retten - Rettungssanitäter 9783132434684

Dein starker Einstieg in den Rettungsdienst Damit bist du gut gewappnet für Ausbildung, Prüfung und Einsatz: Dieses Leh

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Table of contents :
Thieme: retten – Rettungssanitäter
Innentitel
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Anschriften
I Berufsbild
1 Berufsbild und psychologische Aspekte
Rettungsdienstpersonal
Rettungshelfer/in (RH)
Rettungssanitäter/in (RS, RettSan)
Rettungsassistent/in (RA, RettAss)
Notfallsanitäter/in (NotSan, NFS)
Rettungssanitäter/in – die Ausbildung
Zugangsvoraussetzungen
Ausbildungsorte
Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte
Einbindung in die Rettungsdienststrukturen
Aufgaben in Notfallrettung und Krankentransport
Weitere Tätigkeitsbereiche
Aufbauqualifikationen
Psychologische Aspekte im Einsatz
Positive Grundhaltung
Humanfaktoren, Kommunikation„ und Teamarbeit
Resilienz und Vulnerabilität
Stressbewältigung
2 Organisation des Rettungsdienstes
Aufgaben und Einrichtungen der Notfallversorgung
Aufgaben des „Rettungsdienstes
Einrichtungen des „Rettungsdienstes
Wichtige Schnittstellen
Weitere Einrichtungen der Notfallversorgung
Hilfsfristen und „Rettungsdienstbereiche
Hilfsfristen
Rettungsdienstbereiche
Rettungsmittel und Rettungskette
Rettungsmittel
Rettungskette
Funk im Rettungsdienst
Rechtliche Grundlagen
BOS-Sprechfunkgeräte
Analog- und Digitalfunk
Vorgang des Funkens
Das Funkmeldesystem (FMS)
Störungen beim Funken
II Medizinische Grundlagen
3 Anatomie und Physiologie
Einführung
Aufbau des Körpers
Organisationsebenen des Körpers
Die Zelle
Gewebe des Körpers
Blut und Immunsystem
Blut
Blutgerinnung
Immunsystem
Lymphatisches System
Herz-Kreislauf-System
Überblick
Herz
Blutgefäße
Blutkreislauf
Atmungssystem
Überblick
Nase und Nasennebenhöhlen
Rachen
Kehlkopf
Luftröhre
Bronchien
Lunge
Brustfell
Physiologie der Atmung
Verdauungssystem
Überblick
Mundhöhle
Speiseröhre
Magen
Dünndarm
Dickdarm
Bauchspeicheldrüse
Leber und Gallenwege
Bauchfell
Harnsystem
Überblick
Niere
Ableitende Harnwege
Wasser- und Elektrolyt-Haushalt
Säure-Basen-Haushalt
Genitalorgane und Schwangerschaft
Weibliche Genitalorgane
Menstruationszyklus
Schwangerschaft
Männliche Genitalorgane
Hormonsystem
Temperaturregulation
Bewegungssystem
Überblick
Knochen und Gelenke
Skelettmuskulatur
Nervensystem
Überblick
Zentrales Nervensystem (ZNS)
Peripheres Nervensystem
Vegetatives Nervensystem
Sinnesorgane
Auge
Ohr
Haut
4 Pharmakologie
Allgemeine Pharmakologie
Grundbegriffe der „Pharmakologie
Rechtliche Grundlagen der Arzneimitteltherapie
Korrekter Umgang mit „Arzneimitteln
Applikationsformen von Arzneimitteln
Allgemeine Pharmakokinetik
Allgemeine „Pharmakodynamik
Besonderheiten bei bestimmten Patientengruppen
Spezielle Pharmakologie
Analgetika
Antikonvulsiva und Sedativa
Antiemetika
Narkose im Rettungsdienst
Pharmakologie des Herz-Kreislauf-Systems
Pharmakologie der Atmung
Substanzen zur Behandlung anaphylaktischer Reaktionen
Pharmakologie des Wasser- und Elektrolythaushalts
Pharmakologie der Gerinnung
Antidote
5 Infektionen und Hygiene
Einführung
Infektiologie
Grundlagen
Wichtige Infektions„krankheiten im Rettungsdienst
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
Hygiene
Infektionsprophylaxe
Reinigung, Desinfektion und Sterilisation
Persönliche Hygiene
Vorgehen bei Kontamination
Infektionstransporte
Planung
Durchführung
III Methoden und Arbeitstechniken
6 Kommunikation und Verhalten in Notfallsituationen
Die Notfallsituation
Stress in der „Notfallsituation
Kommunikation in der Notfallsituation
Kommunikation mit Patienten
Kommunikation mit Kollegen und anderen Berufsgruppen
Kommunikation mit „Angehörigen
Kommunikation mit „besonderen Patientengruppen
7 Einsatztaktik und -ablauf
Definition und Ablauf eines Einsatzes
Verhalten an der „Einsatzstelle
Prinzipielle Vorgehensweise
Vorgehen im Einzelnen
Eigenschutz
Weitere Schutzmaßnahmen
Teamarbeit und Führung im Einsatz
Teamarbeit
Führung im Einsatz
8 Die Untersuchung des Notfallpatienten
Einführung
Ersteinschätzung
Primary Survey: (c)ABCDE-Schema
Vorgehen
ABCDE-Schema: Fallbeispiel
Secondary Survey
SAMPLER-Schema
OPQRST-Schema
IPPAF-Schema
9 Notfallmedizinische Arbeitstechniken und Monitoring
Monitoring und apparative Diagnostik
Blutdruckmessung
Pulsoxymetrie
Elektrokardiogramm (EKG)
Blutzuckermessung
Kapnometrie und Kapnografie
Temperaturmessung
Blutgasanalyse (BGA)
Monitoringsysteme
Notfallsonografie
Atemwegsmanagement
Freimachen der Atemwege
Freihalten und Sichern der Atemwege
Sauerstofftherapie und Beatmung
Sauerstofftherapie
Beatmung
Injektionen und Infusionen
Vorbereiten von Injektionen
Periphere Venenpunktion
Vorbereiten und Anschließen von Infusionen
Weitere „Applikationstechniken
Rettungstechniken
Helmabnahme
Rautek-Rettungsgriff
Schaufeltrage
Spineboard
Kombinationsgeräte
Ruhigstellungstechniken (Immobilisation)
Manuelle Inlinestabilisierung (MILS)
HWS-Stützkragen
Rettungskorsett
Rettungs-BOA
Vakuummatratze
Retention von Frakturen
Transport und Lagerung von Patienten
Rückenschonendes Heben und Tragen
Kinästhetik im Rettungsdienst
Führen von Patienten
Transport von Patienten mit Hilfsmitteln
Lagerungsarten
Wärmeerhalt und Kühlung
Wärmeerhalt
Kühlung
Todesfeststellung und Leichenschau
Todesfeststellung
Leichenschau
Weitere Arbeitstechniken
IV Notfälle
10 Respiratorische Notfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Basismaßnahmen
Notfälle und „Erkrankungen
Asthma bronchiale
COPD
Lungenentzündung
Lungenödem
Lungenembolie
Pneumothorax
Hyperventilation
Ertrinkungsunfälle
Aspiration
Kohlendioxid-Erstickung
Kohlenmonoxid-Intoxikation„
Respiratorische Notfälle bei Kindern
Allgemeines
Bronchiolitis
Akute Epiglottitis
Pseudokrupp
Fremdkörperaspiration
11 Schock
Grundlagen
Schock und Schockformen
Schockstadien und „Schocksymptome
Versorgung des Patienten
Besonderheiten der einzelnen Schockformen
Hypovolämischer Schock
Kardialer Schock
Allergische Reaktion und anaphylaktischer Schock
Sepsis und septischer Schock
Neurogener Schock
Besonderheiten bei Kindern
12 Herz-Kreislauf-Notfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese
Untersuchung
Basismaßnahmen
Notfälle und „Erkrankungen
Akutes Koronarsyndrom (ACS)
Lungenembolie
Herzinsuffizienz
Herzrhythmusstörungen
Hypertensive Entgleisung
Perikardtamponade
Akutes Aortensyndrom
Akuter peripherer arterieller Verschluss
Tiefe Venenthrombose (TVT)
Besonderheiten bei Kindern
13 Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation
Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS)
Reanimation
Grundlagen
Basischeck
Ablauf der Reanimation
Erfolgreiche Reanimation
Erfolglose Reanimation
Besonderheiten bei Kindern
Grundlagen
Feststellen eines HKS und Reanimation von Kindern
Beendigung einer „Reanimation bei Neugeborenen
14 Gastrointestinale, endokrine und Stoffwechselnotfälle
Akutes Abdomen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Versorgung des Patienten
Notfälle und „Erkrankungen des Abdomens
Gastrointestinale Blutungen
Entzündliche Erkrankungen
Notfälle und Erkrankungen der Leber
Gallensteinleiden
Darmverschluss (Ileus)
Nieren-/Harnleiterkolik
Bauchaortenaneurysma
Akutes Abdomen bei Kindern
Diabetes mellitus
Grundlagen
Notfallsituationen bei Diabetes mellitus
Endokrine Erkrankungen und Notfälle
Schilddrüsenüberfunktion
Schilddrüsenunterfunktion
Unterfunktion der „Nebennierenrinde
15 Traumatologische Notfälle
Einführung
Grundlagen
Rettung eingeklemmter Personen
Verletzungen der „Extremitäten
Einführung
Verletzungen der Gelenke, Sehnen und Bänder
Frakturen
Wunden, Blutungen und Amputationen
Wunden
Blutungen und Blutstillung
Amputationen
Schädel-Hirn-Trauma
Grundlagen
Symptomatik und „Verletzungsformen
Schweregrade
Versorgung des Patienten
Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule
Verletzungen des Halses
Wirbelsäulenverletzungen
Thoraxtrauma
Grundlagen
Die „tödlichen Sechs“
Die „versteckten Sechs“
Versorgung des Patienten
Bauchtrauma
Grundlagen
Häufige Verletzungen
Versorgung des Patienten
Beckentrauma
Grundlagen
Symptomatik
Versorgung des Patienten
Polytrauma
Grundlagen
Versorgung des Patienten
Verbrennungen und Verbrühungen
Thermische Verletzungen
Verätzungen
Umweltbedingte Notfälle
Kälteschäden
Hitzenotfälle
Strom- und Blitzunfälle
Tauchnotfälle
Ertrinkungsunfälle
16 Neurologische Notfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Bewusstseinsstörungen
Krampfanfälle
Synkope
Schlaganfall
Weitere Leitsymptome
Notfälle und „Erkrankungen
Neurogener Schock
Verletzungen von Gehirn und Rückenmark
Hirnischämie und Hirninfarkt
Hirnblutungen
Sinus- und Hirnvenen„thrombose
Bandscheibenvorfall
Meningitis und Enzephalitis
Neurologische Notfälle bei Kindern
17 Psychische Notfälle
Einführung
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Krisenintervention
Unterbringung psychisch Erkrankter gegen ihren Willen
Psychische Notfälle
Delir
Suizidalität
Akute Erregungszustände
Akute Belastungsreaktion
Akute Hyperventilation
Akute Angst und „Panikattacken
Wichtige psychische Grunderkrankungen
Demenz
Depression
Sucht und Abhängigkeit
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Bipolare affektive Störung
Schizophrenie
Angststörungen
18 HNO-Notfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Basismaßnahmen
Notfälle
Nasenbluten (Epistaxis)
Blutungen aus dem Mund
Blutungen aus dem Ohr
Schwindel
Akustisches Trauma
Hörsturz
HNO-Notfälle bei Kindern
19 Augennotfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Basismaßnahmen
Notfälle
Augenverletzungen
Netzhautablösung
Glaukomanfall
Besonderheiten bei Kindern
20 Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle
Grundlagen
Leitsymptome
Anamnese und „Untersuchung
Basismaßnahmen
Gynäkologische „Verletzungen
Schwangerschaft
Physiologische Grundlagen
Mutterpass
Notfälle in der „Schwangerschaft
Komplikationen in der „Frühschwangerschaft
Komplikationen bei „fortgeschrittener Schwangerschaft
Geburt und Neugeborenes
Physiologischer Ablauf der Geburt
Geburtsbegleitung im Rettungsdienst
Versorgung des „Neugeborenen
Komplikationen während und nach der Geburt
Wochenbett
21 Nephrologische und urologische Notfälle, Störungen des Wasser-„, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts
Einführung
Grundlagen
Leitsymptome
Untersuchung
Notfälle der Nieren und der ableitenden Harnwege
Akuter Harnverhalt
Urolithiasis und Nieren-/Harnleiterkolik
Akutes Nierenversagen
Notfälle der männlichen Geschlechtsorgane
Akutes Skrotum
Priapismus
Paraphimose
Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts
Störungen des Natrium- und Wasserhaushalts
Hyperkaliämie
Hypokaliämie
Azidosen und Alkalosen
Grundlagen
Symptomatik
Versorgung des Patienten
Besonderheiten bei Kindern
22 Intoxikationen
Allgemeine Toxikologie
Einführung
Aufnahme des Giftes
Entgiftung
Grundlagen
Anamnese
Untersuchung
Versorgung der Patienten
Spezielle Vergiftungen
Vergiftungen durch „Medikamente und illegale Drogen
Vergiftungen durch Alkohol
Vergiftungen durch Pflanzen, Pilze und Tiere
Weitere Vergiftungen
23 Besondere Patientengruppen
Besonderheiten „pädiatrischer Patienten
Grundlagen im Umgang
Kindliche Entwicklung
Anatomie und Physiologie
Beurteilung und Versorgung
Transport
Kindeswohlgefährdung
Besonderheiten „geriatrischer Patienten
Grundlagen im Umgang
Anatomie und Physiologie
Beurteilung und Versorgung
Besonderheiten adipöser Patienten
Übergewicht und Risiko für Begleiterkrankungen
Beurteilung und Versorgung
24 Spezielle Einsatzsituationen
Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten
Grundlagen
Maßnahmen des „ersteintreffenden Rettungsmittels
Priorisierung und Sichtung (Triage)
Erstversorgung und „Transport
CBRN-Lagen
CBRN-Gefahren
Vorgehen bei CBRN-Lagen
Dekontamination
Persönliche Schutz„ausrüstung bei CBRN-Einsätzen
Besondere Einsatzlagen und taktisches Vorgehen
Weitere spezielle „Einsatzsituationen
Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT)
Seenotrettung
Eisrettung
V Rahmenbedingungen
25 Rechtliche Rahmenbedingungen und Qualitätsmanagement
Grundlagen der „staatlichen Ordnung in „Deutschland
Rechtliche Grundlagen für das Handeln im Rettungsdienst
Rechtsgebiete
Beispiele aus dem „Rettungsdienstalltag
Straßenverkehrsrecht
Medizinproduktegesetz und Medizinproduktebetreiber„verordnung
Qualitätsmanagement
Bewertungskriterien
Qualitätsstandards und Qualitätskontrolle
Der PDCA-Zyklus
26 Dokumentation im Rettungsdienst
Stellenwert
Rechtliche Grundlagen
Was wird dokumentiert?
Die „6 Gebote der „Dokumentation“
VI Interessantes zum Schluss
27 Orientierungshilfen, Begriffe, Abkürzungen, Größen und Einheiten
Orientierungshilfen am menschlichen Körper
Wichtige medizinische Begriffe und Silben
Wichtige in der Medizin verwendete physikalische Größen und Einheiten
Sachverzeichnis
Access Code: Zusätzliche Online Information
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retten - Rettungssanitäter
 9783132434684

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retten – Rettungssanitäter Fachbeiräte Kersten Enke, Sebastian Koch, Rico Kuhnke Unter Mitarbeit von Alice Brand, Arne Conrad, Diana Drache, Kathrin Feyl*, Tobias Fraatz, Jeannette Frenzel, Heike Heinrich*, Elisabeth Kaiserauer, Oliver Knappe, Sebastian Koch, Attila Koszik, Andreas Krebs, Yvonne Lenhardt-Pfeiffer, Matthias Lohölter, Martin Rief, Jens Schäper*, Jan Frederik Schlie*, Marco Steinkrauß, Maik Thomas, Jannis Trier, Michael Unseld, Marcus Wuttke * Autor*innen aus Vorauflagen

2., überarbeitete Auflage

679 Abbildungen

Georg Thieme Verlag Stuttgart • New York

Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. Ihre Meinung ist uns wichtig! Bitte schreiben Sie uns unter: www.thieme.de/service/feedback.html

© 2024. Thieme. All rights reserved. Georg Thieme Verlag KG Rüdigerstraße 14, 70 469 Stuttgart, Germany www.thieme.com Printed in Germany 1. Auflage 2017 Covergestaltung: © Thieme Bildnachweis Cover: © Thieme/Julia Böger Zeichnungen: anchin mabel, Stuttgart/Zürich; Christine Lackner, Ittlingen Anatomische Aquarelle aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Illustrationen von M. Voll und K.Wesker Satz: Druckhaus Götz GmbH, Ludwigsburg Druck: Westermann Druck Zwickau GmbH, Zwickau

DOI 10.1055/b000 000 098 ISBN 978-3-13-243467-7 Auch erhältlich als E-Book: eISBN (PDF) 978-3-13-243468-4 eISBN (epub) 978-3-13-243469-1

123456

Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, dürfen die Lesenden zwar darauf vertrauen, dass Autor*innen, Herausgeber*innen und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede*r Benutzende ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines/r Spezialist*in festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzenden. Autor*innen und Verlag appellieren an alle Benutzenden, ihnen etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.

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Vorwort Liebe Leserinnen, liebe Leser, Sie haben sich entschieden, eine Ausbildung als Rettungssanitä-

zu beachten ist. Diese Aufgaben fallen häufig in Ihren Tätigkeits-

terin bzw. Rettungssanitäter zu machen. Diese Ausbildung hat

bereich als Rettungssanitäter. Die erweiterten Maßnahmen um-

einen Umfang von 520 Stunden, in denen Sie u. a. vielfältige

fassen eher invasive, weiterführende Tätigkeiten oder eine An-

Kompetenzen im Patiententransport, in der Notfallrettung und

passung der Therapie an besondere Gegebenheiten, bei denen Sie

im Bevölkerungsschutz erwerben. In kaum einem anderen Beruf

Ihre Team-Kollegen (Notfallsanitäter und Notarzt) unterstützen.

wird ein so umfangreiches Qualifikationsprofil so komprimiert

Um Ihnen den Transfer der Inhalte in die Praxis zu erleichtern sind

vermittelt – und anschließend im praktischen Alltag verlangt.

immer wieder Fallbeispiele in den Text eingestreut. Sie werden

Diese beeindruckende Masse an theoretischem und praktischem

zunächst nur „angerissen“ und erst am Ende eines Notfallbildes

Wissen, das Sie somit in kurzer Zeit stemmen müssen, ist eine

„aufgelöst“. So können Sie erst einmal selbst überlegen: Was sollte

echte Herausforderung.

ich in dieser Situation tun? Was wären sinnvolle Maßnahmen?

Doch Sie werden diese Herausforderung meistern! Nicht zuletzt

Das Ziel dieses Buches: Wir wollen Ihnen das Lernen so leicht wie

mithilfe dieses Buches: retten – Rettungssanitäter. Es vermittelt

möglich machen, damit Sie sich auf die wirklich wichtigen Dinge

Ihnen genau die Kompetenzen und das Wissen, das Sie nicht nur

konzentrieren können: Das Umsetzen der Theorie in alltags-

in den nächsten Monaten, sondern in Ihrem gesamten Berufsleben

praktisches Handeln – und natürlich den Spaß und die Freude

benötigen: Die Beschreibung der Notfallsituationen beginnt z. B.

bei dieser Arbeit. Denn es gibt wenige Jobs, die so viel Erfüllung

mit den Leitsymptomen: Die Patienten präsentieren Ihnen ja keine

bringen, wie Menschen in akuten Notsituationen zu helfen.

fertige Diagnose, sondern schildern zunächst akute Beschwerden. Unter Basismaßnahmen lesen Sie, was grundsätzlich zu tun und

Kompetenzorientiert

Ihre Fachredaktion des Georg Thieme Verlags

Praxisorientiert Zahlreiche Videos und Fotoserien erleichtern das Erlernen praktischer Fähigkeiten. Fallbeispiele geben einen Ausblick auf Ihren Arbeitsalltag.

Alle in den Ausbildungsund Prüfungsverordnungen der Länder geforderten Kompetenzen sind abgedeckt.

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Teamorientiert Im Zentrum steht immer das Handeln im Team: Wie wirke ich mit anderen zusammen, damit der Patient optimal versorgt wird?

retten App Mit der RETTEN TO GOApp (RS) haben Sie das Wichtigste aus diesem Buch dabei ̶ jederzeit und überall. Gratis bei Google Play und im App Store.

Feedback

Achtung!

Wie gefällt Ihnen retten – Rettungssanitäter? Wir freuen uns auf Feedback und Anregungen unter: www.thieme.de/service/ feedback.html

Der Rettungsdienst ist föderal geprägt, Vorgaben können sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. Informieren Sie sich bitte deshalb über die in Ihrem Einsatzgebiet geltenden Regelungen, die u.a. von Ihrem ÄLRD festgelegt werden. Diese können im Einzelfall von den im Buch dargestellten Vorgehensweisen abweichen.

Inhaltsverzeichnis

I 1

Berufsbild

Berufsbild und psychologische Aspekte

.....................................................

14

Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte Psychologische Aspekte im Einsatz . . . . . . . . . .

17 19

..........................................................

28

A. Krebs, S. Koch

1.1 1.2

Rettungsdienstpersonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rettungssanitäter/in – die Ausbildung . . . . . .

2

Organisation des Rettungsdienstes

14 16

1.3 1.4

S. Koch, T. Fraatz (2.4)

2.1 2.2

Aufgaben und Einrichtungen der Notfallversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsfristen und Rettungsdienstbereiche . . . . .

II

28 32

2.3 2.4

Rettungsmittel und Rettungskette . . . . . . . . . . Funk im Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 41

Medizinische Grundlagen

3

Anatomie und Physiologie

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blut und Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herz-Kreislauf-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Atmungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verdauungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harnsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wasser- und Elektrolyt-Haushalt . . . . . . . . . . .

4

Pharmakologie

.................................................................... Säure-Basen-Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genitalorgane und Schwangerschaft . . . . . . . . Hormonsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temperaturregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinnesorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 86 89 91 92 97 101

.................................................................................

104

50 50 53 57 68 76 82 83

3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15

50

M. Unseld

4.1

Allgemeine Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Infektionen und Hygiene

104

4.2

Spezielle Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

......................................................................

146

M. Rief

5.1 5.2

6

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 146

5.3 5.4

Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektionstransporte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152 161

Inhaltsverzeichnis

III 6

Methoden und Arbeitstechniken

Kommunikation und Verhalten in Notfallsituationen

......................................

166

Kommunikation in der Notfallsituation . . . . . .

168

.....................................................................

174

A. Conrad

6.1 6.2

Die Notfallsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress in der Notfallsituation . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einsatztaktik und -ablauf

166 167

6.3

A. Conrad

7.1 7.2

Definition und Ablauf eines Einsatzes . . . . . . . Verhalten an der Einsatzstelle . . . . . . . . . . . . . .

174 175

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten

7.3

Teamarbeit und Führung im Einsatz . . . . . . . .

180

.....................................................

182

A. Conrad

8.1 8.2

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ersteinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182 182

8.3 8.4

Primary Survey: (c)ABCDE-Schema . . . . . . . . . Secondary Survey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Notfallmedizinische Arbeitstechniken und Monitoring

183 193

....................................

198

Ruhigstellungstechniken (Immobilisation) . . . Transport und Lagerung von Patienten . . . . . . Wärmeerhalt und Kühlung . . . . . . . . . . . . . . . . Todesfeststellung und Leichenschau . . . . . . . . . Weitere Arbeitstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . .

233 237 249 251 252

.......................................................................

256

A. Koszik, E. Kaiserauer (9.7.2)

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Monitoring und apparative Diagnostik . . . . . . Atemwegsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sauerstofftherapie und Beatmung . . . . . . . . . . Injektionen und Infusionen . . . . . . . . . . . . . . . . Rettungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV 10

198 207 216 222 229

9.6 9.7 9.8 9.9 9.10

Notfälle

Respiratorische Notfälle O. Knappe

10.1 10.2

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Schock

11.1 11.2

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der einzelnen Schockformen

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

256 261

10.3

Respiratorische Notfälle bei Kindern . . . . . . . .

278

..........................................................................................

282

M. Rief

282 289

11.3

Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . .

293

........................................................................

296

M. Rief

12.1 12.2

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . .

296 300

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation

12.3

Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . .

315

..................................................

316

M. Rief

13.1 13.2

Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS) . . . . . . . . . . . . Reanimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 318

13.3

Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . .

329

7

27

Inhaltsverzeichnis

14

Gastrointestinale, endokrine und Stoffwechselnotfälle

14.1 14.2

Akutes Abdomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle und Erkrankungen des Abdomens . .

15

Traumatologische Notfälle

....................................

336

Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endokrine Erkrankungen und Notfälle . . . . . .

353 359

....................................................................

364

D. Drache

336 343

14.3 14.4

A. Conrad

Bauchtrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beckentrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polytrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbrennungen und Verbrühungen . . . . . . . . . Umweltbedingte Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . .

391 395 397 398 402

........................................................................

414

15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzungen der Extremitäten . . . . . . . . . . . . Wunden, Blutungen und Amputationen . . . . . Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule Thoraxtrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Neurologische Notfälle

364 366 372 379 383 386

15.7 15.8 15.9 15.10 15.11

M. Thomas

16.1 16.2

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Psychische Notfälle

414 416

16.3

Notfälle und Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . .

427

............................................................................

436

M. Thomas

17.1 17.2

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

HNO-Notfälle

436 436

17.3 17.4

Psychische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige psychische Grunderkrankungen . . .

439 444

...................................................................................

452

J. Frenzel

18.1

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

452

18.2

Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

454

19

Augennotfälle

..................................................................................

460

19.1 19.2

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

M. Steinkrauß

460 467

19.3

Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . .

473

..............................................

474

Y. Lenhardt-Pfeiffer, Fachbeiräte: T. Köwing, A. Möller

20.1 20.2 20.3

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gynäkologische Verletzungen . . . . . . . . . . . . . . Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

474 477 477

20.4 20.5 20.6

Notfälle in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . Geburt und Neugeborenes . . . . . . . . . . . . . . . . . Wochenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

478 485 490

21

Nephrologische und urologische Notfälle, Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

492

J. Trier

Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Azidosen und Alkalosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . .

501 505 506

21.4

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle der Nieren und der ableitenden Harnwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notfälle der männlichen Geschlechtsorgane .

22

Intoxikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

508

21.1 21.2 21.3

492 492 494 499

21.5 21.6 21.7

A. Koszik

22.1 22.2

Allgemeine Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

508 510

22.3

Spezielle Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

512

23

Besondere Patientengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

522

23.1 23.2

Besonderheiten pädiatrischer Patienten . . . . . Besonderheiten geriatrischer Patienten . . . . .

A. Brand

8

522 530

23.3

Besonderheiten adipöser Patienten . . . . . . . . .

533

Inhaltsverzeichnis

24

Spezielle Einsatzsituationen

24.1

Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CBRN-Lagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

..................................................................

536

A. Krebs, S. Koch

24.2

V

24.3 536 541

24.4

Besondere Einsatzlagen und taktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere spezielle Einsatzsituationen . . . . . . . .

545 546

Rahmenbedingungen

25

Rechtliche Rahmenbedingungen und Qualitätsmanagement

25.1

Grundlagen der staatlichen Ordnung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.............................

550

M. Wuttke

25.2 550 25.3

26

Dokumentation im Rettungsdienst

Rechtliche Grundlagen für das Handeln im Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

..........................................................

552 563 566

M. Lohölter

26.1 26.2

Stellenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI

566 566

26.3 26.4

Was wird dokumentiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „6 Gebote der Dokumentation“ . . . . . . . . .

567 569

Interessantes zum Schluss

27

Orientierungshilfen, Begriffe, Abkürzungen, Größen und Einheiten

27.1 27.2

Orientierungshilfen am menschlichen Körper Wichtige medizinische Begriffe und Silben . .

Sachverzeichnis

.....................

572

Wichtige in der Medizin verwendete physikalische Größen und Einheiten . . . . . . . . . . . . . . .

580

................................................................................

581

572 574

27.3

9

Anschriften Fachbeiräte für das gesamte Lehrbuch

Mitarbeiter

Dipl.-Ghl. Kersten Enke Akademieleiter Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. Johanniter-Akademie Niedersachsen/Bremen Staatlich anerkannte Berufsfachschulen für Pflege und Rettungsdienst Büttnerstr. 19 30165 Hannover

Alice Brand DRK Bildungswerk Sachsen gGmbH Naumburger Str. 26a 04229 Leipzig Deutschland

Prof. Dr. rer. medic. Sebastian Koch SRH Hochschule für Gesundheit Gera und Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg am Institut für Gesundheitsund Pflegewissenschaft sowie DRK-Kreisverband Erfurt e. V. Deutschland

Diana Drache Notfallsanitäterin, Medizinpädagogin M.A.

Rico Kuhnke Notfallsanitäter, Schulleiter Am Kirschbaum 7 72250 Freudenstadt Deutschland

Fachbeiräte für das Kapitel Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle Tatjana Köwing Medizinpädagogin B.A. Katastrophenmanagement M.A. Notfallsanitäterin/Hebamme Feuerwehr Duisburg Deutschland Anna Möller Notfallsanitäterin, Feuerwehrfrau, Studentin der Medizinpädagogik B.A. Rettungsdienst Köln Deutschland

Dr. med. Arne Conrad Bundespolizeiarzt, Diplom-Psychologe, Leitender Notarzt

Tobias Fraatz stellv. Schulleiter DRK-Bildungswerk Thüringen gGmbH Deutschland Jeannette Frenzel Medizinpädagogin M.A. Schulleitung Lausitzer Wirtschafts- und Gesundheitsakademie Cottbus GmbH Ewald-Haase-Sr. 13 03044 Cottbus Deutschland Elisabeth Kaiserauer Kinästhetik Trainerin für das Rettungswesen Lehrrettungsassistentin Rangenbergstr. 20/11 72766 Reutlingen Deutschland Oliver Knappe Prof. Dr. rer. medic. Sebastian Koch SRH Hochschule für Gesundheit Gera und Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg am Institut für Gesundheitsund Pflegewissenschaft sowie DRK-Kreisverband Erfurt e. V. Deutschland Attila Koszik Notfallsanitäter, Praxisanleiter DRK-Kreisverband Erfurt e. V. Deutschland Andreas Krebs Notfallsanitäter, Praxisanleiter, CRM-Trainer Schulleiter Landesrettungsschule der DRK- und ASB-Landesverbände Sachsen-Anhalt gGmbH Deutschland Dr. med. Yvonne Lenhardt-Pfeiffer Fachärztin für Anästhesie, Notfallmedizin, spezielle Intensivmedizin und Palliativmedizin Matthias Lohölter Thieme DokuFORM GmbH Willy-Brandt-Allee 31a 23554 Lübeck Deutschland

10

Anschriften Univ. FA Dr. med. univ. Dr. scient. med. Martin Rief Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 5 8036 Graz Österreich Marco Steinkrauß Medizinpädagoge B.A. Maik Thomas Medizinpädagoge M.A., Notfallsanitäter, Praxisanleiter Jannis Trier Medizinpädagoge B.A., Notfallsanitäter Malteser Hilfsdienst gGmbH Bildungszentrum HRS Rettungsdienstschule Rheinland-Pfalz Deutschland

Michael Unseld Enzkreiskliniken Neuenbürg Marxzeller Str. 46 75305 Neuenbürg Deutschland Marcus Wuttke Gemeinnützige Rettungsdienst Märkisch-Oderland GmbH Am Biotop 10 15344 Strausberg Deutschland

Mitarbeiter der 1. Auflage Dr. med. Kathrin Feyl, Heike Heinrich, Jens Schäper, Jan Frederik Schlie

11

I

Berufsbild 1 Berufsbild und psychologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

2 Organisation des Rettungsdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

1

Berufsbild und psychologische Aspekte

1.1 Rettungsdienstpersonal In Deutschland gibt es im Wesentlichen 3 Berufsbilder im Rettungsdienst (RD): ● Rettungssanitäter/in (RS oder RettSan) ● Rettungsassistent/in (RA oder RettAss, Ausbildung hierzu nicht mehr möglich, ersetzt durch NFS) ● Notfallsanitäter/in (NFS oder NotSan) Zusätzlich werden in einigen Bundesländern Rettungshelfer (RH) im Bereich des Krankentransports eingesetzt.

1.1.1 Rettungshelfer/in (RH) „Rettungshelfer“ ist die Basisqualifikation im Rettungsdienst, wobei es nicht in allen Bundesländern Rettungshelfer gibt (in Sachsen-Anhalt gibt es z. B. keine mehr). „Rettungshelfer“ ist also keine bundesweit einheitliche Qualifikation und keine offizielle Berufsbezeichnung. Die Ausbildung gliedert sich z. B. in Nordrhein-Westfalen in einen Grundlehrgang (160 h an einer Rettungsdienstschule), ein Klinikpraktikum (80 h) und ein Rettungswachenpraktikum (80 h). Rettungshelfer und -helferinnen werden v. a. als Fahrzeugführende im Krankentransport eingesetzt.

1.1.2 Rettungssanitäter/in (RS, RettSan) Ausbildungsziel und Aufgaben • Die Grundlage der Ausbildung sind landesrechtliche Regelungen, z. B. durch den 14

Bund-Länder-Ausschuss „Rettungswesen“ von 1977 oder Ausbildungsordnungen der Hilfsorganisationen. Ziel der Ausbildung ist u. a. die Fahrzeugführung im Rettungsdienst, d. h. die Führung eines Rettungstransportwagens (RTW) bzw. eines Krankentransportwagens (KTW), in einigen Bundesländern auch eines Notarzteinsatzfahrzeuges (NEF) und die Patientenbetreuung. In der Notfallrettung unterstützen fertig ausgebildete RS den NFS bzw. Notärzte und führen darüber hinaus eigenständig Maßnahmen durch. Entsprechend werden RS – je nach Bundesland – im qualifizierten Krankentransport und in der Notfallrettung eingesetzt. Gliederung der Ausbildung • 2019 veröffentlichte der BundLänder-Ausschuss „Rettungswesen“ eine Empfehlung für eine Verordnung über die Ausbildung und Prüfung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern (RettSan-APrV). Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 RettSan-APrV soll die Ausbildung die Absolventinnen und Absolventen zum Einsatz in unterschiedlichen Funktionen in allen Bereichen des Patiententransportes, des qualifizierten Krankentransportes sowie der Notfallrettung und des Bevölkerungsschutzes befähigen. Die Ausbildungszeit beträgt insgesamt 520 Stunden und gliedert sich in 1. eine theoretisch-praktische Ausbildung an einer staatlich anerkannten Ausbildungsstätte für Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter im Umfang von 240 Stunden, einschließlich der Erfolgskontrolle zum Abschluss des Ausbildungsabschnittes, 2. eine praktische Ausbildung in einer geeigneten Einrichtung der Patientenversorgung im Umfang von 80 Stunden, 3. eine praktische Ausbildung im Rettungsdienst im Umfang von 160 Stunden sowie 4. einen Abschlusslehrgang im Umfang von 40 Stunden.

Rettungshelfer/in (RH) ▶S. 14 Rettungssanitäter/in (RS, RettSan) ▶S. 14 Rettungspersonal in Deutschland

Rettungsassistent/in (RA, RettAs)

▶S. 15

Notfallsanitäter/in (NFS, NotSan)

▶S. 15

Rettungssanitäter/in – die Ausbildung

Zugangsvoraussetzungen

▶S. 16

Ausbildungsorte ▶S. 16

Einbindung in die Rettungsdienststrukturen

▶S. 17

Aufgaben in Notfallrettung und Krankentransport Weitere Tätigkeitsbereiche

▶S. 18

▶S. 18

Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte

Organisatorischer Leiter RD Aufbauqualifikationen

▶S. 19

Medizinproduktebeauftragter ▶S. 19 Hygienebeauftragter

▶S. 19

Positive Grundhaltung ▶S. 19 Psychologische Aspekte im Einsatzz

Humanfaktoren, Kommunikation und Teamarbeit ▶S. 20 Resilienz und Vulnerabilität ▶S. 25 Stressbewältigung ▶S. 25

Den Abschluss der Ausbildung bildet eine staatliche Prüfung. Die Gesamtverantwortung für die Organisation und Koordination der theoretischen und praktischen Ausbildung entsprechend dem Ausbildungsziel trägt die schulische Ausbildungsstätte. Die RettSan-APrV enthält in der Anlage 1 im Rahmenlehrplan verbindliche Vorgaben für den schulischen Ausbildungsanteil. Folgende Themenbereiche werden unterschieden: ● Themenbereich A: Handlungsfeld Krankentransport und Rettungsdienst ● Themenbereich B: Versorgung nach dem (c)ABCDESchema ● Themenbereich C: spezielle Versorgung ● Themenbereich D: psychosoziale Aspekte Hinweis: Die hier geschilderte Verordnung wurde bisher (Stand 2024) nicht in allen Bundesländern übernommen. In diesen Ländern gilt weiterhin die Empfehlung des BundLänder-Ausschusses „Rettungswesen“ von 1977.

1.1.3 Rettungsassistent/in (RA, RettAss) Die Ausbildung zum Rettungsassistenten bzw. zur Rettungsassistentin wurde 1989 bundesrechtlich eingeführt. Rettungsassistenten werden seit 2015 nicht mehr ausgebildet, sind aber weiterhin im Einsatz, v. a. in der Notfallrettung. Daneben sind RA auch als Fahrzeugführende auf Rettungstransportwagen (RTW) tätig. Zusätzlich fordert das Rettungsdienstgesetz des Bundeslandes Sachsen-Anhalt den Einsatz von RA zur Patientenbetreuung im qualifizierten Krankentransport. Hierbei unterstützen RA die Notärzte und Notärztinnen, führen lebensrettende Sofortmaßnah-

men durch und helfen dabei, Notfallpatienten transportfähig zu machen. Damit RA diese Aufgaben effizient und im Interesse des Patienten so gut wie möglich durchführen können, hat die Bundesärztekammer ihnen 1992 die „Notkompetenz“ zugesprochen. Das bedeutet, dass RA im Notfall bestimmte Aufgaben übernehmen dürfen, die eigentlich in den ärztlichen Tätigkeitsbereich fallen, wenn notärztliche Unterstützung nicht rechtzeitig verfügbar ist. Zu den Maßnahmen der Notkompetenz gehören die endotracheale Intubation, das Legen peripherer venöser Zugänge, die Defibrillation am Notfallort, die Gabe kristalloider Infusionslösungen sowie die Verabreichung bestimmter Notfallmedikamente. Zu beachten ist, dass die Notkompetenz nur eine Empfehlung der Bundesärztekammer ohne Rechtscharakter ist.

1.1.4 Notfallsanitäter/in (NotSan, NFS) Mit Inkrafttreten des Notfallsanitätergesetzes im Jahr 2014 wurde im Rettungsdienst der Bundesrepublik Deutschland ein neues Berufsbild eingeführt. Der Beruf des Notfallsanitäters ist der erste eigenständige medizinische Fachberuf im Bereich der Notfall- und Rettungsmedizin in Deutschland.

! Merke Notfallsanitäter/in (NotSan)

NotSan führen eigenständig medizinische Notfallmaßnahmen durch, bis der Patient von einem weiterbehandelnden Arzt übernommen wird. NotSan werden primär als Verantwortlicher auf RTW oder als Fahrzeugführende von NEF eingesetzt (▶ Tab. 1.1). Die Ausbildung dauert 3 Jahre und umfasst eine theoretischpraktische Ausbildung an einer Rettungsdienstschule 15

1

Berufsbild und psychologische Aspekte

Tab. 1.1 Übersicht über Berufsgruppen im Rettungsdienst des deutschsprachigen Raumes. Tätigkeit

Deutschland

Österreich

Schweiz

primär Krankentransport

Rettungssanitäter: 520 h Ausbildung

Rettungssanitäter: 260–300 h Ausbildung

Transportsanitäter: 1 Jahr Ausbildung

primär Notfallrettung

Rettungsassistent: 2 Jahre Ausbildung Notfallsanitäter: 3 Jahre Ausbildung

Notfallsanitäter: 480 h Ausbildung, Voraussetzung: Rettungssanitäter

Dipl.-Rettungssanitäter HF: 3 Jahre Ausbildung an höherer Fachschule

(1920 h), eine praktische Ausbildung in einer Klinik (720 h) und eine praktische Ausbildung in einer Rettungswache (1960 h).

RETTEN TO GO Übersicht Rettungsdienstpersonal Berufsbilder im Rettungsdienst in Deutschland: ● Rettungssanitäter/in (RS, RettSan) ● Rettungsassistent/in (RA, RettAss; Ausbildung nicht mehr möglich, ersetzt durch NotSan) ● Notfallsanitäter/in (NFS, NotSan): erster eigenständiger medizinischer Fachberuf im Rettungsdienst; eigenständige Durchführung medizinischer Notfallmaßnahmen, bis der Patient von einem weiterbehandelnden Arzt übernommen wird Zusätzlich werden in einigen Bundesländern Rettungshelfer (RH) eingesetzt, hauptsächlich im Krankentransport.

1.2 Rettungssanitäter/in – die Ausbildung 1.2.1 Zugangsvoraussetzungen Gemäß § 4 Abs. 1 RettSan-APrV erhält eine Person Zugang zur Ausbildung zur Rettungssanitäterin bzw. zum Rettungssanitäter, wenn sie 1. ihre Identität nachgewiesen hat, 2. nicht in gesundheitlicher Hinsicht zur Ausübung der Tätigkeit als Rettungssanitäterin oder Rettungssanitäter ungeeignet ist, 3. über einen Hauptschulabschluss oder eine gleichwertige Schulausbildung oder über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt, 4. sich nicht eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung der Tätigkeit als Rettungssanitäterin bzw. Rettungssanitäter ergibt, 5. über die für die Ausübung der Tätigkeit als Rettungssanitäterin bzw. als Rettungssanitäter erforderlichen Kenntnis der deutschen Sprache verfügt. Auch hier ist zu beachten, dass die RettSan-APrV noch nicht von allen Bundesländern übernommen wurde. Daher gibt es in einigen Bundesländern Abweichungen bezüglich des Mindestalters (z. B. vollendetes 18. Lebensjahr in SachsenAnhalt) oder die Anforderung, dass vorab eine Erste-HilfeAusbildung absolviert wurde.

16

1.2.2 Ausbildungsorte Theoretische Ausbildung (240 h) Die theoretische Ausbildung ist Voraussetzung für die darauffolgenden praktischen Ausbildungsabschnitte in einer Klinik und auf einer Rettungswache. Der Inhalt richtet sich nach dem 520-Stunden-Programm des Bund-Länder-Ausschusses „Rettungswesen“ sowie der Empfehlung für eine Verordnung über die Ausbildung und Prüfung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern (RettSan-APrV) und wird regelmäßig durch die zuständigen Hilfsorganisationen oder Bundesländer an aktuelle Gegebenheiten angepasst. Die Ausbildung ist auf die spätere Tätigkeit ausgerichtet. Vermittelt werden anatomische und physiologische Grundlagen des menschlichen Körpers, mögliche Störungen der Vitalfunktionen, mögliche chirurgische Notfallbilder, mögliche Notfallbilder der Inneren Medizin, mögliche Notfallbilder der Pädiatrie, notfallrelevante psychische Krankheitsbilder, Erkrankungen der Augen, Maßnahmen der Geburtshilfe, rettungsdienstlich relevante Aspekte der Organisation und Einsatzführung sowie rechtliche Grundlagen.

Klinikpraktikum (80 h) Das Klinikpraktikum ist als erster Teil der praktischen Ausbildung gedacht und in einer „geeigneten Einrichtung der Patientenversorgung“ zu absolvieren. Grundsätzlich ist es jedoch auch möglich, im Anschluss an die Theorie zunächst das Rettungswachenpraktikum zu machen. Das Praktikum sollte überwiegend in der Notaufnahme, in Operationsbereichen bzw. in der Anästhesie sowie auf einer Intensiv- oder Wachstation absolviert werden. In jedem Bereich sollen Maßnahmen der Erstversorgung und Beurteilung von Notfallpatienten, pflegerische Grundlagen, Maßnahmen der Betreuung von Patienten und spezifische Maßnahmen zur Sicherung von Vitalfunktionen erlernt werden. Angeleitet wird durch ärztliches oder erfahrenes pflegerisches Fachpersonal. Vorteile des Klinikpraktikums gegenüber dem auf einer Rettungswache sind der geringere Zeitdruck und das sichere Umfeld: In einer Klinik sind alle Geräte und ausreichend Personal vorhanden, um sofort auf eine plötzliche Zustandsverschlechterung eines Patienten zu reagieren (medizinische Rückfallebene). In der Hektik eines Notfalleinsatzes ist es schwieriger, nebenbei einen angehenden RS anzuleiten. Die Teilnahmebescheinigung nach Beendigung des Klinikpraktikums umfasst eine Gesamtbeurteilung der Leistung und eine Bescheinigung über die Eignung des Praktikanten für den Beruf des Rettungssanitäters. Letztere ist Voraussetzung für die Teilnahme am Abschlusslehrgang und für die staatliche Prüfung.

Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte

Rettungswachenpraktikum (160 h) Das Rettungswachenpraktikum muss innerhalb von 1 Jahr durchgeführt werden. Das zuvor theoretisch Erlernte wird in einer Lehrrettungswache (S. 30) vertieft und praktisch angewendet. Die Auszubildenden werden von erfahrenen Lehrrettungsassistenten oder Praxisanleitern im Rettungsdienst betreut. Diese weisen sie in die Arbeitsabläufe auf der Rettungswache ein und leiten bei praktischen Maßnahmen an. Inhaltlich sollen alle Themenbereiche abgedeckt werden, die in der theoretischen Ausbildung behandelt wurden. Art und Umfang der Ausbildungsinhalte sind in einem Nachweisheft aufgelistet. Um praktische Einsatzerfahrung zu sammeln, werden die Praktikanten im Krankentransport und in der Notfallrettung eingesetzt. Die Anzahl der Einsätze und der abgeleisteten Praktikumsstunden müssen dokumentiert werden. Je nach landesrechtlicher Regelung sind eine Mindestanzahl von Einsätzen nachzuweisen. Zusätzlich muss für eine bestimmte Anzahl von Einsätzen ein detaillierter Einsatzbericht abgegeben werden (je nach landesrechtlicher Regelung zwischen 5 und 20 Berichten). Nach Beendigung des Rettungswachenpraktikums erhält der Auszubildende eine Teilnahmebescheinigung mit einer Gesamtbeurteilung der Leistung sowie eine Bescheinigung über die Eignung des Auszubildenden für den Beruf des Rettungssanitäters. Letztere ist Voraussetzung für die Teilnahme am Abschlusslehrgang und für die staatliche Prüfung.

fung erhält der Teilnehmer ein Zeugnis und darf die Berufsbezeichnung „Rettungssanitäter“ führen. Wird ein Bestandteil der Prüfung mit „nicht bestanden“ bewertet, darf dieser Prüfungsbestandteil einmal wiederholt werden.

RETTEN TO GO Rettungssanitäter/in – die Ausbildung ●





Lehrgang zur Prüfungsvorbereitung (40 h) Nach der erfolgreichen Teilnahme an den 3 Ausbildungsabschnitten folgt eine Prüfungsvorbereitungswoche an der Rettungsdienstschule. In dieser Woche werden relevante Inhalte der theoretischen Ausbildung und der Praktika wiederholt und vertieft. Die Auszubildenden können offene Fragen klären und rettungsdienstliche Maßnahmen trainieren. Die Teilnahme am Lehrgang zur Prüfungsvorbereitung ist Voraussetzung für die Zulassung zur staatlichen Prüfung zum Rettungssanitäter.



Staatliche Prüfung zum Rettungssanitäter



Die staatliche Prüfung zum Rettungssanitäter erfolgt auf Grundlage des „520-Stunden-Programms des Bund-LänderAusschusses Rettungswesen vom 20. September 1977“ der Empfehlung für eine Verordnung über die Ausbildung und Prüfung von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern (RettSan-APrV) von Februar 2019 und der jeweiligen landesrechtlichen Regelungen oder denjenigen der ausbildenden Hilfsorganisation. Sie umfasst einen theoretischen und einen praktischen Teil: ● Der theoretische Teil umfasst eine schriftliche (Dauer: mindestens 120 min) sowie teilweise eine mündliche Prüfung. Erklärung: In einigen Bundesländern wurde die mündliche Prüfung durch ein Reflexionsgespräch im Anschluss an die praktische Prüfung ersetzt (Dauer: mindestens 20 min). Dabei werden anatomische und physiologische Grundlagen, Inhalte der Krankheitslehre, Maßnahmen der rettungsdienstlichen Versorgung und organisatorische Besonderheiten des Rettungsdienstes geprüft. ● Im praktischen Teil werden die praktischen Fertigkeiten anhand von Fallbeispielen geprüft. Die Prüfungskommission besteht aus Vertretern der Rettungsdienstschule (Lehrkräfte), einer Ärztin oder einem Arzt mit Erfahrung in der Notfallmedizin und Vertretern der Lehrrettungswache. Nach dem Bestehen der staatlichen Prü-

Grundlagen: 520-Stunden-Programm des Bund-LänderAusschusses „Rettungswesen“ von 1977 sowie die RettSan-APrV von 2019 und Regelungen des jeweiligen Bundeslandes oder der ausbildenden Hilfsorganisation. Zugangsvoraussetzungen: Nachweis der Identität und der gesundheitlichen Eignung, Hauptschulabschluss, gleichwertige Schulausbildung oder abgeschlossene Berufsausbildung, amtliches Führungszeugnis, für die Tätigkeit erforderliche Kenntnis der deutschen Sprache; zusätzlich je nach Bundesland Erste-Hilfe-Ausbildung, Altersgrenzen Aufbau der Ausbildung (nach RettSan-APrV): – 240 h Theorie: Anatomie, Physiologie, Störungen der Vitalfunktionen, Notfallbilder (u. a. Innere Medizin, Chirurgie) – 80 h Klinikpraktikum: Erstversorgung und Beurteilung von Notfallpatienten, pflegerische Grundlagen, Betreuung von Patienten, Sichern von Vitalfunktionen – 160 h Rettungswachenpraktikum: Tätigkeiten und Abläufe auf der Rettungswache; erste Erfahrungen in Krankentransport und Notfallrettung (Nachweis durch Einsatzberichte) – 40 h Prüfungsvorbereitung zum Wiederholen und Vertiefen der Ausbildungsinhalte staatliche Prüfung zum Rettungssanitäter: – schriftliche und mündliche Prüfung theoretischer Kenntnisse (Anatomie, Physiologie, Notfallbilder, rettungsdienstliche Versorgung und Organisation) – Prüfung praktischer Fertigkeiten anhand von Fallbeispielen Nach bestandener Prüfung erhält der Teilnehmer ein Zeugnis und darf die Berufsbezeichnung „Rettungssanitäter“ führen. Nicht bestandene Teile der Prüfung dürfen einmal wiederholt werden.

1.3 Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte 1.3.1 Einbindung in die Rettungsdienststrukturen Die Einbindung von RS in die Strukturen des örtlichen Rettungsdienstes erfolgt in erster Linie durch landesrechtliche Regelungen (Rettungsdienstgesetze oder Landesrettungsdienstplanverordnungen). Sie legen die personelle Besetzung der Rettungsmittel (S. 36) fest. Zudem gibt es Dienstanweisungen und Stellenbeschreibungen der Leistungserbringer im Rettungsdienst (S. 33), d. h. der Rettungsdienstorganisationen. Sie regeln die fachliche und organisatorische Hierarchie des Rettungsdienstpersonals. Fachlich sind RS den Rettungs- und Sanitätsdiensthelfern überstellt, jedoch Rettungsassistenten, Notfallsanitätern und Ärzten unterstellt. Die organisatorische Hierarchie beschreibt die Einbindung des Rettungsdienstpersonals im 17

1

Berufsbild und psychologische Aspekte täglichen Dienst auf der Rettungswache. Dort unterstehen Mitarbeitende des Rettungsdienstes dem jeweiligen Rettungswachenleiter oder dem „Leiter Rettungsdienst“.

1.3.2 Aufgaben in Notfallrettung und Krankentransport Rettungssanitäter und Rettungssanitäterinnen werden gemäß ihren Kompetenzen und den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen als Fahrzeugführende oder Patientenbetreuer im qualifizierten Krankentransport oder als Fahrzeugführende auf RTWs und NEFs eingesetzt. Die Besetzung der Rettungsmittel (S. 36) ist in den Landesrettungsdienstgesetzen geregelt. RS sind – wie alle anderen Berufsgruppen des Rettungsdienstes – dazu verpflichtet, Patienten gemäß dem aktuellen Stand der medizinischen Forschung und Technik zu behandeln.

! Merke RS in der Notfallrettung

RS führen ihrer Ausbildung entsprechend lebensrettende Sofortmaßnahmen durch und assistieren Rettungsassistenten (RA), Notfallsanitätern (NotSan) und Notärzten (NA) bei weiterführenden Maßnahmen zur Behandlung von Notfallpatienten. Lebensrettende Sofortmaßnahmen sind v. a. die Basismaßnahmen der Wiederbelebung (S. 319), das Freimachen und Freihalten der Atemwege (S. 208) sowie das Stillen lebensbedrohlicher Blutungen (S. 375). Assistenz bei weiterführenden Maßnahmen bedeutet, dass RS höher ausgebildetes Rettungsdienstpersonal (z. B. NotSan, NA) bei weiterführenden Maßnahmen der Notfallversorgung unterstützen und invasive Maßnahmen wie eine endotracheale Intubation (S. 212) oder die Anlage eines peripheren venösen Zugangs (S. 225) vorbereiten. Zur Assistenz gehört die Zubereitung von Notfallmedikamenten, z. B. das Aufziehen von Medikamenten (S. 222). Beachten Sie: Die Verantwortung obliegt in jedem Fall der Person, die das Medikament verabreicht. Invasive und nicht invasive Maßnahmen, die in den Bereich der Heilkunde fallen, dürfen grundsätzlich nur NFS oder NA vornehmen: Diese Maßnahmen müssen sehr sicher beherrscht werden. Der Anwendende muss die damit verbundenen Gefahren und Komplikationen sicher erkennen und behandeln können. Die kurze Ausbildungszeit von RS kann dieses Wissen um Komplikationen und Gefahren nicht garantieren. Es gibt jedoch Ausnahmen: Letztlich legt der ärztliche Leiter Rettungsdienst fest, welche Maßnahmen das Rettungsdienstteam vornehmen darf. Er kann daher auch für RS eine schriftliche Genehmigung für diese Maßnahmen erteilen, ist dann allerdings (wie auch bei NFS) dazu verpflichtet, regelmäßig zu überprüfen, ob RS für diese Maßnahmen ausreichend kompetent sind. Durch den demografischen Wandel in Deutschland entwickelt sich eine zunehmende Überalterung der Gesellschaft. Mit steigendem Alter der Gesellschaft nimmt die Anzahl altersbedingter Erkrankungen und das Einsatzaufkommen im Krankentransport und in der Notfallrettung zu. Nach Angaben des statistischen Bundesamts (www.destatis.de) lag der Anteil der über 60-Jährigen an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2022 bei fast 30 %, Tendenz steigend. Entsprechend ist in den kommenden Jahren eine deutliche Steigerung des Einsatzaufkommens im Krankentransport und in der Notfallrettung zu erwarten.

1.3.3 Weitere Tätigkeitsbereiche Neben der Tätigkeit im öffentlichen Rettungsdienst (Krankentransport und Notfallrettung) werden Rettungssanitäter auch in Leitstellen (S. 30), in betrieblichen Rettungsdiensten, in Einheiten der polizeilichen und militärischen Gefahrenabwehr, im Katastrophenschutz und in Kliniken eingesetzt. Betriebliche Rettungsdienste • Unternehmen mit erhöhtem Gefahrenpotenzial (z. B. Bergbau, chemische Industrie) haben häufig einen betrieblichen Rettungsdienst. Die zuständige Berufsgenossenschaft (BG) legt fest, wie die Erste Hilfe im jeweiligen Betrieb organisiert ist und ab welcher Betriebsgröße und welchen Gefahrenbereichen ein betrieblicher Rettungsdienst erforderlich ist. Dieser soll erkrankte und verletzte Personen sachkundig versorgen und transportieren und in der betriebsärztlichen Versorgung unterstützen. In diesem Bereich werden u. a. RS eingesetzt. Sanitätsdienst der Polizei und der Bundeswehr • RS werden hier zur Eigensicherung und Erstversorgung der Einsatzkräfte eingesetzt. Katastrophenschutz • In der erweiterten nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr (Katastrophenschutz) kommen RS in der Medizinischen Task Force (MTF) des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (▶ Abb. 1.1) und in der Katastrophenhilfe auf Notfallkrankentransportwagen Typ-B (KTW-B) oder Gerätewagen Sanitätsdienst (GW-SAN) zum Einsatz. Krankenhäuser • In Kliniken sind RS primär in Notaufnahmen tätig und unterstützen das ärztliche und pflegerische Personal bei der Erstversorgung von Notfallpatienten. Durch ihre Ausbildung und Tätigkeit im Rettungsdienst können sie die Bedürfnisse der präklinischen und innerklinischen Berufsgruppen sowie der Notfallpatienten besonders gut einschätzen. Dies kann sich positiv auf die Versorgung von Notfallpatienten an der Schnittstelle Notaufnahme auswirken.

1.3.4 Aufbauqualifikationen Innerhalb des Rettungsdienstes gibt es reichlich Weiterqualifizierungsmöglichkeiten für RS, die es Ihnen ermöglichen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Die Qualifizierungen basieren auf landes- und bundesrechtlichen Regelungen oder auf Ausbildungscurricula der Hilfsorganisationen. Abb. 1.1 Fahrzeug für Sondereinsätze.

Fahrzeug der Medizinischen Task Force (Gerätewagen Sanität). Aus: Savinsky G, Stuhr M, Kappus S et al. Organisation beim Massenanfall von Verletzten – ein Update. NOTARZT 2016; 32(02): 69–75

18

Psychologische Aspekte im Einsatz

Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OrgL RD) Der OrgL RD ist die taktische Führungskraft bei Einsätzen, die mit einer großen Anzahl von Erkrankten oder Verletzten (S. 536) einhergehen (MANV/E): Er hat die organisatorischtaktische Leitungsfunktion inne, in Kooperation mit dem für den medizinischen Einsatzabschnitt verantwortlichen Leitenden Notarzt (LNA). Der OrgL RD koordiniert die Einsatzkräfte an der Einsatzstelle und muss zu jeder Zeit in der Lage sein, alltägliche, aber auch große und schwierige Rettungseinsätze erfolgreich zu bewältigen und Hektik und Chaos an der Einsatzstelle zu vermeiden.

