufsstätte erlaubte, die eigene soziale wie finanzielle Position erheblich zu erhöhen. Dass der Besitz einer Parfümerie kein soziales Stigma nach sich zog, zeigt auch der Fall eines eher wohlhabenden athenischen Bürgers318 namens (vermutlich) Epikrates. Dieser hatte sich entschlossen, ein myropolion eines Metöken namens 312 F 73a Ruschenbusch = T 500 Martina (= Athen. 15,687a); F 73b Ruschenbusch = T 501 Martina (= Athen. 13,612a). Für verfehlt halte ich die Interpretation von LaLLemand 1996: 80, der zufolge „Solon aurait interdit aux hommes d’exercer ce métier pour le réserver aux femmes“. 313 So auch BernHardt 2003: 36, 219. Laut ruScHenBuScH 2010: 142 diene dieses Verbot der Sicherung der Ernährung des Landes, was jedoch keineswegs überzeugend ist. Das für die Herstellung von Parfüm unerlässliche Olivenöl gab es in Attika zur Zeit Solons, wie auch Ruschenbusch selbst zugibt, im Überfluss (vgl. F 65 Ruschenbusch = T 487/540 Martina [= Plut. Solon 24,1]), und die zweite Zutat – Rosen in großen Mengen – ist als Ernährungsmittel nicht zu qualifizieren. Außerdem wuchsen auch Rosen den antiken Autoren zufolge überall: Plin. nat. 13,9; 13,18; Eupolis fr. 74 K-A = Athen. 14,640b; reger 2005: 284 Anm. 32. 314 So z. B. BäBLer 1998: 69. Die Parfümherstellung wurde zwar in der römischen Welt als sordida ars betrachtet (vgl. Brun 2000: 277 f.), diese Einstellung sollte aber nicht auf die griechische Welt rückprojiziert werden. Darüber hinaus ist es nicht auszuschließen, dass sich die Haltung gegenüber Parfümherstellung von der des Parfümverkaufs grundsätzlich unterscheiden konnte. 315 Lys. fr. 1,1 Carey (= Athen. 13,611d–f.). Vgl. reger 2005: 265 f. 316 Diog. Laert. 2,34; Sen. benef. 1,8,1 f. 317 Lys. fr. 1,1 Carey (= Athen. 13,611d–f). Den Fragmenten dieser Rede ist zu entnehmen, dass es sich dabei um ein Geschäft handelt, in dem man Parfüme sowohl herstellte als auch verkaufte. reger 2005: 265 zufolge habe Aischines die Parfümerie von Hermaios gepachtet. M. E. könnte man überdies vermuten, dass er das Geschäft erweitern und neu ausstatten (τέχνην μυρεψικὴν κατασκευάζεσθαι) wollte, was schließlich zu seinen ernsten finanziellen Problemen führte. 318 Er stellt sich in der Rede zwar als einen einfachen Bauer dar (Hyp. 3,26), dieses Eingeständnis sollte man jedoch cum grano salis nehmen, konnte er sich doch die Dienste eines professionellen und anerkannten Logographen wie Lysias leisten.

2.4 Parfümerien

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Athenogenes zu kaufen, weil er sich in den Sohn des Meidias, einem in einer der Parfümerien des Athenogenes arbeitenden Sklaven, verliebt hatte und auf diesem Weg den Jungen freizulassen und für sich zu gewinnen suchte319. Weitere – für den verliebten Bürger keineswegs erfreuliche – Nachwirkungen dieses Falles lassen wir an dieser Stelle beiseite. Zu beachten ist dabei allein, dass der wohlhabende Besitzer320 – ein Metöke – nicht selbst das Geschäft führte, sondern die Verantwortung und alle Aufgaben an seinen Sklaven übertrug, der sich mithilfe seiner Kinder um das alltägliche Funktionieren der Parfümerie kümmerte321. Man möchte gerne Näheres über ihre Aufgaben wissen, sicher ist aber, dass im Fall der Parfümerie des Athenogenes seine Sklaven keine besonders fachspezifischen Kompetenzen besitzen mussten, da die Auflistung von Gegenständen dieses Geschäfts322 deutlich macht, dass dies keine Parfümherstellungsanlage, sondern lediglich eine Duftölverkaufsstätte war (also myropoleion im richtigen Sinne, obwohl Hypereides diese Stätte an einer Stelle auch ergasterion benennt)323. Gewinnbringend konnten athenische Parfümerien auch deswegen gewesen sein, da man verschiedene Salben und Parfümarten als Heilmittel betrachtete324. Dies legt die Vermutung nahe, dass man überdies an solchen Orten möglicherweise auch magische Tränke erwerben konnte, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber ebenfalls Olivenöl (welches immer als Grundingredienz der Parfümherstellung diente325). Letzteres kann m. E. die Tatsache erklären, warum die Parfümerien in klassischen Quellen nicht selten als Treffpunkt der athenischen jeunesse dorée dargestellt werden326. So beispielsweise räumt in den aristophanischen Rittern der senile Demos ein: „Ich rede von den Jungen, die in den Parfümerien herumlümmeln und irgendetwas plappern“327. Ähnliches hört man auch in einer Komödie des Pherekrates, in der eine Person bekennt: Und dann, was sollte einen Mann bewegen, Duftöl zu verkaufen und auf einer Trittbank unter einem Schirm zu sitzen, hingestellt als Treffpunkt für das junge Volk zum Schwatzen durch den Tag hindurch?328. 319 Hyp. 3. Ausführlicher dazu wHiteHead 2000: 265–351; roSiman 2005: 168 ff.; matuSzewSki 2011: 90–95. 320 Vgl. reger 2005: 287 Anm. 48. 321 Ein ähnlicher Fall – möglicherweise einer Sklavenfamilie, deren Mitglieder der Tätigkeit des Parfümverkaufes nachgingen – ist aus den phialai exeleutherikai bekannt: SEG 25: 180, Zeilen 29–37 (= meyer 2010: 137 ff., Nr. 30). 322 Hyp. 3,6. 323 So auch reger 2005: 265; vgl. FinLey 1952: 68 f. Contra LaLLemand 1996: 80. 324 Theophr. odor. 35 f.; Hippokr. Epid. 7,5; vgl. Alexis fr. 195 K-A. 325 Theophr. odor. 14; 20. Zur Herstellung von Parfümen in der griechischen Welt s. insbesondere reger 2005: insbes. 254, 260–272 (mit weiteren Literaturangaben). 326 In der hellenistischen Zeit stellten häufig die Gymnasiarchen das Salböl auf eigene Kosten für die Besucher einer Sportanlage zur Verfügung (vgl. curty 2015: 321–326), wohingegen im klassischen Athen die in den Gymnasien und Palästren sporttreibenden Knaben das Körperöl allem Anschein nach in der Regel selbst beschaffen mussten (contra Anecd. Graec. 1,228 Bekker; wiLSon 2000: 36). 327 Aristoph. Equ. 1375 f. 328 Pherekrates fr. 70 K-A (Übers. C. Friedrich).

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Gary Reger nimmt, in seinem sonst lehrreichen Aufsatz329, Pherekrates’ Verse wortwörtlich und hält sie für einen Beweis dafür, dass der Einzelhandel von Parfümen in Athen auch unter sehr einfachen Bedingungen zustande kommen konnte. Dies scheint mir verfehlt. Denn der Schrift De odoribus von Theophrast ist zu entnehmen, dass „eine heiße Jahreszeit, ein [ungünstiger] Standort und die Sonne, wenn sie ihr ausgesetzt sind, […] Salböle“ verderben lassen. „Deshalb suchen die Salbölverkäufer oben befindliche Räume, die nicht der Sonne ausgesetzt, sondern möglichst schattig sind; denn die Sonne und die Wärme entziehen den Salbölen den Geruch und lassen sie überhaupt ihren Charakter verlieren“330. Die so kostbaren und feinen Waren wie Parfüme beschützten ihre Verkäufer vor allerhand Faktoren, die die Herabsetzung ihrer Qualität bewirken und dadurch erhebliche Geldverluste zur Folge haben konnten. Ein Schirm wäre für die aufgestellten Duftstoffe keineswegs ein angemessener Sonnenschutz gewesen; schon deshalb sollten die Worte des Komödiendichters anders erklärt werden. Es scheint mir angebracht, davon auszugehen, dass Pherekrates dabei keine Realität wortwörtlich abbildet, sondern mit der sinnbildlichen Sprache operiert, welche allen seiner Zuhörer durchaus verständlich war. Durch die Darstellung der jungen Athener, die einen unter dem Schirm sitzenden Parfümverkäufer umringten, wollte der Dichter die Vorstellung von der den östlichen Aufwand liebenden Jugend hervorrufen. Die Symbolik des Schirmes stellt dabei den grundlegenden Schlüssel dar, um diese Verse zu verstehen. Denn wie Margaret C. Miller vor Jahren überzeugend gezeigt hat331, besaß der Schirm in der griechischen Welt starke östliche Konnotationen und funktionierte im athenischen imaginaire als Symbol des orientalischen Luxus. Die Jugend war im 5. Jh. v. Chr., wie Pherekrates deutlich macht, viel offener und anfälliger für die aus dem Osten kommenden Moden und luxuriösen Waren, welche zu dieser Zeit im öffentlichen Diskurs nicht selten mit Verweichlichung assoziiert und als eines freien Mannes unwürdig dargestellt wurden332. Das Bedürfnis der (höchstwahrscheinlich) jungen Athener zur geselligen Interaktion an solchen Orten wie Parfümerien stellt Pherekrates übertreibend in einem anderen Komödienfragment dar, in dem er Leute beschreibt, die sogar vor Sonnenaufgang „nach dem Bade auf dem Kranzmarkt, andre aber an den Duftölständen (en to myro) über Bergamottenminze wie auch Rittersporn“ schwatzen (laleite)333. An diesen Versen lässt sich ein Reflex athenischer Realität ablesen. Wie bereits erwähnt, scheint mir die Vermutung plausibel, dass die Jungen aus wohlhabenden Familien an solchen Stätten schon im 5. Jh. v. Chr. häufig anzutreffen waren, da sie dort Olivenöl (ἔλαιον) zum Gebrauch im Gymnasion zu erwerben pflegten. Im 329 330 331 332

reger 2005: 265. So auch wycHerLey 1956: 16 und maSSar/VerBanck-piérard 2013: 277. Theophr. odor. 40 (Übers. U. Eigler/G. Wöhrle). miLLer 1992. miLLer 1992: 92 interpretiert diese Passage anders, indem sie dieses Fragment mit dem angeblich solonischen Verbot von Parfümherstellung und -verkauf (vgl. oben Anm. 312) in Zusammenhang stellt. Daher kommt sie zu dem Schluss, dass „the parasol reinforces the notion that selling perfume was not appropriate for a man“. 333 Pherekrates fr. 2 K-A (Übers. C. Friedrich): λουσάμενοι δὲ πρὸ λαμπρᾶς ἡμέρας | ἐν τοῖς στεφανώμασιν, οἳ δ' ἐν τῷ μύρῳ | λαλεῖτε περὶ σισυμβρίων κοσμοσανδάλων τε.

