Rezeption und Rettung: Drei Studien zu Walter Benjamin [Reprint 2017 ed.] 9783110962024, 9783484350229

Das Buch ist thematisch verklammert durch das Problem der Rezeption. Ihm liegt die Überzeugung zugrunde, dass Benjamins

145 22 16MB

German Pages 206 [208] Year 1987

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
I. Benjamins ästhetische Theorie der Rezeption
II. Benjamins Bild des Barock
III. Stationen der Benjamin-Rezeption 1940-1985
Personenregister
Recommend Papers

Rezeption und Rettung: Drei Studien zu Walter Benjamin [Reprint 2017 ed.]
 9783110962024, 9783484350229

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 22

Klaus Garber

Rezeption und Rettung Drei Studien zu Walter Benjamin

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987

Redaktion des Bandes: Wolfgang Frühwald

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Garber, Klaus: Rezeption und Rettung : 3 Studien zu Walter Benjamin ; [Garleff Zacharias-Langhans zum 50. Geburtstag] / Klaus Garber. - Tübingen : Niemeyer, 1987. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 22) NE: Zacharias-Langhans, Garleff: Festschrift; GT ISBN 3-484-35022-9

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Vorbemerkung

I BENJAMINS ÄSTHETISCHE T H E O R I E DER R E Z E P T I O N

1. 2. 3. 4. 5.

Exposition des Problems im Frühwerk Von Engels zu Benjamin: Der Fuchs-Aufsatz Aufklärung und Historismus Destruktion des Historismus Dialektische Landschaft der Überlieferung: Die Vorrede zum Baudelaire-Buch 6. Rettung der bürgerlich-demokratischen Tradition in Deutschland . 7. Ausblick auf das Passagenwerk und die geschichtsphilosophischen Thesen II B E N J A M I N S B I L D D E S B A R O C K

1. Skizze zur Rezeption des Trauerspielbuchs 2. Konfession, Politik und Geschichtsphilosophie im »Ursprung des deutschen Trauerspiels« I I I STATIONEN D E R B E N J A M I N - R E Z E P T I O N 1 9 4 0 - 1 9 8 5

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Der Beitrag Theodor W. Adornos Die Stimme des Freundes: Gershom Sholem Frühe Dokumente der Rezeption Das Echo auf die Schriften 1955 Der Durchbruch: Benjamin im Umkreis der Studentenbewegung . Benjamin als Favorit der akademischen Dissertation Ausblick auf die internationale Rezeption

Personenregister

1

3

6 16 20 29 37 44 53 59

59 81 121

124 135 140 142 152 162 183 195

V

Garleff Zacharias-Langhans zum 50. Geburtstag

Vorbemerkung

Die drei hier vorgelegten Studien zu Walter Benjamin verdanken äußeren Anlässen ihre Entstehung. Gleichwohl hofft der Verfasser, daß sie sich unter dem gewählten Obertitel auch für den Leser thematisch zu einer Einheit fügen. Die Grundzüge einer Rezeptionstheorie des späten Benjamin wurden erstmals in der methodologischen Vorrede zu Vf. Buch »Martin Opitz — >der Vater der deutschen DichtungWortwerden des Fleisches< in den Ästhetikkonzeptionen Mukafovskys, Benjamins und Adornos, in: DVjs 59 (1985) 349-379, sowie die Replik von Schwarz I.e. pp.380—399); Yves Kobry, Walter Benjamin et le langage, in: Revue d'Es-

ästhetischen Prämisse von Tradition natürlich nicht angängig sein kann, das Ideal der Übersetzung in der maximalen Annäherung und Angleichung an das Original zu suchen, würde darin doch eben das Wachstum des Werkes in der Zeit unterschlagen. Jede gelungene Übersetzung lebt von dem geschichtlichen Abstand, der — weit entfernt davon, eine originäre Anschauung zu verzerren, im Gegenteil — als produktiver Faktor im Leben des Werks in Anschlag zu bringen ist. Die jeweils letzte Übersetzung stellt folglich die »stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung« des Originals dar. 33 Denn das Leben der Werke und der Übersetzungen hat seinen objektiven Grund im geschichtlichen Leben der Sprache selbst, welches jedwede aktuale Aneignung unvergleichlich viel tiefer prägt als Lebensradius und Intention der jeweiligen Rezipienten. »In seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte. Was zur Zeit eines Autors Tendenz seiner dichterischen Sprache gewesen sein mag, kann später erledigt sein, immanente Tendenzen vermögen neu aus dem Geformten sich zu erheben. Was damals jung, kann später abgebraucht, was damals gebräuchlich, später archaisch klingen. Das Wesentliche solcher Wandlungen wie auch der ebenso ständigen des Sinnes in der Subjektivität der Nachgeborenen statt im eigensten Leben der Sprache und ihrer Werke zu suchen, hieße — zugestanden selbst den krudesten Psychologismus - Grund und Wesen einer Sache verwechseln, strenger gesagt aber, einen der gewaltigsten und fruchtbarsten historischen Prozesse aus Unkraft des Denkens leugnen.« 34 Kritik ist die »Erzeugung der Blendung im Werk. Diese Blendung — das nüchterne Licht — macht die Vielheit der Werke verlöschen. Es ist die Idee.« 35 Gleich eindringlich steht dieses Bild in den Schlußsätzen der Dissertation neben dem parallelen in der Vorrede zum Wahlverwandtschaften-Aufsatz. 36 In ihm ist die termithetique n.s. 1 (1981) 171-176; Marleen Stoessel, Aura, das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München: Hanser 1983, p.67ss. 33 G.S.IV/1, I.e. p. 11. 34 Op.cit. p. 12s. Übersetzungen haben damit Anteil am Werden der reinen Sprache, die das telos der Geschichte der Einzelsprachen bezeichnet, welches selbst wiederum von Benjamin als transhistorisches, nämlich als messianisches gedacht wird. 35 G. S. 1/1, I.e. p. 119. 36 Aus der reichhaltigen Literatur zu Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay sei hier verwiesen auf: Bernd Witte, Walter Benjamin - Der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk, Stuttgart: Metzler 1976, p. 31ss.; Ulrich Schödlbauer, Der Text als Material. Zu Benjamins Interpretation von Goethes Wahlverwandtschaften, in: Walter Benjamin — Zeitgenosse der Moderne, ed. Peter Gebhardt e. a., Kronberg/Ts.: Scriptor 1976 (Monographien Literaturwissenschaft 30) pp.94—109; Menninghaus, Walter Benjamins romantische Idee des Kunstwerks und seiner Kritik, I.e. p.428ss.; Ulrich Rüffer, Zur Physiognomie des Erzählers in Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay, in: Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, ed. Norbert W. Bolz, Hildesheim: Gerstenberg 1981, pp.45—51; Elvio Fachinelli, Quando Benjamin non ebbe >piü nulla da diredie Sache an sich< nicht >in Wahrheit< ist.«100 Der »Gegenstand«, der hier von Benjamin ins Auge gefaßt wird, ist von vornherein nicht ein isoliertes Werk Baudelaires, sei es das einzelne Gedicht, sei es das Gedicht-Corpus der »fleurs du mal«, sondern vielmehr das Werk Baudelaires, wie es bis zu seiner Exegese durch Benjamin in die Überlieferung einging. Es charakterisiert das Benjaminsche Verfahren als ein philologisches, an dem er gegen alle Einreden insbesondere Adornos festhielt, daß es sich in immer erneutem Rückgang zu den Quellen eine Spezifizierung und Differenzierung der Befunde verspricht, statt der »wächsernen Schwingen der Esoterik« sich anzuvertrauen, die in immer gleichen Begriffen nur allzu rasch über die stets neu zu inaugurierende historische Erfahrung hinwegtragen.101 Die Hingabe an die Phänomene und speziell die Rezeptionsdokumente kann um so unbefangener und detaillierter statthaben, als sie von vornherein in kritischer Absicht erfolgt. Der Benjaminschen Vorrede obliegt nichts weniger und nichts anderes als die Lösung einer doppelten Aufgabe, nämlich zu begründen, warum eine kunsthistorische Arbeit unter keinen Umständen von der Überlieferungsgeschichte ihres Gegenstandes absehen darf, und darüber hinaus die Modalitäten zu entfalten, gemäß denen Rezeptionsgeschichte allein sinnvoll betrieben und der Erkenntnis des historischen Werkgehalts zugeführt werden kann. Beide Fragen hat Benjamin in der geplanten wie in der dann fixierten Vorrede zum Baudelaire, wie hier gezeigt werden soll, in abschließender Weise beantwortet. »Der >Sache an sich< nachzugehen ist allerdings einladend. Sie bietet sich, im Fall eines Baudelaire, üppig dar. Die Quellen fließen nach Herzenslust, und wo sie sich zum Strome der Überlieferung vereinigen, tun sich tracierte Böschungen auf, zwischen denen er, soweit das Auge reicht, dahinströmt. Der historische Materialismus verliert sich an dieses Schauspiel nicht. Er sucht nicht das Bild der Wolken in diesem Strom. Aber noch weniger kehrt er sich von ihm ab, um >an der Quelle< zu trinken, der >Sache selbstKapitelüberschriften< im Druck stehen zu lassen — wie die Heisesche Edition es tut —, erscheint den Herausgebern unwahrscheinlich.« Er hätte es mit Sicherheit getan, wenn er - hier wie in anderen Fällen — frei über seinen Text hätte disponieren können). 103

104

40

So Jauß in seinen diversen Arbeiten zur Rezeptionstheorie und -geschichte. Dazu soweit ich sehe am radikalsten in der Kritik: Robert Weimann, »Rezeptionsästhetik« oder das Ungenügen an der bürgerlichen Bildung, in: R.W., Kunstensemble und Öffentlichkeit. Aneignung — Selbstverständigung — Auseinandersetzung, Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1982, pp.85—128. Die Antwort von Jauß auf seine Kritiker jetzt in: Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2 1984, p.735ss. Albrecht Schöne, Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. Neue Einblicke in alte Goethetexte, München: Beck 1982, p.88ss.

geschichte umgreift und so zum Ferment gesellschaftlicher Erkenntnis und Praxis aufrücken kann, indem sie das in der Überlieferung nicht zur Geltung Gekommene und Unterdrückte in kritischer verändernder Absicht mobilisiert. Ihm obliegt es, nicht nur das Bild der Landschaft, sondern diese selbst zu verändern, indem er, »wenn auch auf lange Sicht, das Gefälle des Stroms für die verwertet, die seiner bisher noch nicht einmal ansichtig werden konnten.« 105 Die näheren Modalitäten dieses Verfahrens sind wiederum einem Bild überantwortet, das Benjamin erstaunlicherweise in die zweite gekürzte Version nicht übernommen hat. »Ein Bild von Baudelaire liegt hiermit vor, und zwar ist es das überlieferte. Die Überlieferung der bürgerlichen Gesellschaft läßt sich mit einer Kamera vergleichen. Der bürgerliche Gelehrte schaut hinein wie der Laie tut, der sich an den bunten Bildern im Sucher freut. Der materialistische Dialektiker operiert mit ihr. Seine Sache ist, festzustellen. Er mag einen größeren oder kleineren Ausschnitt aufsuchen, eine grellere politische oder eine gedämpftere geschichtliche Belichtung wählen — am Ende läßt er den Schnappverschluß spielen und drückt ab. Hat er die Platte einmal davon getragen — das Bild der Sache, wie sie in die gesellschaftliche Überlieferung einging — so tritt der Begriff in seine Rechte und er entwickelt es. Denn die Platte kann nur ein Negativ bieten. Sie entstammt einer Apparatur, die für Licht Schatten, für Schatten Licht setzt. Dem dergestalt erzielten Bild stünde nichts schlechter an als Endgültigkeit für sich zu beanspruchen. Seine Lebendigkeit ist eine scheinbare, und sein Wert beruht ganz gewiß nicht auf ihr. Unscheinbar, aber echt, ist aber der Konflikt, in dem in einem bestimmten Fall die gesellschaftlichen Interessen der Überlieferung mit dem Gegenstande liegen, der überliefert wird. Er beruht vielmehr darauf, den Dargestellten als Zeugen gegen die Überlieferung aufzubieten, die sein Bild auf die Platte rief; (umgekehrt wie auf den Daguerreotypen das Aufnahmeverfahren zum Zeugen gegen die geschichtliche Epoche wird, deren Züge der Porträtierte zur Schau trägt).« 106 Man vergesse den Stellenwert des Vorstehenden nicht; es hätte seinen Platz vor einem Baudelaire-Buch gehabt. Eine Adaptation Baudelaires im Umkreis der Arbeiterbewegung war so gut wie nicht zu verzeichnen. Daher die Einschränkung auf die Überlieferung im Umkreis der bürgerlichen Gesellschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie allein — wie gleich zu zeigen — begründet den kritischen Abstand, den der Rezeptionshistoriker von dieser besonderen Gestalt der Überlieferung zu nehmen genötigt ist. Der Akt der Entwicklung des Bildes ist zwangsläufig gleichbedeutend mit einer kritischen Rebuchstabierung, die in letzter Konsequenz auf eine Revision der bisherigen Baudelaire-Überlieferung hinauslaufen muß und damit auf eine Kritik des bislang am Werk freigelegten geschichtlichen Gehalts. Das setzt eine Position jenseits der ÜberlieferungsMechanismen der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Daher Benjamins aus der Pas105

Dieser Aspekt ist in der zweiten Version fortgefallen. Cf. G. S. 1/3, p. 1164 und »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, ed. R. Heise, I.e. p.25, resp. G.S.I/3, p. 1161. 106 G. S. 1/3, p. 1165s. Der Passus liegt selbst wieder in mehreren Versionen vor. Cf. op. cit. p. 1164ss. Hier zitiert die dritte Version unter Tilgung der von Benjamin gestrichenen bzw. ersetzten vorangehenden Formulierungen. 41

sagenarbeit und den geschichtsphilosophischen Thesen geläufige Insistenz auf dem richtig gewählten Augenblick des Schnappschusses. Er will nicht als zeitlicher mißverstanden werden. Vielmehr verweist er auf die theoretische Explikation des Heute, die über den sachgemäßen Umgang mit der Überlieferung schlechterdings entscheidet. Die Scheidung des doxagesättigten Gegenstandes der Überlieferung ist genau wie in der Marxschen Rekonstruktion des Kapitals nur von einem Standpunkt jenseits der bürgerlichen Gesellschaft aus denkbar und möglich. Es macht keinen Sinn, dieses Ärgernis der Benjaminschen Theorie zu vertuschen oder zu verharmlosen. Der historische Materialist in Benjamins Spätwerk tritt nicht metaphorisch in Aktion. Wohl aber mit dem Anspruch, daß in seinen Händen die bürgerliche Überlieferung insgesamt besser aufgehoben sei als bei den späten Nachfahren der eigenen Klasse. Methode sei Umweg, so hieß es in der erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspielbuchs. Der späte Benjamin verlegt dem Schreibenden wie dem Lesenden den direkten Zugang zu den Quellen. Er verpflichtet den Rezipienten auf den unumgänglichen Umweg über die Überlieferungsgeschichte der Werke. Was im Frühwerk als Entfaltung des nüchternen prosaischen Wahrheitsgehalts des Werkes im Medium der Kritik gedacht worden war, verwandelt sich im Spätwerk zur Vermessung des geschichtlichen Kräftefeldes, will sagen zur Kritik der von dem Werk ausgehenden wie auf es einwirkenden Impulse. Benjamin hat um die der Linken stets drohende Gefahr des Umgangs mit Geschichte nur allzu gut gewußt. Fixiert auf Praxis, auf Veränderung, auf Funktionalisierung des geschichtlichen Wissens, droht das Verständnis von Geschichte und speziell der Werke zur trostlosen Frage zu verkümmern, was sie der heutigen Gesellschaft und speziell »ihren fortgeschrittenen Caders zu sagen haben«, ohne »wohlgemerkt, die Frage zu übergehen, ob (sie) ihnen überhaupt etwas zu sagen« hätten. 107 Diese Frage, hundertfach wiederholt und variiert in und nach der Studentenbewegung, hat Benjamin ein für allemal beantwortet. Denn die auf Baudelaire gemünzte Theorie ist, wie das bislang bewußt ausgesparte Zitat aus der Fuchs-Arbeit zeigt, eine allgemeine, jedweden Umgang mit den kulturellen Gebilden bestimmende. Wir sind »in der Lektüre von Baudelaire eben durch die bürgerliche Gesellschaft in einem historischen Lehrgang unterwiesen worden. Dieser Lehrgang kann niemals ignoriert werden. Eine kritische Lektüre von Baudelaire und eine kritische Revision dieses Lehrgangs sind vielmehr ein und dieselbe Sache. Denn es ist eine vulgärmarxistische Illusion, die gesellschaftliche Funktion sei es eines materiellen Produkts, sei es eines geistigen unter Absehung von den Umständen und den Trägern seiner Überlieferung bestimmen zu können. >Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozeß, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden, trägt der Begriff der Kultur einen fetischistischen Zugmorte dell' arteErbe< gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte.« (1/3, 1242). G. S. II/2, I.e. p.573. Op. cit. p.574. 51

Getilgte dem historischen Bewußtsein neu zuzuführen. Im Umkreis von Jochmanns Rigaer Freunden, teilweise leidenschaftlich in die Freiheitsbewegung der baltischen Provinzen auf den Spuren ihres großen Ahnherrn Herder und insbesondere in die Befreiung der Bauern von der Leibeigenschaft verwickelt, stößt Benjamin »auf jene in ihren produktiven Gaben begrenzten aber im Haushalt der Weltgeschichte so wichtigen Männer, deren Freimut und Überzeugungstreue die unerläßliche und verkannte Grundlage für die weiter ausgreifenden, freilich um so behutsameren revolutionären Formulierungen eines Kant und Schiller gewesen sind. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren diese Zusammenhänge noch nicht vergessen.« 138 Natürlich ist es nicht der Improvisation geschuldet, wenn Benjamin der Romantik-Kritik des von ihm erstmals Porträtierten die seine, ganz anders geartete, hinzufügt. Der mehr als problematischen Volte der Gebrüder Schlegel, »als sie den humanistischen Enthusiasmus ihrer Jugendjahre mit dem späteren für das christliche Mittelalter vertauschten«, ist Benjamin im Medium eines soeben durch Josef Körner bekannt gewordenen und schlechterdings unvergleichlichen Briefes A.L. Hülsens entgegengetreten. 139 Nie hat Benjamin sich von der Frühromantik losgesagt. Doch dem restaurativen Zugriff auf die Adelskultur des Mittelalters und des katholischen Europa, mehr als einmal perfide ausgespielt gegen das moderne reformatorische und aufgeklärte, widersetzte er sich vehement, sah er doch völlig zu Recht die demokratische Tradition des Bürgertums darin bereits diskriminiert. 140 Dieses Geschichtsbild, nationalchauvinistisch zurechtgestutzt und der europäischen Perspektive der Schlegels beraubt, behauptete sich je länger je mehr im 19. Jahrhundert, überlagerte zunächst und verdrängte dann die radikaldemokratische und sukzessive auch die liberale Opposition. Es sind geschichtsphilosophische und zugleich aktuelle politische Erwägungen dieses Zuschnitts, die man gewahren muß, wenn man der Metapher der Kamera-Apparatur in der Hand des bürgerlichen Gelehrten ihr theoretisches Recht und ihr historisch Triftiges abgewinnen will. 138 139

140

52

Op.cit. p.576. Op. cit. p. 580. Hier der Hülsen-Brief p. 580s. Dazu Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, ed. Josef Körner, Vol. I—III, Bern, München: Francke 2 1958—1969, Vol.I, p p . 5 5 - 6 4 , Vol.III, p p . 4 8 - 5 1 (Kommentar). »In der Tat bedeuten Schlegels Berliner Vorlesungen und die >Europa< überhaupt eine wichtige Station auf dem Wege der ursprünglich revolutionären und liberalen Frühromantik zur kulturellen und politischen Konservation, ja Reaktion; diese Entwicklung mochte Hülsen weder billigen, noch gar teilen, daher endet mit diesem Briefe die Korrespondenz (auch mit Friedrich Schlegel)« (III, 49). »Mit der Romantik setzte die Jagd nach dem falschen Reichtum ein. Nach der Einverleibung jeder Vergangenheit, nicht durch die fortschreitende Emanzipation des Menschengeschlechts, kraft deren es seiner eigenen Geschichte immer geistesgegenwärtiger in das Auge sieht und immer neue Winke ihr abgewinnt, sondern durch die Nachahmung, das Ergattern aller Werke aus abgelebten Völkerkreisen und Weltepochen. [ . . . ] Jochmann sah sie als mißglückte und als bedeutungslose und erschloß eben damit seinem Blick eine historische Perspektive, die seinen Zeitgenossen verstellt geblieben ist.« Erst der Jugendstil nimmt diese Linie wieder auf. Ihr bedeutendster Theoretiker ist Adolf Loos. Wie Loos sucht auch Benjamin »um jeden Preis den Anschluß an den Rationalismus der bürger-

7. Ausblick auf das Passagenwerk und die geschichtsphilosophischen Thesen Auch dem deutschen 19. Jahrhundert also galt Benjamins Aufmerksamkeit auf diversen Feldern. Im übrigen aber gedachte er bekanntlich das 19. Jahrhundert so von Frankreich, von Paris her aufzurollen, wie das 17. von Deutschland aus. 141 Das Passagenwerk, dem diese Aufgabe bald nach Abschluß des Trauerspielbuchs überantwortet wurde, mobilisierte nochmals eine eigene Erkenntnistheorie, niedergelegt vor allem in jenem berühmten Konvolut N der mehr als tausend Seiten umfassenden Aufzeichnungen und Materialien, das einen der exponiertesten und zentralsten geschichtsphilosophischen Fonds im 20. Jahrhundert darstellt. 142 Das Passagenwerk und mit ihm seine theoretischen Implikationen sind 1983 ein Jahr nach Erscheinen des wunderbarerweise geretteten Manuskripts Gegenstand zweier großer denkwürdiger Kongresse gewesen, deren Akten soeben publiziert wurden. 143 Hier muß deshalb ein Verweis genügen. Benjamin hat, wie man weiß, versucht, die psychoanalytischen Traumtheorien in umgestalteter Form seiner dialektischen Geschichtserfahrung zuzuführen; ausarbeiten konnte er diese Theorie nicht mehr. 144 Einen zentralichen Blütezeit zurückzugewinnen« und das vielleicht eindrucksvollste Zeugnis dafür ist sein Jochmann-Essay (II/2,581s.). Zu A. W. Schlegels Vorlesungs-Zyklen die Literatur bei Garber, Martin Opitz, I.e. p. 185, n. 1. Jetzt: Annelen Grosse-Brockhoff, Das Konzept des Klassischen bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Köln, Wien: Böhlau 1981 (Böhlau Forum literarum 11); Hannelore Scholz, Zur Herausbildung romantischer Kunstauffassungen bei August Wilhelm Schlegel von 1789-1804, Diss. phil. Berlin/DDR HumboldtUniversität 1982 (Masch.). Zu Friedrich Schlegel: Hans Dierkes, Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen: Niemeyer 1980 (Studien zur deutschen Literatur 63) p.287ss.; Klaus Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794—1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik, Tübingen: Niemeyer 1984 (Studien zur deutschen Literatur 78) p. 160ss. 141 Cf. G. S. V/1 - 2 , I.e. p. 1112s. 142 Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts, op.cit. V/1, pp. 570-611. 143 Walter Benjamin et Paris. Colloque international 27 - 2 9 juin 1983, ed. Heinz Wismann, Paris: Les Editions du Cerf 1986 (Passages); Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins »Passagen«, ed. Norbert W. Bolz, Richard Faber, Würzburg: Königshausen + Neumann 1986. Eine Reihe der Pariser Vorträge in deutscher Version (sowie der Berliner Vortrag Kittsteiners) auch in dem von Bolz und Witte herausgegebenen und bereits zitierten Band »Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts«. Zum Kontext vor allem hinzuzuziehen die zahlreichen Benjamin gewidmeten Beiträge in: Paris au XIX e siècle. Aspects d'un mythe littéraire, Lyon: Presses Universitaires 1984 (Littérature et idéologies). Als größere Abhandlung hervorzuheben: Fabrizio Desideri, Benjamin, Adorno e il »Passagenwerk«, in: novi correnti 74 (1977) 231-270; 75 (1978) 3-28. Die zahlreichen Beiträge anläßlich des Erscheinens des Passagenwerkes 1982 sollen hier nicht aufgelistet werden; eine Ausnahme: Rainer Rochlitz, Walter Benjamin: Une dialectique de l'image, in: Critique431 (1983) 287—319. Zum (verfehlten) Titel des Werkes: Michael Diers, Kurztitelaufnahme. Eine Anzeige der Passagen-Ausgabe ,in:DieAktion6(1984) 405 —410. 144 Dazu vor allem die in Sektion IV »Mythe et Histoire« plazierten Beiträge der Pariser Kongreß-Akten (p.453ss.) bzw. die Beiträge von Lindner, Bolz und Kittsteiner in dem »Passagen«-Band. Cf. jetzt auch Musik, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Ästhetik Walter Benjamins, I.e. p. 133ss. 53

len Platz nimmt entsprechend die Kategorie des Erwachens aus dem Traum ein, wie sie der historische Materialist einzuüben hat. Sind auch dem Traum der naturwüchsig sich reproduzierenden Gesellschaft des 19. Jahrhunderts urgeschichtlichutopische Momente inhärent, dann verbietet sich ein ausschließlich ideologiekritisches Verfahren. Auch das 19. Jahrhundert will nicht als »Verfallszeit« in toto denunziert sein; auch ihm ist ein unbewußt produziertes Wunsch-Potential eigen, das dem Mythos entrissen und dem in der Konstruktion sein Wahrheitsgehalt abgerungen werden muß. Das meint jenes rasch berühmt gewordene Fragment im Eingang zum Konvolut N »Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden mußte einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden. Dies soll für den des 19. Jahrhunderts hier geleistet werden.« 145 Es geht »um Auflösung der >Mythologie< in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur geschehen durch die Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesnen.« 146 Den natürlich in dieser Form zur Veröffentlichung niemals bestimmten Aufzeichnungen hat Benjamin anvertraut, was schwerlich in einen publizierten Text eingegangen wäre: »Durch das Exempel beweisen, daß die große Philologie an den Schriften des vorigen Jahrhunderts nur vom Marxismus geübt werden kann.« 147 Damit ist neuerlich sichergestellt, daß der Akt der Erkenntnis an eine historisch-dialektische und materialistische TheoriePraxis-Konzeption geknüpft ist, die allein darüber entscheidet, ob ein qualifiziertes Erwachen statthat. Entsprechend lautet eine schon in den frühen PassagenEntwürfen anzutreffende Reflexion »Die Vergangenheit, besser: Gewesnes statt wie bisher nach historischer nach politischer Methode behandeln. Die politischen Kategorien zu theoretischen zu bilden, indessen man sie nur, im Sinne der Praxis, weil nur an das Gegenwärtige heranzubringen wagte — das ist die Aufgabe. Die dialektische Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangner Zusammenhänge ist die Probe auf die Wahrheit des gegenwärtigen Handelns.« 148 Diese »echte politische Erfahrung«, so wird es später heißen, ist nicht nur vom Schein des Immergleichen, sie ist auch von dem der »Wiederholung in der Geschichte . . . absolut frei«, weil sie eine einmalige, nur in dieser Gegenwart mögliche Erfahrung mit der Geschichte ins Werk setzt. 149 Wenn die Passagen-Reflexionen ein Weiteres leisten, um die systematische Verklammerung des Frühwerks mit dem Spätwerk voranzutreiben, so erfolgt diese vor allem über die geschichtsphilosophisch gewendete Kategorie des Goetheschen Urphänomens, wie sie im Trauerspielbuch durch die Kategorie des Ursprungs vertreten war, nun aber Benjamins materialistischer Physiognomik des Spätwerks zugeordnet wird, die ihrerseits eine materialistisch gewen-

145 146 147 148 149

54

G.S.V/1, I.e. p.570s. Op.cit. p.571s. Op.cit. p.596. Op.cit. V,2 p. 1026s. Op.cit. V,1 p.591.

dete Ausdruckstheorie zur Voraussetzung hat. 150 So wird es möglich, die »Auswicklung« eines Gegenstandes mit seiner Vor- und Nachgeschichte zu identifizieren. Zu einem — aus dem Bereich der Natur in den der Geschichte übertragenen - Urphänomen werden sozioökonomische Basisverhältnisse nicht unter dem Gesichtspunkt der Kausalität für kulturelle Gebilde, sondern indem sie »in ihrer selbsteignen Entwicklung — Auswicklung wäre besser gesagt — die Reihe der konkreten historischen Formen der Passagen aus sich hervorgehen lassen, wie das Blatt den ganzen Reichtum der empirischen Pflanzenwelt aus sich herausfaltet.« 151 Deshalb kann es an späterer Stelle heißen: »Die Vor- und Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheinen kraft seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt. Und so polarisiert der historische Tatbestand sich nach Vor- und Nachgeschichte immer von neuem, nie auf die gleiche Weise.« 152 Nicht also liegt die Auswicklung der kulturellen Charaktere offen zutage und brauchte nur darstellend synthetisiert zu werden. Für letzteres Verfahren hält Benjamin den - in seiner Bedeutung eingeschränkten — Begriff der Rekonstruktion bereit, den er auf Einfühlung gegründet und in dem er das dialektische Moment getilgt sieht zugunsten der Zusammenführung des faktisch Vorgefundenen. 153 Ihm stellt er den Begriff der Konstruktion entgegen, der stets Destruktion voraussetzt. Der Akt der Entzifferung bleibt an ein Heute gebunden und hat, wie im Passagenwerk erneut und wiederholt angedeutet, den faktischen Verfall wie die theoretische Überwindung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform zur Voraussetzung, die den allegorisch verfremdeten Blick auf die Ruinen in der schönen Scheinwelt freigibt. 154 Muß es bei diesen Hinweisen sein Bewenden haben, um das Terrain der Passagenarbeit nicht weiter zu betreten, das eine eigne Arbeit erforderte, so verbleibt abschließend nicht nur aus chronologischen, sondern auch aus systematischen Gründen ein Blick auf die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Latent ist auch das Spätwerk von theologischen Motiven durchwirkt. Manifesten Einlaß hat ihnen Benjamin erst in der letzten Arbeit gewährt, von der er wußte, daß sie die letzte in Europa formulierte sein würde und von der Adorno sagen durfte, daß sie im Angesicht des Todes zustandekam. 155 Sie ist zu Benjamins Vermächtnis geworden. Keine ist seit ihrem Erscheinen 1950 in der Neuen Rundschau eingehender 150

151 152 153 154 155

Cf. dazu Fragment N la, 6, op.cit. p.573s., sowie K 2, 5, p.495s. Zum Verhältnis zwischen Goethes Urphänomen und Benjamins Ursprungs-Begriff Fragment N 2a, 4, p. 577. Dazu jetzt die schöne Arbeit von Uwe Steiner, »Zarte Empirie«. Überlegungen zum Verhältnis von Urphänomen und Ursprung im Früh- und Spätwerk Walter Benjamins, in: Antike und Moderne, I.e. pp. 2 0 - 4 0 . G . S . V / 1 , 577. Op.cit. p.587s. Cf. Fragment N 7, 6, op. cit. p. 587. Cf. op.cit. V/1, p.59; V/2, p. 1237 u. 1249. Cf. die von Adorno geplante, dann jedoch nicht publizierte Notiz zu dem Band des Instituts für Sozialforschung »Walter Benjamin zum Gedächtnis«, G . S . I / 3 , p. 1223s.

55

exegesiert worden. 156 Andere mochten mehr politische Sprengkraft enthalten wie der Kunstwerk-Aufsatz und daher weiter in die Breite wirken. Die Intensität der Auseinandersetzung mit den zwanzig Fragmenten »Über den Begriff der Geschichte« hat in der Benjamin-Rezeption keine Parallele. Von Beginn an waren die geschichtsphilosophisch-erkenntniskritischen Erwägungen, wie sie die Passagenarbeit begleiteten, durchzogen vom Moment der Krisis als conditio sine qua non geschichtlicher Konstruktion. Die Moskauer Prozesse, lebhaft erörtert zwischen Benjamin und Brecht, waren nochmals überboten worden durch den Hitler-StalinPakt. Heißt Vergangenes historisch artikulieren nach der letzten der vielen Formulierungen, die Benjamin fand, »sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«, so war diese Arbeit des Erinnerns »in einem Augenblick, da die Politiker, auf die die Gegner des Faschismus gehofft hatten, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen«, nochmals zu inaugurieren. 157 Hier konnte Benjamin seine Kritik des Fortschritts mobilisieren, in der sich seine diversen Interventionen gegen die Kulturpolitik und den Geschichtsoptimismus im Umkreis der Arbeiterbewegung resümierten. Beiden setzte er seine Konzeption von Fortschritt entgegen, die er der Angelus-Novus-Allegorie anvertraute. Deren Exegese hat zu grotesken Mißverständnissen geführt. Ihr Sinn indes ist durch Benjamin selbst an versteckter Stelle zweifelsfrei gesichert. »Interpretation des Angelus Novus: die Flügel sind Segel. Der Wind, der vom Paradiese herweht, steht in ihnen.« 158 Es bedarf nicht mehr als diesem Bild ein verwandtes aus der Passagenarbeit beizugesellen. »Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst, sie setzen zu können, ist das Entscheidende.« 159 Die Thesen über den Begriff der Geschichte bilden ein Organon solcher Kunst des Segel-Setzens. Auch sie bewahren den Gedanken der Aufsprengung des geschichtlichen Kontinuums. Jeder im Aufstieg befindlichen, in Aktion tretenden Klasse wohnt dieses Vermögen inne, auch und gerade der bürgerlichen, wie der zitative Rückgriff der französischen Revolutionäre auf das republi156

157

Zu Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen sei hier verwiesen auf die in der dritten Abhandlung dieses Buches n. 191ss. aufgeführte und teilweise besprochene Literatur. Dazu etwa: Richard Wolin, From Messianism to Materialism. The Later Aesthetics of Walter Benjamin, in: new german critique 22 (1981) 81 — 108; Chryssoula Kambas, Walter Benjamin im Exil, I.e. p.201ss.; die Benjamin gewidmeten Beiträge in dem Band: Weimar ou l'explosion de la modernité, ed. Gérard Raulet, Paris: éditions anthropos 1984; Anson Rabinbach, Between Enlightenment and Apocalypse. Benjamin, Bloch and Modern German Jewish Messianism, in: new german critique 34 (1985) 78-124; Bernd Witte, Die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Die Säkularisierung jüdischer Motive in Walter Benjamins Denken, in: Der Deutschunterricht 37 (1985) 26—37; Torsten Meiffert, Die enteignete Erfahrung. Zu Walter Benjamins Konzept einer >Dialektik im StillstandFortuneTrauerspiels< (auf welchen Namen sich B. hartnäkkig versteift) aus dem Entwicklungsgange der >Tragödie< herausreißt. In Wahrheit handelt es sich doch nach den deutlichen Absichten der Dichter selbst nur um einen Typus dieser Dichtungsart, dessen Zusammenhängen mit den Vorgängern und den Dichtungen der Nachbarländer B.s Analyse wenig gerecht wird.«12 Nur Günther Müller, überragender Geist der erneuerten Barockforschung, hat ein Gespür für das Niveau der Arbeit besessen, die große Auseinandersetzung freilich nicht mehr geliefert, sondern einige Kernzitate präsentiert. 13 »Eine kritische Würdigung würde ein zweites Buch erfordern. Daß Benjamin die Barockforschung um wichtige Kategorien bereichern könnte, steht außer Frage.«14 Eben sie aber wurden im folgenden immer wieder aufgespießt und zumeist zurückgewiesen. Daß sowohl der soeben um Julius Petersen in Berlin sich scharende Kreis namhafter Barockforscher wie auch der Hamburger Kreis um das Warburg-Institut, auf den Benjamin besondere Hoffnungen setzte, für die Rezeption so gut wie völlig ausfielen, war ein zusätzliches ungünstiges Präjudiz für die Aufnahme der Arbeit. 15 10

11

12 13

14 15

62

Später wird Milch von dem »überscharfen« Versuch Benjamins sprechen. Cf. W. M., Forschungsberichte, Deutsches Literaturbarock. Der Stand der Forschung, in: Zeitschrift für deutsche Geistesgeschichte 3 (1937) 8 0 - 8 3 , p.80, bzw. auch in: German Quarterly 13 (1940) 131-136, p. 132. Robert Petsch, Drama undTheater. Ein Forschungsbericht ( 1 9 2 0 - 35), in: DVjs 14 (1936) 563-653. Op.cit. p.613s. Günther Müller, Neue Arbeiten zur deutschen Barockliteratur, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 6 (1930) 325-333. Op.cit. p.332. Daß die berühmte Phase der neueren Barockforschung in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren keine Reaktion zeitigte, signalisiert natürlich auch, daß die gemäßigt antigeistesgeschichtliche Wende, die zu einem neuerlichen »eingeschränkten Positivismus« (Alewyn) führte und mit der Akzentuierung gattungs- und traditionsgeschichtlicher Forschung einherging, zugleich gewisse theoretische Defizite zeitigte, wie sie bis heute für die Barockforschung typisch geblieben sind. — Alewyn — als führender Barockforscher im Petersen-Kreis anerkannt (cf. Erich Trunz, Erinnerungen an Julius Petersens

Gleichermaßen von Sympathie wie von Verständnis getragene frühe Äußerungen stammen nicht aus dem Umkreis der Literatur- oder Kunstwissenschaft, sondern aus dem der Nachbardisziplinen wie der Sprachwissenschaft oder der Psychoanalyse. In prägnantem Gegensatz zu der obigen lamentatio über den Benjaminschen »Irrgarten« hebt Franz Heinrich Mautner in »Die neueren Sprachen« (1930) hervor, daß es sich »um einen kunstphilosophischen Versuch von höchstem Niveau« handele, »der gelungen erscheint und vorbildlich in der Geschlossenheit und Einheit seiner Methode ist.«16 Der erkenntniskritischen Vorrede, so viel gescholten, wird ausdrücklich bescheinigt, »durch philosophische Gewissenhaftigkeit, welche der Programmsicherheit nicht Abbruch tut«, zu bestechen. Deutlich wird die »scharfe Wendung gegen die >psychologistische< induktive Ästhetik«, damit gegen »>Einfühlung< und wissenschaftlichen VerismusTrauerspieldas Historische< als bloßen Bestandteil der Idee; diese dominiert vollständig, der >Seinsbegriff< >ersättigt sich< nur an der Aufzählung (!) der Geschichte der Phänomene« —, so bekundet sich hier ein arges Mißverständnis. Daß Benjamin sodann eine »posthistorische« psychologische Fixierung erdulden muß, ist auch schwerlich dazu angetan, Verständnis zu befördern. Und wo schließlich die »Volksmasse« des 17. Jahrhunderts in Benjamins Werk ihren Platz hat, derjenigen zu Ende der Weimarer Republik kontrastierend, ist schlechterdings auch nicht zu sehen. »Der erste naive naturalistische Utopismus gegen die letzte soziale Lösung des Naturalismus. Die Melancholie über die gnadenlose Welt neben die Rebellion gegen die gnadenlose Welt. Ihre synthetische Allegorik gegen unsere analytische Allegorik. Ihre Sprachzerstücklung gegen unsere Sprachzerstücklung. Ihr Bild des >Souveräns< in einem chronischen Ausnahmezustand gegen unser Bild der Diktatur in einem chronischen Ausnahmezustand.« Ist es nicht die Aufgabe der Feuilleton-Kritik, den Prozeß wissenschaftlicher Auseinandersetzung unbedingt voranzutreiben, so wird man Haas nicht absprechen können, die Neugier auf ein in diesem Sinn aktuelles »Zeitdokument widerWillen« erweckt zu haben. Ganz anders Kracauer, der natürlich aus enger Vertrautheit mit dem Benjaminschen Werk schreiben kann. 23 Die Vorstellung der wesentlichen Stoffschichten ist von schlagender Luzidität. »Die Wünschelrute seiner Intuition schlägt im Bereich des Unscheinbaren, des allgemein Entwerteten, des von der Geschichte Übergangenen an und entdeckt gerade hier die höchsten Bedeutungen. Nicht umsonst ergeht er sich in dem Oedland des Barocktrauerspiels und belastet die Allegorie mit einem Gewicht, das sie nach der 20 21

22

23

64

Op. cit. p.538. In der Vossischen Zeitung scheint keine eigne Rezension erschienen zu sein. Hier war im gleichen Jahr Ernst Bloch mit seiner bekannten »Revueform in der Philosophie«, der Anzeige der »Einbahnstraße« präsent. Jetzt leicht wieder greifbar in E . B . , Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962 (Gesamtausgabe, Vol. IV) pp.368-371. Willy Haas, Zwei Zeitdokumente wider Willen, in: Die Literarische Welt, 4. Jahrg., Nr. 16, 20. April 1928. Die folgenden Zitate an dieser Stelle. Cf. auch von Haas, Die Literarische Welt. Erinnerungen, München: List 1957, p. 163, sowie das schöne Porträt anläßlich des Erscheinens der zweibändigen Ausgabe der »Schriften« durch Adorno im Sonntagsblatt Nr. 41, 1955. Siegfried Kracauer, Zu den Schriften Walter Benjamins, in: Frankfurter Zeitung, 15. Juli 1928. Geringfügig modifiziert wieder abgedruckt in S.K., Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt 1977 (suhrkamp taschenbuch 371) pp. 249—255. Die Charakteristik der »Einbahnstraße« fällt übrigens gegenüber der des Trauerspielbuchs merklich ab.