RETTEN TO GO Rettungssanitäter/in – Tätigkeitsschwerpunkte ●



Medizinproduktebeauftragter im Rettungsdienst Der Medizinproduktebeauftragte (▶ Abb. 1.2) ist für die Wartung von medizinischen Geräten (z. B. Defibrillator, Beatmungsgerät) mitverantwortlich und weist andere Mitarbeitende gemäß Medizinproduktegesetz in diese Geräte ein (S. 562). Er arbeitet eng mit Leitungskräften des Rettungsdienstes zusammen und ist für die Einhaltung der allgemeinen und besonderen Rechtsvorschriften sowie für Maßnahmen im Umgang mit Medizinprodukten (z. B. Einweisung von Mitarbeitenden) mitverantwortlich.



Hygienebeauftragter im Rettungsdienst Der Hygienebeauftragte ist für die Umsetzung gesetzlicher Hygienestandards im Rettungsdienst mitverantwortlich. Er berät Mitarbeitende und Leitungskräfte des Rettungsdienstes bei Fragen der Hygiene und Desinfektion (S. 152) und wirkt beim Erstellen von Hygieneplänen mit. Er ist mitverantwortlich für die Einhaltung und Umsetzung von allgemeinen und speziellen Hygienevorschriften und -maßnahmen. Abb. 1.2 Medizinproduktebeauftragter.



Einbindung in Rettungsdienststrukturen: Fachlich sind RS den Rettungs- und Sanitätsdiensthelfern überstellt, RettAss, NotSan und NA hingegen unterstellt. Im Dienst auf der Rettungswache unterstehen sie dem Rettungswachenleiter oder dem „Leiter Rettungsdienst“. Haupttätigkeitsbereich: Fahrzeugführende oder Patientenbetreuende im qualifizierten Krankentransport sowie Fahrzeugführende von RTW oder NEF. RS führen lebensrettende Sofortmaßnahmen durch und assistieren RettAss, NotSan und NA bei weiterführenden Maßnahmen (z. B. Vorbereiten einer Intubation). Sie müssen zudem patienten- und einsatzbezogene Daten dokumentieren. Weitere Tätigkeitsbereiche: – Leitstelle – betrieblicher Rettungsdienst: Versorgung und Transport Erkrankter/Verletzter in Unternehmen mit erhöhtem Gefahrenpotenzial (z. B. Bergbau), Unterstützung der betriebsärztlichen Versorgung – Sanitätsdienst der Polizei und der Bundeswehr: Eigensicherung und Erstversorgung der Einsatzkräfte – Katastrophenschutz: Einsatz innerhalb der Medizinischen Task Force (MTF) des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und in der Katastrophenhilfe auf Notfallkrankentransportwagen Typ-B (KTW-B) oder Gerätewagen Sanitätsdienst (GW-SAN) – Krankenhaus: Unterstützung von ärztlichem und pflegerischem Personal bei der Erstversorgung von Notfallpatienten in der Notaufnahme Aufbauqualifikationen: u. a. Weiterbildung zum Organisatorischen Leiter Rettungsdienst (OrgL RD), zum Medizinproduktebeauftragten oder zum Hygienebeauftragten

1.4 Psychologische Aspekte im Einsatz 1.4.1 Positive Grundhaltung Im Einsatz sind die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes die Helfer in einer Notsituation. Sie sollten in jedem Fall professionell auftreten und eine positive Grundhaltung gegenüber der hilfesuchenden Person zeigen.

! Merke Positive Grundhaltung

Die positive Grundhaltung der Rettungskräfte sollte eine Wertschätzung des Patienten, Empathie für ihn und seine Situation sowie Glaubwürdigkeit und Verschwiegenheit beinhalten. Beachte: Für RS gilt die Schweigepflicht nach § 201 StGB (S. 554). Zu den Aufgaben zählen die Prüfung der Geräte auf Funktionstüchtigkeit und die Einweisung der Kollegen in die Bedienung. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Wertschätzung des Patienten heißt, dass die Hilfsbedürftigkeit des Patienten im Vordergrund steht – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sozialer Stellung. Empathie bedeutet, dass Sie als Mitarbeitender des Rettungsdienstes Einfühlungsvermögen besitzen und sich in die Notsituation des Patienten und sein Gefühl der Hilflosigkeit hineinversetzen können. Es ist wichtig, dass Sie den Patienten immer „echt“, also glaubwürdig und unverstellt gegenübertreten. Das bedeutet, dass Sie keine übertriebenen Versprechungen machen oder falsche Hoffnungen wecken: Versuchen Sie nicht, die Situa19

1

Berufsbild und psychologische Aspekte tion „schönzureden“. Sätze wie „Das wird schon wieder“, obwohl der Patient ganz offensichtlich in Lebensgefahr schwebt oder sich gerade vor Schmerzen krümmt, wirken nicht glaubwürdig, sondern eher so, als nähmen Sie den Patienten und seine Situation nicht ernst.

1.4.2 Humanfaktoren, Kommunikation und Teamarbeit Humanfaktoren Humanfaktoren (menschliche Faktoren) sind die typisch menschlichen Eigenschaften, die das Handeln des Einzelnen und seine Reaktionen auf die Umgebung und die Mitmenschen bestimmen (also der oft zitierte „Faktor Mensch“). Hierzu gehören physische (körperliche), psychische (seelische), kognitive (intellektuelle) und soziale Faktoren. Die Forschung beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit dem Zusammenhang von menschlichem Verhalten und Fehlleistungen, mit der Leistungsfähigkeit in Notfällen und der Frage, wie Menschen unter schwierigen Bedingungen Entscheidungen fällen. So können z. B. Hunger, Durst und Müdigkeit des Rettungsdienstteams den Einsatz negativ beeinflussen und zu Fehlern führen. Dagegen sorgen eine gute Ausbildung und regelmäßige Fortbildungen für Sicherheit im Einsatz und helfen, Fehler zu vermeiden. Die Qualität der Zusammenarbeit im Team hat große Bedeutung (z. B. gute Kommunikation mit gezielter Ansprache und klaren Aufträgen). Je besser die zur Verfügung stehende technische Ausstattung ist, umso effektiver kann das Rettungsdienstteam im Notfall zusammenarbeiten. Stehen z. B. Spineboard und Vakuummatratze als Alternativen zur Verfügung, können Sie im Team das Rettungsgerät einsetzen, das für den Patienten in seiner individuellen Situation am besten geeignet ist (= patientenorientierte Rettung).

Stress als Humanfaktor Stress hat innerhalb der Humanfaktoren einen besonderen Stellenwert. Er ist einerseits eine sinnvolle physiologische Reaktion des Körpers, die uns aus unserer Evolution erhalten geblieben ist, andererseits aber auch eine mögliche Ursache für Fehler und Überlastungsreaktionen. Physiologische Funktion von Stress • In Stresssituationen wird der Sympathikus (S. 100) aktiviert, die Nebennieren schütten vermehrt Adrenalin aus. Blutdruck, Atem- und Herzfrequenz nehmen zu, damit v. a. die Skelettmuskulatur besser durchblutet wird. Dies soll darauf vorbereiten, eine dro-

hende Gefahr zu bekämpfen oder vor ihr zu flüchten. Diese Kampf-oder-Flucht-Reaktion sicherte im Laufe der Evolution das Überleben des Einzelnen. Stressreaktion als Problemfeld • Die beschriebene starke Sympathikusaktivierung ist heute in den meisten Situationen nicht mehr sinnvoll, die physiologische Reaktion hat sich jedoch nicht verändert. Dies kann zu Problemen führen: Während einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist die Aufmerksamkeit sehr fokussiert, z. B. auf das Wegrennen vor einer Gefahr („Tunnelblick“). Dies kann gerade bei der Versorgung von Notfallpatienten zu Fehlern führen: Beispielsweise konzentrieren Sie sich auf die Versorgung einer stark blutenden Wunde und übersehen, dass der Patient ein lebensbedrohliches Atemproblem hat. Dies ist einer der Gründe, warum das systematische und reglementierte Vorgehen nach dem cABCDE-Schema (S. 183) im Rettungsdienst so wichtig ist.

Physiologischer und pathologischer Stressverlauf Physiologischer Stressverlauf • Diese positive Stressreaktion wird auch als Eustress bezeichnet (griech. „eu“ = „gut“). Folgende Phasen werden unterschieden, jeweils mit einem Beispiel aus dem Rettungsdienstalltag (▶ Abb. 1.3): ● Orientierungsphase (z. B. Einsatzalarmierung): Der Stressor (Stressauslöser) wirkt auf den Körper, die Person nimmt ihn wahr. ● Aktivierungsphase (z. B. Anfahrt zum Einsatzort, Erfassen der Notfallsituation): Der Körper stößt vermehrt Adrenalin aus und steigert so seine Leistungsfähigkeit. ● Anpassungsphase (z. B. Notfallbehandlung): Der Organismus hat sich auf den Stressor eingestellt, sodass der Adrenalinausstoß verringert wird. Gleichzeitig bleibt die Leistungsfähigkeit auf hohem Niveau. ● Erholungsphase (z. B. nach dem Einsatz): Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, der Körper erneuert unter dem Einfluss des Parasympathikus (S. 100) seine Ressourcen. Pathologischer Stressverlauf • Ist eine Erholung nicht möglich oder wird der Organismus mit zu vielen Stressoren konfrontiert, wirkt Stress auf Dauer schädigend. An die Stelle der Erholungsphase tritt die Phase der Überforderung. Durch die Aktivierung weiterer Ressourcen kann die Leistung zwar noch kurzzeitig gesteigert werden, es besteht jedoch die Gefahr der Erschöpfung. In der Erschöpfungsphase bricht die Leistungsfähigkeit ein, der Organismus kann den einwirkenden Stress nicht mehr kompensieren. Diese Art von Stress wird auch als pathologischer Stress oder „Disstress“ bezeichnet (▶ Abb. 1.3). Dabei spielt auch eine Rolle, wie gut

Abb. 1.3 Stressverlauf.

1 Alarmierung

2 Anfahrt

3 Notfalleinsatz

4

5 Rückfahrt

Rettungseinsatz

20

6

direkt anschließender Einsatz

1–4: physiologischer Stressverlauf: 1: Orientierungsphase: Auftreten des Stressors, 2: Aktivierungsphase: Aktivierung des Sympathikus, Freisetzung von Adrenalin, 3: Anpassungsphase: sinkender Adrenalinspiegel, Körper ist leistungsfähig, 4: Erholungsphase: Regeneration, Anfangszustand wird erreicht. Folgt auf den Stress keine Erholungsphase, resultieren Überforderung (5) und pathologischer Stress. Statt Leistung steht Erschöpfung (6) im Vordergrund.

Psychologische Aspekte im Einsatz die individuelle Kompensationsfähigkeit für Stress ist, d. h., wie gut der Einzelne mit Stress „fertig wird“. Eine fehlende oder schlechte Verarbeitung belastender Ereignisse kann zu einer akuten Belastungsreaktion (S. 442) oder (bei traumatisierenden Ereignissen) im weiteren Verlauf auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (S. 448) führen. Typische Folgen von chronischem Disstress sind u. a. Rückenund Kopfschmerzen, Verspannungen, Erschöpfung, Schlafstörungen und Gereiztheit.

RETTEN TO GO Grundhaltung und Humanfaktoren ●



Die positive Grundhaltung aller Mitarbeitenden des Rettungsdienstes sollte Wertschätzung des Patienten, Empathie für ihn und seine Situation (Einfühlungsvermögen), Glaubwürdigkeit und Verschwiegenheit beinhalten (Schweigepflicht gemäß § 201 StGB!). Humanfaktoren (menschliche Faktoren) sind die „typisch menschlichen“ Eigenschaften“, die das Handeln des Einzelnen und seine Reaktionen auf Umgebung und Mitmenschen bestimmen. Hierzu gehört u. a. die Stressreaktion: – Bei der physiologischen, positiven Stressreaktion (Eustress) folgt auf die Phasen der Orientierung, Aktivierung und Anpassung eine Erholungsphase. Der Körper kann die verbrauchten Ressourcen erneuern. – Bei der pathologischen Stressreaktion (Disstress) bleibt die Erholungsphase aus, es resultieren Überforderung und Erschöpfung. Mögliche Folgen stark belastender Situationen sind die akute Belastungsreaktion und die posttraumatische Belastungsstörung. Chronischer Disstress führt häufig zu gesundheitlichen Problem, z. B. Rücken- und Kopfschmerzen oder Schlafstörungen.

Team Resource Management (TRM) und Crisis Resource Management (CRM) Definition CRM und TRM Crisis Resource Management (CRM, auch: Crew Resource Management) beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Team in einer kritischen Situation mit sich, der Arbeitsumgebung und den verfügbaren Arbeitsmitteln umgeht. Das oberste Ziel ist das Vermeiden von Fehlern. Team Resource Management (TRM) soll die Leistung und den Erfolg des Teams steigern, u. a. durch eine verbesserte Zusammenarbeit der Teammitglieder, durch die Entwicklung positiver Verhaltensweisen und Einstellungen und durch eine erhöhte Motivation der Teammitglieder für ihre Aufgabe und gute Zusammenarbeit. TRM und CRM befassen sich mit den nichttechnischen Fähigkeiten der einzelnen Mitarbeitenden in Hochrisikobereichen und den Auswirkungen dieser Fähigkeiten auf die Kommunikation und Interaktion innerhalb eines Teams. Die wichtigsten Faktoren für erfolgreiches TRM und CRM sind Kommunikation, Teamarbeit und Fehlermanagement. Diese Faktoren sind eng miteinander verzahnt: Wissen alle im Team, was gute Kommunikation ausmacht und wie wichtig diese in Krisensituationen ist, ist die Teamarbeit erfolgreicher. Zudem wirkt es sich positiv auf die Teamarbeit aus, wenn alle Teammitglieder die Hauptursachen von Fehlern kennen und wissen, wie mit Fehlern umzugehen ist.

Kommunikation Kenntnisse über Kommunikationsgrundlagen und -modelle sind wichtig für eine verbesserte Teamkommunikation. Nachrichtentechnisches Modell • In diesem Modell nach Shannon und Weaver (▶ Abb. 1.4) besteht Kommunikation aus den Komponenten Sender, Übertragungskanal und Empfänger: Der Sender schickt eine Nachricht über einen Übertragungskanal zum Empfänger. An diesem Modell lassen sich grundlegende Störungen der Kommunikation erklären: Eine erfolgreiche Kommunikation ist nur möglich, wenn Sender und Empfänger die Nachricht mit einem identischen Zeichensatz kodieren und dekodieren und die Übertragung der Nachricht fehlerfrei ist. Eine typische Ursache für eine fehlerhafte Kodierung oder Dekodierung ist eine nichtgemeinsame Sprache (z. B. Fremdsprache, aber auch die medizinische Fachsprache). Ein Beispiel für eine fehlerhafte Übertragung der Nachricht sind Störungen des Funkverkehrs, durch die eine Nachricht unvollständig empfangen wird. Kommunikationsmodell der 4 Seiten einer Nachricht • Das Modell des Kommunikationsquadrates (4-Ohren-Modell, Nachrichtenquadrat) wurde vom Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun entwickelt. Es geht davon aus, dass Nachrichten immer mehrere Botschaften gleichzeitig enthalten (▶ Abb. 1.5). In diesem Modell haben Nachrichten immer folgende Bedeutungsebenen: ● Sachebene: Dies ist die Sachinformation (z. B. Daten, Fakten), die der Sender dem Empfänger mitteilen möchte. ● Beziehungsebene: Der Sender gibt dem Empfänger zu verstehen, wie er zu ihm steht und was er von ihm hält. Diese Ebene wird häufig durch Formulierungen, Tonfall, Mimik und Gestik vermittelt. ● Selbstoffenbarungsebene: Die Nachricht enthält bewusste oder unbewusste Informationen über die Person des Senders (z. B. Gefühle, Werte, Eigenarten, Bedürfnisse). ● Appellebene: Auf dieser Ebene äußern sich Wünsche, Ratschläge oder Handlungsanweisungen des Senders an den Empfänger. Der Sender der Nachricht möchte beim Empfänger etwas erreichen. Schwierigkeiten ergeben sich u. a. daraus, dass die Absicht des Senders nicht notwendigerweise der Wahrnehmung des Empfängers entspricht. Die Kommunikationsqualität hängt laut Schulz von Thun davon ab, wie die Entschlüsselung des vom Sender Gemeinten gelingt, denn auch der Empfänger kann die Botschaft auf verschiedenen „Ohren“ („Sachohr“, „Selbstoffenbarungsohr“, „Beziehungsohr“, „Appellohr“) höAbb. 1.4 Sender-Empfänger-Modell.

Störungen kodieren

dekodieren

Übertragungskanal

Im nachrichtentechnischen Kommunikationsmodell besteht Kommunikation aus den Komponenten Sender, Übertragungskanal und Empfänger. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

21

Berufsbild und psychologische Aspekte Abb. 1.5 Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun.

a

Abb. 1.6 Closing-Loop-Strategie.

Sender

munikat ion

Nachricht

Appell

Selbstoffenbarung

Sachinhalt

Beziehung

Ko m

1

Empfänger Sender

b

Was ist mit ihm? Was ist das denn für einer? Wie ist der Sachverhalt zu verstehen? Wie redet der eigentlich mit mir? Wen glaubt er vor sich zu haben?

Selbstoffenbarung

Sachinhalt

Beziehung

Was soll ich tun, denken, fühlen aufgrund seiner Mitteilung?

Appell

a Die vom Sender formulierte Äußerung beinhaltet mehrere Botschaften. b Der Empfänger kann die Botschaft unterschiedlich verstehen. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

ren. Kommunikationsstörungen entstehen, wenn zwischen dem Sender und dem Empfänger Missverständnisse über die Wahl der Ebene herrschen.

Fallbeispiel Die 4 Seiten einer Nachricht Ein Paar sitzt im Auto. Der Mann fährt mit 90 km/h und die Frau sagt zu ihm: „Man darf hier 100 fahren.“ Die 4 Bedeutungsebenen sind in diesem Fall: ● Sachinhalt: Hier ist das Fahren mit 100 km/h erlaubt. ● Selbstoffenbarung: Die Frau ist in Eile oder vom Fahrstil des Mannes genervt. ● Beziehungsebene: Die Frau hält sich für eine bessere Autofahrerin. Sie muss dem schlechten Fahrer helfen. ● Appell: Fahr schneller! Kommunikationskanäle • Kommunikation besteht aus unterschiedlichen Anteilen oder Kommunikationskanälen: ● Der verbale Anteil umfasst die tatsächlich gesprochenen Worte. ● Der nonverbale Anteil beschreibt alles, was nicht in Worten (nonverbal) ausgedrückt wird, also die Körpersprache (Mimik, Gestik) und die -haltung (z. B. aufrecht, gebückt). ● Der paraverbale Anteil umfasst die stimmlichen Sprachaspekte: Lautstärke, Betonung, Sprechgeschwindigkeit.

22

Empfänger

Die Closing-Loop-Strategie ist eine Möglichkeit der gezielten Kommunikation in Krisensituationen. Der Empfänger gibt wieder, welche Information bei ihm eingegangen ist. Dadurch erhält der Sender sofort eine Rückmeldung, ob seine Botschaft richtig angekommen ist. In der Regel haben die non- und paraverbalen Anteile einen höheren Stellenwert in der Kommunikation als das gesprochene Wort. Beide wirken vorrangig auf der Appell-, Beziehungs- und Selbstoffenbarungsebene einer Nachricht. Der Sender übermittelt sie meist unbewusst an den Empfänger, dieser nimmt sie ebenfalls meist unbewusst auf. Kongruenz von Nachrichten • Stimmen die non- und paraverbal gesendeten Aspekte mit der verbal vermittelten Nachricht überein, bekräftigen sie deren Sachinhalt. Die Nachricht ist in sich stimmig (kongruent). Bei einer fehlenden Übereinstimmung ist die Nachricht nicht in sich stimmig (inkongruent). Die non- und paraverbalen Kommunikationsanteile bekommen eine größere Bedeutung als die verbal übermittelte Nachricht. Bei inkongruenten Nachrichten besteht die Gefahr, dass der Empfänger die Botschaft fehlerhaft dekodiert, also nicht so, wie der Sender sie verstanden haben möchte. Dies führt rasch zu Missverständnissen. Closing-Loop-Strategie • Vor allem in Krisensituationen ist eine eindeutige, gezielte Teamkommunikation essenziell. Dafür ist z. B. die Closing-Loop-Strategie (▶ Abb. 1.6) geeignet: Der Empfänger gibt wieder, welche Information bei ihm eingegangen ist. Der Sender erfährt dadurch, ob die Information vom Empfänger korrekt empfangen und verarbeitet wurde. Dies soll Kommunikationsfehler minimieren.

Teamarbeit Bei der Arbeit im Team sollte genau festgelegt sein, wer welche Rolle hat und wer welche Aufgaben übernimmt (definierte Rollen- und Aufgabenverteilung). Teamarbeit ist also ein Managementwerkzeug, um eine Aufgabe gemeinsam optimal zu erledigen. Die Rollen und Aufgaben sollten so verteilt werden, dass die speziellen Fähigkeiten der einzelnen Teammitglieder effektiv genutzt werden.

Psychologische Aspekte im Einsatz

Tab. 1.2 CRM-Leitsätze nach Rall und Gaba*.

Fallbeispiel Teamarbeit im Notfalleinsatz Der Notarzt (NA) kann gut intubieren. Der Notfallsanitäter (NotSan) hat Erfahrung beim Setzen eines i. v.-Zugangs und bei der Anwendung supraglottischer Atemwegshilfen. Der Rettungssanitäter (RS) beherrscht das Ankleben der Elektroden für das EKG. Ihm ist klar, dass der Notfallpatient schnell in die Klinik muss, und er hat gute Ortskenntnisse. Beispiel für schlechte Teamarbeit: Der NA versucht 5 min lang, zu intubieren und lässt sich nicht helfen. Die EKG-Elektroden klebt der NotSan auf, obwohl der RS das genauso gut kann. Der RS assistiert stattdessen dem NA bei der Intubation, hat damit aber kaum Erfahrung. Beispiel für gute Teamarbeit: Der NA hat Probleme bei der Intubation, er selbst, der NotSan oder der RS erkennen und kommunizieren das Problem. Der NotSan bereitet eine Larynxmaske vor und appliziert diese selbst oder assistiert dem NA. Gleichzeitig klebt der RS die EKG-Elektroden auf und teilt mit, sobald die Ableitung komplett ist, damit das EKG ausgewertet werden kann. Alle oder zumindest einer im Team erkennen, dass keine Zeit zu verlieren ist, und kommunizieren, dass der Patient eine Therapie in der Klinik braucht und Zeitverluste (durch die Behandlung am Notfallort) unbedingt zu vermeiden sind. Der RS fährt los, während NotSan und NA den Patienten auf der Fahrt in die Klinik weiterversorgen.

Fehlermanagement Fehlermanagement dient dazu, Ursachen von Fehlern zu erkennen und zu verstehen. Gleichzeitig kann das Team Strategien erarbeiten, um Fehler zu bewältigen oder von vornherein zu vermeiden. Es ist mehrfach wissenschaftlich belegt, dass für ca. 70 % aller Fehler im medizinischen Bereich menschliche Faktoren verantwortlich sind. CRM-Grundsätze • Diese Grundsätze sollen die Teamarbeit erfolgreicher machen und Fehler vemeiden (▶ Tab. 1.2). 10-for-10 • Das 10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip (kurz: 10-for-10) soll Teams in Krisensituationen helfen, schnell Entscheidungen zu treffen. Das Team bespricht innerhalb von 10 Sekunden alle möglichen Handlungsschritte und eventuellen Komplikationen, die in den nächsten 10 Minuten relevant sind, und trifft eine Entscheidung über das Vorgehen in diesen 10 Minuten. Ein 10-for-10 sollte zu Beginn einer kritischen Situation oder bei negativen Veränderungen während der kritischen Situation angewendet werden (z. B. Verschlechterung des Patientenzustandes). Zu beachten: ● Jedes Teammitglied darf ein 10-for-10 einfordern. ● Während des 10-for-10 richten alle Teammitglieder ihre volle Aufmerksamkeit darauf (Ausnahme: unmittelbar lebensrettende Maßnahmen, z. B. Herzdruckmassagen). Der Ablauf ist folgendermaßen (▶ Abb. 1.7): 1. Alle Fakten zum Patientenzustand und zur Situation werden vorgetragen, damit alle Teammitglieder auf demselben Informationsstand sind. 2. Das Team spricht alle Handlungsoptionen sowie deren Risiken, Nutzen und Erfolgsaussichten durch. 3. Das Team trifft eine Entscheidung über das weitere Vorgehen und legt die Verantwortlichkeiten für die einzelnen Aufgaben fest. 4. Die festgelegten Aufgaben werden durchgeführt. 5. Der Erfolg des Vorgehens wird überprüft. Bei fehlendem Erfolg wird ein erneutes 10-for-10 durchgeführt.

Leitsatz

Beschreibung

1.

Kenne Deine Arbeitsumgebung.

2.

Antizipiere und plane voraus.

3.

Fordere Hilfe an, lieber früh als spät.

4.

Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied.

5.

Verteile die Arbeitsbelastung.

6.

Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen (Personen und Technik).

7.

Kommuniziere sicher und effektiv – sag, was dich bewegt.

8.

Beachte und verwende vorhandene Informationen.

9.

Verhindere und erkenne Fixierungsfehler**.

10.

Habe Zweifel und überprüfe genau („double check“, nie etwas ungeprüft voraussetzen).

11.

Verwende Merkhilfen und schlage nach.

12.

Reevaluiere die Situation immer wieder (Anwendung des 10-for-10-Prinzips).

13.

Achte auf gute Teamarbeit – unterstütze andere und koordiniere dich.

14.

Lenke deine Aufmerksamkeit bewusst.

15.

Setze Prioritäten dynamisch.

* Nach: Rall M, Gaba DM, Howard SK, Diekmann P: Human performance and patient safety. In: Miller RD et al. (Eds.): Miller’s Anaesthesia. 7th edition. Philadelphia: Elsevier Churchill Livingstone; 2009: 93–150. ** Bei einem Fixierungsfehler werden Tatsachen falsch eingeschätzt. Diese falsche Einschätzung wird in der Folge nicht neu bewertet, so dass das eigentlich vorliegende Problem nicht gelöst wird.

Fehlerkettenmodell (Schweizer-Käse-Modell) • Dieses Modell (▶ Abb. 1.8) unterscheidet latente Fehler durch ungünstige organisatorische und/oder technische Bedingungen (Systemfehler) und aktive Fehler durch einzelne Personen (Personenfehler). Die latenten Fehler sind lange vor dem tatsächlich entstehenden Fehler angelegt, im Verlauf führen sie im Zusammenspiel mit ungünstigen Umständen und aktivem Versagen von Personen zu einem Fehler. Sicherungsund Schutzmaßnahmen sind niemals perfekt, es gibt immer Schwachstellen. Im Fehlerkettenmodell werden Sicherungsund Schutzmaßnahmen als Käsescheiben dargestellt, deren Löcher entsprechen den Schwachstellen. Ein Fehler entsteht, wenn alle Löcher übereinanderliegen und der Fehler durch alle Löcher „fliegen“ kann. Jedes Teammitglied trägt durch den Einsatz seiner Humanfaktoren (Erfahrung, Wissen, Fertigkeiten) dazu bei, Schwachstellen zu beseitigen („Verschließen der Löcher in den Käsescheiben“).

23

1

Berufsbild und psychologische Aspekte Abb. 1.7 Ablauf eines 10-for-10.

!

Stopp! 10-for-10! kritische Situation

Fakten sammeln Risikomanagement

Teammitglied

volle Aufmerksamkeit aller Teammitglieder

Handlungsoptionen suchen Risiken und Nutzen bewerten

10 for 10

Entscheidung treffen

Handlung durchführen

Fallbeispiel Fehlerkettenmodell Fehlersituation: In dichtem Schneegestöber fährt ein RTW auf dem Rückweg zur Klinik frontal gegen eine Betonmauer. Alle Insassen werden schwer verletzt. Wie konnte es zu dem Unfall kommen? ● Käsescheibe 1: Der Dienstplan soll dafür sorgen, dass alle Mitarbeitenden ausreichende Ruhezeiten haben. – Schwachstelle: Der RS am Steuer des RTWs musste wegen Personalmangels vor Ende seiner gesetzlich festgelegten Ruhezeit wieder seinen Dienst antreten. ● Käsescheibe 2: Alle Einsatzfahrzeuge sind technisch hinreichend ausgestattet und gewartet. – Schwachstelle: Der RTW hatte keine Winterreifen. ● ungünstige Umweltbedingungen: Schneegestöber, schlechte Fahrbahnverhältnisse ● Käsescheibe 3: Der RS sollte als Fahrer so gut ausgebildet sein, dass er die ungünstigen Fahrbahnverhältnisse meistern und sein Fahrverhalten anpassen kann. – Schwachstelle: Der RS ist müde und unkonzentriert und begeht einen aktiven Fehler.

RETTEN TO GO

Handlung überprüfen

ggf. erneutes 10-for-10

Kommunikation und Fehlermanagement ●

Für ein 10-for-10 ruhen alle Maßnahmen (Ausnahme: unmittelbar lebensrettende Maßnahmen). Die Teammitglieder richten ihre volle Aufmerksamkeit darauf. Jeder im Team kann ein 10for-10 einfordern. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Abb. 1.8 Fehlerkettenmodell nach Reason.

Fehlerabwehr u.a. durch: • menschliche Faktoren • gute Kommunikation • gute Teamstruktur • Sicherheitssysteme







Komponenten der Entstehung von Fehlern: • latente Bedingungen • aktive, menschliche Fehler • fehlende Sicherheitssysteme Das Modell zeigt, dass Fehler entstehen, wenn es, z. B. innerhalb eines Ablaufs, Schwachstellen gibt und gleichzeitig die Abwehrkomponenten versagen. Dies verdeutlicht der rote Pfeil, der ungebremst durch alle „Käsescheiben“ des Modells hindurchgeht.

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Wichtige Kommunikationsmodelle – Nachrichtentechnisches Modell nach Shannon und Weaver: Ein Sender schickt eine Nachricht über einen Übertragungskanal zu einem Empfänger. – Kommunikationsmodell der 4 Seiten einer Nachricht nach Schulz von Thun: Eine Nachricht besteht aus Sachinhalts-, Beziehungs-, Appell- und Selbstoffenbarungsseite. In Krisensituationen hat sich die Closing-Loop-Strategie bewährt, um Kommunikationsfehler zu vermeiden: Der Empfänger wiederholt, welche Information bei ihm eingegangen ist. So weiß der Sender, ob der Empfänger alles richtig verstanden hat (Rückkoppelung). Um Fehler zu vermeiden, wurden 15 „CRM-Grundsätze“ definiert. Teil dieser Grundsätze ist das 10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip (10-for-10): Innerhalb von 10 Sekunden werden alle möglichen Handlungsschritte und evtl. Komplikationen besprochen, die in den nächsten 10 Minuten von Bedeutung sind und eine Entscheidung über das Vorgehen in diesen 10 Minuten getroffen. Nach dem Fehlerkettenmodell nach Reason entstehen Fehler, wenn Systemfehler (organisatorische oder technische Probleme), ungünstige Umweltbedingungen und aktive Fehler zusammenwirken. Durch den Einsatz seiner Erfahrung, seines Wissen und seiner Fertigkeiten trägt jedes Teammitglied dazu bei, Schwachstellen zu beseitigen und so das Risiko für Fehler zu verringern.

Psychologische Aspekte im Einsatz

1.4.3 Resilienz und Vulnerabilität

1.4.4 Stressbewältigung

Resilienz

Definition Coping

Definition Resilienz Resilienz ist die psychische Widerstandsfähigkeit von Individuen: Wie gut gelingt es dem Einzelnen, belastende Erlebnisse oder ungünstige Lebenseinflüsse (z. B. Krankheit, Todesfälle, Niederlagen) zu bewältigen bzw. daraus sogar gestärkt hervorzugehen? Resilienz befähigt Menschen, adaptiv und proaktiv zu handeln. Sie ist z. T. angeboren (z. B. bestimmte Persönlichkeitseigenschaften), z. T. aber auch erworben. Wichtige Faktoren sind z. B. Selbstvertrauen, gute soziale Beziehungen und Zufriedenheit. Die folgenden protektiven Fähigkeiten werden als „Die sieben Säulen der Resilienz“ zusammengefasst: ● Emotionssteuerung: Menschen stellen in einer Belastungssituation eine handlungsförderliche Emotionslage her und unterbinden beeinträchtigende Gefühle. ● Impulskontrolle ist die Fähigkeit, erste Impulse auch in Drucksituationen effektiv zu steuern und Aufgaben konzentriert und diszipliniert zu erledigen. ● Kausalanalyse: Resiliente Personen nehmen sich die Zeit, eine Situation gründlich zu analysieren, ihre Gefühle zu identifizieren und situationsangemessen zu reagieren. ● realistischer Optimismus: Die Person ist überzeugt, dass sich Dinge zum Positiven wenden. Dabei verliert sie die Realität nicht aus den Augen, wodurch tatsächliche Umstände und Handlungskonsequenzen bedacht werden. ● Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung beschreibt die Überzeugung eines Menschen, fähig zu sein (auch in widrigen Situationen), etwas zu lernen oder eine bestimmte Aufgabe erfolgreich zu erledigen. ● Reaching-Out/Zielorientierung: Die Person hat ein klares Ziel vor Augen. Sie ist überzeugt, dass sie es diszipliniert mit den ihr zur Verfügung gestellten Mitteln erreichen kann, und lässt sich von Rückschlägen nicht entmutigen. ● Empathie ermöglicht es uns, sich in andere einzufühlen und deren Gefühle nachzuempfinden. Sie ist die Voraussetzung für einen moralischen Umgang miteinander.

Vulnerabilität Definition Vulnerabilität Vulnerabilität bedeutet „Verwundbarkeit“ oder „Verletzbarkeit“ und bezeichnet die Anfälligkeit eines Menschen für Erkrankungen oder psychische Störungen. Sie ist das Gegenteil von Resilienz. Vulnerabilitäts-Stress-Modell • Verschiedene Faktoren beeinflussen die Vulnerabilität, darunter genetische Veranlagungen, körperliche Vorerkrankungen, soziale, kulturelle, erzieherische und familiäre Einflussfaktoren. Zusätzliche Stressoren können in Abhängigkeit von der individuellen Vulnerabilität eine pathologische Dynamik in Gang setzen und sind häufig der Auslöser für psychische Störungen und körperliche Erkrankungen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, Strategien zur Stressbewältigung zu erlernen und anzuwenden (s. u.).

Coping bezeichnet Handlungen und Gedanken zur Stressbewältigung, die dafür sorgen, dass das Gleichgewicht zwischen Ressourcen und Stressoren erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird. Stressoren und Mikrostressoren ● Stressoren sind physische und/oder psychische Auslöser einer Stressreaktion (z. B. Schicht- und Nachtarbeit, anstrengende körperliche Arbeit, psychisch belastende Einsätze, Alarmierungssituationen). ● Mikrostressoren sind kleine, häufig auftretende Ärgernisse. Sie sind für sich genommen harmlos, können aber in ihrer Gesamtheit Stress auslösen (z. B. als sinnlos empfundene Dienstanweisungen, schlechte Stimmung im Team, Diskriminierung). Ressourcen • Über welche Ressourcen zur Stressbewältigung Sie als Individuum verfügen, ist von vielen Faktoren abhängig, die Sie nur teilweise kurzfristig beeinflussen können (z. B. Menge und Qualität von sozialen Kontakten). Andere der folgenden Ressourcen sind mit eher geringem Aufwand ausbaubar (▶ Abb. 6.2): ● gute Ausbildung und fundierte Kenntnisse über Notfallmaßnahmen, regelmäßige Weiterbildungen ● strukturierte Arbeitsweise durch Abarbeiten von Handlungsempfehlungen und -schemata ● Unterstützung durch Familie und Freunde ● aktive Freizeitgestaltung, z. B. Ausflüge mit der Familie, Sport, Musik, Kunst ● gute körperliche Verfassung, regelmäßige körperliche Betätigung (z. B. 30 Minuten Training an 5 Tagen/Woche) Situationsanalyse • Eine möglichst objektive Analyse Ihrer Situation hilft Ihnen, Stress zu reduzieren: Warum ist die Situation, wie sie ist? Wer ist für die Situation und deren Bewältigung verantwortlich? Die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) empfiehlt dazu folgende Maßnahmen: ● Identifizieren Sie Stressoren und ändern Sie (sofern möglich) die Situation. ● Setzen Sie sich selbst und anderen klare Grenzen! Dies hilft, Probleme an der Arbeitsstelle auch dort zu lassen. ● Organisieren und planen Sie (soweit möglich) Ihren Tag. ● Erleben Sie Ihre Pausen bewusst (z. B. auch mit Entspannungstechniken). ● Setzen Sie sich realistische Ziele und überprüfen Sie regelmäßig Ihre Erwartungen. Verlangen Sie nicht zu viel von sich selbst. ● Bauen Sie Abstand zu einem Problem auf, um es aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. ● Sprechen Sie mit Ihren Teamkolleginnen und -kollegen. Nach Hilfe zu fragen, ist Teil guter Teamarbeit. Psychologische Selbsthilfe • Während stark belastender Einsätze (z. B. MANV, schwer krankes oder verletztes Kind) können verschiedene Strategien dabei helfen, die eigene Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten (▶ Tab. 1.3).

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1

Berufsbild und psychologische Aspekte

Tab. 1.3 Maßnahmen der psychologischen Selbsthilfe in akuten Einsatzsituationen.* Ziel

Maßnahme

Beschreibung

Fokussierung

Führen Sie einzelne Routinetätigkeiten durch.

Konzentrieren Sie sich kurze Zeit auf eine bestimmte Handlung (z. B. Blutdruckmessung) und blenden Sie das übrige Geschehen aus.

sich des eigenen Könnens, des Teams, des Gelernten versichern, einen roten Faden finden

Verdeutlichen Sie sich die Ressourcen.

Führen Sie sich vor Augen, dass Sie den Einsatz nicht allein, sondern im Team, mit der passenden Ausrüstung und den nötigen Fähigkeiten durchführen.

Gehen Sie Maßnahmen Schritt für Schritt durch.

Gehen Sie im Kopf die Maßnahmen durch, die Sie in der aktuellen Situation durchführen müssen.

Rufen Sie sich Handlungsgrundsätze in Erinnerung.

Vergegenwärtigen Sie sich die wichtigsten Handlungsgrundsätze wie „Eigenschutz geht immer vor“ oder „Behandle zuerst, was zuerst tötet“.

Gehen Sie nach Checklisten/Algorithmen vor.

Folgen Sie den Abläufen, die Sie in der Ausbildung trainiert haben. Diese sind evidenzbasiert und geben Ihnen die nötige Sicherheit.

Betrachten Sie die Situation betont sachlich.

Fokussieren Sie sich bewusst auf medizinisch-technische, aufgabenbezogene Überlegungen. In Akutsituationen kann es angebracht sein, sich ausschließlich auf „das Polytrauma“ oder „die Reanimation“ zu konzentrieren, und die betroffenen Menschen dahinter auszublenden. Auch Gedanken wie „Das ist nicht mein Kind“ können helfen.

Reframing

Deuten Sie eine Situation gezielt positiv um: „Das ist eine gute Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln/das gelernte Wissen anzuwenden.“

Motivation

Selbstinstruktion

Geben Sie sich im Stillen oder sehr leise positive Anweisungen oder Aufträge wie „Ich schaffe das“ „Ruhig bleiben“ oder „Mach eins nach dem anderen“.

Selbstschutz

Vermeiden Sie belastende Anblicke.

Schließen Sie die Augen und halten Sie sich die Ohren zu, wenn sich eine Person in Ihrer Anwesenheit selbst tötet. Falls eine Person in einer Selbsttötungsabsicht vom Dach gesprungen ist, schauen Sie ihr nicht hinterher.

Abstand gewinnen

* nach: Karutz H, Blank-Gorki V: Psychische Belastungen und Bewältigungsstrategien in der präklinischen Notfallversorgung. Notfallmedizin up2date 2014; 9(04): 355–374. Stuttgart: Thieme.

RETTEN TO GO Stressbewältigung ●





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Stressoren sind physische und/oder psychische Auslöser einer Stressreaktion (z. B. Schicht- und Nachtarbeit, anstrengende körperliche Arbeit, psychisch belastende Einsätze, Alarmierungssituationen). Mikrostressoren sind kleine, häufig auftretende Ärgernisse, die für sich genommen harmlos sind, in ihrer Gesamtheit allerdings Stress auslösen können (z. B. als sinnlos empfundene Dienstanweisungen, schlechte Stimmung im Team, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, Diskriminierung). Durch den Aufbau von Ressourcen zur Stressbewältigung (z. B. gute fachliche Ausbildung, strukturierte Arbeitsweise, Unterstützung durch Familie und Freunde, aktive Freizeitgestaltung, gute körperliche Verfassung) können Sie Ihr Coping verbessern, d. h. besser mit Stress umgehen. Zudem ist es hilfreich, Stressauslöser zu erkennen und sich darum zu bemühen, diese nach Möglichkeit zu reduzieren.

2

Organisation des Rettungsdienstes

2.1 Aufgaben und Einrichtungen der Notfallversorgung 2.1.1 Aufgaben des Rettungsdienstes Definition Notfallpatient Die Rettungsdienstgesetze der Bundesländer definieren Notfallpatienten als Kranke oder Verletzte, die sich in Lebensgefahr (vitale Bedrohung) befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend medizinische Hilfe erhalten. Der Rettungsdienst ist eine staatliche Aufgabe der Daseinsvorsorge. Die Organisation des Rettungsdienstes in Deutschland fällt in die Zuständigkeit der Bundesländer und ist dementsprechend unterschiedlich ausgestaltet. In allen Bundesländern besteht derzeit ein boden- und luftgebundener Rettungsdienst (Krankentransport und Notfallrettung) in öffentlicher Trägerschaft (öffentlicher Rettungsdienst). Zur Regelung dieser Aufgaben haben die Bundesländer Rettungsdienstgesetze sowie Landesrettungsdienstpläne und rettungsdienstliche Verordnungen erlassen. Die wesentlichen Inhalte sind vergleichbar. Sie legen einheitliche Grundsätze und Maßstäbe für die Organisation des Rettungsdienstes fest, um eine bedarfsgerechte, flächendeckende und wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Im engeren Sinne definieren sie u. a. Hilfsfristen für dicht und

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dünn besiedelte Regionen, regeln die Besetzung von Rettungsmitteln sowie die Aufgaben des Rettungsdienstes. Die grundlegende Aufgabe des Rettungsdienstes ist die eigenverantwortliche Durchführung und teamorientierte Mitwirkung v. a. bei der notfallmedizinischen Versorgung, dem Transport und der Betreuung von Notfallpatienten. Notfallrettung • Sie umfasst folgende Aufgaben: ● Durchführen von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort ● Herstellen der Transportfähigkeit der Notfallpatienten ● Beförderung erstversorgter Notfallpatienten unter fachgerechter Betreuung in dafür ausgestatteten Rettungsmitteln (S. 36) in eine für die weitere Versorgung geeignete Behandlungseinrichtung ● Hilfe bei psychosozialen Notfällen (z. B. Depressionen mit Suizidabsichten, Schizophrenie, Denkstörungen) Krankentransport und intensivmedizinischer Transport • Der Krankentransport umfasst die Beförderung kranker, verletzter oder hilfsbedürftiger Personen („Nicht-Notfall-Patienten“), die nach ärztlicher Beurteilung während des Transports eine fachgerechte medizinische Betreuung oder ein besonders ausgestattetes Rettungsmittel benötigen oder bei denen dies aufgrund ihres Zustands zu erwarten ist. Solche Transporte sind grundsätzlich schnellstmöglich und von ordnungsgemäß geschultem Rettungsfachpersonal zum Zweck der Betreuung und Versorgung von Patienten durchzuführen. Der qualifizierte intensivmedizinische Transport ist eine spezielle Art des Krankentransports. Die dafür eingesetzten Rettungsmittel (S. 36) müssen besser ausgestattet sein als die für die rettungsdienstliche Basisversorgung vorgesehenen Rettungsmittel.

Aufgaben des Rettungsdienstes ▶S. 28 Einrichtungen des Rettungsdienstes ▶S. 30 Aufgaben und Einrichtungen der Notfallversorgung

Wichtige Schnittstellen

▶S. 31

Weitere Einrichtungen der Notfallversorgung

▶S. 31

Hilfsfristen ▶S. 32

Hilfsfristen und Rettungsdienstbereiche

Rettungsdienstbereiche ▶S. 33

Rettungsmittel und Rettungskette

Rettungsmittel ▶S. 36 Rettungskette ▶S. 39

Rechtliche Grundlagen ▶S. 42 Funk im Rettungsdienst

BOS-Sprechfunkgeräte

▶S. 42

Analog- und Digitalfunk ▶S. 43 Vorgang des Funkens ▶S. 43 Das Funkmeldesystem (FMS) ▶S. 46 Störungen beim Funken ▶S. 46

! Merke Prioritäten beim Transport

Die Versorgung und Beförderung von Notfallpatienten hat Vorrang vor Krankentransporten.



Sicherstellungstransport • Eine weitere rettungsdienstliche Aufgabe ist der qualifizierte Transport von lebenswichtigen Medikamenten, Blut und Blutbestandteilen, Organen für Transplantationen, medizinisch-technischem Gerät sowie ggf. von Patienten und speziellem medizinischem Personal. Abgrenzung Krankenfahrt • Hierbei werden kranke Personen befördert, die nach ärztlicher Beurteilung weder eine fachgerechte Betreuung und Hilfeleistung noch eine Beförderung in einem Rettungsmittel benötigen. Krankenfahrten werden nicht durch den Rettungsdienst, sondern mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln, Taxen oder Sondermietwagen (Liegentaxen) durchgeführt und unterliegen nicht den gesetzlichen Vorschriften für den Rettungsdienst.

RETTEN TO GO





sorgung geeignete Behandlungseinrichtung sowie die Hilfeleistung bei psychosozialen Notfällen (z. B. Depressionen mit Suizidabsichten). Der Krankentransport umfasst die Beförderung sonstiger kranker, verletzter oder hilfsbedürftiger Personen, die nach ärztlicher Beurteilung während des Transports eine fachgerechte medizinische Betreuung oder ein besonders ausgestattetes Rettungsmittel benötigen oder bei denen dies aufgrund ihres Zustands zu erwarten ist. Der qualifizierte intensivmedizinische Transport ist eine spezielle Art des Krankentransports. Bei Sicherstellungstransporten werden lebenswichtige Medikamente, Blut, Blutbestandteile, Organe für Transplantationen, medizinisch-technisches Gerät sowie ggf. Patienten und spezielles medizinisches Personal qualifiziert transportiert. Krankenfahrten werden nicht durch den Rettungsdienst durchgeführt. Dabei werden kranke Personen, die nach ärztlicher Beurteilung weder eine fachgerechte Betreuung und Hilfeleistung noch eine Beförderung in einem Rettungsmittel benötigen, in öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln oder Taxen befördert.

Aufgaben des Rettungsdienstes ●



Notfallpatienten sind Kranke oder Verletzte, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend medizinische Hilfe erhalten. Die Notfallrettung umfasst Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort, das Herstellen der Transportfähigkeit der Betroffenen, deren Beförderung unter fachgerechter Betreuung in dafür ausgestatteten Rettungsmitteln in eine für die weitere Ver-

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2

Organisation des Rettungsdienstes

2.1.2 Einrichtungen des Rettungsdienstes Rettungswache Definition Rettungswache In Rettungswachen werden die für den boden- und luftgebundenen Rettungsdienst erforderlichen Rettungsmittel (▶ Abb. 2.3) einsatzbereit vorgehalten. Gleichzeitig dienen sie als Arbeitsplatz und Unterkunft für das diensthabende Rettungsdienstpersonal. In Lehrrettungswachen absolvieren zusätzlich Auszubildende zum Notfalloder Rettungssanitäter den praktischen Teil ihrer Ausbildung (S. 17). Auf Lehrrettungswachen begleiten pädagogisch qualifizierte Praxisanleiter Auszubildende zum Notfall- oder Rettungssanitäter im praktischen Teil ihrer Ausbildung. Der Status „Lehrrettungswache“ wird durch die zuständige Landesbehörde erteilt und überwacht. Für eine fachgerechte und qualifizierte Rettungswache bzw. Lehrrettungswache sind folgende bauliche Einrichtungen gesetzlich vorgeschrieben: ● Unterstellmöglichkeiten für Rettungsmittel (z. B. Fahrzeughalle) ● Lagerraum für Kfz-Zubehör und medizinische Geräte (u. a. elektrische Lademöglichkeiten) ● Wasch- und Desinfektionsräume für die Rettungsmittel und die persönliche Ausrüstung ● nach Geschlecht getrennte Umkleide- und Waschräume ● Sozial- und Ruheräume für die Mitarbeitenden ● Arbeitszimmer für die Vor- und Nachbereitung sowie für die Dokumentation von Einsätzen ● Lehrrettungswachen: Schulungs- und Simulationsraum

Rettungsleitstelle

Der Aufgabenträger des bodengebundenen Rettungsdienstes errichtet und unterhält eine unter der Notrufnummer 112 ständig erreichbare und betriebsbereite Rettungsleitstelle, die auch Aufgaben des Brandschutzes, der Allgemeinen Hilfe und des Katastrophenschutzes wahrnimmt. Darüber hinaus kann die Rettungsleitstelle gegen Kostenerstattung Aufgaben für Dritte übernehmen, insbesondere die Alarmierung des organisierten ärztlichen Notfalldienstes. Sie führt einen Nachweis über die Aufnahme- und Dienstbereitschaft der Krankenhäuser im Rettungsdienstbereich, um zu klären, welche Kliniken die Patienten im Anschluss an die Notfallrettung aufnehmen können. Die Krankenhausträger im Rettungsdienstbereich gewährleisten, dass der Rettungsleitstelle laufend die Zahl der freien Betten gemeldet wird. Rettungsleitstellen müssen rund um die Uhr mit mindestens 2 Leitstellendisponenten besetzt sein. Computer- und GPS-Systeme (GPS, engl. Global Positioning System) ermöglichen die genaue Positionsbestimmung von Rettungsmitteln. Diese sind mit der Leitstelle vernetzt. Leitstellendisponenten können somit, neben einer strukturierten Disponierung, eine präzise und zielgenaue Einsatzkoordination der Rettungsmittel durchführen. Die Kommunikation zwischen Leitstelle und Rettungsdienstpersonal läuft über das Funkmeldesystem (S. 46) oder sonstige Telefonie- und Kommunikationssysteme. Mitarbeitende in Rettungsleitstellen haben zusätzlich administrative (verwaltungstechnische) Aufgaben (▶ Tab. 2.1), z. B. die Dokumentation von Einsätzen (z. B. zeitlicher Verlauf und Kommunikation während des Einsatzes), Datensicherung und statistische Auswertung, Qualitätssicherung im Rettungsdienstbereich oder die Verwaltung von Informationsquellen (z. B. Giftnotrufnummer, Nummer des ärztlichen Notdienstes, der Notdienstapotheke oder der Stadtwerke bei Stromausfall).

Definition Rettungsleitstelle Die Rettungsleitstelle nimmt alle Notfallmeldungen und Hilfeersuchen entgegen und koordiniert die notwendigen Einsatzmaßnahmen. Sie steuert den Einsatz der Rettungsmittel und berücksichtigt dabei die Dienstpläne der Rettungswachen ihres Zuständigkeitsbereichs. So gewährleistet sie den professionellen Ablauf von Rettungsdiensteinsätzen.

Tab. 2.1 Aufgaben der Rettungsleitstelle.

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Entgegennahme von Gesprächen

Steuerung von Notfallsituationen

Koordination und Pflege von Nicht-Notfall-Einsätzen

Notrufe entgegennehmen

zuständige Behörden und Einrichtungen (z. B. Gesundheitsamt, Krankenhaus) verständigen

Koordination von Krankentransporten und luftgebundenen Rettungsmitteln

sonstige Gespräche (z. B. Auskunft über die jeweils diensthabende Apotheke) führen, entgegennehmen und vermitteln (z. B. an den Notdienst, den Zahnarzt)

Rettungseinsätze lenken

Bettennachweise (welches Krankenhaus hat wie viele Betten?) führen und koordinieren

Auskunft erteilen (z. B. gegenüber Hausarzt, Notdienst)

Einsätze im Katastrophenschutz lenken

alle Fahrzeugbewegungen und Einsatzdaten (z. B. Name, Adresse, Anrufer) dokumentieren und die Daten entsprechend pflegen

Einsatzmittel alarmieren und nachalarmieren

Feuerwehreinsätze lenken

Hausnotruf abwickeln und dokumentieren

Aufgaben und Einrichtungen der Notfallversorgung

2.1.3 Wichtige Schnittstellen Zusammenarbeit von Rettungsdienst und Krankenhaus Definition Krankenhaus Krankenhäuser im Sinne des § 107 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sind Einrichtungen, die 1. der Krankenhausbehandlung oder Geburtshilfe dienen, 2. fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Leitung stehen, über ausreichende, ihrem Versorgungsauftrag entsprechende diagnostische und therapeutische Möglichkeiten verfügen und nach wissenschaftlich anerkannten Methoden arbeiten, 3. mit Hilfe von jederzeit verfügbarem ärztlichem, Pflege-, Funktions- und medizinisch-technischem Personal darauf eingerichtet sind, vorwiegend durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten der Patienten zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten, Krankheitsbeschwerden zu lindern oder Geburtshilfe zu leisten, und in denen 4. Patienten untergebracht und verpflegt werden können. Kontaktstellen von Rettungsdienst und Krankenhaus • Der Zusammenarbeit zwischen Rettungsdienst und Krankenhaus kommt in der professionellen Versorgung von Notfallpatienten eine besondere Rolle zu: ● Rettungswachen befinden sich z. T. direkt an der Klinik. ● Notärzte sind oft direkt an einem Krankenhaus stationiert bzw. hauptberuflich am zuständigen Krankenhaus des Rettungsdienstbereiches tätig. ● Das Rettungsdienstpersonal transportiert die Patienten in die Notaufnahme des zuständigen Krankenhauses. Hier erfolgt eine strukturierte Übergabe bzw. Übernahme der Patienten (S. 169) zur klinischen Behandlung.

Rettungsdienst und Notärzte Notärztliche Aufgaben • Notärzte und Notärztinnen versorgen im Rahmen der Notfallrettung gemeinsam mit dem Rettungsfachpersonal akut erkrankte oder verletzte Menschen am Einsatzort. Ihre Aufgabe ist es, die lebenswichtigen Funktionen der Patienten wiederherzustellen oder aufrechtzuerhalten, Folgeschäden zu vermeiden sowie die Transportfähigkeit der Patienten für den Weg zur nächstgelegenen und geeigneten Weiterversorgungseinheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Notärztliche Einsatzindikationen • Die Rettungsleitstelle fordert notärztliche Unterstützung an, wenn der Notruf aus ihrer Sicht eine entsprechende Einsatzindikation beinhaltet. Dieser Indikationskatalog wird durch die Rettungsdienstgesetze sowie Landesrettungsdienstpläne und rettungsdienstliche Verordnungen der Bundesländer festgelegt. Hierzu gehören u. a.: ● patientenbezogene Indikationen – Bewusstseinsstörung (z. B. bei Schlaganfall, Vergiftung, Schädel-Hirn-Trauma) – Atemstörung (z. B. bei Asthmaanfall, Lungenödem, Fremdkörperaspiration) – Kreislaufstörung (z. B. bei Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, hypertensiver Krise, Schock) – sonstige Schäden mit Wirkung auf die Vitalfunktionen (z. B. schwere Blutung, starke akute Schmerzen, Amputationen, Verbrennungen, dislozierte Frakturen)



notfallbezogene Indikationen – schwere Verkehrsunfälle mit Hinweis auf Verletzte – sonstige Unfälle mit Schwerverletzten – Unfälle mit Kindern – Brände/Rauchgasentwicklung mit Hinweisen auf Personenbeteiligung – Explosionsunfälle mit Hinweis auf Personenbeteiligung – thermische und chemische Unfälle mit Hinweisen auf Personenbeteiligung – Strom- und Blitzunfälle – Ertrinkungs- und Tauchunfälle, Eiseinbruch – Einklemmung, Verschüttung – drohender Suizid – Sturz aus Höhe (≥ 3 m) –…

Zusätzlich kann das Rettungsdienstpersonal jederzeit notärztliche Unterstützung anfordern, wenn sich der Zustand des Patienten schlechter darstellt als ursprünglich angenommen oder sich im Einsatzverlauf verschlechtert.

2.1.4 Weitere Einrichtungen der Notfallversorgung Zivil- und Katastrophenschutz Reichen die Kräfte des Regelrettungsdienstes und der Feuerwehr nicht aus, um einen eingetretenen Schaden oder drohende Gefahren zu bekämpfen, greift das öffentliche System des Zivil- und Katastrophenschutzes. Hierfür sieht das Grundgesetz verschiedene Zuständigkeiten vor: ● Der Bund hat die Aufgabe, die Bevölkerung vor kriegsbedingten Gefahren zu schützen (Zivilschutz). ● Die Länder sind für den Schutz der Bevölkerung bei großen Unglücken und Katastrophen (S. 536) in Friedenszeiten zuständig (Katastrophenschutz). Zivil- und Katastrophenschutz bilden trotz der unterschiedlichen Zuständigkeiten ein integriertes Hilfeleistungssystem für den Bevölkerungsschutz (▶ Abb. 2.1). Dabei greifen die Ressourcen von Bund, Ländern und privaten Hilfsorganisationen eng ineinander. Dies soll sicherstellen, dass schnellstmöglich qualifiziertes Personal vor Ort ist, um Hilfe zu leisten und die Bürgerinnen und Bürger zu schützen.

Kassenärztlicher Notdienst Der Kassenärztliche Notdienst (Vertretungsdienst) ist eine Vertretung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte außerhalb der üblichen Sprechstunden. Dieser Dienst wird von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten im Versorgungsbereich der jeweiligen kassenärztlichen Vereinigung geleistet. Behandelt werden Patienten, deren Erkrankung zu dringend ist, um bis zur nächsten regelmäßigen ärztlichen Sprechstunde zu warten, aber nicht so dringend, dass der Rettungsdienst alarmiert werden muss. Mitunter sind die Patienten so schwer erkrankt, dass sie zu einer stationären oder ambulanten Behandlung eingewiesen werden müssen. In akut lebensbedrohlichen Situationen alarmiert der diensthabende Arzt über die Leitstelle einen RTW zur weiteren Betreuung und zum Transport. Zur Beförderung sonstiger kranker, verletzter oder hilfsbedürftiger Personen wird ein KTW angefordert.