2.4 Parfümerien

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Laufe der Zeit hat sich das Besuchen von myropoleia als eine alltägliche Praxis ebenfalls der Erwachsenen durchgesetzt – dies war sicherlich im 4. Jh. v. Chr. der Fall. Es versteht sich von selbst, dass das Zusammentreffen vieler Menschen in oder neben einer Parfümerie eine Gelegenheit zu Austausch und Unterhaltung bot. Interessanterweise erfahren wir aus Demosthens (34,13), dass der Redner in Begleitung eines gewissen Lampis den Schuldner Phormion überall gesucht und schließlich an den Duftölständen (πρὸς τοῖς μυροπωλίοις) gefunden habe334. Nicht ohne Grund beschreibt Theophrast einen Unverschämten (βδελυρός) als einen, der „in eine Barbierstube oder in einen Salbenladen [tritt] und erzählt, er habe vor, sich zu betrinken“335. Seine bdelyria offenbart sich vermutlich nicht nur dadurch, dass er mit seiner belanglosen Bekanntmachung die Gespräche der Anderen stört, sondern vielmehr, dass er seine Maßlosigkeit im Trinken (bzw. seine intendierte Betrunkenheit) öffentlich bekannt gibt und damit gegen die in athenischer Gesellschaft geltenden Verhaltensnormen verstößt336. Um Resonanz zu finden, musste der bdelyros seine Verachtung von Anständigkeitsregeln an möglichst viel frequentierten und im Raum sichtbaren Orten theatralisch ausdrücken; dazu schienen die Barbier-Salons und Duftölstände am besten geeignet gewesen zu sein. Doch kehren wir zur Frage zurück, welche ich angekündigt und bisher nicht beantwortet habe: Warum galten athenische Parfümerien als öffentliche Räume, in bzw. nahe denen sich die Bürger häufig zeigen sollten, insbesondere wenn man an diesen Orten keine Waren des täglichen Gebrauchs, sondern nur relativ kostbare und luxuriöse Salben und Düfte beschaffen konnte? Dass myropolia unter öffentlichen Räumen der bürgerlichen Kommunikation im 4. Jh. erwähnt werden, ergibt sich m. E. nicht aus ihrer funktionellen Bedeutung, sondern bloß aus ihrer topographischen Lage. Dieser Schluss legt selbst die sprachliche Formulierung nahe: nicht einmal ist im klassischen Quellenmaterial der Lokativ ἐν μυροπωλίῳ zu finden, der auf ein bestimmtes, räumlich isoliertes Geschäft weisen würde. Die (spät)klassischen Autoren verwenden stattdessen am häufigsten die Ausdrücke ἐν τῷ μύρῳ337 oder πρὸς τοῖς μυροπωλίοις338. Diese machen deutlich, dass die Mehrheit (wenn nicht alle) der Parfümerien im asty an einem bestimmten Ort, einem nicht ausgedehnten Bereich der Agora, versammelt waren339. 334 Dies musste nicht unbedingt der Realität entsprechen. Man gewinnt nämlich den Eindruck, dass Demosthenes den verschuldeten Phormion aus prozesstaktischen Gründen im Bereich der Agora, wo man die luxuriösen Waren anbot, präsentierte; ähnlich auch LaLLemand 1996: 84 Anm. 18. 335 Theophr. char. 11,8 (Übers. P. Steinmetz): καὶ διηγεῖσθαι προσστὰς πρὸς κουρεῖον ἢ μυροπώλιον, ὅτι μεθύσκεσθαι μέλλει. 336 Vgl. worman 2008: 315–317; FiSHer 2016: 107. 337 Pherekrates fr. 2 K-A; Alexis fr. 61 K-A; Polyzelos fr. 12 K-A. – LaLLemand 1996: 79 weist auf eine treffende Parallele für diesen Ausdruck im umgangssprachlichen Französischen hin: ‚aller au pain‘ bedeutet so viel wie ‚aller acheter du pain‘. Vgl. Schol. Aristoph. Equ. 1375a: οὕτως Ἀττικοὶ ἀντὶ τοῦ ἐν μυροπωλείῳ, ἀπὸ τῶν πωλουμένων τοὺς τόπους καλοῦντες. 338 Demosth. 34,13; Hyp. 3,5; Theophr. char. 11,8; vgl. auch Alkiphr. 2,21. 339 Die Hypothese von maSSar/VerBanck-piérard 2013: 277: „Muropolai must also have had stalls and shops near the places where perfumes were used, such as the necropolises, some sanctuaries, maybe the palestra or the gymnasium“, lässt sich nicht beweisen.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Zwar weiß man, dass innerhalb der Agora bestimmte Bereiche (kykloi) vielerlei Waren zugewiesen waren, doch im Falle der anderen Betriebe hört man auch von einzelnen Verkaufsstätten, die sich außerhalb der Agora befanden. So betrachtet könnte man vermuten, dass die Parfümerien innerhalb der Stadtmauern ausschließlich in einem Bereich des Stadtmarktes lokalisiert waren. In einem Bereich der Agora also, in dem die Präsenz der Bürger, ihre Anwesenheit im Öffentlichen und dadurch ihre gesellige Einstellung Anderen sichtbar sein konnte. Den Kaufvertrag der überschuldeten Parfümerie des Athenogenes hatte Epikrates allem Anschein nach nahe des besagten Geschäfts abgeschlossen, und dies sei, so unterrichtet er in seiner Rede, ἐν μέσῃ τῇ ἀγορᾷ gewesen, was jedoch nicht wortwörtlich verstanden werden sollte340. Auf diese Weise, durch die Betonung der Zentralität des Ortes des Vertragsabschlusses, versucht er nämlich zu zeigen, dass Athenogenes einen groben Verstoß gegen das Gesetz begangen habe, welches anordnet, „dass Leute auf dem Marktplatz nicht lügen sollen“341. Sicherlich nicht im Zentrum der Agora, aber dennoch an einem exponierten Ort des Marktes ist der Bereich der Parfümerien zu suchen. Anhand des archäologischen Befundes342 hat Susan Rotroff neuerdings für die These plädiert, der traditionelle Ort der Duftstoffehändler sei der südöstliche Bereich der Agora gewesen (s. Abb. 3b)343. Diese Vermutung lässt sich mit dem Bild, welches die literarischen Quellen vermitteln, gut in Einklang bringen. Denn dieser Bereich befand sich dicht an einer stark besuchten und einer der größten Straßen – dem Panathenäischen Weg. Dank solch einer Lage war er für alle leicht erreichbar und darüber hinaus bestens als Ort geeignet, an dem sich Bürger in der Öffentlichkeit blicken lassen und ihre sozialen Neigungen öffentlich ausdrücken konnten. Hier kreuzten sich die Wege der Reisenden, der Händler, der Einkäufe machenden Sklaven, der politische oder wirtschaftliche Angelegenheiten erledigenden oder aber einfach spazieren gehenden Bürger. Die Signifikanz von Parfümerien als Räume der bürgerlichen Interaktion ergibt sich folglich aus ihrer topographischen Lage – an einem bestimmten, stark frequentierten und exponierten Ort des athenischen Stadtmarktes. Man muss aber gleichzeitig auch feststellen, dass sich einige, wenn auch vereinzelte Duftölverkaufsanlagen ebenso außerhalb vom asty befunden haben müs340 LaLLemand 1996: 80 scheint dieses Zeugnis wortwörtlich zu nehmen. – FinLey 1952: 69 weist auf Folgendes hin: „Either Athenogenes’ perfumery was his home, which he rented and which the purchase of the slaves and supplies would not be interested […]. Or it was no more than a reed booth in the market-place, of negligible value and not considered a house coming under the ban against non-citizens’ owning land and houses“. Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass Athenogenes einen anderen Raum als sein Haus zum Zwecke des Geschäftes von einem Bürger gepachtet haben könnte, da er relativ wohlhabend war. 341 Hyp. 3,14. 342 Ins 2. Viertel des 4. Jh. v. Chr. ist der Depotfund der Zisterne Q 13–14:1 (an der Stelle der späteren Pantainos-Bibliothek) zu datieren, welcher wenigstens zehn große Amphoren beinhaltete, die Susan Rotroff zufolge zum Import von Duftölen aus Korinth gedient haben. Auch die in spätere Zeit zu datierenden Befunde aus umliegenden Zisternen (R 13:9 und Q 15:2) deuten darauf hin, dass dieser Bereich kontinuierlich als Platz des Handels von Duftstoffen diente. S. rotroFF 2006: 139 f. 343 rotroFF 2006: 65, 139 f.

2.5 Schuhmachereien

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sen – wohl sicher im Piräus. Der aus der bereits oben erwähnten hypereidischen Rede bekannte Metöke Athenogenes war im Besitz von nicht nur einer, sondern drei Parfümerien344. Aus dem Text geht zwar nicht klar hervor, ob er diese drei Geschäfte gleichzeitig oder nacheinander führte345. Stimmte die erste Möglichkeit, so wäre es wenig sinnvoll anzunehmen, dass sich alle drei nebeneinander an ein und demselben Ort der Agora befanden. Man könnte in diesem Fall allenfalls ahnen, dass zwei seiner Geschäfte entweder in Piräus oder auf einer anderen, außerstädtischen Agora lokalisiert gewesen sein könnten. Nicht zuletzt wegen des Mangels an archäologischem Beweismaterial ist man dabei allein auf Vermutungen angewiesen. Sicher ist nur, wie oben zu zeigen versucht wurde, dass das Besuchen von Parfümerien neben den Barbierläden und anderen Geschäften auf der Agora im 4. Jh. zu den habituellen Praktiken der sich als tüchtig inszenierenden Bürger gehörte. 2.5 SCHUHMACHEREIEN Außer den als Interaktionsräumen dienenden und im spätklassischen Quellenmaterial unter der summarischen Bezeichnung ergasteria erwähnten Handwerksbetrieben nennt Lysias in der bereits zitierten Passage konkret die Schusterwerkstatt (σκυτοτομεῖον)346. Uns liegen kaum Hinweise dafür vor, dass eine Schuhmacherei vor dem Ausgang des 5. Jh. ein Ort des geselligen Zusammenkommens der Athener gewesen sein sollte347. Von dem Lysias-Passus ausgehend ist daher zu fragen, woran es lag, dass gerade Betriebe der Schuster als Treffpunkt für die athenische Bevölkerung eine gewisse Anziehungskraft im frühen 4. Jh. ausübten? Es war wohl nicht ausschließlich das bloße Bedürfnis, maßgeschneiderte Schuhe zu bestellen, anzuprobieren oder abzuholen, das viele Bürger, Metöken oder möglicherweise auch Sklaven an solche Stätten lockte. Zahlreichen ikonographischen und literarischen Zeugnissen ist zu entnehmen, dass man in Athen nicht selten das Schuhwerk nach Maß bei einem skytotomos/skyteus bestellte. Dennoch sind sich die Forscher auch darüber einig, dass man fertige Schuhe standarisierter Größen ebenfalls ohne den direkten Kontakt mit dem Schuhmacher, d. h. auf der Agora bei irgendeinem 344 Hyp. 3,19. 345 FinLey 1952: 68; wHiteHead 2000: 320. Hypereides unterrichtet uns außerdem, dass der besagte Athenogenes der dritten Generation von Parfümverkäufern angehörte (Hyp. 3,19 mit wHiteHead 2000: 319 f.). 346 Lys. 24,20. 347 Der Äußerung in Diog. Laert. 2,123 (= VI B 87 Giannantoni), die den philosophierenden Schuster Simon mit Perikles in Verbindung bringt, sollte man keinen größeren Wert beilegen, denn sie weist offensichtliche Züge einer spät entstandenen biographischen Tradition auf, dadurch dass sie eine ungewöhnliche Persönlichkeit einer anderen berühmten Person gegenüberzustellen und die Vitae beider Individuen zu verflechten suchte; skeptisch war schon zeLLer 1859: 172 Anm. 5. Trotzdem nehmen viele Forscher diese Information für bare Münze, vgl. z. B. tHompSon 1960: 235, 238, 240; BurFord 1972: 130, 156; camp 1986: 145 f. – Die antike Darstellung des Simon als einen idealen Kyniker hat Hock 1976 näher untersucht. Vgl. ferner SeLLarS 2003.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Verkäufer348, erwerben konnte. Ebenso konnte man bei einem Schuster Schuhe kaufen, ohne sie zuvor nach Maß zu bestellen349, weswegen konsequenterweise ein längerer Aufenthalt unnötig war. Ohne weiteres kann von der Annahme ausgegangen werden, dass gerade wohlhabende Athener in erster Linie komplexere Dienste einer Schuhmacherei in Anspruch nahmen. Aber die Funktion dieser Betriebe beschränkte sich – gewiss im 5. Jh. – nur auf die Herstellung von Schuhen bzw. anderer Lederprodukte. Zumal es sich nicht ausschließen lässt, dass sowohl der Betrieb als auch der Status eines Schusters selbst mit einer gewissen Ambiguität behaftet gewesen sein könnte. Notwendigerweise hatte ein Schuster eine ziemlich enge professionelle Beziehung mit einem Gerber pflegen müssen350, dessen Tätigkeit gewissermaßen mit einem sozialen Stigma belastet war oder zumindest mit einer gewissen Zurückhaltung von athenischen Bürgern betrachtet wurde351. Im Falle der Schuhmacher soll zwar von der gesellschaftlichen Verachtung oder selbst Abneigung nicht die Rede sein, denn die Tierhäute, mit denen sie bei ihrem Gewerbe zu tun hatten, waren bereits bearbeitet, so dass es an ihrer Tätigkeit nichts ‚Unreines‘ bzw. ‚Befleckendes‘ gab. Dennoch fällt einem die Vorstellung nicht schwer, dass die aus vermögenden Kreisen stammenden Bürger nicht unbedingt das Bedürfnis verspürt haben mögen, sich an solcher Art Stätten länger als unvermeidbar aufzuhalten. In einem Werk von Ailian ist ein angebliches Gespräch überliefert, das zwischen Sokrates und Alkibiades geführt worden sein soll: Um ihm (d. h. Alkibiades) Mut und Selbstvertrauen einzuflößen, fragte ihn Sokrates: ‚Verachtest Du nicht den Schuster dort?‘ (Dabei nannte er dessen Namen). ‚Allerdings‘, antwortete Alkibiades. Sokrates fragte wieder: ‚Nicht auch jenen öffentlichen Ausrufer oder den Zeltmacher dort?‘. Auch diese Frage bejahte Klinias’ Sohn. ‚Nun‘, fuhr Sokrates fort, ‚aus solchen Leuten ist das athenische Volk zusammengesetzt; und wenn Du dieses einzeln verachtest, so musst du sie auch in Masse verachten‘352.