üblichen Auffassung im Vergleich mit dem Symbol nicht besitzt. Sie rettet in Benjamins Darstellung, bezeichnend genug, die antiken Götter, die durch sie in der feindlichen Umwelt des mittelalterlichen Christentums fortleben können.« Und schließlich die auf die Sache selbst nicht eingehende, wohl aber das Werk als Ganzes in seiner universitären und kulturpolitischen Funktion einschätzende Notiz von J.M. Lang in der »Weltbühne«. 24 Wie tief wird das Wirken Benjamins und verwandter Gestalten begriffen, wo der Geist der alten deutschen Universität, zugleich an Strenge der Methode wie an Universalität des Gegenstandes geknüpft, zu Ende der Weimarer Republik eher bei Außenseitern gewahrt erscheint, denn bei den offiziellen Fachvertretern. »Der Geist, aus dem F. A. Wölf oder, in ganz anderer Weise, Creuzer die geistige Welt erforschten und ordneten, ist es, der in dem letzten Buche Walter Benjamins >Der Ursprung des deutschen Trauerspiels< (Ernst Rowohlt Verlag) weiter wirkt. Nicht allein die Bewältigung dieses fast noch nie in seiner ganzen Mächtigkeit behandelten Stoffes macht die Bedeutung dieses Buches, das selber aus dem härtesten und dauerhaftesten Material gemacht ist, aus: es ist die intransigente Entschlossenheit des Traktats, die hier mit unzweideutiger Strenge, wie sie seit Lachmann ganz aus dem akademischen Schrifttum geschwunden ist, das geistige Werk in die Welt der Ordnungen einfügt. [•..] Es ist die Verantwortlichkeit, die das Leben eines Menschen mit dem Geiste seines Volkes verbindet. In solchem höheren Sinne wird auch die wissenschaftliche Arbeit, wo immer sie unternommen wird, zur politischen Tat.« »Der Historiker, der Literatur- und Kunstgeschichtler — um von den Philosophen zu schweigen — werden in der Schrift über das Trauerspiel das Ihre finden.« 25 Man möchte an dieser schönen Prognose Kracauers zweifeln, blickt man im Gefolge der ersten aktuellen Stellungnahmen auf die Nachgeschichte des Werkes zwischen den späten zwanziger und den späten fünfziger Jahren nach dem Erscheinen der ersten Werkausgabe. 26 Ein besonderer Anlaß, Benjamins Arbeit zu berücksichtigen, bestand schon in den frühen dreißiger Jahren für Gerhard Fricke, der sich mit einer Studie zur Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius 1933 in Göttingen habilitierte. 27 Ganz am Schluß der Untersuchung taucht auch der Name 24

25 26

27

Die Weltbühne, Jahrg. 24, 1928, p. 649, wiederabgedruckt bei Rumpf, Spekulative Literaturtheorie (cf. n.82) p. 184s. Kracauer, op.cit. Der Ertrag der Forschung ist bibliographisch hervorragend erschlossen durch die schon herangezogenen Jahresberichte über die wissenschaftlichen Erscheinungen auf dem Gebiete der Neueren deutschen Literatur. Insbesondere für die Jahre zwischen 1936 und 1950 ist der unter dem alten Titel erschienene Jahresbericht 1936-1939 Berlin/DDR 1956 sowie der dann zusammengelegte, unter Leitung von Gerhard Marx zustandegekommene Jahresbericht für deutsche Sprache und Literatur, Vol.I: 1940-1945, Vol. II: 1946-1950, Berlin/DDR: Akademie-Verlag 1960—1966, vielfach die einzige bibliographische Quelle (Die Einstellung der Jahresberichte mit den beiden zuletzt zitierten Bänden bedeutet einen nicht wieder gut zu machenden Verlust für die Germanistik, der sich nicht zuletzt bei rezeptionshistorischen Arbeiten überaus nachteilig bemerkbar macht). Gerhard Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1933 (Neue Forschung 17).

65

Benjamins verbunden mit einem paraphrasierenden Zusatz auf: »Leider begnügt sich die energische, kluge und anregende Schrift, von der manchmal reichlich sibyllinischen Sprache abgesehen, meist mit Andeutungen und Umrissen.« 28 Daß — um nur ein Beispiel zu nennen — die Einführung des Begriffs der »säkularisierten Eschatalogie« die Auseinandersetzung mit Benjamin zwingend erfordert hätte, ist evident. 29 In der Metapher, in der Allegorie »kommt es nicht zu der von der Kraft des Gefühls getragenen Realisierung eines Symbols, in dem sich beide Bildhälften zu einer höheren Einheit unmittelbar durchdringen, sondern es bleibt das unverbundene und gegenständliche Nebeneinander zweier Dinge, meistens sogar zweier Sphären, geschieden durch die unermeßliche Kluft, die das Ding vom Dinge, den Geist von der Materie und der Sinnlichkeit trennt«. 30 Eben diese improvisierten und insgeheim immer noch wertenden Charakteristika hatte Benjamin durch eine Philosophie, die prinzipiell auf die Gleichrangigkeit beider Formprinzipien abzielte, zu überwinden gesucht. Daß eine Vertiefung der theologischen, der geschichtsphilosophischen, überhaupt der theoretischen Dimension auch in der Barockphilologie möglich war, wo immer es zu einer wirklich fundierten Aneignung des Benjaminschen Werkes kam, beweist etwa die kurz nach Fricke erschienene Arbeit Kapplers zum barocken Geschichtsbegriff.31 »Stets war das Resultat historischer Kontemplation des Barocks die Nichtigkeit der Kreatur. Sie mußte die Heilsgeschichte ersetzen, im Zerbrechen des Profanen sollte das Heil greifbar werden. Der Drang nach Erlösung, dem der Weg fröhlichen Gottvertrauens bereits verstellt war, richtete seine gesamte Energie auf die Vernichtung des Kreatürlichen. Die Zerschlagung des Irdischen sollte die Transzendenz auf die Erde zwingen. Immer wieder hat sich das Zeitalter bemüht, Position durch Negation der Negation zu erzwingen.« 32 Das ist gewiß diskussionsbedürftig, vielleicht auch anfechtbar formuliert, zeigt aber doch — und dies durchgängig in der Arbeit - die unübersehbare Anhebung des Niveaus und der gedanklichen Vertiefung der Perspektive unter dem fraglosen Einfluß Benjamins. Die vielen thematisch verwandten, teils heute noch einschlägigen Arbeiten aus den dreißiger Jahren, in denen die Impulse der Barockforschung aus den zwanziger Jahren langsam an Kraft verloren und mehr als einer der großen Gewährsleute der neuen Zeit seinen Tribut zollte, kommen in aller Regel ohne Benjamin aus. Weder in Wolfgang Kaysers Arbeit zur Klangmalerei (der Benjamin doch eine so tiefsinnige Passage im Blick auf Böhmes Natursprachenlehre gewidmet hatte), noch in den vielen Arbeiten Willi Flemmings zum Drama und zur Kulturgeschichte des Barock, noch in Rosenfelds Studie zum Bildgedicht in der deutschen Literatur, noch in der ersten literaturgeschichtlichen

28

Op.cit. p.264s., n.3. Op. cit. p. 118. 30 Op.cit. p.209. 31 Helmut Kappler, Der barocke Geschichtsbegriff bei Andreas Gryphius, Frankfurt: Diesterweg 1936 (Frankfurter Quellen und Forschungen zur germanischen und romanischen Philologie 13). 32 Op.cit. p. 13. 29

66

Synthese von Hankamer, um hier nur ein paar Beispiele zu nennen, ist die Spur Benjamins gegenwärtig. 33 Das Jahr 1940 bezeichnet auch unter dem hier verfolgten Aspekt eine merkliche Zäsur. Es ist das Jahr, in dem in großangelegter Manier eine Zwischenbilanz der Barockforschung zwischen den Weltkriegen gezogen wird und in dem zugleich eine neue vieldiskutierte Monographie zum schlesischen Kunstdrama erscheint. »Die Erforschung der deutschen Barockdichtung« lautet der Titel des berühmten, der Buchform sich nähernden Forschungsberichts von Erich Trunz, der über weite Strecken zugleich eigene Schwerpunkte künftiger Arbeit am 17. Jahrhundert bezeichnet, deren Erledigung z . B . auf regionalhistorischem Gebiet auch heute an Dringlichkeit nichts eingebüßt hat. 3 4 Die Implikationen des Berichts können und sollen hier nicht entfaltet werden. Die Vermutung liegt nahe, daß sie nicht zuletzt der Grund für das Fehlen des Namens Walter Benjamins auf den hundert Seiten sind. Erik Lunding andererseits handelt in seinem »Schlesischen Kunstdrama« über das »kosmische Spiel« des Gryphius als Märtyrerdrama, das von dem des Mittelalters ebenso abgehoben wird wie von dem Schicksalsspiel und sodann vom »höfischen Drama« eines Lohenstein und der schlesischen Epigonen, berührt also zentrale Themen Benjamins, beschränkt sich jedoch de facto auf die Zitation des Werkes im Literaturverzeichnis. 35 Gryphius der »erste große Einsame« der deutschen Literatur, der erste »durchaus nordische Mensch«, den »schwindelnden Abgrund des Nihilismus« vor Augen. 3 6 Mußte Benjamin fehlen, weil im Lichte seiner Forschungen derartige Formulierungen sogleich zergangen wären? Lunding hat zehn Jahre später in einem an Trunz anschließenden, überaus gehalt- und perspek33

Cf. Wolfgang Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Ein Beitrag zur Geschichte der Literatur, Poetik und Sprachtheorie der Barockzeit, Leipzig: Mayer u. Müller 1932 (Palaestra 179); ders., Böhmes Natursprachenlehre und ihre Grundlagen, in: Euphorion 31 (1930) 521-562. Die Arbeiten Flemmings jetzt leicht zugänglich in: W. F., Einblicke in den deutschen Literaturblock, Meisenheim a. Glan: Hain 1975 (Deutsche Studien 26). Dazu die Einleitungen Flemmings zu der von ihm betreuten Reihe des Barockdramas im Rahmen der Deutschen Literatur in Entwicklungsreihen, Leipzig: Reclam 1930ss. (Auch in der wichtigen Arbeit von Flemmings Schüler Heinrich Hildebrandt, Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit, Diss. Rostock 1939, fehlt der Name Benjamins). Hellmut Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart. Aus dem Grenzgebiet zwischen bildender Kunst und Dichtung, Leipzig: Mayer und Müller 1935 (Palaestra 199); Paul Hankamer, Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1935. 34 Erich Trunz, Die Erforschung der deutschen Barockdichtung. Ein Bericht über Ergebnisse und Aufgaben, in: DVjs 18 (1940) (Referatenheft) 1-100. Teilneudruck in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, ed. Richard Alewyn, Köln/Berlin: Kiepenheuer und Witsch 21966 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 7) pp. 449—458. Nicht erwähnt wird Benjamins Arbeit auch bei A. Kiel, Historischer Überblick über die Methoden der neueren Barockforschung, in: De Weegschaal 5 (1938/39) Nr. 8, pp. 113-117; Nr. 9, pp. 129-133. 35 Erik Lunding, Das Schlesische Kunstdrama. Eine Darstellung und Deutung, K0benhavn: Haase 1940. 36 Op. cit. p.40s.

67

tivenreichen Forschungsbericht die völkisch-rassistischen Verirrungen mancher Barockforscher hellhörig moniert (ohne sich freilich von eigenen Entgleisungen zu distanzieren). 37 Schon Lunding konstatiert das Fehlen selbst einiger deutscher Arbeiten im Forschungsbericht von Trunz und hat gelegentlich bewußt auf solche vor 1940 erschienenen zurückgegriffen. 38 Nur nicht im Falle Benjamins! Das ist um so verwunderlicher, als Lunding es nicht an Kritik gegenüber den expressionistischen Barock-Phantasien eines Strich, Hübscher, Joël etc. fehlen läßt und zugleich konzediert, daß die Barockforschung im dritten Reich »verkümmern« mußte. 39 Ein eigener Abschnitt ist dem Barockdrama gewidmet. 40 »Das Wesen und die Entwicklung der Allegorie ebenso wie ihr Verhältnis zum Symbol (seien) noch lange nicht genügend erforscht«, heißt es anläßlich der Dissertation von Irene Wanner zur »Allegorie im bayerischen Barockdrama des 17. Jahrhunderts« (die Benjamin auch nicht kennt) ohne jedweden Verweis.41 Und auch im Nachtrag zur Emblematik figuriert der Name Benjamins als eines Begründers dieser Forschungsrichtung des Barock nicht. 42 In der Kriegs- und der ersten Nachkriegszeit entsteht die eine oder andere — zumeist maschinenschriftliche - Dissertation, in der auch der Name Benjamins gelegentlich auftaucht. 43 Die Voraussetzung für eine zweite Phase der Rezeption wird jedoch auch im Falle des Trauerspielbuchs erst mit der Publikation der »Schriften« im Jahre 1955 geschaffen, in denen die extensive Barockstudie einzig mit reduziertem Anmerkungsteil und ohne die Kolumnentitel Platz fand - eines der großen bleibenden Verdienste Adornos. 44 Als erster hat Herbert Heckmann die Chance der neuerlichen leichten Zugänglichkeit des Benjaminschen Textes für sein bekanntes Buch »Elemente des barocken Trauerspiels« schon 1959 genutzt. 45 Heckmann folgt Benjamin mehr oder weniger durchgängig in seiner auf einen barocken Text konzentrierten Exegese (Gryphius' Papinian), wie schon beim Studium des Inhaltsverzeichnisses sogleich deutlich wird. Man wird den Versuch einer Rebuchstabierung des esoterischen Benjaminschen Werkes an einem Beispiel keines37

Erik Lunding, Stand und Aufgaben der deutschen Barockforschung, in: Orbis Litterarum 8 (1950) 27—91. Cf. auch den Anschlußbericht von Lunding, Die deutsche Barockforschung. Ergebnisse und Probleme, in: Wirkendes Wort 2 (1951/52) 298-306, sowie ders., German Baroque Literature: A Synthetic View, in: German Life and Letters 3 (1949/50)

38

Lunding, Stand und Aufgaben, I.e. p.29 u. p.32. Op.cit. p.27. Op.cit. p.40ss. Op.cit. p.43. Op.cit. p.87s. Am ausführlichsten bei Erika Geisenhof, Die Darstellung der Leidenschaften in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, Diss. Heidelberg 1957 (Masch.). Das Material eingehend präsentiert bei Rolf Tarot, Literatur zum deutschen Drama und Theater des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein Forschungsbericht (1945-1962) in: Euphorion 57 (1963) 411-453. Walter Benjamin, Schriften, ed. Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Vol.I—II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1955, I, 141—365. Herbert Heckmann, Elemente des barocken Trauerspiels, am Beispiel des »Papinian« von Andreas Gryphius, München: Hanser 1959 (Literatur als Kunst).

1-12. 39 40 41 42 43

44

45

68

wegs gering schätzen. An einer ganzen Reihe von Fällen gelingt es Heckmann, den Benjaminschen Text überzeugend zu exemplifizieren und so im Rahmen des Möglichen zu verdeutlichen. Problematisch erscheint jedoch die sehr bruchstückhafte Verwendung des Benjaminschen Werkes. Damit wird nicht nur durchgängig die Argumentation bzw. die Konfiguration der Benjaminschen Darstellung durchbrochen, sondern auch und vor allem der dialektische Gehalt des Werkes gelöscht. Symptomatisch dafür sind einzelne aus dem Zusammenhang gelöste Sätze, von denen Heckmann glaubt, sich distanzieren zu müssen, obgleich sie im Benjaminschen Gefüge der Darstellung selbst schon ihre einsinnige Bedeutung verloren haben und ihre Geltung eben allein innerhalb der dialektischen Figur wahren. Daß Heckmann besondere Errungenschaften der Benjaminschen Theorie wie die geschichtliche Fundierung der barocken Melancholie herausgreift und kritisiert — Passagen, deren weitreichende Bedeutung im folgenden herausgestellt werden soll —, gehört zu den Paradoxa der frühen Nachkriegs-Barockforschung, die erst im Rahmen einer wirklich gesamthistorischen Analytik des 17. Jahrhunderts korrigierbar werden, wie sie sich zur Zeit in Ansätzen abzuzeichnen beginnt. Immerhin wäre die vielfach durchaus in die Tiefe dringende Paraphrase zentraler Benjaminscher Gedanken wohl geeignet gewesen, das Augenmerk nachhaltiger als in der Folgezeit tatsächlich geschehen auf das Benjaminsche chef-d'ceuvre zu lenken. Ein eigenes — und überaus ergiebiges! — Kapitel wäre der Benjamin-Adaptation im Werk Albrecht Schönes zu widmen. Dies liegt jedoch jenseits der Möglichkeiten unserer auf größtmögliche Knappheit bedachten Skizze. Es gehört zu den Denkwürdigkeiten der an Überraschungen so reichen Nachgeschichte des Benjaminschen Werkes, daß das Trauerspielbuch an der Mitte der sechziger Jahre einsetzenden lebhaften Rezeption seines Autors kaum partizipiert, sondern im Gegenteil durch eine interne Entwicklung innerhalb der Barockforschung nochmals an den Rand gedrängt zu werden droht. Gemeint ist die definitive Etablierung der Emblematik-Forschung, wie sie sich zu Recht vor allem an den Namen Albrecht Schönes knüpft. 46 Noch in den späten fünfziger Jahren war die rasch sich durchsetzende, im Grunde bis heute verbindliche Abhandlung Schönes über den »Carolus Stuardus« erschienen, ihrerseits dem an exemplarischen Texten untersuchten Säkulari46

Aus der überaus lebhaften Diskussion sei hier nur verwiesen auf die gehaltreiche Dokumentation: Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, ed. Sibylle Penkert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978 (cf. auch dies., Zur Emblemforschung, in: Göttinger Gelehrte Anzeigen 224 (1972) 100—120). Wichtig sodann mit Bezug auf Benjamin der große Beitrag von Burkhardt Lindner, Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 5 (1970) 7—61, sowie die Arbeiten von Dieter Sulzer, insbes. D. S., Zu einer Geschichte der Emblemtheorien, in: Euphorion 64 (1970) 23—50; ders., Poetik synthetisierender Künste und Interpretation der Emblematik, in: Geist und Zeichen. Festschrift Arthur Henkel, Heidelberg: Winter 1977, pp. 401-426. Die Literatur zur Emblematik in: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, ed. Arthur Henkel und Albrecht Schöne, Supplement der Erstausgabe, Stuttgart: Metzler 1976, pp.XXXIII-CLXXVI.

69

sations-Problem in der deutschen Dichtungsgeschichte integriert. 47 Wie tief die Wirkung Benjamins schon auf diese erste, alles folgende präludierende Arbeit ist, zeigt sich sogleich in der einleitenden Rede von der Erhebung des »Theater(s) zum blutigen Schaugerüst, der Leiche zum emblematischen Requisit« im Werk des Gryphius. 48 Gleichwohl ist die Richtung der Argumentation durchaus gegenläufig zu Benjamin. Schönes Arbeit ist die erste der großen nachfolgenden und Gryphius gewidmeten, in der die Intaktheit der christlichen Lehre und vor allem ihre nach wie vor stil- wie gehaltprägende Kraft für das dichterische Werk durchgängig aufgewiesen wird. Gegen Frickes These merklicher Lockerung des Bewußtseins von Transzendenz zielt die Argumentation vor allem, rührt jedoch natürlich auch an die Fundamente des Benjaminschen Werkes. Entschieden besteht Schöne auf der Filiation stoischer und christlicher Elemente im Märtyrertum, wie dieses seine reinste Ausprägung für Schöne im Drama »Carolus Stuardus« fand, weil es zugleich als postifigurale Gestaltung des Leidens und Sterbens Christi begriffen wird. Eben diese praefiguratio der Passion Christi für die des barocken Märtyrers hatte Benjamin entdeckt, mit seiner Rede vom unchristlichen Leiden des Stoikers nach Schöne jedoch zumindest zurückgenommen, wo nicht dementiert. 49 Schon in der Carolus-Stuardus-Abhandlung erfolgt im Namen emblematischer bzw. figuraler Gestaltungsprinzipien die Ablehnung der konstitutiven Rolle der Allegorie für das barocke Trauerspiel, wie sie Benjamin vorgenommen hatte. 50 In welch eminentem Maße das barocke Trauerspiel (wie alle anderen barocken Gattungen) von emblematischen Strukturen geprägt ist, zeigt dann »Emblematik und Drama« (1964).51 Hier ist nicht der Ort, die von Schöne unter dem Titel der »potentiellen Faktizität« und »ideellen Priorität« des Emblems vorgenommene Sonderung von der Allegorie erneut zu diskutieren. 52 Entscheidend bleibt unter rezeptionshistorischem Aspekt, daß die überaus fruchtbare, an Schönes Werk sich anschließende Emblematik-Forschung in der Regel den Weg zu Benjamin selbst nicht zurückfand, so daß eine neuerliche Sperre der Rezeption errichtet zu sein schien. 53 Schöne selbst 47

48 49 50 51

52

53

70

Albrecht Schöne, Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen: Vanderthoeck und Ruprecht 1958 (Palaestra 226), 2. Überarb. u. erg. Aufl. 1968. Das hier einschlägige erste Kapitel »Figurale [ab 1968: Postfigurale] Gestaltung. Andreas Gryphius« wiederabgedruckt in: Die Dramen des Andreas Gryphius, eine Sammlung von Einzelinterpretationen, ed. Gerhard Kaiser, Stuttgart: Metzler 1968, pp. 117-169 (hiernach zitiert). Op. cit. p. 121. Op.cit. p. 142, n.53. Op. cit. p. 166ss. Albrecht Schöne, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München: Beck 1964, 2., überarb. u. erg. Aufl. 1968. Vorabdruck des einschlägigen theoretischen Kapitels unter dem Titel: Emblemata. Versuch einer Einführung, in: DVjs 37 (1963) 197-231; eingegangen in: Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst, I.e. pp. IX—XXVII. Cf. Schöne, Emblemata. Versuch einer Einführung, I.e. p.206, bzw. ders., Emblematik und Drama, I.e. p.28. Das gilt freilich auch für Werke, die den Allegorie-Begriff beibehalten. Dietrich Walter Jons, Das »Sinnen-Bild«. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius, Stuttgart: Metzler 1966 (Germanistische Abhandlungen 13). z.B. nennt das Werk Benjamins an einer einzigen Stelle, im Literaturverzeichnis.

hatte zu Ende des ersten Kapitels »mit Nachdruck« auf Benjamins Werk verwiesen, ohne die Detail-Auseinandersetzung im folgenden mit seinem Vorgänger zu suchen. 54 In der Tat sind die Parallelen - ungeachtet der hier gleichfalls nicht zu diskutierenden divergierenden Einschätzungen des Fortlebens mittelalterlicher allegorischer Denkprinzipien im 16. und 17. Jahrhundert — frappierend. »Zweigliedrige Stilfiguren«, »Sentenzen«, »Abhandlungen und Reyen«, »Stille Vorstellungen«, »Doppeltitel«, so lauten die Zwischenüberschriften in dem zentralen Kapitel zur »emblematischen Struktur im dramatischen Werk« bei Schöne. 55 »Die allegorische Person«, »Das allegorische Zwischenspiel«, »Titel und Sentenzen«, »Der Alexandriner«, »Sprachzerstückelung« wählt Benjamin u.a. als Kolumnentitel zur Charakteristik der durchgängig allegorischen Struktur des barocken Trauerspiels. Hier sind bis in die mikrologische Feinstruktur hinein identische Ergebnisse in der Analyse erarbeitet worden, deren Koinzidenz ungeachtet der divergierenden Nomenklatur — Allegorie dort, Emblem hier — nachdrücklich in Erinnerung zu rufen ist. Die geistige Grundlegung der so überaus ertragreichen Emblematikforschung ist unter dem Titel der Allegorie von Benjamin in den zwanziger Jahren antizipiert worden. Eingehend hat sich dann auch Hans-Jürgen Schings in seiner rasch bekannt gewordenen, wichtige neue Stoffschichten und Traditionslinien erschließenden Studie über die »patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius« mit Benjamins Werk bekannt gemacht. 56 Konstatiert er, daß die fruchtbarsten Impulse in der Gryphius-Forschung vielfach von den Arbeiten ausgingen, die Gryphius aus der zukünftigen historischen Perspektive betrachteten — Stichworte: »Säkularisation«, »Idealismus«, »Neue Philolosophie« —, so gewinnt die neuerliche energische Rückwendung zu den stoischen und patristischen Determinanten des Gryphiusschen Werkes zugleich einen programmatischen gegenläufigen Charakter. 57 Sie betrifft auch das Benjaminsche Werk als Zeugnis der Säkularisations-These. Natürlich gilt ja uneingeschränkt: »Der Ausblick auf die Transzendenz gehört konstitutiv zur Struktur dieser sich vor dem Tode erfüllenden Selbsterkenntnis«. 58 Und gewiß ist richtig, daß sich die Klage über die Trostlosigkeit des Irdischen immer schon vom transzendenten Ausblick nährt. 59 Die Frage aber doch, die Benjamin zu lösen sucht, ist die nach der historisch einmaligen Relation, in die Immanenz und Transzendenz im Barock rücken. Das »Weltchaos nimmt sich in seinen heilsgeschichtlichen Sinn zurück«. 60 Gleichwohl hat Heilsgeschichte einen gänzlich neuen Sinn im 17. Jahrhundert gewonnen; eben darum wird es Benjamin genau 54

Schöne, Emblematik und Drama, I.e. p. 14, n. 2. In der Einführung aus dem Jahr 1963 fehlte der Name Benjamin noch. 55 Op. cit. p. 139ss. 56 Hans-Jürgen Schings, Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen, Köln/Graz: Böhlau 1966 (Kölner Germanistische Studien 2). 57 Op.cit. p. 13s. 58 Op.cit. p. 80. 39 Op. cit. p. 142s. 60 Op.cit. p. 167.

71

so gehen wie um die neue geschichtsphilosophische Fundierung der alten Lehre vom vierfachen Schriftsinn und ihrer »ungebrochenen Deutungskraft« in der allegorischen Praxis des Barock. 61 Eine hervorhebenswerte Adaptation des Benjaminschen Werkes in überzeugender geschichtsphilosophischer Manier ist aus dem Umkreis der Schule Wilhelm Emrichs hervorgegangen. 62 Gerhard Speilerbergs Untersuchung »Verhängnis und Geschichte« beschränkt sich nicht auf eine knappe Stellungnahme zu zentralen Theoremen Benjamins, die ohnehin, sofern sie aus der dialektischen Konfiguration herausgelöst werden, um ihren — vielfach entscheidenden — kontrastiven Aspekt gebracht sind. 63 Spellerberg erschließt im Gegenteil mit Hilfe einschlägiger 61

Op.cit. p.105. Es gehört zu den noblen und sympathischen Zügen des Schingschen Werkes, Benjamins Trauerspielbuch im ganzen vorwiegend zustimmend einzuarbeiten. Unerklärlich bleibt, warum gerade die — u. a. durch die Warburg-Schule hervorragend abgestützte - These Benjamins von der christlichen Fixierung und frommen Mortifikation der dämonischen heidnischen Götter im Frühmittelalter für Schings nicht akzeptabel ist (op.cit. p. 100, n.30). Cf. auch die Benjamin-Kritik bei Schings, Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, in: Handbuch des deutschen Dramas, ed. Walter Hinck, Düsseldorf: Bagel 1980, pp.48—60, p.54s. (Psychologisierung der vanitasIdee als Dokument auswegloser Verzweiflung, Fundierung der Allegorie in der Verfassung von Melancholie, von Trauer). - Prinzipiell auf der gleichen Linie auch die Benjamin-Distanzierung bei Gerhard Kaiser, Leo Armenius. Das Weihnachtsdrama des Andreas Gryphius, in: Poetica 1 (1967) 333-359, durchges. u. erw. Fassung in: Die Dramen des Andreas Gryphius, I.e. pp.3-34. Kaiser deutet Gryphius' Erstling - analog zur Carolus-Stuardus-Auslegung von Schöne — »als eine geheime Wederholung des Weihnachtsereignisses [...]: die Vermischung von Fleisch und Blut des Kaisers mit Fleisch und Blut Christi unter der Gestalt von Hostie und Meßwein« (27). Dementsprechend wehrt er Benjamins Versuch einer Vermittlung von Märtyrer und Tyrann ebenso ab wie dessen ImmanenzThese (cf. p.23, n.30) sowie die damit wiederum zusammenhängende des Ausfalls von Eschatologie (p.33, n.38). Die von Kaiser konstatierten Widersprüche wollen als dialektische Leseanweisungen zu Ende gedacht sein.