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2

Organisation des Rettungsdienstes Abb. 2.1 Bevölkerungsschutz.

Verteidigungsfall

Zerstörung relevanter Infrastruktur

Großschadensereignis

Bund (Bundesministerium des Inneren)

Unterstützung

Länder (Katastrophenschutzbehörden)

Bevölkerungsschutz

z.B. medizinische Taskforces (MTF)

Zivilschutz

Katastrophenschutz

Katastrophenschutzeinheiten

Der Bevölkerungsschutz setzt sich aus dem Katastrophenschutz im Verantwortungsbereich der Länder und dem Zivilschutz im Verantwortungsbereich des Bundes zusammen. Beide sind eng miteinander verknüpft. Die Länder können die vom Bund im Rahmen des Zivilschutzes bereitgestellten Ressourcen genau wie ihre eigenen Mittel für den Katastrophenschutz einsetzen. Ebenso stellen die in den Ländern im Katastrophenschutz tätigen Hilfsorganisationen ihre Kräfte und Fähigkeiten im Verteidigungsfall zur Verfügung. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Feuerwehren und Hilfsorganisationen (v.a. Ehrenamt) z.B. Schnelleinsatzgruppen (SEG), Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)

RETTEN TO GO Einrichtungen der Notfallversorgung ●









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In Rettungswachen werden die Rettungsmittel für den bodengebundenen Rettungsdienst einsatzbereit vorgehalten. In Lehrrettungswachen absolvieren zusätzlich Auszubildende zum Notfall- oder Rettungssanitäter den praktischen Teil ihrer Ausbildung. Die Rettungsleitstelle nimmt alle Notrufe und Hilfeersuchen entgegen und koordiniert die notwendigen Einsatzmaßnahmen. Sie steuert den Einsatz der Rettungsmittel und berücksichtigt dabei die Dienstpläne der Rettungswachen ihres Zuständigkeitsbereichs. Ein Krankenhaus ist eine medizinische Einrichtung, in der durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten, Leiden oder körperlichen Schäden festgestellt und versucht wird, diese durch eine Behandlung zu heilen oder zu lindern. Notärzte und Notärztinnen versorgen im Rahmen der Notfallrettung gemeinsam mit dem Rettungsfachpersonal akut erkrankte oder verletzte Menschen am Einsatzort. Ihre Alarmierung durch die Rettungsleitstelle orientiert sich an einem Indikationskatalog, der durch die Rettungsdienstgesetze sowie Landesrettungsdienstpläne und rettungsdienstliche Verordnungen der Bundesländer geregelt ist. Der Zivilschutz schützt die Bevölkerung vor kriegsbedingten Gefahren, der Katastrophenschutz bei großen Unglücken und Katastrophen in Friedenszeiten. Beide Systeme bilden ein integriertes Hilfeleistungssystem für eine optimale Versorgung der Bevölkerung, wenn diese sich nicht mehr selbst helfen kann.

2.2 Hilfsfristen und Rettungsdienstbereiche 2.2.1 Hilfsfristen Definition Hilfsfrist Die Hilfsfrist ist die Zeitspanne, die zwischen der Alarmierung der rettungsdienstlichen Fachkräfte (= Eingang des Notrufs in der Leitstelle) und deren Ankunft am Notallort vergehen darf. Sie muss „in der Regel“ bei 95 % aller Notfalleinsätze im Jahr eingehalten werden und ist damit eine planerische Vorgabe für die Alarmierung der Einsatzkräfte und den Einsatz der Rettungsmittel bei der Durchführung der Notfallrettung. Abschnitte ● Alarmierungszeit: Zeit vom Beginn des Eingangs der Notfallmeldung bis zur Alarmierung der Einsatzkräfte des Rettungsdienstes oder der Feuerwehr ● Ausrückzeit: Zeitraum von der Alarmierung bis zum Ausrücken eines indikationsgerechten bodengebundenen Rettungsmittels ● Fahrzeit: Zeitraum vom Ausrücken dieses Rettungsmittels bis zu dessen Eintreffen am Einsatzort an einer öffentlichen Straße Vorgaben • Die Vorgaben für die Hilfsfrist werden in den Rettungsdienstgesetzen sowie in den Landesrettungsdienstplänen und rettungsdienstlichen Verordnungen der Bundesländer geregelt und können zeitlich abweichen. Folgende Richtwerte sollten Sie kennen: ● Die Alarmierungs- und die Ausrückzeit sollen jeweils 1 Minute nicht überschreiten. Die Aufgabenträger des bodengebundenen Rettungsdienstes haben durch organisatorische und technische Maßnahmen sicherzustellen, dass diese Fristen eingehalten werden. Beispielsweise muss das Rettungsteam alle momentanen Tätigkeiten sofort beenden und ausrücken.

Hilfsfristen und Rettungsdienstbereiche In dicht besiedelten Gebieten sollte die Fahrzeit in der Regel 12 Minuten nicht überschreiten, in dünn besiedelten Gebieten gilt i. d. R. eine Frist von 15 Minuten. „In der Regel“ bedeutet, dass die gesetzlich festgelegte Fahrzeit unter Ausnutzung aller Möglichkeiten der Dispositions- und Einsatzstrategien in 95 % der Fälle eingehalten wird. Zu den 5 % Ausnahmefällen zählen witterungs- oder verkehrsbedingte Ausnahmesituationen und Einsätze in entlegenen, quasi unbesiedelten Gebieten.

Abb. 2.2 Träger der Aufgabe „Rettungsdienst“.

Gebietskörperschaften

2.2.2 Rettungsdienstbereiche Funktion • Damit die Hilfsfristen eingehalten werden können, sind die Bundesländer in Rettungsdienstbereiche eingeteilt. Deren Größe und Zahl hängt von der Bevölkerungsdichte und der Häufigkeit der Rettungsdiensteinsätze ab. Je nach Region schließen diese Bereiche mehrere Landkreise und kreisfreie Städte ganz oder teilweise ein.

delegiert Durchführungsverantwortung

Bundesland

Landkreis A

kreisfreie Städte

Landkreis B

Landkreis C

Rettungsdienstbereiche



Rettungszweckverband beauftragen zur Durchführung Leistungserbringer

Submissions- und Konzessionsmodell • In Deutschland sind die Kommunen, also Landkreise und kreisfreie Städte, Träger des Rettungsdienstes (▶ Abb. 2.2). Sie müssen für eine flächendeckende rettungsdienstliche Versorgung der Bevölkerung sorgen. Diese öffentlichen Träger erbringen die rettungsdienstliche Versorgung i. d. R. nicht selbst, sondern beauftragen Leistungserbringer mit deren Durchführung, üblicherweise gemeinnützige Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), den Malteser Hilfsdienst (MHD), die Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) sowie private Rettungsdienstorganisationen und Firmen. Die Dienstleistungen werden unmittelbar durch den Auftraggeber (Submissionsmodell) vergütet oder durch die Erhebung von Entgelten durch den Auftragnehmer bei den Patienten bzw. den Krankenkassen (Konzessionsmodell). Unterstützt werden die Hilfsorganisationen ggf. durch die Feuerwehr und Spezialkräfte der Berg-, Höhen- und Wasserrettung sowie der Hundestaffel. Finanzierung der Rettungsdienstbereiche • Das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland ist heute mit über 5 Millionen Erwerbstätigen und Gesundheitsausgaben von jährlich 360 Milliarden Euro der größte Wirtschaftszweig und damit auch der dominierende Infrastruktursektor. Etwa 1,2 % der gesamten Gesundheitsausgaben entfallen auf den Rettungsdienst: Am 30. Juni 2022 gab es 82 064 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich Rettungsdienste in Deutschland (Quelle: www.destatis.de). Die Finanzierung des Rettungsdienstes muss, wie auch die Kosten des Gesundheitswesens insgesamt, sozial tragbar sein, also weder den Staat insgesamt noch die einzelne Person finanziell zu stark belasten. Finanziert wird der Rettungsdienst von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen sowie den gesetzlichen Unfallversicherungen (Kostenträger).

Kommune Fremdvergabe

Feuerwehr

Mischform

Hilfsorganisationen Rettungsdienstunternehmen

In der Regel delegiert das Bundesland als eigentlicher Träger die Durchführungsverantwortung an die Gebietskörperschaften, die wiederum mit der konkreten Durchführung die kommunale Feuerwehr oder Fremdanbieter beauftragen. Mischformen sind möglich. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

RETTEN TO GO Hilfsfristen und Rettungsdienstbereiche Die Hilfsfrist ist eine planerische Vorgabe für die Alarmierung der Einsatzkräfte und den Einsatz der Rettungsmittel bei der Notfallrettung. Um die Hilfsfristen einzuhalten, sind die Bundesländer in Rettungsdienstbereiche eingeteilt, deren Größe und Anzahl von der Bevölkerungsdichte und der Häufigkeit der Rettungsdiensteinsätze abhängt.

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GRÖSSTE HILFSORGANISATIONEN DEUTSCHLANDS

FUNKRUFNAMEN 4m / Rotkreuz 2m / Äskulap

350 RETTUNGSWACHEN 500 BERGWACHEN 3000 WASSERRETTUNGSSTATIONEN

GRÜNDUNG

EINSATZGEBIETE u.a.:

1921 als Nationale Hilfsgesellschaft

• humanitäre Hilfe • Verbreitung des humanitären Völkerrechts • Katastrophenschutz • Rettungsdienst • Wohlfahrts- und Sozialarbeit • Berg- und Wasserrettung

SLOGAN „Aus Liebe zum Menschen“

180.000 HAUPTAMTLICHE 443.000 EHRENAMTLICHE © Deutsches Rotes Kreuz e.V.

© Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.

25.000 HAUPTAMTLICHE 43.000 EHRENAMTLICHE GRÜNDUNG

EINSATZGEBIETE u.a.:

1952 vom protestantischen Johanniterorden

• Rettungs- und Sanitätsdienst, Notfallfolgedienst • Katastrophenschutz • Betreuung und Pflege von älteren, kranken und/oder geflüchteten Menschen und Menschen mit Behinderung • Fahrdienst und Hausnotruf • Arbeit mit Kindern und Jugendlichen • Hospizarbeit • Erste-Hilfe-Ausbildung und fachdienstliche Bildungsangebote • humanitäre Hilfe im Ausland

SLOGAN „Aus Liebe zum Leben“

FUNKRUFNAMEN 4m / Akkon 2m / Jonas

289 RETTUNGSWACHEN 4 LUFTRETTUNGSSTANDORTE (ITHs)

FUNKRUFNAMEN

286 RETTUNGSWACHEN 732 RETTUNGSHUNDE-TEAMS

4m / Sama 2m / Samuel

EINSATZGEBIETE u.a.: • Erste-Hilfe-Ausbildung • Rettungs- und Sanitätsdienst • Zivil- und Katastrophenschutz • weltweite humanitäre Hilfe • Altenhilfe und -pflege, Kinder- und Jugendhilfe • palliative Versorgung • Hilfe für Menschen mit Behinderung • Wasserrettung und Rettungshunde • Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)

GRÜNDUNG 1888 als Zusammenschluss der Arbeiter-Samariter-Kolonnen

SLOGAN „Wir helfen hier und jetzt.“

41.000 HAUPTAMTLICHE 20.000 EHRENAMTLICHE © Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland

© Malteser Hilfsdienst e.V.

33.300 HAUPTAMTLICHE 52.000 EHRENAMTLICHE EINSATZGEBIETE u.a.:

GRÜNDUNG

• Katastrophenschutz • Rettungs- und Sanitätsdienst • Erste-Hilfe-Ausbildung • Sozialdienste • Krisenhilfe • Hospizarbeit • Jugendarbeit

1953 vom Malteserorden und der Caritas

ÜBER

250 RETTUNGSWACHEN

SLOGAN „… weil Nähe zählt“

FUNKRUFNAMEN 4m / Johannes 2m / Malta

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

2

Organisation des Rettungsdienstes normten Notfallkoffer bzw. -rucksack untergebracht. Elektronische Medizinprodukte (z. B. EKG-Gerät, Beatmungsgerät) sind aus der Halterung, die zugleich die Ladestation für den Akku ist, herausnehmbar. Die DIN EN 1789 Typ C – Mobile Intensive Care Unit (MICU) definiert die Abmessungen und die Ausstattungsmerkmale von RTWs EU-weit.

2.3 Rettungsmittel und Rettungskette 2.3.1 Rettungsmittel In Rettungswachen werden die für den bodengebundenen Rettungsdienst erforderlichen Rettungsmittel und das notwendige Personal einsatzbereit vorgehalten (▶ Abb. 2.3). Rettungsmittel sind bodengebundene Fahrzeuge und Wasser- oder Luftfahrzeuge des Rettungsdienstes einschließlich des Rettungsmaterials sowie die Geräte zu deren Transport. Krankentransportwagen (KTW) • Der KTW (▶ Abb. 2.4a) ist für den Krankentransport und damit für die Beförderung kranker, verletzter oder hilfsbedürftiger Personen („NichtNotfall-Patienten“) ausgestattet. Die Abmessungen und Ausstattungsmerkmale sind EU-weit genormt. Im Wesentlichen besteht die Mindestausstattung aus Patiententrage, Tragestuhl, Sauerstoffanlage, Absaugpumpe, tragbarer Notfallausrüstung und Verbandmaterial. Weiteres medizinisches Gerät wird freiwillig durch den Leistungserbringer oder aufgrund von Regelungen im Rettungsdienstbereich bereitgestellt. Die DIN EN 1789 Typ A1 und Typ A2 definiert zwei Typen von KTW: ● A1: Patient Transport Ambulance (für einen Patienten) ● A2: Patient Transport Ambulance (für einen oder mehrere Patienten) Rettungstransportwagen (RTW) • Die Fahrzeuge (▶ Abb. 2.4b) sind für die Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort ausgestattet. Vorgehalten werden Notfallmedikamente und Medizinprodukte, die für die Versorgung der Patienten und die Sicherstellung ihrer Transportfähigkeit sowie für ihre Beförderung in eine für die weitere Versorgung geeignete Behandlungseinrichtung benötigt werden. Für die Patientenversorgung direkt am Einsatzort sind wesentliche Teile der notfallmedizinischen Ausrüstung transportabel in einem gesondert ge-

Notarztwagen (NAW) und Rendezvous-System • Ein NAW ist formal jeder RTW nach DIN EN 1789 Typ C – Mobile Intensive Care Unit (MICU), der zusätzlich einen Notarzt oder eine Notärztin für die Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden von Notfallpatienten sowie für deren fachgerechte Betreuung während des Transports befördert. Das Rendezvous-System (▶ Abb. 2.5) hat seinen Ursprung im Jahr 1964 am Universitätsklinikum Heidelberg: RTW und NEF werden parallel alarmiert, fahren unabhängig voneinander zum Notfallort und treffen sich erst dort. Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) • Das NEF (▶ Abb. 2.6) ist ein Rettungsmittel, das den Notarzt oder die Notärztin im Rendezvous-System, aber auch zur selbstständigen Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort transportiert. Das NEF ist nicht für den Transport von Notfallpatienten vorgesehen. Die DIN 75 079 definiert die Abmessungen und die Ausstattungsmerkmale von NEF deutschlandweit. Intensivtransportwagen (ITW) • Der ITW (▶ Abb. 2.7) ist speziell für den Transport von intensivpflichtigen Patienten vorgesehen und dafür zusätzlich mit speziellen intensivmedizinischen Geräten ausgestattet. Er ist größer und geräumiger als der RTW nach DIN EN 1789 Typ C – Mobile Intensive Care Unit (MICU). Der größere Innenraum bietet mehr Arbeitsraum für die Besatzung und ermöglicht den Einsatz zahlreicher zusätzlich mitgeführter intensivmedizinischer Geräte („rollende Intensivstation“).

Rettungsmittel

Abb. 2.3 Häufig eingesetzte Rettungsmittel, Besatzung und Transportkapazität.

Rettungstransportwagen (RTW)

NotSan + NA

Krankentransportwagen (KTW)

Notarztwagen (NAW)

Rettungshubschrauber (RTH)

2 RA/RS/RH

RA/RS + NotSan + NA

NotSan + NA + Pilot

1 Person liegend oder 1 Person sitzend

1 Person liegend

1 Person liegend

Transportkapazität

Besatzung

RA/RS + NotSan

NotarzteinsatzFahrzeug (NEF)

1 Person liegend oder 1 Person sitzend

Die Besatzung kann länderspezifisch variieren. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023 36

Rettungsmittel und Rettungskette Abb. 2.4 Rettungswagen (RTW) und Krankentransportwagen (KTW).

a

b

c

d

KTW dienen dazu, kranke, verletzte oder hilfsbedürftige Personen zu transportieren („Nicht-Notfall-Patienten“). RTW sind für die Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort ausgestattet. a Der RTW, hinten im Bild, ist größer als der KTW, da mit ihm Notfallpatienten transportiert werden. Im KTW fehlen medizinische Großgeräte (z. B. EKG). b RTW mit geöffneter Flügeltür. Die 2-flügelige Tür schafft Raum für das Ein- und Ausladen von Patienten mithilfe der Fahrtrage. Die Fahrtrage befindet sich auf einem hydraulischen Tisch, der nach hinten ausgefahren und anschließend abgesenkt wird. So kann das Rettungsdienstpersonal rückenschonend arbeiten. c Patientenraum eines RTW. Der Patient fährt immer mit dem Kopf voraus, damit er optimal versorgt werden kann. Hinten an der Tür fehlt der zum Arbeiten notwendige Platz. Neben den Sitzmöglichkeiten für NotSan oder NA befinden sich an der Wand Geräte wie EKG, Absaugpumpe, Beatmungsgerät und Perfusor (Spritzenpumpe, mit der man i. v. Medikamente verabreichen kann). Am Fußteil der Trage befindet sich ein Schrank für O2-Flaschen. Diese müssen gut gesichert transportiert werden. d Klimaregler im Patientenraum eines RTW. Zusätzlich zur Innentemperatur werden Uhrzeit und Datum angezeigt. Fotos: © K. Oborny/Thieme

Abb. 2.5 Rendezvous-System.

Abb. 2.6 Notarzteinsatzfahrzeug (NEF).

RA/RS + NotSan

RTW

Notfallort

NA + NotSan

Das NEF transportiert den Notarzt oder die Notärztin sowie Ausrüstung. Ein Transport von Patienten ist nicht möglich. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

NEF RTW und NEF werden parallel alarmiert, fahren getrennt zum Notfallort und treffen sich erst dort. 37

2

Organisation des Rettungsdienstes Abb. 2.7 Intensivtransportwagen (ITW). ITW sind für den Transport von intensivpflichtigen Patienten mit zusätzlichem intensivmedizinischem Gerät ausgestattet. a Innenraumausstattung eines ITWs. b ITW werden an Standorten vorgehalten, an denen häufig Fahrten mit intensivpflichtigen Patienten erforderlich sind. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

Abb. 2.8 Rettungstransporthubschrauber (RTH). Auf Langstrecken, bei der Erkundung von Einsatzstellen aus der Luft und bei schwer zugänglichen Einsatzstellen ist der RTH von unschätzbarem Wert. a Verladen eines Patienten in einen RTH. b Innenraum eines RTH. Quelle: DRF Stiftung Luftrettung

a

b

Schwerlastrettungstransportwagen (S-RTW) • Diese Fahrzeuge dienen dazu, stark adipöse Patienten zu transportieren (ab ca. 140 kg Körpergewicht). Sie sind ebenfalls größer als RTW nach DIN EN 1789 Typ C – Mobile Intensive Care Unit (MICU). Der größere Innenraum bietet mehr Arbeitsraum für die Besatzung und ermöglicht das Mitführen spezieller Fahrtragen mit erweiterter Liegefläche für adipöse Patienten. Dafür ist die Fahrtrage im Schwerlastrettungswagen (S-RTW) mit elektrohydraulischem Antrieb ausgestattet, vgl. das Kapitel „Besondere Patientengruppen (S. 535)“. Rettungstransporthubschrauber (RTH) • Der RTH (▶ Abb. 2.8) gehört als „fliegender Notarztwagen (NAW)“ zum luftgebundenen Rettungsdienst. Wesentliche Vorteile sind Schnelligkeit und größere Unabhängigkeit von Verkehrsund Geländebedingungen. Nachteile sind der hohe Geräuschpegel und die räumliche Enge im Inneren, welche die Betreuung des Notfallpatienten erschwert. Die Einsatzfähigkeit ist von Wetter und Tageszeit abhängig. RTH können teilweise nur „auf Sicht“ fliegen und sind daher nachts und bei schlechtem Wetter nur eingeschränkt einsetzbar. Beachten Sie die besonderen Sicherheitsvorkehrungen bei der Landung des Hubschraubers (▶ Abb. 2.9).

RETTEN TO GO











Rettungsmittel ●

38

Krankentransportwagen (KTW): Aufgabe: Krankentransport, d. h. Beförderung kranker, verletzter oder hilfsbedürftiger Personen



Rettungstransportwagen (RTW): Aufgabe: Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort. In einem RTW werden Notfallmedikamente und Medizinprodukte für die Versorgung und Sicherstellung der Transportfähigkeit von Notfallpatienten sowie für ihre Beförderung unter fachgerechter Betreuung in eine für die weitere Versorgung geeignete Behandlungseinrichtung vorgehalten. Notarztwagen (NAW): formal jeder RTW, der zusätzlich einen Notarzt oder eine Notärztin befördert für die Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden von Notfallpatienten sowie deren fachgerechte Betreuung während des Transports Notarzteinsatzfahrzeug (NEF): Aufgabe: Transport eines Notarztes oder einer Notärztin im Rendezvous-System, aber auch zur selbstständigen Durchführung von Maßnahmen zur Lebensrettung oder zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort; keine Transportmöglichkeit für Notfallpatienten Intensivtransportwagen (ITW): Transport intensivpflichtiger Patienten, zusätzlich ausgestattet mit intensivmedizinischen Geräten, größere Abmessungen Schwerlastrettungstransportwagen (S-RTW): Transport adipöser Patienten, ausgestattet mit zusätzlicher Fahrtrage mit elektrohydraulischem Antrieb, größere Abmessungen Rettungstransporthubschrauber (RTH): Transport von Patienten im luftgebundenen Rettungsdienst mit notärztlicher Begleitung

Rettungsmittel und Rettungskette Abb. 2.9 Korrektes Verhalten bei der Landung eines Rettungstransporthubschraubers.

ausreichend Abstand zu Bäumen, Häusern, Masten, Leitungen usw.

25 m

Landebereich

Aufsetzfläche

Bli • frei von Hindernissen • keine losen Gegenstände

ck ko nt a 4 m kt a

• ebener und fester Untergrund • keine losen Gegenstände

ufn

eh me

25 m

n!

4m • Y-Stellung (beide Arme seitlich nach oben strecken) • mit dem Rücken zum Wind • möglichst Windanzeiger (Tuch, Fahne) halten • Augen mit Brille vor aufgewirbeltem Staub bzw. Schnee schützen

Keine Annäherung von hinten (Heckrotor)!

Fahrzeugtüren und -fenster schließen!

Lose Gegenstände sichern!

• Nur nach Aufforderung an den Hubschrauber herantreten! • Blickkontakt herstellen! • Nur vorn um den Hubschrauber herumgehen! • Nur von Talseite nähern!

Insbesondere während der Landung und des Starts bergen Hubschraubereinsätze Gefahren. Dargestellt sind die wichtigsten Verhaltensregeln. Zusätzlich müssen Patienten, die sich außerhalb eines RTWs oder eines anderen schützenden Raumes befinden, während der Landung vor dem Abwind des Rotors abgeschirmt werden (Körperabschirmung). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

2.3.2 Rettungskette Definition Rettungskette Die Rettungskette beschreibt eine bestimmte Reihenfolge von Maßnahmen und Stationen bei der Notfallrettung. Eine optimale Abfloge gewährleistet die bestmögliche Versorgung von Notfallpatienten.

Bei der Versorgung von Notfallpatienten ist ein gutes Zeitmanagement entscheidend. Den reibungslosen Ablauf der Rettungsmaßnahmen soll die von Prof. Dr. Ahnefeld entwickelte Rettungskette (▶ Abb. 2.10) gewährleisten: Greifen alle Glieder dieser Kette ineinander, werden Patienten professionell und strukturiert notfallmedizinisch versorgt und Folgeschäden und -kosten (z. B. langjährige Arbeitsuntauglichkeit, Rehabilitationsmaßnahmen) verhindert.

39

2

Organisation des Rettungsdienstes Abb. 2.10 Glieder der Rettungskette.

ERSTHELFER

RETTUNGSDIENST Aufgaben des Rettungsdienstes

Absichern der Unfallstelle

• lebensrettende Maßnahmen durchführen • gesundheitliche Schäden verhindern • Transportfähigkeit herstellen • Transport unter fachgerechter Betreuung

Notruf

seit 1991 EU-einheitliche Notrufnummer 112

§§

Notruf: „5W“ beantworten § 323 StGB: Erste-Hilfe-Pflicht

Erste Hilfe

KLINIK Aufgaben der Klinik • ärztliche und pflegerische Hilfeleistung (Feststellen, Heilen oder Lindern von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden) • Geburtshilfe • Unterbringung und Verpflegung der Patienten

Nofallversorgung Ziele der Ersten Hilfe • Leben erhalten • Leiden lindern • weitere Verletzungen oder Erkrankungen verhindern • Gesundheit fördern

Transport

klinische Versorgung

Die Rettungskette versinnbildlicht den Ablauf eines Notfalleinsatzes vom Notruf bis zur klinischen Versorgung des Patienten. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Notruf Fallbeispiel

Rettungskette*

Der Aufgabenträger des bodengebundenen Rettungsdienstes errichtet und unterhält eine unter der Notrufnummer 112 ständig erreichbare und betriebsbereite Rettungsleitstelle (S. 30). Bevor der Leitstellendisponent den Rettungsdienst als professionelle Hilfe an den Notfallort entsendet, fragt er die wesentlichen Informationen ab: ● Wo ist der Einsatzort? ● Was ist passiert? ● Wie viele Verletzte oder Erkrankte gibt es? ● Welche Verletzung oder Erkrankung liegt vor? ● Wer meldet den Notfall?

Erste Hilfe

© alphaspirit/stock.adobe.com

Herr Meyer (72) und seine Frau (70) haben ihre Kinder und Enkelkinder zum Sonntagsessen eingeladen. Tochter Emma (49) kommt etwas früher, um in der Küche zu helfen. Als Herr Meyer Kartoffeln schält, fühlt er plötzlich einen „Druck auf der Brust“ und muss sich hinsetzen. Aufgrund zusätzlicher Atembeschwerden und „stechender Brustschmerzen“ bekommt er panische Angst und ruft seine Tochter um Hilfe. Diese reagiert sofort und alarmiert telefonisch den Rettungsdienst. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Sofortmaßnahmen Die Sofortmaßnahmen werden von Ersthelfenden durchgeführt. Sie können Leben retten! Dazu gehören z. B. die Lagerung der Patienten, die Blutstillung, die Absicherung einer Unfallstelle und die psychische Betreuung.

40

Die Erste Hilfe ist ein wesentlicher Bestandteil der Rettungskette bis zum Eintreffen des angeforderten Rettungsdienstes (= therapiefreies Intervall). Die eingeleiteten Maßnahmen können das Ergebnis der Behandlung, das „Outcome“ (engl. = Ergebnis, Resultat), erheblich verbessern.

Fallbeispiel Fortsetzung – Rettungskette Herr Meyer ist sehr aufgeregt und hat Todesangst. Seine Tochter ist die ganze Zeit bei ihm und versucht, ihn zu beruhigen. Sie setzt ihn möglichst aufrecht auf den Küchenstuhl. Sie öffnet das Fenster und sorgt dafür, dass ihr Vater den engen Pullover auszieht, um besser Luft holen zu können.

Rettungsdienst Der Rettungsdienst ist für die akute Gefahrenabwehr zuständig. Wenn nötig, werden weitere Fachkräfte (z. B. notärztliche Unterstützung) hinzugezogen. Der Rettungsdienst betreut den Patienten psychisch und kümmert sich darum, dass seine Vitalfunktionen (Bewusstsein, Atmung, Kreislauf) aufrechterhalten bzw. wiederhergestellt werden.

Funk im Rettungsdienst

Fallbeispiel Fortsetzung – Rettungskette 10 Minuten nach dem Notruf trifft der Rettungsdienst ein. Die Notfall- und Rettungssanitäter begrüßen Herrn Meyer und beginnen strukturiert mit der notfallmedizinischen Versorgung. Dabei erklären sie Herrn Meyer in für ihn verständlichen Begriffen ihr Vorgehen. Der RS misst zunächst den Blutdruck und schreibt anschließend ein 12-Kanal-EKG („großes EKG“). Gleichzeitig legt der NotSan (nach Herrn Meyers Zustimmung) einen venösen Zugang für Medikamente. Die gleichzeitig mit dem Rettungsdienst alarmierte Notärztin trifft ebenfalls ein. Sie stellt die Verdachtsdiagnose akutes Koronarsyndrom (S. 300) und verabreicht entsprechende Medikamente. Parallel meldet das Rettungsteam den Patienten in einer Klinik an. Nachdem sich Herr Meyers Zustand stabilisiert hat, wird er für den Transport vorbereitet. Dabei arbeiten alle Beteiligten Hand in Hand: Die Tochter redet beruhigend mit ihm, das Rettungsdienstpersonal lagert Herrn Meyer auf die Transporttrage und transportiert ihn in den Rettungswagen. Die Notärztin informiert die Ehefrau über die aufnehmende Klinik und erklärt auch dem Patienten kurz, welche Untersuchungen im Krankenhaus folgen werden. Danach verabschiedet sich das Rettungsteam und fährt in das nächstgelegene Krankenhaus mit integriertem Herzkatheterlabor.

Krankenhaus – Übergabe des Patienten Die Übergabe des Patienten an ein Krankenhaus (die Zielklinik) ist das letzte Glied der Rettungskette: Eine klar strukturierte und präzise Übergabe ist essenziell für eine qualifizierte Behandlung und Weiterversorgung. Bis zur abschließenden Übernahme durch den Leiter des Notaufnahmeteams trägt der Leiter des Rettungsteams die Verantwortung für den Notfallpatienten. Wichtige Einflussfaktoren auf den Erfolg der Übergabe sind Kommunikation (S. 169), Teamarbeit und Fehlermanagement (S. 23). Voranmeldung im Krankenhaus • Die Voranmeldung im Krankenhaus ist für eine effektive, zielführende und möglichst nahtlose Weiterbehandlung des Patienten wichtig. Führen Sie daher bei jedem Einsatz über die Rettungsleitstelle oder persönlich per Telefon an die Notfallzentrale eine Voranmeldung durch! So kann die Klinik z. B. den Schockraum vorbereiten, OP-Kapazitäten überprüfen und sicherstellen, alle notwendigen Fachdisziplinen informieren und die Bildgebung vorbereiten. Ablauf der Übergabe • Im Allgemeinen erfolgt die Übergabe des Patienten in der Notaufnahme oder in einer weiterbehandelnden Klinikeinheit (z. B. Intensivstation, Kreißsaal). Bei der Übergabe werden in einem strukturierten Gespräch folgende Informationen übermittelt, vgl. die Hinweise zur Kommunikation in dieser Situation (S. 169): ● Vorstellung des Patienten (Name und Alter) ● Verdachtsdiagnose, ggf. Unfallursache und -mechanismus ● vitale Situation, z. B. nach cABCDE-Schema (S. 183) ● präklinisch durchgeführte Maßnahmen ● ggf. Dauermedikation Bei der Übergabe wird zudem das vollständig und leserlich ausgefüllte Einsatzprotokoll übergeben. Nach dem Übergabegespräch wird der Patient gemeinsam vom Notaufnahme- und Rettungsteam umgelagert, am Übergabeplatz der Notaufnahme oder ggf. im Schockraum. Nach der vollständigen Übergabe ist das Rettungsteam von

seiner Patientenverantwortung entbunden und kann seine Einsatzbereitschaft wiederherstellen.

Fallbeispiel Fortsetzung – Rettungskette Herr Meyer wird in das nächstgelegene Krankenhaus mit integriertem Herzkatheterlabor transportiert. Dort empfängt ihn das klinische Personal, dem Herr Meyer durch die Voranmeldung angekündigt worden war. Die Notärztin informiert das klinische Personal über alle geleisteten Versorgungsmaßnahmen (z. B. Puls- und Blutdruckwerte, verabreichte Medikamente) und Ergebnisse der Anamnese (z. B. Allergien, bekannte Vorerkrankungen) und verabschiedet sich von Herrn Meyer.

RETTEN TO GO Rettungskette ●



Definition: optimale Reihenfolge von Maßnahmen und Stationen bei der Notfallrettung zur bestmöglichen Versorgung von Notfallpatienten Glieder der Rettungskette: – Sofortmaßnahmen durch Ersthelfende (z. B. Sichern der Unfallstelle, Lagerung) können lebensrettend sein. – Der Notruf geht bei einer Rettungsleitstelle ein. Der Leitstellendisponent nimmt ihn entgegen und sendet den Rettungsdienst an den Notfallort. – Erste Hilfe: Ersthelfende nutzen die Zeit, bis der Rettungsdienst eintrifft. Ihre Maßnahmen können das Behandlungsergebnis (Outcome) erheblich verbessern. – Der Rettungsdienst ist für die Durchführung von lebensrettenden Maßnahmen oder von Maßnahmen zur Verhinderung schwerer gesundheitlicher Schäden bei Notfallpatienten am Notfallort (z. B. Aufrechterhalten der Vitalfunktionen, psychische Betreuung) zuständig. Wenn nötig, werden weitere Fachkräfte (z. B. Notarzt/ Notärztin) hinzugezogen. – Krankenhaus: Die Übergabe des Patienten an eine geeignete Zielklinik ist das letzte Glied der Rettungskette und dient der weiteren professionellen, medizinischfachlichen Betreuung des Patienten.

2.4 Funk im Rettungsdienst Definition Funk Beim Funken werden Informationen mithilfe elektromagnetischer Wellen übermittelt. Diese breiten sich drahtlos im Raum aus und dienen als Transportmittel für Sprache oder digitalisierte Informationen. Menschen können sie nicht wahrnehmen. In der Rettungsleitstelle werden die Informationen meistens per Telefon über die Notrufnummer 112 aufgenommen. Sobald die Informationen verarbeitet wurden, d. h., sobald das geeignete Rettungsmittel ausgewählt und alarmiert wurde, werden die Einsatzkräfte mithilfe von Sprechfunk koordiniert und geführt. Der Sprechfunk ist damit ein wichtiges Führungsinstrument im Rettungsdienst und jede Einsatzkraft sollte den Umgang mit den Sprechfunkgeräten beherrschen. Da die Anforderungen wachsen, wird der Analogfunk heute allmählich durch den Digitalfunk abgelöst.

41

2

Organisation des Rettungsdienstes

2.4.1 Rechtliche Grundlagen Voraussetzungen für die Teilnahme am Sprechfunk • Als Notfall- oder Rettungssanitäter dürfen Sie Funkanlagen der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) betreiben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: ● Sie müssen erfolgreich einen Sprechfunklehrgang des Bundeslandes, in dem Sie tätig sind, absolviert haben. ● Es dürfen nur Sprechfunkgeräte eingesetzt werden, die der Technischen Richtlinie BOS (TR BOS) entsprechen oder durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS) technisch überprüft und zertifiziert wurden. Wichtige Vorschriften • Die gesetzliche Grundlage ist das Telekommunikationsgesetz (TKG). Auf Basis des § 57 (Abs. 4) TKG hat das Bundesministerium des Innern (BMI) die BOSFunkrichtlinie erlassen. Diese regelt insbesondere, wer zu den Berechtigten des BOS-Funks gehört (z. B. Polizei). Der Rettungsdienst ist rein formal nicht berechtigt, BOS-Funk zu nutzen (▶ Abb. 2.11). Zum BOS-Funk zugelassen ist er nur, wenn er im öffentlichen Auftrag handelt, also von Stadt oder Landkreis beauftragt wurde. Ist der Auftrag nicht gegeben, erhält der Rettungsdienst keine Zulassung durch das BMI. Für den Einsatz und den Betrieb von Funkgeräten gibt es Dienstvorschriften – die FwDV/DV 800 für die Informationsund Kommunikationstechnik im Einsatz, die FwDV/DV 810 für den Sprech- und Datenfunkverkehr. Diese Vorschriften gelten nur für BOS. FwDV/DV 800 ist allgemein für den Betrieb zuständig, die FwDV/DV 810 basiert auf der FwDV/DV 800. DV steht für Dienstvorschrift, Fw für Feuerwehr. Abb. 2.11 Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) im Überblick.

zum BOS gehören

Hilfsorganisationen: Deutsches Rotes Kreuz (DRK) Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) Malteser Hilfsdienst (MHD) Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG)

Die Teilnehmende des Sprechfunkverkehrs unterliegen dem Fernmeldegeheimnis (Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetz, § 3). Schon ein neugieriges Abhören des Funkverkehrs der Feuerwehr oder der Polizei durch rettungsdienstliches Personal kann strafrechtliche Konsequenzen haben.

2.4.2 BOS-Sprechfunkgeräte Bestandteile eines Funkgeräts • Ein Funkgerät besteht aus einem Sende- und einem Empfangsteil, einem Bedienfeld, einer Antenne und der Energieversorgung. An der Bedienstation können Sie Einstellungen vornehmen (z. B. weitere Unterteilung der Wellenbereiche/Frequenzen in ein Oberoder Unterband im Analogfunk). Hier befindet sich außerdem eine Verbindung zu einem Handapparat mit Mikrofon. Typen von Funkgeräten • Aktuell werden in Deutschland viele unterschiedliche Funkgeräte im Rettungsdienst verwendet – u. a., weil einige Bundesländer bereits komplett auf Digitalfunk umgestellt haben und andere noch mit einer Mischung aus Digital- und Analogfunkgeräten arbeiten. Grundsätzlich kommen im Rettungsdienst zwei unterschiedliche Arten von Funkgeräten zum Einsatz (▶ Abb. 2.12): ● Fahrzeugfunkgeräte werden hauptsächlich zur Kommunikation zwischen Rettungsleitstelle und Einsatzfahrzeugen eingesetzt, d. h. für größere Entfernungen. Im Analogfunk werden sie häufig als „4-m-Sprechfunkgeräte“ und im Digitalfunk als MRTs (Mobile Radio Terminals) bezeichnet. ● Handfunkgeräte dienen überwiegend der Kommunikation an Einsatzstellen (geringere Entfernung) und werden als „2-m-Sprechfunkgeräte“ im Analogfunk und als HRTs (Hand Radio Terminals) im Digitalfunk bezeichnet.

Abb. 2.12 Mobiles Sprechfunkgerät.

Feuerwehr Betreiber von Rettungshubschraubern Technisches Hilfswerk Bundeszollverwaltung Polizeien der Länder Polizei- und Katastrophenschutzbehörden, die dem Bundesminister des Inneren unmittelbar unterstehen Katastrophenschutzbehörden der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände private Organisationen des Katastrophenschutzes

Der Rettungsdienst benötigt eine Zulassung durch das Bundesministerium des Innern, um BOS-Funk zu nutzen. 42

! Merke Fernmeldegeheimnis

Antenne Notruftaste

Drehknopf (Lautstärke/Gruppe) oberes Mikrofon Sprechtaste

Display

Lautsprecher Bedienfeld unteres Mikrofon

Der Notrufknopf befindet sich in der Regel oben auf dem Gerät (hier nicht sichtbar). Die Seitentasten sind oft programmierbar, ein möglicher Nutzen ist die Umschaltung DMO/TMO. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Funk im Rettungsdienst

RETTEN TO GO

RETTEN TO GO

Funk im Rettungsdienst

Vorteile des Digitalfunks

Beim Funken werden Informationen mithilfe elektromagnetischer Wellen übermittelt, die sich drahtlos im Raum ausbreiten. Gesetzliche Grundlage ist das Telekommunikationsgesetz (TKG), auf dessen Basis das Bundesministerium des Innern die BOS-Funkrichtlinie (BOS = Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben) erlassen hat. Teilnehmende des Sprechfunkverkehrs unterliegen der Verschwiegenheitspflicht. 4-m-Sprechfunkgeräte („4 m“ bezieht sich auf die Wellenlänge) oder MRTs (Mobile Radio Terminals) sind fest im Rettungsfahrzeug eingebaut und für die Kommunikation über eine größere Entfernung, z. B. zwischen Rettungsleitstelle und Einsatzfahrzeug, geeignet. 2-m-Geräte (Hand Radio Terminals) sind als Handfunkgeräte für kürzere Entfernungen vorgesehen.









Der Digitalfunk bietet ein bundesweit einheitliches, flächendeckendes Netz für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) und ermöglicht eine behördenübergreifende Kommunikation. Bei einem Großschadensfall können Sie bundesweit und organisationsübergreifend mit mehreren Gesprächsgruppen in Funkkontakt stehen, z. B. Rettungsdienst mit Feuerwehr. Für den Kontakt der Gesprächspartner untereinander ist keine Relaisstation notwendig. Der digitale Funkverkehr ist abhörsicher verschlüsselt, Privatpersonen können den Funkverkehr nicht mithören. In begrenztem Umfang können Daten übertragen werden.

2.4.4 Vorgang des Funkens 2.4.3 Analog- und Digitalfunk

Inbetriebnahme von Sprechfunkgeräten

Analogfunk • Grundsätzlich ist nur eine Verbindung von Funkgerät zu Funkgerät möglich. Damit dennoch mehrere Fahrzeuge in einem Landkreis oder einer Stadt auf große Entfernung untereinander und mit der Rettungsleitstelle kommunizieren können, werden Zwischenfunkstellen genutzt, die Relaisstationen. Diese empfangen das Signal eines sendenden Funkgeräts und geben es verstärkt wieder ab, so dass es in größerer Entfernung empfangen werden kann.

Bevor Sie ein Funkgerät in Betrieb nehmen, müssen Sie sich folgende Fragen stellen: ● Ist die zu bedienende Funkanlage vollständig? Achten Sie darauf, ob eine Antenne, eine Bedienungseinheit und ggf. Zubehör vorhanden sind. Achten Sie auch auf sichtbare Schäden am Funkgerät sowie an Kabeln, Leitungen und Anschlusssteckern. Ein Funkgerät, das Schäden aufweist oder unvollständig ist, dürfen Sie nicht einsetzen. ● Ist die zu bedienende Funkanlage richtig eingestellt? Hier ist zwischen Analogfunk- und Digitalfunkgeräten zu unterscheiden. Welche Einstellungen konkret richtig sind, ist in den Landkreisen und Städten unterschiedlich geregelt. – Achten Sie im Analogfunk darauf, dass der Kanal, die Bandlage (U – Unterband, O – Oberband) und die Verkehrsart (W – Wechselverkehr, G – Gegenverkehr) richtig eingestellt sind. Bei Fahrzeugfunkgeräte muss grundsätzlich der Betriebskanal (dreistellige Zahl), der Gegenverkehr (G) und das Unterband (U) eingestellt sein. – Bei Digitalfunkgeräten müssen Sie darauf achten, dass der richtige Modus (TMO oder DMO, s. o.) und die richtige Gruppe eingestellt sind.

Digitalfunk • Da der analoge Funk den heutigen Leistungsanforderungen oft nicht mehr gerecht wird, wird der Ausbau der digitalen Funktechnik in Deutschland vorangetrieben. Die Technik ähnelt der von Mobiltelefonen: Grundlage für die Kommunikation ist ein bundesweit einheitliches, flächendeckendes Netz. Damit sich Digitalfunkgeräte im Netz einbuchen können, benötigen sie eine BOS-Sicherheitskarte (vergleichbar mit der SIM-Karte eines Mobiltelefons). Dieser Betriebsmodus wird als Trunked Mode Operation (TMO) bezeichnet und bietet mehrere Vorteile: ● Der Digitalfunk ist abhörsicher verschlüsselt, sodass Privatpersonen den Funkverkehr nicht mithören können. ● Das einheitliche Netz erlaubt in einem Großschadensfall ein bundesweites, organisationsübergreifendes Funken (z. B. zwischen Rettungsdienst und Feuerwehr). ● Eine Übertragung von Daten ist (in begrenztem Ausmaß) möglich. ● Notrufe können abgesetzt werden. ● Weitere Optionen sind Telefonieren, GPS-Ortung, das Funkmeldesystem (S. 46) und das Versenden von Short Data Service (ähnlich SMS). Digitale Funkgeräte lassen sich in einen Direktmodus (DMO – Direct Mode Operation) umschalten. Damit können Sie auch ohne Netzanbindung in einem begrenzten Bereich (Einsatzstelle) von Funkgerät zu Funkgerät kommunizieren.

Überprüfen Sie die Laustärkeeinstellung des Funkgeräts.

Grundsätzliches Das reibungslose Übermitteln von Informationen gelingt nur mit entsprechender Funkdisziplin, d. h., im Unterschied zum Telefonieren müssen Sie sich beim Funken exakt an bestimmte Regeln halten. Wird ein Digitalfunkgerät eingeschaltet, läuft automatisch ein Anmeldevorgang. Beachten Sie, dass das Funkgerät in dieser Zeit nicht bereit ist. Nach dem Drücken der Sprechtaste müssen Sie einen Moment (bis zu 0,3 s) warten, bis ein Signalton ertönt. Erst danach ist die Informationsübertragung möglich. Während gesprochen wird, können alle anderen Teilnehmer grundsätzlich nur hören. Nur die Leitstelle kann das Gespräch unterbrechen. Notrufe der Benutzer haben höchste Priorität und unterbrechen laufende Gespräche.

43

2

Organisation des Rettungsdienstes Abb. 2.13 Beispielhafter Aufbau eines Funkrufnamens. Der hier gezeigte, fiktive Funkrufname gehört zum RTW 3 der Johanniter-Unfall-Hilfe, stationiert an der Rettungswache 4 in Musterstadt. Der Funkrufname ist häufig außen am Fahrzeug angebracht. Die Kennziffern für den Fahrzeugtyp sind bundesweit nicht einheitlich. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme:

KTW 85

Rotkreuz

1

2

1 Johannes

2 3

Sama

82

NEF

83

RTW

Akkon

2 Musterstadt

Akkon Kennwort der Organisation

Musterstadt 4/ Standort der Rettungswache + ggf. Nummer der Wache

! Merke Grundsätze beim Funken

Es gilt der Grundsatz: Erst zuhören und denken, dann Taste drücken, dann erst sprechen. Alle Gesprächsteilnehmer werden mit „Sie“ angesprochen. Fragen werden mit dem Wort „Frage“ eingeleitet.

Aufbau eines Funkrufnamens Die Rufnamen sind im Funkrufnamenkatalog der Bundesländer gelistet. Sie sind so aufgebaut (▶ Abb. 2.13): 1. Kennwort der Behörde oder Organisation (▶ Tab. 2.2) 2. Bezeichnung des Standorts der Rettungswache (z. B. Stuttgart 1, 2 oder 3 – je nachdem, wie viele Rettungswachen es im Leitstellenbereich Stuttgart gibt) 3. Kennziffern für den Fahrzeugtyp (z. B. 85 für einen KTW; gibt es davon mehrere auf einer Rettungswache, werden sie durchnummeriert, also 85–1, 85–2 usw.) Der komplette Rufname eines Fahrzeugs lautet z. B. Rotkreuz Stuttgart 1/85–2.

Arten von Sprechfunknachrichten Gespräche • Das Gespräch ist ein Informationsaustausch zwischen zwei Sprechfunkteilnehmern (▶ Abb. 2.14). Es wird durch das Betätigen der Sendetaste des Sprechfunkgerätes eingeleitet. Danach kann der Anruf durchgeführt werden. Der Sender beginnt mit dem Rufnamen der Gegenstelle, die er kontaktieren möchte. Dann folgt: ● das Wort „von“, ● der eigene Rufname und ● die Aufforderung mit dem Wort „kommen“. Die Bestätigung des Empfängers beginnt mit: „Hier“, ● dem eigenen Rufnamen und ● der Aufforderung mit dem Wort „kommen“. ●

Stuttgart; 2023; Logos: © Deutsches Rotes Kreuz e.V./Malteser Hilfsdienst e.V./Arbeiter-SamariterBund Deutschland/Johanniter-Unfall-Hilfe e.V.

1

4

3

83–3 Kennziffer des Rettungsmittels + ggf. Nummer

Tab. 2.2 Beispiele von Kennwörtern von Organisationen. Organisation

Kennwort

Arbeiter-Samariter-Bund

Sama

Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft

Pelikan

Deutsches Rotes Kreuz

Rotkreuz

Feuerwehr

Florian

Johanniter-Unfall-Hilfe

Akkon

Malteser Hilfsdienst

Johannes

Rettungshubschrauber

Christoph

Rettungsleitstelle

Leitstelle

Technisches Hilfswerk

Heros

Abb. 2.14 Ablauf eines Funkgesprächs.

Leitstelle Musterstadt von Akkon Bamberg 1/83–2, kommen.

Hier Leitstelle Musterstadt, kommen.

Wir benötigen die Polizei an der Einsatzstelle, kommen. Die Polizei ist bereits auf Anfahrt, kommen.

Verstanden. Ende.

Betriebswörter wie „von“, „hier“, „kommen“, „verstanden“ und „Ende“ sollen Missverständnisse und damit unnötige Zeitverluste vermeiden. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023 44

Funk im Rettungsdienst Jetzt kann die eigentliche Nachricht übermittelt werden. Sie sollte kurz und sachlich sein, damit der Funkverkehr nicht unnötig lange blockiert wird. Der Empfänger bestätigt die Aufnahme der Nachricht wie folgt: ● „Hier“ ● eigener Rufnamen, ● „verstanden“, ● „kommen“. Abgeschlossen wird immer mit „Ende“. Durchsagen • Die Durchsage ist eine Nachricht, die für mehrere Empfänger gleichzeitig bestimmt ist. Der Anruf an alle oder mehrere Teilnehmende ist folgendermaßen aufgebaut: ● „Hier“, ● eigener Rufnamen, ● „an“, ● Nennung der betroffenen Teilnehmenden, ● zu übermittelnde Nachricht. ● „Ich wiederhole“ und ● Wiederholung der zu übermittelnden Nachricht. ● Will der Funkende sichergehen, dass alle Teilnehmenden die Nachricht empfangen haben, lässt er den Empfang durch die anderen Teilnehmenden bestätigen. Buchstabiertafel • Schwierige Wörter in einer Nachricht werden buchstabiert (▶ Tab. 2.3).

Notruf Voraussetzungen • Sprechfunker dürfen einen Notruf nur auslösen, wenn Gefahr für Leib oder Leben für die eigenen Einsatzkräfte besteht und unverzügliche Unterstützung erforderlich ist oder eine erhebliche Gefahr für die eigenen Einsatzkräfte besteht. Ablauf • Die Notrufmeldung entstammt der FwDV 7 (Feuerwehrdienstvorschrift 7). Wie der Notruf ausgelöst wird, hängt von der eingesetzten Technik ab. Notrufe können immer per Sprache übermittelt werden und sind so aufgebaut: ● „Mayday, mayday, mayday“, ● „hier“, ● eigener Rufname, ● Standort, ● Lage und ● Aufforderung „Mayday, kommen“. An jedem Digitalfunkgerät gibt es eine Notruftaste. Drücken Sie diese Taste, schaltet das Funkgerät automatisch in den Notrufmodus. Alle laufenden Funkgespräche werden unterbrochen, das Mikrofon wird für eine gewisse Zeit aktiviert. Nun können Sie den Notruf absetzen, ohne die Sendetaste zu drücken. Alle am Sprechfunkverkehr Teilnehmenden sehen im Display des Funkgeräts, wer den Notruf absetzt.

RETTEN TO GO Tab. 2.3 Buchstabiertafel für den Funk im Rettungsdienst. Buchstabe

zu verwendendes Wort

Buchstabe

zu verwendendes Wort

A

Anton

Q

Quelle

B

Berta

R

Richard

C

Cäsar

S

Samuel

D

Doris

T

Theodor

E

Emil

U

Ulrich

F

Friedrich

V

Viktor

G

Gustav

W

Wilhelm

H

Heinrich

X

Xanthippe

I

Ida

Y

Ypsilon

J

Julius

Z

Zacharias

K

Kaufmann

Ä

Ärger

L

Ludwig

Ö

Ökonom

M

Maria

Ü

Übermut

N

Nordpol

CH

Charlotte

O

Otto

SCH

Schule

P

Paula

Vorgang des Funkens ●









Grundsatz: Erst zuhören und denken, dann Taste drücken, dann erst sprechen. Alle Gesprächsteilnehmer werden mit „Sie“ angesprochen. Fragen werden mit dem Wort „Frage“ eingeleitet. Rufname im Funkverkehr: – Kennwort der Hilfsorganisation (z. B. „Rotkreuz“ für „Deutsches Rotes Kreuz“), – Standort der Rettungswache (z. B. Stuttgart 1, 2 oder 3 – je nachdem, wie viele Rettungswachen es im Leitstellenbereich gibt), – Kennziffern für den Fahrzeugtyp (z. B. 85 für KTW; gibt es mehrere auf einer Rettungswache, werden sie durchnummeriert, also 85–1, 85–2 usw.). Funkgespräch: – „Rotkreuz Stuttgart 1/85–2 von Rotkreuz Stuttgart 1/ 85–1, kommen.“ – „Hier Rotkreuz Stuttgart 1/85–2, kommen.“ – Nachricht des Senders: „Achtung: Die Hindenburgstraße ist gesperrt. Fahren Sie über die Benzstraße an. Kommen.“ – Antwort des Empfängers: „Verstanden, Ende.“ Schwierige Wörter in einer Nachricht werden buchstabiert (Buchstabiertafel: für den Buchstaben A wird z. B. der Name Anton verwendet). Bei Gefahr für Leib oder Leben für die eigenen Einsatzkräfte kann über Funk ein Notruf abgesetzt werden. Dieser wird durch Drücken der Notruftaste am Sprechfunkgerät ausgelöst und mit „Mayday, mayday, mayday“ eingeleitet. Er unterbricht alle laufenden Funkgespräche.

45

2

Organisation des Rettungsdienstes

Tab. 2.4 Vom Fahrzeug an die Rettungsleitstelle versandte Statusmeldungen im Funkmeldesystem (FMS). Bedeutung Status 1

frei über Funk

Status 2

einsatzbereit auf der Rettungswache

Status 3

Einsatzauftrag angenommen und unterwegs zum Einsatzort

Status 4

am Einsatzort angekommen (Besatzung ist nicht mehr im Fahrzeug, sondern beim Patienten)

Status 5

Sprechwunsch mit der Rettungsleitstelle

Status 6

das Fahrzeug/die Fahrzeugbesatzung ist nicht einsatzbereit

Status 7

mit einem Patienten auf dem Weg zum Transportziel (z. B. Krankenhaus, Arztpraxis)

Status 8

am Zielort angekommen. Der Patient wird z. B. an das weiterversorgende Personal übergeben.

Status 9

individuell belegbar (z. B. dringender Sprechwunsch, Öffnen von Einfahrtsschranken, Notarzt aufgenommen, Anmeldung im Fremdkreis)

Status 0

Analogfunk: Notruf (sofortige Freischaltung zur Rettungsleitstelle) Digitalfunk: priorisierter Sprechwunsch (Status 0 wird von Seiten der Leitstelle dem Status 5 vorgezogen)

Status im Analogfunkgerät

Bedeutung und angezeigter Text im Digitalfunkgerät*

A

Aufmerksamkeitsruf an alle

C

Melden für Einsatz

c

für sonstige Dienstgeschäfte abgestellt

d

positiv

E

Eigensicherung

F

über Telefon melden

H

Dienststelle anfahren

h

Standort durchgeben

J

Sprechaufforderung

L

aus Einsatz entlassen

o

negativ

P

Sonder- und Wegerechte möglich

U

Alarmglocke bzw. Sirene

u

Status/Funkgerät überprüfen

*nach Vorgabe der FwDV/DV 810 (Stand: 2024)

2.4.5 Das Funkmeldesystem (FMS)

2.4.6 Störungen beim Funken

Grundprinzip • Über Funk werden viele Informationen ausgetauscht, allerdings nicht immer verbal. Im BOS-Funk wird das Funkmeldesystem (FMS) zur Übermittlung von Kurzinformationen zwischen Fahrzeug und Leitstelle (Funkrufname, Fahrzeugstatus, Meldungen der Leitstelle) eingesetzt. So werden die Frequenzen von Standardmeldungen freigehalten und der Funkverkehr wird deutlich entlastet. Funkgeräte haben – wie Telefone – ein Nummernfeld mit den Tasten 1–9 und der 0.

Die Reichweite von Sprechfunkgeräten ist durch die Ausbreitungseigenschaften elektromagnetischer Wellen begrenzt. Funkwellen breiten sich geradlinig aus, also in eine Richtung. Treffen sie auf Gegenstände (z. B. Hauswände), werden sie absorbiert, umgelenkt oder reflektiert. Daher haben Sie auf freier Fläche meist besseren Empfang als in eng bebautem Stadtgebiet (▶ Abb. 2.15).

Statusmeldungen • ▶ Tab. 2.4 zeigt die Bedeutung der Statusmeldungen, die von Rettungsmitteln an die Leitstelle gesendet werden. Auch die Leitstelle kann per Funk über Statusmeldungen Anweisungen versenden. Auf dem Display von Analogfunkgeräten im Rettungsmittel erscheint ein Buchstabe (▶ Tab. 2.5), bei Digitalfunkgeräten ein gekürzter Text.

RETTEN TO GO Funkmeldesystem (FMS) Das FMS dient im BOS-Funk zur Übermittlung von Kurzinformationen (Standardmeldungen) zwischen Fahrzeug und Leitstelle. Erscheint auf dem Display des Funkgeräts z. B. ein H, bedeutet dies: „Fahren Sie Ihre Rettungswache an!“, eine Aufforderung der Leitstelle an das jeweilige Fahrzeug. Das FMS entlastet den Funkverkehr erheblich, da es die Frequenzen von Standardmeldungen freihält.

46

Tab. 2.5 Von der Leitstelle an Fahrzeuge gesendete Statusmeldungen im FMS.

RETTEN TO GO Störungen beim Funken Aufgrund der Ausbreitungseigenschaften der Funkwellen ist der Empfang auf freier Fläche meist besser als in eng bebautem Stadtgebiet.