Würde man dieser Anekdote Glauben schenken und sie als repräsentativ für die Ansichten der athenischen Oberschicht des 5. Jh. nehmen, so würde es bedeuten, dass man nicht nur den Beruf eines Schusters, sondern konsequenterweise auch die Schusterwerkstätten zu dieser Zeit kaum als respektierte Orte betrachtet hätte. Nun spricht einiges gegen diese Annahme: Bereits im Falle der im 5. Jh. aufgestellten Grabstele eines gewissen Xanthippos (datiert ca. 420 v. Chr.)353 lässt sich beobachten, dass der darauf dargestellte Verstorbene, der mit einem Schuh in der Hand porträtiert wurde, von Berufsstolz erfasst gewesen sein muss. Für Xanthippos 348 Vgl. z. B. Aristoph. Equ. 871 mit acton 2014: 169. 349 Vgl. acton 2014: 167. 350 Außer den Lederschuhen gab es aber auch solche, die aus Leinenbindung und Lappen angefertigt wurden, vgl. acton 2014: 166; verschiedene Arten von antiker Fußbekleidung beschreibt ausführlicher Lau 1967: 109–149; zum griechischen Schuhwerk s. ferner Bryant 1899; BLundeLL 2006. 351 Zum Tabu der Tierhautbearbeitung in vielen Kulturen s. z. B. waSiLewSki 2010: 233–239. 352 Ail. var. 2,1 (Übers. E. K. F. Wunderlich). 353 British Museum 1805.7–3.183. CAT 1.630. Dies ist die einzige erhaltene – abgesehen von dem aus dem 4. Jh. stammenden Grabstein eines gewissen Thraix – Grabstele eines athenischen Schuhmachers. Vgl. dazu SaLta 1991: 255 f.; HocHScHeid 2015: 295 f. – Zu den Darstellungen der Schuster in der Vasenmalerei s. ziomecki 1975: 113–116.

2.5 Schuhmachereien

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und seine Familie war an seiner Tätigkeit nichts Schamhaftes, so dass man ihn nach seinem Tod im öffentlichen Raum, sitzend auf einem klismos, nicht nur in Begleitung seiner zwei Töchter oder, wie Lesley A. Beaumont neuerdings überzeugend dargelegt hat, von seiner Frau und Tochter354, sondern überdies mit dem Schuh, dem Symbol seines Gewerbes, in der hochgehobenen Hand als Ausdruck seiner ausgeprägten professionellen Identität darstellen ließ. Auch wenn Alkibiades’ Verachtung für athenische Schuster übertrieben und auch von seinesgleichen in dieser Form nicht geteilt worden sein mag, so bedeutet dies nicht, dass man Schuhmachereien zu dieser Zeit auf täglicher Basis aufsuchen wollte. Der erste, der sich beinahe dafür rühmte, sich häufig in einer Schusterwerkstätte niederzulassen und sogar auf Gespräche mit dem Schuster einzulassen, war bekanntlich Sokrates. Von seinen Schülern – Platon und Xenophon – erfährt man, dass er in einer Schusterwerkstatt Diskussionen zu führen pflegte, wobei beide den Namen des Schusters hinter dem Zaun halten355. Bei Plutarch begegnet man zuerst en passant einem gewissen Schuster namens Simon, bis dann Diogenes Laertios in seinem im 3. Jh. entstandenen Werk Leben und Meinungen berühmter Philosophen offen verrät, es habe sich um die Schuhmacherei des Simon gehandelt, der die Dialoge des Sokrates sogar niedergeschrieben haben soll356. In demselben doxographischen Werk des Diogenes und des Weiteren auch in der Suda357 wurden überdies die Titel der von einem anderen Sokrates-Schüler – Phaidon von Elis – verfassten Dialoge tradiert, darunter interessanterweise einer mit dem Titel Simon. Und dennoch wurde die historische Existenz des Simon von etlichen älteren Forschern angezweifelt und damit für eine literarische Erfindung (des, nach WilamowitzMoellendorff358, gerade erwähnten Phaidon von Elis) gehalten. Erst die Ausgrabung im Jahre 1953 einer an den südwestlichen Grenzstein der Agora angrenzenden Baustruktur setzte diesen Bedenken der skeptischen Forscher weitgehend ein Ende359. Anhand der dort gefundenen Artefakte – kurzer Nägel mit großen runden Köpfen, des Weiteren kleiner Knochenringe, welche als Ösen für Schnürstiefel in354 Beaumont 2012: 114 ff. 355 tHompSon 1960: 239 f. behauptet, dieses Problem gelöst zu haben; ihre Darlegung ist jedoch m. E. wenig überzeugend. Ihr zufolge „this silence is doubtless due to the fact that these two followers of Socrates, who were born just at the time Pericles died, did not know Simon personally. By correlating Simon’s dates with those of the philosophers with whom he is associated by later writers, namely, Antisthenes, Aristippus and Prodicus, it becomes clear that Simon’s shop would have been frequented mostly during the third quarter of the fifth century and that he probably died around 420–415“. Skeptisch gegenüber dieser Erklärung äußert sich auch HaLL 2014: 82. 356 Plut. mor. 776b (= max. cum princ.); Diog. Laert. 2,122 f. Zu Simon s. RE IIIA.1: 163–173 (H. Hobein). S. ferner SeLLarS 2003. 357 Suda s. v. Φαίδων. 358 wiLamowitz-moeLLendorFF 1879 (= ders. 1969: 41–48), der seinen Aufsatz mit den Worten beginnt: „Dass der Schuster Simon keine historische Figur ist, sondern die ideale Verkörperung der Schuster, mit denen Sokrates zu exemplificieren liebte, weiss jeder Knabe zu sagen“; vgl. auch kaHn 1996: 10 Anm. 18. Skeptisch war bereits zeLLer 1859: 172 („wahrscheinlich ist der ganze Mann eine erdichtete Person“). 359 Erster Ausgrabungsbericht: tHompSon 1954: 54 f. S. ferner tHompSon 1960; Agora XIV: 173 f.; camp 1986: 145 ff.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

terpretiert wurden360, eines kleinen abgenutzten Wetzsteines und allen voran des, zwar nicht in der Baustruktur, aber direkt davor ausgegrabenen Fußes einer Kylix mit dem Graffito ΣΙΜΩΝΟΣ – konnte das Gebäude als die Schusterwerkstatt des Simon identifiziert werden. Auch wenn man einerseits diese Baustruktur mit guten Gründen als eine Schuhmacherei identifiziert und andererseits die Historizität eines Schusters Simon und seiner Bekanntschaft mit Sokrates anerkennt, ist eine Vorsicht bei der Verknüpfung dieser beiden Annahmen geboten. Denn die Zuschreibung des Gefäßes an den angeblichen Bekannten des Sokrates, Simon, darf keinesfalls als sicher gelten, nicht zuletzt wegen der ein wenig suspekten Verwendung des Omega im darauf eingeritzten Namen361 (man würde auf einem Gefäß dieser Zeit eher das Omikron erwarten)362. Unabhängig vom Problem der begründeten oder unbegründeten Verknüpfung des archäologischen Befundes mit dem literarischen, bleibt die für unsere Überlegungen wesentliche Frage bestehen: Warum sollte Sokrates von allen Handwerkern gerade einen Schuster aufsuchen und in seiner Werkstatt philosophische Debatten führen? Im Falle eines angeblich barfußgehenden Philosophen ist dies eine keinesfalls unberechtigte Frage. Vor all dem, was man über den Lebensstil und die Handlungsweisen des Sokrates auf der einen Seite und über die allgemeine Einstellung gegenüber den Schustern in der 2. Hälfte des 5. Jh. auf der anderen Seite weiß, erscheint die Vermutung plausibel, dass er dadurch seine Geringschätzung für das zu dieser Zeit noch geltende Normensystem auf eine ostentative Weise zeigen wollte. Denn die Abneigung gegen ihn in wohlhabenden Schichten der athenischen Bevölkerung konnte ihren Grund darin gehabt haben, dass er die aus diesen Kreisen stammende Jugend363 anlockte und sie lehrte, althergebrachte Normen und gesellschaftliche Bräuche anzufechten sowie die Autorität ihrer Väter und dadurch die grundlegenden sozialen Bindungen zu untergraben364. Mit seinem unüblichen Benehmen hat er seine An360 Die Verwendung von derartigen Artefakten im Prozess der Herstellung von Schuhwerk im klassischen Griechenland ist jedoch weitgehend fraglich, was die obige Interpretation dementsprechend umstritten macht. 361 Der Name Simon war keineswegs rar. Es sind sogar 71 Träger dieses Namens aus Attika bekannt, darunter sieben aus dem 5. Jh. (LGPN 2: 398 f.; HaLL 2014: 82), was die besagte Zuschreibung des Gefäßes an den Schuster Simon noch fraglicher macht. 362 Dieses Gefäß wurde ins dritte Viertel des 5. Jh. datiert. Das Omega begann man in öffentlichen Inschriften (und daher möglicherweise auch in privaten Graffiti) jedoch erst nach der Einführung des ionischen Alphabets in Athen durch Archinos im Jahre 403/2 v. Chr. zu verwenden. Es gibt jedoch einige Ausnahmefälle, wie etwa das Verwenden des Omega in der das Heiligtum für Neleus, Basile und Kodros betreffenden Inschrift (IG I3 84) oder auf einigen Ostraka, ausführlicher dazu HaLL 2014: 81 (mit weiterer Literatur). – Darüber hinaus kann es als merkwürdig betrachtet werden, dass es sich dabei um eine Kylix, eine sympotische Gefäßform par excellence, handelt. Indes würde man eher erwarten, dass ein Handwerker in seiner Werkstatt eine Kotyle oder einen Skyphos aufbewahrt und verwendet hätte. 363 Plat. apol. 23c. 364 Xen. mem. 1,2,49: „Aber Sokrates, so meinte der Ankläger, hat sie (die jungen Menschen) doch gelehrt, ihre Väter schlecht zu behandeln, indem er sie überzeugte, daß er seine Freunde weiser machen könne, als ihre Väter seien“; 1,2,51: „Aber Sokrates, so sagte der Ankläger, brachte doch nicht nur die Väter, sondern auch die übrigen Verwandten in Mißachtung bei seinen Freunden“ (Übers. P. Jaerisch); Xen. apol. 20: „‚Beim Zeus‘, habe Meletos gesagt, ‚ich kenne

2.5 Schuhmachereien

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sichten in die Tat umgesetzt und konsequenterweise publik gemacht. In den Augen vieler seiner Zeitgenossen bestand seine Lehre darin, den Respekt für all das, was früher als respektwürdig galt, zu unterminieren. Mit seiner provozierenden Verhaltensweise – wie dem unkonventionellen Besuchen von Arbeitsstätten einfacher Handwerker – verstieß er einigermaßen gegen das im 5. Jh. geltende aristokratische Ethos. Er legte dadurch möglicherweise das Fundament zu dem, was nach den soziopolitischen Umwandlungen der letzten Jahre des 5. Jh. zu einer Änderung der Anstandsregeln führte, zu einer ‚Mode‘, die dann durch die gesellschaftliche Akzeptanz zu einer sozialen Praktik geworden ist365. Es ist nicht auszuschließen, dass gerade unter dem Einfluss von Sokrates der junge Euthydemos solch eine Art öffentlicher Räume zu besuchen begann, wie die nahe der Agora gelegene Sattlerwerkstatt (ἡνιοποιεῖον). Als Sokrates den Jungen dort gesehen habe, so berichtet Xenophon in seinen Memorabilien, sei auch er dorthin gegangen, um Diskussionen zu führen366. Vermutlich gleichgesetzt werden soll die besagte Sattlerwerkstatt mit einer Schuhwerkstatt367, denn in beiden beschäftigte man sich mit der Herstellung von Lederwaren, und selbst die Begriffe σκυτοτόμος/σκυτεύς, am häufigsten als ‚Schuster‘ übersetzt, beschränken sich nicht auf dieses Gewerbe, sondern haben einen breiteren Anwendungsbereich (wortwörtlich bedeuten sie einen ‚Lederarbeiter‘ oder noch präziser einen ‚Lederschneider‘)368. Die aus der Oberschicht der athenischen Bevölkerung stammende Jugend, dem Vorbild des Sokrates folgend, fing an, sich an solch unkonventionelle Orte zu begeben und sah daran offensichtlich nichts Anstößiges. Sokratisch-ostentative Geringschätzung gängiger Konventionen erklärt jedoch nicht vollumfänglich die Gründe, warum Sokrates eine Schuhmacherei als Interaktionsraum bevorzugte. Es lässt sich nicht entscheidend bestimmen, inwiefern die biographische Tradition, der zufolge er Sohn eines Steinmetzes gewesen und zunächst selbst dieser Tätigkeit nachgegangen sei, auf Wahrheit beruht369. Ohne jeden Zweifel war er jedenfalls recht vermögend (was jedoch den möglichen Steinmetz-Beruf seines Vaters nicht ausschließt), so dass die Erklärungen, er habe das Milieu der ärmeren und einfachen Handwerker wegen seiner eigenen Herkunft vor-