62

Emrich gehörte bekanntlich zu den Teilnehmern des Seminars über Benjamins Trauerspielbuch, das der soeben habilitierte Theodor W. Adorno im Sommersemester 1932 in Frankfurt abhielt. Cf. Benjamin, G.S. I, 3, I.e. p.902. Dazu jetzt die wichtige Entdeckung Brodersens, mitgeteilt in der taz vom 4. März 1986: »Ein Idealist mit Einschränkung«. Ein Seminar zu Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels. 63 Gerhard Spellerberg, Verhängnis und Geschichte. Untersuchungen zu den Trauerspielen und dem »Arminius«-Roman Daniel Caspers von Lohenstein, Bad Homburg/Berlin/ Zürich: Gehlen 1970. — Im übrigen ist Benjamin seit der Mitte der sechziger Jahre prinzipiell in der Debatte um das barocke Trauerspiel präsent, stets jedoch nur in einzelnen Elementen seiner schwerlich auszuschöpfenden Schrift und kaum je in dem Bemühen, die bewußt »zweigliedrige« dialektische Figuration (cf. Bernd Witte, Bilder der Endzeit. Zu einem authentischen Text der Berliner Kindheit von Walter Benjamin, in: DVjs. 58 (1984) 570—592, p.582) im denkenden Nachvollzug zu synthetisieren. Vielfach zustimmend — und nur in Einzelheiten historisch abschattend — die wichtige Arbeit von Wilhelm Vößkamp, Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn: Bouvier 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1). Cf. vor allem das Kapitel »Zeit und Geschichte im historischen Trauerspiel« p. 116ss. Ähnlich Götz Großklaus, Zeitentwurf und Zeitgestaltung in den Trauerspielen des Andreas Gryphius, Diss. phil. Freiburg 1966. Der Ersatz der Kategorie des Allegorischen durch die von Wahrheit und Wirklichkeit in: Werner Eggers, Wirklichkeit und Wahrheit im Trauer-

72

Benjaminscher Kategorien signifikante Befunde an dem seltener behandelten Textcorpus der Lohensteinschen Dramen. Auch hier verbietet sich die Darstellung von Einzelheiten und insbesondere die Diskussion der geschichtsphilosophischen Dimension, die Speilerberg als erster und wie man wird sagen dürfen: in faszinierender Weise freigelegt hat. Das beginnt bei einer Bestätigung der konstitutiven Funktion der Reyen auch im Lohensteinschen Werk, wie sie Benjamin als erster sah, sowie der Weiterentwicklung des Benjaminschen Gedankens, daß Geschichte unter dem Gesetz der gefallenen Kreatur sich entfalte (demgegenüber das Ideal paradiesischer Zeitlosigkeit exponiert ist), setzt sich fort in der — in dieser Form erstmals — am geschichtlichen Material bewährten These Benjamins vom Souverän qua Kreatur als Märtyrer und Tyrann und der damit einhergehenden Parallelisierung von Natur und Sittlichkeit bzw. der entsprechenden Opposition von Geschichte und Tugend und reicht bis zur überzeugenden Bemühung, der so häufig zurückgewiesenen Immanenz-Theorie des barocken Trauerspiels ihren tieferen Sinn zu entlocken. 64 Hier ist ein Weg beschritten, aus dem Zentrum der gegenwärtigen Barock-Diskussion heraus Benjamin wirklich produktiv zu verwenden. Das Resultat sollte zu weiteren Versuchen ermutigen.

spiel von Andreas Gryphius, Heidelberg: Winter 1967 (Probleme der Dichtung 9) p. 13s., überzeugt schwerlich. Dagegen hat Gerd Hillen, auf Benjamin fußend, das Allegorische als Formprinzip in Gryphius' »Cardenio und Celinde« überzeugend dargetan: Andreas Gryphius' »Cardenio und Celinde«. Zur Erscheinungsform und Funktion der Allegorie in den GryphischenTrauerspielen, The Hague/Paris: Mouton 1971 (De Proprietatibus Litterarum 45). — In Klaus Ziegler, Das deutsche Drama der Neuzeit, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2. überarb. Aufl., ed. Wolfgang Stammler, Vol.II, Berlin: Schmidt 1960, ist die Arbeit Benjamins speziell fürs Barock-Trauerspiel nicht ausgewertet worden. Cf. dagegen Friedrich Sengle, Das deutsche Geschichtsdrama. Geschichte eines literarischen Mythos, Stuttgart: Metzler 1952, pp.7—11. Und eine letzte Stimme: Noch vierzig Jahre nach Erscheinen des Trauerspielbuchs glaubt sich Manfred Durzak, Walter Benjamin und die Literaturwissenschaft, in: Monatshefte für deutschen Unterricht 58 (1966) 217—231, zur Beantwortung der Frage genötigt, »ob Benjamin ein legitimer Platz in der Literaturwissenschaft zukommt und ob darüber hinaus in seinem Werk Ansätze verborgen sind, die für die Entwicklung der gegenwärtigen Literaturwissenschaft wichtig sein könnten« (219). Die halbherzige, eigentlich nur einem knappen Referat des Trauerspielbuchs geschuldete Antwort: »Mißt man seine Trauerspiel-Abhandlung [...] in der Vielzahl ihrer Einsichten mit den Ergebnissen der >philologisch< arbeitenden Barockforschung, so fällt der Vergleich wohl zugunsten Benjamins aus. Denn im wesentlichen lassen sich in der traditionellen Barockforschung zwei Hauptströmungen registrieren: der vor allem von Cysarz etablierte Begriff der Antithese, des antithetischen Lebensgefühls, und die an Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen orientierten Kategorien, die Fritz Strich in der Festschrift für Franz Muncker [...] zum ersten Mal für den lyrischen Stil des 17. Jahrhunderts fruchtbar zu machen versucht hat. Wellek gibt in seinem Überblick über die Barockforschung >The Concept of Baroque< ein eindringliches Bild, obwohl er Benjamin interessanterweise nicht erwähnt. Auf diesem Hintergrund behauptet sich Benjamins Trauerspiel-Abhandlung durchaus in ihrem Ertrag.« (228). Aber bildet eine auf Wölfflin, Strich und Cysarz fixierte »philologische« Barockforschung 1966 noch den angemessenen Kontrast zu Benjamin? 64

Speilerberg, Verhängnis und Geschichte, I.e. p. 190ss. 73

Eines besonderen und nachdrücklichen Hinweises bedürfen sodann die dem europäischen und speziell dem deutschen Märtyrerdrama gewidmeten Arbeiten von Elida Maria Szarota. 6 5 In ihnen beweist die Verfasserin das gleiche Gespür für den aktuellen Zeitgehalt des Dramas, das sie schon in so eindrucksvoller Weise in ihrer bahnbrechenden historisch-politischen Dechiffrierung des Lohensteinschen »Arminius« geleitet hatte. 6 6 Die vielen erhellenden, nun auch die Welt des Dramas für die der Politik aufschließenden Analogien können hier nicht besprochen werden. Verblüffend — und nur an einem einzigen Beispiel anzudeuten — ist vielmehr die vielfache Koinzidenz mit Benjamin. Szarota bestätigt die von Benjamin beobachtete Verschiebung des Akzents im lutherischen Raum von der sola-fidesTheologie zum vergleichsweise autonomeren stoizistischen Tugend-Ideal; der Stoizismus erscheint in gewissem Sinn als Substitut der von Benjamin konstatierten Leere im Umkreis des Luthertums. 67 Die Wendung, die Szarota sodann einem aktivistischen Stoizismus im politischen Raum verleiht, dürfte schwerlich noch durch Benjamins Werk abzudecken sein, gleichwohl stellt Szarota auch hier einen einleuchtenden Bezug her, der andeutungsweise zeigt, wie Benjaminsche Ideen allemal der produktiven Weiterbildung zuzuführen sind. »Der freie Geist, um den Catharina bis zuletzt kämpft und den sie bis zuletzt verteidigt, ist Gryphius' Deckwort für Catharinas inneres Rebellentum. Catharina lehnt sich auf gegen die Gewalt, die man ihrem Gewissen, ihrem Glauben, ihrem Land, ihrem Sohn, ihrer Person antun will. Sie kann und will keinen Zwang ertragen. Gab es Freiheit, Freiheit des Geistes, des Glaubens, Freiheit von der Tyrannei nur im Tode - dann mußte sie diesen wählen.« 68 Benjamin, so Szarota, »bemerkte ausgezeichnet, daß man in den zahlreichen rebellischen Märtyrern, die einem starren Monarchen gegenübertreten, nirgends einem Hauch revolutionärer Überzeugung begegnet.« 69 Auch Szarota ist weit entfernt davon, diese den Dramen des Gryphius ahistorisch zu unterlegen. Der geheime politische Sinn von Catharinas »Rebellentum« aber ist so triftig aufgewiesen, daß er schwerlich in Frage gestellt werden kann, wenngleich er natürlich unbeweisbar bleibt. Denn woran nährt sich Catharinas Auflehnung? So wie das Georgien Catharinas bedroht ist von der Übermacht Persiens, so das Schlesien des 17. Jahrhunderts von der Übermacht Habsburgs, das nach 1648 den Druck der Rekatholisierung verstärkt, ohne daß im protestantischen Westen ein mächtiger Bundesgenosse zu sehen wäre, so wenig wie Rußland dem bedrängten Georgien zu Hilfe eilt. In diesem Sinn scheint Georgien »viel mehr ein Spiegelbild nur Schlesiens zu sein als ganz Deutschlands« und »Catharina von

65

66

67

68 69

74

Elida Maria Szarota, Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern/München: Francke 1967; dies., Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, Bern/München: Francke 1976. Elida Maria Szarota, Lohensteins Arminius als Zeitroman. Sichtweisen des Spätbarock, Bern/München: Francke 1970. Szarota, Gryphius' Catharina von Georgien, in: dies., Künstler, Grübler und Rebellen, I.e. pp. 190—215, p. 197s. Näheres siehe unten p. llOss. Op.cit. p.201. Op.cit. p.204.

Georgien« folglich »die erste Märtyrertragödie von wirklich >temporärem GehaltBreite des Stoffes< zu finden hofft, (läßt) aus heutiger Sicht ein konstitutives Zwischenglied außer acht: Die dialektische Rettung der Phänomene durch die Idee, also durch die Darstellung ihres Zusammenhangs, ist in Wahrheit, auf andere Weise als bei Benjamin, der Sache selbst, zwar nicht den einzelnen Phänomenen, wohl aber dem einzelnen Werk als einem Ganzen, immanent; dieses ist die konkrete Vermittlung der formalen und materialen Elemente und der Idee, die sich in eben dieser Vermittlung, im nur theoretisch zerlegbaren 70

Op. cit. p. 207s. Op.cit. p.212. 72 Harald Steinhagen, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius, Tübingen: Niemeyer 1977 (Studien zur deutschen Literatur 51). In der neuesten Arbeit von Klaus Reichelt, Barockdrama und Absolutismus. Studien zum deutschen Drama zwischen 1650 und 1700, Frankfurt/M., Bern: Lang 1980 (Arbeiten zur Mittleren deutschen Literatur und Sprache 8) scheint die Spur Benjamins wieder erloschen zu sein. 73 Zur Rezeption Benjamins in der Barockforschung cf. Steinhagens zutreffende Einschätzung op. cit. p. 16s., n. 70. Dazu die wichtige Abhandlung von Steinhagen, Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, in: Formen und Funktionen der Allegorie, Symposion Wolfenbüttel 1978, ed. Walter Haug, Stuttgart: Metzler 1979 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 3) pp. 666—685, p. 666s. (Cf. auch Speilerberg, Verhängnis und Geschichte, I.e. p. 13, n.22). 71

75

Zusammenhang des Ganzen, manifestiert und anders als in ihrer Realisierung durch das einzelne Werk gar nicht bestimmbar ist.«74 Hier ist nicht der Ort, diese »Ganzheits«-Theorie von Kunst von der der prinzipiellen Nicht-Vollendung der Werke im Sinne Benjamins abzuheben, deren Vollendung geschichtsphilosophischer Reflexion vorbehalten bleibt, wie Steinhagen anderen Orts selbst luzide entwickelt hat. 75 Vielmehr ist hervorzuheben, daß es sich bei Steinhagen um den bisher ersten und einzigen Versuch handelt, die Ergebnisse der ehemals konzentrierten Bemühungen im Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung um die Konstitutionsbedingungen der frühneuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft und Kultur an einer zentralen Gattung des 17. Jahrhunderts und innerhalb ihrer speziell an Hand dreier Dramen des Andreas Gryphius zur Geltung zu bringen und ebenso konsequent zu erproben wie weiterzuentwickeln. Das Resultat ist in jedem Fall bemerkenswert und führt mit innerer Logik an exponierten Stellen zur Gegenposition zu Benjamins Trauerspielbuch. Das kann hier nur angedeutet werden, um den einleitenden Rahmen zu wahren. Niemand innerhalb der deutschen Barockforschung hat das Problem der bürgerlichen Signatur inmitten des höfischen 17. Jahrhunderts so nachdrücklich thematisiert wie Steinhagen. Damit ist von vornherein wenn nicht ein Gegensatz, so doch ein anderer Ausgangspunkt der Fragestellung gegeben als bei Benjamin, der dem Problem des »bürgerlichen Erbes« aus der Renaissance im Barock im Trauerspielbuch noch so gut wie gar nicht nachgeht. Rückgreifend auf die großen Gewährsleute der zwanziger Jahre, aber auch auf die moderne Hispanistik (vertreten etwa durch Gerhart Schröder) deutet Steinhagen den im Hof sich spiegelnden und verdichtenden Status durchgehender Unsicherheit und Unübersehbarkeit der Welt, welcher die Gestalten zu Verschlagenheit und Verschlossenheit auf der einen, Treue zu sich und damit zwangsläufig zu Martyrium auf der anderen Seite verhält, als Konsequenz jener mit der frühkapitalistischen bürgerlichen Welt zunehmend sich ausbreitenden Entwertung der Wirklichkeit, welche durch den über ihr sich erhebenden absolutistischen Staat und sein Ordnungsversprechen keineswegs zu kompensieren ist. 76 Indem die Akteure »ihre eigenen Zwecke verfolgen, ist die Unberechenbarkeit keine andere als die der übrigen Beteiligten: Indem sie ihre wirklichen Motive, Absichten und Ziele vor den anderen verbergen, ihr äußeres Verhalten als taktische Verstellung einsetzen — auf diese Weise wird die Unberechenbarkeit der anderen durch die eigene Unberechenbarkeit ausgeglichen — und so egoistisch ihren Vorteil auf Kosten der anderen suchen, verbreiten sie als isolierte, in sich verschlossene Einzelne ein Klima der Orientierungslosigkeit, des Mißtrauens, der ungehemmten Konkurrenz und der nur notdürftig übertünchten Feindschaft, dem sich jeder anpassen muß, um zu überleben und sich selbst zu behaupten. [...] Ist das Wesen dieser Verschlossenheit 74 75 76

76

Steinhagen, Wirklichkeit und Handeln, I.e. p. 17. Steinhagen, Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, I.e. p.667ss. Dazu die bekannten Arbeiten von Horkheimer, Borkenau, Groethuysen, Kofler u. a. Von Gerhart Schröder vor allem: Graciän und die spanische Moralistik, in: Renaissance und Barock, II. Teil, ed. August Buck, Frankfurt/M.: Athenaion 1972 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 10) pp. 257-279).

der Individuen, die nicht einmal durch die Folter gebrochen werden kann, Nichtidentität — die Differenz zwischen Innen und Außen, das bewußte Verbergen der eigenen egoistischen Absichten unter dem Schein eines äußerlich normalen Verhaltens —, dann erweist sich die Welt dieses Dramas unabhängig davon, daß es am Hof von Byzanz spielt, am spezifischen Verhaltensmodus der Individuen in ihrer gesellschaftlichen Substanz als eine bürgerliche.« 77 Die Diskussion dieser Theorie und ihrer möglichen Vermittlung mit einer in eine andere Richtung führenden bürgerlich-gelehrter Mentalität in der Dichtung der Frühen Neuzeit und speziell der deutschen Barockdichtung des 17. Jahrhunderts steht aus. 78 Entscheidend mit Blick auf Benjamin ist der Umstand, daß Steinhagen vor diesem Hintergrund eine weiterführende Bestimmung des Märtyrertums gelingt, in der die geistesgeschichtlichen Klischees »neuzeitlichen« Menschentums im Drama des Gryphius überwunden sind, gleichwohl die geschichtliche Novität dieser Existenzform klar konturiert bleibt. Steinhagen nämlich gibt der — in der Forschungsliteratur bekanntlich überall konstatierten und auch von Benjamin nachdrücklich akzentuierten — neostoizistischen Komponente im barocken Trauerspiel und speziell des Gryphius die besondere Wendung, daß er sie nicht nur als modernste und tendenziell die konfessionellen Bastionen übergreifende apostrophiert, sondern auch im heroischen Widerstand gegen die verfehlte »höfisch-bürgerliche« Realität die Spur der Hoffnung einer dereinst solidarischen menschlichen Praxis entziffert, die den Märtyrer nicht länger zwangsläufig in den Tod treiben würde, sondern innerhalb derer er sein Bestes zugleich im Allgemeinen aufgehoben und geborgen wüßte. »Der immanente Sinn der praktisch im Leben bewährten theoretischen Negation des Lebens ist also die Aufhebung des gesellschaftlichen Naturzustandes, des Kampfes aller gegen alle, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, in dem der egoistisch in sich zentrierte Selbsterhaltungstrieb und die blinde Existenzangst - sie kennt nur die Alternative: Überleben oder Untergehen, Erfolg oder Scheitern — das Handeln der Menschen bestimmen, ist letztlich das erhoffte Ende der naturwüchsigen Geschichte, das zugleich den Gegensatz von Zeit und Ewigkeit aufhebt.« 79 Von daher rücken Märtyrer und Tyrann für 77 78

79

Steinhagen, Wirklichkeit und Handeln, I.e. p.57ss. Cf. Klaus Garber, Gibt es eine bürgerliche Literatur im Deutschland des 17. Jahrhunderts. Eine Stellungnahme zu Dieter Breuers gleichnamigem Aufsatz, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 31 (1981) 462—470; ders., Der Autor im 17. Jahrhundert, in: Lili 11, H.42 (1981) 29—45; ders., Zur Statuskonkurrenz von Adel und gelehrtem Bürgertum im theoretischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts. Veit Ludwig von Seckendorffs »Teutscher Fürstenstaat« und die deutsche »Barockliteratur«, in: Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts, ed. Elger Blühm, Jörn Garber, Klaus Garber, Amsterdam: Rodopi 1982 (Daphnis 11) 115—143; ders., Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas, in: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Vol. I—III, ed. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart: Metzler 1982, II, 3 7 - 8 1 , p. 58ss.; ders., Gelehrtenadel und feudalabsolutistischer Staat. Zehn Thesen zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der »Intelligenz« in der Frühen Neuzeit, in: Kultur zwischen Bürgertum und Volk, ed. Jutta Held, Berün 1983 (Argument-Sonderband 103) 3 1 - 4 3 . Steinhagen, Wirklichkeit und Handeln, I.e. p. 197s.

77

Steinhagen im Gegensatz zu Benjamin denkbar weit auseinander, verkörpert sich doch im Tyrannen wie im Intriganten jenes egoistische Macht-, Konkurrenz- und Verstellungsprinzip am reinsten, das als schlechtes Allgemeines, als Nicht-Identisches freies, selbstbestimmtes, in Übereinstimmung von innen und außen sich wissendes Handeln immer wieder sabotiert und zum irdischen Scheitern nötigt. »Beide Möglichkeiten sind in den Gryphschen Trauerspielen konkret faßbar, die eine in der Gestalt des Tyrannen und des Intriganten, die andere in der Gestalt des Märtyrers, zumal Papinians, den eben jene offen und ohne Verstellung praktizierte, d. h. allgemein vermittelte Identität in Denken, Reden und Handeln besonders auszeichnet. Gerade die Vorbildlichkeit der Märtyrerfiguren, in der die didaktische Intention des Autors greifbar ist, nötigt dazu, ihr singuläres Verhalten allgemein zu denken: Solange es Ausnahme bleibt, ist der Tod die unvermeidbare Konsequenz; würde es zur Regel, dann wäre, selbst wenn der Autor diese Konsequenz nicht zu denken gewagt hätte, die Utopie, in der Sprache der Häretiker: das Reich Gottes auf Erden nicht mehr fern.« 80 Daß Steinhagen von daher den von Benjamin angedeuteten Bogen zum Schicksalsdrama nicht akzeptieren kann, liegt auf der Hand, wird doch im Märtyrer das Fortleben der Erbsünde und damit Schicksal ganz im Sinne Benjamins sistiert, göttliches Leben jenseits der Naturverfallenheit inauguriert. Auf der anderen Seite erfährt die Benjaminsche Immanenz-These, fast nur abgelehnt, ihre überraschendste Aktualisierung unter der Reich-GottesIdee, wie sie eben nicht im Umkreis des Luthertums, sondern in den an den Rand gedrängten Täufer- und Sektenbewegungen ihre Heimstatt besaß und denen Steinhagen das Drama eines Gryphius seinem objektiven geschichtlichen Gehalt nach unter Anknüpfung an gewisse diesbezügliche Forschungstraditionen erneut annähert. Wenn die Personen des Dramas »Christus nicht nur äußerlich nachfolgen, sondern in der theoretischen Negation des Lebens um der besseren Praxis willen mit ihm identisch werden, selbst das sind, was er war, dann ersetzt das Drama letztlich die überlieferte Vörbildlichkeit Christi, ohne diesen ketzerischen Gedanken auch nur mit einem Wort anzudeuten, durch die reale Vorbildlichkeit der lebenden Menschen und zeigt damit nicht nur, daß die imitatio Christi, d.h. die Verwirklichung des göttlichen Willens, real möglich ist, sondern demonstriert zugleich, welche utopische Konsequenzen sie, unter veränderten geschichtlichen Bedingungen allgemein praktiziert, in der Realität haben müßte: statt Leiden und Tod im irdischen Jammertal Versöhnung und Glück in einem Reich Gottes auf Erden.« 81 Daß darin zugleich Steinhagens Antwort auf das Problem des figural-emblematischen Prinzips sich abzeichnet, wie sie unter anderen Voraussetzungen in seiner Benjamin gewidmeten Allegorie-Studie entfaltet wird, dürfte evident sein. Auseinandersetzungen auf diesem Niveau mit Benjamin sind nur aus der Vertrautheit gleichermaßen mit den materialen Problemen der Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts wie mit den sozial- und geschichtsphilosophischen sowie den ästhetischen Fragestellungen aus dem Umkreis Benjamins möglich. Deshalb 80 81

78

Op.cit. p.285. Op.cit. p.205s.

haben Arbeiten, die nur vom Barock herkommen in der Regel genau so wenig Chancen wie solche, die nur Benjamin, nicht aber die hinter ihm stehenden geschichtlichen Traditionen zumal der Frühen Neuzeit kennen. Letzteres zeigt sich sogleich in der bisher einzigen Monographie über das Trauerspielbuch, die allein aus dem Umgang mit Benjamin und seinen Gewährsleuten erwachsen ist: Michael Rumpf, Spekulative Literaturtheorie, zu Walter Benjamins Trauerspielbuch. 82 Wie in seinem auf Benjamin bezogenen »Forschungsbericht«, so hat Rumpf auch in seiner Monographie zum Trauerspielbuch die entmystifizierende Wahrheit über Benjamin in den ersten Sätzen für seine Leser parat: »Die vorliegende Untersuchung befaßt sich mit Walter Benjamins Trauerspielbuch und seinen vielfältigen Teilgebieten, um an ihm exemplarisch Methodik und Ergebnisse einer spekulativen Literaturwissenschaft zu kritisieren, die sich, philosophisch verbrämt, der literaturhistorischen Gegenstände nur in der Absicht bemächtigt, sie für bereits feststehende metaphysische Wahrheiten als Demonstrationsmaterial zu benutzen. Wenn Benjamin die Dramen deutscher Barockautoren behandelt, so überwiegen sachfremde Interessen, so daß seine Untersuchung bereits zum Zeitpunkt ihres Entstehens zu in wichtigen Partien unhaltbaren Resultaten gelangt. Dies will die vorliegende Arbeit belegen und Benjamins Erkenntnisse überdies mit dem heute verfügbaren Wissensstand konfrontieren. Denn die Art und Weise, in der Benjamin große Gelehrsamkeit, zumal auf Spezialgebieten wie dem deutschen Literaturbarock, in den Dienst weltanschaulicher Konzepte stellt, die dem verächtlichen bloßen Faktenwissen überlegen sein sollen, ist symptomatisch nicht nur für seine eigenen Schriften im allgemeinen, sondern darüber hinaus für eine lange Tradition innerhalb des deutschen Geisteslebens.« 83 Ausdrücklich geht es Rumpf darum, »den philosophischen und vor allem den literaturwissenschaftlichen Gehalt des Trauerspielbuchs zu überprüfen und so das Urteil über es auf eine gegründete Basis zu stellen.«84 Das Resultat der nicht auf die erkenntnistheoretische Vorrede, sondern durchaus auf die materialen Teile der Arbeit sich erstreckenden »Analyse«? Sie steht unter den Auspizien eines vermeintlich gestrengen, in Wahrheit ahnungslosen Zensors, der sich befugt glaubt, einen unbotmäßigen Autor post festum zu Raison und Ordnung rufen und derart das Gefälle des intellektuellen Niveaus ausgleichen zu dürfen. Damit ist nicht gesagt, daß der Autor nicht wiederholt diskussionswürdige Probleme des Benjaminschen Buches berührt. Die Art jedoch, wie diese zunächst trivialisierend eingeführt und sodann der jeweils sich anschließenden »Kritik« zuungunsten Benjamins unterworfen werden, ist mit allem Nachdruck abzulehnen. Rumpf wird der vielfach vermittelten Darstellung Benjamins in der Extrapolation schlichter Resultate auch nicht annähernd gerecht und kennt sich zudem in der Barockforschung viel zu mangelhaft aus, als daß er nicht zur unkritischen Übernahme von Ergebnissen genötigt wäre, die anschließend sodann

82

83 84

Michael Rumpf, Spekulative Literaturtheorie. Zu Walter Benjamins Trauerspielbuch, Königstein/Ts.: Athenäum 1980 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft 49). Op.cit. p.9. Zu Rumpfs Benjamin-Forschungsbericht cf. unten p. 162. Op.cit. p. 13.

79

seine dequalifizierenden Urteile legitimieren müssen. Betrachten wir ein einziges von vielen möglichen Beispielen in aller gebotenen Kürze! Melancholie- und Allegorie-Theorie sind in Benjamins Werk bekanntlich aufs engste verklammert, dementsprechend widmet Rumpf ihnen zwei längere Abschnitte. 85 Wirft Rumpf in pedantischer Manier Benjamin vor, daß er für sein Bild des Melancholikers eindeutigere und reichhaltigere, zumal aus den Emblembüchern geschöpfte Belege hätte beibringen können (als ginge es darum, das Eindeutige nochmals zu zitieren und zu interpretieren, statt das Rätselhafte zu entziffern) und überhaupt von einem scharf konturierten Melancholie-Begriff hätte ausgehen müssen (das definitorische Ideal, von Benjamin gerade verabschiedet, als Basis der Kritik), so erschöpft sich seine Allegorie-Intervention darin, die »opinio communis« über den »Unterschied zwischen Allegorie und Emblem« zu repetieren und zum Fundament seiner Kritik an dem nahezu unterschiedslosen Gebrauch beider Begriffe im Werk Benjamins zu erheben. 86 Die gesamte diesbezügliche und oben angedeutete Debatte um die Rechtmäßigkeit einer weiterreichenden begrifflichen und sachlichen Distinktion zwischen Emblem und Allegorie wird großzügig übersprungen, die herrschende Lehrmeinung aufgegriffen und die Wahrheit im schlichten begrifflichen Purismus gesucht. Fazit: »Benjamins Deutung der Allegorie, oft als zentrale Leistung seines Barockbuchs gewürdigt, zeigt gravierende Mängel: 1. sie verwischt ohne Notwendigkeit die Grenzen zwischen den Begriffen Allegorie, Allegorese, Emblem. 2. sie vermischt historische Aussagen über die barocke Allegorie und philosophische Aussagen über die Verfahrensweise der Allegorie, welche epochenunabhängig gelten sollen. 3. sie verknüpft die Kritik an der allegorischen Bedeutung mit einer Kritik am Wissen überhaupt, die der Spekulation Tür und Tor öffnet. 4. sie offeriert Andeutungen über mystische Zusammenhänge zwischen Schrift und Laut, deren Einlösung sie eingestandenermaßen schuldig bleibt. [...] Benjamin wußte, warum er sich gegen die Zudringlichkeit der Wissenschaft verwahrte, das schöne Kind, das er in seinem Buch versteckt, ist nicht lebensfähig und seinen Biß wird es so wenig anbringen wie die Wissenschaft an Benjamins Ohrfeige leiden wird. Sicherlich ist für denjenigen, der zum göttlichen Wesen der Dinge Zugang hat, wissenschaftliche Mühsal nur menschlicher Tand, aber für denjenigen, dem der Zugang verschlossen ist, bleibt sie weiterhin die einzige Möglichkeit. Sicherlich war sie vor dem Sündenfall nicht notwendig, aber genau so sicher ist sie nach Benjamins Ideenschau um so notwendiger.« 87 Muß noch gesagt werden, daß diese Form der Adaptation des Trauerspielbuchs der über weite Strecken unzulänglichen und mißglückten Rezeption Benjamins im Umkreis der Barockforschung ein beschämendes Kapitel aus der neueren Benjamin-Forschung hinzufügt, geeignet, die wirkliche, sachlich fundierte Integration des Trauerspielbuchs 85

Op.cit. p.78ss., p.95ss. Op.cit. p.95. 87 Op.cit. p. 119 u. p. 123s. 86

80

in die Exegese des Benjaminschen œuvres ebenso zu verhindern wie die Vermittlung von aktueller Barock-Philologie und Benjaminscher Theorie? So mag es angebracht sein, dem Benjaminschen Werk erneut die Aufmerksamkeit dessen entgegenzubringen, der bereit und willens sein muß, die eigenen produktiven Interessen an der historischen Profilierung des Bildes der Barock-Epoche in die Rezeption eines der großen Dokumente ihrer Rettung einzubringen, wohl wissend, daß die Auseinandersetzung mit Benjamin so lange statthaben wird, wie es einen von lebendigen Impulsen inspirierten Dialog mit dem 17. Jahrhundert gibt.

2. Konfession, Politik und Geschichtsphilosophie im »Ursprung des deutschen Trauerspiels«

Benjamins berühmt-berüchtigte erkenntniskritische Vorrede endet im Anschluß an die Theorie der Nachgeschichte der Werke mit einer Skizze zur Rezeption des sog. »Literaturbarock«. 88 Die drei bisher so gut wie nicht beachteten Abschnitte — Mißachtung und Mißdeutung der Barocktragödie, >Würdigungbarockenerkenntniskritischen Vorrede< zum U r sprung des deutschen TrauerspielsBarock< nirgends manifest geworden ist - der Ausdruck begegnet sogar für die bildende Kunst erst im XVIII. Jahrhundert — da die klare, laute, kriegerische Proklamation nicht Sache von Literaten war, denen höfischer Ton als Muster im Sinne lag, so wollte man auch später diesem Blatte der deutschen Literaturgeschichte keine besondere Überschrift zugestehen.« Wohl gemahnen »eine Schwerfälligkeit und trotz allem auch eine Einfalt der Handlung« von fern »an das bürgerliche Stück der deutschen Renaissance«. Und der »Wille zur Klassizität« ist in der Tat ein typisches Renaissance-Element der neuen Dichtung des 17. Jahrhunderts gewesen, »welche sehr unvermittelt sich vor formale Aufgaben gestellt sah, denen sie durch keine Schulung gewachsen war. [...] Im Licht ernsthafter Stilkritik jedoch, der nicht erlaubt ist, das Ganze anders denn in seiner Bestimmtheit durchs Detail ins Auge zu fassen, treten die renaissancefremden, um nicht zu sagen die barocken Züge allerorten, von der Sprache und dem Gehaben der Handelnden bis zur Bühneneinrichtung und Stoffwahl hervor.«113 Dieser genuinen dramatischen Ausprägung des 17. Jahrhunderts durch gleichermaßen philosophische wie historisch-philologische Analysis ihr ästhetisches Recht zu sichern, ihr Singuläres eben nicht stiltypologisch einzuebnen, sondern kontrastiv herauszuarbeiten, ist Benjamins Bestreben gewesen, aus dem heraus er sich des Begriffs »Barock« bediente, dessen konstitutive Merkmale, sofern überhaupt an ihm festgehalten werden soll, eben dem Benjaminschen Trauerspielbuch zu entnehmen sind.114 112 113 114

88

Benjamin, Ursprung, I.e. p.236. Op.cit. p.239s. Zur Problematik des »Barock«-Begriffs cf. neben der n. 104 zitierten Aufsatz-Sammlung auch Manfred Brauneck, Deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts — Revision eines Epochenbildes. Ein Forschungsbericht 1945-1970, in: DVjs 45 (1971) 378-468, Sonderheft Forschungsreferate. Demnächst: Klaus Garber, »Barock«-Begriff und »Stadt«-Kultur. Zur Kritik eines Epochenbegriffs am Paradigma der bürgerlich-gelehrten humanistischen

Die vordringlichste Aufgabe einer Theorie des barocken Trauerspiels bestand in der strikten Scheidung von der antiken Tragödie. Die Lösung dieses Problems, zentriert um den mittleren Abschnitt, durchzieht den gesamten ersten Teil. Wird die deutsche Trias Gryphius, Lohenstein, Hallmann vergleichend etwa von Stachel zurückbezogen auf die antike eines Sophokles, Seneca und Aischylos, so mag das nicht mehr sein als ein Indiz müßigen, kraftlosen historistischen Analogisierens im Umkreis des Positivismus. Benjamin findet seinen Einsatz in der Verständnislosigkeit, mit der das Zeitalter der Poetik des Aristoteles und speziell seiner Dramentheorie begegnete. Wird Aristoteles in Anspruch genommen, so nicht, um für die dramatische Produktion Unterweisungen einzuholen — die poetische Praxis schult sich im 17. Jahrhundert an vorgegebenen Mustern, nicht an poetologischen Rezepten oder gar theoretischen Deduktionen —, sondern um »durch die Anerkennung seiner Autorität die Fühlung mit der Renaissancepoetik des Scaliger und damit die Legitimität der eigenen Unternehmungen zu behaupten.« 115 Die Aristotelische Lehre von der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung ist schon für das barocke Schultheater eine allenfalls locker gehandhabte Orientierung gewesen; für das barocke weltliche wie geistliche Theater ist sie schlechterdings nichtig. Kein Zeitalter hat sich ihr weniger gefügt, keines konträrer agiert als eben das 17. Jahrhundert. 116 Mehrdimensionalität und Multitemporalität des Geschehens gehören zu den elementarsten Voraussetzungen der Bühnenpraxis im 17. Jahrhundert. Die Ingredienzien tragischer Wirkung schließlich, cpößog und eXeog, zutiefst dem kultischen Ursprung der antiken Form inhärent, werden in der Interpretation des 17. Jahrhunderts aus neostoizistischem Geist schlicht paränetisch umgemünzt und um die Ataraxia-Lehre des Lipsius gruppiert. »Furcht und Mitleid denkt sie nicht als Anteil am integralen Ganzen der Aktion, sondern als den am Schicksal der markantesten Figuren. Furcht weckt das Ende des Bösewichts, Mitleid dasjenige des frommen Helden. Birken scheint auch diese Definition noch zu klassisch und statt Furcht und Mitleid setzt er Gottes Ehre und die Erbauung der Mitbürger als Zweck der Trauerspiele ein.«117 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis führt die Inspektion der Stoffschicht des Trauerspiels. »Geschichte als Gehalt des Trauerspiels« lautet bekanntlich Benjamins erste materiale Bestimmung der Gattung, zu der die berühmte Tragödientheorie des Opitz den Einsatz liefert. Geschichte als Gegenstand und Gehalt des barocken Trauerspiels — im Gegensatz zur antiken Tragödie, die prinzipiell auf dem vorgeschichtlichen Mythos basiert - manifestiert sich der Anschauung der Zeit gemäß im Souverän als ihrem ersten Exponenten. Schon damit wird die immer wieder behauptete Affinität zwischen Tragödie und Trauerspiel, vermittelt über das könig-

115 116

117

Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt - Kultur — Sozialgefüge, ed. Kersten Krüger, Köln, Wien: Böhlau 1987 (Städteforschung, Veröff. d. Inst. f. Vergl. Städtegesch. in Münster). Benjamin, Ursprung, I.e. p.241. Cf. Richard Alewyn, Karl Sälzle, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg 1959 (rde, Vol.92). Benjamin, Ursprung, I.e. p.241s.

89

liehe bzw. fürstliche Personal, obsolet. »Im Sinn des Opitz ist es nicht die Auseinandersetzung mit Gott und Schicksal, die Vergegenwärtigung einer uralten Vergangenheit, die Schlüssel des lebendigen Volkstums ist, sondern die Bewährung der fürstlichen Tugenden, die Darstellung der fürstlichen Laster, die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und die Handhabung aller politischen Machinationen, welche den Monarchen zur Hauptperson des Trauerspiels bestimmt. Der Souverän als erster Exponent der Geschichte ist nahe daran für ihre Verkörperung zu gelten.«118 Es ist — auch hier darf man inzwischen doch wohl sagen: bekanntlich — das große Verdienst von Benjamin, die Exposition des Souveräns im barocken Trauerspiel auf die zeitgenössische Souveränitätstheorie zurückgeführt und mit dieser vermittelt zu haben. Benjamin hat es (an dieser Stelle wie an anderen des Trauerspielbuchs) nicht als seine Aufgabe angesehen, die Genesis des Souveränitätsgedankens nachzuzeichnen, obgleich der gesamte Problemkomplex wie kaum ein anderer geeignet gewesen wäre, einen der Kernbereiche seines Werkes, die Theorie der Immanenz bzw. der Säkularisation, entscheidend zu erhärten. 119 Inmitten des voll entfesselten konfessionspolitischen Bürgerkrieges von der gemäßigt katholischen humanistischen noblesse de robe in Frankreich erstmals gedacht, macht es das hervorstechendste Merkmal postkonfessioneller moderner Souveränität aus, daß sie oberhalb aller konfligierender Parteiungen und also auch der konfessionellen Antagonismen situiert ist. Sie setzt diese damit zu partiellen gesellschaftlichen bzw. religiösen Momenten mit relativem Geltungsanspruch herab. Uneingeschränkte Autorität behauptet allein der im Monarchen repräsentierte Staat. Ihm als weltanschaulich wie konfessionell neutraler Institution kommt eben deshalb die Behauptung und ggf. die gewaltsame Durchsetzung des allgemeinen, des »nationalen« Interesses zu, das wesentlich als Garantierecht ungestörter Praktizierung der privatisierten Glaubensüberzeugung und Moralität definiert ist. Damit war - während die Kämpfe noch fast ein Jahrhundert toben sollten — von der späthumanistischen nobilitas literaria zunächst in Frankreich ein respektabler 118 119

90

Op.cit. p.243. Zum folgenden cf. aus der unendlichen Literatur: Carl Schmitt, Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten, in: Deutschland - Frankreich, Vierteljahresschrift des Deutschen Instituts/Paris 1, Nr. 2 (1942) 1—30; Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates, in: Festschrift für Carl Schmitt, ed. Hans Barion e . a . , Berlin: Duncker u. Humblot 1959, pp. 179-219, erweiterte Buchfassung Berlin: Duncker u. Humblot 1962; Staatsraison. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, ed. Roman Schnur, Berlin: Duncker u. Humblot 1975; Klaus Garber, Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy, in: Res publica litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, ed. Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann, Wiesbaden: Harrassowitz 1987 (Wolfenbüttler Arb. z. Barockforschung). Vielfach abweichende französische Version unter dem Titel A propos de la politisation de l'humanisme tardif européen. Jacques Auguste de Thou et le >Cabinet Dupuy< à Paris, in: Le juste et l'injuste à la Renaissance et à l'âge classique, Actes du colloque international tenu à Saint-Etienne du 21 au 23 avril 1983, ed. C. Lauvergnat-Gagnière et B. Yon, Saint-Etienne 1986, pp. 157—177 (Traduction Danielle Laforge).