Funk im Rettungsdienst Abb. 2.15 Störfaktoren bei der Ausbreitung von Funkwellen. Das Wissen über die Eigenschaften der Funkwellen kann Ihnen helfen, Störungen zu beheben oder zu vermeiden. Hindernisse wie Gebäude, Berge oder Bäume können den Empfang durch Beugung, Dämpfung, Abschattung oder Reflexion beeinträchtigen. Dies führt zu einem schlechteren Empfang. Dies können Sie im Digitalfunk z. B. an der geringen Anzahl von Balken neben dem Symbol für die Signalstärke erkennen. Sie können den Empfang verbessern, indem Sie den Standort wechseln oder das Handsprechfunkgerät aufrecht halten. Aus: retten – Notfallsanitäter.

ungestörter Empfang (freie Sicht zum Sender)

Beugung

Thieme: Stuttgart; 2023

Abschattung („Funkloch“)

Reflexion

Dämpfung (Signalabschwächung)

47

II

Medizinische Grundlagen 3 Anatomie und Physiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

4 Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5 Infektionen und Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

3

Anatomie und Physiologie

3.1 Einführung Die Inhalte dieses Kapitels sind nicht in Gänze relevant für Ihre Abschlussprüfung, sollen Ihnen aber beim Verständnis der körperlichen Funktionen und der entsprechenden Störungen helfen – es geht also mehr um Hintergrundwissen als um konkretes „Büffeln“ für die Prüfung.

3.2 Aufbau des Körpers 3.2.1 Organisationsebenen des Körpers Atome und Moleküle • Die Grundbausteine der Materie, also aller Lebewesen und unbelebten Gegenstände, sind die Atome (z. B. Wasserstoff-, Kohlenstoff-, Sauerstoffatome). Moleküle sind Verbindungen einzelner Atome (z. B. Wasser = Verbindung von 2 Atomen Wasserstoff + 1 Atom Sauerstoff). Zellen und Gewebe • Zellen sind die kleinsten Einheiten eines belebten Organismus. In ihnen finden sich verschiedene Organellen mit unterschiedlichen Funktionen. Gruppen von Zellen schließen sich zu spezialisierten Zellverbänden zusammen. Auf diese Weise entstehen verschiedene Gewebe, z. B. Muskel- oder Bindegewebe. Organe und Organsysteme • Die einzelnen spezialisierten (= differenzierten) Gewebe bilden in ihrer Gesamtheit abgeschlossene Funktionseinheiten – die Organe (z. B. Lunge,

50

Herz, Magen). Verschiedene Organe mit gemeinsamer Funktion lassen sich zu Organsystemen zusammenfassen, z. B.: ● Herz-Kreislauf-System (Herz, Blutgefäße) ● Atmungssystem (Nase, Rachen, Kehlkopf, Luftröhre, Bronchien, Lunge) ● Verdauungssystem (Mund, Rachen, Speiseröhre, Magen, Dünn- und Dickdarm, Pankreas, Leber, Gallenwege) ● Harnsystem (Nieren, Harnleiter, Blase, Harnröhre) ● Nervensystem (Gehirn, Rückenmark, periphere Nerven, vegetatives Nervensystem)

3.2.2 Die Zelle Der menschliche Körper besteht aus etwa 10–100 Billionen Zellen (1013−1014), die je nach ihrer Funktion unterschiedliche Formen haben. Folgende Hauptstrukturen sind in fast allen Zellen anzutreffen (▶ Abb. 3.1): ● Die Zellmembran begrenzt die Zelle, d. h., sie bildet eine Barriere zwischen dem Inneren (Intrazellularraum) und dem Raum außerhalb der Zelle (Extrazellularraum). Sie besteht aus einer 2 Schichten, der Lipiddoppelschicht. ● Das Zytoplasma füllt das Zellinnere aus und enthält die Zellorganellen, die „Organe der Zelle“: – Das Zytosol besteht aus Wasser, Proteinen, Fetten, Zuckern sowie positiv bzw. negativ geladenen Ionen (Kationen und Anionen). – Das Zytoskelett besteht aus verschiedenen Eiweißfasern und bildet das Stützgerüst der Zelle. ● Der Zellkern (Nukleus) enthält die Erbinformationen in Form von DNA und kontrolliert die Aktivität und die Funktionen der Zelle. ● Die Zellorganellen sind quasi die Organe der Zellen und haben jeweils bestimmte Funktionen (▶ Tab. 3.1).

Blut und Immunsystem Aufbau des Körpers

▶S. 53

▶S. 50 Herz-Kreislauf-System

▶S. 57 Atmungssystem

Verdauungssystem

▶S. 68

▶S. 76 Harnsystem

▶S. 82

Wasser- und Elektrolyt-Haushalt

Säure-Basen-Haushalt

▶S. 85

Genitalorgane und Schwangerschaft Hormonsystem Temperaturregulation Bewegungssystem Nervensystem Sinnesorgane

▶S. 83

▶S. 86

▶S. 89

▶S. 91

▶S. 92

▶S. 97

▶S. 101

Abb. 3.1 Aufbau einer Körperzelle.

Zellkern Lysosom GolgiApparat

Tab. 3.1 Funktionen der Zellorganellen.

Filamente glattes endoplasmatisches Retikulum raues endoplasmatisches Retikulum

Zellorganellen

Funktion

endoplasmatisches Retikulum (ER)



Ribosomen

Proteinsynthese

Golgi-Apparat

„Sortier- und Verpackungsstation“ für die vom rER gebildeten Proteine für den Transport aus der Zelle heraus

Lysosomen

„Müllabfuhr und Recyclinganlagen der Zellen“, Abbau überalterter Zellbestandteile oder aufgenommener Fremdstoffe

Mitochondrien

„Kraftwerke der Zellen“, bilden Energieträger in Form von ATP (Adenosintriphosphat)

Mitochondrium Zellmembran Zytoplasma Wichtige Zellstrukturen sind der Zellkern, das endoplasmatische Retikulum, der Golgi-Apparat und die Mitochondrien. Aus: Aumüller G, Aust G, Conrad A, Engele J, Kirsch J, Maio G, Mayerhofer A, Mense S, Reißig D et al., Hrsg. Duale Reihe Anatomie. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

RETTEN TO GO Die Zelle Zellen sind die kleinsten Einheiten eines belebten Organismus. Wichtige Strukturen sind die Zellmembran, die die Zelle umschließt, das Zytoplasma, in dem die Zellorganellen liegen, und der Zellkern, der die Erbinformation enthält. Zu den Zellorganellen gehören das endoplasmatische Retikulum, die Ribosomen, der Golgi-Apparat, die Lysosomen und die Mitochondrien.



raues ER: Proteinsynthese glattes ER: Bildung von Hormonen, Fettsäuren und Lipiden, Kalziumspeicher in Muskelzellen

3.2.3 Gewebe des Körpers Nur wenige Zellen, z. B. die Blut- und die Immunzellen, können ihren Aufenthaltsort im Körper verändern. Die meisten Zellen sind in Zellverbänden angeordnet und durch Kontakte mit Nachbarzellen oder umliegenden Strukturen fest an ihrem Platz fixiert. Zusammen mit der Interzellularsubstanz bilden sie die Gewebe des Körpers. Die Interzellularsubstanz, die Gewebeanteile zwischen den Zellen, besteht aus Wasser, Fasern und der Grundsubstanz, die den Geweben ermög-

51

3

Anatomie und Physiologie licht, Wasser zu binden. Folgende Grundgewebearten werden hinsichtlich Aufbau und Funktion unterscheiden: ● Epithelgewebe ● Binde-, Stütz- und Fettgewebe ● Muskelgewebe ● Nervengewebe

Epithelgewebe Grundeigenschaften • Epithelgewebe sind Zellverbände mit sehr dicht sitzenden Zellen und wenig Interzellularsubstanz. Sie werden in der Regel über Blutgefäße des darunterliegenden Bindegewebes versorgt. Funktionen ● Oberflächenepithelien bedecken bzw. begrenzen innere und äußere Oberflächen als Haut oder Schleimhaut. Sie schützen die darunterliegenden Strukturen und erschweren das Eindringen von Krankheitserregern. Zudem sind sie oft an Transportprozessen beteiligt, z. B. für Ionen. Das Epithel im Inneren von Blut- und Lymphgefäßen ist das Endothel. ● Drüsenepithelien bestehen hauptsächlich aus Drüsenzellen. Sie bilden ein Sekret (z. B. Schweiß, Talg oder Hormone). Je nachdem, wohin das Sekret abgegeben wird, werden unterschieden: – Exokrine Drüsen geben das Sekret über Ausführungsgänge an die Oberfläche der Haut oder der Schleimhaut ab (z. B. Schweißdrüse, Speicheldrüse, exokriner Teil der Bauchspeicheldrüse). – Endokrine Drüsen geben das Sekret (Hormone) in die Blutbahn ab (z. B. Hypophyse, Schilddrüse, LangerhansInseln der Bauchspeicheldrüse). ● Sinnesepithelien bestehen aus Epithelzellen, die Sinnesreize aufnehmen. Diese werden über Nerven als elektrische Signale an Gehirn und Rückenmark weitergeleitet. Beispiele sind die Geschmacksknospen der Zunge und die Riechschleimhaut der Nase.

tin (▶ Tab. 3.8), das eine Rolle bei der Steuerung des Hungergefühls spielt.

Muskelgewebe Muskelzellen (Myozyten) können sich zusammenziehen (Kontraktion) und entspannen (Relaxation). Dadurch entstehen Bewegungen. Ermöglicht wird die Kontraktion durch ein Zusammenspiel der Muskelproteine Aktin und Myosin. Nach deren Anordnung werden 3 Arten von Muskelgewebe unterschieden: ● Quergestreifte Skelettmuskulatur besteht aus langgestreckten Muskelzellen, den Muskelfasern (S. 96). Ihre Kontraktion wird willentlich über Gehirn und Rückenmark gesteuert. Die Signale zur Kontraktion erreichen als elektrische Impulse über Nerven die Muskelzellen. ● Die quergestreifte Herzmuskulatur (Myokard) besteht aus verzweigten Zellen, die über Glanzstreifen verbunden sind, über die Reize direkt von Zelle zu Zelle weitergegeben werden. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur ist sie nicht dem Willen unterworfen, sondern wird über ein eigenes Erregungsbildungssystem (S. 61) aus spezialisierten Herzmuskelzellen gesteuert. ● Die glatte Muskulatur befindet sich v. a. in den Wänden von Hohlorganen, also Organen, die in ihrem Inneren einen Hohlraum haben (z. B. Magen, Darm, Harnblase, Speiseröhre). Auch die Gefäßwände haben eine Schicht aus glatter Muskulatur. Die glatte Muskulatur kann nicht willentlich beeinflusst werden. Ihre Kontraktion wird über Nervenendigungen oder durch Dehnung, Hormone oder sonstige Reize ausgelöst.

Nervengewebe Siehe das Kapitel Nervensystem (S. 97).

RETTEN TO GO

Binde-, Stütz- und Fettgewebe

Gewebe des Körpers

Bindegewebe ● Das lockere Bindegewebe (häufigster Typ) füllt die Zwischenräume zwischen benachbarten Strukturen aus. ● Straffes Bindegewebe gibt es u. a. in Sehnen und Bändern. ● Aus retikulärem Bindegewebe bestehen die Milz, die Lymphknoten, die Mandeln und das rote Knochenmark.



● ●

Stützgewebe ● Knorpelgewebe ist fest und druckelastisch. In Gelenken verteilt es den Druck und sorgt für eine glatte Oberfläche, an der Ohrmuschel und der Luftröhre wirkt es formgebend. Da es keine Gefäße enthält, erholt es sich nach Verletzungen meist nur unvollständig. ● Knochengewebe hat Stütz- und Schutzfunktionen und dient als Kalziumspeicher. Es besteht aus Knochenzellen und einer Grundsubstanz aus Mineralstoffen (v. a. Phosphate und Kalzium), Proteinen und Kollagenfasern. Dadurch sind Knochen extrem form- und biegefest; dennoch werden sie ständig umgebaut. Fettgewebe • Das Gewebe besteht aus Fettzellen und wenig Interzellularsubstanz und kommt nahezu überall im Körper vor. Es dient v. a. als Energiespeicher (Speicherfett) und als Polster (Baufett). Fettzellen bilden auch Hormone, u. a. Lep-

52

● ●



Epithelgewebe: – Oberflächenepithel bedeckt innere und äußere Oberflächen in Form von Haut oder Schleimhaut. – Drüsenepithel bildet Drüsen und Sekret. – Sinnesepithel nimmt Reize auf. lockeres, straffes und retikuläres Bindegewebe Stützgewebe: – Knochengewebe: Stütz- und Schutzfunktionen, Kalziumspeicher – Knorpelgewebe: Druckverteilung in den Gelenken, in manchen Strukturen formgebend Fettgewebe: wichtig v. a. als Energiespeicher Muskelgewebe: – quergestreifte Skelettmuskulatur – quergestreifte Herzmuskulatur – glatte Muskulatur Nervengewebe besteht aus Neuronen und Gliazellen.

Blut und Immunsystem

3.3 Blut und Immunsystem

Abb. 3.2 Zusammensetzung des Blutes.

3.3.1 Blut

Blut 4,5 – 6 l

Grundlagen Funktionen ● Transport: Mit dem Blut gelangen die Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid, Nährstoffe, Stoffwechselprodukte, Elektrolyte und Hormone an ihre Zielorte. Außerdem dient es dem Transport von Wärme. ● Blutstillung: Blut hat die Fähigkeit, zu gerinnen. So kann es die Gefäßwand bei kleineren Verletzungen abdichten und den Blutverlust stoppen. ● Erregerabwehr: Einige Blutbestandteile sind Teil des Immunsystems, d. h., sie können Krankheitserreger unschädlich machen. Blutvolumen • Das Blutvolumen, d. h. die Gesamtmenge an Blut im Körper, macht bei Erwachsenen 6–8 % des Körpergewichts aus. Bei einem Körpergewicht von 70 kg entspricht dies ca. 5 l Blut. Männer haben im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht (KG) ein größeres Blutvolumen als Frauen. Neben dem Geschlecht spielt auch das Alter eine Rolle. ● Frauen: ca. 60 ml Blut/kg KG ● Männer: ca. 70 ml Blut/kg KG ● Kleinkinder: ca. 85 ml Blut/kg KG ● Neugeborene: ca. 90 ml Blut/kg KG

! Merke Blutvolumen

Bei einem Blutvolumen im Normalbereich spricht man von einer Normovolämie. Ein vermindertes Blutvolumen, eine Hypovolämie, kann die Folge innerer oder äußerer Blutungen sein. Eine weitere Ursache ist ein größerer Flüssigkeitsverlust (S. 502), z. B. bei Durchfall und/oder zu geringer Trinkmenge. Eine Hypervolämie, also ein erhöhtes Blutvolumen, kommt seltener vor und ist Ausdruck einer Hyperhydratation (S. 502), z. B. durch zu reichliche Infusionen.

Medizin Blutverluste Geringe Blutverluste, z. B. eine Blutspende von 450 ml, kann der Körper ohne Schwierigkeiten ausgleichen. Problematisch wird es ab einem Verlust von ca. 30 % des Gesamtvolumens: Die Herzfrequenz steigt, der Blutdruck fällt ab, die Urinausscheidung nimmt ab. Der Patient ist blass, unruhig und schwitzt kalt, er kann auch das Bewusstsein verlieren. Diese Situation wird als Volumenmangeloder hypovolämischer Schock (S. 289) bezeichnet. Zusammensetzung des Blutes • Das Blut besteht zu ca. 55 % aus flüssigen Bestandteilen (Blutplasma) und zu ca. 45 % aus festen Bestandteilen, den Blutzellen (▶ Abb. 3.2). Die Blutzellen sind die roten (Erythrozyten) und weißen Blutkörperchen (Leukozyten) und die Blutplättchen (Thrombozyten). Der Anteil der Blutzellen am Blutvolumen ist der Hämatokrit (Hkt). Da Erythrozyten den Großteil der Blutzellen ausmachen, lässt er sich mit dem Anteil der Erythrozyten am Blutvolumen gleichsetzen. Je höher der Hämatokrit, umso höher ist auch die Viskosität des Blutes, d. h., desto zäher fließt es und umso höher ist das Risiko für Thrombosen.

Medizin Hämatokrit Ein niedriger Hämatokrit kann auf eine verminderte Bildung von Erythrozyten (Blutarmut) hinweisen, ein hoher Hämatokrit z. B. auf einen Flüssigkeitsmangel.

Wasser (90 %) Blutplasma 55 %

45 %

Blutzellen

Plasmaproteine (8 %) • Albumin (60 %) • Globuline (40 %) Elektrolyte, Hormone, Nährstoffe u. a. (2 %)

Erythrozyten (99 %) 4–5 Mio./μl Blut Leukozyten (< 1 %) 5000–10 000/μl Blut Thrombozyten (< 1 %) 150 000–350 000/μl Blut Das Blut besteht zu etwa 55 % aus Blutplasma und zu etwa 45 % aus Blutzellen. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Blutzellen Bildung der Blutzellen • Im roten Knochenmark (S. 92) werden die Blutzellen gebildet (Hämatopoese). Wegen ihrer beschränkten Lebensdauer müssen sie ständig ersetzt werden. Täglich werden 200 Milliarden Erythrozyten, 120 Milliarden Leukozyten und 150 Milliarden Thrombozyten gebildet. Erythrozyten • Die roten Blutzellen machen etwa 99 % aller Blutzellen aus. Die normale Erythrozytenzahl liegt bei ca. 4– 5,5 Mio./µl Blut. Die Hauptaufgabe ist der Transport der Atemgase (S. 75) O2 und CO2 von der Lunge zum Gewebe bzw. umgekehrt. Die Bildung der Erythrozyten im Knochenmark wird durch das Hormon Erythropoetin (EPO) aus der Niere stimuliert. Sinkt der O2-Gehalt im Blut, wird vermehrt EPO gebildet. Dies steigert die Erythrozytenbildung. Nach etwa 120 Tagen werden die Erythrozyten in Leber und Milz abgebaut. Sie haben keinen Zellkern und sind beidseitig eingedellt (bikonkave Scheibe). Bestimmte Proteine an der Oberfläche legen fest, welche Blutgruppe (S. 54) ein Mensch hat. Der wichtigste Bestandteil der Erythrozyten ist der rote Blutfarbstoff, das Hämoglobin (Hb). Bei Männern liegt der Hämoglobingehalt bei 13–18 g/dl Blut, bei Frauen bei 11,7– 16 g/dl Blut. Im Hämoglobin ist Eisen enthalten, das Sauerstoff binden kann. Jedes Hämoglobinmolekül hat 4 Bindungsstellen für O2. Wie viele dieser Bindungsstellen im arteriellen Blut durch O2 besetzt sind, wird mit der O2-Sättigung angegeben. Der Normalwert sind 98 %: An nur 2 % der Hämgruppen ist kein O2 gebunden. Die O2-Sättigung im venösen Blut liegt bei ca. 75 %. Je nachdem, ob das Hämoglobin O2 gebunden hat oder nicht, ändert es seine Farbe: Ist O2 an die Eisenatome gebunden, wirkt es hellrot. Ist kein O2 gebunden, erscheint es dunkelrot. Zusätzlich verändert sich auch die Absorption (Aufnahme) von Lichtwellen. Diese Eigenschaft wird in der Pulsoxymetrie (S. 200) genutzt, um die periphere Sauerstoffsättigung zu messen.

53

3

Anatomie und Physiologie

Medizin Anämien Sind der Hämatokrit, die Erythrozytenzahl und/oder der Hämoglobingehalt erniedrigt, spricht man von einer Anämie (Blutarmut). Typische Symptome sind eine blasse Haut und blasse Schleimhäute, Müdigkeit und reduzierte Leistungsfähigkeit, eine erhöhte Herzfrequenz, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Ohrensausen. Leukozyten • Gesunde Erwachsene verfügen über 4 000– 10 000 Leukozyten pro µl Blut. Allerdings befindet sich der Großteil der Leukozyten im Gewebe. Sie sind für die Immunabwehr von Erregern und körperfremden Stoffen (S. 56) zuständig und an der Entstehung von Entzündungen beteiligt. Sie nutzen die Blutbahn, um an ihren Zielort (z. B. Entzündungsherd) zu gelangen. Dort angekommen, wandern sie durch die Gefäßwand ins Gewebe. Ihre Lebensdauer reicht von wenigen Tagen bis zu vielen Jahren. Die Leukozyten umfassen mehrere Zelltypen, die sich in ihrer Gestalt und Funktion unterscheiden: ● Granulozyten (Blut und Gewebe) ● Monozyten (Blut) und Makrophagen (Gewebe) ● Lymphozyten (Blut und Gewebe) ● Mastzellen (Gewebe) ● dendritische Zellen (Gewebe) Thrombozyten • Wegen ihrer flachen Form werden sie auch Blutplättchen genannt. Jeder µl Blut enthält 150 000– 350 000 Thrombozyten. Ihre Aufgabe ist die Blutstillung. Sie bilden bei Gefäßverletzungen einen Pfropf, der den Defekt abdichtet, und setzen die Blutgerinnung (S. 55)in Gang. Nach 7–10 Tagen werden sie in Leber und Milz abgebaut.

Blutplasma Zusammensetzung • Der flüssige Anteil des Blutes, das Blutplasma, besteht zu 90 % aus Wasser, zu ca. 8 % aus Plasmaproteinen (Bluteiweißen) und zu ca. 2 % aus Elektrolyten (▶ Abb. 3.2). In geringerer Konzentration enthält es außerdem Nährstoffe (Glukose, Aminosäuren, Fettsäuren), Stoffwechselprodukte, Hormone und gelöste Atemgase. Die Gesamtmenge beträgt bei Erwachsenen 2,5–3 l. Plasmaproteine • Die meisten Plasmaproteine werden in der Leber gebildet. Unterschieden werden Albumin (60 %) und die große Gruppe der Globuline (40 %). Die Proteine können wegen ihrer Größe die Gefäßwand nicht passieren. Sie sind damit hauptverantwortlich für den kolloidosmotischen Druck (S. 84). Außerdem dienen sie als Transportproteine für nicht wasserlösliche Stoffe. Einige Plasmaproteine sind an der Blutgerinnung (Gerinnungsfaktoren) und der Immunabwehr (z. B. Antikörper) beteiligt. Plasma ohne Gerinnungsfaktoren wird als Blutserum bezeichnet.

RETTEN TO GO Funktion und Zusammensetzung des Blutes ●



54

Funktionen: Transport von Atemgasen, Nährstoffen, Stoffwechselprodukten, Elektrolyten und Hormonen zu den Zielorganen, Gerinnung, Immunabwehr Das Blutvolumen eines Erwachsenen beträgt 6–8 % des Körpergewichts (z. B. bei 70 kg ca. 5 l). Das Blut besteht zu 55 % aus Blutplasma und zu 45 % aus Blutzellen: – rote Blutkörperchen (Erythrozyten), 4–5,5 Mio./μl Blut (ca. 99 % aller Blutzellen): Transport der Atemgase



– weiße Blutkörperchen (Leukozyten), 4 000–10 000/μl Blut: Teil des Immunsystems – Blutplättchen (Thrombozyten), 150 000–350 000/μl Blut: Blutgerinnung Blutplasma: 90 % Wasser, ca. 8 % Plasmaproteine (Albumin und Globuline), ca. 2 % Elektrolyte

Blutgruppen Welche Blutgruppe wir haben, hängt davon ab, welche Proteine an der Oberfläche der Erythrozyten vorhanden sind. Diese Oberflächenproteine sind die Blutgruppenantigene. Die wichtigsten Blutgruppensysteme sind das AB0- und das Rhesus-System. AB0-System • In diesem System bestimmen die Oberflächenantigene A und B, welche Blutgruppe vorliegt. Je nachdem, ob nur A-Antigen, nur B-Antigen, sowohl A- als auch B-Antigen oder keines der beiden Antigene vorhanden ist, werden die 4 Blutgruppen A, B, AB und 0 (Null) unterschieden. In Europa sind die Blutgruppen A und 0 die häufigsten. Gegen die Blutgruppenantigene, die auf den Erythrozyten nicht vorhanden sind, bilden sich in den ersten Lebenswochen spezifische Antikörper (▶ Abb. 3.3, ▶ Tab. 3.2). Bei einer „normalen“ Bluttransfusion werden aufgereinigte Erythrozyten verabreicht (Erythrozytenkonzentrate, kurz EK). Seltener wird aufgereinigtes Plasma übertragen, bei dem die Blutzellen entfernt wurden (gefrorenes Frischplasma, Fresh Frozen Plasma, kurz FFP). Es enthält u. a. die Blutgruppenantikörper. Bei beiden Formen der Transfusion müssen die Blutgruppen von Spender und Empfänger unbedingt so kombiniert werden, dass keinesfalls Blutgruppenantigene auf die passenden Blutgruppenantikörper treffen (wie es z. B. bei der Transfusion von Erythrozyten der Blutgruppe A auf eine Person mit Blutgruppe B geschehen würde). Andernfalls würde das Blut verklumpen (Agglutination) und eine lebensgefährliche Transfusionsreaktion auslösen. Rhesus-Blutgruppensystem • Die Einteilung ist abhängig davon, ob auf den Erythrozyten das Antigen D vorhanden ist oder nicht. Menschen mit dem Antigen D auf der Oberfläche der Erythrozyten haben die Blutgruppe Rhesus-positiv (Rh+). Fehlt dieses Antigen, sind sie Rhesus-negativ (rh–). 85 % der europäischen Bevölkerung sind Rh+. Nur Rhesus-negative Menschen bilden Anti-D-Antikörper – und das auch nur, wenn ihr Blut zuvor in Kontakt mit Rhesus-positivem Fremdblut gekommen ist (z. B. bei der Geburt eines Rh+-Kindes durch eine rh–-Frau, bei einer Bluttransfusion). Fehltransfusionen im Rhesus-Blutgruppensystem lösen i. d. R. weniger schwerwiegende Transfusionsreaktionen aus.

Medizin Universalspender und -empfänger Menschen mit der Blutgruppe 0, rh– haben Erythrozyten ohne stark immunogene Oberflächenantigene. Deshalb sind sie: ● Universalspender für Erythrozyten ● Universalempfänger für Blutplasma Menschen mit der Blutgruppe AB, Rh+ haben keine (üblicherweise relevanten) Blutgruppenantigene im Plasma. Deshalb sind sie: ● Universalspender für Blutplasma ● Universalempfänger für Erythrozyten

Blut und Immunsystem

3.3.2 Blutgerinnung RETTEN TO GO

Synonym • Hämostase Funktionen • Die Blutgerinnung sorgt dafür, dass bei einem Gefäßwandschaden die Lücke in der Gefäßwand abgedichtet und damit die Blutung gestoppt wird. Gleichzeitig wird die Wundheilung eingeleitet.

Blutgruppen Die Blutgruppe hängt von den Oberflächenstrukturen der Erythrozyten ab, den Blutgruppenantigenen. Im AB0System werden die Blutgruppen A, B, 0 (sprich: Null) und AB unterschieden. Gegen die Blutgruppenantigene, die wir nicht haben, bilden sich Antikörper (z. B. Person mit Blutgruppe A hat Anti-B-Antikörper). Bei Blut- bzw. Plasmatransfusionen dürfen Antikörper keinesfalls auf passende Antigene treffen (z. B. Patient mit Blutgruppe A: keine Erythrozyten der Blutgruppe B). Die Einteilung im Rhesus-System hängt davon ab, ob die Erythrozyten das Antigen D tragen oder nicht. Menschen mit dem Antigen D auf der Oberfläche ihrer Erythrozyten, haben die Blutgruppe Rhesus-positiv (Rh+, sehr viel häufiger). Fehlt dieses Blutgruppenantigen, sind sie Rhesus-negativ (rh–).

Ablauf • ▶ Abb. 4.19 Bei der Blutstillung bildet sich innerhalb von ca. 3 min ein Pfropf aus Thrombozyten, der die Gefäßverletzung vorübergehend verschließt. Zunächst verengt sich das Gefäß (Vasokonstriktion). Dadurch nimmt der lokale Blutfluss ab und die Thrombozyten können sich leichter an die verletzte Gefäßwand anlagern. Nun vernetzen sich die Thrombozyten untereinander (Thrombozytenaggregation). Es entsteht ein noch nicht sehr stabiler Pfropf. ● Bei der anschließenden Blutgerinnung wird der Thrombozytenpfropf durch einen stabilen Fibrinthrombus ersetzt. Dafür läuft zwischen speziellen Plasmaproteinen, den Gerinnungsfaktoren, eine Reihe von Reaktionen ab. Am Ende dieser Gerinnungskaskade (plasmatische Gerinnung) wird der inaktive Gerinnungsfaktor Fibrinogen in seine aktive Form Fibrin umgewandelt. Fibrin bildet im Thrombozytenpropf ein Fasernetz, in das sich Blutzellen einlagern. So entsteht ein stabiler Thrombus, der die Wunde so lange abdichtet, bis der Gefäßwandschaden abgeheilt ist. ● Nach der Wundheilung wird der Fibrinthrombus (Fibrinolyse) durch das Enzym Plasmin aufgelöst. Da auch bei Gesunden regelmäßig kleine Gefäßlecks abzudichten sind, sind das Gerinnungs- und das Fibrinolysesystem fortwährend in einem Gleichgewichtszustand im Blut aktiv. ●

Abb. 3.3 AB0-System.

A-Antigen Blutgruppe A

Anti-BAntikörper

Anti-AAntikörper B-Antigen Blutgruppe B

Medikamentöse Beeinflussung • Siehe Pharmakologie (S. 139).

Medizin Gerinnungsstörungen So nützlich die Blutgerinnung bei Gefäßverletzungen ist, so gefährlich kann sie sein, wenn sie dort abläuft, wo sie nicht benötigt wird. Thromben können Gefäße am Entstehungsort verstopfen (Thrombose, z. B. tiefe Beinvenenthrombose, ▶ Abb. 12.6) oder durch den Blutfluss mitgerissen werden und als Embolie weit entfernte Gefäße verschließen, z. B. bei einer Lungenembolie (S. 303).

A-Antigen B-Antigen Blutgruppe AB

Anti-AAnti-BAntikörper Antikörper Blutgruppe 0

Die Oberflächenantigene A und B auf den Erythrozyten bestimmen, welche Blutgruppe vorliegt. Jeder Mensch entwickelt Antikörper gegen die Antigene, die auf der Oberfläche seiner Erythrozyten nicht vorhanden sind. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Tab. 3.2 Eigenschaften der Blutgruppen. Blutgruppe

Häufigkeit in Europa

Antigen

Serum-Antikörper

kann EK empfangen von...

kann FFP empfangen von...

A

44 %

A

Anti-B

A und 0

A und AB

B

10 %

B

Anti-A

B und 0

B und AB

AB

4%

A+B

keine

A, B, AB und 0

AB

0

42 %

weder A noch B

Anti-A und Anti-B

nur 0

A, B, AB und 0

55

3

Anatomie und Physiologie

RETTEN TO GO Blutgerinnung ●





Die Blutstillung verschließt den Gefäßschaden innerhalb von 3 min vorläufig durch einen Thrombozytenpfropf. Während der anschließenden Blutgerinnung wird dieser Pfropf durch einen stabilen Fibrinthrombus ersetzt. Dieser dichtet die Wunde so lange ab, bis der Gefäßwandschaden abgeheilt ist. Nach Abschluss der Wundheilung wird der Thrombus durch die Fibrinolyse wieder aufgelöst.

3.3.3 Immunsystem Funktion • Das Immunsystem erkennt und beseitigt Erreger, schädliche körperfremde Stoffe oder veränderte Körperzellen (z. B. Tumorzellen), darf aber gleichzeitig gesunde körpereigene Strukturen nicht angreifen. Moleküle bzw. Strukturen, die vom Immunsystem als „fremd“ erkannt werden, werden als Antigene bezeichnet. Einteilung • Das Immunsystem besteht aus folgenden Anteilen, die eng miteinander zusammenarbeiten: ● Die angeborene Abwehr reagiert sofort auf eingedrungene Antigene. Sie unterscheidet aber nicht zwischen den einzelnen Erregern, sondern im Wesentlichen nur zwischen „körperfremd“ und „körpereigen“. Weil sie alle Erreger mit denselben „Waffen“ bekämpft, wird sie auch als unspezifische Abwehr bezeichnet. Die angeborene Abwehr funktioniert von Geburt an. ● Die erworbene Abwehr unterscheidet zwischen einzelnen Erregern und passt ihre „Waffen“ (u. a. Antikörper) dem jeweiligen Erreger an (spezifische oder adaptive Abwehr). Taucht der Erreger das erste Mal im Körper auf, kann es allerdings bis zu 1 Woche dauern, bis alle Mechanismen vollständig einsatzbereit sind. Bei einem solchen Erstkontakt entstehen jedoch auch langlebige Gedächtniszellen, die bei jedem weiteren Kontakt mit dem Erreger schnell reaktiviert werden und so eine schnellere, optimierte und umfangreichere Immunantwort zur Verfügung stellen: Die Person hat eine schützende Immunität gegen den Erreger entwickelt und wird in der Folge keine oder geringere Symptome haben als bei einer Erstinfektion. Der Erstkontakt mit einem Erreger kann durch eine Infektion oder (für den Körper wesentlich schonender) durch eine Impfung (S. 153) erfolgen. Die erworbene Abwehr wird u. a. durch bestimmte Zellen der angeborenen Abwehr aktiviert. Zelluläre und humorale Bestandteile • Sowohl an der angeborenen als auch an der erworbenen Immunabwehr sind jeweils Abwehrzellen und humorale Anteile (nicht zellulärer Anteil, lösliche Stoffe) beteiligt: ● Die Abwehrzellen sind die Leukozyten (S. 54). An der angeborenen Abwehr sind u. a. Granulozyten und Makrophagen beteiligt. Die entscheidenden Zellen für die erworbene Abwehr sind die B- und T-Lymphozyten. ● Die humoralen Anteile sind verschiedene Proteine, v. a. Enzyme und Antikörper. Sie geben Informationen zwischen den Abwehrzellen weiter (z. B. Botenstoffe wie Zytokine) oder bekämpfen die Antigene direkt (z. B. Antikörper). Ablauf einer Immunantwort • Dringen Antigene (z. B. Bakterien) in den Körper ein, treffen sie zunächst auf die Fresszel56

len (Phagozyten), z. B. Makrophagen. Sie vernichten Bakterien, indem sie diese in ihr Inneres aufnehmen (Phagozytose). Zusätzlich setzen sie Botenstoffe (Zytokine) frei, die weitere Leukozyten aktivieren und anlocken. Parallel zur angeborenen Abwehr wird die erworbene Abwehr aktiviert. Dazu präsentieren die Phagozyten das eingedrungene Antigen den Lymphozyten. Erkennen diese das Antigen, werden sie aktiviert und vermehren sich. T-Lymphozyten helfen anderen Abwehrzellen, den Erreger zu bekämpfen (T-Helfer-Zellen), oder sie zerstören befallene Zellen direkt (zytotoxische T-Zellen). B-Lymphozyten eliminieren Antigene u. a. durch die Bildung von Antikörpern. Im Zug der Immunantwort werden auch langlebige Gedächtniszellen gebildet (s. o.). Weitere Schutzmechanismen • Zusätzlich zum eigentlichen Immunsystem hat der Körper weitere Möglichkeiten, um sich vor Erregern zu schützen: ● chemisch durch den niedrigen pH-Wert im Magen und den Säureschutzmantel der Haut ● mechanisch durch intakte Haut und Schleimhäute ● Selbstreinigungsfunktionen: Tränenfluss, Abschilfern der Haut, Schleim in Atemwegen, Urin, Stuhl

RETTEN TO GO Immunsystem Funktionen: ● Abwehr von Antigenen (v. a. Krankheitserreger) ● Erkennen und Verschonen körpereigener Strukturen ● Beseitigung veränderter, körpereigener Zellen Einteilung: ● Die angeborene (unspezifische) Abwehr, z. B. Phagozyten (Fresszellen), reagiert sofort auf eingedrungene Antigene. Sie unterscheidet aber nicht zwischen den einzelnen Erregern. ● Die erworbene (spezifische) Abwehr produziert für jedes Antigen passende Abwehrmittel. Dies dauert beim Erstkontakt mit einem Antigen länger als die Reaktion der angeborenen Abwehr. Beteiligt sind die T-Lymphozyten und die Antikörper-bildenden B-Lymphozyten.

3.3.4 Lymphatisches System Lymphatische Organe Primäre lymphatische Organe • Hier entstehen und reifen die Immunzellen: ● Das Knochenmark liegt in der Spongiosa und der Markhöhle der Knochen (S. 92). Im roten Knochenmark werden die Blutzellen gebildet und die B-Lymphozyten reifen heran. Im Lebensverlauf stellt ein Teil des rotes Marks die Blutbildung ein und wandelt sich in gelbes Mark (Fettmark) um. ● Der Thymus (Bries) ist ein kleines Organ hinter dem oberen Brustbein. Hier reifen die T-Lymphozyten. Sekundäre lymphatische Organe • Nach der Reifung im Thymus bzw. Knochenmark wandern die Lymphozyten in die sekundären lymphatischen Organe ein. Hier treffen sie auf die zu ihnen passenden Antigene, d. h., hier finden Immunreaktionen statt. Zu dieser Gruppe zählen folgende Organe:

Herz-Kreislauf-System







Lymphknoten finden sich über den ganzen Körper verteilt. Sie sind in die Lymphgefäße eingeschaltet und filtern Antigene aus der Lymphflüssigkeit. Die Milz liegt im Abdomen, links direkt unterhalb des Zwerchfells, noch innerhalb des knöchernen Thorax. Sie ist das größte lymphatische Organ. Hier vermehren sich Lymphozyten und überalterte Erythrozyten und Thrombozyten werden abgebaut. Die Abkürzung MALT (Mucosa-Associated Lymphoid Tissue) fasst das lymphatische Gewebe in den Schleimhäuten des Nasen-Rachen-Raums (Mandeln = Tonsillen), des Darms, der Bronchien und des Harn- und Geschlechtssystems zusammen. Zu den Tonsillen zählen die Gaumenmandeln, die Rachenmandel, die Zungenmandel, die Tubenmandeln und die Seitenstränge. Zusammen bilden sie den Waldeyer-Rachenring. Sie fangen v. a. Antigene ab, die mit der Nahrung und der Atemluft aufgenommen werden. Ebenfalls zum MALT gehören die Peyer-Plaques im Dünndarm und die Appendix vermiformis (Wurmfortsatz). Sie fangen v. a. Antigene im Darm ab.

Lymphgefäßsystem Aufbau • Die Lymphgefäße beginnen mit Lymphkapillaren frei im Gewebe, vereinigen sich zu immer größeren Gefäßen und münden schließlich in die Venen (▶ Abb. 3.4). Damit ist das Lymphgefäßsystem kein geschlossener Kreislauf. Im Verlauf größerer Lymphgefäße befinden sich die Lymphknoten (s. o.). Lymphflüssigkeit und die darin gelösten Stoffe werden als Lymphe bezeichnet. Funktionen ● Aufnahme von Flüssigkeit, die aus den Blutkapillaren in das Gewebe ausgetreteten ist, und Rückführung in den Blutkreislauf ● Abtransport von Stoffen aus dem Gewebe, die z. B. aufgrund ihrer Größe nicht von den Blutkapillaren resorbiert werden können ● Transport der im Darm aufgenommenen Fette in das Blut ● Transport von Lymphozyten Abb. 3.4 Lymphabfluss.

Lymphknoten

RETTEN TO GO Lymphatisches System ●



In den primären lymphatischen Organen Knochenmark und Thymus entstehen und reifen die Abwehrzellen. Die sekundären lymphatischen Organe sind Lymphknoten, Milz und MALT (Mandeln bzw. WaldeyerRachenring, Appendix vermiformis, Peyer-Plaques). Hier treffen die Lymphozyten auf ihre Antigene. Die Lymphgefäße beginnen frei im Gewebe und münden in die Venen. Sie transportieren u. a. Flüssigkeit aus den Geweben in das Kreislaufsystem.

3.4 Herz-Kreislauf-System 3.4.1 Überblick Herz und Gefäße bilden das Herz-Kreislauf-System (kardiovaskuläres System). Es versorgt die Zellen mit Sauerstoff (O2) und Nährstoffen und transportiert die Abbauprodukte ab (z. B. CO2). Das Herz ist der zentrale Motor (Muskelpumpe), die Blutgefäße dienen als Transportwege. Siehe Kapitel 23 für die Besonderheiten des kardiovaskulären Systems von Kindern (S. 525) und von alten Menschen (S. 531). Körperkreislauf und Lungenkreislauf • Das Kreislaufsystem besteht aus 2 hintereinandergeschalteten Kreisläufen, in die das Herz als zentrale Pumpe eingebaut ist (▶ Abb. 3.14). Im Körperkreislauf wird das O2-reiche Blut vom linken Herzen aus im gesamten Körper verteilt. Nach dem Stoffaustausch in den Körperzellen fließt das O2-arme Blut zurück zum rechten Herzen. Dort wird das Blut in den Lungenkreislauf gepumpt, wo es wieder mit O2 angereichert und zum linken Herzen geleitet wird. Vorlast und Nachlast ● Die Vorlast (Preload) ist das Blutvolumen, das dem Herzen zum Weiterpumpen angeboten wird und eine Vorspannung im rechten Herz erzeugt. ● Die Nachlast (Afterload) bezeichnet den Widerstand, gegen den das Herz anpumpen muss, um das Blutvolumen in den Körperkreislauf auszuwerfen. Dieser Widerstand wird v. a. durch die Weite der Blutgefäße bestimmt.

3.4.2 Herz

Lymphgefäß

Funktionen und Lage venöser Schenkel

arterieller Schenkel 10 % Lymphe interstitieller Raum 90 %

20 l/d

Das Herz arbeitet als Pumpe und hält dadurch den Blutkreislauf in Bewegung. Es pumpt O2-armes Blut zur Lunge (rechtes Herz) und O2-reiches Blut in den Körper (linkes Herz). Dadurch werden alle Körpergewebe mit O2 und Nährstoffen versorgt. Der Antrieb für die Herztätigkeit wird im Herzen selbst erzeugt, im Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem (S. 61). Das Herz befindet sich im Brustkorb (Thorax), und zwar zwischen den beiden Lungenflügeln im Mittelfellraum (Mediastinum, ▶ Abb. 3.5).

Kapillare An den Blutkapillaren tritt Flüssigkeit ins Gewebe aus. 90 % davon werden wieder aufgenommen, der Rest fließt als Lymphe über mind. einen Lymphknoten ins venöse Blutsystem. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

57

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.5 Lage des Herzens im Thorax.

linke Halsschlagader (A. carotis communis sinistra)

innere rechte Drosselvene (V. jugularis interna dextra)

linke Schlüsselbeinarterie (A. subclavia sinistra)

rechte Schlüsselbeinvene (V. subclavia dextra) Zusammenfluss von Schlüsselbeinund Drosselvene (V. brachiocephalica dextra) rechte Lungenvenen (Vv. pulmonales dextrae)

Aorta

Truncus pulmonalis obere Hohlvene (V. cava superior)

Herzachse Herzspitze

Das Herz liegt zwischen den beiden Lungenflügeln, und zwar im Mittelfellraum (Mediastinum). Es befindet sich zu etwa ⅔ in der linken Brustkorbhälfte und zu etwa ⅓ in der rechten. Seitlich grenzt es an die Lungenflügel, vorne an das Brustbein (Sternum), hinten an die Speiseröhre (Ösophagus) sowie an die Luftröhre (Trachea) und unten an das Zwerchfell (Diaphragma). Das Herz hat die Form eines Kegels, der schräg im Brustkorb liegt. Dabei zeigt die Herzbasis nach hinten-oben und die Herzspitze nach vorne-unten. Die Herzspitze liegt etwa auf Höhe des 5. Zwischenrippenraums (ICR = Interkostalraum). Die gedachte Linie von der Herzspitze zur Herzbasis ist die Herzachse. Sie verläuft von hinten-obenrechts nach vorne-unten-links. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Herzbasis

Zwerchfell (Diaphragma)

rechts

links

Mittellinie

Aufbau Äußere Form Ein gesundes Herz (▶ Abb. 3.6) ist etwa so groß wie die Faust der jeweiligen Person und wiegt bei Erwachsenen ca. 300 g. An der Herzbasis münden bzw. entspringen 4 große Gefäße: ● Hauptschlagader (Aorta) ● Lungenarterienstamm (Truncus pulmonalis) ● untere Hohlvene (V. cava inferior) ● obere Hohlvene (V. cava superior)

Innenräume Das Herz ist ein muskuläres Hohlorgan, das durch die Herzscheidewand (Septum) in eine rechte und eine linke Herzhälfte geteilt wird. Jede Herzhälfte hat einen Vorhof (Atrium) und eine Kammer (Ventrikel), die durch Herzklappen voneinander getrennt sind (▶ Abb. 3.8).

Blutstrom im Herzen Die Vorhöfe leiten das Blut aus den zuführenden Gefäßen in die jeweilige Kammer weiter: ● Das venöse Blut des Körperkreislaufs strömt über die obere und untere Hohlvene (V. cava superior und inferior) in den rechten Vorhof und von dort über die Trikuspidalklappe in die rechte Kammer. ● Das O2-reiche Blut strömt über die Lungenvenen in den linken Vorhof und von dort über die Bikuspidalklappe weiter in die linke Kammer.

58

Abb. 3.6 Form und Aufbau des Herzens.

linke Halsschlagader linke Schlüsselbeinarterie Truncus brachiocephalicus

Aorta linke Lungenarterie

rechte Lungenarterie

linke Lungenvenen

Truncus pulmonalis obere Hohlvene

linkes Herzohr Ansatz der Kammerscheidewand

rechtes Herzohr untere Hohlvene rechte Kammer

linke Kammer

Herzspitze

Ansicht von vorne. Mit dieser Fläche grenzt das Herz an das Brustbein (Sternum). Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Herz-Kreislauf-System Abb. 3.7 Ventilebene mit den 4 Herzklappen.

Abb. 3.8 Weg des Blutes durch das Herz.

Pulmonalklappe

Truncus brachiocephalicus

Aortenklappe rechte Herzkranzarterie

linke Herzkranzarterie

Aorta obere Hohlvene

Bikuspidaloder Mitralklappe (linke AV-Klappe)

Koronarvenensinus

Blick von oben. Im Bild sind die Aorten- und die Pulmonalklappe geschlossen. Die AV-Klappen sind geöffnet. Die Bikuspidalklappe wird auch Mitralklappe genannt, weil ihre Form an eine Bischofsmütze erinnert (griechisch: mitra). Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Schlüsselbeinarterie Lungenarterie

Lungenvene

Lungenvene

Trikuspidalklappe (rechte AV-Klappe)

Halsschlagader

linker Vorhof Mitralklappe

Truncus pulmonalis rechter Vorhof Trikuspidalklappe untere Hohlvene

rechte Kammer

Pulmonalklappe

Aortenklappe linke Kammer

Die Pfeile stellen die Fließrichtung dar: blaue Pfeile = O2-armes Blut, rote Pfeile = O2-reiches Blut. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Die Kammern pumpen das Blut in den Kreislauf: ● Die rechte Kammer leitet das O2-arme Blut über die Pulmonalklappe und den Truncus pulmonalis in den Lungenkreislauf, wo es mit O2 angereichert wird. ● Die linke Kammer leitet das O2-reiche Blut über die Aortenklappe in die Aorta und weiter in den Körperkreislauf zu den Organen.

Herzklappen Funktion • Die Herzklappen sorgen als Ventile dafür, dass das Blut im Herz nur in eine Richtung fließt. Die Ebene des Herzens, in der die Klappen liegen, ist die Ventilebene. Es gibt 4 Klappen (▶ Abb. 3.7): ● Mitralklappe (Bikuspidalklappe) zwischen linkem Vorhof und linker Kammer ● Trikuspidalklappe zwischen rechtem Vorhof und rechter Kammer ● Pulmonalklappe zwischen rechter Kammer und Truncus pulmonalis ● Aortenklappe zwischen linker Kammer und Aorta Die Mitral- und der Trikuspidalklappe liegen zwischen Vorhof (Atrium) und Kammer (Ventrikel) und werden daher auch Atrioventrikularklappen genannt, kurz AV-Klappen.

Hüllen und Wandaufbau Die Herzwand besteht aus 3 Schichten: ● Die Herzinnenhaut (Endokard) kleidet die Herzhöhlen aus und sorgt für eine glatte, regelmäßige Oberfläche. Dies ermöglicht einen gleichmäßigen Blutfluss. Die Herzklappen sind Ausstülpungen des Endokards. ● Die Herzmuskelschicht (Myokard) ist die dickste Schicht der Herzwand und besteht aus den Herzmuskelzellen (S. 52). Da der linke Kammermuskel gegen den wesentlich höheren Druck im Körperkreislauf, das Hochdrucksystem (S. 67), anpumpen muss, ist er deutlich dicker als der rechte. Neben den „normalen“ Herzmuskelzellen, die der Kontraktion dienen (Arbeitsmyokard), gibt es auch speziali-



sierte Herzmuskelzellen, die für die Bildung und Weiterleitung elektrischer Impulse verantwortlich sind, siehe das Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem (S. 61). Die außen anliegende Herzaußenhaut (Epikard) bildet das innere Blatt des Herzbeutels.

Der Herzbeutel (Perikard) umhüllt das Herz. Zwischen dem Epikard und dem Perikard befindet sich ein schmaler Spalt, die Perikardhöhle. Sie enthält eine geringe Menge an Flüssigkeit, die ein reibungsloses Gleiten der Blätter während der Herzaktion ermöglicht.

Blutversorgung Koronararterien • Das Herz wird nicht durch das Blut versorgt, das durch die Innenräume fließt, sondern über kranzförmig angeordnete Gefäße, die linke und rechte Herzkranzoder Koronararterie (kurz: Koronarie). Diese entspringen direkt oberhalb der Aortenklappe aus der Aorta (▶ Abb. 3.9): ● Die rechte Herzkranzarterie (A. coronaria dextra, RCA = right coronary artery) versorgt meistens die Wand des rechten Vorhofs und der rechten Herzkammer. ● Die linke Herzkranzarterie (A. coronaria sinistra, LCA = left coronary artery) teilt sich in den Ramus interventricularis anterior (RIVA oder LAD) und den Ramus circumflexus (RCX). Diese versorgen meistens den linken Vorhof, die linke Herzkammer und die Herzscheidewand. Herzvenen • Die Herzvenen sammeln das O2-arme Blut aus der Herzwand und führen es über eine große Sammelvene, den Sinus coronarius, in den rechten Vorhof.

Medizin Herzinfarkt Ist eine Herzkranzarterie vollständig verschlossen, ist die O2-Versorgung des betroffenen Gebietes unterbrochen, der Patient erleidet einen Myokardinfarkt (S. 300). Die Herzmuskelzellen in diesem Gebiet sterben innerhalb weniger Minuten ab.

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3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.9 Herzkranzgefäße.

Mechanische Herzaktion linke Herzkranzarterie (A. coronaria sinistra)

Aorta

rechte Herzkranzarterie (A. coronaria dextra) Die Verläufe und Versorgungsgebiete der Koronararterien sind bei jedem Menschen unterschiedlich. Die Abbildung zeigt den häufigsten Versorgungstyp. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

RETTEN TO GO Funktion und Anatomie des Herzens ●













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Funktion: Das Herz arbeitet als Pumpe, die O2-armes Blut zur Lunge (rechtes Herz) und O2-reiches Blut in den Körper (linkes Herz) pumpt. Lage: im Brustkorb (Thorax), und zwar im Mittelfellraum (Mediastinum) zwischen den beiden Lungenflügeln Aufbau: Das Herz besteht aus einer rechten und einer linken Hälfte, die durch die Herzscheidewand (Septum) getrennt sind. Jede Herzhälfte hat einen Vorhof (Atrium) und eine Kammer (Ventrikel). Die Herzklappen sorgen dafür, dass das Blut nur in eine Richtung fließt: – Trikuspidalklappe rechts zwischen Vorhof und Kammer – Pulmonalklappe zwischen rechter Kammer und Lungenarterie – Mitralklappe links zwischen Vorhof und Kammer – Aortenklappe zwischen linker Kammer und Aorta Blutfluss im Herz: obere/untere Hohlvene → rechter Vorhof → rechte Herzkammer → Truncus pulmonalis („Lungenarterienstamm“) → Lungenarterien → Kapillargebiet → Lungenvenen → linker Vorhof → linke Herzkammer → Hauptschlagader (Aorta) → Arterien des Körperkreislaufs → Kapillargebiet → Körpervenen → obere/ untere Hohlvene Herzwand (innen nach außen): Endokard (Herzinnenhaut) – Myokard (Herzmuskel) – Epikard (Herzaußenhaut) – Perikard (Herzbeutel) Blutversorgung: rechte und linke Herzkranzarterie (Abgang von der Aorta), Herzvenen mit Einmündung in den rechten Vorhof

Herzzyklus • Jeder Herzschlag wird in mehrere Phasen unterteilt. Dieser regelmäßige Ablauf, der Herzzyklus, besteht aus einer Kontraktions- (Systole) und einer Erschlaffungsphase (Diastole, ▶ Abb. 3.10). Systole • Die Herzmuskelzellen ziehen sich zusammen und pressen das Blut aus den Kammern in die großen Gefäße. Folgende Phasen werden unterschieden: ● Anspannungsphase: Die Kammern sind mit Blut gefüllt, alle Klappen sind geschlossen. Die Kammermuskulatur spannt sich an, der Druck in den Kammern steigt an. ● Austreibungsphase: Der Druck in den Kammern ist höher als in der Aorta bzw. im Truncus pulmonalis. Die Aortenund Pulmonalklappe öffnen sich und das Blut wird in die abführenden Gefäße ausgeworfen. Gleichzeitig füllen sich die Vorhöfe mit Blut. Diastole • Die Kammermuskulatur entspannt sich, Blut strömt aus den Vorhöfen in die Kammern. Auch die Diastole besteht aus 2 Phasen: ● Entspannungsphase: Der Druck in den Kammern ist niedriger als in der Aorta bzw. im Truncus pulmonalis. Alle Klappen sind geschlossen. ● Füllungsphase: Der Druck in den Vorhöfen ist höher als in den Kammern. Die AV-Klappen öffnen sich, die Kammern füllen sich mit dem Blut aus den Vorhöfen. Herztöne • Während der mechanischen Herzaktion entstehen Schallwellen, die Sie beim Abhören des Patienten mit dem Stethoskop (Auskultation) hören können. Bei Gesunden hören Sie i. d. R. 2 Herztöne: ● 1. Herzton: Anspannung der Kammermuskulatur zu Beginn der Anspannungsphase ● 2. Herzton: Vibration der Blutsäule in den Gefäßen unmittelbar nach dem Schluss der AV-Klappen

Medizin Herzgeräusche Bei manchen Patienten hören Sie bei der Auskultation zusätzlich zu den beiden Herztönen verschiedene Geräusche. Diese können auf krankhafte Veränderungen hinweisen, meistens der Herzklappen.

RETTEN TO GO Mechanische Herzaktion Ein Herzzyklus besteht aus einer Kontraktionsphase (Systole) und einer Erschlaffungsphase (Diastole). In der Systole wird Blut aus den Kammern in die Aorta bzw. den Truncus pulmonalis gepumpt. In der Diastole füllen sich die Herzkammern wieder mit Blut. Bei Gesunden sind normalerweise 2 Herztöne zu hören.

Herz-Kreislauf-System Abb. 3.10 Phasen der Herztätigkeit.

Anspannungsphase • Taschenklappen geschlossen • Kammermuskulatur angespannt • kein Blutfluss

Austreibungsphase • Kammerdruck übersteigt Druck von Aorta und Truncus pulmonalis • Taschenklappen öffnen sich • Blut strömt in die Gefäße • Vorhöfe füllen sich

Entspannungsphase • Taschenklappen wieder geschlossen • AV-Klappen geschlossen • kein Blutfluss

Füllungsphase • AV-Klappe geöffnet • Blut fließt aus den Vorhöfen in die Kammern (Kammerfüllung)

systolischer Blutdruck

120

Druck (mmHg)

Öffnungsdruck Aorta 80

0

Öffnen

Schließen

der Taschenklappen

diastolischer Blutdruck

Kammer 2. Herzton

Herztöne

1. Herzton

Diastole

Diastole

Systole

Die Anspannungs- und die Austreibungsphase gehören zur Systole, die Entspannungs- und die Füllungsphase zur Diastole. Die untere Hälfte der Abbildung zeigt die Druckverhältnisse in der linken Herzkammer (rot) und in der Aorta (grün) während der Herzaktion. Überschreitet der Druck in der Herzkammer in der Anspannungsphase den Druck in der Aorta, geht die Aortenklappe auf und die Austreibungsphase beginnt. Dieser Zeitpunkt fällt mit dem 1. Herzton zusammen (unterste Spur, blau). Der 2. Herzton entsteht durch das Vibrieren der Blutsäule in den Gefäßen unmittelbar nach dem Schluss der Aortenklappe am Ende der Austreibungsphase. Am rechten Herzen laufen die Phasen analog und fast zeitgleich ab. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem Autonomie des Herzens • Der Herzmuskel benötigt – wie auch jeder andere Muskel – elektrische Impulse, die Aktionspotenziale (S. 97), um zu kontrahieren. Im Gegensatz zur Skelettmuskulatur sind jedoch keine Reize von außen notwendig, sondern die Impulse entstehen im Herzen selbst. Somit arbeitet das Herz unwillkürlich und selbstständig (autonom). Das vegetative Nervensystem (S. 100) passt die Herztätigkeit an körperliche Veränderungen (z. B. körperliche Anstrengung) an. Strukturen • Die elektrischen Impulse bzw. Erregungen werden von spezialisierten Herzmuskelzellen gebildet und weitergeleitet. Diese sind hierarchisch organisiert und reichen vom rechten Vorhof über die Herzscheidewand bis zur Herzspitze (▶ Abb. 3.11). ● Der Sinusknoten in der Wand des rechten Vorhofs ist das primäre Schrittmacherzentrum des Herzrhythmus. Die dort entstehende Erregung breitet sich über den Vorhof aus und erreicht dann den AV-Knoten.

Abb. 3.11 Erregungsbildung und -leitung im Herzen.

Sinusknoten

AV-Knoten

linker Tawara-Schenkel

His-Bündel

rechter Tawara-Schenkel

Purkinje-Fasern

Der im Sinusknoten gebildete Reiz wird über die Muskulatur der Vorhöfe zum AV-Knoten geleitet. Von dort erreicht er über das His-Bündel und die Tawara-Schenkel die Purkinje-Fasern und schließlich die Kammermuskulatur. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

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3

Anatomie und Physiologie









Der AV-Knoten (Atrioventrikularknoten) zwischen rechtem Vorhof und Kammer leitet die Impulse in Richtung Kammer an das His-Bündel weiter – und zwar etwas verzögert, sodass die Kammern ausreichend Zeit haben, um sich mit Blut zu füllen, bevor sie sich zusammenziehen. Das His-Bündel zieht vom AV-Knoten durch die Ventilebene zur Kammerscheidewand. Vorhöfe und Kammern sind durch nicht leitendes Bindegewebe voneinander getrennt („Herzskelett“), das His-Bündel ist der einzige Weg, um Impulse zu übertragen. An der Kammerscheidewand teilt sich das His-Bündel in die beiden Kammerschenkel auf. Die Kammerschenkel (Tawara-Schenkel) ziehen im Kammerseptum zur Herzspitze, wo sie sich weiter aufzweigen. Die Purkinje-Fasern innerhalb des Kammermuskulatur sind die Endaufzweigungen des Erregungsleitungssystems. Sie übertragen die Erregung auf die Muskelzellen der Herzkammern, wodurch sich diese zusammenziehen.