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diejenigen, die du überredet hast, eher dir als ihren Eltern zu gehorchen‘“ (Übers. Ch. Schwind); vgl. ferner Aristoph. Nub. 1078; 1321 ff. Schon nietzScHe 1873: 95 schrieb, dass „Sokrates […] bekanntlich dem Zorne der Väter über die ‚Verführung der Jugend‘ zum Opfer“ gefallen sei. Ausführlicher dazu s. StrauSS 1993: 199–209 und jetzt vor allem dreSSLer 2014: 155–169 (mit weiterer Literatur). Dem Vorbild des Sokrates folgend unterhielten auch spätere Philosophen, insbesondere Kyniker (wie Krates oder Philiskos), enge Beziehungen zu Schustern, s. dazu Hock 1976: 46 ff. Xen. mem. 4,2,1 (dazu vgl. LiVingStone 2017: 68 Anm. 94); vgl. 4,2,8. Lang 1978 ist der Meinung, dies sei höchstwahrscheinlich eine Bezugnahme auf die Werkstatt des Simon. Auch nach cLay 1994: 32 handle es sich hier um eine Schuhmacherei. Das Spektrum der Produkte, die von einem skytotomos hergestellt werden konnten, ist recht breit, einige Beispiele nennt acton 2014: 166 Anm. 84. Entschieden erklärt sich für diese biographische Tradition beispielsweise engeLS 1989: 146. Für ein komplexeres Bild s. Brun 1960: 19 f.; gutHrie 1971: 58 f. (Sophroniskos, Sokrates’ Vater, sei mehr als ein Steinmetz, er sei ein Bildhauer gewesen), krońska 2001 (1. Auflage 1964): 15 (Sophroniskos sei ein Steinmetz gewesen, keineswegs aber der junge Sokrates).

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

gezogen, nicht vorbehaltlos überzeugen. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass er sich tatsächlich für die techne interessierte und davor Respekt hatte370. Simon war in Sokrates’ Augen dadurch, dass er ein technites war, einer der wenigen Menschen, die ein fundiertes Wissen besaßen371. Nach einer analogen techne zu derjenigen Simons suchte Sokrates nach einer techne des Sorgens für die Seele372. Zum einen können also die (möglicherweise durch die familiären Verhältnisse geprägte) Achtung für das fachlich-berufliche Können und seine philosophischen Ansichten zum Wesen der techne, zum anderen die Neigung zur Nonkonformität, ja das Bedürfnis der ostentativen Anfechtung altherkömmlicher Verhaltensregeln, die Ursache für Sokrates’ Besuchen des Schusters Simon plausibler und nachvollziehbar erscheinen lassen. An dieser Stelle soll darüber hinaus angemerkt werden, dass athenische Schuster nicht notwendigerweise eine niedrige soziale Stellung haben und erst recht nicht immer über ein bescheidenes Vermögen verfügen mussten. Die bereits oben erwähnte kunstvolle Grabstele des Xanthippos kann davon zeugen, dass er allem Anschein nach alles andere als arm gewesen sein dürfte. Nach dem uns vorliegenden Quellenmaterial zu urteilen, repräsentierten die dem Gewerbe eines Schusters (oder breiter – eines Lederarbeiters) nachgehenden Personen, ein breites soziales Spektrum – von den in der Schusterwerkstatt arbeitenden Sklaven über Metöken bis zu athenischen Bürgern373. Darunter gab es solche Schuster, die in bescheidenen Verhältnissen arbeiteten und lebten, es gab aber auch diejenigen, die – in den der sozialen Mobilität opportunen Zeiten des 4. Jh. – ihre eigene soziale Stellung oder die ihrer Kinder verbessern konnten. Zu solchen Aufsteigern zählt der brillante Stratege Iphikrates, der Sohn eines einfachen Schusters gewesen sein soll. Gemäß 370 Vgl. SeLLarS 2003: 209 ff.; SoBak 2015: 676 ff., 698 f., 702, 708. 371 Vom Respekt des Sokrates für die Schusterkunst zeugen zahlreiche Anspiellungen auf dieses Gewerbe in platonischen Dialogen: Plat. Prot. 319d; Charm. 174c; Gorg. 447d; 491a; Tht. 146d; Alk. 128b–c; symp. 221e; rep. 333a; 397e; 443c; polit. 288d–e; Xen. mem. 4,2,22. 372 Plat. apol. 30a–b. 373 Der einzige – von der oben besprochenen prächtigen Grabstele des Xanthippos abgesehen – aus Athen erhaltene Grabstein eines Schusters war der – roh aus dem Stein gehauene, schmucklose, rechteckige, in den Anfang des 4. Jh. datierte – Grabpfeiler eines gewissen Thraix, der gemäß der Inschrift „Verfertiger persischer Schuhe“ war (ausführlicher dazu BäBLer 1998: 197 f.). Es erscheint mir wenig überzeugend, dass der offenkundig aus Thrakien stammende Schuster zum Zeitpunkt seines Todes nach wie vor ein Sklave gewesen sein soll, sondern ich würde für die von BurFord 1972: 178 vorgeschlagene Annahme plädieren, er sei im Moment des Todes ein Freigelassener bzw. Metöke gewesen. Die sich im Besitz des Aischines befindenden, aber selbständig arbeitenden, neun oder zehn Sklaven waren unter der Obhut eines Verwalters (ἡγεμὼν τοῦ ἐργαστηρίου) in einer Schusterwerkstatt tätig (Aischin. 1,97). Aber dennoch scheint die Feststellung BäBLers 1998: 198 weitgehend überspitzt, dass „Schuhmacher […] meistens Sklaven“ gewesen seien. Denn gewiss viele von ihnen zählten zu den Metöken oder auch Bürgern; s. beispielsweise Anspielungen Aristophanes’ auf die als Schuster tätigen Bürger: Aristoph. Eccl. 385 f., 432; Plut. 162, vgl. Plut. 512–515. Auch im Ehrendekret für die Retter der Demokratie aus dem Jahre 401/0 (RO Nr. 4, B. Kol. III 8; 11; Kol. V 53) sowie in den phialai exeleutherikai (meyer 2010, Nr. 2–9, A. 217 f.; 251 f.; 456 f.; 522 f.; B. 15 f.; Nr. 18,21 [?, stark ergänzt]; Nr. 26,9; Nr. 27,36 f.; Nr. 28,3 f.; Nr. 29,5 [eine Frau]) findet man Namen, die mit der Berufsbezeichnung eines Schusters/Lederarbeiters versehen wurden, vgl. auch tod 1950 passim.

2.5 Schuhmachereien

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einer bei Plutarch überlieferten Anekdote soll er, nachdem ihm seine niedrige Herkunft vorgeworfen wurde, einem Nachkommen der Tyrannenmörder namens Harmodios schlagfertig erwidert haben: „Man muss zugeben, dass meine Familie mit mir beginnt, die deinige aber geht mit dir zu Ende!“374. Nicht nur wurden Iphikrates für seine militärischen Verdienste die höchsten Ehren in Athen zuteil375, sondern überdies wurde eine spezielle Art von Schuhen nach seinem Namen Ἰφικρατίδες benannt376 – wohl eine aussagekräftige Anspielung auf seine Herkunft. Auch wenn Iphikrates’ Vater zu den ärmeren Schustern zählte, so gab es in der ersten Hälfte des 4. Jh. auch relativ vermögende Vertreter dieses Gewerbes. So deuten beispielsweise zwei aus diesem Zeitraum erhaltene Votive, die von Schuhmachern gestiftet worden sind, durch ihre elaborierten, prächtigen Reliefs auf womöglich relativ hohen Wohlstand dieser Votivgeber377. Das Milieu der Schuhmacher scheint recht differenziert gewesen zu sein, so dass es nicht mehr verwundert, dass insbesondere diejenigen Werkstätten der gesellschaftlich angeseheneren Schuster als Räume des Zeitvertreibs viele Bürger anlocken konnten. Was im ausgehenden 5. Jh. noch als eine eher unkonventionelle Handlungsweise galt, wurde nicht lange danach zu einem völlig normalen sozialen Alltagsritual. Denn die Äußerung des Atheners, für den Lysias die Gerichtsrede verfasst hat, nach der Schusterwerkstätten von vielen Bürgern auf alltäglicher Basis besucht worden seien und sein sollen, reflektiert die damals durchgängige Meinung der athenischen Bürger. Der geselligen Kommunikation begannen insbesondere diejenigen Werkstätten zu dienen, die der Agora nahelagen378; auch hier spielte der topographische Faktor eine Schlüsselrolle. Der Bedeutungsaufschwung der Schuhmachereien als Ort der Interaktion379, wie dies auch der Fall bei anderen ähnlichen öffentlichen Räumen ist, liegt im wesentlichen im Schnittpunkt vielschichtiger Entwicklungen, auf die in weiteren Teilen dieser Arbeit näher eingegangen wird.

374 Plut. mor. 187b (= reg. et imp. apophthegm. = Lys. fr. 45 Carey). Vgl. moSSé 1962: 276; SeaLey 1993: 12 f. 375 Dazu domingo gygax 2016: 196 f. mit Anm. 108. 376 Vgl. Theophr. char. 2,7 mit diggLe 2004 ad loc. Dabei handelt es sich um eine Fußbekleidung der Peltasten, s. dazu Lau 1967: 136, 177. 377 Agora I 7396 (Weihreliefstele des Schusters Dionysios); Athen, Nationalmuseum Inv. 2565 (Weihstele des Silon, welchen Pollux 7,87 als einen Schuster deutet); hierzu vgl. camp 2004. Bezüglich des Weihreliefs des Dionysios schreibt zanker 1995a: 330 Anm. 57: „Auf einem auf der Agora von Athen gefundenen Weihrelief eines Schuhmachers sieht man z. B. in seiner Werkstatt vier Männer bei der Arbeit. Sie tragen dabei den Mantel in derselben korrekten Form wie ihre Zeitgenossen auf den Grabreliefs und wie die Ehrenstatuen, obwohl dies kaum der Lebenswirklichkeit entsprochen haben dürfte. Aber auch ihnen lag eben viel daran zu betonen, daß sie vor allem anderen vorbildliche Bürger waren“. 378 Von den aus den phialai exeleutherikai bekannten Schustern/Lederarbeitern waren interessanterweise sogar drei in Melite ansässig (und gingen dort wahrscheinlich ihrer Tätigkeit nach), drei in Skambonidai, zwei in Kollytos, eine (eine Frau!) in Piräus und ein im stadtnahen Keiriadai. Für die Wahl des Siedlungsorts scheint die geringe Distanz zur Agora ausschlaggebend. 379 Dabei sollte ebenfalls in Betracht gezogen werden, dass mit Beginn des 4. Jh. die Spezialisierung der Schuhmacher zunahm und ihr Gewerbe an Kunstfertigkeit gewann, wie BäBLer 1998: 197 zu Recht bemerkt.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