Ausweg aus der ständischen wie konfessionellen Krise gewiesen, der dem Nimbus des auf Toleranz und Neutralität verpflichteten modernen Staates erheblich zugute kam und im Prinzip das Schicksal der christlichen Konfessionen besiegelte. Nicht die e i n e Religion, sondern der e i n e Staat behauptet sich nach dem Willen der Parlaments-Juristen als das einigende Band zwischen seinen divergierenden Gliedern. Der Appell an die Einheit der Nation jenseits der konfessionellen Diversifikationen, von den Späthumanisten ganz Europas im Wüten des Krieges immer wieder erhoben, hat hier seine Wurzeln. — Benjamin hat einen anderen Weg gewählt. Er bahnt sich den Zugang zur staatsrechtlichen Frage der Souveränität über die unter Katholiken, Lutheranern und Calvinisten kontrovers diskutierte Frage des legitimen Rechts auf Widerstand, speziell die politische Beurteilung und Behandlung des Usurpators. 120 Die überaus geraffte (zugleich jedoch, wie in allen historischen Exkursen des Trauerspielbuchs, überaus gehaltreiche) Skizzierung des Problems akzentuiert das natürliche Interesse des Katholizismus an der rechtmäßigen Beseitigung des — selbstverständlich protestantischen — Usurpators, wie sie im Mord an Heinrich IV. gipfelte, um nach der Paralysierung der ja auf andere Weise durchaus auch vom Calvinismus propagierten Idee der Theokratie die »absolute Unverletzlichkeit des Souveräns«, welche von der Kurie schließlich 1682 durchgefochten war, zu konstatieren. Auf diese von jedweder theokratischen Fessel befreite, uneingeschränkte Souveränität zielt Benjamin ab, weil sie nur in dieser Version als der genaue dialektische Gegenpol zum Ausnahmezustand zu begreifen ist, von dem her sie ihre Berechtigung, um nicht zu sagen ihre Würde empfängt. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« So lautet der erste berühmte Satz aus Carl Schmitts »PolitischerTheologie« (1922), auf den sich Benjamin in seiner »Theorie der Souveränität« explizit stützt.121 Souveränität, so

120

Dazu der wichtige Sammelband Widerstandsrecht, ed. Arthur Kauffmann in Verb. m. Leonhard E. Backmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972 (Wege der Forschung 173), hier Backmann, Bibliographie zum Widerstandsrecht, pp.561—617. 121 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker u. Humblot 31979, p. 11. Aus der inzwischen gleichfalls reichhaltigen Literatur über Schmitt sei hier verwiesen auf: Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart: Enke 1958 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie 3); George Schwab, The Challenge of the Exception. An Introduction to the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, Berlin: Duncker und Humblot 1970; Klaus-Michael Kodalle, Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts »PolitischeTheologie«, Stuttgart etc.: Kohlhammer 1973 (UrbanTaschenbücher 842); Volker Neumann, Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts, Frankfurt/M., New York: Campus 1980 (Campus Forschung 136); zuletzt: Armin Steil, Die imaginäre Revolte. Untersuchungen zur faschistischen Ideologie und ihrer theoretischen Vorbereitung bei Georges Sorel, Carl Schmitt und Ernst Jünger, Marburg: Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswiss. 1984 (Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung 4). Zu Benjamins Verhältnis zu Carl Schmitt: Michael Rumpf, Radikale Theologie. Benjamins Beziehung zu Carl Schmitt, in: Walter Benjamin — Zeitgenosse der Moderne, ed. 91

Schmitt in seiner an Benjamin gemahnenden, gleichwohl davon toto coelo verschiedenen Rede, ist ein Grenzbegriff, was meint, daß er nicht auf den »Normal«-, sondern auf den »Grenzfall« zurückzubeziehen ist.122 Dem Grenzfall, der totalen Paralysierung und Dissoziierung staatlicher Gewalt in Frankreich, verdankte der Begriff seine Existenz. Eben deshalb war er von Bodin so gefaßt worden, daß im Gegensatz zur okkasionellen zeitlich limitierten »Diktatur« das Uneingeschränkte und Immerwährende staatlicher Herrschaftsgewalt in ihm zur Geltung kam (puissance absolue et perpétuelle). Für Schmitt nun ist der Ausnahmezustand nicht der Legitimationsgrund für die rechtlich wie zeitlich begrenzte Diktatur, sondern vielmehr der schrankenlosen Souveränität, in welcher sich — ganz im Gegensatz zur Intention der großen französischen Legisten! - die Diktatur vollendet. Souveränität wird — im Gegensatz zur kommissarisch gedachten Diktatur der alteuropäischen politischen Theorie — nicht erst im Ausnahmezustand wirksam, sondern ist im Gegenteil definiert durch das rechtswirksame Vermögen zur Entscheidung über das Gegebensein des Ausnahmezustands. Dezision ist ein gerade nicht aus der rechtlichen Norm ableitbarer bzw. auf sie zurückführbarer, gleichwohl rechtsgültiger Akt sui generis. Im Handeln inmitten des Grenz- oder Notfalls erweist sich unter Abstreifung jedweder rechtsstaatlicher Fessel nicht nur, wer der Souverän ist, sondern wird zugleich Recht ex nihilo gesetzt. Der Souverän »entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. Alle Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen Entwicklung gehen dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen«.123 Gewiß hat Bodin die Dezision in die Souveränität hineingetragen und diese als unableitbare deklariert, indem er sie auf den Grenzfall ausdehnte, aber eben doch nur als Ausnahme, in der der Rückbezug auf das »Volk«, also auf die Stände und damit die geltenden Gesetze nur momentan dispensiert war. Bei Schmitt hingegen bildet die Ausnahme die Basis für die Statuierung des Begriffs: Souveränität als vollendete bzw. im Sinn der alteuropäischen Politik als überwundene, weil temporär wie legal nicht mehr limitierte Form der Diktatur. Zum Ausnahmezustand gehört die »Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung« — eine Vorstellung, zu der sich die alteuropäische Theorie einschließlich Machiavellis

122 123

92

Peter Gebhardt e . a . , Kronberg/Ts: Scriptor 1976 (Monographien Literaturwissenschaft 30) pp. 3 7 - 5 0 ; Norbert Bolz, Charisma und Souveränität. Carl Schmitt und Walter Benjamin im Schatten Max Webers, in: Religionstheorie und Politische Theologie, ed. Jacob Taubes, Vol.I: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München/Paderborn etc.: Fink/Schöningh 1983, pp.249-262. Cf. auch Klaus-M. Kodalle, Walter Benjamins politischer Dezisionismus im theologischen Kontext. Der »Kirkegaard« unter den spekulativen Materialisten, in: Spiegel und Gleichnis. Festschrift Jacob Taubes, ed. Norbert W. Bolz und Wolfgang Hübner, Würzburg: Königshausen + Neumann 1983, pp. 301-317. Schmitt, Politische Theologie, I.e. p. 11. Op.cit. p. 12s.

nie verstanden hätte. 124 Da Souveränität auch und gerade noch im Ausnahmezustand obwaltet, »besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung«, nicht also Anarchie oder Chaos. »Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes«. 125 Die Norm ist vernichtet, gleichwohl der juristische Rahmen als absoluter, weil rein dezisionistischer und damit überhaupt erst rechtsetzender gewahrt. Normen verlangen nach einem homogenen Medium, in welchem sie in umfassender Geltung zur Anwendung gelangen können; eben dieses ist bei Feststellung des Ausnahmezustandes nicht gegeben. Insofern impliziert eine jede Feststellung des Ausnahmezustandes auch ein politisches Urteil über die Wirklichkeit, das bis an die Schwelle der Moderne in der Regel metaphysisch-theologisch fundiert zu sein pflegt. 126 Eben damit gelangt man in den Kontext, aus dem heraus Benjamin Carl Schmitts Definition der Souveränität seinem Werk integriert. Der Weg führt über den Begriff der »Politischen Theologie«.127 Warum diese Kontamination? Weil der Souveränitäts-Begriff auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert nach Schmitt sein genaues Analogon in der gleichzeitigen Version des Gottesbegriffs besitzt, der staatsrechtlich-politische Mechanismus folglich metaphysisch verankert und zugleich legitimiert ist. Die von Schmitt unter dem programmatischen Titel »Soziologie von Begriffen« praktizierte Methode greift aber noch weiter. Ziel bleibt der systematische Aufweis einer durchgängigen Koinzidenz und Kohärenz der divergenten Lebensbereiche, unter denen die zwischen Theologie und Staatsrecht eine ausgezeichnete ist. Dementsprechend »gehört es zur Soziologie des Souveränitätsbegriffes jener Epoche, zu zeigen, daß der historisch-politische Bestand der Monarchie der gesamten damaligen Bewußtseinslage der westeuropäischen Menschheit [!] entsprach und die juristische Gestaltung der historisch-politischen Wirklichkeit einen Begriff finden konnte, dessen Struktur mit der Struktur metaphysischer Begriffe übereinstimmte. [...] Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffes.« 128 Daß dieses interdisziplinäre — und eben unter diesem Aspekt von Benjamin unter ganz anderen Voraussetzungen ausdrücklich gewürdigte — Verfahren das geschichtlich ohnehin siegreiche Prinzip theologisch noch einmal legitimiert und damit in der Rekonstruktion definitiv ratifiziert, sei nur am Rande vermerkt. Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist der Umstand, daß Schmitt in der »Politischen Theologie« und an vielen anderen Stellen seines Werkes auf den — wie124 125 126

127 128

Op.cit. p. 18. Op.cit. p. 19. Zum ganzen auch die wichtige und signifikante Untersuchung von Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin: Duncker und Humblot 31964. Dazu die in n. 121 zitierte Literatur. Schmitt, Politische Theologie, I.e. p. 59s.

93

derum theologisch begründeten — radikalen Wechsel der Deutung von Wirklichkeit hingewiesen hat, wie er sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert vollzieht und seinerseits begleitet ist vom radikalsten Umschwung der Rechtsvorstellungen in der neueren Zeit. »Die absolute Monarchie hatte in dem Kampf widerstreitender Interessen und Koalitionen die Entscheidung gegeben und dadurch die staatliche Einheit begründet.« 129 Ihr liegt anthropologisch ein durch die Bürgerkriege stets neue Nahrung gewinnendes pessimistisches Menschenbild, theologisch ein vornehmlich im Wunderglauben sich manifestierendes dezisionistisches Gottesbild zugrunde. Souveränität kommt eben in dieser Zeit am reinsten zur Erscheinung, weil sie ihrem Wesen nach weniger Herrschafts- denn Entscheidungs-Monopol ist und der Ausnahmefall in den Bürgerkriegen souveräne Entscheidung angesichts der institutionellen Zerrüttung des Staates wie niemals vor- oder nachher herausforderte. 130 »Der rechtsstaatlichen Doktrin Lockes und dem rationalistischen 18. Jahrhundert (hingegen) war der Ausnahmezustand etwas Inkommensurables. Das lebhafte Bewußtsein von der Bedeutung des Ausnahmefalles, das im Naturrecht des 17. Jahrhunderts herrscht, geht im 18. Jahrhundert, als eine relativ dauernde Ordnung hergestellt war, bald wieder verloren. Für Kant ist das Notrecht überhaupt kein Recht mehr.«131 Die Idee des modernen Rechtsstaats setzt sich ineins mit dem Deismus des 18. Jahrhunderts durch, also »mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Der Rationalismus der Aufklärung verwarf den Ausnahmefall in jeder Form.« 132 An dieser Stelle setzt Benjamin ein. Die Rekonstruktion des Wirklichkeitsbegriffs, wie er im Trauerspiel für das 17. Jahrhundert entwickelt wird, gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer Analytik dieser Schrift, ist doch die gesamte Exposition des Allegoriebegriffs im zweiten Teil des Buches mit ihm verknüpft. Ist Geschichte Gegenstand und Gehalt des Trauerspiels, so in dem ausgezeichneten Sinn, daß man »glaubte, im geschichtlichen Ablauf selbst das Trauerspiel mit Händen zu greifen; es bedürfe nichts weiter als die Worte zu finden.« 133 Der Begriff Trauerspiel hat im 17. Jahrhundert für die Gattung wie für das reale historische Geschehen gleichermaßen Geltung. Dazu 129 130

131 132 133

94

Op.cit. p.62. Daher die Affinität Carl Schmitts zur politischen Theorie von Hobbes. Cf. Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1938, und dazu: Helmut Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes. Ideelle Beziehungen und aktuelle Bedeutung. Mit einer Abhandlung über: Die Frühschriften Carl Schmitts, Berlin: Duncker u. Humblot 1972; Klaus Schulz, Thomas Hobbes und Carl Schmitt. Das Verhältnis von Staatstheorie und Klassenkampf im 17. und 20. Jahrhundert. Eine ideologiekritische Studie, Roskilde 1980 ( = Skriften vra Insitut for historie og samfundsforhold ved Roskilde Universitetscenter 3). Schmitt, Politische Theologie, I.e. p.20. Op.cit. p.49. Benjamin, Ursprung, I.e. p.243.

paßt die von Benjamin herangezogene eindringliche Beobachtung Erdmannsdörffers »fast winselnder Klagetöne«, wie sie in den zeitgenössischen auf den dreißigjährigen Krieg bezogenen Quellen fast überall vernehmbar werden. 134 Dichtung im 17. Jahrhundert und speziell das Trauerspiel nährt sich aus der unmittelbaren Erfahrung der größten geschichtlichen Katastrophe des nachantiken Zeitalters, des blutigen Zusammenpralls der heterogenen christlichen Konfessionen und damit des definitiven Zusammenbruchs der una societas christiana, welcher einherging mit einem bei den Späthumanisten überall zu beobachtenden Schwund christlichen Selbstverständnisses, d.h. verpflichtenden Bewußtseins christlicher Tradition. Benjamin hat diesen Sachverhalt verschiedentlich gestreift, nie jedoch eigens thematisiert; kein Zweifel jedoch, daß er und nur er hinter der von Carl Schmitt übernommenen Rede vom Ausnahmezustand als dem einzig triftigen Ingredienz von Souveränität im 17. Jahrhundert steht. Die extreme Lehre von der fürstlichen Gewalt qua absoluter Unverletzlichkeit des Souveräns »ist in ihren — trotz der Gruppierung der Parteien gegenreformatorischen — Ursprüngen geistvoller und tiefer gewesen als ihre neuzeitliche Umbildung. Wenn der moderne Souveränitätsbegriff auf eine höchste, fürstliche Exekutivgewalt hinausläuft, entwickelt der barocke sich aus einer Diskussion des Ausnahmezustandes und macht zur wichtigsten Funktion des Fürsten, den auszuschließen. Wer herrscht ist schon im vorhinein dafür bestimmt, Inhaber diktatorischer Gewalt im Ausnahmezustand zu sein, wenn Krieg, Revolte oder andere Katastrophen ihn heraufführen. Diese Setzung ist gegenreformatorisch. Aus dem reichen Lebensgefühl der Renaissance emanzipiert sich ihr Weltlich-Despotisches, um das Ideal einer völligen Stabilisierung, einer ebensosehr kirchlichen als staatlichen Restauration in allen Konsequenzen zu entfalten. Und ihrer eine ist die Forderung eines Fürstentums, dessen staatsrechtliche Stellung die Kontinuität jenes in Waffen und Wissenschaften, Künsten und Kirchentum blühenden Gemeinwesens verbürgt.« 135 Die Exposition repräsentativer Öffentlichkeit, wie sie im höfischen Fest kulminiert, ruht also auf einem dunklen Fonds, der nicht anders als in der Kategorie der Katastrophe zu fassen ist. Katastrophe und Souveränität sind die beiden Pole, in denen die Dialektik von Märtyrer und Tyrann des Souveräns letztlich verankert ist und die vermittelt wird über die besonders heftig kritisierte Benjaminsche Theorie der Immanenz des Trauerspiels. Verband im Früh- und Hochhumanismus des Tre- und Quattrocento ein schöpfungstheologisch bzw. neuplatonisch gedeutetes Christentum sich nahezu bruchlos mit der philosophia dignitatis hominis, so zeitigte die — im Grunde noch im Quattrocento mit dem Einmarsch Karls VIII. in Neapel einsetzende — Diversifikation zunächst der katholischen Staaten, dann die Friktion der Nationen in den Glaubensspaltungen selbst einen Pessimismus geschichtlicher Erfahrung, der die überkommenen metaphysischen Überzeugungen nicht unberührt lassen konnte. In diesem Sinn sind theologischer Substanzverlust und Aufwertung monarchischer 134 135

Op.cit. p. 244. Op.cit. p.245s. 95

Souveränität, wie sie Benjamin aus den zeitgenössischen deutschen Quellen des 17. Jahrhunderts so plastisch belegt, nur zwei Seiten des gleichen Sachverhalts. Der Monarch, nicht länger auf eine theokratische Ordnung festgelegt, profitiert von den Bürgerkriegen ebenso wie von den Glaubenserschütterungen, die wo nicht zur Substitution, so doch zur Repräsentanz Gottes durch den Fürsten führen. Die »verzögernde Überspannung der Transzendenz«, wie sie Benjamin gewahrt, kommt in der Inthronisation des von religiösen Fesseln befreiten, von religiösen Symbolen um so reichlicher umgebenen Monarchen ebenso wie im Einzug der Transzendenz, im Ausfall von Eschatologie zur Wirkung. Jenes Waffen und Wissenschaften, Künste und Kirche verbürgende Fürstentum entspringt nicht einem deistisch gedeuteten harmonischen Weltzustand, sondern erhebt sich über einem in den Bürgerkriegen manifest gewordenen Abgrund, der es verbietet, Herrschaft einem wie auch immer gearteten Akt von delegatio verdankt zu wissen. Eben weil das Vertrauen in eine gottgewollte Weltordnung nachhaltig erschüttert ist, bricht Transzendenz am Ende als richtende in Form einer letzten Katastrophe in eine entgötterte Welt hinein. Der Dualismus zwischen Diesseits und Jenseits ist radikal; das Jenseits von allem Weltlichen entleert, das Diesseits ohne alle göttliche Signatur; ein »saturierter Emanatismus« wie im 18. Jahrhundert folglich nirgend zu gewahren. Antithetisch zum »Geschichtsideal der Restauration« steht die das Zeitalter beherrschende »Idee der Katastrophe«. »Es gibt keine barocke Eschatologie und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert. Das Jenseits wird entleert von alledem, worin auch nur der leiseste Atem von Welt webt und eine Fülle von Dingen, welche jeder Gestaltung sich zu entziehen pflegten, gewinnt das Barock ihm ab und fördert sie auf seinem Höhepunkt in drastischer Gestalt zu Tag, um einen letzten Himmel zu räumen und als Vakuum ihn in den Stand zu setzen, mit katastrophaler Gewalt dereinst die Erde in sich zu vernichten.«136 Es ist dies die Folge einer religionspolitisch bedingten totalen Entwertung der Wirklichkeit. »Monarch und Märtyrer entgehen nicht im Trauerspiel der Immanenz.« 137 An den beiden dialektischen Polen barocker Souveränität, Tyrannen- und Märtyrertum, hat Benjamin diese gänzlich neue und bis heute heftig umstrittene These gleichermaßen expliziert. Den Eingang bahnt sich der auf dem bedeutsamen Detail insistierende Philologe wieder über die beredte zeitgenössische Quelle. »Wie ich denn der tröstlichen Zuversicht lebe/ es werde meine Kühnheit/ daß ich etlicher erlauchten Häuser/ die ich unterhänigst ehre/ auch dafern es nicht wieder Gott were/ anzubeten bereit bin, längstverrauchte Liebes Regungen zuerfrischen mich unterstanden/ nicht allzufeindseelig angesehen werden.« So Hofmannswaldau in der Vorrede zu seinen berühmten »Helden-Brieffen« (1680).138 Benjamin hat an dieser wie an anderen Stellen auf eine eingehende Exegese verzichtet und dem Leser den meditativen Umgang mit dem autoritären Zitat überantwortet. Der Skopus liegt natürlich auf dem Widerstreit zwischen der Bereitschaft zur schran-

136

96

Op. cit. p. 246.

137

Op. cit. p. 247.

138

L. c.

kenlosen Unterwerfung unter eine vergöttlichte irdische Macht und dem heimlichen, noch nicht verschütteten Bewußtsein, daß Anbetung einer irdischen Instanz Frevel wider Gott sei. Die theologische Hyperbel wie die kosmologische SonnenMetaphorik, immer wieder im Zeitalter bemüht, wird zum stilistischen Indikator weitreichendster historisch-verfassungsrechtlicher Prozesse, wie sie Otto Brunner — durchaus auch unter Bezug auf Benjamins Trauerspielbuch — in seinem großen Aufsatz »Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip« skizziert hat. 139 Ist in der mittelalterlichen Idee des Gottesgnadentums weltlicher Herrschaft, wie Fritz Kern zeigte, die legitimen Widerstands stets mitgedacht, so in der modernen absolutistischen Maxime des Monarchismus, wie Benjamin angedeutet hatte, getilgt.140 Die gesamte antike Mythologie tritt gleichberechtigt neben der christlichen Symbolik in den Dienst der Glorifizierung schrankenloser Souveränität des großen gottähnlichen Menschen, des Divino. »Um diesem Bild des >göttlichen Menschern zu entsprechen, hätte der Herrscher vollkommen sein müssen. Das ist nur noch in der Sphäre des höfischen Festes, des Theaters, des mit Garten und Park zu einer Einheit zusammenwachsenden Schlosses, das sich von der Hauptstadt scheidet und dessen Prototyp Versailles darstellt, möglich, nicht aber in der Wirklichkeit. In der Realität des politischen Lebens bricht eine Spannung zwischen >Idee< und >Wirklichkeit< auf, die nicht zufällig um dieselbe Zeit das europäische Denken zu bestimmen beginnt, in der radikal >optimistische< und radikal >pessimistische< Sinndeutungen einander entgegentreten. Nur mit größter Anstrengung hält das Zeitalter des >Barocks< die in ihm wirksamen Spannungen noch aus. Der Hofprediger Ludwigs XIV., der Bischof Bossuet, hat die Stellung des Königs aufs schärfste hervorgehoben: Der König schafft das Recht, das wie er selbst göttlichen Ursprungs ist. Eben darum aber betont Bossuet die sittliche Forderung an den König so stark, und er scheidet — dies ist das Entscheidende — zwischen der Königsidee und der Person des Herrschers, der ein Sünder ist. [...] Der absolute Herrscher beansprucht Souveränität und nimmt damit wenigstens im Prinzip in Anspruch, zu prüfen, was von dem überkommenen traditionellen Recht noch gültig sein soll, und selbst Recht zu setzen. Gerade dies erscheint seinen Gegnern als Ausfluß der Willkür. Der Anspruch auf >Göttlichkeit< hat am meisten dazu beigetragen, den alten Königsglauben eines echten Gottesgnadentums in den politisch maßgebenden Schichten zu zerstören, mochte auch in den breiten Massen davon nicht wenig fortleben, wie die Wirksamkeit der königlichen Heilkraft im 18. Jahrhundert beweist.«141 Vor diesem Hintergrund ist die Benjaminsche Theorie der Immanenz des barocken Trauerspiels zu sehen. 139

Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter (1956), in O.B., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, 2., verm. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1968, pp. 160-186. 140 Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 4. Aufl. ed. Rudolf Buchner, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967. 141 Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, I.e. p,175s.

97

Tyrannen- und Märtyrerdrama vermögen im Rahmen der Benjaminschen Theorie als »strenges Komplement« eingesehen zu werden. »Tyrann und Märtyrer sind im Barock die Janushäupter des Gekrönten. Sie sind die notwendig extremen Ausprägungen des fürstlichen Wesens. Das ist, was den Tyrannen angeht, leicht ersichtlich. Die Theorie der Souveränität, für die der Sonderfall mit der Entfaltung diktatorischer Instanzen exemplarisch wird, drängt geradezu darauf, das Bild des Souveräns im Sinne des Tyrannen zu vollenden. Das Drama vollends läßt sich angelegen sein, die Geste der Vollstreckung zum Charakteristikum des Herrschenden zu machen und ihn mit Worten und Gehaben des Tyrannen selbst dort einzuführen, wo die Verhältnisse darauf nicht drängen.« 142 Diesem schrankenlosen, vornehmlich an byzantinischen Quellen sich bildenden Herrschaftsrecht kontrastiert jedoch aufs Denkwürdigste die von Benjamin wiederum an überzeugenden Exempeln beobachtete Entschlußunfähigkeit des Tyrannen. Der mit allen Attributen nicht restringierter Gewalt ausgestattete Herrscher erscheint zumal bei Lohenstein als willfähriges Objekt heterogener Affekte, welche die ihm abverlangte Konsistenz politischer Wirksamkeit stets erneut sabotieren, ja Regentschaft überhaupt lähmen und zunichte machen. Der über schrankenlose Macht verfügende Regent bleibt, wie Bossuet gesagt hatte, Mensch und als solcher Sünder und eben dieser Doppelaspekt begründet das in allen Trauerspielen zu beobachtende Changement zwischen Märtyrer- und Tyrannenrolle des Souveräns. »Denn wird im Herrscher da, wo er die Macht am rauschendsten entfaltet, die Offenbarung der Geschichte und zugleich die ihren Wechselfällen Einhalt tuende Instanz erkannt, so spricht für den im Machtrausch sich verlierenden Cäsaren dieses Eine: er fällt als Opfer eines Mißverhältnisses der unbeschränkten hierarchischen Würde, mit welcher Gott ihn investiert, zum Stande seines armen Menschenwesens.« 143 Ist der Souverän im Sinne der Anschauung des Zeitalters Gipfel der Kreatur, so kommt seinem Schicksal in der unermeßlichen Aufwertung seines Standes wie dem gleich unermeßlichen Fall aus den Höhen in die Tiefe der in allen poetologischen wie poetischen Quellen stets in Anspruch genommene exemplarische Charakter zu. In Aufstieg und Fall des Herrschers erhebt sich und fällt nicht eine individuelle Person, sondern die geschichtliche Menschheit schlechthin, als deren Repräsentant der Souverän auch in seinem singulären politischen Status doch durchaus verharrt. Von hier und nur von hier aus ist es verständlich, daß er in den Augen der Zeit als stellvertretend für die Menschheit Handelnder und Leidender die Züge des stellvertretend für die Menschheit sterbenden Christus annehmen kann, wie dies die neuere Emblematik-Forschung so eindrucksvoll bestätigt hat. Das Märtyrertum des 17. Jahrhunderts aber - auch das schon von Benjamin in völliger Übereinstimmung mit der neueren Forschung gesehen — basiert keineswegs mehr auf der uneingeschränkt in Geltung stehenden christlichen Überlieferung, sondern ist in nahezu allen wesentlichen Aspekten neostoizistisch fundiert. Das Problem liegt in der historischen Binnendifferenzierung dieser ganz Europa 142 143

98

Benjamin, Ursprung, I.e. p.249. Op. cit. p.250.

erfassenden moralphilosophisch-politischen Bewegung sowie ihrer Stellung im übergeordneten Prozeß frühneuzeitlicher Säkularisation. Anders als Benjamin vermag die neuere Forschung auf eine entwickelte Erschließung des Neostoizismus zurückzugreifen, wie sie sich in Deutschland und speziell für die Barockforschung nachhaltig mit dem Namen Gerhard Oestreichs verbindet. 144 Die Einsatzstelle wird durch die niederländische Bewegung markiert, in deren Mittelpunkt die Gestalt des Justus Lipsius steht. Damit ist gewiß die rezeptionsgeschichtlich wirkungsvollste Reformulierung der antiken Moralphilosophie getroffen. Doch tut man gut daran, in Erinnerung zu halten, daß schon die große späthumanistische Generation um L'Hôpital, de Thou und Dupuy inmitten der französischen Bürgerkriege eine bedeutende in Bodin gipfelnde politische Philosophie entwickelte, die vielfach mit der des Lipsius koinzidiert, ohne von ihr abhängig zu sein; die französischniederländische Achse unter dem Aspekt der Einwirkung Frankreichs bleibt folglich zu beachten. 145 In jedem Fall — und auch dieser Aspekt ist bisher zu kurz gekommen — will der Neostoizismus wie jede andere geistige Bewegung auf der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert konfessionell differenziert sein. Der Neostoizismus niederländischer Provenienz ist — wie auf andere Weise derjenige des gemäßigten nationalen Katholizismus um L'Hôpital — zutiefst affiziert von der Erfahrung des Widerstands gegen den spanischen und päpstlichen Hegemonie-Anspruch. Ihm wohnt ein Element aktiver individueller wie »nationaler« Selbstbehauptung inne, wie er sich allen antispanisch orientierten späthumanistischen Gruppierungen in Europa mitgeteilt hat und in Deutschland bei Opitz, bei Zincgref, bei Bernegger und vielen anderen der späthumanistischen Generation um 1600 die Bemühungen um eine deutsche »National«-Literatur stützt und flankiert. 146 Lipsius, so Oestreich an vielen Stellen seiner Aufsätze zum Neostoizismus, habe mit der Forderung nach constantia »eine Lebensformel für den Menschen des ausgehenden 16. und des 17. Jahrhunderts gefunden. Constantia ist eine in der sitt144

Cf. die leider immer noch ungedruckte Habilitationsschrift von Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547-1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, Habilschrift FU Berlin 1954. Dazu die zwei großen Aufsatzsammlungen Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin: Duncker und Humblot 1969; Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, ed. Brigitta Oestreich, Berlin: Duncker und Humblot 1980, sowie die vielfach selbständige englischsprachige Sammlung Neostoicism and the Early Modern State, ed. Brigitta Oestreich and H. G. Koenigsberger, Transi, by David McLintock, Cambridge University Press 1982 (Cambridge Studies in Early Modern History). Hinzuzunehmen auch G. Oe., Die Bedeutung des niederländischen Späthumanismus für Brandenburg-Preußen, in: Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preussen, ein Tagungsbericht, ed. Otto Büsch e.a., Berlin/New York: de Gruyter 1979 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 48) pp. 16-27, 50-54.

145

Dazu neben der n. 119 zitierten Literatur auch Gustave Cohen, Ecrivains français en Hollande dans la première moitié du XVIIe siècle, La Haye: Nijhoff; Paris: Champion 1921. Reprint Genève: Slatkine. Cf. Klaus Garber, Martin Opitz, in: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, ed. Harald Steinhagen und Benno von Wiese, Berlin: Schmidt 1984, pp. 116-184.

146

99

liehen Vernunft gegründete Lebensenergie, eine vom Kampfgeist beseelte Widerstandskraft gegen alle Bedrängnis in der Welt, der Lebensmotor der religiösen, aber nicht im engen kirchlich-konfessionellen Raum Lebenden. [...] Ein äußerst aktiver, militanter, dabei durchaus kosmopolitischer Stoizismus.«147 Betont Oestreich an anderen Stellen, daß in dieser politischen Philosophie »manche weltanschaulichen Elemente des militanten Calvinismus und des die Willensfreiheit betonenden Jesuitentums enthalten« waren, so ist darin schon impliziert, daß für die Stoa- und Neostoizismus-Rezeption in den lutherischen Ländern und damit auch für die der Dramatiker des 17. Jahrhunderts womöglich modifizierende, zum Quietismus tendierende Faktoren in Anschlag zu bringen sind.148 Benjamin zumindest hat an den Dramentheorien des 17. Jahrhunderts wahrgenommen, was mutatis mutandis in seinen Augen auch für die Märtyrer-Konzeption der Dramen selbst galt: »Sie haben es nicht sowohl auf die Taten des Helden als auf sein Dulden, ja öfters nicht sowohl auf Seelenqualen als auf die Pein des körperlichen Ungemachs, das ihn ereilt, abgesehen. [...] Wie Christus als König im Namen der Menschheit litt, so nach der Anschauung barocker Dichter Majestät schlechtweg.«149 Widerspruch, ja heftige Polemik aber forderte Benjamin nicht mit dieser, durchaus mit der neueren Forschung sich treffenden These heraus, sondern mit der komplementären, derzufolge die barocke passio im Kern nicht mehr religiös inspiriert sei. »Die Vorbedingung dafür bleibt das Wissen um jenes sonderbare Bild, das im Barock — zum mindesten im literarischen — vom Märtyrer das hergebrachte war. Mit religiösen Konzeptionen hat es nichts gemein, der Immanenz entzieht sich der vollkommene Märtyrer so wenig wie das Idealbild des Monarchen. Im Drama des Barock ist er ein radikaler Stoiker und legt sein Probestück aus Anlaß eines Kronstreits oder Religionsdisputes ab, an dessen Ende Folter und Tod ihn erwarten.« 150 Auch damit wird zunächst zurückgelenkt zur Frage der konfessionellen Option des Neostoizismus und seiner Befähigung zur Amalgamierung christlich-theologischer Lehrgehalte, bevor die ganz eigene Wendung, die Benjamin dem Sachverhalt zu verleihen weiß, hervortritt. Daß der Neostoizismus — ob in seiner vergleichsweise moderneren etatistischen Variante in Frankreich mit der prinzipiellen Duldung mehrerer Konfessionen, ob in seiner politisch motivierten eher traditionellen Variante der einen Religion in dem einen Staat bei Lipsius — ein deutlich interkonfessionelles Gepräge besaß und damit die Lockerung der dogmatisch fixierten theologischen Lehrpositionen beförderte, darf inzwischen als gesichertes Ergebnis gelten. Die Statuierung staatlicher Souveränität, die Selbstbehauptung der Einheit des Gemeinwesens, der »Nation«, war überhaupt nur um den Preis einer Relativierung der konfessionellen Ansprüche zu sichern, Toleranz und Irenik vielfach im Rückgriff auf Erasmus daher ein durchgängiges Merkmal des politischen Späthumanismus. »In einer Zeit des Auseinander- und Gegenübertretens zweier christlicher Konfessionen ist durch eine breite Schicht von Theoretikern und Praktikern, 147 148 149 150

Oestreich, Geist und Gestalt, I.e. p.40s. Op.cit. p.110. Benjamin, Ursprung, I.e. p. 252. Op.cit. p.253.

100

aus der auf niederländischer Seite Erasmus, Lipsius und Hugo Grotius nur wie die Spitzen eines Eisberges herausragen, das Christentum erneut mit der Antike verbunden worden. Diese folgenschwere Symbiose löste die tiefe christliche Religiosität des Mittelalters ab und ermöglichte einen die Konfessionen überschreitenden Standpunkt, der fest in der abendländischen Religionstradition verwurzelt blieb. Humanismus und Neustoizismus führten das neurömische Jahrhundert herauf und drückten einer ganzen Zeit ihren kulturellen Stempel auf. Sie lösten die protestantische Welt früher als die katholische aus den Fesseln, die die Kirche sich selbst angelegt hatte, und bildeten nach dem Voranschreiten Machiavellis eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Säkularisierung.« 151 Es ist schwer zu sehen, wie diese gewiß zutreffend beschriebene via moderna zugleich noch die überkommenen theologischen Traditionen bewahren soll und die Bewegung des Gedankens in dem angezogenen Zitat scheint selbst bereits dagegen zu sprechen. Benjamin erblickte in der Version, die das barocke Trauerspiel dem Neostoizismus verlieh, einen im Kern nicht mehr von theologischen Impulsen getragenen säkularisierten Willen zur Selbstbehauptung, wie er sich notwendig ineins mit einer als Katastrophe gedeuteten Erfahrung von Geschichte und Politik herausformte. »Sache des Tyrannen ist die Restauration der Ordnung im Ausnahmezustand: eine Diktatur, deren Utopie immer bleiben wird, die eherne Verfassung der Natur [sprich: Vernunft-]gesetze an Stelle schwankenden historischen Geschehens zu setzen. Zu einer entsprechenden Fixierung aber will auch die stoische Technik für einen Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte, ermächtigen. Auch sie sucht eine widerhistorische Neuschöpfung — in der Frau die Behauptung der Keuschheit - , welche nicht minder als die diktatorische Verfassung des Tyrannen von dem harmlosen ersten Schöpfungsstande entfernt ist.«152 Das ist die verdeckte tyrannische Seite im Märtyrerdrama. Die dem Neostoizismus jedweder Provenienz innewohnende Tendenz zur Affektregulierung und Disziplinierung, zur unerbittlichen Herrschaft von Vernunft über Natur nährt sich aus dem tiefen Mißtrauen gegenüber dem kreatürlichen schuldbeladenen Wesen des Menschen, wie es die Bürgerkriege nur allzusehr beförderten. In diesem Sinn geht im Neostoizismus bei Lipsius die Aufwertung monarchischer Gewalt nicht nur mit einer Abwertung des »Volkes« — »zu Affekten geneigt, ohne Vernunft, unselbständig der Mehrheit folgend, mißgünstig, voller Argwohn und leichtgläubig« — einher, sondern hinter dieser Dichotomie (aus der selbstverständlich die Ablehnung aller vertragsrechtlichen Konstruktionen folgt) steht eine anthropologische Konzeption, deren abgrundtiefer Pessimismus einer Theologie der Hoffnung, der Gnade nicht mehr zu vermitteln war.153 Insofern zog der Neostoizismus und mit ihm das Trauerspiel aus dem Zusammenbruch der una societas christiana eine Konsequenz, die wie Benjamin richtig sah, nicht nur über 151

152 153

Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit, I.e. p.333. Cf. auch Oestreich, Geist und Gestalt, I.e. p. 13ss., p.45s.; Klaus Garber, Die Friedens-Utopie im europäischen Humanismus. Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion, in: Modern Language Notes 100 (1986) 516-552. Benjamin, Ursprung, I.e. p. 253. Oestreich, Geist und Gestalt, I.e. p.56.