Medizin EKG Die elektrischen Ströme, die bei der Herzaktion fließen, lassen sich von der Haut als EKG (S. 201) ableiten. Hierarchie der Erregungsbildung • Die normale Herzfrequenz wird vom Sinusknoten (primärer Schrittmacher) bestimmt und beträgt bei gesunden Erwachsenen in Ruhe 60–80/min (Sinusrhythmus). Fällt der Sinusknoten aus, springt erst der AV-Knoten (sekundärer Schrittmacher, Frequenz 40–50/ min) und dann das His-Bündel (tertiärer Schrittmacher, Frequenz 20–30/min) ein.

RETTEN TO GO Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem Spezialisierte Herzmuskelzellen erzeugen elektrische Impulse bzw. leiten diese weiter. Die Abschnitte des Systems sind Sinusknoten, AV-Knoten, His-Bündel, TawaraSchenkel und Purkinje-Fasern.

Herzleistung Herzfrequenz (Hf) • Die Hf bezeichnet die Anzahl der Herzzyklen pro Minute. Das Herz gesunder Erwachsenen schlägt in Ruhe etwa 60- bis 80-mal pro Minute (Normofrequenz). Bei Neugeborenen und Säuglingen ist die Hf mit 120–150/ min fast doppelt so hoch, vgl. ▶ Tab. 23.1.

Medizin Störungen der Herzfrequenz ● ● ●

Bradykardie: zu langsamer Herzschlag Tachykardie: zu schneller Herzschlag Arrhythmie: unregelmäßiger Herzschlag

Schlagvolumen (SV) • Das SV ist die Menge an Blut, die bei einem Herzzyklus (Kontraktion) von jeder Herzkammer in den Lungen- bzw. Körperkreislauf gepumpt wird. Dies sind bei gesunden Erwachsenen in Ruhe ca. 70 ml. Herzzeitvolumen (HZV) • Das HZV oder Herzminutenvolumen (HMV) ist die Menge an Blut, die in 1 Minute von jeder Herzkammer in den Kreislauf gepumpt wird. Es entspricht dem Produkt aus Herzfrequenz (Hf) und Schlagvolumen (SV): HZV = Hf × SV. Bei gesunden Erwachsenen beträgt das HZV in Ruhe ca. 5 l/min.

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! Merke Herzzeitvolumen

Unter Ruhebedingungen wird innerhalb von 1 Minute das gesamte Blutvolumen einmal durch den Körper gepumpt.

Einfluss des vegetativen Nervensystems Beeinflusste Parameter • Parasympathikus und Sympathikus (S. 100) passen die Herzleistung an den aktuellen Bedarf an (▶ Abb. 3.56). Folgende Faktoren werden beeinflusst: ● Herzfrequenz ● Kontraktionskraft (Kontraktilität) und damit das Schlagvolumen des Herzens ● Überleitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten ● Erschlaffungsgeschwindigkeit der Kammermuskulatur ● Erregbarkeit der Herzmuskulatur Effekte des Sympathikus • Die Sympathikusaktivität steigt z. B. bei körperlicher Anstrengung oder bei psychischem Stress. Dies bewirkt einen Anstieg der Herzfrequenz und der Kontraktionskraft und damit des Schlagvolumens. Die Überleitung im AV-Knoten ist schneller, d. h., die Erregungen werden schneller auf die Kammern übertragen. Am Beginn der Diastole erschlafft die Kammermuskulatur schneller, dadurch füllen sich die Kammern zügiger mit Blut. Die Kammermuskulatur wird empfindlicher gegenüber Erregungen. Effekte des Parasympathikus • Die Aktivität des Parasympathikus überwiegt in ruhigeren Situationen, z. B. im Schlaf. Er bewirkt eine Abnahme der Herzfrequenz und der Überleitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten. Auf die übrigen genannten Faktoren hat er keinen direkten Einfluss.

! Merke Einfluss des vegetativen Nervensystems ● ●

Sympathikus: Steigerung der Herzleistung Parasympathikus: Dämpfung der Herzleistung

Medizin Herzfrequenz und Medikamente Durch Medikamente, die die Aktivität des Sympathikus verstärken, sog. Sympathomimetika (S. 128) wie Adrenalin, lassen sich die Herzfrequenz und die Schlagkraft erhöhen. Eine Reduktion von Herzfrequenz und Schlagkraft gelingt mit Medikamenten, die die Wirkung des Sympathikus hemmen, z. B. mit β-Blockern (S. 131).

RETTEN TO GO Herzleistung und vegetativer Einfluss Bei gesunden Erwachsenen beträgt die Herzfrequenz (Hf) in Ruhe ca. 60–80 Schläge/min, das Schlagvolumen (SV) ca. 70 ml und das Herzzeitvolumen (HZV) ca. 5 l/min. Das vegetative Nervensystem passt die Leistung des Herzens an die körperliche Belastung an: ● Der Sympathikus steigert die Herzfrequenz, die Kontraktionskraft, die Überleitungsgeschwindigkeit im AVKnoten sowie die Erschlaffungsgeschwindigkeit und die Erregbarkeit der Kammermuskulatur. ● Der Parasympathikus reduziert die Herzfrequenz und die Überleitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten.

Herz-Kreislauf-System

3.4.3 Blutgefäße



Funktionen und Aufbau Funktionen • Blutgefäße sind die Transportwege, auf denen das Blut durch den Körper strömt. Über sie erreicht das Blut jedes Organ und fließt wieder zurück zum Herzen. In den Geweben sorgen kleinste Blutgefäße (Kapillaren) für den Stoffaustausch zwischen Blut und Körperzellen, d. h., sie versorgen das Gewebe mit O2 und anderen Stoffen und transportieren dort entstehende Substanzen (z. B. CO2, Stoffwechselprodukte, Hormone) aus dem Gewebe ab. Wandaufbau • Die Wand größerer Gefäße besteht aus 3 Schichten (▶ Abb. 3.12). Diese sind unterschiedlich stark ausgeprägt – je nachdem, in welcher Körperregion die Gefäße verlaufen und welche Aufgaben sie haben. ● Die innere Schicht kleidet den Hohlraum des Gefäßes (Gefäßlumen) von innen aus und besteht aus Endothelzellen (Endothel) und Bindegewebe. ● mittlere Schicht: glatte Muskulatur und elastische Fasern ● äußere Schicht: Bindegewebe



Die Wand der herznahen Arterien (z. B. Aorta, große Lungenarterien) vom elastischen Typ enthält viele elastische Fasern. Sie ermöglichen durch eine Windkesselfunktion (▶ Abb. 3.13) einen gleichmäßigen Blutfluss im Körper, obwohl das Blut vom Herzen stoßweise gepumpt wird. Die herzfernen Arterien vom muskulären Typ besitzen viele glatte Muskelzellen. Dadurch können sie sich deutlich verengen und den Widerstand für den Blutfluss erhöhen (Widerstandsgefäße). Sie können die Durchblutung der von ihnen versorgten Organe steigern oder drosseln.

! Merke Vasodilatation und Vasokonstriktion ● ●

Vasodilatation: Erweiterung der Blutgefäße. Vasokonstriktion: Verengung der Blutgefäße

Medizin Aneurysma Ein Aneurysma ist eine krankhafte, umschriebene Erweiterung einer Arterie. Mit zunehmender Aussackung steigt die Gefahr, dass die Wand des Aneurysmas einreißt und eine mitunter lebensgefährliche Blutung entsteht. Näheres dazu in den Abschnitten Bauchaortenaneurysma (S. 352) und akutes Aortensyndrom (S. 312). Die Arterien verzweigen sich in ihrem Verlauf, wobei der Gefäßdurchmesser immer weiter abnimmt. Sehr kleine Arterien (Arteriolen) gehen schließlich in die Kapillaren über.

Blutgefäßarten Arterien Arterien (▶ Tab. 3.3) leiten das Blut vom Herzen weg und verteilen es im Körper. In den Arterien des Körperkreislaufs fließt O2-reiches (hellrotes), in den Arterien des Lungenkreislaufs O2-armes (dunkelrotes) Blut.

ACHTUNG Nicht in allen Arterien fließt sauerstoffreiches Blut! Die Arterien des Körperkreislaufs zählen zum Hochdrucksystem (S. 67), in ihnen herrscht ein Blutdruck von durchschnittlich 100 mmHg. Um diesem hohen Druck standzuhalten, sind ihre Wände relativ dick. Bezüglich des Wandaufbaus werden folgende Typen unterschieden: Abb. 3.12 Aufbau der Gefäßwand.

Kapillaren Die Kapillaren (Haargefäße) bilden im gesamten Körper ein Netzwerk aus feinsten Blutgefäßen. Sie schließen sich im Blutverlauf an die Arteriolen an und gehen in kleine Venenäste (Venolen) über. Ihre Aufgabe ist der Stoffaustausch im Gewebe. Die Wand besteht aus einer einzigen, sehr dünnen Schicht aus Endothelzellen, die in den meisten Organen Poren aufweist. Über diese Lücken in der Gefäßwand können Nähr- und Abfallstoffe durchtreten.

Abb. 3.13 Windkesselfunktion der Aorta.

Aorta

Endothel innere Schicht

lockeres Bindegewebe glatte Muskelzellen, elastische Fasern

Aortenklappe linke Kammer a

mittlere Schicht

äußere Schicht

Bindegewebe

Gefäßwand am Beispiel einer Arterie: Hier ist die Muskelschicht besonders stark ausgeprägt. Aus: Aumüller G, Aust G, Conrad A, Engele J, Kirsch J, Maio G, Mayerhofer A, Mense S, Reißig D et al., Hrsg. Duale Reihe Anatomie. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

b

Voraussetzung für die Windkesselfunktion sind intakte elastische Fasern in der Wand der Aorta. a Die elastische Wand der Aorta wird durch das Blutvolumen gedehnt (grüne Pfeile), das in der Systole vom linken Ventrikel ausgeworfen wird (rote Pfeile). Dadurch nimmt die Aorta einen Teil des Herzschlagvolumens auf. b Während der folgenden Diastole zieht sich die Wand der Aorta wieder zusammen (grüne Pfeile) und befördert so das gespeicherte Blut mit Verzögerung in den großen Kreislauf (roter Pfeil). Dadurch werden Blutdruckspitzen gemildert und die Blutströmung wird gleichmäßiger. Aus: Schünke M, Faller A, Hrsg. Der Körper des Menschen. 18. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

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3

Anatomie und Physiologie

Tab. 3.3 Unterschiede zwischen Arterien und Venen. Arterien

Venen

Fließrichtung des Blutes

vom Herzen weg

zum Herzen hin

Wandstärke

dick (stark ausgeprägte Muskelschicht)

dünn (gering ausgeprägte Muskelschicht)

Gefäßlumen

gering

groß

Besonderheiten

Windkesselfunktion der herznahen Gefäße Regulation des peripheren Widerstands durch herzferne Gefäße

Ventilfunktion der Venenklappen Kapazitätsgefäße

Druckverhältnisse

Hochdrucksystem (nur Körperkreislauf!)

Niederdrucksystem

Venen Druckverhältnisse • Kleine Venen (Venolen) sammeln das Blut aus den Kapillaren und leiten es in größere Venen, die es zurück zum Herzen transportieren (▶ Tab. 3.3). In den Venen des Körperkreislaufs fließt O2-armes, in den Venen des Lungenkreislaufs O2-reiches Blut. Die Venen zählen zum Niederdrucksystem (S. 67), d. h., der Blutdruck in ihnen beträgt < 20 mmHg. Ihre Wände sind dünn, die Muskelschicht ist gering ausgeprägt. Eine dünnere Wand bei gleichem Umfang bedeutet, dass der vom Gefäß umschlossene Hohlraum, das Gefäßlumen, bei den Venen größer ist als bei den entsprechenden Arterien. Daher befindet sich ein Großteil des Gesamtblutvolumens in den Venen (Kapazitätsgefäße). Dieses Blutreservoir wird bei der Schocklagerung (S. 287) mobilisiert: Ein Hochlagern der Beine erhöht den Blutrückstrom zum Herzen und damit das Herzzeitvolumen. Bluttransport in Richtung Herz • Die Venenklappen in der Wand der Venen verhindern ein Zurückfließen des Blutes und ermöglichen so den Transport des Blutes zum Herzen (Ventilfunktion). Der Blutfluss in den Venen wird durch wiederholte, kurze Kompressionen gefördert, und zwar durch Pulsationen einer direkt neben der Vene verlaufenden Arterie (arteriovenöse Kopplung) und durch Bewegungen der Skelettmuskulatur (Muskelpumpe). Zudem unterstützen die Sogwirkung des Herzens und die Druckunterschiede im Brustraum beim Atmen den Blutrückstrom.

3.4.4 Blutkreislauf Körperkreislauf und Lungenkreislauf Der Blutkreislauf ist ein geschlossenes Gefäßsystem, das aus zwei hintereinandergeschalteten Kreisläufen besteht, dem Körperkreislauf (= großer Kreislauf) und dem Lungenkreislauf (= kleiner Kreislauf). Dazwischen befindet sich das Herz als Pumpe (▶ Abb. 3.14).

Körperkreislauf Funktion • Der große Kreislauf versorgt die Organe und Gewebe mit Sauerstoff und Nährstoffen und transportiert die Stoffwechselprodukte ab. Abb. 3.14 Körperkreislauf und Lungenkreislauf.

Lungenkreislauf = kleiner Kreislauf obere Hohlvene (V. cava superior)

Körperkreislauf = großer Kreislauf Kapillargebiet der oberen Körperhälfte Kapillargebiet der Lunge

Lungenvene (V. pulmonalis)

Lungenarterie (A. pulmonalis) Aorta

RETTEN TO GO

linker Vorhof Blutgefäße ●





Funktionen: – Blutleitung (Arterien und Venen) – Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe (Kapillaren) Wandaufbau: – innere Schicht: Endothel und Bindegewebe – mittlere Schicht: glatte Muskelzellen, elastische Fasern – äußere Schicht: Bindegewebe Blutgefäßarten: – Arterien leiten das Blut vom Herzen weg und verteilen es im Körper. – Venen sammeln das Blut und transportieren es zurück zum Herz. – Die Kapillaren verbinden die Arterien mit den Venen.

rechter Vorhof

linke Kammer

rechte Kammer

untere Hohlvene (V. cava inferior)

Kapillargebiet der unteren Körperhälfte Gefäße, die O2-reiches Blut führen, sind rot gefärbt, Gefäße, die O2-armes Blut führen, blau. Die Pfeile zeigen die Richtung des Blutflusses. Gezeigt sind nur die großen Gefäße. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

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Herz-Kreislauf-System Abb. 3.15 Große Arterien des Körperkreislaufs.

gemeinsamer Stamm für die rechte Kopfschlagader und die rechte Schlüsselbeinarterie (Truncus brachiocephalicus) aufsteigende Aorta (Aorta ascendens) Achselarterie (A. axillaris) absteigende Aorta (Aorta descendens) gemeinsamer Stamm von Leber-, Milz- und Magenarterie (Truncus coeliacus) tiefe Oberarmarterie gemeinsame Leberarterie Oberarmarterie (A. brachialis) Speichenarterie (A. radialis)

Gesichtsarterie äußere Halsschlagader (A. carotis externa) innere Halsschlagader (A. carotis interna) gemeinsame Halsschlagader (A. carotis communis) innere Brustwandarterie linke Schlüsselbeinarterie linke Magenarterie Milzarterie obere Gekrösearterie Nierenarterie untere Gekrösearterie gemeinsame Beckenarterie (A. iliaca communis)

Ellenarterie (A. ulnaris)

innere Beckenarterie äußere Beckenarterie Oberschenkelarterie (A. femoralis) tiefe Oberschenkelarterie Kniekehlenarterie

Alle Arterien des Körperkreislaufs gehen aus der Aorta hervor. Die Aorta verläuft vom Herzen aus nach oben (aufsteigende Aorta = Aorta ascendens), macht dann einen Bogen (Aortenbogen) und zieht anschließend abwärts (absteigende Aorta = Aorta descendens), zunächst im Brustraum (Brustaorta = Aorta thoracica) und ab dem Zwerchfell im Bauch-BeckenRaum (Bauchaorta = Aorta abdominalis). Vom Aortenbogen gehen 3 große Gefäße zur Versorgung von Kopf, Hals und Armen ab. Zuerst entspringt ein Gefäßstamm (Truncus brachiocephalicus), der sich kurz darauf in die rechte Halsschlagader (A. carotis communis dextra) und die rechte Schlüsselbeinarterie (A. subclavia dextra) teilt. Die linke Halsschlagader (A. carotis communis sinistra) und die linke Schlüsselbeinarterie (A. subclavia sinistra) gehen hingegen jeweils direkt aus dem Aortenbogen hervor. Im absteigenden Teil der Brustaorta entspringen Arterien zur Versorgung der Brustorgane und der Brustwand. Von der Bauchaorta gehen Arterien für die Bauch- und Beckeneingeweide ab. Knapp unterhalb des Bauchnabels teilt sich die Aorta in die rechte und linke gemeinsame Beckenarterie (A. iliaca communis dextra bzw. sinistra). Diese verzweigt sich kurz oberhalb der Leiste in einen äußeren (A. iliaca externa) und einen inneren Ast (A. iliaca interna), der zu den Beckenorganen zieht. Der äußere Ast verläuft über die Leiste als Oberschenkelarterie (A. femoralis) weiter zum Bein und zum Fuß. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

hintere Schienbeinarterie Wadenbeinarterie

vordere Schienbeinarterie

Fußrückenarterie

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3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.16 Große Venen des Körperkreislaufs.

Gesichtsvene äußere Drosselvene (V. jugularis externa) innere Drosselvene (V. jugularis interna)

Schlüsselbeinvene (V. subclavia)

Arm-Kopf-Vene (V. brachiocephalica) obere Hohlvene (V. cava superior) Lebervene

Achselvene Oberarmvene

Pfortader (V. portae hepatis)

kopfwärts laufende Vene (V. cephalica)

Milzvene Nierenvene

Königsvene (V. basilica)

obere Gekrösevene

untere Hohlvene (V. cava inferior)

untere Gekrösevene

Speichenvene gemeinsame Beckenvene innere Beckenvene

Ellenvene

äußere Beckenvene Oberschenkelvene boundingbox

große Hautvene

Kniekehlenvene vordere Schienbeinvene

hintere Schienbeinvene

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Am linken Bein ist die V. femoralis als wichtigste tiefe Vene gezeigt, am rechten die V. saphena magna als größte oberflächliche Vene. Die V. saphena parva ist nicht zu sehen, da sie oberflächlich auf der Rückseite des Unterschenkels verläuft. Zurück zum Herzen gelangt das Blut aus der oberen Körperhälfte über die obere Hohlvene (V. cava superior) bzw. aus der unteren Körperhälfte (Bereiche unterhalb des Herzens) über die untere Hohlvene (V. cava inferior). Die Hohlvenen münden getrennt in den rechten Vorhof. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Herz-Kreislauf-System Aufbau • Aus der linken Herzkammer wird das O2-reiche Blut über die Aortenklappe in die Aorta und deren Abgänge gepumpt. Über die sich immer weiter verzweigenden Arterien und Arteriolen gelangt das Blut in die Kapillaren. Hier findet der Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe statt. Das nun O2-arme, CO2-reiche Blut fließt über die Venolen und Venen in die obere bzw. untere Hohlvene, und dann weiter in den rechten Vorhof und von dort über die Trikuspidalklappe in die rechte Herzkammer. Von hier aus gelangt das Blut in den Lungenkreislauf. Pfortaderkreislauf • Der Pfortaderkreislauf ist ein „Nebensystem“ des großen Körperkreislaufs. Die Pfortader (V. portae hepatis) sammelt das nährstoffreiche Blut aus den Verdauungsorganen, führt es aber nicht direkt zum Herzen zurück, sondern zunächst zur Leber. Dort werden in einem zweiten Kapillarsystem die Nährstoffe aufgenommen und schädliche Substanzen entsorgt. Von der Leber gelangt das Blut in die untere Hohlvene und weiter zum rechten Herzen. Arterien des Körperkreislaufs • Die Aorta (Hauptschlagader) ist die zentrale Arterie des Körpers. Aus ihr gehen alle anderen Arterien des Körperkreislaufs hervor (▶ Abb. 3.15). Venen des Körperkreislaufs • Die meisten Venen verlaufen als Begleitvenen parallel zu den entsprechenden Arterien (tiefe Venen, ▶ Abb. 3.16). Zusätzlich gibt es oberflächlich verlaufende Hautvenen, die Ihnen z. B. bei der Anlage eines peripher-venösen Zugangs (S. 225) begegnen werden.

Lungenkreislauf Im kleinen Kreislauf wird das Blut mit Sauerstoff angereichert und CO2 abgegeben. Die rechte Herzkammer pumpt das O2-arme Blut über die Pulmonalklappe in den Truncus pulmonalis. Über sich verzweigende Lungenarterien und Arteriolen gelangt es in die Lungenkapillaren. Dort wird es mit O2 angereichert und CO2 abgegeben. Über Venolen und kleinere Venen fließ das nun O2-reiche Blut in die Lungenvenen, die es in den linken Vorhof transportieren.

Hochdruck- und Niederdrucksystem Nach den Druckverhältnissen wird das Kreislaufsystem in ein Hoch- und ein Niederdrucksystem unterteilt. Hochdrucksystem • Die Arterien des Körperkreislaufs und die linke Herzkammer (in der Systole) bilden das Hochdrucksystem. Hier herrscht ein durchschnittlicher Druck von ca. 100 mmHg. Dieser arterielle Blutdruck ist notwendig, damit das Blut auch weit vom Herzen entfernte Bereiche des Körpers erreichen kann. Im Hochdrucksystem befinden sich etwa 15 % der Gesamtblutmenge des Körpers. Niederdrucksystem • Die Kapillaren, die Venen des Körperkreislaufs, alle Gefäße des Lungenkreislaufs, das rechte Herz, der linke Vorhof und die linke Herzkammer (während der Diastole) gehören zum Niederdrucksystem. Hier herrscht ein mittlerer Druck < 20 mmHg. In diesen Gefäßen befinden sich ca. 85 % des Blutvolumens.

RETTEN TO GO Abschnitte des Kreislaufs Körperkreislauf und Lungenkreislauf: ● Weg des Blutes im Körperkreislauf: linke Kammer → Arterien → Gewebekapillaren → Venen → rechter Vorhof ● Weg des Blutes im Lungenkreislauf: rechte Kammer → Lungenarterien → Lungenkapillaren → Lungenvenen → linker Vorhof Hochdruck- und Niederdrucksystem: ● Hochdrucksystem (ca. 100 mmHg): Arterien des Körperkreislaufs, linke Herzkammer (in der Systole) ● Niederdrucksystem (< 20 mmHg): Venen des Körperkreislaufs, rechtes Herz, alle Gefäße des Lungenkreislaufs, linker Vorhof, linke Herzkammer (in der Diastole)

Puls Wird das Blut während der Systole aus dem Herzen geworfen, entsteht eine Druckwelle, die sich über die Aorta auf alle Körperarterien ausbreitet und dazu führt, dass deren Wand gedehnt wird und sich wieder zusammenzieht. An Stellen, an denen größere Arterien dicht unter der Haut liegen, können Sie diese Druckwelle als Puls mit den Fingern fühlen. Geeignete Tastpunkte für die Pulsmessung (S. 188) sind z. B. am Handgelenk die Speichenarterie (A. radialis), am Hals die Halsschlagader (A. carotis communis) oder in der Leiste die Leistenarterie (A. femoralis). Die Pulsfrequenz entspricht i. d. R. der Herzfrequenz (d. h. in Ruhe 60–80/min).

Blutdruck Entstehung und Einflussfaktoren des Blutdrucks Der Blutdruck ist die Kraft, die das Blut auf die Gefäßwand ausübt. Er ist abhängig vom Herzzeitvolumen, vom Gesamtblutvolumen und vom Durchmesser und damit dem Gefäßwiderstand der Arterien: Je geringer der Durchmesser eines Gefäßes, umso größer ist der Widerstand und umso höher ist der Blutdruck. Der Blutdruck wird in mmHg (Millimeter Quecksilbersäule) angegeben. Wird vom Blutdruck gesprochen, ist meist der Blutdruck in den größeren Arterien des Körperkreislaufs gemeint (arterieller Blutdruck). Dieser wird immer durch 2 Werte beschrieben: Der erste Wert ist der Druck während der Systole, der zweite Wert der Druck während der Diastole. Der Normalwert für Erwachsene in Ruhe ist ca. 120/ 80 mmHg („Der Blutdruck ist 120 zu 80.“). Bei Kindern ist der Blutdruck deutlich niedriger (▶ Tab. 23.1). Siehe auch den Abschnitt zur Blutdruckmessung (S. 198).

Blutdruckregulation Kurzfristige Blutdruckregulation • Der Blutdruck wird an die wechselnden Anforderungen des Körpers angepasst. Dafür muss der Körper zunächst erkennen, dass eine Anpassung des Blutdrucks notwendig ist. Für die kurzfristige Regulation (z. B. bei körperlicher Belastung) sind Messfühler in den Wänden des Aortenbogens und der Karotisgabel entscheidend, die Presso- oder Barorezeptoren. Sie messen sehr exakt Änderungen in der Dehnung der Gefäßwand durch Schwankungen des Blutdrucks. Bei einem Blutdruckanstieg werden die Pressorezeptoren aktiviert und senden Impulse an das Kreislaufzentrum im 67

3

Anatomie und Physiologie Hirnstamm (S. 98). Dieses hemmt die Aktivität des Sympathikus, d. h., seine Wirkung auf das Herz (S. 62) und das Gefäßsystem nehmen ab: Die Herzfrequenz sinkt ab und die Gefäße werden weitgestellt (Vasodilatation), der Gefäßwiderstand nimmt ab und der Blutdruck sinkt. Registrieren die Pressorezeptoren hingegen einen Blutdruckabfall, nimmt – wieder über das Kreislaufzentrum – die Aktivität des Sympathikus zu: Die Herzfrequenz nimmt zu und die Gefäße verengen sich (Vasokonstriktion). Der Gefäßwiderstand und der Blutdruck steigen an.

verbraucht, CO2 wird als Abfallprodukt in das Blut abgegeben (= innere Atmung oder Zellatmung). Für den Gesamtprozess der äußeren Atmung müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: ● ausreichende Belüftung der Lunge (Ventilation) ● ausreichende Durchblutung der Lunge (Perfusion) ● ungehinderter Austausch der Atemgase zwischen Lunge und Blut (Diffusion)

! Merke Abweichungen des Blutdrucks

Entsprechend den Teilfunktionen der Lunge werden folgende Störungen der Lungenfunktion unterschieden: ● Ventilationsstörungen: mangelnde Belüftung der Lunge oder einzelner Lungenabschnitte, z. B. durch eine Verengung der Bronchien bei einem Asthmaanfall (S. 261) ● Perfusionsstörungen: mangelnde Lungendurchblutung durch Verschluss einer Lungenarterie bei einer Lungenembolie (S. 303) ● Diffusionsstörungen: mangelhafter Gasaustausch durch die Wand der Lungenbläschen, z. B. bei einem Lungenödem (S. 268)

● ●

Hypotonie: zu niedriger Blutdruck Hypertonie: zu hoher Blutdruck

Längerfristige Blutdruckregulation • Sie beruht hauptsächlich auf Veränderungen der Gesamtblutmenge. Hier spielen Hormone eine entscheidende Rolle. Sie beeinflussen die Flüssigkeitsausscheidung über die Nieren, das Durstgefühl und das Ausmaß der Gefäßverengung.

Medizin Störungen der Lungenfunktion

Atmungsorgane RETTEN TO GO Puls und Blutdruck ●







Der Puls ist die Druckwelle, die vom Herzen fortgeleitet wird. Geeignete Tastpunkte sind z. B. die Speichenarterie (A. radialis), die Halsschlagader (A. carotis communis) und die Leistenarterie (A. femoralis). Der Blutdruck ist die Kraft, die das Blut auf die Gefäßwand ausübt. Der arterielle Blutdruck ist der Druck, der nach Auswurf des Blutes aus dem Herzen in den großen Arterien herrscht. Er beträgt bei gesunden Erwachsenen in Ruhe ca. 120/80 mmHg: 120 mmHg ist der systolische, 80 mmHg der diastolische Wert. Die kurzfristige Regulation des Blutdrucks erfolgt über Pressorezeptoren in der Wand des Aortenbogens und der Karotisgabel. Sie messen die Wanddehnung der Gefäße und senden die Informationen an das Kreislaufzentrum im Hirnstamm. Bei einem Blutdruckabfall wird der Sympathikus aktiviert, der Blutdruck steigt. Bei einem Blutdruckanstieg wird der Sympathikus gehemmt, der Blutdruck sinkt. Entscheidend für die längerfristige Blutdruckregulation sind Hormone, die den Wasserhaushalt des Körpers anpassen.

Anatomische Gliederung • ▶ Abb. 3.17 ● obere Atemwege: Nasenhöhle und Rachen ● untere Atemwege: Kehlkopf, Luftröhre, Bronchien (Hauptbronchien bis kleinste Verzweigungen), Lunge mit Lungenbläschen (Alveolen) Funktionelle Gliederung ● Die luftleitenden Atemwege (Nasenhöhle bis zu den kleinsten Verzweigungen der Bronchien) sorgen für den Transport der Atemgase und auch für die Erwärmung, Befeuchtung und Reinigung der Atemluft. Sie nehmen nicht am Gasaustausch teil (anatomischer Totraum, ▶ Tab. 3.4). Abb. 3.17 Atmungssystem.

Transport der Atemluft Nasenhöhle Atemluft

Rachen (Pharynx) Kehlkopf (Larynx) Luftröhre (Trachea)

3.5 Atmungssystem 3.5.1 Überblick Alle Körperzellen sind auf eine kontinuierliche Zufuhr von Sauerstoff (O2) angewiesen. Diesen erhalten sie über das Atmungssystem (respiratorisches System). Siehe Kapitel 23 für die Besonderheiten des Atmungssystems von Kindern (S. 524) und von alten Menschen (S. 530).

Atmung Atmung ist definiert als der Austausch der Atemgase Sauerstoff (O2) und Kohlendioxid (CO2). In der Lunge wird der eingeatmete O2 im Austausch gegen CO2 in das Blut aufgenommen (= äußere Atmung oder Lungenatmung) und zu den Körperzellen transportiert. Dort wird O2 aufgenommen und 68

Bronchien Bronchiolen Lungenbläschen (Alveolen) Gasaustausch O2 ⇐⇒ CO2 Die eingeatmete Luft gelangt durch Nase oder Mund in die Luftröhre und von dort weiter durch die beiden Hauptbronchien in die beiden Lungenflügel. Die Hauptbronchien verzweigen sich baumartig in immer kleinere Bronchien und bilden einen Bronchialbaum. Die kleinsten Verzweigungen (Bronchiolen) münden schließlich in den Alveolen. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Atmungssystem



Die gasaustauschenden (respiratorischen) Bereiche (kleinste Verzweigungen der Bronchien und Lungenbläschen) sind für den Austausch der Atemgase zuständig, d. h. für die Aufnahme von O2 aus den Lungenbläschen (bzw. der Atemluft) in die Blutgefäße und die Abgabe von CO2 aus den Gefäßen in die Lungenbläschen.

RETTEN TO GO Überblick: Atmungssystem Atmung ist definiert als Austausch der Atemgase Sauerstoff (O2) und Kohlendioxid (CO2). ● äußere Atmung (= Lungenatmung): In der Lunge wird der eingeatmete O2 im Austausch gegen CO2 in das Blut aufgenommen. ● innere Atmung (= Zellatmung): O2 wird in die Körperzellen aufgenommen und verbraucht bzw. CO2 als Abfallprodukt in das Blut abgegeben. Gliederung des Atmungssystems: ● anatomische Gliederung: – obere Atemwege: Nasenhöhle, Rachen – untere Atemwege: Kehlkopf, Luftröhre, Bronchien, Lunge mit Lungenbläschen (Alveolen) ● funktionelle Gliederung: – luftleitende Atemwege: Nasenhöhle bis kleinste Bronchien – gasaustauschende Bereiche: kleinste Bronchien und Lungenbläschen

3.5.2 Nase und Nasennebenhöhlen Funktionen • Die Atemluft wird angewärmt, gereinigt und angefeuchtet. In der Nase befindet sich das Riechorgan (Geruchssinn). Lage und Aufbau • Die Nase (▶ Abb. 3.18) umschließt die Nasenhöhle, die durch die Nasenscheidewand (Nasenseptum) geteilt wird. Nach hinten öffnet sie sich in den Rachen. An den Seitenwänden der Nasenhöhle befinden sich jeweils 3 knöcherne Nasenmuscheln. Sie gliedern die Nasenhöhle in einen oberen, mittleren und unteren Nasengang. Die Nasengänge sind mit den Nasennebenhöhlen (Kiefer-, Stirn-, Siebbein- und Keilbeinhöhle) verbunden, luftgefüllten, mit Schleimhaut ausgekleideten Hohlräumen in den Knochen des Gesichtsschädels. Das Gerüst der äußeren Nase und der vorderen Nasenscheidewand besteht aus Knorpel, die übrigen Strukturen haben eine knöcherne Grundlage. Die Nasenhöhle ist mit Schleimhaut ausgekleidet. Im oberen Anteil liegt die Riechschleimhaut mit den Riechzellen.

RETTEN TO GO Nase und Nasennebenhöhlen Funktionen: ● Anwärmen, Reinigen und Anfeuchten der Atemluft ● Riechen (Nase) Aufbau: Die Nasenhöhle wird durch die Nasenscheidewand geteilt. Sie steht in Verbindung mit den Nasennebenhöhlen, mit Luft gefüllten Hohlräumen in den Knochen des Gesichtsschädels. Im oberen Anteil der Nasenhöhle liegt die Riechschleimhaut.

3.5.3 Rachen Funktionen • Der Rachen (Schlund, Pharynx) ist die gemeinsame Wegstrecke von Atemluft und Nahrung. Er leitet die Atemluft aus Nase und Mund in die Luftröhre und die Nahrung vom Mund in die Speiseröhre. Zusammen mit dem Kehlkopf verhindert er, dass beim Schlucken Nahrung oder Flüssigkeit in die Luftröhre gelangt. Eine Berührung der hinteren Rachenwand löst den Würgereflex aus. Im Rachen befindet sich außerdem der für die Immunabwehr wichtige Waldeyer-Rachenring (S. 56). Lage und Aufbau • Der Rachen besteht aus Muskulatur und hat die Form eines 12–15 cm langen Schlauchs. Seine Hinterwand grenzt an die Halswirbelsäule. Er wird in 3 Abschnitte unterteilt (▶ Abb. 3.18): ● Der Nasenrachen ist der obere Abschnitt des Rachens und steht mit der Nasenhöhle in Verbindung. Hier mündet die Ohrtrompete, die das Mittelohr (S. 102) belüftet. ● Der Mundrachen ist der mittlere Abschnitt und reicht vom Gaumensegel bis zur Spitze des Kehldeckels. ● Der Kehlkopfrachen ist der unterste Abschnitt des Rachens und grenzt an Kehlkopf und Speiseröhre.

RETTEN TO GO Rachen Funktionen: ● Transport von Atemluft (in die Luftröhre) und Nahrung bzw. Flüssigkeiten (in die Speiseröhre) ● Schluckvorgang ● Immunabwehr Aufbau: Der Rachen ist ein muskulärer Schlauch, der sich in den Nasenrachen, den Mundrachen und den Kehlkopfrachen gliedert.

Abb. 3.18 Nasen- und Rachenraum.

Nasenhöhle mit Nasenmuscheln

Rachenmandel

Choane

Nasenrachen

Gaumen

Mundrachen Mundhöhle

Kehlkopfrachen

Zunge Unterkieferknochen

Kehldeckel Zungenbein Schildknorpel Ringknorpel

Luftröhre Speiseröhre

Der Rachen (Schlund, Pharynx) ist die gemeinsame Wegstrecke von Atemluft und Nahrung. Aus: Schewior-Popp S, Sitzmann F, Ullrich L, Hrsg. Thiemes Pflege. 15. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

69

3

Anatomie und Physiologie

3.5.4 Kehlkopf

3.5.5 Luftröhre

Funktionen • Durch den Kehlkopf (Larynx) gelangt die Atemluft vom Rachen in die Luftröhre. Er ist verantwortlich für die Stimmbildung und verhindert beim Schlucken, dass Nahrung oder Flüssigkeit in die Luftröhre gelangt (Aspiration).

Funktion • Die Atemluft wird beim Transport durch die Luftröhre (Trachea) gereinigt, erwärmt und befeuchtet.

ACHTUNG Der Begriff „Aspiration“ hat in der Medizin zwei Bedeutungen: 1. das unabsichtliche Eindringen bzw. Einatmen von Flüssigkeiten oder festen Substanzen in die unteren Atemwege 2. das Ansaugen von Flüssigkeiten in eine Spritze (z. B. vor der i. v.Injektion eines Medikaments, um sicherzustellen, dass die Kanüle im Blutgefäß liegt) Lage und Aufbau • Der Kehlkopf verbindet den Rachen mit der Luftröhre. Er liegt vor der Speiseröhre. Vorne und seitlich wird er teilweise von der Schilddrüse bedeckt. Sein Grundgerüst wird von 5 großen Knorpeln gebildet. Der Kehldeckel (Epiglottis) hat etwa die Form eines Löffels und verschließt den Kehlkopf beim Schlucken (▶ Abb. 3.19). Bänder und Muskeln fixieren den Kehlkopf beweglich im Hals und ermöglichen so die Verschiebungen beim Schlucken und bei der Stimmbildung. Zwischen Ring- und Schildknorpel befindet sich an der Vorderseite ein starkes Band, das Ligamentum conicum (= Lig. cricothyroideum).

Lage und Aufbau • Die Trachea ist bei Erwachsenen 10– 12 cm lang und hat einen Durchmesser von 1,5–2 cm. Sie beginnt im Hals unterhalb des Kehlkopfes und endet im Thorax mit der Aufzweigung in den linken und rechten Hauptbronchus. Ihre Wand wird durch hufeisenförmige Knorpelspangen verstärkt, die die Trachea während der Atmung offen halten. Die offenen Enden der Knorpelspangen zeigen nach hinten und sind durch Binde- und Muskelgewebe verschlossen. In Längsrichtung sind die Knorpelspangen durch Ringbänder verbunden (▶ Abb. 3.20). Abb. 3.20 Luftröhre und Bronchialbaum.

Kehlkopf

Ringband

Medizin Kehlkopfschnitt (Koniotomie)

Knorpelspange

Versagen bei akuter Erstickungsgefahr alle Maßnahmen zur Atemwegssicherung, kann als letzter Ausweg (!) ein Notfall-Luftröhrenschnitt, die Koniotomie (S. 216), vorgenommen werden. Dabei wird das Lig. conicum durchtrennt und ein Tubus eingeführt.

rechter Hauptbronchus

Adventitia Knorpelspange respiratorisches Flimmerepithel M. trachealis Aorta

Lappenbronchus

RETTEN TO GO

Segmentbronchien

Kehlkopf Funktionen: ● Transport der Atemluft ● Stimmbildung ● Schutzfunktion beim Schlucken Aufbau: Das Grundgerüst des Kehlkopfs besteht aus 5 Knorpeln (Schild-, Ring- und Stellknorpel, Kehldeckel).

Abb. 3.19 Kehlkopf.

Segmentbronchien

linker Hauptbronchus

Segmentbronchien

Läppchenbronchien

Kehldeckel Zungenbein

Lappenbronchus Segmentbronchien

Bronchioli terminales

Bronchioli respiratorii I–III

Alveolen

Bindegewebe Stellknorpel Schildknorpel Lig. conicum Ringknorpel

Ansicht von vorn

Knorpelspangen der Luftröhre

Ansicht von hinten

Kehlkopfknorpel von vorn und von hinten. Der Schildknorpel verdeckt in der Vorderansicht die beiden Stellknorpel, bei Männern ist er als Adamsapfel sichtbar. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

70

Die Luftröhre teilt sich in 2 Hauptbronchien (kleines Bild: Wandaufbau der Luftröhre). Die Hauptbronchien verzweigen sich erst in mehrere Lappenbronchien, die sich weiter in kleinere Segmentbronchien aufteilen. Aus diesen gehen die Läppchenbronchien hervor, die durch weitere Aufzweigungen zu den Bronchioli terminales und dann zu den Bronchioli respiratorii werden. Deren Ende bilden die Alveolargänge mit den traubenförmig angeordneten Lungenbläschen (Alveolen).

Atmungssystem

Medizin Luftröhrenschnitt (Tracheotomie)

3.5.7 Lunge

Bei diesem Eingriff wird das Ringband zwischen 2 Knorpelspangen durchtrennt und eine Kanüle eingesetzt. Die Luft gelangt dann direkt durch die künstliche Öffnung (Tracheostoma) in die Luftröhre. Dieser Eingriff wird v. a. bei Patienten vorgenommen, die auf einer Intensivstation über längere Zeit beatmet werden müssen.

Funktionen • Die Hauptaufgabe ist der Gasaustausch (O2 und CO2) zwischen Atemluft und Blut. Die Lunge (Pulmo) ist auch wichtig für die Regulation des Säure-Basen-Haushalts (S. 85).

Schleimhaut • Innen ist die Luftröhre von einer Schleimhaut mit beweglichen Flimmerhärchen und schleimbildenden Becherzellen augekleidet (respiratorisches Flimmerepithel). Kleine Schmutzpartikel der Atemluft bleiben im Schleim haften und werden durch die rhythmisch schlagenden Flimmerhärchen zum Rachen transportiert, wo sie verschluckt, ausgehustet oder ausgespuckt werden.

Lage und Aufbau • Die Lunge besteht aus 2 Lungenflügeln, die jeweils in einer eigenen Brustfellhöhle liegen. Der rechte Lungenflügel gliedert sich in 3, der linke in 2 Lungenlappen (▶ Abb. 3.21). Die Lungenlappen teilen sich in Lungensegmente auf und diese wiederum in Lungenläppchen. Diese enthalten die Lungenbläschen (Alveolen). Jede Lunge hat ca. 300–400 Millionen Alveolen. Sie bilden eine Gesamtoberfläche von ca. 60–100 m2 für den Gasaustausch.

3.5.6 Bronchien

Blut-Luft-Schranke • Die Alveolen sind von einem dichten Netz aus kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren) umgeben (▶ Abb. 3.22). Ihre Wand ist sehr dünn und wird von speziellen Zellen gebildet, die stellenweise mit der Kapillarwand verschmolzen sind. Über diese Zellen findet der Gasaus-

Funktionen • Die Bronchien erwärmen, befeuchten und reinigen die Atemluft und transportieren sie in die Lunge (luftleitender Abschnitt). Mit den kleinsten Aufzweigungen der Bronchien beginnt der respiratorische Abschnitt, in dem der Gasaustausch zwischen Blut und Atemluft stattfindet. Lage und Aufbau • An der Bifurkation teilt sich die Trachea in den rechten und linken Hauptbronchus. Der linke Hautbronchus ist etwas stärker abgewinkelt und dünner als der rechte. Die beiden Hauptbronchien verzweigen sich wie die Äste eines Baumes (Bronchialbaum, ▶ Abb. 3.20), bis die kleinsten Bronchien in die Lungenbläschen (Alveolen) münden.

Abb. 3.21 Rechter und linker Lungenflügel.

rechte Lunge

linke Lunge

Lungenspitze

Lungenspitze Oberlappen

Oberlappen Mittellappen

Medizin Fremdkörperaspiration Bei einer Aspiration (S. 273) gelangen Fremdkörper häufiger in den rechten Hauptbronchus, da dieser deutlich steiler verläuft.

Rippenseite

Wandaufbau • Die Wand der größeren Bronchien wird durch Knorpelplatten verstärkt. In der Wand der Bronchiolen befindet sich eine kräftige Schicht aus glatter Muskulatur, die ein Eng- und Weitstellen ermöglicht. Die Innenseite der Bronchien ist (wie die Trachea) mit respiratorischem Flimmerepithel ausgekleidet. In den kleinesten Bronchien und den Alveolen gibt es keine Flimmerhärchen.

Lungenbasis

Lungenbasis Unterlappen

Medizin Asthmaanfall

Unterlappen

Die Bronchialmuskulatur zieht sich plötzlich stark zusammen und die Bronchien verengen sich. Den Patienten fällt v. a. das Ausatmen schwer und sie haben starke Atemnot (S. 261).

Durch Einschnitte wird der rechte Lungenflügel in 3 Lungenlappen, der linke Lungenflügel in 2 Lungenlappen geteilt. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

RETTEN TO GO Abb. 3.22 Lungenbläschen. Luftröhre und Bronchien ●



Kapillarnetz Alveole

Funktion: Transport, Erwärmung, Befeuchtung und Reinigung der Atemluft Aufbau: Die Trachea teilt sich am unteren Ende in die beiden Hauptbronchien. Die Bronchien verästeln sich baumartig in immer kleinere Äste: Lappen-, Segmentund Läppchenbronchien und schließlich Bronchioli, die in die Lungenbläschen (Alveolen) münden.

Bronchiolus respiratorius Ast der Lungenarterie (sauerstoffarm)

Bronchiolus terminalis Ast der Lungenvene (sauerstoffreich) Die Alveolen sind von einem dichten Kapillarnetz umgeben. Die Pfeile zeigen die Richtung des Blutflusses an. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

71

3

Anatomie und Physiologie tausch (S. 74) statt. Die dünne Gewebeschranke zwischen Kapillaren und Alveolen ist die Blut-Luft-Schranke. Surfactant • Andere Zellen in den Alveolen bilden ein FettEiweiß-Gemisch, den Surfactant. Dieser überzieht die Innenfläche der Alveolen und vermindert so ihre Oberflächenspannung. Ohne Surfactant wäre die Oberflächenspannung der Alveolen aufgrund ihrer kugeligen Form so hoch, dass sie in sich zusammenfallen und nicht mehr für den Gasaustausch zur Verfügung stehen würden. Blutversorgung • Die Lunge hat 2 Blutgefäßsysteme: zum einen die „privaten“ Bronchialarterien aus dem Körperkreislauf für die Eigenversorgung des Gewebes mit O2, zum anderen die „öffentlichen“ Lungen- oder Pulmonalarterien des Lungenkreislaufs (S. 67) für den Gasaustausch.

RETTEN TO GO Brustfell (Pleura) Das Brustfell umhüllt die beiden Lungenflügel und besteht aus 2 Blättern (Lungen- und Rippenfell). Zwischen den beiden Blättern befindet sich der Pleuraspalt. Der Unterdruck im Pleuraspalt und die enthaltene Flüssigkeit sind für die Atembewegungen wichtig.

3.5.9 Physiologie der Atmung Atemmechanik Definition Atemmechanik

RETTEN TO GO Lunge (Pulmo) Funktionen: ● Gasaustausch ● Regulation des Säure-Basen-Haushalts Aufbau: Die Lunge besteht aus 2 Lungenflügeln. Der rechte Lungenflügel gliedert sich in 3, der linke in 2 Lungenlappen. Die kleinste Einheit sind die Lungenbläschen (Alveolen). Sie sind von einem dichten Netz aus kleinsten Blutgefäßen (Kapillaren) umgeben. Hier findet der Gasaustausch statt. Damit die Lungenbläschen nicht zusammenfallen, sind sie von innen mit Surfactant überzogen.

Der Gasaustausch in den Lungenbläschen findet nur statt, wenn der An- und Abtransport der Atemgase durch die luftleitenden Atemwege (Ventilation) gewährleistet ist. Die Atemmechanik umfasst alle Vorgänge, die den Ein- und Ausstrom der Atemluft bewirken. Damit die Atemgase strömen können, sind Druckunterschiede zwischen Lunge und Umgebung notwendig. Die Lunge ist nur passiv beweglich und folgt den Bewegungen der Thoraxwand. Die aktiven Kräfte vermitteln die Atemmuskeln (v. a. das Zwerchfell): Sie bewirken eine Vergrößerung und Verkleinerung des Thoraxraums. Bei der Einatmung weitet sich der Brustraum, bei der Ausatmung verkleinert er sich.

Einatmung Synonym • Inspiration

3.5.8 Brustfell Aufbau • Das Brustfell (Pleura) ist eine dünne Haut, die im Brustraum 2 voneinander getrennte Brustfellhöhlen (Pleurahöhlen) bildet. In diesen Hohlräumen liegen die beiden Lungenflügel. Das Brustfell besteht aus 2 Blättern: Das innere Blatt (Pleura visceralis = Lungenfell) umhüllt jeweils die Lungenflügel, das äußere Blatt (Pleura parietalis = Rippenfell) liegt der Brustwand von innen an. Zwischen den beiden Brustfellhöhlen befindet sich der Mittelfellraum (Mediastinum), in dem sich das Herz, der Thymus (S. 56) und ein Teil der Luftröhre befinden.

Bauchatmung • Das Zwerchfell (Diaphragma) ist der wichtigste Atemmuskel. Es trennt die Brust- von der Bauchhöhle und ragt in der Ruheposition kuppelartig in die Brusthöhle. Bei der Einatmung zieht es sich zusammen und verlagert sich nach unten, wodurch sich der Brustraum erweitert (▶ Abb. 3.23). Da die beiden Blätter der Pleura durch einen Unterdruck aneinanderhaften (s. o.), muss das Lungengewebe dieser Bewegung folgen und wird gedehnt. Dadurch entsteht in der Lunge ein Unterdruck und Luft wird eingesogen. Eine entspannte Atmung beruht fast ausschließlich auf den Abb. 3.23 Atemmechanik.

Pleuraspalt • Dieser schmale Spalt zwischen den Pleurablättern ist mit Flüssigkeit gefüllt. Sie ermöglicht ein reibungsloses Gleiten der Lungen während der Atmung und verhindert ein Verkleben der beiden Blätter. Im Pleuraspalt herrscht normalerweise ein Unterdruck, der dafür sorgt, dass die Lunge an der Brustwandinnenseite haftet. Ohne diesen Unterdruck würde die Lunge in sich zusammenfallen (kollabieren), da sie aufgrund ihres elastischen Gewebes die Tendenz hat, sich zusammenzuziehen.

Medizin Pleuraerguss und Pneumothorax Bei verschiedenen Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz, Lungenentzündung) kann die Flüssigkeitsmenge im Pleuraspalt stark zunehmen, es entsteht ein Pleuraerguss. Große Ergüsse behindern die Atmung. Dringt Luft z. B. über eine Verletzung in den Pleuraspalt, wird der dortige Unterdruck aufgehoben, die betroffene Lunge kollabiert und die Atmung ist beeinträchtigt. Diese mitunter lebensbedrohliche Veränderung wird als Pneumothorax (S. 387) bezeichnet.

Einatmung

Thorax mit Atemhilfsmuskulatur Zwerchfell Ende der Einatmung

Ende der Ausatmung

Bei der Einatmung flacht das Zwerchfell ab und die Rippen erweitern den Brustkorb. Der Brustraum wird größer und die Lunge wird gedehnt. Bei der Ausatmung erschlaffen die Inspirationsmuskeln und die Lunge zieht sich zusammen. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

72

Ausatmung

Rippen

Atmungssystem Bewegungen des Zwerchfells: Bei der Bauchatmung hebt und senkt sich v. a. die Bauchdecke. Brustatmung • Die äußeren Zwischenrippenmuskeln unterstützen das Zwerchfell, wenn die Atmung vertieft werden soll. Ihre Fasern verlaufen jeweils zwischen zwei benachbarten Rippen, und zwar schräg von hinten-oben nach vorneunten. Ziehen sie sich zusammen, werden die Rippen leicht angehoben und der Durchmesser des Brustkorbs vergrößert sich. Eine solche Brustatmung ist an den Bewegungen des Brustkorbs zu erkennen. Inspiratorische Atemhilfsmuskulatur • Bei besonders großer Atemanstrengung, z. B. bei starker körperlicher Belastung, unterstützen weitere Muskeln an Hals, Brust und Rücken die Einatmung (inspiratorische Atemhilfsmuskeln).

Ausatmung

Atemfrequenz und Atemvolumina Der Zyklus von einer Einatmung und der folgenden Ausatmung ist ein Atemzug. Die Atemfrequenz ist die Anzahl der Atemzüge pro Minute. Die Atemfrequenz in Ruhe ist abhängig vom Lebensalter (▶ Tab. 23.1), bei Erwachsenen beträgt sie 12–15 Atemzüge/min. Die Luftmengen, die während der Ein- und Ausatmung bewegt werden, sind die Atemvolumina (▶ Tab. 3.4, ▶ Abb. 3.24).

! Merke Abweichungen von der Atemfrequenz ● ● ●

Tachypnoe: beschleunigte Atmung Bradypnoe: verlangsamte Atmung Apnoe: Atemstillstand

RETTEN TO GO Atemmechanik und Atemvolumina

Synonym • Exspiration



Passive Ausatmung • Die Ausatmung ist ein überwiegend passiver Vorgang, d. h., er läuft fast ohne Muskelbeteiligung ab: Durch viele elastische Fasern im Lungengewebe und die hohe Oberflächenspannung der Lungenbläschen hat die Lunge immer die Neigung, sich zusammenzuziehen (Rückstellkräfte). Erschlaffen die inspiratorischen Atemmuskeln, überwiegen die Rückstellkräfte und die Lunge verkleinert sich wieder. Dabei strömt die Luft aus der Lunge über die Atemwege nach außen (Ausatmung).





Exspiratorische Atemhilfsmuskulatur • Bei größerer Atemanstrengung unterstützen exspiratorische Hilfsmuskeln die Ausatmung, v. a. die inneren Zwischenrippenmuskeln und die Bauchmuskulatur. Die Fasern der inneren Zwischenrippenmuskeln verlaufen quer zu denen der äußeren Zwischenrippenmuskeln, also von hinten-unten nach vorneoben. Ziehen sie sich zusammen, senken sie die Rippen ab.

Einatmung (Inspiration): Die Atemmuskeln kontrahieren, wodurch sich der Thorax erweitert. Die Lunge folgt der Bewegung der Brustwand und wird gedehnt. Dies erzeugt einen Unterdruck und Luft wird eingesogen. Der wichtigste Atemmuskel ist das Zwerchfell. Ausatmung (Exspiration): Die Ausatmung in Ruhe erfordert keine Muskelanstrengung, weil sich die Lunge wegen ihrer elastischen Eigenschaften (Rückstellkräfte) zusammenzieht. Nur bei verstärkter Ausatmung sind Muskeln beteiligt, die den Brustraum aktiv verengen. Die Atemfrequenz ist die Anzahl der Atemzüge pro Minute und abhängig vom Lebensalter. Die Luftmengen, die während der Ein- und Ausatmung bewegt werden, werden als Atemvolumina bezeichnet.

Tab. 3.4 Atemvolumina (Durchschnittswerte für junge, gesunde Erwachsene). Atemvolumen

Definition

Durchschnittswerte

Atemzugvolumen (AZV)

Luftmenge, die pro Atemzug ein- und ausgeatmet wird

500 ml (in Ruhe)

Atemminutenvolumen (AMV)

Luftmenge, die pro Minute ein- und ausgeatmet wird, d. h. AZV × Atemfrequenz

7–8 l/min (in Ruhe)

inspiratorisches Reservevolumen (IRV)

Luftmenge, die durch stärkere Dehnung von Brustkorb und Lunge zusätzlich zum Ruhe-AZV eingeatmet werden kann

3l

exspiratorisches Reservevolumen (ERV)

Luftmenge, die nach der normalen Ausatmung zusätzlich ausgeatmet werden kann

1,5 l

Vitalkapazität (VC)

größtmögliche Luftmenge, die bei der Atmung bewegt werden kann: AZV + IRV + ERV

5l

Totraumvolumen

Luftvolumen, das sich in den Abschnitten der Atemwege befindet, in denen kein Gasaustausch stattfindet abhängig von der Atemtiefe: Bei flacher Atmung nimmt das Totraumvolumen zu, bei tiefer Atmung nimmt es ab.

150 ml

Residualvolumen (RV)

Luftmenge, die auch unter größter Atemanstrengung nicht abgeatmet werden kann und immer in der Lunge bleibt

1–2 l

Totalkapazität (TLC)

größtmögliches Volumen, das sich in der Lunge befinden kann = VC + RV

6–7 l

funktionelle Residualkapazität (FRC)

Luftmenge, die bei Ruheatmung in der Lunge zurückbleibt = RV + ERV

3l

73

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.24 Atemvolumina. Die Größe der Atemvolumina beim einzelnen Individuum erlaubt Rückschlüsse auf die Lungenfunktion und ist daher bei vielen Erkrankungen des Atmungssystems diagnostisch wichtig. Sie werden durch Lungenfunktionsprüfungen ermittelt. Zur weiteren Erklärung s. ▶ Tab. 3.4. Aus: I care Anatomie,

Totalkapazität (6–7 l)

inspiratorisches Reservevolumen (3 l)

Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Vitalkapazität (5 l) Atemzugvolumen (0,5 l) exspiratorisches Reservevolumen (1,5 l)

funktionelle Residualkapazität (3 l)

Residualvolumen (1–2 l) Atemruhelage

Gasaustausch

Abb. 3.25 Prinzip der Diffusion.

Definition Gasaustausch

Anfangszustand

In der Lunge nimmt das Blut Sauerstoff (O2) auf und gibt Kohlendioxid (CO2) ab. Die Körperzellen benötigen O2 für die Energiegewinnung. Dabei entsteht als Abfallprodukt CO2. Der Gasaustausch beschreibt den Prozess der O2-Aufnahme und der CO2-Abgabe in den Lungenbläschen.

A

Prinzip der Diffusion • Der Austausch der Atemgase zwischen Blut und Atemluft erfolgt durch Diffusion (▶ Abb. 3.25). Dafür müssen die Stoffe (= Atemgase) auf beiden Seiten einer durchlässigen Membran in unterschiedlicher Konzentration (= Partialdruck bzw. Teildruck der Atemgase) vorliegen. Die durchlässige Membran ist hier die Blut-Luft-Schranke (S. 72). Der Gasaustausch folgt dem Konzentrationsgefälle, d. h. vom Ort hoher Konzentration (hoher Partialdruck) zum Ort niedriger Konzentration (niedriger Partialdruck).