2.6 BANKEN In seiner klassischen Untersuchung Banques et banquiers dans les cités grecques zielte Raymond Bogaert380 darauf ab, einen dynamischen, diachronen Wandel des griechischen Bankwesens zu beweisen, indem er anhand von Athen darzulegen suchte, dass die Athener und insbesondere Kaufleute im 4. Jh. v. Chr. von Banken in zunehmendem Maße Gebrauch machten, u. a. häufiger bei den Bankiers Kredit aufnahmen. Zwar stießen seine Methodologie (wenig glaubhafte statistische Berechnungen) und einige angenommene Voraussetzungen auf eine weitgehend berechtigte Kritik381, dennoch wird im Folgenden zu zeigen versucht, dass die Banken im spätklassischen Athen allmählich zu immer weniger marginalen öffentlichen Räumen geworden sind und dass den Bankhaltern eine nicht unbedeutende Rolle in der Gesellschaft zufiel. Es wurde in mehreren neueren Untersuchungen beobachtet, dass die athenischen Bürger in Notfällen vor allem innerhalb persönlicher sozialer Netzwerke nach Hilfe suchten. Dies gilt ebenfalls in Hinblick auf die finanziellen Angelegenheiten, wobei sie bei größerem Geldbedarf (z. B. im Falle wirtschaftlicher Investitionen) das Angebot der professionellen Kreditgeber, darunter der Bankiers, in Anspruch nahmen382. Als Darlehensnehmer zählten zu den Hauptkunden der athenischen Bankiers, so die Meinung der Forschung, vor allem Metöken oder auch weniger privilegierte, ärmere Bürger, die an den auf philia beruhenden sozialen Netzwerken nicht beteiligt gewesen seien. Beachtenswert ist jedoch, dass sich zwischen einem Bankier – bekanntlich widmeten sich dieser Tätigkeit normalerweise Metöken und Freigelassene383 – und seinen Klienten die Bindung der philia etablieren konnte. Die Feststellung eines aus dem Bosporanischen Reich stammenden Metöken, dem zufolge es höchst schwierig sei, ein erfolgversprechendes Gerichtsverfahren gegen Bankiers zu initiieren, da „sie viele Freunde haben“ (οἳ καὶ φίλους πολλοὺς κέκτηνται)384, macht in besonders prägnanter Weise deutlich, dass Bankiers durch ihre engen Bekanntschaften mit einflussreichen Personen, bestimmt athenischen Bürgern, nicht selten über beträchtlichen Einfluss in der athenischen Gesellschaft verfügten. Einer davon, Pasion, wurde sogar vom Sklaven zum athenischen Bürger und einer der einflussreichsten, sicherlich der reichsten Personen im Athen der ersten Hälfte des 4. Jh., doch sein fabelhafter Fall war wohl exzeptionell. Die Tatsache, dass die Bankiers in ihren Händen relativ gewichtige, allen voran wirtschaftliche Macht hielten und in manchen Fällen mithilfe ihrer Geschäftsbeziehungen über bedeutenden gesellschaftlichen Einfluss verfügten, scheint in erster Linie nicht eine Folge ihrer Rolle als Kreditgeber gewesen zu sein, sondern daraus zu resultieren, dass sie eine breite Reihe von Dienstleistungen bereitzustellen hatten, von welchen einige im Laufe der Zeit immer wichtiger wurden. Die Begriffe ‚Bankier‘ (τραπεζίτης) und ‚Bank‘ (τράπεζα), die auch im Neugriechischen noch verwendet 380 381 382 383 384

Bogaert 1968. Ausführlich dazu miLLett 1991: 197–206. Zu den Wucherern und Bankiers im klassischen Athen s. miLLett 1991: 197–217. Bogaert 1968: 386 ff.; wHiteHead 1977: 116; miLLett 1991: 206 f. Isokr. 17,2. Vgl. ferner Demosth. 50,56; miLLett 1991: 211 f.

2.6 Banken

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werden, leiten sich bekanntlich vom Tisch ab, auf dem der Geldwechsel getätigt wurde385. Zu den primären Funktionen einer griechischen Bank zählte somit der Geldwechsel. Für die athenische Bürgerschaft bekam im Verlauf des 4. Jh. eine Aufgabe der Banken eine immer wichtigere Relevanz: Sie dienten nämlich als Aufbewahrungsorte von Dokumenten oder Vermögen, und die Bankiers wiederum waren nicht selten Zeugen oder Garanten beim Abschließen von Rechtsgeschäften386. Dieses ganze Spektrum von Dienstleistungen brachte mit sich, dass athenische Banken von einem breiten Kreis von Menschen, darunter auch Bürgern, auf alltäglicher Basis besucht werden mussten. Die Frage drängt sich folglich auf, ob Banken für die Bürger wichtige Interaktionsräume waren. Verweilten die Athener an solchen Stätten häufiger und länger und kamen sie dort in ihre Angelegenheiten nicht direkt betreffende Gespräche mit anderen Kunden – Bürgern, Metöken, Fremden bzw. Arbeitern? Dass diese Fragen bejaht werden können, beweist u. a. ein interessanter Fall aus der Zeit des Korinthischen Krieges, welcher dank der im Corpus Lysiacum überlieferten Verteidigungsrede für einen athenischen Bürger namens Polyainos bekannt ist387. Polyainos wurde vor Gericht wegen einer nicht bezahlten Geldbuße gezogen, die über ihn verhängt worden war, weil er einen Strategen beleidigt haben soll. Wie kam es aber dazu? Der Verteidigungsrede des Polyainos zufolge sei er, schon zwei Monate nachdem er aus einer Kriegskampagne nach Hause zurückgekehrt gewesen war, erneut zum Militärdienst einberufen worden. Er begab sich folglich zum Strategen Kallikrates, um die Angelegenheit aufzuklären, dieser jedoch habe Polyainos’ Beschwerde und Erklärungen vollkommen missachtet. Der empörte Polyainos habe danach das Ganze einem Bürger erzählt und ihn um Rat gefragt, was er tun solle. Interessanterweise „fand die besagte Diskussion in der Bank des Philios statt“ (μὲν τὰ προειρημένα διείλεκτο ἐπὶ τῇ Φιλίου τραπέζῃ). Recht rasch erreichte die Nachricht von diesem Gespräch den Strategen Kallikrates, der sich gekränkt gefühlt und entschieden habe, Polyainos wegen Beleidigung eines Amtsträgers in der Öffentlichkeit mit einer Geldbuße zu belegen. Dieses Beispiel macht sehr deutlich, dass im spätklassischen Athen ebenfalls die außerinstitutionelle öffentliche Sphäre ein Forum der für die Polis bedeutenden Diskussionen unter Bürgern darstellte. Rat suchte Polyainos bei einem erfahrenen Bürger, welchen er in einer Bank treffen und dort mit ihm diskutierend verweilen konnte. Es ist darüber hinaus leicht vorstellbar, dass sich während solcher Gespräche in Banken ebenfalls politische Ansichten der daran teilnehmenden Bürger formiert haben könnten. Der mögliche Einfluss auf den Gedankenaustausch vonseiten nicht nur der übrigen Klienten, sondern ebenfalls der Bankiers soll dabei nicht übersehen werden. Bemerkenswert ist in dieser Geschichte noch eines: Dass der Stratege vom Gespräch in der Bank des Philios so schnell erfahren hat, kann davon zeugen, dass sich diese trapeza auf der Agora befand und daher von vielen, die Gesprächen zuhören wollten, frequentiert wurde. In der Tat scheint die Lokalisierung der Geldverleiher385 Bogaert 1968: 135–144. 386 miLLett 1991: 197–217. 387 Lys. 9.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

tische – an einem Ort der Agora im asty388 und im Piräeus389 – der zweite Faktor (neben dem funktionellen) zu sein, welcher dazu beigetragen hat, dass Banken im spätklassischen Athen als mögliche Interaktionsräume, als Orte des Begegnens sowohl der Bürger als auch anderer Sozialgruppen, wahrgenommen wurden. Mehr noch: Aus zwei Schriften Platons erfahren wir, dass die Sophisten ihre Vorträge und philosophische Diskussionen ἐν ἀγορᾷ ἐπὶ τῶν τραπεζῶν / ἐν ἀγορᾷ ἐπὶ ταῖς τραπέζαις gehalten und geführt haben390, was die Lokalisierung der Geldverleihertische in der Gegend der (bei den Philosophen beliebten) Säulenhallen noch plausibler macht. Die Banken bildeten einen demzufolge markanten Typ der Interaktionsräume, welche – trotz der vereinzelten Anspielungen auf die wucherischen Praktiken der Bankiers in der Komödie391 – in der kollektiven Wahrnehmung der Athener des 4. Jh. weitgehend positiv beurteilt wurden. Das Frequentieren von Stätten dieser Art war für einen Bürger nicht nur keinesfalls verunglimpfend, sondern konnte sogar angebracht sein, da diese Orte auch von interessanten und vor allem einflussreichen Menschen besucht wurden. Gerade aus diesem Grunde schildert Theophrast einen seiner Charaktere als einen, der nicht lediglich in Gymnasien nahe der sporttreibenden Epheben verkehrt und im Theater in der Nähe der Strategen sitzt, sondern auch die Banken auf der Agora besucht (καὶ τῆς μὲν ἀγορᾶς πρὸς τὰς τραπέζας προσφοιτᾶν)392. Auf diese Weise – durch das Frequentieren von Banken – suchte er seine eigene soziale Stellung aufzuwerten. 2.7 WALKEREIEN Bei der Beschreibung der Geschehnisse, welche den Auftakt zum Angriff eines gewissen Konon, seiner Söhne und ihren Freunden auf Ariston gebildet hatten, erwähnt der Geschädigte in seiner von Demosthenes geschriebenen Gerichtsrede, dass, während er durch die Agora spaziert sei, seine künftigen Angreifer bei dem Walker Pamphilos Wein getrunken hätten393. Der von dem Redner dabei verwendete Ausdruck – παρὰ Παμφίλῳ τῷ γναφεῖ – lässt sich auf zweierlei Weise verstehen: Entweder haben sich die beschriebenen Personen im Hause des Walkers Pamphilos unterhalten (welches baulich mit seinem Betrieb wohl verbunden war) oder in seiner Walkerei394. Der Angeklagte scheint zu suggerieren, dass es sich dabei um ein Esstreffen eines Freundeskreises handle395, der Redner jedoch verlegt deutlich den Akzent, indem er den Akt des exzessiven Trinkens hervorhebt und dies als eine 388 wycHerLey 1956: 16; ders. 1978: 99; Agora III: 192 f., 206; Bogaert 1968: 375; Stroud 1974: 167 lokalisiert die Geldverleihertische überzeugend „in the northwest corner of the Agora where the Stoa of the Herms is now known to have been situated. Bankers and money-changers would have found many customers in a location so close to the principal entrance to the square“. 389 Demosth. 49,6; 52,8; 52,14; 33,6 f.; Polyain. 6,2,2. 390 Plat. apol. 17c; Hipp. min. 368b. 391 Z. B. Antiphanes fr. 166 K-A (ap. Athen. 3,108e–f). 392 Theophr. char. 5,7. 393 Demosth. 54,7. 394 carey/reid 1985 ad loc. Vgl. todd 2007: 321 Anm. 16. 395 Demosth. 54,31 (ἀπιέναι ἀπὸ δείπνου μετὰ Κόνωνος).

2.7 Walkereien

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Angewohnheit seiner Gegner zu präsentieren versucht396. Man gewinnt dabei den Eindruck, Ariston deute den Dikasten an, dass seine Angreifer an einem Sauftreffen nirgendwo anders als in einer Walkerei teilgenommen hätten. Von Interesse ist dabei nicht allein, warum Ariston den Weinkonsum seiner Gegner in einer Walkerei hätte porträtieren wollen, sondern es ist vielmehr zu fragen, ob Walkereien als bürgerliche Interaktionsräume im spätklassischen Athen wahrgenommen wurden. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen zunächst die Aufgaben, das Personal und die Lage der athenischen Walkereien näher vorgestellt werden. In der Forschung nimmt man an, dass es im spätklassischen Athen, genauso wie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, die Aufgabe eines Walker gewesen sei, den Prozess der Bereitung vom Wollmaterial durchzuführen, der darauf abzielte „die Fasern zu verfilzen und den Stoff damit fester und dichter werden zu lassen. Aus diesem Grunde legte man die Gewebe zuerst in die Walkergrube, wo sie mit den Füßen gestampft wurden. Um diesen Prozeß zu erleichtern, verwendete man verschiedene Zutaten wie Natron sowie menschlichen und tierischen Urin. Das hatte zur Folge, dass die Gewebe rauh und spröde wurden“397. Selbst die Etymologie des Wortes γναφεῖον/κναφεῖον würde darauf hindeuten, dass man in solchen Betrieben die Fasern mithilfe der Handkarden (κνάφοι) kardiert hat398, was zu der Annahme führen könnte, dass Betriebe dieser Art eine wichtige Funktion im Prozess der Kleiderherstellung spielten399. Nun gibt es außer der Etymologie keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich athenische Walker mit neuen Gewändern beschäftigt und an der letzten Phase ihrer Herstellung mitgewirkt hätten. Das Walken der Wollstoffe war nämlich nicht unerlässlich dafür, das Gewand tragen zu können. Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrheit der Kleider im häuslichen Bereich hergestellt wurde, scheint die Vermutung plausibel, dass die neugewebten Kleider nur sporadisch dem Prozess des Walkens überlassen wurden, bloß um ihnen bessere Qualität, Dichtigkeit und Festigkeit zu geben. Mit beinahe absoluter Sicherheit kann ohnehin festgestellt werden, dass die Bearbeitung von Wollstoffen nicht die Hauptaufgabe der γναφεῖς war. Ihre primäre Aufgabe galt der Behandlung der bereits fertigen Kleiderstücke: Es fehlt nicht an Aussagen, welche bezeugen, dass sich die Walker in erster Linie mit der Reinigung von verschmutzten400 oder auch der Reparatur beschädigter401 Kleidungsstücke beschäftigt 396 Demosth. 54,7 (ἔπινον). Zum ersten Mal trafen sich die beiden Streitparteien in einem Feldlager, wo dem Redner zufolge die Söhne Konons „tranken […] den ganzen Tag lang, sobald sie das Frühstück eingenommen hatten, und taten dieses die ganze Zeit, als wir den Wachdienst dort versahen“ (Demosth. 54,3; Übers. H. A. Pabst, leicht geändert). 397 pekridou-gorecki 1989: 33. 398 Vgl. Hesych. s. v. κνάφοι – ἄκανθαι, αἷς κνάπτεται τὰ ἱμάτια. 399 „Fulling is part of the process of manufacturing woollen cloth, which involves washing it to remove grease, and pounding it to turn the woven threads into fabric“ (todd 2007: 320). Vgl. auch BLümner 1875: 157–178; ForBeS 1964: 82–98; acton 2014: 160 ff. 400 Aristoph. Vesp. 1127 f. (mit Schol. ad loc.); Lys. 32,30; Plat. polit. 282a; soph. 227a; Theophr. char. 10,4; 18,6 (Theophrast soll Diog. Laert. 5,36 zufolge der Sohn eines Walkers gewesen sein; dies mag erklären, warum er über diese Tätigkeit wie aus erster Hand informiert zu sein scheint; vgl. auch Theophr. odor. 17, wo er Beizen und Färben von Wolle erwähnt); Ail. var. 5,5. 401 Plat. polit. 281b; 282a.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