101

die divergierenden theologischen Lehrgebäude, sondern überhaupt über die traditionalen christlichen Mentalitätsmuster herausführte, wie sie bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts dominierten. Diese Krise aber hat ihr Substrat in dem Zusammenbruch der theologischen Deutung und Sinngebung von Geschichte. 154 Damit ist zugleich die Basis für die — ebenfalls überaus kontroverse — Diskussion des Verhältnisses von Mittelalter und Barock, speziell von mittelalterlicher Chronik bzw. mittelalterlichem Passionsspiel und barockem Trauerspiel eröffnet. Benjamin hat die in der Barockphilologie immer wieder auftauchenden Konvergenz- bzw. Repristinations-Theorien sehr wohl gekannt. Gleichwohl hat er auf der Ebene der literarhistorisch-philosophischen Exposition des Trauerspiels an der fundamentalen Differenz zwischen Mittelalter und Barock festgehalten. Mittelalterliche Chronik wie barockes Trauerspiel fassen die Weltgeschichte als Trauerspiel und die Theorie bekräftigt diesen Sachverhalt in beiden Fällen.155 Am Ende der Weltchronik wie des barocken Trauerspiels, als welches Geschichte in beiden Fällen sich darbietet, steht der jüngste Tag. »Indessen: wo das christliche Mysterium wie die christliche Chronik das Ganze des Geschieh tsverlaufs, den welthistorischen als einen heilsgeschichtlichen, vor Augen stellen, hat die Haupt- und Staatsaktion mit einem bloßen Teile des pragmatischen Geschehens zu tun. Die Christenheit oder Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen Christentümern, deren geschichtliche Aktionen nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen. Die Verwandtschaft des Trauerspiels mit dem Mysterium wird in Frage gestellt durch die ausgangslose Verzweiflung, die das letzte Wort des säkularisierten christlichen Dramas sein zu müssen scheint. Denn niemand wird die stoische Moralität, in welche das Martyrium des Helden mündet, oder die Gerechtigkeit, die das Wüten der Tyrannen auf Wahnsinn hinausführt, für ausreichend erachten, die Spannung einer eigenen Dramenwölbung zu begründen.« 156 Damit ist von einer anderen Seite her die fundamentale geschichtliche Differenz zwischen Mittelalter und Barock in der konfessionellen und nationalen Spaltung Europas verankert, die nun auch den geschichtlichen wie den metaphysischen Gehalt der Werke und speziell des Trauerspiels prägt. Weit entfernt davon, dem Wüten der im Namen Christi antretenden Parteien einen theologischen, gar einen heilsgeschichtlichen Sinn abgewinnen zu können, hat der Aufruf zum Erdulden des kaum faßlichen Geschehens das letzte Wort. Selbst in Dichtungen wie Opitzens »Trostgedichte in Widerwertigkeit des Krieges«, die in calvinistischer Tradition zu aktivem geistigen wie politischen Widerstand gegenüber dem als solchen

154

155 156

Dazu aus der überaus reichhaltigen Literatur: Adalbert Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen: Musterschmidt 1960 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft-31); Andreas Kraus, Grundzüge barocker Geschichtsschreibung, in: Historisches Jahrbuch 88 (1968) 54—77; Günther Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin/New York: De Gruyter 1978. Cf. Benjamins Rekurs auf Birkens Rede-Bind- und Dicht-Kunst (1679) I.e. p.255. Benjamin, Ursprung, I.e. p.257.

102

apostrophierten — katholischen! — Agressor aufrufen, sich also nicht auf consolatio beschränken, ist doch unübersehbar, wie der christliche Vernichtungsfeldzug die theologische Substanz aufzehrt und im Strudel der Bürgerkriege zergehen läßt.157 Opitz und den Seinen ist schon zu Beginn des neuen Jahrhunderts völlig klar, daß es in dem christlich kaschierten Ringen zwischen Krongewalt und Ständen wie zwischen den christlichen Territorien bzw. Nationalstaaten nur einen großen Verlierer gibt, den unbefragt gefestigten christlichen Glauben. Keine Wiederanknüpfung an die mittelalterliche Gedankenwelt, wie sie anläßlich der Wiederbelebung der Allegorie im Zeitalter des Barock zu besprechen sein wird, kann darüber hinwegtäuschen, daß die christliche Gewißheit in Bezug auf das individuelle Leben wie in Bezug auf den Gang der Geschichte gebrochen ist und die widernatürliche Kasteiung wie die ängstliche Fixierung aufs jüngste Gericht nur zwei komplementäre Indikatoren für eine gelockerte, wo nicht bereits gestörte Bindung an ein um so ostentativer zur Schau gestelltes Bekenntnis zur christlichen Lehre sind. Daß der Neostoizismus in den Bürgerkriegen aufsteigt, ist spätestens seit Dilthey allgemein akzeptierte Überzeugung. 158 Daß er ein säkulares Substitut vorreformatorischer wie reformatorischer Glaubensgewißheit darstellt, ist Benjamins entscheidende, in der Analyse des Trauerspiels vielfach bewährte These. Die vielberufene Spannung des 17. Jahrhunderts, einen »Dualismus« oder wie immer die geistesgeschichtlichen Schlagworte dafür lauten, sieht Benjamin letztlich darin begründet, daß in beiden Konfessionen im 17. Jahrhundert eine Tendenz zur »Verweltlichung« sich durchsetzt, mit und in der der Zusammenbruch der christlichen Welt nach den einhundertjährigen Konfessionskriegen ratifiziert wird. Dafür spricht die imperiale Indienstnahme des christlichen Bekenntnisses durch die kaiserliche Gewalt im Katholizismus ebenso wie die Fixierung aufs neoscholastische Lehrgebäude in der lutherischen Orthodoxie, von der Fusionierung kirchlicher und obrigkeitlicher Gewalt und der damit einhergehenden Reglementierung des alltäglichen Lebens ganz zu schweigen. Gleichwohl behalten »die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen. Unter dem Joch dieses Zwanges, dem Stachel jener Forderung durchlitten diese Geschlechter ihre Konflikte. Von allen im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten der europäischen Geschichte ist das Barock die einzige, die in eine Periode unerschütterter Herrschaft des Christentums fiel. Die mittelalterliche Straße der Empörung, die Häresie, war ihr verstellt; teils eben weil das Christentum mit Nachdruck die Autorität behauptete, vor allem jedoch, weil in den heterodoxen Nüancen der Lehrmeinung und Lebensführung die Inbrunst eines weltlich neuen Willens auch nicht entfernt zum Aus157 158

Cf. Garber, Martin Opitz (1984), I.e. p. 150ss. Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 8. unveränd. Aufl., Stuttgart: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1969 (Gesammelte Schriften II), insbesondere die Abhandlungen »Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert« sowie »Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts«.

103

druck kommen konnte. Da dergestalt nicht Rebellion noch Unterwerfung religiös vollziehbar war, richtete sich die gesammelte Kraft der Epoche auf eine gänzliche Umwälzung des Lebensgehaltes unter orthodoxer Wahrung der kirchlichen Formen. Das mußte dahin führen, den eigentlichen, unmittelbaren Ausdruck den Menschen allerwege zu verlegen.«159 Gibt es eine stichhaltigere Begründung für die Entschlüsselung der geschichtlich neuen weltlichen Botschaft im Gewände der überkommenen theologischen Sprache? Wo die Konfessionen untereinander sich wechselseitig der Häresie verdächtigten, blieb für die Revolte — anders als an der Seite einer intakten katholischen Macht wie im Mittelalter — kein Platz. So ist denn auch die Mystik des Zeitalters nicht von Aufbegehren, sondern allein von der Behauptung ihrer tiefsinnigen Weisheit neben dem Theologengezänk geprägt, das gleichsam wortlos seiner Nichtigkeit überführt wird. Die Repristination kirchlicher Gewalt in beiden Konfessionen ist eine disziplinierender Herrschaft. In diesem Sinn bekräftigt die Benjaminsche Lehre auch die Einübung eines interpretatorischen Umgangs mit barocken Texten, das sich von dem obstinaten Ton christlicher Verlautbarungen nicht blenden läßt, sondern in der offiziellen Hülle das geschichtlich Neue freizulegen imstande ist. Und dieses ist gleich scharf gegenüber dem Mittelalter wie der Renaissance zu spezifizieren. Wo die Renaissance von der Erwartung des Zeitenumschwungs, aus der Gewißheit eines geschichtlichen Neuanfangs lebt, der sich gerade auch im bürgerlichen Humanismus des Quattrocento in der Emphase für den republikanischen Stadtstaat so eindrucksvoll bekundet, da ist das Ideal des Barock »die Akme: ein goldenes Zeitalter des Friedens und der Künste, dem alle apokalyptischen Züge fremd sind, verfaßt und in aeternum garantiert durchs Schwert der Kirche« — und des weltlichen Regenten, wie sinngemäß mit Benjamin zu ergänzen ist.160 Die gewaltsame Restauration aber, von der Proklamation der Polis-Sittlichkeit in der Renaissance denkbar weit entfernt, gewinnt ihre legitimierende wie appellierende Kraft vor dem Hintergrund des völligen Zusammenbruchs staatlicher wie kirchlicher Macht im konfessionellen Zeitalter, der Geschichte in dem einen beherrschenden Modus der Katastrophe zu begreifen lehrte. Und eben an dieser Stelle fixiert Benjamin die gravierende Differenz gegenüber dem Mittelalter. Wo das mittelalterliche geistliche Schauspiel das irdisch-geschichtliche Geschehen in seinen einzelnen Phasen zugleich als jeweils prägnante Station auf dem göttlichen Heilsweg einzusehen vermag, auch die Gegenwart also einen transzendenten Sinn bewahrt, da behält nackte Verzweiflung angesichts der offenkundigen Sinnlosigkeit der Geschichte im 17. Jahrhundert das letzte Wort und die stoische Selbstbehauptung im Strudel des Chaos den Charakter einer ebenso verzweifelten menschlichen Antwort dort, wo »der Ausblick auf das Jenseits der Mysterien« wie im Mittelalter versagt bleibt. »Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur Schau stellt, vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr 159 160

Benjamin, Ursprung, I.e. p. 258. Op.cit. p.259.

104

in der Tiefe dieser Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilplans.«161 Benjamins so gut wie über alles entscheidende Theorie der Immanenz des barocken Trauerspiels ruht auf der Dialektik von Schöpfungs- und Gnadenstand. Erneut gerät damit an zentraler Stelle Konfessionalität als Baustein in die Theorie. Ist die »besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur spezifisch deutsch«, so bedarf diese Feststellung ganz im Sinne des Benjaminschen Kontextes erstmals des Zusatzes: spezifisch protestantisch. 162 Nicht umsonst figuriert daher im folgenden das protestantisch-lutherische Schultheater und Trauerspiel der Schlesier auf der Gegenseite zum europäisch-katholischen Calderons. »Denn Spaniens Drama — das höchste jenes europäischen Theaters — in welchem die barocken Züge so viel glänzender, so viel markanter, so viel glücklicher sich im katholisch kultivierten Land entfalten, löst die Konflikte eines gnadenlosen Schöpfungsstandes gewissermaßen spielerisch verkleinert im höfischen Umkreise eines als säkularisierte Heilsgewalt sich erweisenden Königtums.« 163 Dieses allein rührt »an den Gehalt des Daseins«, der für Benjamin von den frühesten Äußerungen aus dem Umkreis der freien Schulgemeinde bis hin zu den spätesten im Kafka-, Baudelaire- und Erzähler-Essay ein sittlicher und als solcher ein transzendenter bleiben wird. Hier in Spanien bei Calderön ist es eine im Grunde »dem Mysterium adäquate Ganzheit, in der der Traum als Himmel waches Leben überwölbt. Sittlichkeit ist in ihm zuständig: >Doch sey's Traum, sey's Wahrheit eben: | Recht thun muß ich; wär'es Wahrheit, | Deßhalb, weil sie's ist; und wär'es |Traum, um Freunde zu gewinnen, | Wenn die Zeit uns wird erwecken.< Nirgend anders als bei Calderon wäre denn auch die vollendete Kunstform des barocken Trauerspiels zu studieren.« 164 Vollendung? Weil Sittlichkeit als gelingende mit göttlichem Beistand denk- und darstellbar bleibt, Leben als begnadetes sich erfahren darf, Verzweiflung nicht das letzte Wort behält. Hier und wiederum nur hier sieht Benjamin die ihn gleichfalls lebenslänglich beschäftigende Deutung des Lebens als Spiel legitim aufgehoben. Ist dem deutschen Trauerspiel Völlendung versagt geblieben, so gelingt sie im spanischen Drama eines Lope oder Calderon vermöge der Integration des Spielelements, mit der »auf Umwegen« Transzendenz ins Drama hineinwirkt. Leben darf als Spiel begriffen werden, wo es »vor einer auf das Unbedingte gerichteten Intensität seinen letzten Ernst verloren hat«, so im Barock, so auf andere Weise in der Romantik. 165 Wo aber in Spanien im Bild des Spiels auch Lösung, auch Gelöstheit bedeutet ist, die dem Leben einen Hauch jenes »Leichtsinns« verleihen, welcher als Signum des Gnadenstandes erkannt sein will, da verweisen Spiel und Theater-Metaphorik in Deutschland nur allzuhäufig — und so ja auch in den von Benjamin beigebrachten Belegen — auf das Nichtige, Aussichtslose, Todverfallene menschlichen Daseins, als deren Inbegriff wie im Wahlverwandtschaften-Aufsatz so auch im Trauerspiel161

Op.cit. p.259s. Op.cit. p.260. 163 L.c. 164 L.c. 165 Op.cit. p.261. 162

105

buch die Obzession auf die Leidenschaften, die Preisgabe an eine mythische Natur gelten. Dem Spiel wohnt durchaus ein modernes rationales Prinzip inne, aber ausschließlich als mechanisch-strategisches: Die Degenerierung des Daseins zu einem puppenhaften, das »Ehrgeiz und Begierde an ihrem Faden halten«. 166 Natürlich geschieht dies aus einem dem Luthertum von Benjamin immer wieder bescheinigten Moralismus heraus, das Tierische, wie es gerade im Souverän, »der hocherhabenen Kreatur«, am erschreckendsten zum Ausbruch gelangt, zu geißeln.167 Doch wie soll ein Schimmer von Hoffnung in diese bodenlos korrumpierte Welt fallen? Wo das spanische Drama in der Behauptung der Ehre, jener »abstrakten Unverletzlichkeit des Subjekts« (Hegel) jenseits jedweder sittlichen Bildung »dem kreatürlichen Leibe seine adäquate kreatürliche Spiritualität und damit einen Kosmos des Profanen entdeckt«, da gibt das deutsche Barockdrama seinen profanen Aspekt ungeachtet aller gegenteiligen religiösen Bekundungen im demonstrativen Ausharren des Stoikers zu erkennen, das eben nicht durch Hoffnung auf Gnade, sondern durch den verzweifelten Versuch der Selbstbehauptung gegenüber einer schicksalhaft erfahrenen Geschichte motiviert ist — Naturgeschichte als Komplement innerer tierischer Natur.168 So vollendet sich die Benjaminsche Exposition des geschichtlichen Gehaltes des barocken Trauerspiels in der Darstellung eben der »Vernichtung des historischen Ethos« im Trauerspiel. Wo Katholizismus und Calvinismus Dichtung als Organon eines imperialen politischen Anspruchs organisieren — Opitzens »Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Krieges« zu Anfang, Lohensteins »Arminius« und Anton Ulrichs »Oktavia« zu Ende des Jahrhunderts bezeichnen hier vielleicht die beiden gewichtigsten Pole —, da zergeht dem Protestantismus der eigentlich politische Zeitkern in moralisch-didaktischer Absicht.169 Der programmatische wie der pragmatische Gehalt von Geschichte löst sich auf in eine letztlich profane Reduktion auf Intrige, die didaktischer Absicht verfügbar wird. »Das Drama des Barock kennt die historische Aktivität nicht anders denn als verworfene Betriebsamkeit von Ränkeschmieden. Nirgends begegnet in den zahlreichen Rebellen, die einem in der christlichen Märtyrerhaltung erstarrten Monarchen gegenübertreten, ein Hauch revolutionärer Überzeugung. Mißvergnügen — das ist ihr klassisches Motiv. Abglanz sittlicher Würde liegt einzig auf dem Souverän und dies von keiner andern als der gänzlich geschichtsfremden des Stoikers. Denn diese Haltung, nicht aber die Heilserwartung des christlichen Glaubenshelden ist es, die in den Hauptpersonen des barocken Dramas überall begegnet [...] Vaterland, Freiheit und Glaube 166 167 168 169

Op.cit. p. 262. Op. cit. p. 265. Op. cit. p. 266. Neben den zitierten Arbeiten Garbers, Martin Opitz (1984) und Szarotas, Lohensteins »Arminius« als Zeitroman, I.e., cf. Etienne Mazinque, Anton Ulrich, duc de Braunschweig-Wolfenbüttel (1633-1714). Un prince romancier au XVII e siècle, Vol.I—II, Bern, Frankfurt/M., Las Vegas: Lang 1978 (Berner Beiträge zur Barockgermanistik 2); >Monarchus PoetaWesen< der Geschichte selber sich gebunden«; dagegen »ist im Grunde gänzliche Freiheit der Fabel dem Trauerspiele gemäß« - die Konsequenz der von Benjamin konstatierten Entleerung prägnanten historischen Gehalts. 177 Nicht in der Klassik, in der das Nachleben des barocken Trauerspiels apokryph bleibt — mit sicherem Kunstgriff von Goethe im Faust II aktualisiert! - , sondern im Drama des Sturm und Drang werden die im Trauerspiel »ruhenden Potenzen« als »Emanzipation vom willkürlich beschränkten Kreis der Chronik« manifest; Vergänglichkeit »bleibt auch hier das letzte Wort.«178 Doch reicht das hin, um eine Verwandtschaft zu begründen? Und das dritte Glied innerhalb der »Sippe des barocken Trauerspiels« neben Haupt- und Staatsaktion und Sturm- und Drang-Drama, das Schicksalsdrama der Romantik? 179 Die Prämissen der Benjaminschen Philosophie von Schuld und Schicksal — ebenso im »Wahlverwandtschaften«-Aufsatz wie in »Schicksal und Charakter« und »Zum Begriff der Gewalt« entwickelt — determinieren selbstverständlich seine Theorie dieser Gattung. Ist Schicksal nach der eindringlichen Definition des Trauerspielbuchs »Entelechie des Geschehens im Felde der Schuld«, also weder rein natürliches, noch rein historisches Geschehen, sondern eben naturhistorische Kategorie, so erhellt, daß sie als solche dem »Geiste der Restaurationstheologie der Gegenreformation« affinitiv ist, prägt doch die Repristination der Lehre von der kreatürlichen Schuld, der »Erbsünde« die Konfessionen über die Lager hinweg im 17. Jahrhundert zutiefst (Ägidius Albertinus im katholischen, Johann Arndt im protestantischen Lager bezeichnen hier zu Eingang des Jahrhunderts zwei gleich gewichtige Stimmen). 180 Sieht Benjamin, daß das deutsche Trauerspiel — im Gegensatz zu dem Calderóns — durch eine große Armut nichtchristlicher Vorstellungen gekennzeichnet sei und eben deshalb die Form des Schicksalsdramas nicht zu erfüllen vermöge, so ist diese Erkenntnis positiv gewendet geeig176

Op. cit. p.292. Op. cit. p.299. 178 Op.cit. p.300. Cf. dazu Richard Alewyn, Goethe und das Barock (1972), in: R. A., Probleme und Gestalten, Frankfurt/M.: Insel 1974, pp.271-280. 179 Benjamin, Ursprung, I.e. p. 307. 180 Op.cit. p.308. 177

109

net, die Unvereinbarkeit wo nicht von Trauerspiel und Schicksalsdrama insgesamt, so die von Märtyrer- und Schicksalsdrama zu bestätigen, wird doch die Macht mythischen Schicksals wenigstens in der Gestalt des Erlösung erhoffenden und um ihretwillen leidenden Märtyrers gebrochen. Das Requisitorische, reich entwickelt bei den Spaniern, ist dem deutschen Trauerspiel folglich fremd, kennt es doch ganz im Sinne Benjamins eine höhere Ordnung als die des Schicksals. Dem Schicksal verhaftet bleibt der Tyrann, weil er den Bann der Leidenschaften, welche das Wirken des Schicksals auslösen, nicht zu sprengen vermag. Träume und Geistererscheinungen heften sich entsprechend an seinen Namen, nicht hingegen an den — der Intention nach — dem Schicksal entronnenen Märtyrer. So bleiben, wie hier nur eben anzudeuten ist, in der materialen Skizze der Nachgeschichte Probleme offen, derer die Forschung zum Trauerspielbuch von germanistischer Seite her sich dringend anzunehmen hätte. Steht der erste Abschnitt von »Trauerspiel und Tragödie« hinsichtlich der historischen Fundierung im Zeichen der konfessionspolitischen Bürgerkriege und damit der Extrapolation des Ausnahmezustandes, so der dritte im Zeichen einer genialen konfessionellen Spezifizierung des barocken Trauerspiels. »Die großen deutschen Dramatiker des Barock waren Lutheraner. Während in den Jahrzehnten der gegenreformatorischen Restauration der Katholizismus mit der gesammelten Macht seiner Disziplin das profane Leben durchdrang, hatte von jeher das Luthertum antinomisch zum Alltag gestanden. Der rigorosen Sittlichkeit der bürgerlichen Lebensführung, die es lehrte, stand seine Abkehr von den >guten Werken< gegenüber. Indem es die besondere, geistliche Wunderwirkung diesen absprach, die Seele auf die Gnade des Glaubens verwies und (den) weltlich-staatlichen Bereich zur Probstatt eines religiös nur mittelbaren, zum Ausweis bürgerlicher Tugenden bestimmten Lebens machte, hat es im Volke zwar den strengen Pflichtgehorsam angesiedelt, in seinen Großen aber den Trübsinn. Schon bei Luther selbst, dessen letzte zwei Lebensjahrzehnte von steigender Seelenbeladenheit erfüllt sind, meldet sich ein Rückschlag auf den Sturm gegen das Werk. Ihn freilich trug noch der >Glaube< darüber hin, aber der verhinderte nicht, daß das Leben schal ward. [...] Ein Stück germanischen Heidentums und finsteren Glaubens an die Schicksalsverfallenheit sprach sich in jener überladnen Reaktion aus, die zuletzt das gute Werk schlechthin, nicht seinen Verdienst- und Bußcharakter allein, aus dem Felde schlug. Jeder Wert war den menschlichen Handlungen genommen. Etwas Neues entstand: eine leere Welt. Der Calvinismus — wie düster er war — begriff diese Unmöglichkeit und korrigierte sie in etwas. Der lutherische Glaube sah mit Argwohn auf diese Verflachung und widersetzte sich ihr. Welchen Sinn hatte das Menschenleben, wenn nicht einmal, wie im Calvinismus, der Glaube bewährt werden mußte? Wenn er einerseits nackt, absolut, wirksam war, andererseits die Menschenhandlungen sich nicht unterschieden? Man hatte keine Antwort, es sei denn in der Moral der kleinen Leute — >Treue im Kleinenrechtschaffen leben< - die damals heranwuchs und der das taedium vitae der reichen Naturen sich gegenüberstellte.« 181 180

Op. cit. p. 317s.

110

Damit ist von Benjamin — man möchte angesichts des verschwenderischen Reichtums der Einsichten sagen: en passent — die Grundlegung für einen bis heute ausstehenden konfessionspolitischen Aufriß der deutschen Barockdichtung des 17. Jahrhunderts skizziert. Seit Nadlers Entdeckung des bayrisch-österreichischen Barock und ihrer Cysarzschen Adaptation in der griffigen Antithese eines süddeutsch-katholischen Bildbarock dort, eines norddeutsch-protestantischen Wortbarock hier gehört die konfessionelle Unterscheidung zwischen protestantischem und katholischem Barock zum eisernen Rüstzeug der deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts. Sie braucht hier nicht diskutiert zu werden. Sicher ist, daß sie mit dazu beigetragen hat, die lange fällige Differenzierung des Protestantismus für die Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts zu verhindern. Benjamin hat den Gegensatz zwischen Luthertum und Calvinismus — vermutlich über Troeltsch und ineins mit der Theologiegeschichte — im vorliegenden Passus werktheologisch gefaßt; die konfessionspolitisch-literarischen Konsequenzen daraus vermochte er selbstverständlich so wenig zu ziehen wie die folgende Barockforschung bis heute. Und doch wurde auch für die Geschichte des deutschen Trauerspiels bestimmend, daß dessen deutschsprachige Ausprägung sowohl in den Übersetzungen eines Opitz wie in den originären Schöpfungen eines Gryphius in eine Zeit fiel, da der Calvinismus aufgehört hatte, eine geschichtlich bestimmende Rolle auf deutschem Boden zu spielen. Der Publizistik und Flugschriftenliteratur, der politischen Lyrik, ja selbst dem politischen »Epos« vor dem Dreißigjährigen Krieg in Gestalt eines Melissus Schede oder Denaisius, eines Hoeck oder Weckherlin, eines Venator und Zincgref, nicht zuletzt eines Opitz, waren die Impulse politischer Unierung unter Führung Heidelbergs noch unmittelbar zugute gekommen. 182 Sie zeitigten einen öffentlichkeitswirksamen, einen im weitesten Sinn »politischen« Duktus von Dichtung, dem nichts weniger als Entwertung und Entkräftung des historischen Gehalts hätte nachgesagt werden können, darin ganz das Erbe der großen deutschen Publizistik des 16. Jahrhunderts weitertragend. Die Hoffnung, gegenüber einem mächtig erstarkten nachtridentinischen Katholizismus unter der Schirmherrschaft Friedrichs V. von der Pfalz — des nachmaligen Böhmischen Winterkönigs — eine schlagkräftige calvinistisch-lutherische Front des Widerstands aufbauen zu können, verlieh dieser Dichtung ihre historische Authentizität. Nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berge aber (1620), die das Schicksal des deutschen Calvinismus besiegelte, entstand in den Kommunen und Territorien zumal Mittel- und Ostdeutschlands nach dem Vorgang Opitzens seit den späten dreißiger Jahren eine deutsche Spielart der europäischen »Barockdichtung« — zunächst in den lyrischen Genera und dem Kasualgedicht —, die nur allzudeutlich von der Erfahrung geprägt war, daß die deutschen Lande zunehmend zum Objekt auswärtiger Mächte 182

Dazu Garber (Rez.) im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 5 (1980) 262—268 mit der einschlägigen Literatur. Jetzt ders., Zentraleuropäischer Calvinismus und deutsche »Barock«-Literatur. Zu den konfessionspolitischen Ursprüngen der deutschen Nationalliteratur, in: Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. Das Problem der »Zweiten Reformation«, ed. Heinz Schilling, Gütersloh 1986 (Sehr. d. Vereins f. Reformationsgesch. 195) 318—348.

111

und Interessen erniedrigt wurden, so daß nur im Einzelfall — Gustav Adolf! — patriotisch-protestantische Hoffnungen sich noch regten, im Ganzen jedoch das Bewußtsein hilflosen Ausgeliefertseins dominierte. In dieser Situation bildete das Luthertum nach dem Ausfall des Calvinismus ein überhaupt gar nicht zu überschätzendes und von Benjamin völlig sachgemäß charakterisiertes mentales Ferment, das den Gestus der deutschen Barockdichtung zutiefst prägte. Seit langem ist das Bild einer versteinerten, in Lehrgezänk sich erschöpfenden, zum gelebten Glauben unfähigen lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert erschüttert. Die Arbeiten von Leube und Eiert haben gezeigt, in welchem Maße die nahezu an allen protestantischen Universitäten beheimateten Reformtheologen des 17. Jahrhunderts neben der dogmatischen Integrität der lutherischen Lehre eine aus geläuterter Frömmigkeit entspringende Praxis zur Geltung zu bringen suchten. 183 Gelebter Glaube wurde das Schlagwort aller maßgeblichen Reformer, die vielfach als Kirchenlieddichter hervortraten und ebenso häufig teilweise enge Kontakte zu den Barockdichtern besaßen. Gleichwohl behauptet die Benjaminsche Rede vollauf ihr Recht, ist sie doch mit den vorangehenden Bemerkungen in seinem Werk zu verschränken, um die weitreichendsten Perspektiven freizugeben. Denn der Dialektik von rigoroser Sittlichkeit der bürgerlichen Lebensführung und ebenso rigoroser Abkehr von der Werktheologie korrespondiert die von striktem Obrigkeitsgehorsam und Preisgabe jedweder utopischen Bestimmung des staatlichen Lebens, wie sie die Zwei-Reiche-Lehre ungeachtet aller Wandlungen zeitigte, aufs genaueste. 184 Wurde der Staat vor dem Hintergrund eines abgrundtiefen anthropologischen Pessimismus, wie er in den Bürgerkriegen ganz Europas eine so treffliche Bestätigung zu finden schien, als Zwangsanstalt installiert — nicht zuletzt, um jedweder >schwärmerischen< Alternative zu wehren —, so erschien Sittlichkeit bestenfalls auf Loyalität, wo nicht auf perspektivelose Untertanengesinnung gegenüber einer prinzipiell sakrosankten Obrigkeit reduziert. Denn darin ja trifft sich das lutherische Selbstverständnis — ganz im Gegensatz zum Calvinismus — mit dem innersten Gehalt der hier zur Rede stehenden Trauerspieldichtung, daß Widerstand gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit obsolet bleibt, leidender Gehorsam mit Blick aufs Jenseits allemal die Präferenz vor aktivem Aufbegehren besitzt und besitzen muß, wo die Alternative im Irdischen von den theologischen Prä183

184

Cf. Hans Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig: Dörffling und Franke 1924; ders., Die altlutherische Orthodoxie. Ein Forschungsbericht, in: Christentum und Wissenschaft 9 (1933) 321—337; Werner Eiert, Morphologie des Luthertums, Vol. I—II, verb. Nachdruck d. 1. Aufl. 1931, München: Beck 1952-1953. Zur Opposition der beiden protestantischen Konfessionen auf deutschem Boden nach wie vor grundlegend: Hans Leube, Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie 1. (einziger) Band: Der Kampf um die Herrschaft im protestantischen Deutschland, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1928 Aalen: Scientia 1966. Dazu: Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, ed. Heinz-Horst Schrey, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969 (Wege der Forschung 107); Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers. Mit einer Einführung von Gerhard Sauter und einer kommentierten Bibliographie von Johannes Haun, München: Kaiser 1973 (Theologische Bücherei 49). Weitere Literatur bei Bernhard Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 2. durchges. Aufl. München: Beck 1982, p.207ss.

112

missen her undenkbar erschien und der theokratische Gedanke nirgendwo im offiziellen Protestantismus verankert zu werden vermochte. In diesem Sinn behält die Benjaminsche Formel von der »leeren Welt« im Umkreis der Wittenberger Theologie wo nicht in Bezug auf die individuelle Frömmigkeitspraxis, so doch im Blick auf die Gestaltung staatlichen Lebens, auf Sittlichkeit als gelungener Gestalt des objektiven Geistes, ihr volles Recht. Mochte in den lyrischen Kleinformen der Verlust an geschichtlichem Gehalt unter dem Primat formaler und thematischer Varietät zu verdecken sein — in den Großformen des Dramas und des Romans, und zwar jeweils in der »hohen« höfischen Spielart, mußte die staatspolitische Option im Sinne des Luthertums genau jene Folgen zeitigen, die Benjamin unter dem Titel der Auszehrung politisch-theologischer Substanz diagnostizierte. Eine wirklich utopische Perspektive ist denn auch nicht dem Drama, sondern dem Roman des 17. Jahrhunderts noch einmal zugewachsen, und dies bezeichnenderweise nicht aus dem Zentrum des Luthertums heraus, sondern eines erneuerten universalen Katholizismus, wie er nicht nur für Leibniz, nicht nur für Anton Ulrich von Braunschweig, sondern auch für den schlesischen Lutheraner Lohenstein im Blick auf das Wiener Kaisertum Leopolds I. nochmals kulturpolitische Attraktivität ausübte und das Wirken für ein neues universales Kaisertum in Mitteleuropa beflügelte. 185 Wolf Lepenies hat — ausgehend von den zivilisationshistorischen Forschungen Norbert Elias' — den bekannten »Königsmechanismus« — Machtbalance von Hochadel und Großbürgertum, politische Entmachtung des Schwertadels, sekundärer Handlungsersatz im höfischen Zermenoiell etc. — zum Ausgangspunkt einer Theorie von Langeweile und Melancholie im Frankreich des 17. Jahrhunderts gewählt.186 Ich denke, die bisherigen Erörterungen reichen hin, um anzudeuten, wieviel weitreichender und gefestigter sich die geschichtsphilosophische Fundierung der Melancholie im Werk Benjamins ausnimmt. Der Ausnahmezustand, wie er in den Bürgerkriegen manifest wird, und die verhängnisvolle Rezeption Luthers, in der kein Raum blieb für eine spezifisch politische Ethik, wenn man so will: für eine wie auch immer geartete citoyen-Sittlichkeit nach Maßgabe der Renaissance, sind die Eckpfeiler, mittels derer Benjamin seine Melancholie-Konzeption historisch-konfessionspolitisch verankert, der der dritte Abschnitt des ersten Teils gewidmet ist. Mit ihr findet die Vorbereitung der Allegorie-Theorie ihren Abschluß, deren eingehende Erörterung hier bewußt ausgeklammert bleiben soll. Die »tiefer Schürfenden«, so Benjamin in direktem Anschluß an das vorgelegte Zitat aus dem Eingang des dritten Abschnitts, »sahen sich in das Dasein als in ein Trümmerfeld halber, unechter Handlungen hineingestellt. Dagegen schlug das 185 186

Dazu die n.66 zitierte Arbeit von Szarota. Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, unter Bezug auf: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Vol. I—II, Basel: Haus zum Falken 1939, Reprint Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1976 bzw. stw 158-159, 1977; ders., Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969 (Soziologische Texte 54). 113

Leben selbst aus. Tief empfindet es, daß es dazu nicht da ist, um durch den Glauben bloß entwertet zu werden. Tief erfaßt es ein Grauen bei dem Gedanken, so könne sich das ganze Dasein abspielen. lief entsetzt es sich vor dem Gedanken an Tod. Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben. Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine Phänomenologie. Die Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar sich zeigte, ist demnach nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut, zu entrollen. Denn die Gefühle, wie vage immer sie der Selbstwahrnehmung scheinen mögen, erwidern als motorisches Gebaren einem gegenständlichen Aufbau der Welt.«187 Wie dieser in der entscheidenden Achsenzeit Europas zwischen 1550 und 1650 beschaffen ist, wurde angedeutet. Findet er im folgenden seine nähere Spezifizierung, so einerseits in Bezug auf die Sinnbilder, an welche der melancholische Trübsinn sich heftet, andererseits jedoch auch in Bezug auf eine neuerliche Differenzierung zwischen Renaissance und Barock sowie zwischen Barock und Mittelalter, auf die bestätigend und abschließend hier einzugehen ist. Sie betrifft zunächst noch einmal die Lehre von der Stoa. »Selbst dem Erbe der Renaissance gewann das Zeitalter die Stoffe ab, die den kontemplativen Starrkrampf vertiefen mußten. Von der stoischen outofteia zur Trauer ist es nur ein Schritt, möglich freilich erst im Räume des Christentums. Pseudoantik wie alles Antikische des Barock erweist sich auch seine Stoik. Für sie fällt eine Rezeption des rationalen Pessimismus viel weniger ins Gewicht als die Verödung, der die stoische Praxis den Menschen entgegenführt. Die Ertötung der Affekte, mit der die Lebenswellen verebben, aus denen sie sich im Leibe erheben, vermag die Distanz von der Umwelt bis zur Entfremdung vom eigenen Körper zu führen.« 188 Nochmals: Es gilt diese Charakteristik (die von seinen Freunden übrigens auch auf Benjamin selbst bezogen wurde) nicht für jene - nicht selten calvinistisch inspirierte — Heroik des Widerstands, für die das Westeuropa der Bürgerkriege so erhabene Exempel stiftete, sondern nur und allenfalls für jene Amalgamierung der Stoa im Raum des lutherischen Protestantismus, wie sie ihre bedeutungsvolle Präfiguration aus barockem Geist in Dürers Melancolia — »die Gerätschaften des tätigen Lebens am Boden ungenutzt« — und ihre epochale sinnbildliche Verkörperung in Shakespeares Hamlet fand. »Die Renaissance durchforscht den Weltraum, das Barock die Bibliotheken. [...] Das >Buch der Natur< und das >Buch der Zeiten< sind Gegenstände des barocken Sinnens. In ihnen hat es das Behauste und Gedeckte. Aber es steckt darinnen auch die bürgerliche Befangenheit des kaiserlich gekrönten Poeten, der längst nicht mehr die Würde Petrarcas hatte und sich über die Ergötzungen seiner >Nebenstunden< vornehm erhebt. Nicht zuletzt galt das Buch als immerwährendes Monument auf dem schriftreichen Naturschauplatze.« 189 Petrar187 188 189

Benjamin, Ursprung, I.e. p. 318. Op.cit. p.319. Op. cit. p. 319s.