! Merke Diffusion

Diffusion (Gleichgewicht)

B

A

a

B

b

a: Die Konzentration der gelösten Teilchen ist auf Seite B höher. b: Die Teilchen wandern so lange entlang des Konzentrationsgradienten nach A, bis die Konzentration ausgeglichen ist. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Die unterschiedlichen Partialdrücke von O2 und CO2 im Blut und in den Alveolen sind die treibende Kraft für die Diffusion bei der Atmung. Tab. 3.5 Typische Partialdruckwerte der Atemgase. Partialdrücke in der Luft • Der Partialdruck von Gasen in der Luft hängt davon ab, welchen Anteil das Gas am Luftgemisch und damit auch am Gesamtluftdruck hat. Die Außenluft (Atmosphärenluft) besteht zu ca. 21 % aus O2 und zu 0,03 % aus CO2 – sowie zu ca. 78 % aus Stickstoff und weiteren Gasen (z. B. Argon, Helium). Bei einem Gesamtluftdruck auf Meereshöhe von ca. 760 mmHg beträgt deshalb der Partialdruck von O2 in der Außenluft ca. 150 mmHg und von CO2 ca. 0,2 mmHg. Da die Luft bei der Ein- und Ausatmung nur teilweise ausgetauscht wird und „verbrauchte“ Luft in den Alveolen zurückbleibt, ist in den Alveolen der Partialdruck von CO2 höher (ca. 40 mmHg) und von O2 niedriger (ca. 100 mmHg) als in der Atmosphärenluft (▶ Tab. 3.5). Partialdrücke im Blut • Der Partialdruck eines Gases im Blut hängt von seiner Löslichkeit ab: Je besser sich das Gas im Blut löst, umso höher ist seine potenzielle Konzentration und damit auch sein Partialdruck. Das sauerstoffarme Blut, das in den Lungenarterien zu den Alveolen fließt, hat einen

74

pO2

pCO2

Atmosphärenluft

ca. 150 mmHg

ca. 0,2 mmHg

Luft in den Alveolen

ca. 100 mmHg

ca. 40 mmHg

Lungenarterie, O2-armes Blut

ca. 40 mmHg

ca. 46 mmHg

Lungenvenen, O2-reiches Blut

ca. 90–100 mmHg

ca. 40 mmHg

Die Werte gelten für junge, gesunde Erwachsene, die sich auf Meereshöhe befinden.

Sauerstoff-Partialdruck (pO2) von ca. 40 mmHg und einen Kohlendioxid-Partialdruck (pCO2) von ca. 46 mmHg. Das sauerstoffreiche Blut in den Lungenvenen hat bei Gesunden einen pO2 von 90–100 mmHg und einen pCO2 von ca. 40 mmHg (▶ Tab. 3.5).

Atmungssystem Gasaustausch in den Alveolen • Der pO2 ist im sauerstoffarmen Blut der Lungenarterien niedriger als in der Alveolarluft, hingegen ist der pCO2 höher als in der Luft der Alveolen (▶ Tab. 3.5). Die Gasmoleküle folgen diesem Druckgefälle: O2 diffundiert aus der Alveolarluft ins Blut, während CO2 aus dem Blut in die Alveolen übertritt (▶ Abb. 3.26). Dies geschieht so lange, bis sich die Partialdrücke auf beiden Seiten weitgehend angeglichen haben (Diffusionsgleichgewicht).

Atemgastransport im Blut Da die Körperzellen beim Stoffwechsel O2 verbrauchen und CO2 produzieren, müssen die Atemgase stetig über das Blut an- bzw. abtransportiert werden. Auch in den Körperzellen erfolgt der Gasaustausch nach dem Prinzip der Diffusion. Sauerstofftransport • O2 wird im Blut fast vollständig an den Blutfarbstoff der roten Blutkörperchen, das Hämoglobin (S. 53), gebunden transportiert. Nur ein geringer Teil befindet sich in gelöster Form im Blut. Kohlendioxidtransport • Der überwiegende Teil des CO2 wird in Bikarbonat (HCO3–) umgewandelt, das im Blutplasma gelöst transportiert wird. In der Lunge entsteht daraus wieder CO2, das in die Lungenbläschen abgegeben wird. Etwa 20 % des CO2 werden an Hämoglobin gebunden transportiert, etwa 10 % in gelöster Form.

RETTEN TO GO

Abb. 3.26 Gasaustausch in den Alveolen.

Luft

Alveole

pO2 = 40 mmHg pCO2 = 46 mmHg

Atmungsregulation Atemzentrum • Die Atmung wird vom Atemzentrum im Hirnstamm (S. 98) reguliert, das den Atemrhythmus und die Atemfrequenz vorgibt. Es passt die Atmung so an die Bedürfnisse des Körpers an, dass pO2, der pCO2 und der pHWert (S. 85) im Blut möglichst konstant bleiben. Chemorezeptoren • Informationen über pO2, pCO2 und pHWerte erhält das Atemzentrum von spezielle Rezeptoren in der Aorta, in der Halsschlagader und im verlängerten Mark. Diese Messwerte werden über Nerven an das Atemzentrum weitergegeben, das daraufhin die Atemfrequenz und Atemtiefe entsprechend anpasst (▶ Tab. 3.6). Atemanreize • Der stärkste Reiz für eine Steigerung der Atmung ist ein erhöhter pCO2 im Blut, der zweitstärkste ein sinkender pH-Wert. Auch ein niedriger pO2 ist ein Atemanreiz, allerdings weniger ausgeprägt. Stimulierend auf die Atmung wirken außerdem Fieber, eine geringe Hypothermie (S. 402), Schmerzen, ein erhöhter Adrenalinspiegel, ein RRAbfall sowie Emotionen wie Angst, Schreck oder Freude.

pO2 = 100 mmHg pCO2 = 40 mmHg Lungenvene

Lungenarterie In den Lungenbläschen tritt Sauerstoff aus der eingeatmeten Luft in die Lungenkapillaren über und im Gegenzug CO2 aus dem Blut in die Atemluft. Tab. 3.6 Veränderung der Atmung bei Rückmeldung der Chemorezeptoren. Messgröße

Ergebnis

pCO2

erhöht

Hyperkapnie

Anstieg

erniedrigt

Hypokapnie

Abnahme

pHWert

erhöht

Alkalose

Abnahme

erniedrigt

Azidose

Anstieg

pO2

erhöht

Hyperoxämie

Abnahme

erniedrigt

Hypoxämie

Anstieg

Gasaustausch und Atemgastransport Der Gasaustausch in der Lunge erfolgt durch Diffusion: In der Luft der Lungenbläschen ist der O2-Partialdruck höher und der CO2-Partialdruck niedriger als im Blut. Dieses Druckgefälle sorgt dafür, dass O2 aus der Luft in das Blut bzw. CO2 aus dem Blut in die Luft diffundiert. Sauerstoff wird im Blut fast vollständig an den Blutfarbstoff (Hämoglobin) der Erythrozyten gebunden transportiert. Kohlendioxid wird überwiegend in Bikarbonat umgewandelt, das im Blutplasma gelöst transportiert wird.

pO2 100 mmHg pCO2 40 mmHg

Änderung der Atemfrequenz und -tiefe

ACHTUNG Besteht z. B. aufgrund einer COPD (S. 264) über längere Zeit ein erhöhter pCO2, wirkt dieser nicht mehr als Atemantrieb. Bei diesen Patienten ist der erniedrigte pO2 der wichtigste Atemanreiz. Daher darf zur Linderung von Atemnot nur sehr vorsichtig O2 verabreicht werden, da den Patienten sonst der letzte Atemantrieb genommen wird und ein Atemstillstand droht. Hering-Breuer-Reflex • Dehnungsrezeptoren messen, wie stark die Lunge während der Einatmung gedehnt wird und geben bei zu starker Dehnung Signale an das Atemzentrum weiter. Dieses stoppt dann die Einatmung.

RETTEN TO GO Atmungsregulation Die Atmung wird durch das Atemzentrum im Hirnstamm reguliert. Es reagiert auf Informationen, die es von verschiedenen Messstellen im Körper erhält: ● Chemorezeptoren: pCO2, pO2 und pH-Wert im Blut ● Dehnungsrezeptoren: Dehnung des Lungengewebes Eine verstärkte Atemtätigkeit wird ausgelöst durch einen hohen pCO2 (Hyperkapnie), einen niedrigen pO2 (Hypoxämie) und einen niedrigen pH-Wert (Azidose). Der pCO2 hat den größten Einfluss auf die Atmungsregulation.

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3

Anatomie und Physiologie

3.6 Verdauungssystem 3.6.1 Überblick Verdauung • Die zugeführten Nährstoffe (Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße) werden zunächst mechanisch und dann chemisch (enzymatisch) zerkleinert, damit sie von der Darmschleimhaut aufgenommen (resorbiert) werden können. Unverdauliche Nahrungsbestandteile durchlaufen den Verdauungstrakt vollständig und werden mit dem Stuhl ausgeschieden. In Kapitel 23 wird auf die Besonderheiten des Verdauungssystems von Kindern (S. 526) eingegangen. Verdauungsorgane • Die Verdauungsorgane bilden einen zusammenhängenden Schlauch (Verdauungskanal) von der Mundhöhle bis zum After. Außer der Mundhöhle und dem größten Teil der Speiseröhre liegen alle Verdauungsorgane im Bauch-Becken-Raum (▶ Abb. 3.27). Nahrung durchläuft den Verdauungskanal von der Aufnahme bis zur Ausscheidung in folgender Reihenfolge: Mundhöhle – Rachen – Speiseröhre – Magen – Dünndarm mit Zwölffingerdarm, Leerdarm und Krummdarm – Dickdarm mit Blinddarm (+ Wurmfortsatz), Grimmdarm und Mastdarm – Analkanal. Verdauungsdrüsen • In den Verdauungskanal münden die Ausführungsgänge der Verdauungsdrüsen, die die Verdauungssäfte produzieren und ausscheiden: ● Speicheldrüsen ● Leber mit Gallenwegen und Gallenblase ● Bauchspeicheldrüse Abb. 3.27 Verdauungssystem.

Mundhöhle Zunge Ohrspeicheldrüse

Unterzungenspeicheldrüse Unterkieferspeicheldrüse

Speiseröhre (Ösophagus)

Wandaufbau • Von der Speiseröhre bis zum Dickdarm ist die Wand des Verdauungskanals ähnlich aufgebaut: Von innen nach außen besteht sie aus einer Schleimhautschicht, einer Bindegewebsschicht und einer Muskelschicht. Die äußerste Schicht wird bei einigen Organen oder Organteilen vom Bauchfell gebildet.

RETTEN TO GO Überblick: Verdauungssystem ●





Bei der Verdauung werden zugeführte Nährstoffe mechanisch und chemisch zerkleinert und aufgeschlossen, damit sie über die Darmschleimhaut aufgenommen werden können. Der Verdauungskanal besteht aus Mundhöhle, Rachen, Speiseröhre, Magen, Dünndarm (Zwölffingerdarm, Leerdarm, Krummdarm), Dickdarm (Blinddarm, Grimmdarm, Mastdarm) und Analkanal. Die Speicheldrüsen, die Leber mit Gallenblase und -wegen und die Bauchspeicheldrüse (Pankreas) geben Verdauungssäfte in den Verdauungskanal ab.

3.6.2 Mundhöhle Funktionen • Hier werden die Speisen zerkleinert, damit sie geschluckt werden können. Während des Kauens werden sie mit Speichel vermischt und so auf die Verdauung vorbereitet. Dabei wird die Nahrung auf ihre Genießbarkeit überprüft, u. a. durch den Geschmacks- und Geruchssinn. Die Mundhöhle ist am Sprechen und Atmen sowie durch die Gaumenmandeln (S. 56) an der Immunabwehr beteiligt. Lage und Aufbau • Der Mundvorhof ist der Raum zwischen der Innenseite der Lippen bzw. Wangen und den Zähnen (▶ Abb. 3.28). Die eigentliche Mundhöhle reicht von den Abb. 3.28 Mundhöhle.

Oberlippe Lippenbändchen harter Gaumen Leber (Hepar)

Gallenblase

Zäpfchen

Bauchspeicheldrüse (Pankreas)

Leerdarm (Jejunum)

Grimmdarm (Kolon)

Blinddarm (Zäkum)

Krummdarm (Ileum)

Mastdarm (Rektum)

Die Verdauung findet in der Mundhöhle, im Magen und im Darm statt. Die Leber, die Bauchspeicheldrüse und die Speicheldrüsen bilden die Verdauungssäfte. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

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weicher Gaumen

Magen (Gaster)

Zwölffingerdarm (Duodenum)

Wurmfortsatz (Appendix vermiformis)

Mundvorhof

Rachen eigentliche Mundhöhle

Gaumenmandel

Zungenrücken

Lippenbändchen Mundvorhof Unterlippe Die Mundhöhle ist gegliedert in den Mundvorhof zwischen den Lippen und den Zähnen und die eigentliche Mundhöhle. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Verdauungssystem Zähnen bis zum Rachen (S. 69). Nach oben trennt der Gaumen die Mund- von der Nasenhöhle. Der aus Muskeln bestehende Mundboden schließt die Mundhöhle nach unten ab. In der Mundhöhle liegen die Zunge und die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen.

Medizin Lippenfärbung Eine bläuliche Verfärbung der Lippen, eine Zyanose (S. 258), ist ein Hinweis auf eine verringerte Sauerstoffversorgung der Lippen. Diese kann durch Kälte und Frieren entstehen (z. B. durch kaltes Wasser im Schwimmbad), aber auch durch eine Herz- oder Lungenerkrankung. Auffällig leuchtend hellrote Lippen sind bei einer Vergiftung mit Kohlenmonoxid (S. 276) zu beobachten.

Zähne Mit den Zähnen (Dentes, Einzahl: Dens) wird feste Nahrung aufgenommen (Abbeißen) und zerkleinert. Alle Zähne gemeinsam sind das Gebiss. Bei Erwachsenen besteht es aus 32 Zähnen: 8 Schneide-, 4 Eck-, 8 Vormahl- und 12 Mahlzähne (davon 4 Weisheitszähne). Das Milchgebiss von Kleinkindern umfasst 20 Zähne. Es fehlen die Mahlzähne.

Zunge Die Zunge (Lingua) trägt die Geschmacksrezeptoren und durchmischt (zusammen mit der Wangenmuskulatur) die Nahrung beim Kauen. Außerdem ist sie wichtig für das Schlucken und das Sprechen. Sie besteht überwiegend aus Muskulatur und ist sehr beweglich.

Medizin Sublinguale Applikation Da die Zunge sehr gut durchblutet ist, können Medikamente auch sublingual (S. 113), d. h. unter („sub“) die Zunge („lingual“) verabreicht werden. Die Substanzen gelangen über die Mundschleimhaut schnell in den Blutkreislauf und ihre Wirkung setzt rasch ein. Eine typische Einsatzsituation im Rettungsdienst ist die sublinguale Verabreichung von Nitroglyzerin als Kapsel oder Spray bei einem Angina-pectoris-Anfall (S. 300).

Gaumen Der Gaumen (▶ Abb. 3.28) ist wichtig für das Schlucken und die Lautbildung beim Sprechen. Der vordere Anteil, der harte Gaumen, reicht von den Schneidezähnen bis etwa zur Höhe der Weisheitszähne und hat eine knöcherne Grundlage. Daran schließt sich der weiche Gaumen an, der aus Muskeln, Fett- und Bindegewebe besteht. Er bildet das Gaumensegel und endet im Zäpfchen. Vom Gaumensegel gehen rechts und links 2 Schleimhautfalten (Gaumenbögen) aus, zwischen denen die Gaumenmandeln (S. 57) liegen. Der weiche Gaumen geht in den Mundrachen (S. 69) über.

Speicheldrüsen Funktion • Die Speicheldrüsen bilden täglich ca. 1 l Mundspeichel. Dieser feuchtet die Nahrung an und macht sie für das Schlucken gleitfähig. Zudem ist er wichtig für die Zahngesundheit und schützt die Mundschleimhaut vor Austrocknung. Das im Mundspeichel enthaltene Verdauungsenzym Amylase beginnt mit der Aufspaltung und Verdauung von Kohlenhydraten (Stärke).

● ●



Ohrspeicheldrüse (Parotis): auf beiden Seiten vor dem Ohr Unterkieferspeicheldrüse: unterhalb der Parotis im Kieferwinkel Unterzungenspeicheldrüsen: im Mundboden

RETTEN TO GO Mundhöhle Die Mundhöhle ist der Anfangsteil des Verdauungskanals. Hier werden die Speisen durch die Zähne zerkleinert und mit Speichel vermischt. Der Speichel wird von den Mundspeicheldrüsen gebildet. Er hält die Mundschleimhaut feucht und macht die Nahrung für das Schlucken gleitfähig. Außerdem enthält er das Enzym Amylase, das mit der Aufspaltung von Kohlenhydraten (Stärke) beginnt.

3.6.3 Speiseröhre Synonym • Ösophagus Funktion • Die Speiseröhre transportiert die Nahrung durch peristaltische Wellenbewegungen der Wandmuskulatur vom Rachen in den Magen. Lage • Die Speiseröhre ist ein ca. 25 cm langer, elastischer Muskelschlauch, der den Rachen mit dem Magen verbindet. Sie beginnt am Kehlkopf mit dem Ösophagusmund, verläuft abwärts zwischen Luftröhre und Wirbelsäule und zieht durch eine Öffnung im Zwerchfell in die Bauchhöhle. Dort geht sie nach kurzem Verlauf in den Magen über. Gliederung • Die Speiseröhre gliedert sich in einen Hals-, Brust- und Bauchteil. Sie hat 3 Engstellen (▶ Abb. 3.29): ● obere Enge: Der Ösophagusmund (Ösophaguseingang) ist im Ruhezustand bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, da Muskelfasern an dieser Stelle einen Schließmuskel bilden (oberer Ösophagussphinkter). Abb. 3.29 Speiseröhre.

Ringknorpel

obere Enge

Halsteil der Speiseröhre Luftröhre Aortenbogen rechter Hauptbronchus

Brustteil der Speiseröhre Bauchteil der Speiseröhre

mittlere Enge

linker Hauptbronchus Aorta untere Enge Zwerchfell Magen

Aufbau • Die kleinen Speicheldrüsen liegen verstreut in der Mundschleimhaut. Die großen Speicheldrüsen liegen außerhalb der Mundschleimhaut, ihre Ausführungsgänge münden in die Mundhöhle:

Zur besseren Übersicht wurde die Luftröhre, die vor dem Halsteil der Speiseröhre verläuft, teilweise entfernt. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

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3

Anatomie und Physiologie





mittlere Enge oder Aortenenge auf Höhe des 9. Brustwirbelkörpers untere Enge oder Zwerchfellenge an der Durchtrittsstelle durch das Zwerchfell

Abb. 3.30 Magen.

Magenfundus Speiseröhre

Am Ende der Ösophagus verhindert der untere Schließmuskel (unterer Ösophagussphinkter), dass saurer Magensaft in die Speiseröhre gelangt und sie schädigt.

Mageneingang

Medizin Speiseröhrenfremdkörper Verschluckte Gegenstände (z. B. Gräten, Gebisse, Obstkerne) können sich in der Speiseröhre verkeilen, meistens an der Aortenenge.

Medizin Sodbrennen Ist der untere Ösophagussphinkter geschwächt, kann Magensäure in die Speiseröhre zurückfließen (gastroösophagealer Reflux) und ein unangenehmes Brennen hinter dem Brustbein auslösen.

RETTEN TO GO Speiseröhre (Ösophagus) Die Speiseröhre ist ein ca. 25 cm langer, elastischer Muskelschlauch, der den Rachen mit dem Magen verbindet. Sie transportiert die Nahrung vom Rachen in den Magen. In ihrem Verlauf gibt es 3 Engstellen (Ösophagusmund, Aorten- und Zwerchfellenge).

3.6.4 Magen Synonyme • Gaster, Ventriculus Funktion • Im Magen wird die Nahrung durch Muskelbewegungen weiter zerkleinert und mit dem Magensaft vermischt. Es entsteht der Speisebrei (Chymus), der im Magen gespeichert und nach etwa 2 Stunden portionsweise in den Dünndarm abgegeben wird. Der im Magen produzierte Magensaft enthält Enzyme für die Eiweißverdauung und die sehr saure Salzsäure (pH-Wert 1–3), die viele Keime abtötet. Lage und Aufbau • Der Magen ist ein sackförmiges Hohlorgan zwischen Speiseröhre und Dünndarm mit einem Fassungsvermögen von etwa 1,5 l. Er liegt im linken Oberbauch direkt unter dem Zwerchfell und verläuft leicht gebogen. An seiner linken Seite bildet er eine große, konvexe Kurve (große Kurvatur) und an seiner rechten Seite eine kleine, konkave Kurve (kleine Kurvatur). Abschnitte • ▶ Abb. 3.30 Am Mageneingang (Kardia) mündet die Speiseröhre in den Magen. ● Der Magenfundus (Fundus) liegt oberhalb der Kardia, direkt unter dem Zwerchfell. Hier sammelt sich im Stehen die beim Essen mitgeschluckte Luft. ● Der Magenkörper (Corpus) ist der Hauptteil des Magens. ● Der Magenausgang besteht aus dem weiten Pförtnervorraum (Antrum), der sich zu einem Ausgangskanal verengt, und dem Schließmuskel des Magens (Magenpförtner oder Pylorus), der den Magen zum Dünndarm (Zwölffingerdarm) hin verschließt. ●

Magenschleimhaut • Die Magenwand hat eine starke Muskelschicht, deren Kontraktionen die Nahrung durchmischt und weitertransportiert. In der Magenschleimhaut befinden sich 78

Zwölffingerdarm

kleine Kurvatur Magenausgang Pförtner

große Kurvatur Magenkörper

Ausgangskanal Antrum Der Magen gliedert sich in den Mageneingang, den Magenfundus, den Magenkörper als Hauptteil und den Magenausgang mit Antrum und Pförtner. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

die Magendrüsen, die täglich ca. 2 l Magensaft produzieren. Seine wichtigsten Bestandteile sind: ● Salzsäure (HCl) zerstört die räumliche Struktur von Eiweißen und tötet Bakterien ab. ● Pepsinogen wird durch Salzsäure in das aktive Pepsin umgewandelt, einem Enzym für die Eiweißverdauung. ● Der Magenschleim schützt die Schleimhaut vor der aggressiven Salzsäure. ● Der Intrinsic Factor ist für die Aufnahme von Vitamin B12 im Dünndarm notwendig.

Medizin Schädigung der Magenschleimhaut Wird zu wenig schützender Magenschleim bzw. zu viel Salzsäure produziert, können Schleimhautschäden und letztlich ein Magengeschwür (S. 343) entstehen. Reicht ein Geschwür in tiefere Schichten der Magenwand und schädigt Blutgefäße, kann es eine obere gastrointestinale Blutung auslösen.

RETTEN TO GO Magen (Gaster) Funktionen: ● Durchmischen und Zerkleinern der Nahrung ● Bildung von Magensaft mit Enzymen (Eiweißverdauung), Salzsäure (Abtötung von Bakterien), Magenschleim (Schutzfunktion) und Intrinsic Faktor (Vitamin-B12-Aufnahme) Aufbau: Der Magen ist ein sackförmiges Hohlorgan zwischen Ösophagus und Dünndarm mit einem Fassungsvermögen von ca. 1,5 l. Er gliedert sich in Mageneingang (Kardia), Magenfundus (Fundus), Magenkörper (Corpus) und Magenausgang (Antrum und Pylorus).

3.6.5 Dünndarm Funktion • Im Dünndarm wird die Nahrung verdaut, d. h., sie wird in ihre Bestandteile (Zucker, Aminosäuren, Fette, Vitamine, Elektrolyte, Ballaststoffe usw.) zerlegt, die dann vom

Verdauungssystem Körper aufgenommen (resorbiert) werden können. Der restliche Verdauungsbrei wird in Richtung Dickdarm transportiert. Die Verdauungsenzyme stammen größtenteils aus der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), zur Aufnahme der Fette ist die in der Leber produzierte Galle notwendig. Pankreassaft und Galle werden in den Zwölffingerdarm abgegeben. Lage • Der Dünndarm folgt auf den Magen und ist mit 3–5 m der längste Abschnitt des Verdauungstrakts. Die Schleimhautoberfläche und damit die Oberfläche, die für die Resorption der Nährstoffe zur Verfügung steht, ist durch zahlreiche Ausstülpungen (Zotten) stark vergrößert. Gliederung • ▶ Abb. 3.31 ● Der Zwölffingerdarm (Duodenum) ist der erste und kürzeste Abschnitt des Dünndarms (25–30 cm). Er windet sich C-förmig um den Kopf der Bauchspeicheldrüse. Hier mündet der meist gemeinsame Ausführungsgang der Gallenwege und der Bauchspeicheldrüse, der dem Dünndarm wichtige Verdauungssäfte zuführt. ● Der Leerdarm (Jejunum) ist 1–2 m lang und reicht von der linken oberen Hälfte des Bauchraums bis in die Nabelregion. Er geht ohne klare Grenze in den Krummdarm über. ● Der Krummdarm (Ileum) ist 2–3 m lang und liegt überwiegend in der rechten unteren Bauchhöhle und im großen Becken. An der Bauhin-Klappe (Ileozäkalklappe) mündet er in den Dickdarm. Jejunum und Ileum bilden in der Bauchhöhle viele Schlingen und Windungen. Dieses Dünndarmkonvolut ist über sein Gekröse (Mesenterium) an der hinteren Bauchwand befestigt. Hier verlaufen die Gefäße und Nerven für die Versorgung der beiden Darmabschnitte.

RETTEN TO GO Dünndarm Funktionen: ● Verdauung und Resorption der Nährstoffe ● Weitertransport des Chymus in Richtung Dickdarm Aufbau: Der Dünndarm folgt auf den Magen und ist 3– 5 m lang. An der Bauhin-Klappe (Ileozäkalklappe) mündet er in den Dickdarm. Er besteht aus: ● Zwölffingerdarm (Duodenum): 25–30 cm ● Leerdarm (Jejunum): 1–2 m ● Krummdarm (Ileum): 2–3 m

3.6.6 Dickdarm Funktion • Im Dickdarm wird dem Speisebrei Wasser entzogen und er wird durch Bakterien (Dickdarmflora) zersetzt. Dadurch entsteht der Stuhl (Fäzes). Der Darminhalt bleibt 1–3 Tage im Dickdarm, bevor er ausgeschieden wird (Defäkation). Die äußere Oberfläche des Dickdarms zeigt typische Ausbuchtungen (Haustren), die durch das Zusammenziehen der Ringmuskulatur entstehen, und 3 längs verlaufende Muskelbündel (Tänien). Lage und Gliederung • Der Dickdarm ist etwa 1,5 m lang. Er beginnt im rechten Unterbauch an der Bauhin-Klappe, die den Rückfluss von Dickdarminhalt in den Dünndarm verhindert, und besteht aus folgenden Abschnitten (▶ Abb. 3.32): Abb. 3.32 Dickdarm.

ACHTUNG Die Begriffe Ileum und Ileus unterscheiden sich zwar nur in einem Buchstaben, haben aber ganz unterschiedliche Bedeutungen: Das Ileum ist ein Teil des Dünndarms, ein Ileus hingegen ein Darmverschluss (S. 350).

linke Kolonflexur rechte Kolonflexur Colon transversum Tänie

Abb. 3.31 Dünndarm.

Magen Gallenblase

Bauchspeicheldrüse

Haustren Colon descendens

Zwölffingerdarm (Duodenum)

Mesenterium Leerdarm (Jejunum)

Krummdarm (Ileum)

Ileum Zäkum Colon ascendens Appendix vermiformis

Rektum

Netzanhängsel

Colon sigmoideum Der Dünndarm besteht aus dem Zwölffingerdarm (Duodenum), dem Leerdarm (Jejunum) und dem Krummdarm (Ileum).

Der Dickdarm besteht aus Blinddarm (Zäkum), Grimmdarm (Kolon) und Mastdarm (Rektum). Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

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3

Anatomie und Physiologie







Der Blinddarm (Zäkum) ist ca. 7 cm lang. Er endet „blind“ (daher der Name) und trägt am unteren Ende ein dünnes Anhängsel, den Wurmfortsatz (Appendix vermiformis), ein sekundäres lymphatisches Organ (S. 56). Nach oben geht der Blinddarm in den Grimmdarm über. Der Grimmdarm (Kolon) umgibt das Dünndarmkonvolut wie ein Rahmen. Der aufsteigende Teil (Colon ascendens) verläuft vom rechten Unterbauch nach oben, der quer verlaufende Teil (Colon transversum) zieht annähernd waagrecht nach links und der absteigende Teil (Colon descendens) verläuft auf der linken Seite nach unten. Daran schließt sich der gebogene Teil (Sigma, Colon sigmoideum) an, der vom linken Unterbauch in die Mitte zieht, wo er in den Mastdarm übergeht. Der Mastdarm (Rektum) liegt im Becken und ist etwa 15 cm lang. Hier wird der Stuhl gespeichert, bis er entleert wird. Auf Höhe des Beckenbodens geht er in den Analkanal über, der mit der Analöffnung (After oder Anus) endet.

Abb. 3.33 Bauchspeicheldrüse und Gallenwege.

gemeinsamer Gallengang Gallenblasengang

Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse Hauptgallengang Milz

Gallenblase

Pankreasschwanz

Papilla Vateri Duodenum

Medizin Appendizitis Die Erkrankung, die umgangssprachlich als Blinddarmentzündung (S. 344) bezeichnet wird, ist eigentlich eine Entzündung des Wurmfortsatzes (Appendizitis).

RETTEN TO GO Dickdarm Funktionen: ● Bildung von Stuhl (Fäzes) durch Wasserentzug und bakterielle Zersetzung ● Speicherung des Stuhls bis zur Defäkation Aufbau: Der Dickdarm ist der letzte Teil des Verdauungstrakts und ca. 1,5 m lang: ● Blinddarm (Zäkum) mit dem Wurmfortsatz (Appendix vermiformis) ● Kolon (Grimmdarm) ● Rektum (Mastdarm) und Analkanal

3.6.7 Bauchspeicheldrüse Synonym • Pankreas Funktion • Die Bauchspeicheldrüse besteht aus 2 Drüsen mit unterschiedlichen Aufgaben: ● Drüsen mit äußerer Sekretion (exokrine Drüsen) zur Bildung des Verdauungssaftes ● Drüsen mit innerer Sekretion (endokrine Drüsen) zur Bildung der Hormone Insulin und Glukagon, die den Blutzuckerspiegel steuern Lage • Der Pankres liegt als langgestrecktes Organ hinter dem Magen quer im Oberbauch (▶ Abb. 3.33). Der Pankreaskopf befindet sich in der C-förmigen Schlinge des Zwölffingerdarms, der Pankreasschwanz reicht bis zur Milz. Exokriner Anteil • Die exokrinen Drüsen machen den Hauptanteil des Pankreasgewebes aus. Pro Tag stellen sie 1,5–2 l Verdauungssaft her. Dieser enthält Enzyme für die Spaltung von Fetten, Eiweißen und Kohlenhydraten sowie Puffersubstanzen (Bikarbonat) zur Neutralisierung der Magensäure. Der Verdauungssaft gelangt über kleine Ausführungsgänge in den Hauptausführungsgang der Bauchspeicheldrüse, der in den Zwölffingerdarm mündet. Die eiweißspaltenden En-

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Pankreaskörper Pankreaskopf

Der Hauptausführungsgang des Pankreas und der Hauptgallengang münden bei den meisten Menschen gemeinsam in das Duodenum. Aus: Schünke M, Faller A, Hrsg. Der Körper des Menschen. 18. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

zyme (Proteasen) werden als inaktive Vorstufen in den Pankreassaft abgegeben und erst im Dünndarm in ihre aktive, wirksame Form umgewandelt. Dies verhindert, dass sich die Bauchspeicheldrüse selbst verdaut. Endokriner Anteil • Verstreut im exokrinen Gewebe liegen die Langerhans-Inseln, deren Zellen Hormone produzieren und an das Blut abgeben. Die wichtigsten Hormone sind Insulin (Hauptaufgabe: Absenken des Blutzuckerspiegels) und Glukagon (Hauptaufgabe: Anheben des Blutzuckerspiegels). Alle Langerhans-Inseln zusammen bilden das Inselorgan.

RETTEN TO GO Bauchspeicheldrüse (Pankreas) Funktionen: ● Bildung des Verdauungssaftes (mit Verdauungsenzymen und Puffersubstanzen) ● Bildung der Hormone Insulin (Aufgabe: Absenken des Blutzuckerspiegels) und Glukagon (Aufgabe: Anheben des Blutzuckerspiegels) Aufbau und Lage: Die Bauchspeicheldrüse liegt hinter dem Magen. Den Hauptteil des Pankreasgewebes machen die exokrinen Drüsen aus. Sie bilden den Verdauungssaft und geben ihn in den Zwölffingerdarm ab. Die endokrinen Drüsen (Langerhans-Inseln) liegen verstreut im Gewebe und sind für die Hormonbildung zuständig.

3.6.8 Leber und Gallenwege Funktionen der Leber • Die Leber (Hepar) ist das wichtigste Stoffwechselorgan: ● Die Leber hat eine zentrale Funktion im Kohlenhydrat-, Protein- und Fettstoffwechsel. Über die Pfortader erhält sie die im Darm resorbierten Nährstoffe. Durch das Ausmaß der Weiterverarbeitung steuert die Leber deren Konzentration im Blut. Die Leberzellen können Kohlenhydrate in Fett und Proteine in Kohlenhydrate umwandeln.

Verdauungssystem









Die Leber bildet täglich ca. 850 ml Gallenflüssigkeit (kurz: Galle) für die Fettverdauung und die Ausscheidung von Fremd- und Abfallstoffen. Die Galle enthält neben Wasser u. a. Gallensäuren, Bilirubin (Gallenfarbstoff), Cholesterin und andere fettlösliche Substanzen. Sie verbessert die Verteilung der Nahrungsfette im Chymus, sodass die Enzyme der Fettverdauung besser angreifen können. Etwa die Hälfte der Galle fließt über die Gallenwege direkt in das Duodenum, die andere Hälfte wird in der Gallenblase gespeichert und bei Bedarf abgegeben. Bei der Entgiftung werden Stoffe, die aus dem Körper entfernt werden müssen (z. B. Ammoniak, der beim Eiweißabbau anfällt, oder Medikamente), in der Leber so umgewandelt, dass sie über die Nieren oder die Galle ausgeschieden werden können. In der Leber werden die Plasmaproteine (S. 54) gebildet, z. B. Albumin und die Gerinnungsfaktoren. Die Leber ist ein Speicherorgan, z. B. für Glukose (als Glykogen), Vitamine und Eisen.

wiegt bei Erwachsenen ca. 1,5–2 kg. Die Gallenblase an ihrer Unterseite ist birnenförmig und fasst ca. 50 ml Galle. Gliederung und Gallenwege • Die Leber besteht aus 4 Leberlappen, ▶ Abb. 3.34. An ihrer Unterseite befindet sich die Leberpforte (Porta hepatis). Hier treten wichtige Strukturen ein bzw. aus: ● Die Pfortader (V. portae hepatis) führt das O2-arme, nährstoffreiche Blut aus den Verdauungsorganen zur Leber. ● Die Leberarterie bringt O2-reiches Blut zur Leber. ● Der gemeinsame Gallengang leitet die Galle von der Leber weg. Der Zu- und Abflussweg der Gallenblase ist der Gallenblasengang. Er mündet in den gemeinsamen Gallengang, der danach als Hauptgallengang bezeichnet wird. Dieser vereinigt sich bei den meisten Menschen mit dem Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse und mündet auf einer kleinen Erhebung der Duodenalschleimhaut, der Papilla Vateri, in das Duodenum (▶ Abb. 3.33).

Medizin Gallenkolik

Medizin Leberzirrhose Bei Patienten mit Leberzirrhose werden die Leberzellen als Folge einer chronischen Schädigung (z. B. durch hohen Alkoholkonsum) zunehmend in funktionsloses Bindegewebe umgewandelt. Dadurch verliert die Leber allmählich alle hier genannten Funktionen. Daraus können Sie sich viele Probleme bei diesen Patienten ableiten (z. B. Gerinnungsstörungen durch einen Mangel an Gerinnungsfaktoren, fehlende Entgiftung von Fremdsubstanzen). Lage • Die Leber befindet sich im rechten Oberbauch, direkt unter dem Zwerchfell. Das gesunde Organ ist rotbraun und

Gallensteine in der Gallenblase bleiben oft jahrelang unbemerkt. Gelangt ein Stein in einen abführenden Gallengang, kann dies heftige, krampfartige Oberbauchschmerzen auslösen (S. 348).

RETTEN TO GO Leber und Gallenwege ●

Abb. 3.34 Leber.

rechter Leberlappen ●



linker Leberlappen Gallenblase untere Hohlvene (V. cava inferior)

Leberpforte mit: Pfortader Leberarterie Gallengang

Funktionen der Leber: – Kohlenhydrat-, Protein- und Fettstoffwechsel – Bildung der Galle – Entgiftung und Ausscheidung – Bildung der Blutproteine (z. B. Albumin, Gerinnungsfaktoren) – Speicherung von Nährstoffen Funktion der Gallenblase: Eindickung und Speicherung der Gallenflüssigkeit Aufbau und Lage: Die Leber liegt im rechten Oberbauch direkt unter dem Zwerchfell. Sie besteht aus 4 Leberlappen. An der Leberpforte treten die Pfortader und die Leberarterie in die Leber ein, der Gallengang leitet die Galle von der Leber weg. Die Gallenblase ist ein birnenförmiges Hohlorgan an der Unterseite der Leber. Der Zu- und Abflussweg der Gallenblase ist der Gallenblasengang. Über diesen und weiter über den Hauptgallengang fließt die Galle in den Zwölffingerdarm ab.

3.6.9 Bauchfell

linker Leberlappen Gallenblase

rechter Leberlappen

Oben: Vorderfläche der Leber mit rechtem und linkem Leberlappen. Unten: Unterseite mit den kleinen Leberlappen, der Gallenblase und der Leberpforte. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Pro-

Das Bauchfell (Peritoneum) ist eine dünne Haut, die im Bauch-Becken-Raum einen in sich geschlossenen Sack bildet, die Bauchfell- oder Peritonealhöhle. Es besteht aus 2 Blättern: Das innere Blatt überzieht die Organe, das äußere Blatt kleidet die Wand der Bauchfellhöhle aus. Intraperitoneale Organe liegen komplett in der Peritonealhöhle. Sie sind vollständig mit Bauchfell überzogen und sind über Bindegewebsstränge mit der hinteren Bauchwand verbunden. In diesen verlaufen Blut- und Nervenbahnen zur Versorgung der Organe. Der schmale Raum hinter der Peritonealhöhle ist der Retroperitonealraum. Dort befinden sich die extraoder retroperitonealen Organe (z. B. Nieren, Teile des Duodenums und des Dickdarms, Pankreas).

metheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

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3

Anatomie und Physiologie

Medizin Bauchfellentzündung (Peritonitis) Die Peritonealhöhle ist normalerweise steril. Gelangen Bakterien hierher, kann sich eine Bauchfellentzündung entwickeln. Der Patient entwickelt ein akutes Abdomen (S. 336) mit starken Bauchschmerzen. Beim Abtasten fällt eine „brettharte“ Bauchdecke auf (durch den reflektorisch erhöhten Bauchmuskeltonus).

RETTEN TO GO Bauchfell (Peritoneum) Das Bauchfell bildet einen in sich geschlossenen Sack im Bauch-Becken-Raum, die Bauchfellhöhle. Organe, die vollständig von Bauchfell überzogen sind, liegen intraperitoneal, d. h. vollständig in der Bauchfellhöhle. Organe, die hinter der Bauchfellhöhle liegen, bezeichnet man als extra- oder retroperitoneal.

3.7 Harnsystem 3.7.1 Überblick Funktionen • Die Hauptaufgaben sind die Bildung, Speicherung und Ausscheidung von Harn (Urin). Mit dem Harn werden überschüssiges Wasser und Elektrolyte sowie Stoffwechselprodukte und Fremdsubstanzen ausgeschieden. Organe des Harnsystems • Das Harnsystem besteht aus den Nieren, die den Harn bilden und konzentrieren, und aus den ableitenden Harnwegen, die den Endharn sammeln, speichern und ableiten, aber die Zusammensetzung nicht beeinflussen (▶ Abb. 3.35). Die ableitenden Harnwege sind die Nierenbecken, die Harnleiter, die Harnblase und die Harnröhre bzw. bei Männern die Harnsamenröhre.

3.7.2 Niere Synonym • Ren Funktionen • Die Hauptaufgabe ist die Harnproduktion und damit die Ausscheidung von Stoffwechselprodukten und Fremdstoffen. Zudem sind die Nieren essenziell für die Regulation des Wasser- und Elektrolyt- (S. 83) und des SäureBasen-Haushalts (S. 85) und produzieren einige Hormone: ● Renin beeinflusst die Blutdruckregulation. ● Erythropoetin stimuliert die Produktion roter Blutkörperchen im Knochenmark (S. 53). ● Vitamin D ist wichtig für den Knochenstoffwechsel. Lage • Die Nieren liegen rechts bzw. links neben der Wirbelsäule unterhalb des Zwerchfells im Retroperitonealraum (hinter der Bauchfellhöhle). Die Nieren haben die Form einer Bohne und sind von einer Bindegewebskapsel umgeben. Die Nierenarterie und -vene sowie der Harnleiter treten an der Nierenpforte in die Niere ein bzw. aus der Niere aus. Gliederung • Schneidet man die Niere längs durch, lassen sich das eigentliche Nierengewebe (Nierenparenchym) mit der äußeren Nierenrinde sowie dem inneren Nierenmark (unterteilt in 8–12 Markpyramiden) und ein zentral gelegenes Hohlraumsystem unterscheiden. An der Spitze der Markpyramiden befinden sich die Nierenpapillen, die sich in das Hohlraumsystem der Niere öffnen, und zwar zunächst in die Nierenkelche. Diese vereinigen sich im Nierenbecken (▶ Abb. 3.36). Nierenkelche und Nierenbecken gehören bereits zu den ableitenden Harnwegen (S. 83). Feinbau • Der Harn wird in ca. 2–3 Millionen Nephronen gebildet. Diese bestehen aus folgenden Anteilen: Abb. 3.36 Aufbau einer Niere.

oberer Nierenpol

ACHTUNG Die Nebennieren liegen zwar oberhalb der Nieren, sind aber endokrine Drüsen, die lebenswichtige Hormone (u. a. Katecholamine, ▶ Tab. 3.8) produzieren. Sie sind nicht Teil des Harnsystems! Abb. 3.35 Harnsystem.

Nierenpapille

Nierenrinde Nierenmark

Nierenkelche

Niere

Bildung und Konzentration des Harns

Nierenbecken

Nierenarterie Nierenvene Nierenbecken

Harnleiter Harnblase Harnröhre bzw. Harnsamenröhre

82

Ableitung und Ausscheidung des Harns

Harnleiter

unterer Nierenpol

Das Harnsystem umfasst die Nieren als harnproduzierende Organe sowie die Nierenbecken, die Harnleiter, die Harnblase und die Harnröhre als ableitende Harnwege. Aus: Schünke M, Schulte E,

Rechte Niere von hinten betrachtet. Ein Teil des Nierengewebes wurde entfernt, um die Innenstruktur besser sichtbar zu machen. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Ana-

Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

tomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Wasser- und Elektrolyt-Haushalt





Die Nierenkörperchen liegen in der Nierenrinde. Hier wird aus dem Blut der Primärharn abfiltriert, und zwar ca. 180 Liter (!) pro Tag. In den daran anschließenden Nierenkanälchen wird der Harn durch hochspezialisierte Zellen zunehmend konzentriert und die Zusammensetzung deutlich verändert (z. B. Rückaufnahme von Glukose, aktive Ausscheidung anderer Stoffe). Letztlich bleiben dann 1,5–2 Liter Endharn pro Tag übrig, die über die ableitenden Harnwege ausgeschieden werden – dies ist nur etwa 1 % des Primärharns!

Zusammensetzung des Urins • Urin besteht zu 95 % aus Wasser und zu ca. 5 % aus harnpflichtigen Substanzen, also aus Stoffen, die der Körper über die Nieren ausscheidet. Dazu gehören sind Harnstoff (Abfallprodukt aus dem Eiweißabbau), Harnsäure (Abbauprodukt von Nukleinsäuren) und Kreatinin (aus dem Muskelstoffwechsel). Zusätzlich sind im Urin u. a. Elektrolyte und Säuren enthalten.

Medizin Urämie Kann die Niere die harnpflichtigen Substanzen nicht mehr ausreichend auszuscheiden, z. B. bei akutem Nierenversagen (S. 497), steigt deren Konzentration im Körper und es entsteht eine Harnvergiftung (Urämie).

RETTEN TO GO Niere (Ren) ●







Funktionen: – Harnproduktion und dadurch Regulation des Wasserund Elektrolyt- und des Säure-Basen-Haushalts sowie Reinigung und Entgiftung des Körpers – Hormonbildung (Renin, Erythropoetin, Vitamin D) Aufbau: Im Längsschnitt sind das eigentliche Nierengewebe (Nierenparenchym) und ein zentral gelegenes Hohlraumsystem zu unterscheiden. Das Nierengewebe gliedert sich in die Nierenrinde und das pyramidenförmige Nierenmark. Das Hohlraumsystem besteht aus den Nierenkelchen und dem Nierenbecken. Feinbau: Der Harn wird in den Nephronen gebildet: – In den Nierenkörperchen werden täglich ca. 180 Liter Primärharn abgefiltert. – In den Nierenkanälchen wird der Harn stark konzentriert und in seiner Zusammensetzung verändert. Es entstehen ca. 1,5–2 Liter Endharn. Der Harn besteht zu 95 % aus Wasser, die restlichen 5 % v. a. aus harnpflichtigen Substanzen (Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin).





mittlere Enge an der Überkreuzungsstelle mit den Beckenarterien untere Enge an der Durchtrittsstelle durch die Blasenwand: Dieser ventilartige Mechanismus verhindert, dass Urin aus der Harnblase zurück in den Harnleiter fließt.

Medizin Harnsteine Die 3 Engstellen sind bei Harnsteinen (S. 495) von Bedeutung: Gelangt ein Stein aus dem Nierenbecken in den Harnleiter, kann er hier steckenbleiben. Die Harnleitermuskulatur versucht dann, durch aktive Kontraktionen den Stein auszutreiben, was heftige Schmerzen (Nierenkolik) auslöst. Harnblase • Die Harnblase (Vesica urinaria, ▶ Abb. 3.35) ist ein muskulöses Hohlorgan, das im kleinen Becken hinter der Schambeinfuge liegt. Bei Frauen grenzt sie v. a. an die Gebärmutter (▶ Abb. 3.40), bei Männern an die Prostata, die Samenleiter, die Bläschendrüsen und der Enddarm (▶ Abb. 3.43). Die Blase sammelt und speichert den Urin bis zu ihrer Entleerung in die Harnröhre. Sie fasst bis zu 1000 ml Urin. Der Harndrang setzt ein, wenn die Blase 150–300 ml Urin enthält. Ihre Entleerung wird im Normalfall (außer bei Säuglingen und Kleinkindern) willentlich gesteuert. Harnröhre • Die Harnröhre (Urethra, ▶ Abb. 3.35) beginnt am Blasenhals mit der inneren Harnröhrenöffnung und endet mit der äußeren Harnröhrenöffnung. Sie verläuft bei Männern und Frauen unterschiedlich: ● Bei Männern endet die Harnröhre nach ca. 20 cm an der Penisspitze. Sie zieht durch die Blasenwand, die Prostata, den Beckenboden und den Penisschwellkörper und dient auch dem Ejakulat als Weg nach außen (Harnsamenröhre). ● Die Harnröhre bei Frauen ist 4–5 cm lang. Sie zieht zwischen Symphyse (Schambeinfuge) und der Vorderwand der Scheide zum Scheidenvorhof, wo sie hinter der Klitoris endet. Da sie deutlich kürzer ist als bei Männern, können Bakterien leichter in die Harnblase gelangen. Daher haben Frauen häufiger Blasenentzündungen als Männer.

RETTEN TO GO Ableitende Harnwege ●







3.7.3 Ableitende Harnwege Nierenbecken • Das Nierenbecken (▶ Abb. 3.35, Pelvis renalis) ist der zentrale Hohlraum der Niere. Hier sammelt sich der Endharn und fließt in den Harnleiter. Harnleiter • Die Harnleiter (Ureter, ▶ Abb. 3.35) sind etwa 25 cm lange, muskuläre Röhren mit einem Durchmesser von ca. 5 mm. Sie leiten den Endharn durch wellenförmige Kontraktionen der Muskulatur vom Nierenbecken in die Harnblase und verlaufen dabei an der hinteren Bauch- bzw. Beckenwand. Im Verlauf gibt es 3 Engstellen: ● obere Enge beim Austritt aus der Nierenpforte

Das Nierenbecken (Pelvis renalis) sammelt den in der Niere gebildeten Endharn und leitet ihn in die Harnleiter. Die Harnleiter (Ureter) sind ca. 25 cm lange Röhren, die zur Harnblase verlaufen. Die Harnblase (Vesica urinaria) im kleinen Becken sammelt und speichert den Urin bis zu ihrer willentlichen Entleerung in die Harnröhre. Die Harnröhre (Urethra) ist der Endabschnitt des ableitenden Harnsystems. Bei Frauen ist sie 4–5 cm lang und endet hinter der Klitoris. Bei Männern endet sie nach ca. 20 cm an der Penisspitze.

3.8 Wasser- und ElektrolytHaushalt Wassergehalt des Körpers • DerKörper besteht zu ca. 60 % aus Wasser. Der Wasseranteil ist abhängig vom Alter, vom Fettanteil und vom Geschlecht. Bei Säuglingen liegt er bei ca. 75 %, im Alter sinkt er auf ca. 50 %. Da Fettgewebe relativ wenig Wasser enthält, ist der Wasseranteil bei übergewichtigen

83

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.37 Wasserverteilung im menschlichen Körper.

Abb. 3.38 Osmotischer Druck.

geringe Menge anderer Flüssigkeiten (z.B. im Pleuraspalt) Trockensubstanz ca. 40% der KM

osmotischer Druck

⅔ in den Zellen (40 % der KM)

¼ Blutplasma

gelöste Moleküle

(5 % der KM)

davon

Wasser ca. 60% der KM

davon ⅓ außerhalb der Zellen (20 % der KM)

¾ interstitielles Wasser (15 % der KM)

Der menschliche Körper besteht zu 60 % aus Wasser, von dem sich etwa 2 Drittel innerhalb der Zellen befinden. KM = Körpermasse. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

semipermeable Membran Der osmotische Druck baut sich auf, wenn gelöste Moleküle eine semipermeable Membran nicht durchdringen können. Dann fließt das Lösungsmittel (hier: Wasser) durch die Membran so lange zum Ort der höheren Teilchenkonzentration, bis die Konzentrationen ausgeglichen sind. Aus: Schünke M, Faller A, Hrsg. Der Körper des Menschen. 18. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Personen geringer als bei Normalgewicht. Frauen haben einen niedrigeren Wasseranteil als Männer, da ihr Körperfettanteil höher und ihr Muskelanteil geringer ist. Verteilung des Körperwassers • Etwa ⅔ des Gesamtkörperwassers befindet sich in den Zellen (intrazellulär), etwa ⅓ außerhalb der Zellen (extrazellulär, ▶ Abb. 3.37). Etwa 75 % des extrazellulären Wassers befinden sich im Gewebe zwischen den Zellen, etwa 25 % in den Blutgefäßen (Intravasalraum). Der flüssige Anteil des Blutes ist das Blutplasma (S. 54). Zum extrazellulären Wasser zählen u. a. auch die Pleuraflüssigkeit und der Liquor (S. 100). Diese Mengen sind aber gering.



Medizin Hydratations- und Volumenstörungen



Eine Verminderung der Flüssigkeit im Extrazellularraum ist eine Dehydratation (S. 501), eine Vermehrung eine Hyperhydratation. Davon zu unterscheiden sind Veränderungen des Blutvolumens, d. h. Veränderungen des Flüssigkeitsgehalts im Intravasalraum. Eine Hypovolämie ist eine Verminderung des Blutvolumens, eine Erhöhung des Blutvolumens ist eine Hypervolämie. Wasserbilanz • Das Verhältnis zwischen Wasseraufnahme und -ausscheidung bezeichnet man als Flüssigkeits- oder Wasserbilanz. Normalerweise ist sie ausgeglichen, d. h., die Ein- und die Ausfuhrmenge sind gleich. Die durchschnittliche tägliche Wasseraufnahme eines Erwachsenen beträgt ca. 2,5 l (1,5 l Getränke + 1 l aus der Nahrung). Die durchschnittliche Wasserausscheidung pro Tag liegt ebenfalls bei ca. 2,5 l (ca. 1,5 l Urin, 0,1 l Stuhlwasser, 0,4 l Schweiß, 0,5 l Wasserverlust über die Atmung). Einflüsse auf die Flüssigkeitsverteilung im Körper ● Der osmotische Druck entsteht, wenn 2 Flüssigkeitskompartimente durch eine semipermable Membran (eine Membran, die nur für bestimmte Teilchen durchlässig ist) getrennt sind und die gelösten Teilchen auf beiden Seiten unterschiedlich stark konzentriert sind. Die Folge ist eine Flüssigkeitsbewegung zu der Seite mit der höheren Konzentration (▶ Abb. 3.38) bzw. mit der höheren Osmolalität 84



(Osmolalität = Konzentration gelöster Teilchen in einer Lösung pro kg Lösungsmittel). Hauptverantwortlich für den osmotischen Druck außerhalb der Zellen ist Natrium, innerhalb der Zellen hingegen Kalium. Der kolloidosmotische (onkotische) Druck ist der Druck, den große Moleküle an Membranen hervorrufen, die nur für kleine Moleküle durchlässig sind. Dieser Druck hält Flüssigkeit in einem Flüssigkeitskompartiment zurück und wirkt so dem hydrostatischen Druck entgegen. Hauptverantwortlich im Blut sind die Eiweiße, v. a. Albumin. Der hydrostatische Druck drückt Flüssigkeit aus den Gefäßen hinaus. Er wird durch die Schwerkraft beeinflusst und ist bei einem Blutstau im Gefäßsystem – z. B. bei Herzinsuffizienz (S. 306) – erhöht. Der Flüssigkeitsstrom wird auch von der Durchlässigkeit der Blutgefäße beeinflusst.

Wichtige Elektrolyte • Elektrolyte sind positiv (Kation) oder negativ (Anion) geladene Teilchen. Sie sind Mineralstoffe und werden hauptsächlich mit der Nahrung und Getränken aufgenommen bzw. über die Nieren, das Verdauungssystem und die Haut (Schweiß) ausgeschieden. ▶ Tab. 3.7 zeigt die wichtigsten Elektrolyte und ihre Funktionen. Regulation des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts • Wasser ist das Lösungsmittel für die Elektrolyte, daher sind der Wasser- und der Elektrolythaushalt eng miteinander gekoppelt. Das heißt: Ist der Wasserhaushalt verändert, wirkt sich dies auch auf den Elektrolythaushalt aus und umgekehrt. Das wichtigste Organ für die Regulation des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts ist die Niere. Über verschiedene Rezeptoren werden das Flüssigkeitsvolumen und die Natriumkonzentration in den Gefäßen gemessen. In der Folgewerden regulierende Hormone (▶ Tab. 3.8) ausgeschüttet. Diese passen die Wasser- und Elektrolytausscheidung in den Nieren sowie das Durstgefühl an die jeweilige Situation an.

Säure-Basen-Haushalt

Tab. 3.7 Normalwerte, Vorkommen und Funktionen der Elektrolyte. Elektrolyt

Normalwert im Blut

Vorkommen und Funktion

Natrium (Na+)

135–145 mmol/l

● ● ●

Kalium (K+)

3,5–5,5 mmol/l

● ● ●

Chlorid (Cl–)

95–110 mmol/l

● ● ●

Kalzium (Ca2 + )

2,2–2,7 mmol/l

● ●

Magnesium (Mg2 + )

0,75–1,05 mmol/l

● ●

Phosphat (PO43–)

0,8–1,6 mmol/l

● ●

häufigstes Kation im Extrazellularraum entscheidend für den osmotischen Druck im Extrazellularraum wichtig für die Erregung von Nerven- und Muskelzellen häufigstes Kation im Intrazellularraum wichtig für die Erregung von Nerven- und Muskelzellen Störungen: Hyperkaliämie (S. 503) und Hypokaliämie (S. 504) häufigstes Anion im Extrazellularraum wichtiger Beitrag zum osmotischen Druck im Extrazellularraum wichtige Rolle im Säure-Basen-Haushalt (S. 85) wichtig für die Erregung von Nerven- und Muskelzellen beteiligt am Aufbau von Knochen und Zähnen wichtig für die Erregung von Nerven- und Muskelzellen wichtig für die Funktion vieler Enzyme beteiligt an der Mineralisierung des Knochens beteiligt an der Regulation des pH-Werts

RETTEN TO GO Wasser- und Elektrolyt-Haushalt ●







Der Körper besteht zu ca. 60 % aus Wasser. Davon befinden sich ⅔ intrazellulär und ⅓ extrazellulär. Das extrazelluläre Wasser verteilt sich zu ¼ auf das Blutplasma (intravasal) und zu ¾ auf das Gewebe (interstitiell). Bei Säuglingen beträgt der Wasseranteil an der Körpermasse ca. 75 %. Im Alter sinkt der Wasseranteil auf ca. 50 %. Die Flüssigkeitsverteilung im Körper wird durch den osmotischen, den kolloidosmotischen und den hydrostatischen Druck beeinflusst. Natrium ist hauptverantwortlich für den osmotischen Druck außerhalb und Kalium innerhalb der Zellen. Elektrolyte sind positiv (Kation) oder negativ (Anion) geladene Teilchen. Die wichtigsten Elektrolyte sind Natrium, Kalium, Chlorid, Kalzium, Magnesium und Phosphat. Das häufigste Kation im Extrazellularraum ist Natrium, im Intrazellularraum ist es Kalium. Volumen- und Osmolalitätssensoren messen das Flüssigkeitsvolumen und die Na+-Konzentration und bewirken bei Abweichungen die Freisetzung von regulierenden Hormonen. Diese verändern die Wasser- und Elektrolytausscheidung in den Nieren und das Durstgefühl.