haben402. Im Prozess der Reinigung der Kleider verwendete man in Walkereien verschiedene Detergenzien, wie Bleicherde403 und Urin404. Dies hatte zur Folge, dass solche Betriebsstätten mit unangenehmen Gerüchen erfüllt waren405. Ein weiteres, vereinzeltes Zeugnis scheint die Möglichkeit zu belegen, sich einen Mantel von einem Walker zu borgen. Der Sokratiker Aischines soll sich über einen gewissen Telauges lustig gemacht haben, da dieser angeblich „einen Mantel trug, für den er täglich einem Walker einen halben Obolos als Lohn zahlte, und mit einem Schaffell gegürtet und mit Sandalen mit ausgefransten Schnürsenkeln angetan war“406. Dieses Zeugnis kann allerdings eine vorsätzliche Aufbauschung darstellen407 und seine Glaubwürdigkeit, insbesondere angesichts des Mangels an weiteren Belegen, lässt sich grundsätzlich nicht prüfen. Die knapheutike war folglich in Athen ein spezialisiertes Handwerk, welches nicht nur spezifische Fähigkeiten der Arbeiter erforderte, sondern darüber hinaus einer geeigneten Lage und entsprechender Ausstattung bedurfte. Zweifelsohne erforderte die Arbeit in einer Walkerei von den Beschäftigten Geschicklichkeit und insbesondere ein gewisses Maß an Körperkraft. Daher ist zu vermuten, dass diese Aufgaben hauptsächlich von Männern erfüllt wurden, die unterschiedlichen Sozialschichten entstammten. Zwar ist nicht immer völlig klar, ob man unter der Berufs402 In Hinblick auf die römischen fullonicae wurde die traditionelle Annahme von BradLey 2002 in Frage gestellt, der behauptet, dass sich römische fullones allenfalls nur gelegentlich mit neuen Kleiderstücken beschäftigt und fullonicae im Normalfall als ein Äquivalent von heutigen Wäschereien gedient hätten. Vgl. ferner die (nur teilweise) kritischen Bemerkungen von wiLSon 2003 und FLoHr 2003. Eine detaillierte und erschöpfende Untersuchung ‚der Welt des römischen fullo‘ bietet jetzt FLoHr 2013. 403 Theophr. char. 10,14 mit diggLe 2004 ad loc. 404 Aristoph. Ach. 10; Ran. 711; Mnesitheos fr. 45 Bertier = Athen. 11,484b. Die Versorgung mit Urin bildete eine der wesentlichsten Probleme athenischer Walker, wobei kaum Belege dafür vorhanden sind, wie dies durchgeführt werden konnte. Man könnte etwa mutmaßen, dass auf den Straßen der Stadt viele Gefäße aufgestellt gewesen sein könnten, in die die Passanten urinieren konnten (darunter womöglich jene Gefäße mit der Darstellung von urinierenden Menschen, vgl. coHen/SHapiro 2002: 87 f.). Auf diese Weise stellte man sich die römischen Realien vor. Aber diese Vorstellung hat neulich Miko Flohr in Frage gestellt: „If urine is going to be used for cleaning clothes, it is important that it is collected in the purest form possible; any pollution would need to be removed afterwards as it might influence the process of urea decomposition or have other negative side-effects on the quality and colour of the clothing. Once collected, it is necessary to keep the urine free from pollution and prevent it from being diluted by rainwater or from evaporation because of exposure to the sun. It is extremely hard to prevent pollution, dilution, and evaporation of urine in public circumstances, especially in Mediterranean towns. […] In the absence of strong evidence in favour of it, the idea of public urine collection by fullers must be seen as a scholarly fiction“ (FLoHr 2013: 171). 405 Lind 1985: 258–260 mit Anm. 63; ders. 1987: 16 f.; graSSL 2007: 133 f. 406 Aischin. Sokr. VI A 84 Giannantoni = 18 Krauss = Athen. 5,220a; Übers. C. Friedrich. Vgl. Aristoph. Eccl. 415. 407 Bei Athenaios, der dieses Fragment tradiert, dient Aischines’ Aussage als Beweis für die Ansicht, dass „die meisten Philosophen […] ihrer Natur nach bissiger als die Komödienschreiber“ seien (Athen. 5,220a; Übers. C. Friedrich). Dabei kann es sich folglich um den Verdacht handeln, dass Walker die Kleider ihrer Kunden benutzten, um daraus Profit zu ziehen. Für ähnliche Klagen in den römischen Quellen s. Cass. Dio 46,4 f.; Digest. 47,2,83.

2.7 Walkereien

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bezeichnung γναφεύς/κναφεύς im athenischen Quellenmaterial einen Inhaber einer Walkerei408 oder eben einen dort Arbeitenden verstehen soll. Einiges spricht jedoch für Letzteres, was ein Indiz dafür wäre, dass in athenischen Walkereien ebenfalls die (sicherlich armen) Bürger arbeiteten. Denn nicht nur Aristophanes409, dessen Zeugnis als eine komische Übertreibung gelesen werden könnte, sondern auch Xenophon erwähnen neben den Schuhmachern, Bauern, Baumeistern, Schmieden, Händlern sowie Agora-Gängern (τοὺς ἐν τῇ ἀγορῷ μεταβαλλομένους) ebenfalls die Walker als Personen, die an der Volksversammlung teilnahmen410. Auch der aus der Lysias-Rede bekannte Pankleon, der sich für einen athenischen Bürger auszugeben versuchte, arbeitete (ἠργάζετο) in einer athenischen Walkerei411. An der Tatsache, dass ein angeblicher Bürger die Tätigkeit eines Walkers ausübte, gab es offensichtlich nichts Merkwürdiges. Nach harten Kriegsjahren und der Regierungszeit der ‚Dreißig Tyrannen‘ fanden sich viele Bürger wegen der Verarmung dazu gezwungen, einer früher beschämenden oder nicht allzu hoch angesehenen Tätigkeit nachzugehen412. In einer aus der Mitte des 4. Jh. stammenden Weihung für die Nymphen und alle Götter, welche im Stadion am Ilissos gefunden wurde und sich heute in Berlin befindet413, wurden des Weiteren die Namen der weihenden in einer Walkerei arbeitenden Wäscher (οἱ πλυνῆς)414 aufgelistet, die möglicherweise einem Berufsverband angehörten415. Davon sind einige sicherlich als Sklavennamen zu identifizieren (z. B. die typisch phrygischen Namen Manes und Midas), andere wiederum höchstwahrscheinlich als Namen von Freien – sei es von Freigelassenen, Metöken oder sogar Bürgern. In dieser Gruppe von zwölf Personen tauchen interessanterweise zwei Frauen auf, welche durchaus griechische und für Sklavinnen oder aber Freigelassene nicht bezeugte Namen – Myrrhine und Leuke – tragen und daher, wie Kostas Vlassopoulos vermutet, möglicherweise sogar Bürgerfrauen gewesen

408 Als comparandum kann hier der Fall des Kleon angeführt werden, der in antiken Quellen als βυρσοδέψης (Gerber) bezeichnet wurde, worunter zu verstehen ist, dass er Inhaber einer Gerberei und nicht selbst Arbeiter gewesen sei. Ebenso wurde der Vater des Demosthenes μαχαιροποιός (Messerschmied) genannt, weil er eine Messerwerkstatt besaß (Plut. Dem. 4,1). – Zu den Einstellungen gegenüber Gerbern in der griechisch-römischen Antike vgl. Bond 2016: 101–106. 409 Aristoph. Plut. 166. 410 Xen. mem. 3,7,6; vgl. Plat. Prot. 319c-d. Zur politischen Partizipation der banausoi in der athenischen Demokratie des 4. Jh. v. Chr. s. die Studie von manSouri 2010. 411 Lys. 23,2. Die Verwendung des Verbums ergazomai macht deutlich, dass Pankleon nicht der Besitzer, sondern der Arbeiter gewesen sein muss. So auch todd 2007: 321 Anm. 16; SoBak 2015: 683. 412 Eine solche Botschaft ist zwischen den Zeilen des 388 v. Chr. aufgeführten Plutos zu lesen: vgl. Aristoph. Plut. 166 und 512–515. 413 Berlin SK 709; IG II2 2934. Zum Relief s. güntner 1994: 23 f. 414 Vgl. Thom. Mag. onom. s. v. πλυνεύς: οἱ ὕστερον λέγουσιν ἀδοκίμως, οἱ δὲ Ἀττικοὶ κναφεύς. Vgl. BLümner 1875: 158 f. Anm. 4. 415 IG II2 2934. Dazu VLaSSopouLoS 2011: 469 f.; deene 2013a: 171; vgl. kamen 2013: 17, welche jedoch die in der Inschrift aufgelisteten Personen als Sklaven oder „zumindest Fremde“ identifiziert.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

sein könnten416. Als Freie oder sogar als athenische Bürger können darüber hinaus diejenigen Arbeiter der Walkerei identifiziert werden, die in der besagten Inschrift mit einem Patronymikon bezeichnet werden417: Sokrates, Sohn des Polykrates, Apollophanes, Sohn des Euporion, sowie Zoagoras, Sohn des Zokypros, der in der Walkerei zusammen mit seinem – nach dem Großvater benannten – Sohn Zokypros gearbeitet hat. Der Sozialstatus der übrigen Personen, wie Thallos, Sosistratos, Sosigenes oder Sosias, lässt sich nicht näher bestimmen. Mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch die Vermutung anstellen, da solche Namen sowohl von athenischen Bürgern als auch von freien Fremden, im Falle des Namen Sosias überdies ebenfalls von Sklaven, getragen wurden418. Die besagte Weihung stellt ein außerordentliches Zeugnis dafür dar, dass Sklaven nicht selten neben Freien oder auch Bürgern arbeiten und mit ihnen, gleichgestellt auf der Alltagsbasis, interagieren und eine koinonia bilden konnten. Im Ehrendekret für die Retter der Demokratie aus dem Jahre 401/400 v. Chr. tauchen darüber hinaus zwei bzw. drei Personen auf, die die Tätigkeit eines gnapheus ausübten, wobei unsicher bleibt, welcher Schicht diese Männer angehörten419. Die Weihung der Wäscher an die Nymphen macht darüber hinaus auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Die Vertreter dieses Berufes preisen insbesondere die Nymphen deshalb, weil ihre Arbeit ohne den Zugang zu den Wasserressourcen nicht möglich gewesen wäre. Athenische Walkereien – genauso wie die Gerbereien – mussten sich folglich notwendigerweise ausschließlich in bestimmten Bereichen des Polisraumes befinden, und zwar an fließenden Gewässern420. Als erstes kommt die Ilissos-Gegend als wohl beinahe sicherer Bereich für die Aktivität athenischer Walker in den Sinn421. Es soll jedoch eine weitere relevante Gegend nicht vergessen werden, die nordöstlich der Agora lag, wo – im Demos Kydathenaion – der Eridanos durchfloss und welche dieselben erforderlichen Arbeitsvoraussetzungen für solche Berufsgruppen wie Walker und Gerber bot422. Aus der dritten Rede des Corpus Lysiacum, die von der Geschichte einer Rivalität zweier Bürger um einen 416 417 418 419

VLaSSopouLoS 2011: 469 f. tod 1950: 23 identifiziert die Personen mit dem angegebenen Patrynimikon als Metöken. oSBorne/Byrne 1994 s. v. und diess. 1996 s. v. Ausführlicher dazu VLaSSopouLoS 2011: 469 f. RO Nr. 4, Kol. 4, Zeilen 8 und 21; Kol. 7, Zeile 4. Dem Problem des Status dieser Personen widmet sich Harding 1987b. 420 Es liegt die Vermutung nahe, dass solche Bertriebe darüber hinaus auch einen gewissen Platz im Freien zur Verfügung haben mussten, wo nasse Gewänder zum Trocknen aufgestellt werden konnten. Auch nach römischem Recht waren Walker (im Gegensatz zu anderen Handwerkern) befugt, die Gewänder vor ihren Werkstätten zum Trocknen aufgestellt zu lassen, s. Digest. 43,10,1,4. 421 Ähnliches gilt für die Gerber: Eine in die 30er Jahre des 5. Jh. v. Chr. datierte lex sacra untersagt, im Ilissos oberhalb des Heiligtums des Herakles (Kynosarges) Tierhäute einzuweichen, sie zu gerben und Abfälle in den Fluss zu werfen: IG I3 257. 422 In phialai exeleutherikai findet man zwei in Kydathenaion wohnhafte Gerber. Die Vermutung erscheint durchaus folgerichtig, dass sie sich gerade wegen des Flusses in diesem Demos niederließen. Am Eridanos konnten sie ihrem Gewerbe problemlos nachgehen (IG II2 1556,34– 35 = meyer 2010: Nr. 2–9, B. 9–10; IG II2 1576,5–6 = meyer 2010: Nr. 26,5–6; vgl. Lind 1990: 98 f.). In dieser Gewerbe- und Geschäftsgegend – in der Nordostecke der Agora – habe sich nach Lind 1990: 94–117 auch die Gerberei Kleons befunden.