114

cas Erschließung und produktive Aneignung der Antike war geleitet von der Idee einer restitutio Roms als eines poetischen wie als eines politischen Paradigmas. 190 Daher findet man ihn sogleich an der Seite Rienzos, als es um die Realisierung dieser Idee geht. Die Dichterkrönung selbst durch den römischen Senat ist ihm mehr und anderes als ein Mittel ständischer Selbstaufwertung wie im 17. Jahrhundert, nämlich Sigel und Unterpfand für die Einheit von Poesie und Politik, ist es doch der Dichter, der im Blick auf die antiken Archegeten Vergil und Horaz das Bild republikanischer Sittlichkeit und nationaler Selbstfindung unter dem Stern Roms beschwört. Diese Einheit, im Frühhumanismus des Trecento wie im »Bürgerhumanismus« des Quattrocento überall bezeugt und im Späthumanismus des konfessionellen Zeitalters zwischen 1570 und 1620 noch einmal so eindrucksvoll auch auf deutschem Boden belebt, verliert sich im lutherischen Deutschland des 17. Jahrhunderts merklich und die großen Ausnahmen bestätigen diese Regel. Die sog. Barockliteratur reagiert auf diesen Umbruch auf ihre (bisher so gut wie unerforschte) Weise. Intrigue und Tiefsinn im Trauerspiel sind für Benjamin zwei Seiten eines und desselben Sachverhalts, des Ausfalls motivierter, wahrhaft politisch inspirierter und das heißt zugleich von Hoffnung beflügelter Aktion, welche noch der geschichtlichen Trümmerstätte Splitter des messianischen Reiches zu entreißen imstande ist. Melancholie, wie sie sich vom Anblick des — naturhistorischen! — irdischen Jammertals nährt, ist ihrerseits der Nährboden der Allegorie, wie sie Benjamin als beherrschende Ausdrucksform sowohl des Barock wie der Moderne sehen gelehrt hat. Die Benjaminsche Theorie der Allegorie ist inzwischen gut erforscht; hier geht es deshalb nur um den Abschluß der geschichtsphilosophischen Ontologie des 17. Jahrhunderts. 191 Hat Benjamin — unermüdlich um jene Rettung bemüht, die er 190

Cf. Konrad Burdach, Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit, Berlin: Weidmann 1913-1928 (Vom Mittelalter zur Reformation, Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung II/l). — Die hier akzentuierte Differenz zwischen Renaissance und Barock hat ihr Äquivalent in einer weiteren, die Benjamin im Rückgriff auf Giehlow, Warburg, Panofsky und Saxl profiliert. Demnach aktualisiert und radikalisiert die Renaissance sowohl die Dialektik der antiken Humoralpathologie wie die der antiken Astrologie, innerhalb derer Melancholie nicht nur den Nährboden des Wahnsinns, sondern ebensowohl auch der Lehre von der Genialität bildet, wie sie insbesondere Marsilio Ficino und der Kreis der Florentiner Neuplatoniker entwickeln wird. Auch diese Spur verliert sich im 17. Jahrhundert bezeichnenderweise. Cf. Benjamin, op.cit. p.323ss.

191

Zum Allegoriebegriff Benjamins und seiner Melancholie-Theorie neben den einschlägigen und zum Teil n.88 zitierten Monographien sowie den n.46 zitierten Abhandlungen heranzuziehen: Ferrucio Masini, Melancholia illa allegorica. Glossa in margine all' Origine del dramma barocco tedesco, in: F.M., Brecht e Benjamin. Scienza della letteratura e ermeneutica materialista, Bari: D e Donat 1977, pp. 113—131, deutsche Version: Allegorie, Melancholie, Avantgarde. Zum »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: Walter Benjamin, Text und Kritik 31/32 ( 2 1979) 9 4 - 1 0 2 ; Stefano Benassi, Serra e Benjamin: Analogia e allegoria nella storia della critica letteraria, in: Riv. di estetica 19, H . 3 (1979) 58—76; Bruno Moroncini, Benjamin: Allegoria e rovina, in: Riv. di estetica 21, H. 8 (1981) pp. 108—120; Bainard Cowan, Walter Benjamin's Theory of AUegory, in: new german critique 22 (1981) 109-122.

115

am ehesten im allegorischen Tiefsinn geborgen sah — der Romantik die Entdekkung des differenten temporalen Modus in ihrer Symbol- und Allegorie-Theorie bescheinigt, so oblag ihm selbst wiederum deren geschichtsphilosophische Weiterbildung. »Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem B e trachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leid volles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz — nein in einem Totenkopf aus. Und so wahr alle >symbolische< Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt — es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barokken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt. Ist aber die Natur von jeher todverfallen, so ist sie auch allegorisch von jeher. Bedeutung und Tod sind so gezeitigt in historischer Entfaltung wie sie im gnadenlosen Sündenstand der Kreatur als Keime enge ineinandergreifen.« 1 9 2 Mit dieser Bestimmung wird der geschichtsphilosophisch-theologische Ertrag aus den realhistorisch-konfessionsgeschichtlichen Data, wie sie die vorangegangenen Passagen des Werkes angedeutet hatten, gezogen. Ist die Geschichte als leidvolle — und wann wäre sie intensiver als solche erfahren worden als im Zeitalter der Religionskriege? — unerschöpfliche Quelle des Trübsinns, das schicksalverhaftete Wüten des Tyrannen wie das Geschichte transzendierende Leiden des Märtyrers gleichermaßen evozierend, so fordert sie gerade als nicht beeinflußbare, nicht umkehrbare, vielmehr im gnadenlosen naturhistorischen Zustand verharrende um so nachdrücklicher zur Deutung heraus. Nur wo ihr Bedeutung abgerungen - oder imputiert — werden kann, ist zugleich partiell Sinnstiftung möglich. D a s nicht mit Bedeutung begabte Ding ist ein wertloses. In diesem Sinn wird »die profane Welt in allegorischer Betrachtung sowohl im Rang erhoben wie entwertet.« 1 9 3 Als gedeutete, unter dem einen beherrschenden Aspekt der Vergänglichkeit kodifizierte, als Schrift, geht sie auch ins Trauerspiel ein. Als solche partizipiert sie an der Dialektik, welche aller Schrift eignet, nämlich zugleich Ausdruck und Konvention zu sein, im Grunde jedoch als heilige in Hieroglyphik überzugehen. Was in der Gattungslehre im Widerspiel von leidendem Märtyrertum im B a r o c k und sittlicher Autonomie in der Klassik erschien, kehrt in der Formenlehre als Antinomie von plastischem Symbol und allegorischem Schriftbild wieder, dort organische Totalität repräsentierend, hier Fragment, amorphes Bruchstück. »Das Bild im Feld der allegorischen Intuition ist Bruchstück, Rune. Seine symbolische Schönheit verflüchtigt sich, da das Licht der Gottesgelahrtheit drauf trifft. D e r fal-

192 193

Benjamin, Ursprung, I.e. p.343. Op. cit. p.351.

116

sehe Schein der Totalität geht aus. Denn das Eidos verlischt, das Gleichnis geht ein, der Kosmos darinnen vertrocknet. In den dürren rebus, die bleiben, liegt Einsicht, die noch dem verworrenen Grübler greifbar ist. Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis zu gewahren, war wesensmäßig dem Klassizismus versagt. Gerade diese aber trägt die Allegorie des Barock, verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung vor.«194 Es ist dies nur, wenn man so will, das anthropologische Komplement zu jener angedeuteten Entzifferung des Gangs der Geschichte im Zeichen gnadenlosen Verfalls, dem einzig der Appell zum Widerstand, nein eigentlich zur Überwindung antwortet, nicht aber eingreifende, verändernde Praxis. Genauso wie die erneuerte Stoa konstruiert auch Descartes Geist, Vernunft in vermittlungslosem Dualismus zu einer entwerteten Natur, dem Körper als Sitz der vernunftwidrigen abzutötenden Affekte. Geschichte und Natur qua Naturgeschichte unter dem Titel Vergänglichkeit auf dem Schauplatz zu verkörpern, Zeitliches zu verräumlichen, Disparates im Simultanen zusammenzuziehen, ist daher ein Wesensgesetz aller barocken Kunst. »Mit dem Verfall, und einzig und allein mit ihm, schrumpft das historische Geschehen und geht ein in den Schauplatz. Der Inbegriff jener verfallenden Dinge ist der extreme Gegensatz zum Begriff der verklärten Natur, den die Frührenaissance faßte.« 195 Damit erweckt das Barock nach dem Zwischenspiel der Renaissance mittelalterliche Vorstellungen zu neuem Leben. Benjamin hat bezüglich der hier obwaltenden Affinitäten die klarste Vorstellung besessen. Vor allem die Kolumne »Götterleiber im Christentum« bezeugt dies eindringlich. »Dreifach ist zwischen der barocken und mittelalterlichen Christlichkeit die sachliche Verwandtschaft. Der Kampf gegen die Heidengötter, der Triumph der Allegorie, das Martyrium der Leiblichkeit gilt ihnen gleichermaßen notwendig. [...] Demnach sind die drei wichtigsten Momente im Ursprung abendländischer Allegorese unantik, widerantik: die Götter ragen in die fremde Welt hinein, sie werden böse und sie werden Kreatur«. 196 Die Vorstellung von Vergänglichkeit als ihrerseits geschichtlich formbestimmter wurde während zweier gleich mächtiger Erschütterungen im Abendland hervorgetrieben: im Untergang der antiken Welt nach dem Zusammenstoß mit den heidnischen Germanen sowie im Zusammenbruch der christlichen Welt während der konfessionspolitischen Bürgerkriege des frühneuzeitlichen Europa. Beidemal triumphiert das Formprinzip der Allegorie. »In Kunst sowie in Wissenschaft und Staat gab es im frühen Mittelalter nichts, was den Trümmern, welche in allen diesen Bereichen die Antike hinterlassen hatte, an die Seite gestellt werden konnte. Damals entsprang das Wissen um Vergänglichkeit unentrinnbarer Anschauung, so wie einige Jahrhunderte später zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges das gleiche sich der europäischen Menschheit vor Augen stellte. Dabei ist zu bemerken, daß vielleicht die sinnfälligsten Verheerungen diese Erfahrung nicht bitt194

Op. cit. p.352. Op. cit. p. 355. Cf. auch p.370. 196 Op. cit. p.394, p.399. 195

117

rer den Menschen aufdringen, als der Wandel der mit dem Anspruch des Ewigen ausgestatteten Rechtsnormen, wie er in jenen Zeitwenden sich besonders sichtbar vollzog. Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen.« 197 Und doch ist die Kluft zugleich abgrundtief und für die abschließende Theologie der Allegorie von schlechterdings konstitutiver Bedeutung. Denn das allegorische Verfahren des Barock ist anders als im Mittelalter nicht mehr durch die heilige Schrift und die auf ihr fußende Tradition allein verbürgt. »Indem mit der Renaissance Heidnisches, mit der Gegenreformation Christliches neu sich belebte, mußte auch die Allegorie, als Form ihrer Auseinandersetzung, sich erneuern.« 198 Doch so wie das Christentum dissoziiert ist in konkurrierende Konfessionen, so ist das allegorische Verfahren nicht mehr geleitet vom kodifizierten und durch die mittelalterliche una sancta ecclesia beglaubigten (vierfachen) Schriftsinn.199 Das allein ist doch die Voraussetzung für die von Benjamin wiederholt konstatierte »kalte schnellfertige Technik« der allegorischen Praxis, die immer im Widerstreit mit der Behauptung ihrer geheimen Würde, ihrer hieratischen Intention liegen wird. 200 »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten. Diese Möglichkeit spricht der profanen Welt ein vernichtendes doch gerechtes Urteil: sie wird gekennzeichnet als eine Welt, in der es aufs Detail so streng nicht ankommt.« 201 Diese Charakteristik wäre für das mittelalterliche Verfahren spiritualer Sinnentdeckung undenkbar. Sie setzt die Erfahrung der Lockerung, wo nicht des Geltungsverlusts der christlichen Normen nach der Wiederentdeckung der Antike und der Diskreditierung der christlichen Religion voraus. Mögen immer die profanen Dinge im Medium allegorischer Betrachtung auf eine höhere Ebene gehoben, ja der Intention nach geheiligt sein — die Beliebigkeit des Verfahrens zeugt doch zugleich von der Ohnmacht dieser Erneuerung mittelalterlich figural-typologischen Denkens. 202 Nicht Heiligung des Lebens, sondern Acedia ist das letzte Worte Benjamins im Umkreis allegorischer Praxis. Wohl wahrt der Allegoriker den Dingen in seinem Tiefsinn beispiellos die Treue, doch um den Verrat des Lebens. Die Bedeutung ist eine bewußt verliehene, von sich aus eignet dem Gegenstand kein Sinn. »An Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht. Er legt's in ihn hinein und langt hinunter: das ist nicht psychologisch sondern ontologisch hier der Sachverhalt. In seiner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wis197 198 199

200 201 202

Op. cit. p. 397. Op. cit. p. 400. Dazu neben den n. 46 aufgeführten Arbeiten auch: Friedrich Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (1958/59), Dannstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966 (Libelli 218); umfassend: Henri de Lubac, Exégèse Médiévale. Les quatre sens de l'Ecriture, Vol. 1/1—2—II/l—2, Paris: Aubier 1959. Benjamin, Ursprung, I.e. p. 351. Op. cit. p.350. Cf. op. cit. p. 351, dazu die n.46 angegebene Literatur.

118

sens, als dessen Emblem er es verehrt.« 2 0 3 Es ist dies, so muß verstanden werden, die Konsequenz aus einem dem Mittelalter gänzlich fremden Prinzip. »Aus dem heilsgeschichtlichen Geschehen sondert man das Ewige ab und was bleibt, ist ein allen Korrekturen der Regie erreichbares lebendes Bild.« 2 0 4 So bezeichnet Böhmes Natursprachenlehre notwendig den Gegenpol zur Versklavung der Dinge unter willkürliche Bedeutungen. Die Grenze der Allegorie wie des barocken Trauerspiels ist daher nur einer Darstellung der Idee zugänglich, in der allein beide sich vollenden. Spottet die Materie in höllischer Lustigkeit des Versuchs ihrer allegorischen Fixierung, so weil diese aufs absolute Wissen aus ist. »Wissen, nicht Handeln ist die eigenste Daseinsform des Bösen. Und demgemäß ist physische Verführung, als Wollust, Völlerei und Trägheit, sinnlich nur begriffen, bei weitem nicht sein einziger, j a streng genommen gar kein letzter und genauer Seinsgrund. Dieser vielmehr eröffnet sich mit der Fata morgana eines Reiches der absoluten, das ist gottlosen Geistigkeit, wie es, als Gegenstück dem Materialischen verbunden, das Böse erst konkret erfahren läßt. Der in ihm herrschende Gemütszustand ist die Trauer, zugleich die Mutter der Allegorien und ihr Gehalt. Und ihm entstammen drei ursprüngliche satanische Verheißungen. Sie sind geistiger Art. In der Gestalt bald des Tyrannen, bald des Intriganten zeigt immerfort das Trauerspiel sie wirksam. Was lockt, ist der Schein der Freiheit - im Ergründen des Verbotenen; der Schein der Selbständigkeit — in der Sezession aus der Gemeinschaft der Frommen; der Schein der Unendlichkeit - in dem leeren Abgrund des Bösen. Denn es eignet aller Tugend, ein Ende — ihr Vorbild nämlich, in Gott - vor sich zu haben; so wie alle Verworfenheit einen unendlichen Progreß in die Tiefe eröffnet. Die Theologie des Bösen ist somit dem Sturze Satans, in dem die genannten Motive sich bestätigen, weit eher zu entnehmen, als den Verwarnungen, in denen die kirchliche Lehre den Seelenfänger darzustellen pflegt. Die absolute Geistigkeit, die im Satan gemeint ist, bringt in der Emanzipation vom Heiligen sich um das Leben.« 2 0 5 Nur wo in der abgrundtiefen Versenkung in die Vergänglichkeit der Umschlag von der Allegorie der Vergänglichkeit in die der Auferstehung statthat, der Allegoriker nach der unwiederholbaren Formulierung Benjamins in Gottes Welt erwacht, zergehen auch die Ingredienzien des Allegorikers: »das geheime, privilegierte Wissen, die Willkürherrschaft im Bereich der toten Dinge, die vermeintliche Unendlichkeit der Hoffnungsleere.« 206 Mit ihnen aber wird am Ende des Trauerspielbuchs ebenso wie am Ende der gleichzeitigen »Einbahnstraße« die Phantasmagorie des Triumphs bürgerlicher Subjektivität manifest und zwar gleichermaßen gefaßt als wissende Willkürherrschaft über Dinge wie als Verpanzerung in das Ich absoluter Sittlichkeit. Die Anschauung des seligen Namens dort, die Heraussprengung revolutionärer Potenzen aus der mythischen Vergangenheit hier; das Eingehen in die Gemeinschaft der Frommen dort, die Solidarität mit den Ge-

203 204 205 206

Op. cit. Op. cit. Op. cit. Op. cit.

p.359. p.358. p.403s. p.406. 119

knechteten und Geschändeten hier — sie bezeichnen die Fluchtpunkte des letzten explizit metaphysischen wie des ersten explizit materialistischen Werkes Benjamins, wie sie in der politischen Theologie als der ureigensten Prägung Benjamins konvergieren und in den posthumen geschichtsphilosophischen Thesen ihr bleibendes Vermächtnis fanden. Ist nicht in ihnen noch der geschichtsphilosophische Gehalt des Trauerspielbuchs geborgen?

120

III. Stationen der Benjamin-Rezeption 1940-1985

Kein Autor im Umkreis des Neo-Marxismus hat konzentrierter und erfolgreicher an einer Theorie der Rezeption ästhetischer Gebilde gearbeitet als Walter Benjamin; keinem Autor ist eine nachhaltigere posthume Rezeption zuteil geworden als eben Walter Benjamin. Sie hat in der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts überhaupt keine Parallele; in der der Literatur allenfalls bei Kafka. Wo aber die Auseinandersetzung mit dem Werk Kafkas im weitesten Sinn ein literarisches und wissenschaftlich-exegetisches Ereignis blieb, da knüpften sich an die Aufnahme Benjamins vielfach auch politische Hoffnungen und Impulse. Sie sind ein Indikator dafür, daß im Werk Benjamins ästhetische (wie epistemologische) Motive aufs engste mit geschichtsphilosophisch-messianischen und moralisch-politischen verquickt sind. In der Rezeption werden in wechselnden Konstellationen bestimmte Elemente und Figurationen des Benjaminschen Denkens freigesetzt, die über den Autor hinausweisen und das Selbstverständnis, die Identität der Rezipienten in Diskussion und Kritik befördern. Daher die vielfach zu beobachtende Leidenschaftlichkeit in der Aneignung; daher die bittere Polemik gegen jedwede kulturpolitische Praxis im Namen Benjamins von Seiten der Gegner. Denn im besten Fall — und es hat solche Phasen in der Benjamin-Rezeption gegeben! — konstituiert sich in der authentischen Rezeption »Jetztzeit« in jenem emphatischen Sinne, den Benjamin dem Begriff zu leihen imstande war. Benjamin hat schon in seinem Frühwerk auf der Autonomie und Autogenität der Rezeption bestanden. 1 So kompromißlos Benjamin die Esoterik der Werke wie ihre Auslegung gegen die Erwartungen, Interessen, Kompetenzen der Aufnehmenden verteidigte, so bestimmt wußte er — im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Zunft — um die prinzipielle Unabgeschlossenheit der ästhetischen Gebilde. Sie bedürfen zu ihrer Vollendung — so in Übereinstimmung mit der frühromantischen Kunstphilosophie — der Reflexion, die auf ihren Wahrheitsgehalt zielt. Als solche aber führen sie schon für den jungen Benjamin einen zeitlichen Index mit sich. Denn die philosophische Konstruktion der Werke umgreift ihre Vor- wie ihre Nachgeschichte und ist — in Analogie zu Leibniz — monadologisch gedacht. Die Begegnung mit der marxistischen Theorie (noch in der Abschlußphase des Trauerspielbuchs 1924) blieb auch deshalb so bedeutsam, weil sie Benjamin instandsetzte, die Hauptstücke seiner Ästhetik historisch-materialistisch und ge1

Ich resümiere in aller Kürze Ausführungen, die ich erstmals vorgetragen habe in: Klaus Garber, Martin Opitz »der Vater der deutschen Dichtung«. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Stuttgart: Metzler 1976, pp.8—16. Cf. jetzt die erste Abhandlung dieses Buches.

121

schichtsphilosophisch zu spezifizieren. Nicht nur konkretisierte sich die Theorie der Vorgeschichte u. a. zur Erkenntnis der materiellen Produktions-Bedingungen der Werke. Vielmehr zeitigte die seit je angelegte Theorie der Nachgeschichte der Werke jetzt ihre fruchtbarsten Impulse. Denn nun gelingt Benjamin deren gesellschaftskritische Fundierung ebenso wie die distinkte Artikulation des politisch-gesellschaftlichen Auftrags des Historikers. Eine gelungene Rezeption der Werke bleibt zum Skandalon des gesamten bürgerlichen Historismus gebunden an den qualifizierten, theoretisch wie praktisch gleichermaßen ausgewiesenen Standort des Historikers in der Gegenwart als dem unabdingbaren Fluchtpunkt jedweder Rekonstruktion. Daß dieser nicht interesse- und parteilos, sondern unter Paralysierung des warenfetischistischen Scheins im Wirken für die unterdrückte Klasse zu markieren ist, unterscheidet Benjamins Theorie schon im Ansatz von den subjektlosen im Poststrukturalismus. Entsprechend bildet Rezeptionsgeschichte nicht eine unendliche Reihe von historischen Werturteilen interesselos ab, sondern ist ein genuin kritisches Geschäft, in dem die Rezipienten gegen die Werke und umgekehrt ins Spiel gebracht werden. In diesem Sinn bereitet die Nachgeschichte der Werke ihre Kritik vor, so wie umgekehrt die wahrhaft geschichtliche Erkenntnis der Werke die kritische Instanz gegen ihre geschichtslose Adaption qua Einfühlung darstellt. Deshalb bleibt die Erschließung der nachmittelalterlichen modernen Kunst an die Rekonstruktion der Formation wie der Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft gebunden, weil nur so der Schein von den Werken wie ihrer Aneignung zu nehmen ist. 2 Die Benjaminsche Theorie der Rezeption liefert zugleich die einschlägigen Vorgaben für die Rezeptionsgeschichte ihres Urhebers. Intendiert ist weder ein reiner Forschungsbericht noch eine von den Forschungsresultaten souverän abstrahierende politische Funktionsgeschichte Benjamins. Richtig angelegt ist jeder Forschungsbericht zugleich ein wichtiges Segment aus der Wirkungsgeschichte eines Autors. Gibt es in den historisch-philologischen Disziplinen keine Erkenntnis unter Eliminierung der — wie zufällig womöglich ins Spiel geratenen — Subjekte, so darf sich auch der sog. »Forschungsbericht« nicht auf die Reproduktion vermeintlich geschiehtsloser »objektiver« Resultate beschränken, sondern muß die transsubjektiven, eben die im weitesten Sinn historischen Implikationen und derart die Genesis wie die Geltung der Forschungsergebnisse mit entfalten. Erst wenn das sichergestellt ist, darf in einem weiteren Schritt sozusagen unter arbeitsteiligem Gesichtspunkt eine mögliche partielle Differenz zwischen Forschungsbericht und Rezeptionsgeschichte ins Auge gefaßt werden. Sie ist pragmatisch gedacht und markiert zugleich den Rahmen für die folgenden Ausführungen. Der Forschungsbericht steht unter einem gewissen Gebot der Vollständigkeit. Keine Arbeit, die effektiv einen Zuwachs an Erkenntnis gebracht hat, sollte fehlen; das nur wissenschaftsgeschichtlich symptomatische Dokument darf ggf. ausgeschieden 2

Dazu Klaus Garber, Thirteen Theses on Literary Criticism, in: new german critique 1 (1973) 126—132; Garber, Gelehrtenadel und feudalabsolutistischer Staat. Zehn Thesen zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der »Intelligenz« in der Frühen Neuzeit, Berlin 1983 (Argument-Sonderband 103) 31-43.

122

werden. In der Erschließung des soziokulturellen und politischen Umfelds mag sich der Forschungsbericht, sofern die Grenze nur bewußt bleibt, eine gewisse Beschränkung auferlegen. Der wissenschaftsinterne, in den Einzeldisziplinen vorgegebene Diskurszusammenhang mag unter dem Zwang zur Spezialisierung dominieren. In der Rezeptionsgeschichte hingegen wird per definitionem primär vom Wirkungs-Potential her argumentiert. Maßgeblich ist nicht der wissenschaftliche Rang, sondern der historische Zeugniswert des Rezeptionsdokuments. Immer auch wird sein materialer Gehalt bedeutsam sein. Und doch richtet sich die Optik vorrangig auf die Bedingungen, unter denen es produziert wurde, auf die Bedürfnisse, denen es entgegenkam bzw. widerstritt, auf die Impulse, die es auslöste bzw. die ihm versagt blieben. Rezeptionsgeschichte möchte das Rezeptionsdokument als Ausdrucksträger im geschichtlichen Kräftefeld und das heißt als Zeugnis wie als wirksamen Faktor begreifen. Ihr weiterer, interdisziplinärer Ausgriff legitimiert sie zum freieren, auf Auswahl bedachten Umgang mit den vorliegenden Quellen. In ihr hat das forschungsgeschichtlich irrelevante Dokument prinzipiell dengleichen Status wie das hervorragende Forschungsresultat, weil sie den verschlungenen Pfaden der Aneignung eines Autors und seines Werkes nachzugehen sucht. Denn doxagesättigt, so Benjamin in einer unvergleichlichen und fragmentarischen Äußerung aus der Spätzeit, ist ihr Objekt allemal und Kritik, Sonderung des Wahren vom Falschen, steht nicht an ihrem Anfang, sondern an ihrem Ende. 3 In diesem Sinn sucht auch die nachfolgende Skizze aus den inzwischen reichlich fließenden Quellen das für Benjamin und seine Exegeten Signifikante auszusondern, dem der Geschmack des Aktuellen immer noch anhaftet. Völlig zu Recht hat Adorno darauf hingewiesen, daß Benjamin auch zu Lebzeiten kein Unbekannter war, sein Nimbus ihm nicht erst in den sechziger Jahren zugewachsen sei. Die literarischen Beziehungen sind weit verzweigt. Benjamin war alles andere als ein jetzt (1966) erst wiederentdeckter Verkannter. Seine Qualität konnte nur dem Neid verborgen bleiben; durch publizistische Medien wie die Frankfurter Zeitung und die Literarische Welt wurde sie allgemein sichtbar. Erst im Vorfaschismus wurde er zurückgedrängt; noch in den ersten Jahren der Hitlerdiktatur vermochte er, pseudonym, in Deutschland weiter manches zu veröffentlichen. Fortschreitend vermitteln die Briefe ein Bild nicht nur von ihm, sondern auch vom geistigen Klima der Epoche. Die Breite seiner sachlichen und privaten Kontakte war von keiner Politik beeinträchtigt. Sie reichte von Florens Christian Rang und Hofmannsthal bis Brecht. 4

Sein immer wieder beschworenes Denken in Extremen bewährte sich auch in den Verbindungen, die er in seinem Leben einging; wenn er die Freunde, wie gleichfalls von Adorno bezeugt, gerne auseinanderhielt, so gewiß auch, um die Freiheit zur geistigen »Verwendung« sich bewußt zu wahren. Die ausstehende große editorische Aufgabe, die Rekonstruktion und uneingeschränkte Publikation seines Briefwechsels, wird dokumentieren, in welch dichtes, geistig bedeutsames Beziehungs3

4

Cf. Walter Benjamin, Fragment über Methodenfragen einer marxistischen Literatur-Analyse, in: Kursbuch 20 (1970) 1 - 9 . Theodor W. Adomo, Über Walter Benjamin, Frankfurt 1970 (Bibliothek Suhrkamp 260) p.88s.

123

geflecht Benjamin insbesondere in der Weimarer Republik verwoben war. Vom Vergessen bedroht war er nach seinem Selbstmord in den letzten Jahren des HitlerRegimes und in der Aufbauphase der beiden deutschen Staaten gleichermaßen. Die große Chance zur wirksamen Aneignung zwischen 1945 und 1949 konnte so gut wie nicht genutzt werden, weil die Schriften Benjamins nur gänzlich zerstreut und fragmentarisch überliefert waren und die Freunde und Sachwalter des Erbes entweder gleichfalls nicht überlebt oder die Rückkehr nach Europa ihrerseits erst zu bewerkstelligen hatten.

1. Der Beitrag Theodor W. Adornos Es bleibt in dieser Situation das große, durch nichts zu schmälernde Verdienst Theodor W. Adornos, die Repatriierung Benjamins in Deutschland nach Maßgabe des Möglichen initiiert und über Jahre hinweg zäh befördert zu haben. 5 Seit dem Erscheinen des Trauerspielbuchs, dessen säkularen und völlig inkommensurablen Rang er sogleich erkannte, hat Adorno, philosophisch versiert wie niemand sonst unter den Benjamin Nahestehenden, die Schriften Benjamins produktiv und kritisch zu begleiten gesucht. Daß seine Interventionen im Namen makelloser Vermittlungs-Dialektik vor allem anläßlich des »Baudelaire« Benjamin nicht nur inspirierten, sondern gelegentlich eher lähmten, steht auf einem anderen Blatt. Desgleichen darf keine Rancune Adornos angesichts der rapiden Breitenwirkung Benjamins in den späten sechziger Jahren seinen Anteil an der Wiederentdeckung Benjamins vergessen machen. Verdankt Adorno niemandem unter seinen Zeitgenossen mehr als dem älteren Freund und Weggefährten, so hat er unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen der Adenauer-Restauration das Menschenmögliche getan, um Leben und Werk Benjamins der literarischen Öffentlichkeit zurückzugewinnen. E r blieb der Katalysator des Benjaminschen Ruhms. Schon die unmittelbar nach Bekanntwerden von Benjamins Tod verfaßte Notiz »Zu Benjamins Gedächtnis« im »Aufbau« (1940) akzentuiert in knappster Komprimierung das kritische wie das utopische Potential der Philosophie Benjamins, wie es in engster Tuchfühlung mit den Dingen unter der Frage ihres Wahrheitsgehalts sich entfaltet. 5

Adornos Benjamin-Rezeption ist sowohl in den unten zu besprechenden in- und ausländischen Benjamin-Monographien wie in den hier nicht zu berücksichtigenden Adorno-Darstellungen bzw. den Arbeiten zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung immer wieder skizziert, in ihrem philosophischen Gehalt jedoch kaum jemals analysiert worden. Hier sei — neben den später zu erwähnenden Arbeiten von Arendt, von Heißenbüttel, von Heise, von Kambas u. a. — nur verwiesen auf: Hildegard Brenner,TheodorW. Adorno als Sachwalter des Benjaminschen Erbes, in: Die neue Linke nach Adorno, ed. Wilfried W. Schoeller, München 1969 (Kindler Paperback) pp. 1 5 8 - 1 7 5 . Die bislang eingehendste Adorno-Monographie handelt wiederholt und einläßlich von Benjamins Einfluß auf Adorno und über die Divergenzen der beiden Theoretiker: Carlo Pettazzi,Th. Wiesengrund Adorno, linee di origine e di sviluppo del pensiero ( 1 9 3 0 - 1 9 4 9 ) , Firenze: LaNuovaItalia 1979 (Pubbl. d. Fac. di Lettere e filos. d. Un. di Milano 86; Sez. a cura d. Ist. d. filos. 24).

124

Wenn noch einmal einer den verrufenen Begriff des Philosophen zu Ehren brachte; wenn noch einmal einer, durch Kraft und Ursprünglichkeit des Gedankens, der Möglichkeit im Wirklichen inneward, so war es Walter Benjamin. [ . . . ] Es hat sich darin die Tradition der jüdischen Theologie in einem Denken durchgesetzt, das sich auf profane Stoffe bezog, um in ihren undurchdringlichsten Schichten der Spur der Wahrheit habhaft zu werden. 6

Klar artikuliert noch in der Miszelle ist der Prozeß der Transformation, dem zentrale dialektische Kategorien aus dem Frühwerk wie die der »Unwirklichkeit der Verzweiflung« und — antithetisch dazu — die vom mythischen »Schuldzusammenhang des Lebendigen« im Spätwerk unter materialistischen Vorzeichen unterliegen. Verloren aber ist der Blick, der aus der Perspektive des Toten die Welt sah, als läge sie in Sonnenfinsternis vor ihm: so wie sie dem Blick des Erlösten erscheinen mag; so wie sie ist. Unerschöpflich schenkte der todtraurige Blick alle Wärme und Hoffnung in dem erkalteten Leben. 7

Adorno hat dafür Sorge getragen, daß der letzte im Zeichen des Todes geschriebene Text, dem die vermutlich nachhaltigste Wirkungsgeschichte beschieden war und dem Adorno sogleich den Charakter eines Vermächtnisses zusprach, daß die geschichtsphilosophischen Thesen oder, wie es genauer heißt, daß die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« in einem hektographierten Gedächtnisband des Instituts für Sozialforschung für Benjamin 1942 zugänglich wurden. Wie kaum ein anderer Text Benjamins auf die Chancen revolutionärer Praxis in politisch hoffnungsloser Situation rekurrierend, gesteht Adorno gleichwohl nur dem »Denken« zu, der »Wahrheit dieser Gedanken die Treue zu halten«. 8 Auf dem Wege zur »Dialektik der Aufklärung« sind damit schon in den vierziger Jahren die Umrisse des Benjamin-Bildes erkennbar, die dann in den fünfziger Jahren deutlich konturiert werden, um in den sechziger Jahren die Folie einer vehementen Polemik abzugeben. In zwei großen, sprachlich wie gedanklich gleich schönen und gediegenen Beiträgen hat Adorno das Seine zur Rettung Benjamins getan. 1950 erscheint an weithin sichtbarer Stelle anläßlich des zehnten Todestages die »Charakteristik Walter Benjamins« in der »Neuen Rundschau«, fünf Jahre später die große Einleitung zur zweibändigen Edition seiner »Schriften«. 9 Chancen wie Gefahren des Adornoschen Zugangs zu Benjamin liegen hier unmittelbar nebeneinander. Die Produktivität des eigenen Denkens geleitet Adorno immer wieder ins Zentrum des Benjaminschen, überblendet dieses jedoch auch immer wieder im Namen der eigenen Philosophie, so daß Kritik und Scheidekunst im Interesse der Divergenzen gebo6

7 8

9

Im folgenden grundsätzlich zitiert nach der n. 4 angegebenen Ausgabe der Schriften Adornos über Benjamin, hier p.9. Op. cit. p. 10. Notiz Theodor W. Adornos für die Gedächtnisschrift; als IVposkript im Max-HorkheimerArchiv, Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/M. Vf. dankt Herrn Dr. Powitz und Herrn Dr. Schmid Noerr für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in den Nachlaß. Abdruck in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften (G.S.) 1/3, ed. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, p. 1223s. Abgedruckt bei Adorno, Ober Walter Benjamin, I.e. pp. 1 1 - 2 9 , 33—51.