3.9 Säure-Basen-Haushalt Säuren und Basen • Säuren geben Protonen (H+-Ionen) ab, Basen nehmen Protonen auf. Anders gesagt: Säuren sind Protonendonatoren (lat. donare: schenken), die dem Reaktionspartner, der Base, ein Proton abgeben. Die Base nimmt das Proton an (Protonenakzeptor), wobei ein Wassermolekül entsteht. Je mehr H+-Ionen in einer Lösung sind, umso saurer ist sie, und je leichter eine Säure H+-Ionen abgibt, umso stärker ist sie. Säuren und Basen sind Gegenspieler, d. h., bei gleicher Konzentration heben sie sich gegenseitig auf und werden neutral (Säure-Basen-Gleichgewicht).

pH-Wert • Dieser Wert gibt den Säuregehalt von Lösungen an. Die Skala reicht von 0 bis 14. ● pH-Wert = 7,0: neutrale Lösung ● pH-Wert < 7,0: saure Lösung ● pH-Wert > 7,0: alkalische (basische) Lösung

! Merke pH-Wert

Es gilt: Je saurer die Lösung, desto niedriger ist der pH-Wert. Je alkalischer (basischer) eine Lösung ist, desto höher ist der pH-Wert. Regulation des Säure-Basen-Haushalts • Zellen und Organe arbeiten nur in einem sehr engen pH-Wert-Bereich optimal. Die wichtigsten regulatorischen Organe sind die Lunge und die Niere. H+-Ionen entstehen in den Zellen bei Stoffwechselvorgängen, z. B. beim Abbau von Nährstoffen. Damit sie sich nicht in der Zelle ansammeln und sie schädigen, werden sie ins Blut abgegeben. Mit dem Blut gelangen sie in Niere und Lunge. Dort wird über Sekretions- und Rückresorptionsvorgänge bzw. die Abatmung von CO2 der Säure-BasenHaushalt ausgeglichen. Bikarbonat-Puffer • Der Blut-pH-Wert beträgt arteriell normalerweise 7,4 (Normalbereich 7,37–7,43). Der Großteil der H+-Ionen wird im Blut an andere Moleküle gebunden und in diesen Puffersystemen transportiert. Das wichtigste Puffersystem im Blut ist der Bikarbonat-Puffer: Die frei gelösten Bikarbonat-Ionen (HCO3–) reagieren mit den H+-Ionen zu Kohlensäure (H2CO3). Diese zerfällt in Kohlendioxid (CO2) und Wasser (H2O). HCO–3 þHþ ↔ H2 CO3 ↔CO2 þH2 O Regulation über die Lunge • Das so entstandene CO2 kann über die Lunge abgeatmet werden. Damit ist die Atmung wichtig für die Regulation des pH-Werts: Durch eine vermehrte oder verminderte Atmung kann der pH-Wert schnell angepasst werden. Ein sinkender Blut-pH-Wert ist ein starker Atemanreiz (S. 75)! Regulation über die Niere • Die Regelmechanismen der Niere umfassen die Neubildung und Rückgewinnung von Bikarbo-

85

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.39 pH-Wert.

Abb. 3.40 Geschlechtsorgane bei Frauen.

Gebärmutter 14

11

a lis c h

Klitoris

4

Scheide

10

3

sau er

alk

Rektum

Harnröhre

12

1

2

Scheidenvorhof

9

5

Urin pH-Wert 4

Harnblase

13

Magensaft pH-Wert 1

6

7

8

innere Vulvalippe

Pankreassaft pH-Wert 8,2 Gewebe (intrazellulär) pH-Wert 7,2

Blut pH-Wert 7,4

äußere Vulvalippe

Schnitt durch die weibliche Beckenhöhle. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022 Abb. 3.41 Vulva.

Der pH-Wert in einzelnen Körperflüssigkeiten unterscheidet sich teilweise erheblich. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

nat aus dem Primärharn und die Ausscheidung von H+-Ionen. Diese Mechanismen setzen langsamer ein. pH-Wert in anderen Körperflüssigkeiten • Der Ziel-pH-Wert von 7,4 gilt in erster Linie für das Blut. In anderen Körperflüssigkeiten weicht er deutlich ab (▶ Abb. 3.39).

Medizin Blutgasanalyse Den pH-Wert im Blut können Sie mit einer Blutgasanalyse (S. 207) bestimmen: Dabei werden zusätzlich der O2- und der CO2-Gehalt des Blutes gemessen.

RETTEN TO GO Säure-Basen-Haushalt Der pH-Wert gibt die Konzentration von H+-Ionen in Lösungen an. ● pH-Wert = 7,0: neutrale Lösung ● pH-Wert < 7,0: saure Lösung ● pH-Wert > 7,0: alkalische (basische) Lösung Der pH-Wert des Blutes liegt bei 7,4 (7,37–7,43). Schwankungen des pH-Wertes werden kurzfristig v. a. vom Bikarbonat-Puffer und von der Lunge abgefangen, die langfristige Regulation erfolgt über die Niere.

3.10 Genitalorgane und Schwangerschaft 3.10.1 Weibliche Genitalorgane Überblick • Die weiblichen Geschlechtsorgane (▶ Abb. 3.40) werden unterteilt in die von außen sichtbaren äußeren Geschlechtsorgane (Vulva) und die in der Beckenhöhle befindlichen inneren Geschlechtsorgane (Scheide, Gebärmutter, Eileiter und Eierstöcke). Eierstöcke und Eileiter bezeichnet man auch als Adnexe. Vulva • Die Vulva umgibt mit den Vulvalippen schützend den Eingang zu den inneren Geschlechtsorganen (▶ Abb. 3.41). 86

Scheidenvorhof

Klitoris

innere Vulvalippe

Mündung der Harnröhre

äußere Vulvalippe

Scheidenöffnung Damm Anus

Die Vulvalippen wurden gespreizt, um den Scheidenvorhof sichtbar zu machen. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Der Venushügel wölbt sich oberhalb der Symphyse und trägt die Intimbehaarung. Die inneren Vulvalippen umgeben den Scheidenvorhof. In den äußeren Vulvalippen befinden sich die Schwellkörper der Klitoris, die vorne zum Klitorisschaft mit der Eichel der Klitoris zusammenkommen. Die Vulva, insbesondere die Klitoris, sind mit zahlreichen sensiblen Nervenendigungen ausgestattet. In den Scheidenvorhof münden die Scheide, die Harnröhre und einige Drüsen, die bei sexueller Erregung Sekrete zur Befeuchtung der Vagina und Vulva absondern. Scheide • Die Scheide (Vagina) ist ein ca. 6–8 cm langer Muskelschlauch, der den Scheidenvorhof mit der Gebärmutter verbindet (▶ Abb. 3.40). Sie nimmt bei sexuellen Aktivitäten z. B. den Penis auf. Bei einer vaginalen Geburt tritt hier das Kind durch (Geburtsweg). Während der Periode fließt das Menstruationsblut aus der Gebärmutter über die Scheide ab. Der saure pH-Wert sowie die lokale Mikroflora im Inneren der Scheide helfen bei der Keimabwehr. Gebärmutter • Die Gebärmutter (Uterus) hat die Form einer umgedrehten Birne und liegt zwischen Harnblase und Mastdarm (▶ Abb. 3.40). Sie ist der Ort der Embryonal- und Fetalentwicklung, d. h., sie schützt und versorgt das Kind während seiner vorgeburtlichen Entwicklung. Während der Ge-

Genitalorgane und Schwangerschaft burt (S. 485) zieht sich ihre Muskelschicht zusammen, wodurch die Wehen entstehen. Eileiter • Die beiden Eileiter (Salpingen oder Tubae uterinae) sind ca. 10–16 cm lange Muskelschläuche, die die Gebärmutter und die Eierstöcke verbinden und die Eizelle nach dem Eisprung vom Eierstock zur Gebärmutter transportieren. Während des Transports im Eileiter findet ggf. die Befruchtung statt (▶ Abb. 3.42).

Abb. 3.42 Befruchtung und Einnistung.

Einnistung nach 5–6 Tagen

4 Tage

30 Stunden

ng deru Wan Befruchtung

Eierstöcke • Die beiden Eierstöcke (Ovarien) enthalten die weiblichen Keimzellen (Eizellen). Pro Menstruationszyklus reift dort (meist) 1 Eizelle zum sprungreifen Follikel heran. Beim Eisprung verlässt die Eizelle den Follikel und damit den Eierstock und wandert durch den Eileiter in Richtung Gebärmutter (▶ Abb. 3.42). Die Follikel bilden außerdem die weiblichen Geschlechtshormone (Östrogene und Gestagene) und steuern damit den Ablauf des Menstruationszyklus.

Trichter des Eileiters

Uterus

Eisprung reifende Follikel im Eierstock

RETTEN TO GO Weibliche Genitalorgane ●









Die Vulva fasst die äußeren Geschlechtsorgane der Frau zusammen: Venushügel (oberhalb der Symphyse), Vulvalippen (umgeben den Scheidenvorhof), Klitoris, Scheidenvorhof Die Scheide (Vagina) ist ein ca. 6–8 cm langer Muskelschlauch, der den Scheidenvorhof mit der Gebärmutter verbindet. Die Gebärmutter (Uterus) versorgt und schützt den Embryo bzw. Fetus. Während der Geburtswehen zieht sich ihre Muskelschicht zusammen. Die Eileiter (Salpingen oder Tubae uterinae) verbinden die Gebärmutter mit den Eierstöcken. Sie nehmen nach dem Eisprung die Eizelle auf und transportieren sie in Richtung Uterus. Währenddessen findet ggf. die Befruchtung statt. Die Eierstöcke (Ovarien) liegen beidseits der Gebärmutter. Hier reifen die Eizellen als weibliche Keimzellen heran und die weiblichen Geschlechtshormone (Östrogene und Gestagene) werden gebildet.

Die befruchtete Eizelle wandert durch den Eileiter und teilt sich dabei mehrmals. Schließlich nistet sie sich in die Gebärmutterschleimhaut ein. Die Zeitangaben beziehen sich auf den Zeitraum seit der Befruchtung. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

ne) Blutung einer Frau ist die Menopause, durchschnittlich im Alter von 52 Jahren.

RETTEN TO GO Menstruationszyklus Der Menstruationszyklus umfasst den Zeitraum vom 1. Tag der Regelblutung bis zum letzten Tag vor der nächsten Blutung und dauert durchschnittlich 28 Tage. Die 1. Menstruation (Menarche) setzt meist zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr ein, die letzte Menstruation (Menopause) wird um das 52. Lebensjahr beobachtet. Der Zeitraum, in der die Funktionsfähigkeit der Eierstöcke nachlässt, ist das Klimakterium (Wechseljahre).

3.10.2 Menstruationszyklus

3.10.3 Schwangerschaft

Dauer und Funktion • Ein Menstruationszyklus umfasst den Zeitraum vom 1. Tag der Regelblutung bis zum letzten Tag vor der nächsten Blutung. Ein Zyklus dauert durchschnittlich 28 Tage, wobei Schwankungen häufig sind. Während dieser Zeit entsteht eine befruchtungsfähige Eizelle, die mit dem Eisprung (Ovulation) den Eierstock verlässt und in den Eileiter gelangt. Gleichzeitig bereitet sich die Gebärmutterschleimhaut auf die Einnistung der befruchteten Eizelle vor. Bleibt die Befruchtung aus, setzt die Regelblutung (Menstruation) ein und der Zyklus beginnt von vorne. Gesteuert wird der Menstruationszyklus von Hormonen, die vom Hypothalamus, von der Hypophyse und von den Eierstöcken gebildet werden (▶ Tab. 3.8).

Befruchtung • Nach dem Eisprung gelangt die Eizelle in den Eileiter (▶ Abb. 3.42). Nun ist sie 12 bis max. 24 Stunden befruchtungsfähig. Die Befruchtungsfähigkeit der Spermien dagegen beträgt bis zu 5 Tage. Deshalb ist eine Befruchtung auch nach einem Geschlechtsverkehr einige Tage vor der Ovulation möglich. Bei einer Ejakulation gelangen rund 500 Mio. Spermien in die Scheide, die sich mithilfe ihres Schwanzes aktiv vorwärtsbewegen. Letztlich gelangen etwa 500 befruchtungsfähige Spermien bis in den Eileiter. Hier kann ein Spermium eine Eizelle befruchten (Konzeption): Es dringt in die Eizelle ein und setzt dort seine Chromosomen frei, die dann mit den mütterlichen Chromosomen zu einem Kern verschmelzen. Die befruchtete Eizelle hat insgesamt 46 Chromosomen (23 mütterliche und 23 väterliche).

Entwicklung im Lebensverlauf • Die 1. Menstruation (Menarche) setzt meist zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr ein. Zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr lässt die Funktionsfähigkeit der Eierstöcke nach (Wechseljahre oder Klimakterium), bis die Blutung komplett ausbleibt. Die letzte (sponta-

Wanderung und Einnistung • Etwa 24 Stunden nach der Befruchtung beginnt sich die befruchtete Eizelle zu teilen. Mit jeder Teilung verdoppelt sich die Anzahl der Zellen. Inner-

87

3

Anatomie und Physiologie halb von 3-4 Tagen wandert sie zur Gebärmutter und nistet sich dort in die Schleimhaut ein (Einnistung).



Medizin Eileiterschwangerschaft Manchmal ist die Wanderung der Eizelle durch den Eileiter erschwert. Dann besteht die Gefahr, dass sich die befruchtete Eizelle bereits hier einnistet und eine Eileiterschwangerschaft (S. 478) entsteht. Wird dies nicht erkannt, besteht die Gefahr, dass der Eileiter reißt und dabei lebensbedrohliche Blutungen auftreten. Entwicklungsphasen • Mit der Einnistung des Keimlings ist die Keimphase abgeschlossen. In der Embryonalphase, bis zur 8. Entwicklungswoche, entstehen die Organe. In der darauf folgenden Fetalphase reifen die Organe bis zur Geburt aus und der Fetus wächst stark. Reife Neugeborene sind durchschnittlich 51 cm groß und 3,5 kg schwer. Plazenta • Die Plazenta (Mutterkuchen) bildet sich am 6.–8. Tag nach der Befruchtung mit der Einnistung. Sie ist scheibenförmig und hat im voll entwickelten Zustand einen Durchmesser von ca. 20 cm. Sie dient der Versorgung des Embryos bzw. Fetus mit O2 und Nährstoffen. Gleichzeitig werden CO2 und Stoffwechselprodukte in den mütterlichen Kreislauf aufgenommen. Außerdem bildet die Plazenta Hormone, die für die Schwangerschaft wichtig sind. Nabelschnur • Sie verbindet den Fetus mit der Plazenta, ist bei Geburt ca. 50 cm lang und enthält die Nabelgefäße, die das Blut von der Plazenta zum Fetus bzw. umgekehrt transportieren. Phasen der Schwangerschaft • Schwangerschaften dauern, gerechnt vom 1. Tag der letzten Menstruation (post menstruationem, p.m.), durchschnittlich 40 Wochen und werden in 3 etwa gleich lange Abschnitte (Trimena) unterteilt. Im 1. Trimenon (= Schwangerschaftswoche 1–12, Frühschwangerschaft) dominiert die hormonelle Umstellung. Viele Frauen leiden unter Übelkeit und Erbrechen (S. 474). Im 2. Trimenon (SSW 13–27) lassen diese Beschwerden meistens nach. Typische Beschwerden im 3. Trimenon (SSW 28–40, Spätschwangerschaft) sind Sodbrennen, Atemnot bei Belastung und häufiger Harndrang. Wichtig ist es, diese Befindlichkeitsstörungen von krankhaften Veränderungen zu unterscheiden. Schwangerschaftsbedingte Komplikationen entwickeln sich am häufigsten im 1. und 3. Trimenon.

! Merke Schwangerschaftsdauer

Wird die Schwangerschaftsdauer von der Befruchtung der Eizelle bis zur Geburt berechnet, dauert sie 38 Wochen (Entwicklungswochen des Kindes). Im Alltag wird aber meist der 1. Tag der letzten Regelblutung als Schwangerschaftsbeginn gewertet. Bei dieser Berechnung dauert die Schwangerschaft 40 Wochen und man spricht von Schwangerschaftswochen (SSW).





Während die befruchtete Eizelle im Eileiter in Richtung Gebärmutter wandert, teilt sie sich mehrmals. Am 4. Tag nach der Befruchtung erreicht sie die Gebärmutter und beginnt mit der Einnistung. Damit ist die Keimphase abgeschlossen. Es folgt die Embryonal- und ab der 9. Entwicklungswoche die Fetalphase. Während der Schwangerschaft wird das Kind über die Plazenta mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt. Die Nabelschnur ist die Verbindung zwischen Plazenta und Embryo bzw. Fetus. Eine Schwangerschaft dauert, vom 1. Tag der letzten Menstruation gerechnet, durchschnittlich 40 Wochen (Schwangerschaftswochen, SSW) und wird in 3 etwa gleich lange Abschnitte (Trimena) unterteilt. Schwangerschaftsbedingte Komplikationen entwickeln sich am häufigsten im 1. und 3. Trimenon.

3.10.4 Männliche Genitalorgane Überblick • ▶ Abb. 3.43 ● Die äußeren männlichen Geschlechtsorgane sind das Glied (Penis), die Harnsamenröhre und der Hodensack. ● Die inneren männlichen Geschlechtsorgane sind die Nebenhoden, die Samenleiter und die akzessorischen Geschlechtsdrüsen (Bläschendrüse, Prostata und CowperDrüse). Auch die Hoden zählen zu den inneren Geschlechtsorganen, obwohl sie außen am Körper liegen: Sie entwickeln sich in der Beckenhöhle und steigen erst kurz vor der Geburt in den Hodensack ab. Penis • Das Glied sorgt dafür, dass die Spermien in die Scheide und möglichst nah an den Muttermund gelangen. Bei einem Orgasmus tritt Sperma aus dem Penis aus (Ejakulation). Da das Endstück der Harnröhre (S. 89) im Penis verläuft, dient er auch zum Wasserlassen. Der Penisschaft ist von außen sichtbar und endet mit der Eichel. Hier befinden sich besonders viele Berührungsrezeptoren, deren Aktivierung sexuelle Erregung vermittelt. Bei erschlafftem Penis ist die Eichel von der Vorhaut bedeckt. An ihrer Spitze endet die Harnsamenröhre. Der Penis enthält Schwellkörper, die sich bei sexueller Erregung stärker mit Blut füllen und anschwellen. Dadurch versteift sich der Penis (Erektion). Hoden, Nebenhoden und Hodensack • Die Hoden (Testes) bilden die Samenzellen (Spermien) und das männliche GeAbb. 3.43 Geschlechtsorgane bei Männern.

Samenleiter

Bläschendrüse

Prostata (Vorsteherdrüse)

Nebenhoden Cowper-Drüse

RETTEN TO GO Penis Schwangerschaft ●

88

Nach dem Eisprung gelangt die Eizelle in den Eileiter, wo sie 12 bis max. 24 Stunden befruchtungsfähig ist. Trifft die Eizelle im Eileiter auf ein Spermium, kann dieses in die Eizelle eindringen und seine Chromosomen freisetzen. Diese verschmelzen mit den mütterlichen Chromosomen zu einem Kern (Befruchtung, Konzeption).

Hoden

Harnsamenröhre

Schnitt durch die männliche Beckenhöhle. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Hormonsystem schlechtshormon Testosteron. Die Nebenhoden liegen schweifartig auf den Hoden und bestehen aus einem stark geschlängelten Gangsystem, das in den Samenleiter übergeht. Hier reifen die Spermien heran und werden gespeichert. Wichtig für die Samenreifung ist, dass die Hoden außerhalb der Beckenhöhle im Hodensack (Skrotum) liegen: Die Spermien entwickeln sich nur bei einer Temperatur von ca. 35 °C (niedriger als die Körperkerntemperatur!) optimal. Samenleiter • Der Samenleiter transportiert beim Samenerguss (Ejakulation) die Spermien aus dem Nebenhodengang in die Harnsamenröhre. Er ist etwa 50 cm lang und zieht vom Nebenhoden durch den Leistenkanal und die Prostata zur Harnröhre. Nach der Einmündung des Samenleiters wird die Harnröhre zur Harnsamenröhre. Akzessorische Geschlechtsdrüsen • Die paarigen Bläschendrüsen, die Prostata (Vorsteherdrüse) und die paarigen CowperDrüsen bilden Sekrete, die sie während der Ejakulation abgeben. Diese bilden zusammen mit den Spermien das Sperma (Ejakulat, Samenflüssigkeit).

RETTEN TO GO Männliche Genitalorgane ●









Der Penis (Glied) dient als Kopulationsorgan und zur Urinausscheidung. Je nach Erektionszustand ist die Eichel von der Vorhaut bedeckt. Im Inneren des Penis befinden sich Schwellkörper, die sich bei der Erektion mit Blut füllen und anschwellen. In den Hoden (Testis) werden die Spermien und die männlichen Geschlechtshormone (Testosteron) gebildet. Weil sich die Spermien bei einer Temperatur von ca. 35 °C am besten entwickeln, liegen die Hoden im Hodensack (Skrotum), außerhalb der Beckenhöhle. Die Nebenhoden sind ein Gangsystem, das den Hoden aufliegt und in den Samenleiter übergeht. Hier reifen die Spermien heran und werden gespeichert. Der Samenleiter ist ca. 50 cm lang, zieht vom Nebenhoden durch den Leistenkanal und die Prostata zur Harnsamenröhre. akzessorische Geschlechtsdrüsen: Die paarigen Bläschendrüsen, die Prostata (Vorsteherdrüse) und die paarigen Cowper-Drüsen bilden Sekrete, die sie während der Ejakulation abgeben. Zusammen mit den Spermien bilden diese das Sperma (Ejakulat, Samenflüssigkeit).

Abb. 3.44 Übersicht über wichtige Hormone.

Hormondrüse

Hormone

Hypothalamus

ADH, Oxytocin, Releasing-Hormone, Release-InhibitingHormone

Hypophyse

ACTH, FSH, LH, TSH Prolaktin, GH

Schilddrüse

Schilddrüsenhormone, Kalzitonin

Nebenschilddrüsen

Parathormon

Nebennieren

Aldosteron, Kortisol, Androgene, (Nor-)Adrenalin

Nieren

Renin, Erythropoetin

Inselorgan der Bauchspeicheldrüse

Insulin, Glukagon

Eierstöcke

Östrogen, Progesteron

Hoden

Testosteron

Gezeigt sind die wichtigsten hormonbildenden Organe. Die für den Rettungsdienst relevanten Hormone sind fett hervorgehoben. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Abb. 3.45 Steuerung der Hormonbildung am Beispiel der Schilddrüsenhormone. TRH

TSH

Schilddrüse

3.11 Hormonsystem Das Hormonsystem dient dazu, die Körperfunktionen zu steuern. Die Informationen werden über chemische Botenstoffe weitergegeben, die Hormone. „Klassische“ Hormone werden von ihrem Bildungsort über das Blut zu den Zielorganen transportiert (endokrine Informationsvermittlung). Hormonproduzierende Organe, z. B. die Schilddrüse, werden daher auch endokrine Drüsen genannt. Daneben gibt es endokrin aktive Zellen, die nur in kleinen Gruppen im Gewebe eines Organs vorkommen (diffuses endokrines Gewebe), z. B. in den Nieren oder im Fettgewebe. All diese Organe und Gewebe werden gemeinsam mit ihren Hormonen als „endokrines System“ bezeichnet.

T3 T4

bildet und setzt frei hemmt die Freisetzung wirkt auf

Der Hypothalamus setzt das Releasing-Hormon TRH (Thyreotropin-Releasing-Hormon) frei. Dessen Ziel ist die Hypophyse, an der es die Ausschüttung von TSH (Thyroidea-stimulierendes Hormon) hervorruft. Das Ziel von TSH ist die Schilddrüse, an der es die Freisetzung der Schilddrüsenhormone bewirkt. Diese wiederum wirken als effektorische Hormone an vielen verschiedenen Organen, z. B. an den Knochen oder am Herzen. Damit nicht überschießend viel Schilddrüsenhormone gebildet werden, hemmen sie ihre eigene Freisetzung, indem sie die Freisetzung von TRH aus dem Hypothalamus und von TSH aus der Hypophyse hemmen (negative Rückkopplung). Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

89

3

Anatomie und Physiologie Hormonbildende Organe • ▶ Abb. 3.44 und ▶ Tab. 3.8 zeigen die wichtigsten hormonbildenden Organe, Hormone und ihre Funktionen.

sen-Achse reguliert (▶ Abb. 3.45). Andere Organe arbeiten davon weitgehend unabhängig: Beispielsweise hängt die Ausschüttung von Insulin oder Glukagon aus den Inselzellen des Pankreas v. a. von der Blutzuckerkonzentration ab.

Steuerung der Hormonbildung • Die Bildung vieler Hormone wird in mehreren Stufen über die Hypothalamus-HypophyTab. 3.8 Hormone und ihre Wirkung. Bildungsort

Hormon

Wirkung

Gehirn: Hypothalamus

ADH (antidiuretisches Hormon, Adiuretin, Vasopressin)

verminderte Wasserausscheidung über die Nieren, erhöhtes Durstgefühl, Verengung der Widerstandsgefäße → Erhöhung des Blutdrucks

Oxytocin

u. a. Auslösung von Wehen bei der Geburt

Releasing-Hormone CRH, GnRH, TRH und GHRH

Freisetzung von ACTH, LH, FSH, TSH bzw. GH in der Hypophyse

Somatostatin

Hemmung der TSH- und GH-Freisetzung in der Hypophyse

Dopamin

Hemmung der Prolaktinausschüttung in der Hypophyse

ACTH (adrenokortikotropes Hormon)

Freisetzung der Glukokortikoide aus der Nebenniere

TSH (Thyroidea-stimulierendes Hormon)

Freisetzung der Schilddrüsenhormone aus der Schilddrüse

FSH (Follikel-stimulierendes Hormon)

Frauen: Follikelreifung und Östrogenproduktion in den Eierstöcken Männer: Entwicklung der Spermien

LH (luteinisierendes Hormon)

Frauen: wie FSH + Auslösung des Eisprungs Männer: Freisetzung von Testosteron aus den Hoden

Prolaktin

Milchbildung in der Brustdrüse

Wachstumshormon (GH, Growth Hormone, Somatotropin)

Längenwachstum der Knochen, Muskelaufbau, Effekte auf den Stoffwechsel

Gehirn: Epiphyse (Zirbeldrüse)

Melatonin

Steuerung des Tag-Nacht-Rhythmus

Schilddrüse

Schilddrüsenhormone: Trijodthyronin (T3), Thyroxin (T4)

Wachstum, Entwicklung, Steigerung der Organfunktionen, der Stoffwechselaktivität und der Wärmeproduktion

Kalzitonin

Absenkung des Kalziumspiegels im Blut

Nebenschilddrüse

Parathormon (PTH)

Anhebung des Kalziumspiegels im Blut

Nebennieren

Mineralokortikoide (v. a. Aldosteron)

Reduktion der Wasserausscheidung über die Nieren → Blutdruckerhöhung

Glukokortikoide (v. a. Kortisol)

Energiebereitstellung in Stresssituationen, Unterdrückung der Immunabwehr und von Entzündungen

Androgene

Frauen: Umwandlung in weibliche Sexualhormone in den Eierstöcken Männer: untergeordnete Bedeutung

Katecholamine: Adrenalin, Noradrenalin

Bewältigung von Stresssituationen bei Aktivierung des Sympathikus (▶ Abb. 3.56)

Inselzellen der Bauchspeicheldrüse

Insulin

Absenkung des Blutzuckerspiegels

Glukagon

Anheben des Blutzuckerspiegels

Keimdrüsen (Hoden bzw. Eierstöcke)

Östrogene

Förderung des Knochenaufbaus Frauen: Entwicklung der Geschlechtsmerkmale, Steuerung des Menstruationszyklus (S. 87)

Gestagene (Progesteron)

Frauen: Entwicklung der Geschlechtsmerkmale, Steuerung des Menstruationszyklus (S. 87)

Androgene (u. a. Testosteron)

Förderung des Knochenaufbaus und des Muskelwachstums Männer: Entwicklung der Geschlechtsmerkmale, Förderung des Geschlechtstriebs (Libido) und der Spermienbildung

hCG (humanes Choriogonadotropin)

Schwangerschaftshormon

Gehirn: Hypophyse (Hirnanhangdrüse)

Plazenta

90

Temperaturregulation

Tab. 3.8 Fortsetzung. Bildungsort

Hormon

Wirkung

Niere

Erythropoetin (EPO)

Stimulation der Bildung von Erythrozyten im Knochenmark

Renin

Blutdrucksteigerung

Herz

ANP (atriales natriuretisches Peptid)

erhöhte Ausscheidung von Wasser und Natrium über die Nieren → Reduktion des Blutdrucks

Fettgewebe

Leptin

Hemmung des Hungergefühls

3.12 Temperaturregulation

Medizin Störungen der Körperkerntemperatur

Regulationszentrum • Die Körperkerntemperatur soll möglichst konstant bei ca. 37 °C bleiben (▶ Abb. 3.46). Das Regulationszentrum für den Wärmehaushalt ist der Hypothalamus. Die eingehenden Informationen stammen von Temperatursensoren im Hypothalamus selbst und in der Haut.





Reaktion auf Wärme • Die Hautgefäße werden weitgestellt. Dadurch wird vermehrt Wärme aus dem Körperinneren in die Peripherie transportiert und in der Folge an die Umgebungsluft abgegeben. Zusätzlich produziert die Haut mehr Schweiß und gibt so Wärme durch Verdunstung ab.



Hypothermie (S. 402): Körperkerntemperatur < 35 °C Hitzschlag (S. 406): Körperkerntemperatur > 40,5 °C Fieber: aktive Erhöhung der Körperkerntemperatur

RETTEN TO GO Hormonsystem und Temperaturregulation ●

Reaktion auf Kälte • Unnötige Wärmeabgabe wird durch eine Engstellung der Hautgefäße vermieden. Als Isolatoren dienen das Unterhaut-Fettgewebe und die Kleidung. Kältezittern produziert durch Muskelarbeit zusätzlich Wärme. Fieber • Bei Entzündungsreaktion werden im Körper Botenstoffe ausgeschüttet, die im Hypothalamus den Sollwert erhöhen. Daraufhin „glaubt“ der Körper, dass zu viel Wärme verlorengeht, und aktiviert die Mechanismen zur Erhöhung der Körperkerntemperatur wie bei Kälte.

ACHTUNG Säuglinge sind besonders stark durch Auskühlung gefährdet, da ihre Körperoberfläche im Vergleich zu ihrer Körpergröße sehr groß ist (S. 526). Achten Sie daher immer auf einen ausreichenden Wärmeerhalt (Schlafsack, Kleidung, Wärmelampe).



Hormonsystem: Hormone sind chemische Botenstoffe, die die Körperfunktionen steuern. „Klassische“ Hormone werden von hormonbildenden (endokrinen) Organen ausgeschüttet und über den Blutweg zu den Zielorganen transportiert. Wichtige endokrine Organe sind Hypothalamus und Hypophyse (zentrale Steuerfunktionen), die Schilddrüse und die Nebenschilddrüsen, die Nebennieren, das Inselorgan der Bauchspeicheldrüse und die Eierstöcke bzw. Hoden. Temperaturregulation: Das zentrale Organ zur Steuerung der Körperkerntemperatur ist der Hypothalamus (im Gehirn). Wichtige Mechanismen, um überschüssige Wärme abzugeben, sind eine Weitstellung der Hautgefäße und Schwitzen. Gegen Kälte schützt sich der Körper durch eine Engstellung der Hautgefäße und Kältezittern. Fieber entspricht einer Erhöhung des Sollwerts für die Körperkerntemperatur.

Abb. 3.46 Mechanismen der Temperaturregulation.

Thermorezeptoren

Ist-Wert < Soll-Wert

Muskelzittern

Stoffwechselleistung ↑

Hypothalamus

Ist-Wert = Soll-Wert

braunes Fettgewebe

Wärmeproduktion ↑, Wärmeverlust ↓

Hautdurchblutung ↓

Abgleich

Ist-Wert > Soll-Wert

Hautdurchblutung ↑ keine Maßnahmen nötig

37 °C Soll-Wert Körpertemperatur

Schweißbildung↑

Wärmeabgabe ↑

Im Hypothalamus werden der Ist- und der Soll-Wert der Körperkerntemperatur verglichen. Bei Abweichungen veranlasst er Vorgänge, die entweder die Wärmeproduktion oder die Wärmeabgabe steigern. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 91

3

Anatomie und Physiologie

3.13 Bewegungssystem

Abb. 3.47 Aufbau eines Röhrenknochens.

3.13.1 Überblick

Spongiosa mit rotem Knochenmark

Anteile des Bewegungssystems ● Das Skelettsystem (Stützapparat) besteht aus Knochen, Knorpel, Gelenken und Bändern. Die Knochen bilden das Skelett, das passive „Gerüst“ des Körpers, das von der Skelettmuskulatur bewegt wird. ● Die Skelettmuskulatur ist quergestreifte Muskulatur (S. 52) und kann willentlich gesteuert werden. Sie ist der aktive Teil des Bewegungssystems: Durch ihre Anspannungen verändert oder stabilisiert sie die Stellung der Gelenke und des gesamten Körpers.

Gelenkfläche mit Gelenkknorpel

obere Epiphyse

Metaphyse

Periost

3.13.2 Knochen und Gelenke

Markhöhle (Knochenmark entfernt)

Diaphyse

Knochen Funktionen • Die Knochen stabilisieren den Körper und schützen die Organe, z. B. das Gehirn durch den Schädel oder das Herz und die Lunge durch den knöchernen Brustkorb. Sie speichern nahezu das gesamte Körperkalzium. Das Knochenmark im Inneren der Knochen ist für die Blutbildung (S. 53) verantwortlich. Knochenformen Röhrenknochen (lange Knochen, z. B. Oberarmknochen): An ihren Enden befinden sich die Epiphysen mit den Gelenkflächen (▶ Abb. 3.47). Der Knochenschaft (Diaphyse) verbindet die Epiphysen miteinander. An den Übergangsstellen von den Dia- zu den Epiphysen liegen die für die Knochenentwicklung wichtigen Metaphysen. ● kurze Knochen (z. B. Hand- und Fußwurzelknochen) ● platte Knochen (z. B. Schulterblatt, Brustbein, Schädel)

Kompakta

Fettmark

Metaphyse Spongiosa



Aufbau der Knochen • ▶ Abb. 3.47 ● In der außen anliegenden Knochenhaut (Periost) verlaufen Nerven und Gefäße zur Versorgung des Knochens. ● Die äußere Schicht ist hart und dicht (Kompakta). ● Die innere Schicht, die Spongiosa, ist schwammartig und besteht aus feinen Knochenbälkchen (Trabekeln), zwischen denen sich kleine Hohlräume befinden. Die Trabekel verlaufen in Richtung der größten Belastung (Druck und Zug). In den Diaphysen der Röhrenknochen befindet sich ein zusammenhängender Hohlraum, die Markhöhle. In der Spongiosa und der Markhöhle liegt das Knochenmark. Das rote Mark bildet die Blutzellen (S. 53). Nach und nach wandelt es sich in gelbes Mark (Fettmark) um. Bei Erwachsenen enthalten nur noch die kurzen und die platten Knochen und einige Epiphysen der Röhrenknochen rotes Mark.

Medizin Intraossäre Punktion und Blutungen Der Markraum der Röhrenknochen ist direkt mit dem Gefäßsystem verbunden. Daher eignet er sich für die Zufuhr von Medikamenten. Die intraossäre Punktion (S. 112) ist im Notfall eine gute Alternative, wenn die Anlage eines peripher-venösen Zugangs nicht gelingt (z. B. wegen ungünstiger Venenverhältnisse). Diese sehr gute Durchblutung des Markraums kann allerdings auch negative Konsequenzen haben: Bei Knochenbrüchen (S. 368) sind (je nach Knochen) sehr große, oft unbemerkte Blutverluste möglich (▶ Abb. 15.9).

92

untere Epiphyse Das Bild zeigt den Oberschenkelknochen eines Erwachsenen. In der oberen Epiphyse findet sich zwischen den Bälkchen der Spongiosa noch rotes Knochenmark, in Richtung der unteren Epiphyse ist es in Fettmark umwandelt. Das Knochenmark ist teilweise entfernt, damit die Markhöhle besser zu erkennen ist. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Gelenke Funktion • Gelenke verbinden zwei oder mehr Knochen so miteinander, dass Bewegungen möglich sind. Das Ausmaß der Bewegung hängt von der Art des Gelenks ab. Aufbau von Gelenken ● Bei echten Gelenken sind die Gelenkflächen durch einen Gelenkspalt getrennt. Dieser ist mit Gelenkflüssigkeit gefüllt. Das Gelenk ist von einer Gelenkkapsel umgeben. Die meisten echten Gelenke (z. B. Schulter- und Hüftgelenk) sind recht beweglich. Je nach Gelenktyp (▶ Abb. 3.48) sind unterschiedliche Bewegungen möglich. Einige echte Gelenke sind durch straffe Bänder und eine eng anliegende Gelenkkapsel so stark fixiert, dass sie nur einen sehr geringen Bewegungsspielraum haben. Solche straffen Gelenken sind z. B. die Gelenke der Hand- und der Fußwurzel. ● Bei unechten Gelenken fehlt der Gelenkspalt, die Knochen sind durch Bindegewebe, Knorpel oder Verknöcherungen verbunden, ihre Beweglichkeit ist eher gering. Beispiele: Schambeinfuge (Symphyse), Gelenke zwischen Brustbein und Rippen, Verbindungen zwischen den Schädelknochen.

Bewegungssystem Abb. 3.48 Beispiele für Gelenktypen.

Abb. 3.49 Skelettsystem. Schädel (Cranium) Augenhöhle (Orbita) Oberkieferbein (Maxilla) Unterkieferbein (Mandibula)

Schlüsselbein (Clavicula)

Schulterblatt (Scapula)

Brustbein (Sternum)

Oberarmknochen (Humerus)

Kugelgelenk

Scharniergelenk

Radgelenk

Je nach „Bauart“ können sich die Gelenkpartner um unterschiedliche Achsen bewegen. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Gelenktypen ● Kugelgelenk (z. B. Schultergelenk, Hüftgelenk) ● Sattelgelenk (z. B. Daumengrundgelenk) ● Eigelenk (z. B. oberes Handwurzelgelenk) ● Scharniergelenk (z. B. Ellenbogengelenk) ● Radgelenk (z. B. unteres Kopfgelenk) ● planes Gelenk (z. B. Gelenke der Hand- und Fußwurzel)

Medizin Luxation Der Fachbegriff für die „Ausrenkung“ eines Gelenks lautet Luxation (S. 367). Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk des Körpers und damit am anfälligsten für Luxationen. Häufig betroffen sind auch die Sprunggelenke.

Das menschliche Skelett Insgesamt besteht das menschliche Skelett aus 223 Knochen. Die meisten Knochen sind paarig angelegt (also jeweils auf der rechten und auf der linken Seite, ▶ Abb. 3.49). Der Rumpf ist der Teil des Körpers, der übrig bleibt, wenn Sie sich Kopf, Hals, Arme und Beine wegdenken. Das Rumpfskelett besteht aus dem Brustkorb (Thorax), dem Becken (Pelvis) und der Wirbelsäule.

Darmbein (Os ilium)

Elle (Ulna) Speiche (Radius)

Kreuzbein (Os sacrum)

Steißbein (Os coccygis) Mittel- Handhand- wurzelknochen knochen

Hirnschädel • Der Hirnschädel bildet das knöcherne Gehäuse um das Gehirn, die Schädelhöhle. Er gliedert sich in Schädeldach (Kalotte) und Schädelbasis. Zum Hirnschädel gehören das Stirnbein, das paarige Scheitelbein, das paarige Schläfenbein, das Keilbein und das Hinterhauptsbein. Die platten Schädelknochen sind über in der Kindheit bindgewebige Schädelnähte miteinander verbunden, die im Lauf des Lebens verknöchern. Durch das Foramen magnum („großes Loch“) in der Schädelbasis tritt das Rückenmark aus der Schädelhöhle aus. Es gibt viele kleinere Öffnungen und Gänge für den Durchtritt von Gefäßen und Nerven. Die Hirnschädelknochen begrenzen zusammen mit den Knochen des Gesichtsschädels weitere Hohlräume, z. B. die Nasen- und die Augenhöhle.

Schambein (Os pubis)

Fingerknochen Kniescheibe (Patella)

Oberschenkelknochen (Femur)

Wadenbein (Fibula) Schienbein (Tibia)

Fußwurzelknochen Mittelfußknochen

Schädel Der Schädel (Cranium) besteht aus 17 Einzelknochen (▶ Abb. 3.50). Diese sind bis auf den Unterkiefer unbeweglich miteinander verbunden.

Sitzbein (Os ischii)

Zehenknochen

Knochen des menschlichen Körpers. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022 Gesichtsschädel • Der Gesichtsschädel bildet das knöcherne Gerüst des Gesichts. Er besteht aus einer Vielzahl von Knochen, darunter dem Ober- und dem Unterkieferbein, dem paarigen Jochbein und dem paarigen Nasenbein. Das Unterkieferbein ist als einziger Schädelknochen beweglich.

Wirbelsäule Aufbau • Die Wirbelsäule ist die Verbindung zwischen Kopf, Ober- und Unterkörper und ermöglicht Rumpfbewegungen (▶ Abb. 3.51). Zwischen den Wirbelkörpern befinden sich Bandscheiben (Discus vertebrales), die aus einem gallertigen

93

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.50 Schädelknochen. Schläfengrube Stirnbein

Schläfenbein

Keilbein

Stirnbein

Scheitelbein

Scheitelbein

Siebbein Augenhöhle Tränenbein

Kiefergelenk Hinterhauptsbein

Nasenbein Jochbein

Oberkieferbein

a

Schläfenbein

Nasenbein

Keilbein

Siebbein mit mittlerer Nasenmuschel

Felsenbein

Jochbein

untere Nasenmuschel

Warzenfortsatz

b

Unterkieferbein Jochbogen

Oberkieferbein

Unterkieferbein

Die Knochen des Schädels sind fest miteinander verbunden, nur der Unterkiefer ist beweglich aufgehängt. a Ansicht von der linken Seite. b Ansicht von vorne. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Abb. 3.51 Wirbelsäule.

2. Brustwirbel oberer Gelenkfortsatz Gelenkfläche für Rippenköpfchen

Wirbelkörper Halslordose Halswirbelsäule

Brustkyphose

unterer Gelenkfortsatz Gelenkflächen Dornfortsatz für Rippenhöckerchen Ansicht von links

Wirbelbogen

Brustwirbelsäule Lendenwirbelsäule

Wirbelkörper Dornfortsatz

Lendenlordose

Wirbelloch Kreuzbein mit Steißbein

oberer Gelenkfortsatz Sakralkyphose Querfortsatz Ansicht von oben

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Einteilung in Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sowie Kreuzbein und Steißbein. Die Wirbelsäule besteht aus 32−33 Wirbeln. Bei der Betrachtung von der Seite ist sie bei aufrechtem Stand doppelt-S-förmig gebogen. Dabei zeigen 2 Biegungen nach vorne (Lordosen) und 2 Biegungen nach hinten (Kyphosen). Rechts im Bild ist der typische Aufbau eines Wirbels gezeigt. Der Wirbelbogen und der Wirbelkörper umschließen das Wirbelloch. Die übereinanderliegenden Wirbellöcher aller Wirbel bilden den Wirbelkanal (Spinalkanal). Er enthält das Rückenmark. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Bewegungssystem Kern und einem äußeren Faserring bestehen. Sie polstern die Wirbelsäule bei Gewichts- und Druckbelastungen av. Die Wirbel der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sind grundsätzlich gleich aufgebaut. Abschnitte ● Halswirbelsäule (HWS): 7 Halswirbel (C 1–C 7) ● Brustwirbelsäule (BWS): 12 Brustwirbel (Th 1–Th 12) ● Lendenwirbelsäule (LWS): 5 Lendenwirbel (L 1–L 5) ● Kreuzbein (Os sacrum): 5 miteinander verschmolzene Sakralwirbel (S 1–S 5) ● Steißbein (Os coccygis): 3 oder 4 verkümmerte Wirbel Atlas und Axis • Die beiden ersten Halswirbel sehen anders aus als die übrigen Wirbel. Der Atlas (C 1) ist ringförmig und hat weder Wirbelkörper noch Dornfortsatz. Die Besonderheit des Axis (C 2) ist der Axiszahn. Dieser sitzt senkrecht auf dem Wirbelkörper und ragt in den Ring des Atlas hinein. Die beiden Wirbel bilden mit dem Hinterhauptsbein die Kopfgelenke und ermöglichen das Drehen des Kopfes und das Nicken.

Brustkorb Aufbau • Der Brustkorb (Thorax) schützt wie ein knöcherner Käfig die Brustorgane. Er besteht aus 12 Rippenpaaren, dem Brustbein (Sternum) und den 12 Brustwirbeln (▶ Abb. 3.49). Rippen • Die Rippen (Costae) haben einen knöchernen und einen knorpeligen Anteil. Ihr knöchernes Ende ist mit den Brustwirbeln, ihr knorpeliges mit dem Brustbein verbunden. An der 11. und 12. Rippe fehlt der Rippenknorpel, sie haben keine Verbindung zum Brustbein. Die Rippen verlaufen schräg nach unten in Richtung Brustbein. Bei der Einatmung heben sich die Rippen und der Brustkorb erweitert sich. Brustbein • Das Brustbein (Sternum) ist ein länglicher, flacher Knochen. Es ist mit den Rippen und den Schlüsselbeinen verbunden.

Becken Das Becken (Pelvis) verbindet den Rumpf mit den Beinen und beherbergt die Beckenorgane. Es besteht aus den beiden Hüftbeinen (Ossa coxae) und ist über das Iliosakralgelenk mit dem Kreuzbein verbunden. Die beiden Hüftbeine werden zusammen auch als Beckengürtel, Hüftbeine und Kreuzbein gemeinsam als Beckenring bezeichnet. Jedes Hüftbein besteht aus 3 knöchern miteinander verbundenen Knochen (▶ Abb. 3.49): Darmbein (Os ilium), Sitzbein (Os ischii) und Schambein (Os pubis). Das linke und das rechte Schambein sind über eine knorpelige Verbindung, die Schambeinfuge (Symphyse), miteinander verbunden. Der Raum, den der Beckenring umschließt, besteht aus dem oberen großen Becken, das noch zur Bauchhöhle zählt und Teile des Darms enthält, und dem kleinen Becken, das die Beckenhöhle mit den Beckenorganen umschließt. Der Übergangsbereich ist der Beckeneingang. Der Beckenausgang wird von Scham-, Sitz- und Steißbein gebildet.

Obere Extremität Die oberen Extremitäten umfassen jeweils den Schultergürtel und den Arm. Knochen • Der Schultergürtel verbindet den Arm mit dem Rumpf. Er besteht aus dem Schlüsselbein (Clavicula) und dem Schulterblatt (Scapula). Der Arm gliedert sich in den Oberarm mit dem Oberarmknochen (Humerus), den Unterarm mit Elle (Ulna) und Speiche (Radius) und die Hand. Die Hand setzt sich zusammen aus: ● der Handwurzel mit 8 Handwurzelknochen in 2 Reihen, ● der Mittelhand mit 5 Mittelhandknochen und ● den 5 Fingern mit 14 Fingerknochen (jeweils 3 Knochen pro Finger, beim Daumen nur 2). Gelenke • Die Verbindung zwischen Schultergürtel und Oberarm ist das Schultergelenk, das beweglichste Gelenk des Menschen. Oberarm und Unterarm sind durch das Ellenbogengelenk verbunden. Das umgangssprachlich als Handgelenk bezeichnete Gelenk zwischen Unterarm und Hand besteht aus 2 Handwurzelgelenken, dem oberen (zwischen den Unterarmknochen und der oberen Reihe der Handwurzelknochen) und dem unteren Handwurzelgelenk (zwischen der oberen und der unteren Reihe der Handwurzelknochen). Der Daumen hat 2, die übrigen Finger 3 Fingergelenke.

Untere Extremität Die untere Extremität umfasst den Beckengürtel und das Bein. Der Beckengürtel überträgt das Gewicht des Körpers auf die Beine. Knochen • Das Bein besteht aus dem Oberschenkel mit dem Oberschenkelknochen (Femur), dem Unterschenkel mit Schienbein (Tibia) und Wadenbein (Fibula) sowie dem Fuß. Der Fuß setzt sich zusammen aus ● der Fußwurzel mit den Fußwurzelknochen, ● dem Mittelfuß mit den Mittelfußknochen und ● dem Vorfuß mit 5 Zehen und 14 Zehenknochen (jeweils 3 Knochen pro Zehe, bei der Großzehe nur 2 Knochen). Gelenke • Das Hüftgelenk verbindet den Beckengürtel mit dem Oberschenkelknochen. Die Verbindung zwischen Oberund Unterschenkel ist das Kniegelenk. Die Kniescheibe (Patella) ist in die Sehne des stärksten Kniestreckers (M. quadriceps femoris) eingelagert, damit die Sehne nicht direkt über das Gelenk verläuft. Dies vermindert deren Belastung. Zwischen Unterschenkel und Fuß liegt das Sprunggelenk. Wie das Handgelenk besteht es aus mehreren Knochen und einem oberen und einem unteren Gelenk. Auch bei den Zehen verhält es sich ähnlich wie bei den Fingern: Die Großzehe hat nur 2, die übrigen Zehen jeweils 3 Zehengelenke.

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3

Anatomie und Physiologie

Muskeln des menschlichen Körpers RETTEN TO GO Knochen und Gelenke Knochen ● Funktionen: Stützen des Körpers, Schutz der Organe, Kalziumspeicher, Blutbildung ● Knochenformen: Röhrenknochen (z. B. Oberarmknochen), kurze Knochen (z. B. Handwurzelknochen), platte Knochen (z. B. Schulterblatt) ● Aufbau von außen nach innen: – Knochenhaut (Periost) mit Gefäßen und Nerven – dichte Außenschicht (Kompakta) – „schwammartige“ Innenschicht (Spongiosa) – Markhöhle mit Knochenmark: Im roten Knochenmark findet die Blutbildung statt. Gelenke verbinden zwei oder mehr Knochen miteinander: ● Echte Gelenke von einer Gelenkkapsel umgeben, die Gelenkflächen sind durch einen Gelenkspalt. Straffe Gelenke sind wegen einer engen Kapsel nur wenig beweglich (Gelenke der Hand- und Fußwurzel). ● Unechte Gelenke (z. B. Verbindungen zwischen den Schädelknochen) haben keinen Gelenkspalt. Die Knochen sind über Bindegewebe, Knorpel oder Verknöcherungen miteinander verbunden. ● Gelenktypen: Nach der Form der Gelenkpartner unterscheidet man z. B. Kugel- und Scharniergelenke. Je nach Typ des Gelenks können sich die Gelenkpartner um unterschiedliche Achsen bewegen. Kugelgelenke sind am beweglichsten. Das menschliche Skelett ● Der Schädel besteht aus dem Hirn- (das knöcherne Gehäuse um das Gehirn) und dem Gesichtsschädel (das knöcherne Gerüst des Gesichts). ● Das Rumpfskelett besteht aus dem Brustkorb (Thorax), dem Becken (Pelvis) und der Wirbelsäule. ● Die obere Extremität umfasst den Schultergürtel (Schlüsselbein, Schulterblatt) und den Arm (Oberarmknochen, Elle, Speiche, Handknochen). ● Die untere Extremität umfasst den Beckengürtel (Hüftbeine) und das Bein (Oberschenkelknochen, Schien- und Wadenbein, Fußknochen).

3.13.3 Skelettmuskulatur Allgemeines Funktionen • Die Skelettmuskulatur bewegt den Körper oder hält ihn in einer bestimmten Position. Sie kann willentlich angesteuert werden. Da bei der Muskelarbeit viel Wärme freigesetzt wird, ist die Skelettmuskulatur auch am Wärmehaushalt beteiligt. Aufbau • Skelettmuskulatur ist quergestreifte Muskulatur (S. 52). Die meisten Muskeln sind über Ursprungs- und Ansatzsehnen mit Knochen verbunden. Einige Sehnen verlaufen streckenweise in Bindegewebshüllen. Diese Sehnenscheiden schützen die Sehnen und dienen als Führungskanal. Auch Haltebänder sichern den korrekten Verlauf von Sehnen. Ziehen Sehnen über Knochenvorsprünge, werden sie häufig von einem Schleimbeutel unterlagert.

96

Überblick • ▶ Abb. 3.52 Rumpf • Die Rumpfmuskulatur besteht aus der Brustwandmuskulatur, dem Zwerchfell, der Rücken-, der Bauch- und der Beckenbodenmuskulatur. Diese Muskeln sorgen dafür, dass sich der Rumpf bewegt und die Wirbelsäule stabilisiert wird. Zudem dienen sie – je nach Muskelgruppe – auch als Atemmuskeln, als Bauchpresse oder der Stuhl- und Harnkontinenz. Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel und trennt die Brust- von der Bauchhöhle. Obere Extremität • Das Schulterblatt wird hauptsächlich von der Schultergürtelmuskulatur (oberflächliche Rücken- und Brustmuskulatur) am Rumpf befestigt und bewegt. Die Schultermuskeln bewegen den Oberarm gegenüber dem Schulterblatt. An der Vorderseite des Oberarms liegen die Beugemuskeln des Ellenbogengelenks, an seiner Rückseite die Streckmuskeln. Die Muskeln für die Bewegungen der Hand- und Fingergelenke befinden sich am Unterarm. Sie steuern gemeinsam mit den kurzen Handmuskeln die Feinmotorik der Hand und der Finger. Untere Extremität • Die Hüftgelenkmuskeln bewegen den Oberschenkel gegenüber dem Becken bzw. umgekehrt. Die meisten Muskeln des Kniegelenks liegen am Oberschenkel. Die Strecker befinden sich an der Vorderseite, die Beuger an der Rückseite des Oberschenkels. Die Muskeln für die Bewegung der Sprung- und Zehengelenke liegen am Unterschenkel. Auch am Fuß gibt es zahlreiche kleine Muskeln (kurze Fußmuskeln), die v. a. das Fußgewölbe stabilisieren und den Fuß beim Gehen polstern.

RETTEN TO GO Skelettmuskulatur ● ●

Funktionen: Bewegung und Haltearbeit, Wärmebildung Aufbau: Skelettmuskulatur ist quergestreifte Muskulatur. Die meisten Muskeln sind über Ursprungs- und Ansatzsehnen mit Knochen verbunden. Einige Sehnen verlaufen streckenweise in Sehnenscheiden. Haltebänder sichern den korrekten Verlauf von Sehnen. Ziehen Sehnen über Knochenvorsprünge, werden sie häufig von einem Schleimbeutel unterlagert.

Nervensystem Abb. 3.52 Skelettmuskulatur. M. extensor digitorum M. flexor carpi radialis M. brachioradialis M. palmaris longus M. pronator teres M. biceps brachii M. triceps brachii M. teres major M. latissimus dorsi

M. brachioradialis mimische Muskulatur

M. biceps brachii

M. masseter

M. deltoideus

M. triceps brachii

M. sternocleidomastoideus

M. trapezius M. infraspinatus

M. serratus anterior

M. trapezius

M. pectoralis major

M. deltoideus

M. obliquus externus abdominis Rektusscheide M. sartorius

M. obliquus externus abdominis M. triceps brachii

M. biceps brachii

M. extensor carpi radialis

M. pronator teres M. brachioradialis

M. brachioradialis

M. flexor carpi radialis M. quadriceps femoris

M. teres major

M. flexor carpi ulnaris

M. tensor fasciae latae

Tractus iliotibialis

M. adductor longus M. semitendinosus

M. latissimus dorsi Fascia thoracolumbalis M. gluteus maximus M. semimembranosus M. biceps femoris

M. semitendinosus

M. gracilis Mm. fibulares longus u. brevis

M. triceps surae M. tibialis anterior

M. soleus

M. extensor hallucis longus

a

M. gastrocnemius

Achillessehne (Tendo calcaneus)

b

Auf den Bildern sind nicht alle Muskeln des Körpers zu sehen, sondern nur die der oberflächlichen Muskelschicht. a Übersicht von vorne. b Übersicht von hinten. Aus: Schünke M, Faller A, Hrsg. Der Körper des Menschen. 18. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

3.14 Nervensystem



3.14.1 Überblick



Funktion Das Nervensystem steuert die Bewegungen und die Organfunktionen. Es nimmt Informationen (Sinnesreize) aus der Umwelt und aus dem Körper auf, leitet sie weiter und verarbeitet sie. Bei Bedarf löst es eine bewusste oder unbewusste Reaktion auf den Reiz aus. Gleichzeitig kann es die Informationen auch speichern (Gedächtnis). Das Nervensystem ist außerdem u. a. der Sitz des Bewusstseins, des Denkens, des Lernens und des Empfindens.

Nervengewebe Zellarten ● Neurone, die Nervenzellen, übermitteln Informationen. ● Gliazellen umhüllen, stützen und ernähren die Neurone. Aufbau von Neuronen • Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und mehreren Fortsätzen (▶ Abb. 3.53):



Dendriten sind kurze, verzweigte Fortsätze, über die Informationen aufgenommen werden. Im Zellkörper („Zentrale“ der Zelle) liegen die Organellen. Der Neurit ist ein bis zu 1 m langer Fortsatz, über den die Nervenzelle die Information weitergibt. Am Ende verzweigt er sich und bildet mit den Zielzellen Kontaktstellen (Synapsen), über die Informationen weitergegeben werden. Der Neurit und seine Gliazellschicht bilden gemeinsam ein Axon (Nervenfaser). Lagern sich mehrere Nervenfasern zusammen, entsteht ein Nerv.

Reizleitung • An den Zellmembranen der Neurone besteht eine veränderliche elektrische Spannung. Die Spannung an der Membran einer ruhenden Zelle ist das Ruhemembranpotenzial. Trifft eine Erregung an der Zelle ein, verändert sich die Spannung plötzlich: Aus dem Ruhemembranpotenzial wird ein Aktionspotenzial. Erreicht ein solches Aktionspotenzial die Synapse eines Neurons, werden Überträgersubstanzen (Neurotransmitter) ausgeschüttet: Das elektrische wird in ein chemisches Signal umgewandelt. Die Transmitter binden an Rezeptoren (S. 115) in der Membran der nachgeschalteten Zelle (z. B. weitere Nervenzelle) und lösen dort ein Aktionspotenzial aus. Dieses jetzt wieder elektri-

97

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.53 Aufbau eines Neurons.



Dendriten

Das vegetative (autonome) Nervensystem kontrolliert die Funktionen der inneren Organe. Seine Impulse sind nicht willkürlich steuerbar.

ZNS und PNS besitzen sowohl somatische als auch autonome Anteile, genauso wie das somatische und das vegetative Nervensystem jeweils aus einem zentralen und einem peripheren Teil bestehen.