2.7 Walkereien

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Jungen namens Theodotos423 berichtet, erfährt man, dass der Knabe nach einem Überfall auf ihn durch einen der zwei Konkurrenten und dessen Freunde, der den Versuch darstellte, den Knaben zu entführen, in die Walkerei eines gewissen Molon geflüchtet sei (εἰς γναφεῖον κατέφυγεν)424. Die Gründe, warum sich Theodotos im Betrieb eines Walkers zu verstecken suchte, lassen sich unschwer erkennen: Er suchte wohl einen Ort aus, an dem relativ viele Menschen präsent gewesen sein könnten, welche ihn zum einen vor seinen Angreifern schützen und zum anderen als Zeugen des Überfalls dienen konnten425. Dies alles würde suggerieren, dass das gnapheion des Molon in einer Gegend lag, in der es keine alternativen, stark frequentierten öffentlichen Stätten (wie Läden oder andere Betriebe) gab, in denen der überfallene Knabe Hilfe hätte suchen können. Es scheint somit, dass diesem Fall die Ilissos-Gegend besser entspricht als der nordöstliche Bereich der Agora bzw. die Gegend östlich davon, wo sich möglicherweise das gnapheion des anfangs erwähnten Pamphilos befunden haben mag. Theodotos’ Annahme, dass in einer Walkerei viele Menschen anzutreffen sein würden, weist auf die Präsenz einer beträchtlichen Anzahl von Arbeitern in solchen Betrieben hin, aber ebenfalls auch von Kunden, die dort ihren Geschäften nachgingen. Wie bereits erwähnt, waren athenische Walkereien vor allem Dienstleister, weshalb sie zwangsläufig von Dienstleistungsempfängern besucht wurden. Dem muss jedoch gleich hinzugefügt werden, dass Walkereien angesichts des abstoßenden Geruchs (u. a. wegen der Verwendung von Urin) und Lärm (Schlagen nasser Kleidungsstücke gegen die Wände der Walkergrube oder das Stampfen der Gewänder mit den Füßen) sicherlich nicht zu den Interaktionsräumen zählten, in denen ein Bürger länger als nötig verweilen wollte. Schlussfolgern lässt sich daher, dass athenische gnapheia nicht mehr waren als Orte der flüchtigen Interaktionen von Bürgern, Metöken oder Sklaven. Solche Stätten wurden von ihnen deswegen aufgesucht, um ihre Gewänder (oder im Falle der Sklaven die ihrer Besitzer) zur Behandlung abzugeben bzw. abzuholen; im Normalfall vermied man wohl, sich dort länger aufzuhalten. An dieser Stelle können wir nun zu der Demosthenes-Stelle zurückkehren, welche den Ausgangspunkt unserer Überlegungen in diesem Abschnitt bildete. Die rhetorische Absicht des Redners, der zu zeigen versuchte, dass sein Prozessgegner Konon an einem Sauftreffen in der Walkerei teilgenommen habe, scheint im Lichte des gerade Gesagten besser nachvollziehbar zu sein. Athenische Bürger, die nicht allein ihre Grenzen beim Weinkonsum zu erkennen imstande seien, und darüber hinaus den Wein, die Gabe des Gottes Dionysos, nicht – wie es sich gehört – in einer entsprechenden entourage, sondern in einer stinkenden, abstoßenden Walkerei zu konsumieren gewohnt seien, zeigen ihre Niederträchtigkeit und verdienen Verachtung bei ihren Mitbürgern.

423 Der Sozialstatus des Jungen ist in der Forschung viel diskutiert worden, s. dazu matuSzewSki 2011: 74–82 (mit weiterer Literatur). In matuSzewSki 2011: 79 habe ich suggeriert, dass der problematische Ausdruck Πλαταικόν μειράκιον, den Lysias zur Bezeichnung des Knaben verwendet hat, eine euphemistische Umschreibung für einen männlichen Prostituierten war. 424 Lys. 3,15. Beachtenswert in diesem Kontext ist die Verwendung des Verbums καταφεύγω, welches die Bedeutung von „flee for refuge“ annimmt; s. LSJ s. v. und todd 2007 ad loc. 425 So auch carey 1989: 100.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

Eine solche Person, so versuchte Demosthenes in der für Ariston geschriebenen Rede zu zeigen, sei Konon gewesen426. 2.8 WIRTSHÄUSER, GASTHÄUSER UND WEINVERKAUFSSTÄNDE Der Gedanke Ludwig Feuerbachs, dass „der Mensch ist, was er isst“ (1850), erfreut sich von jeher großer Beliebtheit, obwohl er verschiedenen Ergänzungen oder Veränderungen unterlag. Feuerbach zufolge sei das Essen konstitutiv für die Bestimmung der Identität und Wahrnehmung eines Menschen; für andere Gelehrte zählte dazu noch das Trinken427. „Der Mensch ist, was er isst und trinkt“. Man könnte aber ebenso gut hinzufügen: „wo und mit wem“428. Die Griechen haben großen Wert auf das gemeinsame Trinken und Essen gelegt, wie überhaupt auf alle Formen der Geselligkeit. Schon dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga ist es gelungen aufzuzeigen, inwiefern die Entwicklung einer Kultur abhängig von Spielen und Spaß ist429. Er sah sogar den Ursprung der Kultur im Spiel. Aus diesen Thesen schöpfend, behauptet Oswyn Murray in Hinblick auf die griechische Welt, dass der hedonistische Faktor eine der wesentlichsten Antriebskräfte in der Entwicklung der griechischen Kultur gewesen sei. Spricht man aber vom Trinken, Essen und der Unterhaltung in der griechischen Kultur, so denkt man an erster Stelle an das Symposion (und genau das Symposion war der Gegenstand von Murrays Überlegungen zur history of pleasure430). Diese fast ausschließliche Konzentration der historischen Forschung auf das aristokratische Gastmahl sollte zwar angesichts des umfangreichen Quellenmaterials verschiedener Gattungen nicht verwundern, dies aber hatte zur Folge, dass kaum Untersuchungen zu anderen Formen geselligen Beisammenseins der athenischen Politen vorgenommen wurden431. Demzufolge entsprechen die öffentlichen Orte, wie Schenken und Weinverkaufsstände, in gewisser Weise nicht der allgemein üblichen Vorstellung vom klassischen Athen. Trotzdem waren sie aber, wie unten zu zeigen sein wird, fester Bestandteil der Stadtlandschaft und des alltäglichen Lebens der Athener. Im Fokus der folgenden Überlegungen steht daher die Frage, inwiefern athenische Schenken und derartige Etablissements eine Arena bürgerlicher Kommunikation waren. Den Ausgangspunkt soll – wie es sich immer empfiehlt – eine Übersicht über die Begrifflichkeiten bilden, die in diesem Fall recht grundlegende Probleme bereiten. Denn das am häufigsten gebrauchte griechische Wort für die Benennung eines 426 Allgemein zur Rhetorik des Abscheus in Demosth. 54 vgl. ciriLLo 2009, der allerdings diesen Aspekt der Geschehnisse nicht in seine Betrachtung einbezieht. 427 Dieses und das folgende Unterkapitel decken sich weitgehend mit dem Aufsatz: matuSzewSki 2018. 428 „You are with whom you eat“ nannte der Cambridger Althistoriker Peter Garnsey (garnSey 1999) das letzte Kapitel seines Buches. 429 Huizinga 1956 [1939]. 430 murray 1990; ders. 1992; ders. 1995. 431 Eine Ausnahme stellt hier das Buch von daVidSon 1997 dar.

2.8 Wirtshäuser, Gasthäuser und Weinverkaufsstände

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Wirtshauses war καπηλεῖον. Dieser Terminus bezeichnet eine Verkaufsstätte eines κάπηλος, worunter allerdings ein Einzelhändler, ein Krämer zu verstehen ist432, nicht notwendig also ein Weinverkäufer. Das Griechische verfügt über eine Vielzahl von Nomina zur Bezeichnung der Person eines Händlers – etwa emporos, naukleros, kapelos, palinkapelos, metaboleus, poles, autopoles –, und hinter jedem dieser Begriffe stehen vielfältige Vorstellungen, Wirklichkeiten und ideologische Konzepte, die in der Forschung seit langem diskutiert werden und Gegenstand mehrerer Studien sind433. Um es kurz zu fassen: Während emporos und naukleros risikobereite Kaufleute und Großhändler meinte, die sich mit dem Import von Waren beschäftigt haben, waren die übrigen Termini lokalen Kleinhändlern vorbehalten. Diese sprachliche Hierarchisierung von Händlern (welche auch genauso in dem im Zeitalter des Frühkapitalismus aufgenommenen deutschen Bezeichnungen – ganz oben ein Kaufherr, dann ein Kaufmann und zuunterst ein Krämer – zu erkennen ist) hing mit ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung zusammen, da die obere Schicht, der viele der reichen und risikobereiten emporoi oder naukleroi angehörten, die kleinen, lokalen Krämer grundsätzlich verachtete. Der Grund dafür war laut einigen Zeugnissen, dass Krämer sich risikofrei bereicherten, indem sie selbst nichts herstellten, aber trotzdem Gewinn erzielten, was einem Betrug gleiche434. In Wirklichkeit bot ein kapelos bzw. ein poles nicht selten Waren seiner eigenen Produktion an, so dass es klar scheint, dass diese moralische Differenzierung schlicht von einem ideologischen Prinzip ausging435. Demzufolge könne man einen kapelos, wie Victor Ehrenberg zu Recht bemerkt, nie als kalos kagathos bezeichnen436, dagegen wäre es im Falle eines emporos durchaus möglich gewesen. Der letztgenannte setzte auf dem Meer letzten Endes sein Leben und Vermögen aufs Spiel, um unter 432 LSJ, s. v. κάπηλος. 433 Der junge Moses I. Finley veröffentlichte 1935 (noch unter seinem Familiennamen Finkelstein) eine ausführlichere Studie zu den Begriffen ἔμπορος, ναύκληρος und κάπηλος. Darin kommt er – teilweise die Thesen von Johannes Hasebroek (HaSeBroek 1928) und Heiman Knorringa (knorringa 1926) einer Kritik unterziehend, teilweise aber auch auf diesen basierend – zu dem Schluss, dass das Wort κάπηλος erstens die gewöhnliche Bezeichnung eines Geschäftsinhabers gewesen sei und nicht – wie Hasebroek behauptete – μεταβολεύς. Zweitens, dass die angebliche Differenz zwischen einem κάπηλος, der die von einem Hersteller erworbenen Produkte verkaufen sollte, und einem παλιγκάπηλος, der die von anderen Händler gekauften Waren anbieten sollte, grundfalsch sei. Drittens, dass ein κάπηλος normalerweise ein lokaler Händler gewesen sei, und viertens, dass man nicht den Versuch unternehmen dürfe, die Termini ἔμπορος und κάπηλος den jeweiligen Produktgattungen zuzuschreiben (Knorringa behauptete nämlich, dass ein ἔμπορος vorzugsweise Getreidehändler, ein κάπηλος Weinverkäufer gewesen sei). Eine neue Untersuchung dieser Termini bietet moreno 2007: 225–285. – In den späteren Schriften hat Finley ein Modell der antiken Ökonomie entwickelt, das in der Forschung viel diskutiert wurde. Finley behauptete nämlich, dass der Fernhandel von geringer Bedeutung für die Wirtschaft einer griechischen Polis gewesen sei. Heutzutage dominiert die gegenteilige Meinung. Einen Überblick zu neuen Thesen und Forschungstendenzen bietet der jüngst erschienene Sammelband: HarriS/LewiS/wooLmer 2016. 434 Herodot zufolge (Hdt. 1,94,1) haben die Lyder zum ersten Mal das Geld gebraucht und genau sie galten als die ersten kapeloi. Die Verachtung der Handlungen der kapeloi hängt also mit dem Geldgebrauch zusammen und dadurch mit der Vorstellung vom Betrug. 435 d’ercoLe 2013: 58. 436 eHrenBerg 1962: 144.