125

ten bleiben. Niemals wieder ist mit solcher Eindringlichkeit (und Authenzität, wenn zu sagen dies erlaubt ist) auf Konkretion als dem Auszeichnenden und Singulären des Benjaminschen Denkens beharrt worden. Adornos Philosophie des Nicht-Identischen, in der Begegnung mit Benjamin sich formend, bildet nun retrospektiv einen der Schlüssel zur Gedankenwelt Benjamins. Seiner Insistenz löste das Unauflösliche sich auf; dort gerade ward er des Wesens habhaft, wo die Mauer bloßer Tatsächlichkeit alles trugvoll Wesenhafte unerbittlich verwehrt. Ihn trieb es, formelhaft gesprochen, dazu, aus einer Logik auszubrechen, welche das Besondere mit dem Allgemeinen überspinnt oder das Allgemeine bloß aus dem Besonderen herausabstrahiert. Er wollte das Wesen begreifen, wo es weder in automatischer Operation sich abdestillieren noch dubios sich erschauen läßt: es methodisch erraten aus der Konfiguration bedeutungsferner Elemente. Das Rebus wird zum Modell seiner Philosophie.10

Gleich weit entfernt vom faktenbesessenen Positivismus wie von abstrakter Wesenslogik, vom Erwähltheits-Pathos der George-Schule wie vom Kult der Intuition in der Bergson-Nachfolge, verkörpert sich für Adorno in Benjamin jene Art authentischer, weil zeitgemäßer und doch den Moden der Zeit nicht unterworfener Erfahrung, die seine eigene Philosophie ihrerseits lebenslang umkreiste. Indem Benjamin sich rückhaltlos der Gegenwart in allen ihren und auch noch den abseitigsten Manifestationen stellte, sie zu durchdringen suchte, ohne sich an sie preiszugeben, das Fremde in bedeutungsvoller Konstellation assimilierte, ohne je die Instanz von Kritik als dem Organon von Wahrheit zu verleugnen, bildete er für Adorno die Inkarnation jenes dialektischen Vermögens, das in seinen Augen nur eine Parallele in der Geschichte der Philosophie besaß, in der Gestalt Hegels, von dem Benjamin doch zugleich viel weiter als Adorno entfernt blieb. Gerade weil Adorno dem affirmativen Gestus der Identität stiftenden Hegeischen Dialektik zutiefst mißtraute, überhaupt um die Defizite der Hegeischen Philsophie wie kaum einer der Hegelianer sonst wußte, gewann Benjamin für ihn jene säkulare Statur, wurde doch in seinem Werk (wie unbewußt und ohne expliziten traditionsgeschichtlichen Rückbezug auch immer) der Geist der Hegeischen Dialektik unter den Bedingungen der Moderne ein letztes Mal jenseits der Geburtsfehler des objektiven Idealismus Wirklichkeit. Wenn Adorno immer wieder unvergeßliche Formulierungen des Benjaminschen Genies gelangen, so deshalb, weil in Benjamin das Eigenste seines Denkens vorgeprägt war. Gebunden aber ist das metaphysische Ingenium Benjamins an die an seinen Namen sich knüpfende Idee von Glück — auch sie zentrales Element der Adornoschen Philosophie und wie in ihr so im Blick auf Benjamin konzipiert als Glück entsagungslosen, erfahrungsgesättigten Denkens. So wenig wie das sinnliche Glück, das von der traditionellen Moral der Arbeit verpönt ist, läßt Benjamins Denken dessen geistigen Gegenpol, die Beziehung aufs Absolute, sich verwehren. Denn untrennbar ist Übernatur von der Erfüllung des Natürlichen. Daher spinnt Benjamin die Beziehung aufs Absolute nicht aus dem Begriff heraus, sondern sucht sie in leibhafter Fühlung mit den Stoffen.11 10 11

Op.cit. p. 12. Op.cit. p.35.

126

Eben die »zarte Unwiderstehlichkeit« seines Denkens, so Adorno, rühre her von einem Zug, den die Departementalisierung des Geistes sonst der Kunst vorbehält, der aber, umgesetzt in Theorie, des Scheins sich entäußert und unvergleichliche Würde annimmt: dem Versprechen von Glück. 12

Dessen Vermittlung mit Politik, beherrschendes Thema des Benjaminschen Spätwerks, ist bei Adorno in symptomatischer Weise ausgeklammert. Wo der Verblendungszusammenhang in der spätkapitalistischen Gesellschaft wie auf andere Weise im »realen Sozialismus« ein totaler ist, bleibt kein Raum für den Gedanken an Praxis. Gerade ihm aber hat Benjamin, der von seiner Konzeption der Geschichte als Trümmerstätte her wie niemand sonst gefeit war gegen Illusionen, auch in den schwärzesten Tagen des Hitler-Stalin-Paktes die Treue gehalten. Ist Erfüllung im Denken, wie Adorno gut materialistisch weiß, an Erfüllung im Natürlichen gebunden, so verbleibt, wo politische Einlösung unabsehbar geworden ist, Glück auf das des Denkens eingeschränkt. Antipodisch wie der Glückbegriff sind die beiden Dichter, mit denen Benjamin echte Wahlverwandtschaft verband, wie Adorno stets sah: Proust und Kafka. Beide Dichter aber vermittelt Adorno mit Benjamin über den Begriff der Trauer. Trauer — nicht Traurigkeit, wie Adorno zu Recht hervorhebt, — nährt sich an derTodesverfallenheit alles Kreatürlichen im Frühwerk nicht minder als an den Katastrophen der Geschichte, wie sie Benjamin zur leibhaftigsten Erfahrung wurden und sich im Spätwerk geschichtstheoretisch-politisch spezifizieren. Schlug die in den Abgrund der Bedeutungen sich stürzende Subjektivität am Schluß des Trauerspielbuchs allegorisch in den Gedanken an Erlösung um, so erblickt Adorno darin nochmals allegorisch den Verweis auf den antisubjektivistischen Impetus der Benjaminschen Philosophie. In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjekts und die Rettung des Menschen zusammengedacht. 13

Von daher besitzen die vergleichsweise frühen Arbeiten über »Schicksal und Charakter« oder zur »Kritik der Gewalt«, schließlich auch das von Adorno in die Spätzeit verlegte »Theologisch-politische Fragment« eine prominente Stelle in Adornos Benjamin-Exegese. Es ist Adorno gewesen, der als erster auf die Opposition von Mythos und Versöhnung als einem geheimen Nerv des Benjaminschen Denkens hingewiesen hat. Hier bei Benjamin ist die Kritik der Innerlichkeit präfiguriert, wie Adorno sie dann im »Jargon der Eigentlichkeit« gegen Heidegger gewendet entfalten sollte. Zwischen den Polen Mythos und Versöhnung, so Adorno richtig, zergeht das Subjekt. Denn nicht nur die äußerste Vieldeutigkeit und Vielgestaltigkeit des Mythos ist der Widerpart subjektiver Autonomie, sondern auch die Idee der Versöhnung des Menschen mit der Schöpfung, hat sie doch »die Auflösung alles selbstgesetzten Menschenwesens zur Bedingung«. 133 Durch Adorno ist bezeugt, daß Benjamin menschliches »Selbst« nur als mystisches, nicht aber als metaphysisches-erkenntniskritisches, als »Substantialität« anerkannte. Die Idee n

Op. cit. p. 12s. Op. cit. p. 14. 13a Op. cit. p.21. 13

127

der Versöhnung von Mensch und Natur aber war Benjamin nicht nur in der jüdisch- bzw. christlich-mystischen Tradition des Barock gegenwärtig, sondern auch über die der Romantik und des utopischen Sozialismus, wie das Fourier-Zitat in den »Thesen« zeigt. Sehr genau nimmt Adorno die Transformation dieser Idee im Spätwerk wahr. Spezifiziert sich die Lehre vom Mythischen in der vom Immergleichen als Signum der Moderne im Zeitalter des Hochkapitalismus, geht die Lehre vom Schicksal als dem »Schuldzusammenhang des Lebendigen« über in die vom Schuldzusammenhang der Gesellschaft - »Solange es noch einen Bettler gibt, gibt es noch Mythos« —, so bleibt der Gedanke der Versöhnung im Spätwerk in Adornos Exegese wieder erstaunlich wenig entwickelt, erscheint zentriert um Epistemologisches, namentlich Benjamins Idee einer »Dialektik im Stillstand«, wird nicht an Praxis geknüpft. Daß die Schlußwendung aus dem Wahlverwandtschaften-Aufsatz »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben« ihre Korrespondenz in den »geschichtsphilosophischen Thesen« in dem Diktum hat, daß Haß und Opferwillen der Arbeiterklasse sich »nähren an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel«, bleibt ungesagt bei Adorno. Niemandem verdankt der Schriftsteller und Essayist Adorno mehr als Benjamin; niemand hat sich kompetenter und eindringlicher über die Form der Darstellung Benjamins als der einzig adäquaten Repräsentation von Ideen geäußert als Adorno. Adornos großer einleitender Essay zum ersten Band seiner »Noten zur Literatur«, in der Mitte der fünfziger Jahre geschrieben, lebt von Benjamins Theorie der Darstellung, zumal der erkenntnistheoretischen Vorrede zum Trauerspielbuch (ohne diese freilich, entgegen der sonstigen Gepflogenheit Adornos, auch nur ein einziges Mal beizuziehen).14 In den expliziten Arbeiten über Benjamin hat Adorno sich hingegen um so eingehender zum Benjaminschen Stilideal geäußert und damit (sofern dies überhaupt möglich ist) das Seine zur angemessenen Lektüre Benjamins (parallel zu seinem Propädeutikum Hegels) getan. Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtliches, Manifestationen des objektiven Geistes, >Kultur< so anzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig wie kaum einer.15

So Adorno in der an Benjamin orientierten Bündigkeit und Apodiktik der Formulierung. Adorno greift damit auf Vorstellungen zurück, die bereits 1932 in Anlehnung an Lukäcs und Benjamin in seinem Vortrag »Die Idee der Naturgeschichte« entwickelt worden waren und die später in das große Kapitel »Weltgeist und Naturgeschichte« in der >Negativen Dialektik< eingingen.16 Benjamin hatte den Gedanken der Naturgeschichte strikt auf das 17. Jahrhundert und hier nochmals auf die Gattung des Trauerspiels bezogen. Geschichte erscheint ihm als bedeutungsvolle, als Schrift, denn sie verweist immer wieder auf das Eine des kreatürlichen Seins, 14

15 16

Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1958 (Bibliothek Suhrkamp 47) p p . 9 - 4 9 . Adorno, Über Walter Benjamin, I.e. p. 17. Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, in: Adorno, Philosophische Frühschriften, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (Gesammelte Schriften I) pp.345—365.

128

auf Leid, Verfehlung und Schuld, insgesamt auf Vergänglichkeit; nichts Dauerndes, kein Element von »Übernatur« läßt sich an ihr gewahren; sie unterliegt den gleichen Modalitäten wie die außermenschliche Natur: Geschichte als Natur-Geschichte. Adorno treibt die dieser Anschauung inhärenten dialektischen Potenzen radikal hervor und hypostasiert sie in nicht unbedenklicherWeise zu einer Theorie von Geschichte im Werk Benjamins schlechthin, ungeachtet der Einsicht, daß »naturgeschichtliche Fragestellungen nicht als generelle Strukturen möglich sind, sondern nur als Deutung der konkreten Geschichte«.17 So konturiert sich die Physiognomie Benjamins gerade an dieser Stelle in zentralen Begriffen der Philosophie Adornos mittels der auf Hegel und Marx rückbezogenen Kategorien. Der Hegeische Begriff der zweiten Natur als der Vergegenständlichung sich selbst entfremdeter menschlicher Verhältnisse, auch die Marxische Kategorie des Warenfetischismus gewinnt bei Benjamin eine Schlüsselposition. Ihn fesselt nicht bloß, geronnenes Leben im Versteinten - wie in der Allegorie — zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten, daß es längst vergangen, >urgeschichtlich< sich präsentiert und jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet den Warenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Ding sich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit entzaubere. 18

Daß damit nur ein Aspekt des Benjaminschen Spätwerks getroffen wird, die Rettung etwa der verschütteten bürgerlich-demokratischen Tradition auch in Deutschland — verkörpert z.B. im Jochmann-Aufsatz oder in den Kommentaren zu den »Deutschen Menschen« — überhaupt gar nicht in den Blick kommt, ist die Folge der Subsumption seines »gesamten Denkens« unter Naturgeschichte. 19 »Während der Redende in Stimme und Mienenspiel die einzelnen Sätze, auch wo sie an sich selber nicht standzuhalten vermöchten, stützt und sie zu einem oft schwankenden und vagen Gedankengange zusammenfügt, als entwerfe er eine groß andeutende Zeichnung in einem einzigen Zuge, ist es der Schrift eigen, mit jedem Satze von neuem einzuhalten und anzuheben.« 20 Es ist Adornos großes Verdienst, den inneren Zusammenhang dieses Benjaminschen Darstellungs-Ideals (dessen Implikationen hier nicht angedeutet werden können) mit Benjamins Allegorie-Theorie verknüpft, deren wechselseitigen Zusammenhang zur Geltung gebracht und beide in Benjamins Geschichtsphilosophie fundiert zu haben. Der Frühromantik, deren Kunstphilosophie die Dissertation galt, blieb Benjamin lebenslang verpflichtet in der Konzeption des Fragments als philosophischer Form, die gerade als brüchige und unvollständige etwas von jener Kraft des Universalen festhält, welche im umfassenden Entwurf sich verflüchtigt. Daß Benjamins Werk fragmentarisch blieb, ist also nicht bloß dem widrigen Schicksal zuzuschreiben, sondern war im Gefüge seines Denkens, in seiner tragenden Idee von je angelegt. 21

17 18 19 20 21

Op. cit. p.358. Adorno, Über Walter Benjamin, I.e. p. 17. L.c. G.S. VI, l.c. p.209. Adorno, Über Walter Benjamin, l.c. p. 37.

129

Adornos intime Vertrautheit mit der modernen Musik (in deren philosophischer Exposition sein bedeutendster kunsttheoretischer Beitrag zu suchen ist) ermöglicht ihm, ins Zentrum der Benjaminschen Form der Darstellung vorzudringen. So wie die Neue Musik in ihren kompromißlosen Vertretern keine >DurchführungathematischDa eines abends wird das werk lebendige wie in Georges Teppich. 30

Diesen Schlüssel an die Hand gegeben zu haben, ist Adornos eine spezifische Weise zur Rettung des Toten geblieben. Einen besonderen Status haben die Äußerungen Adornos zu Benjamins Spätwerk. Denn sie beziehen sich zumeist auf Arbeiten, die zu Lebzeiten Benjamins vielfach kontrovers zwischen beiden diskutiert worden waren. Darüber hinaus bot eben der Umgang Adornos mit den historisch-materialistischen Versuchen Benjamins den Anlaß für die teilweise vehemente Kritik an der Art des wissenschaftlichen Stils, den der Überlebende mit dem verstummten großen Lehrer und Anreger praktizierte. Daß Adorno den Erzähler-Aufsatz, die zweite Version des Baudelaire und die geschichtsphilosophischen Thesen, über die es nicht mehr zu einem Dialog unter den Lebenden kam, enthusiastisch begrüßte, ist ebenso bekannt wie die Reserve gegenüber Teilen des Exposés zum Passagenwerk, gegenüber dem Kunstwerk-Aufsatz und der ersten Version des Baudelaire. Wie aber integriert Adorno die natürlich zu Lebzeiten nicht geschlichtete Kritik seinen posthumen Äußerungen? Auf eine zugleich noble, überaus verhaltene, wie auf eine gefährliche, weil die Gegensätze verschleifende Weise, in der das Antlitz Benjamins allzusehr demjenigen Adornos angenähert erscheint. Das Skandalon des KunstwerkAufsatzes wird nun so gewendet, daß Benjamins Neigung, »seine geistige Kraft ans ganz Entgegengesetzte zu zedieren«, in ihm seinen »extremen Ausdruck« findet. So gesättigt ist dies Denken mit Kultur als seinem Naturgegenstand, daß es der Verdinglichung sich verschwört, anstatt ihr unentwegt zu widersprechen. 31

So wird die Polemik im Namen des Toten sistiert, zugleich aber eben auch dessen Intention so gut wie gelöscht. Denn eben die Massenmedien nicht apriori unter der Kategorie des »Warenfetischismus« zu sehen und ihnen allenfalls als vorab denunzierten einen positiven Aspekt zu entlocken, sondern gerade umgekehrt die technische Umwälzung der Kommunikationsmittel nicht von ihrem Rand, sondern von ihrem Zentrum, ihrem massenkommunikativen Element her als revolutionäre Chance für die unterdrückte, in der bürgerlichen Kunst nicht zu Wort kommende Klasse zu zeigen, ist doch ihr Sinn. Der Ansatz des Exegeten ist hier mit dem des Exegisierten nicht mehr zur Deckung zu bringen; der Benjaminsche jedoch nur noch im Rückgang zu den primären Quellen und der an sie sich knüpfenden Debatte eruierbar. Sehr genau hat Adorno beobachtet, wie der späte Benjamin »ohne 29 30 31

Op. cit. p. 45. Op. cit. p. 47. Op. cit. p. 17.

131

Mentalreservat [...] in seiner reifen Zeit gesellschaftlich-kritischen Einsichten« sich überlassen konnte. Aber es wird eben nur die eine Seite seines Denkens getroffen, wenn es heißt: Die Kraft der Auslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bürgerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheimnisses zu durchschauen: als Ideologien. 32

Das ist nur eine andere Version des in Adornos Werk immer wiederkehrenden Bildes vom universalen Verblendungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft. Benjamin hat diese Rede in solcher Abstraktheit nie kritisiert, aber auch nie geteilt, einfach, weil er im Wissen um die Natur des Warenfetischismus doch nicht abließ, nach Lichtspuren der Hoffnung in der Finsternis zu fahnden und deshalb allen seinen Äußerungen auch zur bürgerlichen Gesellschaft im Zeitalter des Hochkapitalismus neben der ideologiekritischen die rettende Perspektive beigesellen konnte. Sein Denken wird verkürzt — dies ja eines der wenigen gesicherten Ergebnisse der Benjamin-Exegese in den siebziger Jahren —, wo es, wie hier bei Adorno, auf Ideologiekritik im Spätwerk reduziert erscheint. Adorno hat um diese Differenz hellsichtig natürlich gewußt. Den Gedanken der universalen Vermittlung, der bei Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mikrologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zugeeignet. Unbeirrt stand er zu seinem Grundsatz, die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit wiege den Rest der ganzen Welt auf. Ihm hieß, Phänomene materialistisch interpretieren, weniger sie aus dem gesellschaftlichen Ganzen erklären, als sie unmittelbar, in ihrer Vereinzelung, auf materielle Tendenzen und soziale Kämpfe beziehen. 33

Unschwer erkennt man darin die Auseinandersetzung um die erste Fassung des Baudelaire wieder, nun — und Adorno zu Ehren sei dies nochmals betont — zugunsten Benjamins insofern gewandt, als seine Methode der Individuation eben gerade dessen ansichtig wird, was in der universalen dialektischen Rekonstruktion verloren zu gehen droht. Ist aber schon die Vereinbarkeit dieses Gedankens mit dem vorangehend zitierten undeutlich, so muß darauf beharrt werden, daß auch diese Version der Benjaminschen Konkretion unvollständig bleibt, solange der materialistischen Interpretation .nicht ihre politische Dimension abgewonnen wird. Daß sie an Parteilichkeit geknüpft war, hat niemand klarer einbekannt als Benjamin. Daß daraus jedoch bei Adorno ein Akt der »Naivität« wird, die »ihn zuweilen mit machtpolitischen Tendenzen sympathisieren (ließ), welche, wie er wohl wußte, seine eigene Substanz, unreglementierte geistige Erfahrung, liquidiert hätten«, grenzt an eine totale Entstellung des verehrten Vorbildes, an der die Kritik sich notwendig entzünden mußte. 34 An keiner Stelle wird die »Beziehung auf mögliche Praxis, die später dann Benjamins Denken leitet«, entwickelt, geschweige denn mit jener Emphase beschworen, die Adorno für Benjamins Philosophie des Nichtidentischen aufbrachte. 35 Symptomatisch ist dafür Adornos Charakteristik des Benjaminschen Spätstils. 32 33 34 35

Op. cit. Op. cit. Op. cit. Op.cit.

132

p.20. p. 22. p.23. p.28.

Eine gewisse Vereinfachung der sprachlichen Mittel ist unverkennbar. Aber wie vielfach in der Geschichte der Philosophie trügt die Einfachheit; an der gedanklichen Optik Benjamins hat sich nichts geändert, und indem die fremdesten Einsichten sich aussprechen, als wären sie purer Menschenverstand, wird ihre Fremdheit nur noch gesteigert. 36

Die eingestandenermaßen andersgeartete Intention Benjamins, nämlich dem nach wie vor schwierigen Gedanken wo immer möglich Breitenwirksamkeit zu verschaffen, die »wächsernen Schwingen der Esoterik« abzulegen, die er in Adornos Werk ohne es zu sagen gewahrte, bleibt radikal ausgeblendet. Es ist dies vielleicht der tiefste Grund für das immer wieder beobachtete Stillschweigen über den Namen Brechts, mit dem Benjamin schließlich die Maxime des bewußt und provozierend »plumpen Denkens« verband. So ist es denn auch eine abwegige Vermutung, daß Benjamin »zum dialektischen Materialismus [...] wohl überhaupt weniger dessen theoretischer Gehalt als die Hoffnung auf ermächtigte, kollektiv verbürgte Rede« zog. 37 Gerade ein Versuch, der das inkommensurable Potential Adornos in der Benjamin-Rezeption festhalten möchte, muß diese gravierenden Defizite zur Sprache bringen. Den am weitesten gehenden Satz in der Charakteristik Benjamins, nämlich die ihm zugeschriebene »Einsicht in die Unzulänglichkeit privater Reflexion, solange sie abgetrennt ist von der objektiven Tendenz und von verändernder Praxis«, hat Adorno in Bezug auf Benjamin nie entfaltet. 38 Er ist damit den praktischen Bemühungen Benjamins nicht und deshalb auch den theoretischen des Spätwerks nur partiell gerecht geworden. Wirksam wurde Adorno jedoch nicht nur und nicht in erster Linie als berufener Exeget der Benjaminschen Schriften, sondern vor allem als ihr erster Editor. Die Zusammenführung der zumeist verstreut in Zeitungen erschienenen Erstdrucke der »Berliner Kindheit um 1900« (deren Handexemplar erst jetzt in Paris auftauchte) ist ihm ineins mit einer zauberhaften Miniatur im Nachwort zu danken. 39 Die komplementäre »Einbahnstraße«, die Benjamin zusammen mit dem Trauerspielbuch 1928 bei Rowohlt publizieren konnte, hat Adorno gleichfalls mit einem makellosen Begleitwort bedacht. 40 Die »Deutschen Menschen«, 1936 erstmals komplett in der Schweiz erschienen (von denen eine ein Jahr später veranstaltete Titelauflage den Krieg so gut wie komplett überstand und erst viel später auf den Markt kam) hat Adorno als das den Lesern präsentiert, als was sie von Benjamin für Deutschland in der Zeit des Faschismus gemeint waren. 41 Der Titel sollte Benjamins eigener Angabe zufolge, ermöglichen, das Buch ins Dritte Reich zu importieren. Zugleich enthüllte das Motto den Lesern, auf die es abgesehen war, das Buch als op36

Op.cit. p.47. Op.cit. p.48. 38 Op.cit. p.49. 39 W. Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1950 (Bibliothek Suhrkamp 2). Das Nachwort Adornos, Über Walter Benjamin, I.e. pp.30—32. 40 Erstmals in Texte und Zeichen 1 (1955) 518-522; Abdruck u. a. in: Adorno, Über Walter Benjamin, I.e. pp. 52-58. Benjamins Einbahnstraße, Frankfurt/M. 1955 (Bibliothek Suhrkamp 27) jetzt auch wieder zugänglich in einem Reprint: Verlag Brinkmann & Bose, Berlin 1983. 41 Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen ausgewählt und eingeleitet von Walter Benjamin, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962. 37

133

positioneil. Durch den puren Kontrast prangerte es das zerstörerische Selbstlob an; die Prunksucht, welche die der Gründerjahre zum Wahnsinn steigerte; den Eigennutz derer, die diesen auszurotten vorgaben.42

Schließlich hat Adorno mit Scholem dafür Sorge getragen, daß eine — in vielem gewiß problematische, dringend erneuerungsbedürftige, aber eben doch — erste Auswahl seiner Briefe auf den Markt kam. 43 Das eigentliche Verdienst Adornos liegt jedoch in den zweibändigen »Schriften«, die Adorno 1955 für einen immer noch apokryphen Autor gegen härteste Widerstände und um den Preis mancher Kompromisse durchsetzte.44 Erst jetzt wurde die Rezeption wo nicht des Gesamtwerkes, so doch eines wesentlichen Ausschnittes möglich. Es muß einem Herausgeber zugestanden werden, in einem gewissen Rahmen sein Bild eines Autors in einer Auswahl-Ausgabe zu kodifizieren, sofern nur die Proportionen im wesentlichen gewahrt bleiben. So liegt es auf der Hand und bleibt legitim, daß Adorno den verfügbaren Raum (der schon zu Kürzungen des Anmerkungs-Apparats im Trauerspielbuch, zur Streichung im Falle der Dissertation zwang) bevorzugt zur Darbietung der frühen Schriften bis zum Trauerspielbuch nutzte. Daß auf diese Weise Texte wie derjenige über Hölderlin oder über die Sprache, aber auch die Dissertation wieder zugänglich wurden, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Daß darüber hinaus gerade auch der kleinen Form Benjamins Genüge getan wurde, neben dem Philosophen der Dichter, Essayist und Literator ins Bild trat, ist Adorno gleichfalls zu danken. Motiviert Adorno jedoch das Fehlen einiger der großen Abhandlungen damit, daß Benjamin sich selbst von ihnen »distanzierte«, so wird hier eine Verantwortung, die allein dem Editor obliegt, in unzulässiger, weil unkalkulierbarer Weise dem Autor selbst überantwortet.45 Betroffen sind davon der FuchsAufsatz und vor allem die erste Fassung des Baudelaire. Daß Benjamin den vom Institut für Sozialforschung ergangenen Auftrag für den Fuchs-Aufsatz nur widerstrebend übernahm, ist bekannt. Er hinderte ihn am zügigen Ausbau des Passagenprojekts. Daß indes das nach endlosen Verzögerungen zustandegekommene Resultat seinem Schöpfer nicht genügte, ist nirgendwo bezeugt. Daß er einen (vergeblichen) Kampf um dessen authentische Gestalt führte, spricht nicht für gelassene Distanzierung. Und im Fall des Baudelaire hätte es dem überlebenden Kontrahenten wohl angestanden, das ehemals kritisierte Stück nun zur öffentlichen Diskussion freizugeben, statt es zurückzuhalten und womöglich mit dem Makel des vom Autor Preisgegebenen zu behaften. Die daran sich knüpfende Kritik wird in dem Maß ihr Recht behaupten, wie sie einer gerechten Würdigung der großen Verdienste Adornos um Benjamin integriert bleibt, die hier versucht wurde.

42 43

44

45

Adorno, Über Walter Benjamin, I.e. p. 59. Walter Benjamin, Briefe, hg. u. m. Anm. vers. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Vol.I-II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966. Walter Benjamin, Schriften, hg. v. Th. W. Adorno u. Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Vol.I—II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1955. Op.cit. p . X X V (Einleitung).

134

2. Die Stimme des Freundes: Gershom Scholem Von gleich großem Gewicht, von gleich intensiver Wirkung steht der Beitrag Gershom Scholems neben demjenigen Adornos. 46 Darf grundsätzlich allenfalls die Vermutung gehegt werden, daß die tiefste Freundschaft, die Benjamin eingegangen ist, diejenige zu Scholem war, so darf mit aller Gewißheit versichert werden, daß Scholem dem so viel früher aus dem Leben gegangenen Freund bis ins eigene letzte Lebensjahr die Treue in unermüdlichem Wirken für ihn gehalten hat. Wenn irgendeiner zur Abfassung der Biographie Benjamins prädestiniert war, so Scholem. Intensive gemeinsame Jugend- und frühe Mannesjahre, ein ununterbrochener Briefwechsel zwischen dem Weggang Scholems nach Jerusalem (1923) und dem Tod Benjamins (1940), ein überaus reichhaltiges, nahezu die gesamte produktive Zeit Benjamins umfassendes Archiv der Schriften Benjamins (mit vielen Annexen) und die große Kenntnis zahlreicher Personen aus Benjamins Umkreis bildeten ein reichhaltiges Reservoir, auf das Scholem hätte zurückgreifen können. 47 Wenn er schließlich davon Abstand nahm, so doch wohl, weil die verstreuten Quellen - sofern überhaupt überliefert — auf absehbare Zeit nicht als Ganzes zugänglich und erschließbar zu werden schienen. Er hat stattdessen im Bewußtsein, daß die Zahl der Benjamin persönlich kennenden Menschen rapide sich verkleinerte, in hohem Alter selbst die Geschichte seiner Freundschaft mit Benjamin aufgezeichnet.4* Scholem hat damit einen wichtigen, wenn nicht überhaupt den gewichtigsten Baustein zur Biographie Benjamins gelegt. Hinzukommt das 1980 erstmals komplett präsentierte große Briefcorpus der Jahre 1933—1940 - das Dokument einer »wirklichen Männerfreundschaft«, wie es von berufener Seite genannt wurde. 49 Schließlich sind Scholems ausgedehnten und mühseligen genealogischen Forschungen, die er noch kurz vor seinem Tode publizierte, sowie seine biographischen Detail-Studien — vor allem die gleichfalls späte über Benjamin und Felix Noeggerath — zu erwähnen, von den gewichtigen Beigaben zur Edition vor allem der autobiographischen Schriften ganz zu schweigen. 50 Hier geht es wieder nicht 46

Die Beiträge von Scholem zu Benjamin jetzt zusammengefaßt in: Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. 47 Cf. auch das Nachwort Hedemanns, op.cit. p.216s. 48 Gershom Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M. 1975 (Bibliothek Suhrkamp 467). 49 Walter Benjamin — Gershom Scholem, Briefwechsel 1933—1940, ed. Gershom Scholem, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 (dazu der Essay von Irving Wohlfarth, »Die eigene, bis zum Verschwinden reife Einsamkeit«, zu Walter Benjamins Briefwechsel mit Gershom Scholem, in: Merkur 35/393 (1981) 170-191). Die komplette Edition der Briefe Benjamins an Scholem vor 1933 steht noch aus; diejenigen Scholems an Benjamin vor 1933 müssen bis auf Ausnahmen als verschollen gelten. — Das Zeugnis zum Briefwechsel: Hannah Arendt, Walter Benjamin — Bertolt Brecht. Zwei Essays, München 1971 (Serie Piper 12) p.13, n.1. 50 G. Scholem, Walter Benjamin und Felix Noeggerath, in: Merkur 35/393 (1981) 134-169; Scholem, Ahnen und Verwandte Walter Benjamins, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 61 (1982)29—55,jetztin: Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, 1. c. pp. 78—127; 128—157.

135

um die Debatte der Freunde zu Lebzeiten, für die vor allem der Briefwechsel einsteht, sondern um das Bild, das Scholem von dem toten Freund zeichnete. Es hat vor allem in dem 1964 im Leo Baeck-Institut in New York sowie im Institut für Sozialforschung in Frankfurt gehaltenen Vortrag über Benjamin sowie in seinem Vortrag zu Benjamins 80. Geburtstag im Jahre 1972 über »Walter Benjamin und sein Engel« Gestalt gewonnen. Mit Benjamins Tod geriet ein Leben, das sich ganz jenseits der öffentlichen Bühne abspielte, obwohl es doch durch seine schriftstellerische Tätigkeit mit ihr verbunden war, [ . . . ] — außer für eine Handvoll Menschen, die einen unvergeßlichen Eindruck von ihm empfangen hatten — in völlige Vergessenheit. In den mehr als zwanzig Jahren zwischen dem Einbruch der Nazi-Ära in Deutschland und dem Erscheinen einer Sammlung der Mehrzahl seiner wichtigsten Schriften 1955 gehörte sein Name zu den verschollensten in der geistigen Welt.51

Erst 24 Jahre nach Benjamins Tod — fast genau so lange, wie seine Freundschaft mit Benjamin währte — hat Scholem öffentlich das Wort ergriffen (nachdem er, wie beiläufig erwähnt, sogleich nach dem Krieg an die Vorbereitung einer Edition der Schriften des Freundes ging). Was seinem Beitrag die besondere Leuchtkraft verleiht, ist die einzigartige Symbiose aus persönlich gefärbter Erinnerung und sachlicher Charakteristik. Nur die letztere kann uns hier beschäftigen. Wo Adorno fasziniert ist von der Benjamin eigenen Art der Konkretion, da Scholem von der Benjamin zur Verfügung stehenden Gewalt des Wortes und insbesondere der zwanglosen Verschmelzung von Begriff und Bild. Schon seine Rede zeichnete sich dadurch aus, daß ihr »die glücklichen Metaphern, die erfüllten und beziehungsgesättigten Bilder ganz ungezwungen und in großer Unmittelbarkeit zu (flössen)«. 52 Gleiches gilt für sein Werk und ganz besonders für die der Kindheit gewidmeten Arbeiten. Die »Berliner Kindheit« entstammt dem Eingedenken eines Philosophen, »der ein Erzähler geworden ist.« >Erzählende Philosophie< war das Ideal Schellings. In diesem Buche Benjamins ist sie auf ungeahnte Weise verwirklicht. Hinter jedem dieser Stücke steht ein Philosoph und seine Sicht, aber unter dem Blick der Erinnerung verwandelt sich seine Philosophie in Dichtung. [ . . . ] In seinen besten Arbeiten ist die deutsche Sprache von einer Vollendung, die dem Leser den Atem verschlägt. Sie verdankt diese Vollendung einer ganz seltenen Verbindung von höchster Abstraktion, sinnlicher Fülle und Plastik im Vortrag und steht damit unter dem Signum seiner Idee von metaphysischer Erkenntnis. Seine Sprache schmiegt sich, ohne die Tiefe der Einsicht aufzugeben, dem Gegenstand in wunderbarer Weise an und tritt doch zugleich in Konkurrenz zu dessen eigener Sprache, von der sie genaue Distanz wahrt. Mir sind sehr wenige Autoren dieses Jahrhunderts bekannt, in deren Schriften eine annähernde Zahl schlechthin vollkommener Seiten stünde. 53

Diese Befähigung zu dichterisch-metaphorischer Rede hat ihre Entsprechung im schriftstellerischen Ideal, das Größte, das Universum, im Kleinsten, im Aphorismus bzw. im Fragment zu spiegeln. Mit Adorno trifft sich Scholem in der Charakteristik Benjamins als eines Philosophen bei gleichzeitiger Abstinenz gegenüber den traditionellen Gegenständen der Schulphilosophie. Daß in seiner Generation 51 52 53

Op.cit. p.9. Op. cit. p . l l . Op.cit. p. 13 u. 19.

136

der Genius eines reinen Metaphysikers sich in allen Bereichen eher zu manifestieren vermag als in denen, für die traditionell Metaphysik als zuständig gilt, gehört gerade zu den Erfahrungen, die Benjamins eigenste Wesensart und Originalität prägten. Immer nachdrücklicher fand er sich [ . . . ] von Gegenständen angezogen, die scheinbar wenig oder gar nichts mit der Metaphysik zu tun haben. Es macht das Besondere seines Genius aus, wie unter seinem Blick jeder solche Gegenstand eine eigene Würde und eine eigene philosophische Aura enthüllt, deren Beschreibung seine Bemühung gilt. 54

Durch Scholem vor allem ist Benjamins explizite Abwendung vom Entwurf eines philosophischen Systems zugunsten der Auslegung und Kommentierung großer dichterischer Texte bezeugt, in die die »Erbschaft« seiner Philosophie einging. Daß Scholem der letzten Phase des Benjaminschen Denkens nach dem Trauerspielbuch, sofern es sich dem historischen Materialismus öffnete, mit großer Skepsis gegenüberstand, ist aus seinen Briefen an wie aus seinen Schriften über Benjamin gleichermaßen bekannt. Statt — wie Adorno gelegentlich — Benjamin einem dialektischen Totalitätsdenken anzunähern, sucht Scholem umgekehrt, die jüdisch-theologische Dimension in Benjamin (die ja auch Adorno durchaus sah, was Scholem den Zugang zu Adorno erheblich erleichterte) zur Geltung zu bringen. Benjamin habe für die Gleichsetzung der metaphysisch-theologischen mit der historisch-materialistischen Dialektik »einen allzu hohen Preis bezahlt«. 55 Das Gelingen einer Symbiose von Materialismus und Theologie wird von Scholem in Abrede gestellt; sein »wirkliches«, nämlich theologisch-metaphysisches »Denkverfahren« decke sich mit seinem materialistischen nicht; seine theologische Dialektik sei der materialistischen nicht kongruent; es bleibe vielfach bei einer »materialistischen Verkleidung« der metaphysischen Gedankenwelt. 56 Die hier einschlägigen Arbeiten seien auch in der materialistischen Phase immer noch von »ungeheurer Tiefe« und »unendlichem Reichtum«, zugleich aber gerate etwas »Zwielichtiges und Zweideutiges« in sie hinein. 57 Schlacken- und makellos dünken Scholem nur noch Arbeiten, in denen der materialistische Impetus abgeblendet erscheint, so der Erzähler-, so der KafkaEssay. Wie bei Adorno, aber aus anderen Gründen stehen der Kunstwerk- und der erste Baudelaire-Aufsatz auf der anderen Seite für das Scheitern der materialistischen Transformation des Benjaminschen Denkens ein. Großartig sei die geschichtsphilosophische Aura-Konzeption des Kunstwerk-Aufsatzes, verfehlt die revolutionäre Vereinnahmung des Films für die Zwecke des Proletariats. Bleibt der Name Brecht bei Adorno so gut wie ganz ausgespart, so hat Scholem aus seinem Urteil auch hier in erfreulicher Deutlichkeit keinen Hehl gemacht; seinen Einfluß auf Benjamin in den dreißiger Jahren'hält er »für unheilvoll, in manchem auch für katastrophal«. 58 Demgegenüber profiliert Scholem radikaler als jeder andere das jüdische Element in Benjamins Werk. Niemand hat sich eindrucksvoller und tiefdringender dazu äußern können. Lebenslängliche illusionslose Distanz zum Deutschtum und deshalb um so bewußtere Kultur der deutschen Sprache verbinde ihn mit Kafka wie 54 55 56 57 58

Op.cit. Op.cit. Op.cit. Op.cit. Op.cit.

p. 15. p.22. p.23. p.24. p.26.

137

mit Freud. Von den beiden zentralen Kategorien der Offenbarung und der Erlösung habe nur die letztere sich in seiner materialistischen Phase behauptet, gekoppelt an die Kategorie des Destruktiven, des Subversiven als ihres dialektischen Gegenpols. Die hier obwaltenden Zusammenhänge und ihre Vermittlung im Eingedenken hat Scholem dann in seinem großen Aufsatz über Benjamin und seinen Engel entfaltet. Noch deutlicher wird in ihm die prinzipielle Unvereinbarkeit der alten theologisch-mystischen und der neuen historisch-materialistischen Impulse der Benjaminschen Produktion herausgestellt, wobei kein Zweifel bleibt, in welcher Tradition Scholem den wahren Benjamin aufgehoben weiß. Die vermeintliche Vorliebe für den marxistischen Benjamin in der Mitte der sechziger Jahre hat denn auch Scholem veranlaßt, massiv gegenzusteuern und den originäreren mystischen Zug (den Scholem keineswegs mit dem theologischen identifiziert bzw. verwechselt wissen möchte) zu akzentuieren. Es spricht für Scholem, daß er seinem Bild Benjamins nicht nur in der generellen Charakteristik, sondern — viel schwerer! — in der Exegese eines einzelnen Textes Profil verlieh. Scholem war einer der wenigen, dem ein uneingeschränkter Zugang zum Benjamin-Archiv in Frankfurt offenstand. In ihm fand sich jenes Notizbuch mit Aufzeichnungen aus den Jahren 1931—1933, in dem auch die — nur durch einen Tag getrennten — zwei Fassungen des »Agesilaus Santander« stehen. 59 Niemand anders als der nächste Weggefährte und beste Kenner jüdischen Wesens wäre imstande gewesen, Licht in den hermetischen und änigmatischen Text zu bringen. Die ureigenste Verfahrensweise des Kommentars wird hier von dem Freund aufgenommen und derart Tradition gestiftet. Scholem selbst hatte zu Lebzeiten nachhaltigsten Einfluß auf Benjamins Namens-Theologie und »Angeologie« genommen, so war er wie niemand sonst zur Analyse der spezifischen Adaptation durch Benjamin prädisponiert. Unvergängliche Engel wie etwa die Erzengel oder der Satan, als der gefallene Engel der jüdischen und christlichen Tradition, waren für Benjamin wohl weniger wichtig als das talmudische Motiv von dem Entstehen und Vergehen der Engel vor Gott, von denen es im >Otzar Kakabod< desTodros Abulafia (1879) heißt, daß sie >hinschwinden wie der Funke auf der KohleAgesilaus Santander< widerspiegelt. 60

Diesen dialektischen Zusammenhang hat Scholem minutiös entfaltet und damit den ausführlichsten und weitestgehenden Beitrag zur Verarbeitung jüdischer Geistigkeit im Werk Benjamins gegeben. Jede neue tiefe Liebesverbindung (»Mannbarwerdung«) verwandelt den geheimen Namen des Menschen, der gleichwohl der eine Name bleibt, welcher »die Lebenskräfte in der strengsten Bindung aneinanderschließt und vor den Unberufenen zu hüten ist« (oder wie es in der ersten Fas59 60

Zur Beschreibung dieses wichtigen Dokuments cf. Scholem, op.cit. p.38s. Op. cit. p.48.

138

sung heißt: »[...] der alle Lebenskräfte in sich faßt, bei welchem sie beschworen und vor Unberufenen behütet werden«). 61 So tritt mit der neuen »Mannbarwerdung«, dem Eintritt der neuen Frau in die gesetzlich-spiritualiter verbürgte Ehegemeinschaft, eine neue Dimension des geheimen Namens hervor: Benedix Schoenflies ~ Agesilaus Santander, dessen Geheimnis sich im Anagramm »Der Angelus Satans« ebenso wie im Kleeschen Bild »Angelus Novus« enthüllt. Scholem hat bekanntlich die — ausnahmsweise in diesem speziellen Fall für Benjamin legitime — Verbindung vom Wahlverwandtschaften-Aufsatz zu Jula Cohn hergestellt, die in die Zeit der Ehe mit Dora Kellner fiel (welche zur gleichen Zeit sich Alfred Schoen zuneigte). In diesem Sinn bildet die Philosophie der mythischen Naturverfallenheit, wie sie der Wahlverwandtschaften-Aufsatz entwickelt, einen Schlüssel zu jenem satanischen Zug im Engel, der mit dem Eintritt der neuen Frau ins eheliche Bündnis hervortritt und sich als lebensbestimmende Entfremdung der Gatten im saturnischen Zeitmaß sukzessive bis zu deren Besiegelung in der Scheidung entfaltet, in welcher die satanische Gewalt sich vollendet und doch zugleich durch Überwindung und Destruktion des scheinhaften Lebens gebrochen erscheint. Die nichtluziferische, sondern angelische Seite des Angelus Satanas hat Scholem völlig zu Recht in Bezug zum Angelus Novus der geschichtsphilosophischen Thesen gesetzt. Die letzte Intention des Engels zielt auf Glück. Glück aber hat bei Benjamin, so wie es der Engel will, eine ganz neue Bedeutung. Es bezieht sich, erstaunlich genug, auf >den Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen, noch Unbelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt«. [...] Im Gegensatz zu der geläufigen Formel >Einmal und nie wieder< beruht das Glück im Widerstreit zwischen dem Einmal und dem Dochwieder. [...] Indem Benjamin aus der geläufigen Formel herausspringt, malt er das melancholische Glück des Dialektikers. So entspricht wohl auch der Weg des Engels in die Zukunft des noch Ungelebten, Neuen, einer Glückserwartung, die nur auf dem Wege der Heimkehr, die das schon Gelebte noch einmal durchmißt, zu vollziehen ist. Und das Neue, das er nur auf dem Weg der Heimkehr erhoffen kann, besteht nur in der Mitnahme eines neuen Menschen zu seinem Ursprung.62

In diesem Sinn wird »das Bild des Angelus Novus für Benjamin zu einem Bild seines Engels als der okkulten Realität seiner selbst.« 63 Diese »persönlich-mystische Auffassung des Engels« wird dann in den Thesen geschichtsphilosophisch entfaltet: Gewährung der Geschichte als Katastrophe und unermüdliche Bemühung um Rettung im Vorgriff auf messianische Zeit, die dem aus dem Paradies her wehenden Sturm beharrlich widerstreitet, welcher den Engel in die Zukunft treibt, der er doch eingedenkend den Rücken kehrt. 64 Scholems Deutung ist klar. Konstitution von Jetztzeit (»Sei es revolutionär, sei es messianisch geladene«) ist ein Sprung aus der Immanenz der Geschichte in die Transzendenz, »die diese Thesen zur Geschichte zwar zu 61

Op.cit. p.42, p.41. Diese Entschlüsselung muß zusammengenommen werden mit einem weiteren, prinzipiell einen gleichen Sachverhalt treffenden und im gleichen Zeitraum angesiedelten; cf. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, I.e. p. 223. 62 Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, I.e. p. 59s. 63 Op.cit. p.62. 64 L.c.

139

verleugnen scheinen, die aber noch immer als geheimer Kern in ihren materialistischen Formulierungen steckt«. 65 So sind philosophische und lebensgeschichtliche Durchdringung von Werk und Person Benjamins in Scholem jene einzigartige Symbiose eingegangen, wie sie nur dem Freund möglich war und zustand.

3. Frühe Dokumente der Rezeption Natürlich waren auch schon vor Erscheinen der »Schriften« vereinzelte Stimmen zu Benjamin zu hören gewesen. 66 1951 hatte Max Bense im »Merkur« ein Kurzporträt versucht. 67 Hier wird Benjamin erstaunlicherweise auf eine »eindeutige politische Gesinnung« festgelegt: »Marxist«.68 Die »kalte Theorie« zwischen Hegel und Marx, der Benjamin vor allem verpflichtet sein soll, stände ausnahmsweise einmal im Einklang mit klarem Denken und Schreiben aus einem »glühenden ästhetischen Zustand« heraus. 69 Benjamin ist für Bense der große Essayist zwischen den Kriegen. Was er als >Versuch< verstand, sprengte sogleich das literarische Gefäß des Versuchs, der Sprachleib verbarg gewissermaßen den bloßen Versuch und entartete hoffnungsvoll zu einem ermahnenden oder erkennenden Traktat.70

Die der Zeit geschuldete rabiate Abfertigung der Hegeischen und Marxschen Dialektik (»philosophischer und historischer Manierismus Hegels!«) hindert nicht, daß hier auf knappem Raum ein erstaunlich weitgefächertes Bild der Benjaminschen Produktion (mit den obligatorischen narzistischen Distanzierungen) entsteht, zentriert um Benjamin als den inkommensurablen Ideen-Forscher und Sprachanalytiker. 71 — Von Max Rychner sind die schönen Erinnerungen an Benjamin ebenso bekannt wie der berühmte Brief Benjamins vom 7. März 1931, in dem er Rychner auseinanderzulegen suchte, was ihn »zur Anwendung materialistischer 65

Op.cit. p.67. Dazu auch die einschlägige Deutung des Sturmwinds p. 68: »Die Realität des Boten aus der paradiesischen Welt, der seine Sendung nicht zustande zu bringen vermag, wird dialektisch durch den Sturmwind, der vom Paradies her weht - ich würde interpretieren: durch die von der Utopie, und nicht etwa von den Produktionsmitteln bestimmte Geschichte und deren Dynamik —, aufgesprengt.« 66 Sie sind über die im folgenden besprochenen hinaus zusammengefaßt in: Über Walter Benjamin, Frankfurt/M. 1968 (edition suhrkamp 250) pp. 165-172: »Ausgewählte Bibliographie der Schriften über Walter Benjamin«. Nach Abschluß dieser Studie erschien die vorzügliche Benjamin-Bibliographie von Momme Brodersen (cf. n. 241), die im folgenden stets zu konsultieren ist. 67 Max Bense, Über Walter Benjamin und seine Literatur, in: Merkur 5 (1951) 181-184. Wiederabgedruckt in: Bense, Die Realität der Literatur. Autoren und ihre Texte, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971 (Pocket 26) pp. 161-166. Cf. auch Bense, Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik, aestetica IV, Baden-Baden, Krefeld: Agis 1960, pp.46—51: Exkurs über Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein. 68 Bense, Über Walter Benjamin und seine Literatur, I.e. p. 181. 69 Op.cit. p. 181s. 70 Op.cit. p. 181. 71 Op.cit. p. 183.

140

Betrachtung geführt« habe. 7 2 Rychner, dessen Briefe an Benjamin so wenig wie die der meisten anderen Korrespondenten vor 1933 erhalten zu sein scheinen, hat darauf in den »Sphären der Bücherwelt« 1952 eine öffentliche Antwort gegeben. 7 3 Den Anlaß dafür bot das erstmalige Erscheinen der »Berliner Kindheit« (1950), dem die kleine Betrachtung vornehmlich gewidmet ist. Unter den vorangehenden Büchern (deren Wirkungslosigkeit auch Rychner kenntnisreich andeutet) gilt den »Deutschen Menschen« ein besonderer Hinweis. Erschütternd, wie der von einem rasselosen Pöbel Ausgestoßene diesem eine Gemeinschaft entgegenstellt, welche die deutschen Tugenden im reinen Element der Sprache absichtslos, ungebrochen ausdrückt.74 Das moralische, das politische, das theoretische Fazit, das Benjamin aus dem Scheitern seiner Klasse zog, der er ihre freie, aufgeklärte, humane Tradition entgegenhielt, eben seine Hinwendung zum Marxismus, die er Rychner so nüchtern und offen erläutert hatte, bleibt dem konservativen Schweizer Kritiker wie so vielen Benjamin Nahestehenden nur ein verständnislos kommentiertes Debakel. Historisch gesättigt bis in alle Fibern, Größe, Glauben, Bilder, Gedanken vieler Zeiten als Leben in sich empfangend, spürte er vor allem das Schwinden der edlen Substanzen in unserer Epoche in einem gesellschaftlichen Prozeß, der ihm auf den nahen Umschlag zu deuten schien. In diesem Betracht setzte sein eigenes Denken aus, und er, der geistig sonst Souveräne, ordnete sich fügsam und gläubig den marxistischen Lehren unter, weil sie dialektisch, deshalb für ihn unantastbar waren. [...] Mit genauesten kritischen Durchleuchtungen von Dingen und Verhältnissen unserer Zeit war bei ihm verbunden die Unfähigkeit, auch nur einen allergröbsten Umriß des zu Erhoffenden, des Künftigen zu entwerfen. Er vertraute darauf, daß es >widerspruchsfrei< sein würde, was einem primitiven, seines Geistes unwürdigen Lehrschema entspricht, und daß es sich in neu aufbrechender Fülle edler Menschlichkeit bekunden würde. 75 Unterordnung? Unfähigkeit zum Zukunftsentwurf? Vertrauen auf das kommunistische Paradies? Man möchte bestenfalls Ahnungslosigkeit in dieser erschreckenden Charakteristik des späten Benjamin am Werk sehen. Aber sie bestimmt nun (nach einem sehr schönen Einsatz) auch Rychners Bild der »Berliner Kindheit«. Denn eben, daß Benjamin den Bildern der Kindheit die Signaturen der wilhelminischen Epoche einsenkte, wie Adorno genial erkannte, wird Rychner zum Ärgernis, das er polemisch-unfair pariert. Denn hinter all den scheinbar ordnungslos dem Knaben zufallenden Erlebnissen wird ein Gesetz geahnt, geglaubt, erkannt, die mächtige Gottheit des Autors, in welche die Vielgötter seiner Jugend sich, Vernunft annehmend, verwandelt und erhoben haben. Ein geschichtliches Gesetz: eine karge Gottheit, der mit jugendlicher Menschlichkeit einiger72

Die »Erinnerungen an Walter Benjamin« von Adorno, Bloch, Rychner und Scholem zunächst in: Der Monat 18/216 (1966) 35 - 4 7 , dann in: Über Walter Benjamin, I.e. pp.9-36; hier pp. 37—51 ergänzt um diejenigen von Jean Selz (zuerst unter dem Titel: Walter Benjamin ä Ibiza, in: Les lettres nouvelles 2 (1954) 14—27). Das Zitat Benjamin, Briefe. I.e. II, 522. 73 Max Rychner, Walter Benjamin. Nachgelassene Prosastücke, in: Rychner, Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur, Zürich: Manesse 1952, pp. 226—234. 74 Op.cit. p.227. 75 Op.cit. p. 228s. 141

maßen aufgeholfen werden soll, sofern sie diese nicht erfrieren macht, eine Gottheit, welche einst in den vertrauten Dingen lebte, aber sich selbst daraus verbannte und eine Rückkehr nur noch in der Möglichkeit sieht, den Menschen eine neue Ordnung abzufordern, in der dann Früh- und Spätwerk ineinanderflössen, wobei sie auf die — ihre — Vernunft pocht, welche keinen einzigen Beweis zustande bringt, sondern, o tiefe Dialektik! an die Stelle des Beweises die Forderung nach Kinderglauben setzt.76

Die liebenswürdige persönliche Erinnerung bleibt unvereinbar mit dieser Denunziation des marxistischen Benjamin als eines naiven Träumers und also der Aufforderung am Schlüsse, Versäumtes in der Rezeption nachzuholen, »so auf ihn zu blicken, wie er in seinem großgesinnten Buch auf >Deutsche Menschen< geblickt hat«, ein bitterer Geschmack beigesetzt.77

4. Das E c h o auf die Schriften 1955 Die »Schriften« von 1955 rufen dann erstmals eine nun nicht mehr übersehbare und teilweise durchaus niveauvolle Reaktion in Zeitung und Zeitschrift hervor. 78 Konstitutive Züge Benjaminschen Denkens und Formulierens werden wiederholt berührt. Kaum eine Arbeit freilich, die nicht auf diese oder jene Weise (und sei es zwischen den Zeilen) die marxistische Wendung Benjamins moniert, mehr als einmal in perfider Süffisanz. Was bei Adorno wie bei Scholem aus dem Zentrum des eigenen Denkens heraus als kritischer Einwand auf hohem Niveau vorgebracht wurde, verkommt in der publizistischen Auseinandersetzung zum übereifrigen, auf Angst und Unsicherheit zurückweisenden antikommunistischen Affekt. Benjamin soll unter Eliminierung und Paralysierung der natürlich unübersehbaren, aber unerwünschten politischen Orientierung dem Leser anempfohlen werden. Diese Stimmen sind zum Verständnis der späteren polemischen Kehrtwendung der Rezeption nicht ganz unerheblich; daher ein paar knappe Hinweise. Frei von kritischer Zurechtweisung sind die Beiträge von Carl Dahlhaus, der schon 1956 auf das unverständliche Fehlen des »Fuchs«-Aufsatzes hinweist, sowie von HansenLoeve. 79 Karl August Horst, der schon in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schweres Geschütz aufgefahren hatte, gelangt auf verschlungenen Pfaden zur Definition des »Linkskritikers«, um selbige sodann — natürlich in gehöriger Differenzierung — auf Lukäcs und Benjamin anzuwenden. 76 77 78

79

Op.cit. p.232. Op. cit. p.234. Eine Reihe von Zeitungs-Beiträgen zu den »Schriften« auch hier wieder der Bibliographie in: »Ober Walter Benjamin«, I.e. zu entnehmen; cf. jetzt die Bibliographie Brodersens. Cf. Carl Dahlhaus, Die Schriften Walter Benjamins. Motive und Zusammenhänge — eine fragmentarische Betrachtung, in: Deutsche Universitätszeitung 11 (1956) 14—15; Friedrich A. Hansen-Loeve, Die Selbstentfremdung des Intellektuellen, in: Forum/Wien 3 (1956) 401—402; Hansen-Loeve, Zwischen Gestern und Heute. Zu den Schriften Walter Benjamins, in: hochland 49 (1956/57) 268-273.

142

Der Linkskritiker ist überzeugt, daß sich geschichtliche Vorgänge oder Phänomene dechiffrieren lassen. Sind sie nicht geständig, so werden sie kraft eines besonderen Verfahrens zur Aussage gezwungen. Dieses Verfahren — die sogenannte dialektische Methode — bewirkt, daß einer sagt, was er von sich aus nicht sagen will, was er aus seiner Lage heraus auch gar nicht sagen kann, was ihn aber gleichwohl ins Unrecht setzt. 80 Benjamin — in der »Einbahnstraße« — verrät den starken Hang des Verfassers zum Mechanischen. Die Einbahnstraße ist allegorische Bezeichnung für die unumkehrbare Gerichtetheit des Verlaufs. Die Erscheinungen, die uns auf ihr begegnen, sind vollautomatisch. Das technische Produkt markiert mit selbsterzeugten Katastrophen den Weg des Fortschritts. Dem »naiven Optimismus eines Lukäcs« setze Benjamin die »hyperbolische Verzweiflung« entgegen, die zum völligen Schweigen führe. 81 In ihm vollende sich die Hybris des Linkskritikers. Je vernehmlicher er schweigt, um so deutlicher verraten sich die Phänomene. Seine Rolle beschränkt sich darauf, sie zu präsentieren, sie geständig zu machen. Daß er sich hochmütig ausnimmt, hält er für wahre Demut. Hat er doch dem Vorgang, der mechanisch abrollt, kein Wort hinzuzufügen. Setzt ihn doch allein die totale Revolution ins Recht, der er mit der Abstinenz des Moralisten ihr Gesetz abfordert — ein Gesetz, das trotz seines fatalistischen Schweigens das Gesetz seiner eigenen Vernunft ist. 82 Schweigen auch wir. — Daß Benjamin die Gegenstände, über die er schreibt, »nur zum Anlaß und Ausgangspunkt nimmt, um von dem zu reden, was ihm wesentlich ist«, mag für den »arglosen« und »unvorbereiteten« Leser »eine Irritation« sein, die gleichwohl »auch zur Faszination werden kann.« So Herbert Lüthy im »Monat« ohne nähere Begründung. 8 3 Das Spätwerk bleibt von dem möglichen Umschlag in Faszination ausgeschlossen. E s ist durch einen ungeheuren Absturz aus dem Reich der Ideen in das Scheinreich der bloßen Abstraktion gekennzeichnet. Da spukt der platteste Begriffsrealismus.84 Aneignung durch Ausgrenzung des Unbequemen. Deshalb bleibt der sympathische Aufruf, die Kunst des Eingedenkens auch gegenüber ihrem Urheber zu bewähren, ein zwiespältiger. — Hans Joachim Seil hat sich in seiner schönen, von Sympathie getragenen Betrachtung das Moskau-Bild Benjamins ausgewählt. Sein abwägendes, nicht hämisches, aber irritiertes Fazit: Benjamin schildert Moskau, als schilderte er das Potsdam des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen, ließe jedoch drei Merkmale aus: die langen Kerls, das Tabakskollegium und den Stock. Es ist ein Moskau ohne Geheimpolizei, ohne Liquidation, ohne Verschleppung Andersdenkender, Unbequemer. Es ist ein paradiesisches Moskau, trotz feinen Einschränkungen. Es ist merkwürdig: trotz der Subtilität, mit der Benjamin vorgeht, und 80

81 82 83

84

Karl August Horst, Literaturkritik von links. Anmerkungen zu Walter Benjamin und George Lukäcs, in: Wort und Wahrheit 11 (1956) 519-526, p.522. Später Horst, Der Prozeß gegen die Nachtigall, in: Merkur XVI/175 (1962) 885-893. Horst, Literaturkritik von links, I.e. p.525. Op.cit. p.526. Herbert Lüthy, Der Theologe unterm Schachbrett. Über den Schriftsteller Walter Benjamin, in: Der Monat VIII/93 (1956) 6 7 - 7 2 , p.68. Op.cit. p.71. 143

obwohl er die Fakten, wenn auch oft schwerelos, nennt, wird es zweifelhaft, ob er machtpolitische Zusammenhänge wirklich erfaßt hat. Er bietet feinste Soziologie statt politisches Denken. Er sah die gesellschaftlichen Veränderungen, aber sah er das dämonische Wesen der Macht?85 Sehr wohl. Doch sah er es 1927 offensichtlich nicht als seine vordringlichste Aufgabe an, dieses an der jungen Sowjetunion zu demonstrieren. — Horst Rüdiger schließlich hat unbegreiflicherweise der Versuchung nachgegeben, ein Aperçu Gundolfs über seinen Schüler Goebbels zur Kontrastierung mit Benjamins Schicksal zu nutzen — eine peinliche, durch nichts zu rechtfertigende Entgleisung. In den späteren Arbeiten liefern Hegel, Marx und Lukäcs das Denkschema: Quantitäten schlagen um< in Qualitäten, der ökonomische Krisenablauf beschleunigt sich, die herrschende Klasse< gibt im >Endkampf< ihre schärfsten Züge preis, usw. usw.86 Steht die ungeheuerliche Assoziation mit Goebbels, vermittelt über »verletztes Gerechtigkeitsgefühl« in beiden Fällen, um die geheime Koalition der Totalitären, einmal von rechts, einmal von links zu suggerieren? Deshalb der Rekurs auf die gemeinsame George-Schule? Ein so kaum gemeintes, gleichwohl gefährliches Spiel mit dem Feuer. Das eigentliche Skandalon - und hier obwaltet Eindeutigkeit: Außergeschichtliche, außergesellschaftliche Verhältnisse erkennt er nicht an. Aus dem gleichen Grunde behandelt er später kaum mehr formale Fragen der Dichtung, obwohl sie doch die einzig legitimen Probleme einer wesenmäßig literarischen Kritik bilden; denn auch sie lassen sich historisch nur in beschränktem Maße fassen, weil sie wesentlich zu den Naturerscheinungen der Dichtung gehören.87 Der Preis der Lösung von George, von Gundolf und den anderen »>bürgerlichen< Lehrern«? Der Schüler weiß sich befreit vom falschen priesterlichen Banne, befreit von den Restbeständen der >Natur< in seinem Wesen, frei zur kritischen Einsicht in die angeblich zwangsläufigen Gesetze der Geschichte. Und seine Tragik besteht darin, daß ihm entgeht, wie er einem anderen Zwang verfällt: dem Systemzwang des historischen Materialismus, der doch seiner fragmentarischen Schreibweise so klar zuwiderläuft; ja daß sich der entschiedene Kritiker des Warenfetischismus dem Dienst am Fetisch der radikalen Neuordnung unserer (!) gesellschaftlichen Verhältnisse freudig und reinen Herzens unterwirft.88 »Dialektische Paradeschritte«, »Benjamins Bekenntnisse« etc. — besagen diese Etikettierungen nicht mehr über ihren Urheber als den Gemeinten? - Nur Fritz Usinger hat emphatisch auf Benjamins singulare Leistung aufmerksam zu machen gesucht. E r schaffte etwas, Hans Joachim Seil, Den Fuß dazwischen. Bemerkungen zu den »Schriften« Walter Benjamins, in: Zeitwende — Die Neue Furche 27 (1956) 763— 771, p.771. 8 6 Horst Rüdiger, Walter Benjamin im Spiegel, in: Wort und Wahrheit 11 (1956) 245-248, p.246. Cf. auch von Rüdiger, Rezension der »Schriften«, in: Romanische Forschungen 67 (1956) 397-401. 8 7 Rüdiger, Walter Benjamin im Spiegel, I.e. p.247. wL.c. 85

144

was es vor ihm noch niemals gab: eine marxistische Physiognomik, eine marxistische Gestaltdeutung.89 Die ausführlichste, ausgewogenste und ganz vorurteilslose Charakterisierung Benjamins anläßlich des Erscheinens der »Schriften« stammt aus der D D R . Gerhard Seidel, der spätere kundige Editor Benjamins, ist in seiner Würdigung fast ganz zurückgetreten, um Leben und Werk Benjamins in »informatorisch-anregender Art« zu skizzieren und derart dazu beizutragen, »einen >Freihandel der Begriffe und Gefühle< zu fördern, der unserem Geistesleben so not tut (Freihandel mit jener einen Ausnahme, die Bertolt Brecht machte).« 9 0 Weit davon entfernt, Benjamin auf dogmatische Positionen zu verpflichten oder ihm deren Fehlen anzukreiden, kann Seidel 1957 für einen unbefangenen und freien Umgang plädieren. Mag auch für manchen von uns seine Gesellschaft etwas unbequem sein: wir müssen ihm das gebührende Heimatrecht geben, damit unsere Heimat nicht zu klein sei. 91 Seidel hat diese Maxime durch die populäre Ausgabe der »Lesezeichen«, der ein so schmähliches Schicksal beschieden war, aufs schönste bewährt. 9 2 89

90

91 92

Fritz Usinger, Walter Benjamins Schriften, in: Deutsche Rundschau 83 (1957) 807-813, p. 809. In erweiterter Fassung in: Usinger, Tellurium. Elf Essays, Neuwied: Luchterhand 1966 (die mainzer reihe 20) 75—86. Gerhard Seidel, Im Freihafen der Philosophie. Zu den Schriften Walter Benjamins, in: Neue Deutsche Literatur 5 (1957) 59-71, p.65. Op.cit. p.71. W. Benjamin, Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Literatur, ed. Gerhard Seidel, Leipzig 1970 (Reclams Universal-Bibliothek 476). Hier auch das wichtige Nachwort von Seidel, Im Passat der Kritik. Walter Benjamins Schriften zur deutschsprachigen Literatur, I.e. pp.417-430. Zum Schicksal der Ausgabe Seidel (Rez.), Walter Benjamin, Gesammelte Schriften III, IV, in: Deutsche Literatur Zeitung 94 (1973) 198-202, p.199. Zur Rezeption Benjamins in der DDR der wichtige Beitrag von D. Bathrick, Reading Walter Benjamin From West to East, in: Colloquia Germanica 12 (1979) 246-255. Hinzuzunehmen die stets sehr wichtigen, teilweise n. 153 sowie vor allem bei Brodersen aufgeführten Rezensionen aus der DDR über Benjamin-Publikationen. Nachdem der Suhrkamp-Verlag endlich die Publikation Benjaminscher Texte in der DDR freigegeben hat, erschien sogleich eine neue wichtige Auswahl, die hoffentlich der breiteren Rezeption Benjamins in der DDR, wie sie durch eine skandalöse Verlagspolitik allzu lange verhindert wurde, zugute kommt: Walter Benjamin, Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920-1940, Leipzig 1984 (Reclams Universal-Bibl. 1060). Herausgeber: Sebastian Kleinschmidt. Dazu die beiden wichtigen Monographien mit jeweiligen Benjamin-Kapiteln von Hermann Kähler, Von Hofmannsthal bis Benjamin. Ein Streifzug durch die Essayistik der zwanziger Jahre, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1982; Gudrun Klatt, Vom Umgang mit der Moderne. Ästhetische Konzepte der dreißiger Jahre, Lifschitz, Lukäcs, Lunatscharski, Bloch, Benjamin, Berlin/DDR: Akademie-Verlag 1984 (Lit. u. Ges.). Das maßgebliche Epochen-Porträt (mit Benjamin-Kapitel): Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung des marxistischen literaturtheoretischen Denkens 1918-1933, ed. Manfred Nössig e. a., Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1980. Cf. auch Winfried Schröder, Walter Benjamin — zum Funktionswandel der Literatur in der Epoche des Imperialismus, in: Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme — Aufgaben, Berlin/ DDR: Akademie-Verlag 1975 (Lit. u. Ges.) pp. 176-186. Zur Exil-Phase: Exil in Frankreich, Frankfurt/M.: Röderberg 1981 (Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945, Vol.7) p.225ss. Die Arbeit von Michael Opitz, Korrespondenzen im Werk 145

Daneben entstehen nun auf der Basis der »Schriften« die ersten größeren Untersuchungen zu Benjamin. Als weitaus anspruchsvollste muß diejenige von Hans Heinz Holz gelten: »Prismatisches Denken«. Sie erschien 1956 im gleichen Jahrgang von »Sinn und Form«, in dem auch Blochs Besprechung von Benjamins »Einbahnstraße« aus der »Vossischen Zeitung« (1929) (mit den Benjamin erfreuenden Bemerkungen einer »neuen Geschäftseröffnung von Philosophie« — einer »Ladeneröffnung mit den neuen Frühjahrsmodellen der Metaphysik im Schaufenster«, wie Bloch 1965 in seinen Erinnerungen sagte) zu lesen war.93 Der Einschlag Blochs bekundet sich denn auch mehr als einmal unverhohlen in den Darlegungen von Holz. Man wird sich, um gerecht zu urteilen, daran zu erinnern haben, daß viele der — teilweise extensiv herangezogenen — Benjamin-Zitate ein Jahr nach Erscheinen der »Schriften« noch nicht so abgenutzt waren wie heute nach ihrer dutzendfachen Verwendung. Um so deutlicher tritt das gelegentlich Gewaltsame der Holzschen Exegese neben den vielen treffenden Paraphrasen hervor. Nach Charakteristik des Benjaminschen Darstellungs-Ideals wendet sich Holz der Allegorie als Denkform zu und kommentiert ihr Vorwalten als exakte Widerspiegelung des subjektiven Faktors in Welt und Geschichte, insofern in dieser willkürlichen, wenn auch niemals sachwidrigen Verknüpfung der Objekte das bewußte Sich-Einrichten des Subjekts in dieser Welt als einer vertrauten, bedeutungsvollen angezeigt ist. [ . . . ] Die Allegorie ist immer ein Symptom dafür, daß die Subjekt-ObjektDistanz in gewisser Hinsicht aufgehoben ist, daß die Objekt-Welt, in Bedeutungen umgesetzt, von Subjektivem durchwaltet wird. Bedeutungen sind das Ergebnis der Verwandlung fremder Objektivität an sich in angeeignete, allgemeine Subjektivität für uns. 94

In dieser einmal an Heidegger, einmal an Hegel gemahnenden Rede ist das Spezifische des Benjaminschen Allegorie-Konzepts nahezu verschüttet. Daß Benjamin natürlich in der historischen Analyse der nachantiken Allegorie dialektisch ein theologisches Element als Konstituens allegorischen Verfahrens festhält, wird von Holz zur Forderung umgemünzt, daß »das theologische Begriffsschema [...] philosophisch einer Ideologiereduktion unterworfen werden (müsse), nicht aber gleichsam als Archetyp stehenbleiben« dürfe. 95 Benjamin habe es versäumt, die theologische Erscheinungsform der Allegorie ihrerseits nochmals zu historisieren, statt sie, wie im Trauerspielbuch geschehen, als höherrangige gegenüber der poetischen

93

94 95

Walter Benjamins. Untersuchungen zu Benjamins Begriff der Allegorie und Kritik, Berlin/DDR, Univ. Diss. 1984, ist im Sondersammelgebiet Germanistik der UuStB Frankfurt/M. noch nicht zugänglich. — Erlaubt sei an dieser Stelle der Hinweis auf die zu wenig bekannt gewordene Biographie über den Bruder Georg Benjamin von Hilde Benjamin, 2. erw. Aufl., Leipzig: Hirzel 1982. Hans Heinz Holz, Prismatisches Denken. Über Walter Benjamin: aus Anlaß der Veröffentlichung seiner ausgewählten Schriften, in: Sinn und Form 8 (1956) 514—549, erweiterte Fassung in: Über Walter Benjamin, I.e. pp.62—110 (im folgenden zitiert nach der Erstfassung). Blochs Revuefonn in der Philosophie. Zu Walter Benjamins »Einbahnstraße«, in: Sinn und Form 8 (1956) 510—513, wiederabgedruckt in: Bloch, Erbschaft dieser Zeit, erweiterte Ausg., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1962 (Gesamtausgabe IV) pp. 368—371. Das Zitat aus den Erinnerungen in Der Monat, I.e. p.41. Holz, Prismatisches Denken, I.e. p.526. Op. cit. p. 530.

146

und der philosophischen zu statuieren. Daß hier kein Versäumnis, sondern eine bewußte Konzeption vorliegt, wäre nur einem interpretativen NachVollzug der allegorischen Dialektik, wie sie im Schlußteil des Trauerspielbuchs entwickelt wird, zugänglich gewesen. Die Scholem wie Adorno gleich wichtige theologische Komponente fällt in der historisch-materialistischen Auslegung von Holz so gut wie aus. Holz hat als erster eine exakte Deutung der Benjaminschen »Ideenlehre« vorgetragen. Auch hier kommt Benjamin erst zu sich selbst, wenn aus seiner »in fataler Weise idealistisch« klingenden Lehre der »rationale Kern« herausgeschält wird. 96 Gerade diese Zurückbuchstabierung der Benjaminschen Intention in die Terminologie der Schulphilosophie - hier der Bewußtseinsphilosophie - bringt diese um ihr Inkommensurables. Daß die Idee jenes »Koordinatennetz« bezeichne, welches »das Bewußtsein dem Sein überwirft, um es zu verstehen«, ist gerade nicht der Sinn der Konfigurationslehre. 97 Desgleichen ist die »Aufhebung« der geschichtlichen Phänomene in der Idee nicht als »ägyptisch-statuarische Auffassung« zu kennzeichnen, die »die letzte Konsequenz des Hegeischen Idealismus entgegen aller Dialektik an den Tag bring(e)«, wird darin doch gerade die im Trauerspielbuch schon angelegte, im Spätwerk dann voll zur Geltung gebrachte Geschichtlichkeit der Idee unterschlagen, weswegen dann das Mißverständnis sich einstellen kann, Benjamin verleihe den Ideen gelegentlich »eine jenseitige substantielle Realität, die ihnen (auch nach seinen eigenen Ausführungen) nicht zukommt.« 98 Auch die immer wieder bemühten Kategorien des Blochschen »Noch nicht«, des »antizipierenden Bewußtseins« etc. sind nicht geeignet, das Spezifische des Benjaminschen Ansatzes zu fassen. Und so treffend der große Schlußabschnitt »Geschichte« im ganzen sich liest, so merklich deutet Holz Benjamin um, wenn er dekretiert, daß die unveräußerliche Bindung von Erlösung an Glück ein »im Grunde säkulares Anliegen« sei und also »ohne Auflösung seiner Intention, nur unter Abstrich ideologischer Zutaten (!), von der innerweltlichen Befreiungsbewegung übernommen werden« könne. 99 Die Dialektik zwischen Materialismus und Messianismus will ausgetragen, nicht aber durch Eskamotierung letzterer sistiert sein. In eine ganz andere Richtung der Kritik zielt der 1957 erschienene Beitrag »Ein Geisterseher in der Bürgerwelt« von Ernst Fischer. Fischer diagnostiziert die Aporien der bürgerlichen Abkunft Benjamins. Sie führe in der Jugend in die antibürgerlichen Protestbewegungen bei gleichzeitiger Mystifizierung der gesellschaftlich erzeugten Verblendung in einen »mystischen (?) >Schuldzusammenhang alles LebendigenSchicksal