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen

anderem eine gewichtige soziale Rolle zu spielen, indem er seinem Gemeinwesen notwendige Konsumgüter zuführte437. Verglichen mit einem Großhändler erscheint somit ein Krämer als Spekulant und unverschämter Betrüger. So zumindest in dem von der Oberschicht geprägten Diskurs. Auch wenn κάπηλος ein Oberbegriff für die Bezeichnung eines Verkäufers ist, der verschiedene Waren innerhalb seines Wohnorts vertrieb, so kann man davon ausgehen, dass es sich in vielen Fällen, insbesondere wenn dieser Begriff ohne eine nähere Spezifizierung auftaucht, um einen Weinverkäufer handelt und bei einem kapeleion konsequenterweise um eine Schenke. Bei den meisten Bezeichnungen von Kommerztätigkeiten (mit der Ausnahme von hippones, dem Pferdehändler; hedyoinos, dem Süßweinhändler; pandokeus bzw. pandokeutria, dem/der Herbergswirt/in; und natürlich dem kapelos bzw. der kapelis) handelt es sich nämlich um Komposita mit dem Substantiv -poles bzw. bei Frauen -polis, wie etwa gelgopoles (Knoblauchhändler), melitopolis (Honighändlerin), halopolis (Salzhändlerin), myropoles (Parfümhändler) oder allantopoles (Wursthändler)438. Dagegen geht es bei der ersten Bezeugung des Verbums kapeleuein (in der 2. Hälfte des 6. Jh. v. Chr.) bei Hipponax deutlich um Weinverkauf439. Kurzum, auch wenn ein kapelos in seinem kapeleion unterschiedliche Lebensmittel und Waren des Grundbedarfs (wie beispielsweise die Fackel440) anbot, so war gerade der Wein oder seine Derivate (etwa Weinessig) zumeist sein Hauptverkaufsprodukt441. Nichtsdestotrotz ist bei der Bewertung und Analyse des Quellenmaterials besondere Vorsicht geboten und die exakte Bedeutung des Begriffs muss jeweils aus dem Kontext erschlossen werden. Insbesondere ist zu beachten, dass es sich bei einem kapelos gleichermaßen um einen bei einem provisorischen Verkaufsstand oder eben in einer fest gebauten Schenke tätigen Krämer handeln kann. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zu Recht bemerkt Walter Hatto Gross im Lemma ‚Wirtshäuser‘ im Kleinen Pauly, dass „in der ant. Terminologie […] der Übergang vom W. (wo man essen kann) einerseits zur Schänke (bei der alkoholische Getränke, u. U. stehend an der ‚Bar‘ eingenommen, eine entscheidende Rolle spielen) […] zum Gasthaus (Hotel, wo man auch Unterkunft findet) […] fließend und bestenfalls im Einzelfall noch feststellbar“ sei442. Die offensichtlichste Aufgabe eines kapeleion war der Weinausschank. Einige Quellenstellen bezeugen nicht nur den Weinverkauf selbst, sondern verraten auch den modus operandi eines Wirtes. Nicht nur einen Ledersack, son437 d’ercoLe 2013: 60. 438 Vgl. HerFSt 1979 [1922]: 48–52; d’ercoLe 2013: 62 f. und für eine neuere und ausführlichere Liste der athenischen Tätigkeitsbezeichnungen s. HarriS 2002: 88–99. 439 Hipponax fr. 79 West. 440 Davon erfahren wir aus der Geschichte eines gewissen Euphiletos, eines von seiner Frau betrogenen Bauern, der in einem nachbarschaftlichen kapeleion (ἐκ τοῦ ἐγγύτατα καπηλείου) diese erwirbt, um die Liebenden in seinem Haus flagrante delicto fassen zu können: Lys. 1,24. 441 Vgl. Pollux 7,193. S. ferner RE X.2: 1888–1889 (A. Hug); eHrenBerg 1962: 114; daVidSon 1997: 53; d’ercoLe 2013: 56; matuSzewSki 2018; vgl. roStoVtzeFF 1941: 1628 Anm. 196. – Bemerkenswerterweise weist BenVeniSte 1969: 141 auf den sprachlichen Bezug zwischen dem griechischen kapelos und dem lateinischen caupo (von dem sich wiederum das deutsche Verb kaufen/verkaufen ableitet) hin. 442 KlP, s. v. Wirtshäuser (W. H. Gross).

2.8 Wirtshäuser, Gasthäuser und Weinverkaufsstände

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dern auch geringere Quantitäten von Wein, konnte man in einem kapeleion kaufen. Der Wirt öffnete die Amphoren, mischte den Wein mit Wasser und servierte ihn seinen Kunden in den skyphoi oder kothones. In einigen kapeleia konnte man aber aller Wahrscheinlichkeit nach auch etwas zum Essen bekommen (wie etwa einem Fragment des Hypereides, von dem unten ausführlicher die Rede sein wird, zu entnehmen ist443). Wenn in der Tat das Spektrum der Dienstleistungen einiger kapeleia auch das Servieren von Speisen umfasste, so ähnelten sie unterschiedlichen Unterkunftsstätten (pandokeia444). Im Vergleich zum kapeleion hatte ein pandokeion ein breiteres Spektrum an Dienstleistungen anzubieten, darunter vor allem Schlafplätze für Reisende. Ein kapeleion, auch wenn es sich dabei um eine feste Schenke handelte, verfügte dagegen nicht über zusätzliche Einrichtungen zur Übernachtung der Menschen oder über Ställe für die die Reisenden begleitenden Tiere. Ohnehin lässt sich aufgrund der Tatsache, dass sowohl in einem kapeleion als auch einem pandokeion Wein und nicht selten Essen serviert wurde445, durchaus nicht ausschließen, dass gerade beide Etablissements von athenischen Bürgern frequentiert werden konnten446. Denn es versteht sich von selbst, dass es auch im asty (oder in seiner Nähe und im Piräus) Gasthäuser gegeben hat. Angesichts der prekären Finanzlage Athens in der ersten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. verfasste Xenophon in der Mitte oder am Ende der 50er Jahre dieses Jahrhunderts eine Abhandlung mit dem Titel Poroi447, in der an einer Stelle zu lesen ist: 443 Hyp. fr. 138 Kenyon. 444 In Bezug auf Plat. leg. 918d–919b und Pollux 7,16 stellt kraynak 1984: 13 fest, dass „these two references […], the only instances in which καπηλεία (sic – R. M.) may refer to hostelrykeeping, suggest that occasionally κάπηλος, καπηλίς and καπηλεῖον were synonyms for πανδοκεύς, πανδοκεύτρια and πανδοκεῖον“. Als Synonyme des Wortes πανδοκεῖον galten u. a. κατάλυμα, καταγωγή oder κατάλυσις (s. Hesych. s. v. καταγωγή). – Eine archäologische Untersuchung der griechischen Gasthäuser bietet kraynak 1984. Zur Unterkunft der Pilger in der griechischen Welt s. ferner diLLon 1997: 206–211. – Die erstbezeugte Verwendung des Verbums pandokeuein taucht bei Timokreon auf (PMG fr. 1,10 Page); der Passus betrifft die Unterkunft mit Verpflegung und bezieht sich auf die Handlungen des Themistokles im Jahre 478/7 v. Chr., vgl. dazu Bowra 1961: 352–355; podLecki 1975: 51 ff. und SteHLe 1994. 445 Aus Aristoph. Ran. 553–560 erfährt man, welche Arten von Gerichten Herakles, ein unersättlicher Fresssack, in einem pandokeion gegessen haben soll (u. a. Brot, Knoblauch, gekochtes Fleisch, Pökel- bzw. Dörrfleisch, Käse und Würste). In Aristoph. Plut. 426 ff. wurde die Tätigkeit einer Gastwirtin (pandokeutria) in einem Atemzug mit der einer Grützeverkäuferin (lekithopolis) genannt. Vor diesem Hintergrund ist d’ercoLe 2013: 63 zuzustimmen, dass „pandokeutria, aubergiste ou cabaretière, fait une allusion générale à la restauration“. 446 Contra RE XVIII.3: 520–529 (A. Hug), wonach „π. nur für Reisende bestimmt [war], nicht für Einheimische zur geselligen Unterhaltung“. 447 In der Forschung besteht kein Konsens darüber, ob Xenophon mit seiner Schrift die politischen Pläne des Eubulos beeinflusst hat oder ob sich wiederum im Werke Xenophons die realen Maßnahmen des Eubulos widerspiegeln (cawkweLL 1963: 56 war der Meinung, dass, „what Xenophon proposed, Euboulos enacted“. Übrigens, dank der Bemühungen des Eubulos sollte Xenophon nach Athen zurückkehren dürfen: Diog. Laert. 2,59). Jedenfalls teilten beide den Wunsch nach der Wiedergeburt Athens als Handelsort (vgl. jedoch kritische Bemerkungen von gautHier 1976: x, der der Ansicht war, dass „Xénophon, en écrivant les Poroi, ne songeait nullement à faire de l’économie politique. Le but n’était pas la renaissance économique ni l’augmentation des forces productives de l’Attique. Le but était d’ordre politique, les moyens étaient

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Kapitel 2: Rolle und Wahrnehmung von öffentlichen Interaktionsräumen Wenn die Mittel vorhanden sind, wäre es schön und gut, für die Schiffsherren in der Nähe der Häfen Herbergen (katagogia) zu den bereits bestehenden zu bauen, schön auch für die Kaufleute bei den Plätzen, die für Einkauf und Verkauf geeignet sind, und öffentliche Herbergen (demosia katagogia) für diejenigen, die in die Stadt kommen448.

Daraus ergibt sich, dass zur Abfassungszeit dieser Schrift bereits in der Umgebung der athenischen Häfen gewisse Gasthäuser für die naukleroi existierten. Xenophon schlägt vor, noch weitere, darunter auch die demosia katagogia, d. h. die der Polis gehörenden Gaststätten, zu errichten, da er sich von diesen eine Einkommensquelle für den Staat verspricht. Diese Stätten könnten nämlich an Privatleute verpachtet werden. In diesem Passus sind folglich die für die Schiffsherren, Kaufleute und andere Reisende geeigneten Gasthäuser gemeint449, in denen Händler, aber auch – wie es scheint – Einheimische zusammenkamen, sei es, um Geschäfte abzuwickeln oder beim Essen und Trinken Neuigkeiten aller Art auszutauschen. Wie dies in der europäischen Neuzeit üblich war, so konnten sich auch in der antiken Welt Händler mit Bauern gerade in Wirtshäusern treffen, um von ihnen landwirtschaftliche Erzeugnisse anzukaufen; so könnten Wirtshäuser an sich eine Arena der Handelskontakte, der Warenaufbewahrung und -austausches gebildet haben450. An solchen Stätten knüpfte man verschiedene Arten von Kontakten, und dies auch, wie ich bereits suggeriert habe, mit Einheimischen. Gerade mit Fremden (xenoi) sollte Aischines zufolge der junge Athener Timarchos in einer Gaststätte getafelt haben451. Ins Hotel (εἰς τὴν κατάλυσιν) geht auch eine männliche Bühnenfigur in einer Komödie des Alexis, um sich mit einem Fremden zu treffen (ἀπήντων τῷ ξένῳ)452. An einer Stelle in den – zwar in der Kaiserzeit entstandenen, aber auf das Athen der

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d’ordre fiscal“. Die Auffassung Gauthiers stößt heutzutage eher auf Widerspruch, vgl. oLiVer 2011: 121 ff.). Xen. vect. 3,12 (Übers. G. Audring): ὁπότε γε μὴν ἀφορμὴ ὑπάρχοι, καλὸν μὲν καὶ ἀγαθὸν ναυκλήροις οἰκοδομεῖν καταγώγια περὶ λιμένας πρὸς τοῖς ὑπάρχουσι, καλὸν δὲ καὶ ἐμπόροις [ἐπὶ] προσήκοντας τόπους