Zellkern Zellkörper

Afferenzen und Efferenzen • Der Informationen fließen über sensible Nervenfasern zum ZNS (Afferenzen). Die „Anweisungen“ des ZNS gelangen über motorische oder vegetative Nervenfasern (Efferenzen) zu den Muskeln und Organen.

Neurit Gliazellen (Markscheide)

RETTEN TO GO

Axon

Überblick: Nervensystem

Endverzweigung





Endkolben (präsynaptische Endung) Synapse Zielzelle

synaptischer Spalt

Die meisten Neurone haben mehrere Dendriten und 1 Axon, das von einer Markscheide umgeben ist. Die Enden des Axons verzweigen sich zu Endkolben, die Teil einer Synapse sind. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

sche Signal wird dann über die Dendriten zum Zellkörper geleitet. An den Synapsen des Nervensystems gibt es unterschiedliche Neurotransmitter, z. B. Acetylcholin für die Übertragung von Signalen von Nerven auf Muskelzellen sowie im vegetativen Nervensystem oder Noradrenalin als Transmitter des Sympathikus.

Medizin Beeinflussung des Nervensystems Die Signalübertragung an den Synapsen ist ein Hauptansatzpunkt, um die Funktion des Nervensystems zu beeinflussen. Viele Medikamente, aber auch Drogen oder Giftstoffe greifen an den Rezeptoren für Neurotransmitter an und verstärken oder hemmen deren Effekte, vgl. Allgemeine Pharmakodynamik (S. 115).

Einteilung des Nervensystems Morphologische Einteilung ● Das zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. ● Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst alle Nervenstrukturen, die außerhalb des ZNS liegen. Funktionelle Einteilung ● Das somatische Nervensystem steuert die Skelettmuskulatur und damit die willkürlichen und die reflexartigen Körperbewegungen. Auch die Nerven, die die hierfür benötigten Sinnesinformationen aus der Umgebung oder dem Körper liefern, sind Teil des somatischen Nervensystems.

98





Das Nervensystem steuert die Bewegungen und die Organfunktionen. Außerdem ist es Sitz des Gedächtnisses, des Bewusstseins, des Denkens und des Empfindens. Der Empfang und die Weitergabe der Informationen erfolgen dabei über elektrische Signale. Nervengewebe besteht aus Neuronen, den eigentlichen Nervenzellen, und den Gliazellen, die Neurone umhüllen, stützen und ernähren. morphologische Einteilung: – zentrales Nervensystem (ZNS): Gehirn, Rückenmark – peripheres Nervensystem (PNS): alle anderen Nerven funktionelle Einteilung: – Das somatische Nervensystem leitet Sinneswahrnehmungen in Richtung Gehirn, es vermittelt willkürliche Reaktionen und motorische Reflexe. – Das vegetative Nervensystem kontrolliert nichtwillkürlich die Organfunktionen.

3.14.2 Zentrales Nervensystem (ZNS) Gehirn Funktionen • Das Gehirn (Enzephalon) liegt in der Schädelhöhle (S. 93). Es wertet Informationen aus und veranlasst entsprechende Reaktionen (z. B. Bewegungen, Anpassung von Organfunktionen). Darüber hinaus ist es für „höhere Leistungen“ zuständig, z. B. Sprache, Lernen, Denken, Urteilsfähigkeit, Gedächtnis oder Kreativität. ▶ Abb. 3.54a zeigt die Abschnitte des Gehirns. Großhirn • Den Hauptanteil des Gehirns bildet das Großhirn, dessen Oberfläche in zahlreiche Windungen gelegt ist. Es besteht aus 2 Hälften (Großhirnhemisphären), die über den Balken in Verbindung stehen. Jede Hirnhälfte gliedert sich in einen Stirn- oder Frontallappen, einen Scheitel- oder Parietallappen, einen Schläfen- oder Temporallappen und einen Hinterhaupts- oder Okzipitallappen. Zu den Aufgaben des Großhirns zählen u. a. höhere Hirnleistungen und Gedächtnis, Emotionen, Sprachverständnis und -bildung, die Planung von Bewegungen und das Bewusstsein. Die Impulse für willkürliche Bewegungen werden vom Großhirn über die Pyramidenbahn zur Muskulatur geleitet. Die meisten dieser Nervenfasern kreuzen im Hirnstamm auf die Gegenseite, sodass die rechte Großhirnhälfte die linke Körperseite und die linke Großhirnhälfte die rechte Körperseite ver-

Nervensystem

Abb. 3.54 Gehirn und Rückenmark. 2 3 4 5 6 7 8

Zwischenhirn Großhirn Balken

Das zentrale Nervensystem (ZNS) umfasst das Gehirn und das Rückenmark. a Längsschnitt durch das Gehirn. Das Gehirn gliedert sich in Großhirn, Zwischenhirn, Hirnstamm und Kleinhirn. b Schematische Darstellung des Rückenmarks, Ansicht von rechts. Das Rückenmark besteht aus 8 Hals(rot), 12 Brust- (blau), 5 Lenden(grün) und 5 Kreuzbeinsegmenten. Die Steißbeinsegmente sind nicht dargestellt. Die Segmente tragen die Nummer des Wirbels, unter dem ihr Spinalnerv austritt.

CI

C1

C II C III C IV CV CVI

Th1

CVII ThI

2 3

ThII

4

ThIII

5

ThIV

6

ThV 7

ThVI

8

ThVII

9

ThVIII

10

Th IX

11

Th X

12

L1

S1 2 3 4 5

Hypophyse

Th XI

2 3 4 5

Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Th XII LI LII LIII

Hirnstamm

LIV

Mittelhirn

LV

Brücke verlängertes Mark

Kleinhirn

a

sorgt. Auch die sensiblen Bahnen kreuzen auf ihrem Weg zum Großhirn zur anderen Körperhälfte.

Medizin Ausfälle auf der Gegenseite Werden bei einem Schlaganfall (S. 379) motorische oder sensible Bereiche im Großhirn geschädigt, bestehen die Ausfälle (Lähmungen bzw. Gefühlsstörungen) aufgrund der Kreuzung der motorischen und sensiblen Bahnen auf der gegenüberliegenden Körperseite: Ein Schlaganfall in der linken Hirnhälfte führt zu Lähmungen und/oder Sensibilitätsstörungen in der rechten Körperhälfte. Zwischenhirn • Das Zwischenhirn zwischen Großhirn und Hirnstamm umfasst folgende Anteile: ● Der Thalamus verarbeitet sensible Reize und filtert die Informationen für die Weiterleitung ans Großhirn. ● Die Hypophyse und der Hypothalamus steuern das Hormonsystem (S. 90), der Hypothalamus zusätzlich die Körpertemperatur und den Tag-Nacht-Rhythmus. ● Die Epiphyse (Zirbeldrüse) ist ebenfalls an der Steuerung des Tag-Nacht-Rhythmus beteiligt. Hirnstamm • Die meisten Hirnnerven (S. 100) entspringen aus dem Hirnstamm. Er gliedert sich in folgende Anteile: ● Das Mittelhirn enthält die Seh- und die Hörbahn. ● Die Brücke liegt zwischen Mittelhirn und verlängertem Mark. ● Das verlängerte Mark (Medulla oblongata) verbindet das Gehirn mit dem Rückenmark. Hier befinden sich u. a. das Atem- und das Kreislaufzentrum. Kleinhirn • Das Kleinhirn sitzt dem Hirnstamm an der Rückseite auf. Es arbeitet mit dem Großhirn zur Feinabstimmung der Körperbewegungen zusammen und mit dem Innenohr zum Erhalt des Gleichgewichts.

SII

SI

SIII SIV SV

b

Blutversorgung • Das Gehirn benötigt große Mengen an O2 und Glukose. Da es nur einen kleinen Energievorrat hat, ist es auf eine ständige Blutzufuhr angewiesen. Für die arterielle Versorgung sind 2 Arterienpaare verantwortlich: ● Die rechte und linke innere Halsschlagader (A. carotis interna) ziehen über kleinen Kanal in die Schädelhöhle. ● Die rechte und linke Wirbelarterie (A. vertebralis) verlaufen entlang der Halswirbelsäule und treten durch das Foramen magnum (S. 93) in die Schädelhöhle ein. Die Arterienpaare sind an der Hirnbasis durch einen Gefäßring (Circulus arteriosus Willisii) miteinander verbunden und geben rechts und links 3 große Hirnarterien ab, die vordere, mittlere und hintere Hirnarterie (A. cerebri anterior, media und posterior). Das venöse Blut fließt über oberflächliche oder tiefe Hirnvenen in die venösen Blutleiter, die Hirnsinus. Diese leiten es in die V. jugularis interna, die die Schädelhöhle verlässt.

Rückenmark Funktionen • Das Rückenmark leitet die Informationen aus der Peripherie zum Gehirn bzw. umgekehrt. Einige Reflexe laufen direkt im Rückenmark ab, ohne dass das Gehirn beteiligt ist. Ein Reflex ist eine immer gleich ablaufende, unwillkürliche Reaktion auf einen Reiz. Lage und Aufbau • Das Rückenmark liegt im Wirbelkanal innerhalb der Wirbelsäule (S. 93). Es schließt sich an den Hirnstamm an und reicht vom Hinterhauptsbein bis zum 2. Lendenwirbel. Es wird in 32 Segmente unterteilt (▶ Abb. 3.54b). Aus jedem Segment entspringen auf beiden Seiten die Rückenmarks- oder Spinalnerven. Sie gehören bereits zum PNS. Obwohl das Rückenmark kürzer ist als die Wirbelsäule,

99

3

Anatomie und Physiologie verlassen die Spinalnerven den Wirbelkanal erst auf Höhe des entsprechenden Wirbels.

Abb. 3.55 Hirnhäute.

äußeres Durablatt

RETTEN TO GO

inneres Durablatt Hirnsinus

Dura mater

Zentrales Nervensystem (ZNS) Gehirn ● Funktionen: Steuerung der Organfunktionen und Bewegungen, „höhere Leistungen“ (z. B. Sprache, Lernen, Gedächtnis, Kreativität) Aufbau: – Großhirn: Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptslappen – Zwischenhirn: Hypothalamus, Hypophyse, Thalamus und Epiphyse – Hirnstamm: Mittelhirn, Brücke, verlängertes Mark – Kleinhirn ● arterielle Versorgung: A. carotis interna, A. vertebralis Rückenmark ● Funktionen: Reizleitung zwischen Gehirn und PNS, Reflexe ● Aufbau: 32 Rückenmarksegmente, aus denen jeweils 1 Spinalnervenpaar entspringt

Hirnhäute und Liquor Meningen • Gehirn und Rückenmark werden von den Hirnbzw. Rückenmarkshäuten (Meningen) umhüllt. Von außen nach innen sind dies (▶ Abb. 3.55): ● Die harte Hirn- bzw. Rückenmarkshaut (Dura mater) besteht aus straffem Bindegewebe und liegt den Knochen direkt an. Sie besteht aus 2 Schichten, die im Bereich des Gehirns miteinander verwachsen sind. Im Bereich des Rückenmarks liegt dazwischen der Periduralraum. ● Die Spinnengewebshaut (Arachnoidea) ist eine zarte Haut aus lockerem Bindegewebe. Sie ist von der Dura mater durch den sehr schmalen Subduralraum getrennt. ● Die weiche Hirn- bzw. Rückenmarkshaut (Pia mater) liegt auf dem Gehirn und Rückenmark und ist mit diesem verwachsen. Dadurch folgt sie allen Windungen und Einkerbungen der Gehirnoberfläche. Zwischen Pia mater und Arachnoidea befindet sich der mit Liquor gefüllte Subarachnoidalraum. Hier verlaufen zahlreiche Gefäße für Gehirn und Rückenmark.

Medizin Blutungen zwischen den Hirnhäuten ● ● ●

Epiduralblutung (S. 380) zwischen Kalotte und Dura mater Subduralblutung (S. 380) zwischen Dura mater und Arachnoidea Subarachnoidalblutung (S. 430) zwischen Arachnoidea und Pia mater

Liquor • Im Subarachnoidalraum, in den Ventrikeln und im Zentralkanal des Rückenmarks befindet sich eine klare, farblose Flüssigkeit, der Liquor cerebrospinalis, kurz Liquor. Er steht im Austausch mit der Gewebsflüssigkeit des ZNS und transportiert Stoffwechselprodukte aus dem Nervengewebe ab. Er umgibt das ZNS wie ein Wasserkissen und schützt es so z. B. vor Erschütterungen oder Stößen. Insgesamt befinden sich im Subarachnoidalraum ca. 130 ml Liquor.

100

Ausstülpungen der Arachnoidea

Arachnoidea

Subarachnoidalraum Pia mater Hirnrinde

Das Gehirn ist von der Dura mater, der Arachnoidea und der Pia mater umgeben. Die beiden Blätter der Dura mater sind im Bereich des Gehirns fest miteinander verbunden. Im Bereich des Rückenmarks liegt zwischen den beiden Durablättern der Epiduralraum. Aus: Bommas-Ebert U, Teubner P, Voß R, Hrsg. Kurzlehrbuch Anatomie und Embryologie. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2011

RETTEN TO GO Hirnhäute und Liquor Gehirn und Rückenmark sind von 3 Bindegewebshüllen (Meningen) umgeben. Die äußerste Hülle ist die Dura mater. Die mittlere Hülle ist die Arachnoidea (Spinnengewebshaut). Die innerste Hülle, die Pia mater liegt der Oberfläche von Gehirn und Rückenmark unmittelbar auf. Arachnoidea und Pia mater sind durch den Subarachnoidalraum getrennt, der zahlreiche Gefäße und den Liquor cerebrospinalis (kurz: Liquor) enthält. Der Liquor unterstützt den Stoffwechsel des ZNS und schützt es vor Erschütterungen und Stößen.

3.14.3 Peripheres Nervensystem Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst alle Nervenstrukturen außerhalb von Gehirn und Rückenmark: ● Die 12 paarigen Hirnnerven entspringen direkt im Gehirn (größtenteils im Hirnstamm), verlaufen bis auf den N. vagus im Bereich des Kopfes und erfüllen dort unterschiedliche Aufgaben, z. B. Innervation der Augenmuskeln und der mimischen Muskulatur, Sensibilität des Gesichts. Der N. vagus (X. Hirnnerv) reguliert als Hauptnerv des Parasympathikus die Funktionen der Brust- und Bauchorgane. ● Den Rückenmarksegmenten entspringen 32 Spinalnervenpaare. Bereits nach kurzem Verlauf teilen sie sich in Äste auf. Deren Fortsetzungen sind die peripheren Nerven. Diese ziehen zu ihren jeweiligen Zielstrukturen, wobei sie z. T. noch mehrere Äste abgeben.

3.14.4 Vegetatives Nervensystem Das vegetative (autonome) Nervensystem steuert die Organfunktionen. Es gliedert sich in Sympathikus und Parasympathikus, die an vielen Organen gegenteilige Effekte haben (▶ Abb. 3.56):

Sinnesorgane Abb. 3.56 Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus.

Parasympathikus

Sympathikus ZNS

Antrieb↑ Aufmerksamkeit↑

Verengung

Pupillen

Erweiterung

Frequenz↓

Herz

Frequenz↑ Kraft↑

α1

M

M

M

M

Verengung erhöhte Harnproduktion Erweiterung

M

M

Bronchien

Erweiterung

Niere

verminderte Harnproduktion

β 1> β 2

β2

β1

Blutgefäße Verengung Erweiterung der Koronararterien und der Gefäße der α 1, α 2 Skelettmuskulatur β 2

Zunahme der Aktivität

Abnahme MagenDarm-Trakt der Aktivität

α, β

Der Sympathikus ist zuständig für „fight or flight“ (kämpfen oder fliehen), der Parasympathikus hingegen für „rest and digest“ (ruhen und verdauen). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023 ●



Der Sympathikus versetzt den Körper in Alarmbereitschaft („fight or flight“): Unter anderem nehmen die Herzfrequenz und die Muskeldurchblutung zu und die Bronchien werden weitgestellt. Der Parasympathikus versetzt den Körper in einen eher entspannten Zustand („rest and digest“): Er senkt z. B. die Herzfrequenz und stimuliert die Verdauung.

RETTEN TO GO Peripheres und vegetatives Nervensystem ●



Das periphere Nervensystem besteht aus den Hirnnerven, den Spinalnerven und den peripheren Nerven. Das vegetative Nervensystem steuert die Organfunktionen. Es gliedert sich in Sympathikus und Parasympathikus, die an vielen Organen gegenteilige Effekte haben. Der Sympathikus versetzt den Körper in Alarmbereitschaft („fight or flight“), der Parasympathikus bewirkt einen entspannten Zustand („rest and digest“).

3.15 Sinnesorgane Die Sinnesorgane nehmen Umweltreize auf und wandeln sie in elektrische Impulse um, die zum ZNS geleitet werden. Für die „klassischen“ Sinne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten werden 5 Sinnesorgane unterschieden: ● Sehen: Augen ● Hören und Gleichgewicht: Ohren ● Riechen: Nase (S. 69) ● Schmecken: Zunge (S. 77) ● Tasten, Wahrnehmung von Schmerzen, Wärme, Kälte und Vibrationen: Haut (S. 103)

3.15.1 Auge Funktion • Die Aufgabe des Auges ist die optische Wahrnehmung. Zunächst wird das einfallende Licht so gebrochen bzw. gebündelt, dass auf der Netzhaut ein scharfes Bild entsteht. Die Lichtsignale werden in der Netzhaut in elektrische Impulse (Aktionspotenziale) umgewandelt. Der Sehnerv leitet diese zum Gehirn. Lage und Aufbau • Jeder Augapfel (Bulbus) liegt – eingebettet in Fettgewebe – in einer Augenhöhle (Orbita), die von mehreren Schädelknochen gebildet wird (▶ Abb. 3.50). Von vorne sichtbar ist nur ein kleiner Teil des Auges. Die Augenlider und die Bindehaut (Konjunktiva) bedecken das Auge und schützen es vor äußeren Einwirkungen und Fremdkörpern. Die Augen werden durch 6 Augenmuskeln bewegt, die außen am Augapfel befestigt sind. Die Wand des Augapfels besteht aus mehreren Schichten (▶ Abb. 3.57): ● äußere Augenhaut: – Die weiße Lederhaut (Sklera) bedeckt den größten Teil des Bulbus und schützt ihn vor Verformungen. – Im Bereich vor der Pupille befindet sich die durchsichtige Hornhaut. Durch sie fällt das Licht in das Auge ein und wird gebrochen. ● mittlere Augenhaut (Uvea oder Gefäßhaut): – Die Iris (Regenbogenhaut) bildet den farbigen Ring um die Pupille. Sie enthält kleine Muskelfasern, die die Weite der Pupille regulieren. – Der Ziliarkörper liegt unter dem äußeren Rand der Iris. Er ist über Fasern mit der Linse verbunden und reguliert mit dem Ziliarmuskel die Form und damit die Brechkraft der Linse. Dadurch kann sowohl in der Nähe als auch in der Ferne scharf gesehen werden. ● Die innere Augenhaut ist die Netzhaut (Retina). Sie enthält die Photorezeptoren (Zapfen und Stäbchen), die Lichtreize aufnehmen und in elektrische Signale umwandeln. Die Axone nachgeschalteter Nervenzellen vereinigen sich zum Sehnerv, der das Auge auf der Rückseite verlässt. 101

3

Anatomie und Physiologie Abb. 3.57 Aufbau des Auges. Linse Pupille Iris hintere Augenkammer

Abb. 3.58 Aufbau des Ohrs. äußerer Gehörgang

Hornhaut

Ohrmuschel

vordere Augenkammer

Gleichgewichtsnerv

Gleichgewichtsorgan

Hörnerv

Glaskörper

Hörschnecke

Ziliarkörper mit M. ciliaris

Augenmuskel

Zonulafasern

Hammer Felsenbein Steigbügel Paukenhöhle Trommelfell

Netzhaut

Sehnervenpapille

Ohrläppchen Aderhaut Lederhaut

Sehnerv

Fovea centralis („Punkt des schärfsten Sehens“)

Der Augapfel wurde auf der Horizontalebene geteilt, Blick von oben auf die untere Hälfte des rechten Auges. Aus: Schünke M,

Amboss

Ohrtrompete

Das Außenohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang endet am Trommelfell. Zum Mittelohr gehören die Paukenhöhle und die Gehörknöchelchen, die Ohrtrompete verbindet es mit der Rachenhöhle. Das Innenohr besteht aus dem Hör- und dem Gleichgewichtsorgan. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Das Innere des Augapfels gliedert sich in die vordere und hintere Augenkammer und den Glaskörperraum. Der kugelige Glaskörper füllt nahezu den gesamten Augapfel aus und besteht aus einer Gallertmasse. In der hinteren Augenkammer befindet sich die Linse.

RETTEN TO GO Auge ●



Funktion: Sehvorgang (Lichtbrechung und Reizumwandlung) Aufbau: Der Augapfel (Bulbus) liegt im Fettpolster der knöchernen Augenhöhle (Orbita). Im Inneren des Augapfels befinden sich die Linse und der Glaskörper. Die Bulbuswand ist dreischichtig aufgebaut: – äußere Augenhaut mit Hornhaut (Kornea) und Lederhaut (Sklera) – mittlere Augenhaut mit Iris (Regenbogenhaut), Ziliarkörper (Strahlenkörper) und Aderhaut (Choroidea) – innere Augenhaut mit Netzhaut (Retina)

3.15.2 Ohr Funktionen • Das Ohr (▶ Abb. 3.58) hat 2 Hauptaufgaben: ● Hörsinn: Das Hörorgan des Ohrs nimmt Schallwellen auf und wandelt sie in Aktionspotenziale um. ● Gleichgewichtssinn: Im Gleichgewichtsorgan des Ohrs entstehen Informationen über die Lage des Körpers. Außenohr • Die knorpelige Ohrmuschel fängt die Schallwellen wie ein Trichter auf und leitet sie in den äußeren Gehörgang, der am Trommelfell endet. Mittelohr • Hinter dem Trommelfell liegt die mit Luft gefüllte Paukenhöhle mit den Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss, 102

Steigbügel). Diese bilden eine Kette und leiten die Schwingungen des Trommelfells an das Innenohr weiter. Über die Ohrtrompete (Eustachi-Röhre, Tuba auditiva) ist die Paukenhöhle mit dem Rachen verbunden. Sie ist normalerweise geschlossen. Durch Gähnen, Schlucken oder das Ausatmen gegen die zugehaltene Nase wird ihr Eingang geöffnet, was einen Druckausgleich (z. B. beim Fliegen) erleichert. Innenohr • Die Hörschnecke (Cochlea), das eigentliche Hörorgan, besteht aus einem kleinen Knochenkanal, der mit Flüssigkeit gefüllt ist und Sinneszellen (Haarzellen) enthält. Die vom Mittelohr übertragenen Schallwellen erzeugen in der Flüssigkeit eine Druckwelle. Diese wird von den Haarzellen aufgenommen und in einen elektrischen Reiz umgewandelt, den der Hörnerv zum Gehirn leitet. Das Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) besteht aus 3 Bogengängen für die Wahrnehmung von Dreh- und Winkelbeschleunigungen und 2 weiteren Hohlräumen für die Wahrnehmung linearer Beschleunigungen.

RETTEN TO GO Ohr ● ●

Funktionen: Hören, Gleichgewicht Aufbau: – Außenohr: Ohrmuschel, äußerer Gehörgang, Trommelfell – Mittelohr: Paukenhöhle und Gehörknöchelchen – Innenohr: Hörschnecke (Cochlea) und Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan)

Sinnesorgane

3.15.3 Haut Funktionen • Die Haut bildet die äußere Oberfläche des Körpers. Sie schützt uns vor äußeren Einflüssen, z. B. vor Unterkühlung bzw. Überwärmung, vor Austrocknung, vor dem Eindringen von Krankheitserregern und vor Chemikalien oder Strahlung. Als Sinnesorgan dient sie der Wahrnehmung von Berührungen, Druck, Vibrationen, Schmerzen, Kälte und Wärme, die von Rezeptoren registriert und über Nervenbahnen zum Gehirn geleitet werden. Außerdem ist die Haut wichtig für die Temperaturregulation (Durchblutung, Schweißbildung). Größe und Aufbau • Die Haut ist das größte Organ unseres Körpers. Bei Erwachsenen hat sie ausgebreitet eine Fläche von ca. 1,5–2 m². Je nach Körperregion ist sie ca. 1–2 mm dick. Sie besteht aus mehreren Schichten (▶ Abb. 3.59): ● Die Oberhaut (Epidermis) enthält hauptsächlich verhornende Deckzellen. Sie wird durch Diffusion aus Blutgefäßen der Lederhaut ernährt. ● Die Lederhaut (Dermis) besteht aus Bindegewebe und ist für die Festigkeit und die Elastizität der Haut verantwortlich. Sie enthält Blutgefäße, Haarwurzeln, Nerven sowie Talg- und Schweißdrüsen. ● Die Unterhaut (Subcutis) besteht zum größten Teil aus Fettgewebe, das als mechanisches Polster und als Vorratsspeicher für Energie dient.

Abb. 3.59 Aufbau der Haut.

Haar

Nerven

Talgdrüse Hornschicht

Oberhaut

Lederhaut Schweißdrüse

Fettgewebe

Unterhaut

Gefäße Muskel

Die Haut besteht aus Oberhaut, Lederhaut und Unterhaut. Aus: Schwegler J, Lucius R, Hrsg. Der Mensch – Anatomie und Physiologie. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

RETTEN TO GO Haut ●



Funktionen: Schutzfunktion, Sinnesorgan (Berührung, Druck, Vibrationen, Temperatur, Schmerz), Temperaturregulation (über Hautgefäße und Schweißbildung) Aufbau: Die Haut ist das größte Organ unseres Körpers. – Oberhaut (Epidermis): verhornende Deckzellen – Lederhaut (Dermis): Bindegewebe, Haarwurzeln, Gefäße, Nerven, Talg- und Schweißdrüsen – Unterhaut (Subcutis): v. a. Fettgewebe

103

4

Pharmakologie

4.1 Allgemeine Pharmakologie 4.1.1 Grundbegriffe der Pharmakologie Definition Pharmakologie Die Pharmakologie ist die Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen einem Pharmakon (Mehrzahl = Pharmaka) oder Arzneistoff und einem Lebewesen (Mensch oder Tier). Diese Wechselwirkungen erfolgen immer in 2 Richtungen: Die Pharmakokinetik (S. 114) beschreibt die Wirkung des Körpers auf einen Arzneistoff, die Pharmakodynamik (S. 115) hingegen die Wirkung des Arzneistoffs auf ein Lebewesen.

Freiname und Handelsname • Chemisch definierte Arzneistoffe werden weltweit mit einem von der WHO festgelegten Freinamen (z. B. Acetylsalicylsäure, ▶ Abb. 4.2) versehen. Hersteller geben den Arzneimitteln zur Vermarktung mehr oder weniger fantasievolle Handelsnamen (HN, z. B. Aspirin®). Läuft der Patentschutz eines neu zugelassenen Medikaments ab, kann es auch von anderen Herstellern als Generikum auf den Markt gebracht werden. Generika enthalten i. d. R. den Freinamen und den Herstellernamen im Handelsnamen (z. B. ASS ratiopharm®) und sind meist billiger als das Originalpräparat.

Abb. 4.1 Arzneiformen.

Arzneimittel Ein Arzneistoff, der in eine zur Anwendung am Menschen geeignete Arzneiform gebracht wurde, ist ein Arzneimittel. Um Arzneimittel haltbar und lagerfähig zu machen, werden häufig Zusatzstoffe verwendet, die selbst eine Wirkung im Organismus haben können. Arzneiform • Die Arznei- oder Darreichungsform (▶ Abb. 4.1) ist für die Wirksamkeit eines Arzneimittels wichtig. Die meisten Notfallmedikamente stehen flüssig und in Ampullenform (S. 222) bzw. als Infusionen zur i. v.-Applikation zur Verfügung. Im Rettungsdienst werden heute meist Fertigarzneimittel, d. h. gebrauchsfertige Zubereitungen, verwendet.

104

Beispiele für flüssige Arzneiformen sind Infusions-, Injektionsoder Inhalationslösungen, Sprays und Tropfen. Feste Arzneiformen sind z. B. Pulver und Tabletten, halbfeste Arzneiformen z. B. Zäpfchen und Bukkaltabletten. Foto: © K. Oborny/Thieme

Grundbegriffe der Pharmakologie ▶S. 104 Rechtliche Grundlagen der Arzneimitteltherapie ▶S. 107 Korrekter Umgang mit Arzneimitteln ▶S. 107 Applikationsformen von Arzneimitteln

Allgemeine Pharmakologie

Allgemeine Pharmakokinetik

▶S. 109

▶S. 114

Allgemeine Pharmakodynamik

▶S. 115

Besonderheiten bei bestimmten Patientengruppen

▶S. 116

Analgetika ▶S. 118 Antikonvulsiva und Sedativa

▶S. 123

Antiemetika ▶S. 124

Katecholamine ▶S. 128

Narkose im Rettungsdienst ▶S. 124

Spezielle Pharmakologie

Antihypertensiva ▶S. 130

Pharmakologie des Herz-Kreislauf-Systems Bronchospasmolytika

Substanzen zur Behandlung anaphylaktischer Reaktionen Pharmakologie des Wasserund Elektrolyt-Haushalts Antikoagulanzien Pharmakologie der Gerinnung Antidote

▶S. 143

! Merke Freiname und Handelsname

Kennen Sie den Handelsnamen auf einer Medikamentenpackung nicht, werfen Sie einen Blick auf den ebenfalls auf der Packung abgedruckten Freinamen – mitunter hilft das weiter!

Applikation Damit ein Arzneistoff mit dem Körper wechselwirkt, muss er mit ihm in Kontakt kommen. Dieser Vorgang ist die Applikation (Verabreichung). Es gibt viele Applikationsformen (S. 109), im Rettungsdienst werden Arzneimittel am häufigsten direkt in eine Vene (intravenös) eingebracht.

Indikation und Kontraindikation Indikationen sind die Einsatzgebiete oder Anwendungszwecke für ein Arzneimittel. Kontraindikationen (KI) sind die Gegenanzeigen, das Arzneimittel zu verabreichen, da es den Organismus schädigen könnte. Unterschieden werden: ● absolute KI: Die Substanz darf keinesfalls gegeben werden (z. B. bei bekannter Allergie gegen den Wirkstoff). ● relative KI: Eigentlich darf die Substanz nicht gegeben werden. Allerdings ist der Nutzen in der individuellen Situation voraussichtlich höher als der zu erwartende Schaden (Risiko-Nutzen-Abwägung).

Wirkung und Dosierung Wirkmechanismus • Für die meisten, aber nicht alle Wirkstoffe ist der Wirkmechanismus bekannt, d. h., es gibt ein Erklärungsmodell für das Zustandekommen der Wirkung auf molekularer Ebene. Sehr häufig beruht dieser auf der Beeinflussung von Rezeptoren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip (S. 115).

▶S. 131

Antiarrhythmika ▶S. 132 ▶S. 136

Diuretika

▶S. 137

Infusionslösungen ▶S. 137

▶S. 139

Thrombozytenaggregationshemmer Fibrinolytika

Antianginosa

▶S. 134

▶S. 140

▶S. 141

Antifibrinolytika ▶S. 142 Hämostyptika

▶S. 142

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) • Neben den erwünschten Effekten kann jedes Arzneimittel unerwünschte, mitunter für den Patienten schädliche Wirkungen auslösen (z. B. Übelkeit nach der Injektion von Opioiden). Wenn Sie die wichtigsten UAW häufig eingesetzter Substanzen kennen, können Sie nach der Verabreichung darauf achten, ob sie bei einem Patienten auftreten und schneller reagieren. Einige UAW lassen sich z. B. durch eine ausreichend langsame i. v.-Applikation weitgehend vermeiden. Wechselwirkungen (WW) • Werden mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen, können sie sich in ihrer Wirkung oder ihrem Abbau hemmen oder verstärken. Dies ist v. a. bei Patienten zu beachten, die vor Ihrem Eintreffen andere Stoffe (z. B. Alkohol, Giftstoffe) eingenommen haben oder die unter Dauermedikation stehen – häufig ältere Menschen mit chronischen Vorerkrankungen, die täglich mehrere Medikamente einnehmen. Für die Akutversorgung und die Aufnahme in der Zielklinik ist es hilfreich, wenn Ihnen der Patient oder ein Angehöriger einen gedruckten Medikamentenplan vorlegt. Fragen Sie gezielt danach! Paradoxe Wirkungen • Manchmal löst ein Medikament das Gegenteil der zu erwartenden Wirkung aus (z. B. Erregungszustände nach der Gabe von beruhigend wirkenden Substanzen). Der Mechanismus dieser paradoxen Wirkungen ist bisher unbekannt. Dosis • Damit ein Wirkstoff die gewünschte Wirkung erzielt, muss er im Blut eine bestimmte Konzentration haben. Ein wichtiger Aspekt in der Pharmakologie ist die Ermittlung der richtigen Dosis, in Abhängigkeit z. B. von der Körperoberfläche, dem Alter oder dem Gewicht des Patienten. Die Herstellerangaben zur Dosierung eines Wirkstoffs geben ei-

105

4

Pharmakologie Abb. 4.2 Wichtige Begriffe in der Pharmakologie.

Forschung

Pharmakodynamik Was macht der Wirkstoff mit dem Körper?

Pharmakokinetik Was macht der Körper mit dem Wirkstoff? (Verarbeitung)

Wirkstoff pharmakologisch wirksam

Hilfsstoff ändert z.B. Form, Geschmack, Wirkdauer

Freiname von WHO festgelegte Bezeichnung des Wirkstoffs Wirkstoffkonzentration (z.B. 100 mg/Tablette)

nach Ablauf des Patents

Arzneimittel

Handelsname (z.B. Wirkstoff: Acetylsalicylsäure (ASS), Handelsname: Aspirin)

Generikum i.d.R. billiger als Markenprodukt (z. B. ASS-ratiopharm)

Indikation Der Anwendungszweck ist eingetreten. Kontraindikation Der Patient darf das Medikament nicht STOP erhalten (z.B. wegen einer Vorerkrankung). Dosierung abhängig von Alter, Geschlecht, Gewicht u.a.

Maximaldosis

Schwellendosis therapeutische Breite

erwünschte Arzneimittelwirkungen Heilung der Erkrankung oder Linderung der Beschwerden

Wechselwirkungen wechselseitige Beeinflussung mehrerer gleichzeitig eingenommener Medikamente

unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) Wirkungen abseits der erwünschten Hauptwirkung

Der Freiname bezeichnet den Wirkstoff, der Handelsname das Präparat. Kenntnisse über Dosierung, Wechselwirkungen und unerwünschte Wirkungen sind wichtig für den erfolgreichen Einsatz von Arzneimitteln. Aus: I care Pflege. 2. Auflage; Stuttgart: Thieme; 2020 nen verbindlichen Rahmen vor. Für die meisten Wirkstoffe lässt sich eine Dosis-Wirkungs-Beziehung ermitteln: ● Ab der Schwellendosis tritt die erwünschte Wirkung ein. ● Bei Überschreiten der Maximaldosis nimmt die erwünschte Wirkung nicht mehr zu und es zeigen sich verstärkt unerwünschte Wirkungen oder Vergiftungserscheinungen. Eine solche Überdosierung kann aus einem Arzneistoff einen für den Organismus schädlichen Stoff machen. ● Der Dosierungsbereich zwischen der Schwellen- und der Maximaldosis ist die therapeutische Breite. Diese ist wichtig für die Anwendungssicherheit von Arzneimitteln: Bei Substanzen mit geringer therapeutischer Breite ist dieser 106

Bereich sehr schmal und es besteht schnell die Gefahr einer gefährlichen Überdosierung. Toleranzentwicklung • An einige Arzneimittel (z. B. Opioide) „gewöhnt“ sich der Körper, z. B. durch eine abnehmende Empfindlichkeit von Rezeptoren. Dadurch müssen immer höhere Dosierungen gegeben werden, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Dies wird bei vielen Substanzen durch zunehmende unerwünschte Wirkungen begrenzt. Kumulation • Wird ein Arzneistoff wiederholt gegeben und ist die zugeführte Menge größer als die Menge, die im sel-

Allgemeine Pharmakologie ben Zeitraum ausgeschieden oder abgebaut wird, kann sich immer mehr Wirkstoff im Körper ansammeln (kumulieren). Bei Nieren- oder Lebererkrankungen ist dieses Risiko erhöht.

RETTEN TO GO Grundbegriffe der Pharmakologie ●







Die Pharmakokinetik beschreibt die Wirkung des Lebewesens auf einen Arzneistoff, die Pharmakodynamik die Wirkung eines Arzneistoffes auf ein Lebewesen. Werden Arzneistoffe (Pharmaka) in eine für die Anwendung geeignete Arzneiform (Darreichungsform) gebracht, werden sie als Arzneimittel bezeichnet. Die Arzneiform ist für die Wirksamkeit entscheidend. Die meisten Notfallmedikamente werden flüssig und in Ampullenform angeboten (Brech- oder Stechampullen). Der Freiname bezeichnet den Wirkstoff (z. B. Acetylsalicylsäure), der Handelsname das Präparat (z. B. Aspirin®). Nach Ablauf des Patentschutzes können andere Hersteller dieses Arzneimittel produzieren und mit einem anderen Handelsnamen auf den Markt bringen (Generika). Die Indikation ist der Anwendungszweck eines Arzneimittels. Kontraindikationen sind Zustände, bei deren Vorliegen das Arzneimittel nicht gegeben werden darf.

4.1.2 Rechtliche Grundlagen der Arzneimitteltherapie Arzneimittelgesetz • Den Umgang mit Arzneimitteln regelt in Deutschland das Arzneimittelgesetz (AMG). Es gilt für alle Arzneimittel, besteht aus 18 Abschnitten und regelt u. a.: ● die Definition des Arzneimittelbegriffs ● die Anforderungen an Arzneimittel ● die Herstellung von Arzneimitteln ● die Zulassung und Registrierung von Fertigarzneimitteln ● die Abgabe von Arzneimitteln ● den Schutz des Menschen bei der klinischen Prüfung ● die Sicherung und Kontrolle der Qualität ● die Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken ● die Überwachung von Herstellern, Medikamenten nach ihrer Markteinführung usw. ● die Haftung für Arzneimittelschäden In Deutschland dürfen nur speziell geschulte Personen mit Arzneimitteln verkehren und diese anwenden. Grundsätzlich ist die Verabreichung von Arzneimitteln, insbesondere das Festlegen von Indikation, Dosis, Ort und Zeitpunkt der Gabe, eine ärztliche Aufgabe. Rolle von Notfallsanitätern (NotSan) • NotSan sollen nach Gesetzesänderungen von 2023 Schmerzmittel verabreichen dürfen, die dem BtMG unterliegen, wenn dies zur Abwendung von Gefahren für die Gesundheit oder zur Beseitigung oder Linderung erheblicher Beschwerden erforderlich ist. Voraussetzung ist, dass eine verantwortliche ärztliche Person eine entsprechende standardisierte Vorgabe (SOP) mit den entsprechenden Anforderungen des BtMG festlegt. Eine Rücksprache im Einzelfall ist dann nicht mehr erforderlich. In Bundesländern, in denen ein Ärztlicher Leiter Rettungsdienst gesetzlich etabliert ist, trägt dieser die Verantwortung für die im Einzelnen festzulegenden invasiven Maß-

nahmen, die NotSan durchführen dürfen. Allgemein gilt: Zur Vermeidung einer Verschlechterung der Situation der Patienten bei einem lebensbedrohlichen Zustand oder wenn wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind (§ 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG), dürfen NotSan heilkundliche Maßnahmen und Medikamentengaben, die eigentlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sind, rechtlich im rechtfertigenden Notstand durchführen. In Länderbestimmungen (z. B. Bayern) wurden im sog. Pyramidenprozess bestimmte Medikamente festgelegt, die nach Ausbildung und einem Delegationsalgorithmus von NotSan angewendet werden dürfen. Rolle von Rettungssanitätern • Sie als künftiger RS dürfen keine Medikamente verabreichen. Sie werden jedoch auf ärztliche Anweisung und zur Unterstützung von NotSan Medikamente vorbereiten und anreichen. Betäubungsmittel • Wirkstoffe, die eine Sucht erzeugen oder zu Missbrauch führen können, werden als Betäubungsmittel bezeichnet und unterliegen besonderen Bestimmungen. Eine allgemeine Definition für Substanzgruppen besteht nicht, die Substanzen sind einzeln im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) aufgeführt. Einige dürfen überhaupt nicht ärztlich verabreicht werden (z. B. Heroin), andere unterliegen den Regelungen der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BTMVV). Für den Rettungsdienst relevante Substanzen aus dieser Gruppe sind v. a. Opioid-Analgetika wie Morphin und Fentanyl. Bei der Aufbewahrung von Betäubungsmitteln sind Besonderheiten zu beachten (S. 108).

RETTEN TO GO Rechtliche Grundlagen der Arzneimitteltherapie Der Umgang mit Arzneimitteln ist in Deutschland durch das Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt. Laut AMG ist die Verabreichung von Medikamenten grundsätzlich eine ärztliche Aufgabe. Rettungssanitäter dürfen keine Medikamente geben. Ob und, wenn ja, welche Notfallmedikamente Notfallsanitäter verabreichen dürfen, ist auf Bundes- und Länderebene geregelt. Änderungen in den nächsten Monaten und Jahren sind zu erwarten. In Bundesländern, in denen es einen Ärztlichen Leiter Rettungsdienst gibt, bestimmt dieser die entsprechenden Zuständigkeiten. Im Betäubungsmittelgesetz (BTMG) und der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BTMVV) wird der Umgang mit Substanzen geregelt, die Sucht erzeugen oder zu Missbrauch führen können (z. B. Opioide).

4.1.3 Korrekter Umgang mit Arzneimitteln Allgemeine Regeln Um gefährliche Verwechslungen zu vermeiden, sollten Sie bei der Zubereitung und Verabreichung von Medikamenten berücksichtigen, dass 4 Augen mehr sehen als 2 (4-AugenPrinzip). Eine gegenseitige Kontrolle hat nichts mit Misstrauen gegenüber den Kollegen zu tun, Fehler sind im Einsatzgeschehen immer möglich! Führen Sie vor der Zubereitung von Medikamenten eine hygienische Händedesinfektion (S. 159) durch! Hilfreich für das Vorbereiten und Verabreichen von Medikamenten ist die 8-R-Regel (▶ Abb. 4.3).

107

4

Pharmakologie Abb. 4.3 8-R-Regel zur Verabreichung von Arzneimitteln.

Abb. 4.4 Arzneimittelkennzeichnung.

?

Richtiger Patient

Handelsname Freiname

Richtiges Medikament

?

Art der Anwendung

?

Richtige Dokumentation

?

Richtige Lagerung

Richtige Dosierung

8-RRegel

1:100 1:1000

? Richtiger Zeitpunkt

?

?

Angabe des Herstellers Verfallsdatum Chargenbezeichnung

Die Hersteller sind zur eindeutigen Kennzeichnung von Arzneimitteln verpflichtet. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © S. Kürzinger/Thieme

Abb. 4.5 Gekennzeichnete Injektionsspritze.

Richtige Verdünnung

Richtige Applikationsform

Die 8-R-Regel hilft dabei, Fehler bei der Anwendung von Medikamenten zu vermeiden und trägt damit zur Patientensicherheit bei. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Kennzeichnung Die Hersteller müssen Medikamente eindeutig kennzeichnen (▶ Abb. 4.4), u. a. mit dem Frei- und dem Handelsnamen, der Chargenbezeichnung und dem Verfallsdatum. Wenn Sie nach notärztlicher Anforderung Medikamente aufziehen und sie zur Injektion vorbereiten, müssen Sie die Injektionsspritze eindeutig kennzeichnen, d. h. der Name der Substanz und die aufgezogene Konzentration müssen deutlich lesbar sein. Dafür eignen sich vorgefertigte, bedruckte Farbetiketten, die auf die Spritze aufgeklebt werden (▶ Abb. 4.5). Zeigen Sie nach dem Aufziehen die Spritze gemeinsam mit der Ampulle vor, um Verwechslungen auszuschließen.

Spritzen werden mit vorgedruckten Etiketten eindeutig gekennzeichnet. Der Wirkstoff Propofol zählt zu den Hypnotika, das Etikett ist daher gelb. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © S. Kürzinger/Thieme





Aufbewahrung und Lagerung Allgemeines Die Hersteller von Medikamenten garantieren die Wirkung nur, wenn die in der Packungsbeilage angegebenen Bedingungen zur Lagerung eingehalten werden. Dabei sind folgende Punkte zu beachten: ● Die Bedingungen im Rettungsdienst können die Haltbarkeit von Medikamenten gefährden, z. B. durch Temperaturschwankungen und Erschütterungen. Medikamente dürfen niemals großer Hitze oder Frost ausgesetzt werden. Die Lagerungstemperatur gemäß Herstellerangaben ist zu beachten, z. B. Raumtemperatur (15–25 °C) oder Kühlung bei 2–8 °C in speziellen Kältefächern im Rettungsfahrzeug. ● Medikamente müssen lichtgeschützt und trocken aufbewahrt werden: Lichteinfluss und Feuchtigkeit können die Wirksamkeit beeinträchtigen. ● Medikamente müssen sicher vor Fremdzugriffen und unter Beachtung der Hygieneregeln in einem abschließbaren Medikamentenschrank aufbewahrt werden. Zum schnellen Auffinden der Arzneimittel empfiehlt sich eine alphabetische Sortierung.

108







Arzneimittel dürfen nur in ihrer Originalverpackung aufbewahrt werden. Ein Umpacken ist unzulässig. Der Medikamentenbestand muss täglich überprüft und dokumentiert werden: Ausflockungen oder Trübungen von Medikamenten- und Infusionslösungen oder aufgeblähte Verpackungen deuten auf ein verdorbenes Präparat hin. Ist ein Medikament beschädigt oder verdorben oder ist das Verfallsdatum überschritten, ist von einer Gesundheitsgefährdung bzw. einer reduzierten Wirkung auszugehen und es darf keinesfalls appliziert werden. Es ist über die zuständige Apotheke zu entsorgen. Verbrauchte oder entsorgte Medikamente müssen immer direkt ersetzt werden. Die Steckplätze der einzelnen Ampullen in den Ampullarien (▶ Abb. 4.6) in Fahrzeugen und Notfallkoffern und -rucksäcken sind häufig beschriftet, damit Sie auf einen Blick erkennen können, welcher Platz leer ist und mit welchem Medikament er aufgefüllt werden muss. Reste in einer Injektionsspritze müssen sachgerecht entsorgt und dürfen nicht mehr verwendet werden. Ein Verantwortlicher des RD muss die Beschaffung, den Bestand und den Verbrauch dokumentieren. Der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (oder eine gleichgestellte Person) passt ggf. die Rahmenvorgabe von Medikamentenlisten zur Vorhaltung für einen Rettungsdienstbereich an regionale Gegebenheiten bzw. Erfordernisse an.

Lagerung von Betäubungsmitteln Zusätzlich zu den Lagervorschriften müssen Betäubungsmittel (S. 107) gemäß § 15 BtMG getrennt von den übrigen Arzneimitteln in verschlossenen Schränken gelagert werden, um den Zugriff Unbefugter zu verhindern. Ihr Verkehr wird

Allgemeine Pharmakologie Abb. 4.6 Ampullarium. ●

Korrekt beschriftete Steckplätze erleichtern das Auffüllen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

mit einem vorgefertigten Etikett) und zusammen mit der Ampulle vorzeigen. Aufbewahrung und Lagerung: Medikamente müssen nach Herstellerangaben und sicher vor Fremdzugriffen gelagert werden. Bei sichtbaren Mängeln und nach Ablauf des Verfallsdatums dürfen sie nicht mehr verabreicht werden. Der Medikamentenbestand muss täglich geprüft und verbrauchte oder aussortierte Medikamente sofort ersetzt werden. Beschaffung, Bestand und Verbrauch von Arzneimitteln sind zu dokumentieren. Betäubungsmittel müssen separat und in verschlossenen Schränken aufbewahrt und Bestandsänderungen im Betäubungsmittelbuch dokumentiert werden.

4.1.4 Applikationsformen von Arzneimitteln Grundlagen

gesondert überwacht, der Nachweis über Lagerung und über Zu- und Abgänge im Bestand wird in einem speziellen Betäubungsmittelbuch dokumentiert. § 13 BtMVV fordert eine umgehende Eintragung jedweder Bestandsänderung mit ärztlicher Unterschrift ins Betäubungsmittelbuch. Dieses amtliche Formblatt wird im NEF/RTH/NAW mitgeführt und muss 3 Jahre aufbewahrt werden.

RETTEN TO GO Korrekter Umgang mit Arzneimitteln ●



Beachten Sie für das Richten und Applizieren von Medikamenten immer das Vier-Augen-Prinzip, die 8-R-Regel und die Händehygiene. Arzneimittelkennzeichnung: Die Hersteller von Medikamenten müssen diese u. a. mit dem Frei- und Handelsnamen, der Chargenbezeichnung und dem Verfallsdatum kennzeichnen. Spritzen, die Sie zur Injektion aufgezogen haben, müssen Sie mit dem Medikamentennamen und der Dosierung beschriften (vorzugsweise

Arzneimittel können enteral, also über den Verdauungstrakt, oder parenteral, unter Umgehung des Magen-DarmTrakts verabreicht werden, siehe ▶ Tab. 4.1 und ▶ Tab. 4.2. Bei allen Applikationsmethoden, bei denen die intakte Haut verletzt wird (i. v., i.o., i. m., s. c.), besteht die Gefahr einer Keimeinschleppung (z. B. Bakterien, Viren). Führen Sie daher vor einer Punktion immer eine hygienische Händedesinfektion durch (S. 159) und desinfizieren Sie die Haut des Patienten an der Punktionsstelle (S. 156).

ACHTUNG Als Rettungssanitäter dürfen Sie grundsätzlich keine Medikamente selbstständig verabreichen.

Intravenöse Applikation Definition Intravenöse Applikation Das Medikament wird in eine Vene appliziert, meist über eine Venenverweilkanüle. Die Wirkung tritt schnell ein, daher ist dies der bevorzugte Zugangsweg in der Notfallmedizin.

Tab. 4.1 Enterale Applikationswege. Applikationsweg

Arzneimittelformen

Beispiele im RD

Vor- und Nachteile

oral (per os, p. o.)

Tabletten, Kapseln, Säfte, Lösungen

nicht üblich; Ausnahme: Aktivkohle als Antidot



rektal*

Suppositorien (Zäpfchen), Rektiolen (Rektallösung)

v. a. bei Kindern: Paracetamol zur Fiebersenkung, Diazepam bei Krampfanfällen



sublingual (s. l.)*

Spray

Nitroglyzerin bei Angina pectoris

bukkal*

lösliche Tablette

Lorazepam bei Krampfanfall

Bemerkungen

langsamer Wirkeintritt schlechte Absorption bei Kreislaufzentralisation

Wegen Aspirationsgefahr nur bei wachen, ansprechbaren Patienten möglich!

relativ schneller Wirkeintritt weniger invasiv als i. v.-Zugang

Applikation möglichst in Seitenlage



schnelle Resorption über die Mundbodenschleimhaut

Applikation am sitzenden Patienten, Sprühstoß unter die Zunge, Patient soll den Atem anhalten



schnelle Resorption über die Wangenschleimhaut

Einlage der Tablette zwischen Zahnfleisch und Wange, nicht kauen oder schlucken





*Der Wirkstoff wird direkt am Applikationsort über die Schleimhaut resorbiert und durchläuft nicht den Magen-Darm-Trakt. Daher zählt dies nicht bei allen Autoren zu den enteralen Applikationsformen.

109

4

Pharmakologie

Tab. 4.2 Parenterale Applikationswege (Auswahl). Applikation

Beispiele im RD

Vor- und Nachteile

intravenös (i. v.)

Standardmethode im RD

● ● ● ●

intramuskulär (i. m.)

intraossär (i.o.)

Adrenalin bei Anaphylaxie (S. 291)



Adrenalin bei Reanimation







schneller Wirkeintritt optimale Bioverfügbarkeit gute Steuerbarkeit der Wirkung Probleme: Anlage bei Kindern, im Schock oder bei krampfenden Patienten

Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Adenosin) immer langsame Applikation!

schnelle Applikation Depotwirkung mit langsamerem Wirkeintritt und länger anhaltender Wirkung

Methode der Wahl bei schwerer Anaphylaxie

bei schwierigen Venenverhältnissen gute Alternative zur i. v.-Applikation für fast alle Injektions- oder Infusionslösungen geeignet

Applikation von Infusionen schmerzhaft, daher bei wachen Patienten immer Lokalanästhesie!

subkutan (s. c.)

kein Einsatz im RD



guter Depoteffekt

wichtig z. B. für die Insulintherapie bei Diabetes mellitus

intranasal: Mikrozerstäubung des flüssigen Arzneimittels über MAD

Midazolam bei Krampfanfall, Naloxon bei Opioid-Intoxikation



gute, schnelle Resorption kein i. v.-Zugang notwendig auch bei Kindern gut geeignet

Bei Schnupfen oder Nasenbluten keine sichere Wirkung!

inhalativ (per inhalationem, p. i.)

Gase (z. B. O2) oder vernebelte Flüssigkeiten (z. B. Salbutamol)



schnelle Resorption, rascher Wirkeintritt Wirkung v. a. an den Bronchien, systemische (Neben-)Wirkungen möglich

bei akuter Dyspnoe mitunter schlechte Akzeptanz einer Verneblermaske, ggf. nur vorhalten

transdermal

kein Einsatz im RD



stark verzögerter Wirkeintritt schlechte Steuerbarkeit

Bei der Untersuchung auf Medikamentenpflaster als Ursache von Bewusstseinsstörungen achten!

● ●





Indikationen • Die Injektion über einen peripher-venösen Zugang ist die Applikationsmethode der Wahl in der Notfallmedizin, da die Medikamente direkt in den Blutkreislauf gelangen und die Wirkung damit sehr schnell eintritt. Jeder Notfallpatient sollte einen i. v.-Zugang erhalten, nur bei Kindern werden zur Stressvermeidung ggf. andere Applikationswege bevorzugt (z. B. rektal, nasal). Vorbereitung und Durchführung • Siehe das Kapitel „Injektionen und Infusionen“ (S. 225). Die Medikamente werden mittels Injektion bzw. Infusion in den Zugang eingebracht. Die Einspülung in den Kreislauf kann durch Nachinjektion/-infusion von NaCl 0,9 % und bei schlechten Kreislaufverhältnissen durch Anheben der Extremität unterstützt werden. i. v.-Injektion • Die meisten Medikamente sollten langsam, z. T. über einen definierten Zeitraum injiziert werden. Eine zu schnelle Injektion kann, je nach Medikament, die Venenwand reizen oder bedrohliche Blutdruckabfälle oder Herzrhythmusstörungen auslösen. Zudem sollten Medikamente immer unter Beobachtung und Monitoring des Patienten injiziert werden.

RETTEN TO GO Intravenöse Applikation Das Medikament wird in eine Vene appliziert, meist über eine Venenverweilkanüle. Die Wirkung tritt schnell ein, daher ist dies der bevorzugte Zugangsweg in der Notfallmedizin. Die meisten Medikamente sollten langsam, z. T. über einen definierten Zeitraum injiziert werden.

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Bemerkungen

Intraossäre Applikation Grundprinzip • Bei der intraossären (i.o.) Punktion wird mit einer speziell geeigneten Nadel bzw. einem Bohrersystem (z. B. BIG, F.A.S.T. oder EZ-IO) am gewählten Knochenpunkt ein Zugang in den Knochenmarksraum geschaffen. Das Ende der Punktionsnadel kommt im gut durchbluteten Markraum zu liegen. Daher eignet sich ein solcher Zugang gut als temporäre Alternative zu einem peripheren Venenzugang, um schnell Medikamente und Volumen zu verabreichen. Die Pharmakokinetik ist vergleichbar, es werden dieselben Dosierungen wie bei der i. v.-Gabe injiziert. Ihre wesentlichen Aufgaben als RS bei der i.o.-Punktion sind das Vorbereiten des Materials und die Assistenz für NA oder NFS. Indikationen • Ein i.o.-Zugang wird gewählt, wenn zur Verabreichung von Medikamenten zwingend ein peripherer Venenzugang angelegt werden muss, dies aber nicht bzw. nicht schnell genug gelingt, v. a. in folgenden Situationen: ● nicht auffindbare Venen oder schlechte periphere Venenverhältnisse, z. B. bei Schock, Verbrennungen, schwerer Hypothermie ● kritisch kranke oder reanimationspflichtige Erwachsene, wenn nach 90–120 s oder 3 erfolglosen Punktionsversuchen kein venöser Zugang zu schaffen ist ● Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder – wenn nicht innerhalb von 1 min ein i. v.-Zugang geschaffen werden kann und ein Notfall vorliegt – während einer Reanimation als primärer Zugangsweg zu erwägen (zur Vermeidung von Zeitverlusten) ● in begründeten Fällen nach notärztlicher Entscheidung

Allgemeine Pharmakologie Kontraindikationen • Relative Kontraindikationen sind Frakturen, Gefäßverletzungen, ein Kompartmentsyndrom an oder proximal der (geplanten) Punktionsstelle, ein vorausgegangener Punktionsversuch in den letzten 24–48 Stunden, fehlende Landmarken sowie Implantate an der geplanten Punktionsstelle.



! Merke Keine absoluten Kontraindikationen



Bei akuter Lebensgefahr gibt es keine absoluten Kontraindikationen für die Anlage eines intraossären Zugangs. Komplikationen • Bei korrekter Durchführung und sterilem Vorgehen sind Komplikationen selten. Das häufigste Problem sind Knochenentzündungen durch Keimeinschleppung. Möglich sind auch eine Fraktur, bei Kindern eine Verletzung der Wachstumsfuge, Luft-, Fett- oder Knochenmarksembolien sowie Fehllagen und Extravasate. Punktionsstellen • Besonders gut geeignet für die i.o.-Punktion bei Erwachsenen und Kindern (abweichend für Säuglinge und Neugeborene) ist das Schienbein (▶ Abb. 4.7): ● proximale Tibia: 2–3 cm Querfinger unter der Unterkante der Kniescheibe, medial auf Höhe der Tuberositas tibiae ● distale Tibia: 3 Querfinger oberhalb des Sprunggelenks auf der Mitte der Unterschenkelinnenfläche ● alternative Punktionsorte: proximaler Oberarm, distaler Oberschenkel Benötigtes Material • ▶ Abb. 4.8a ● Bohrer (z. B. EZ-IO), Kanülen (je nach Alter, Größe und Gewicht des Patienten), Fixierpflaster ● 10-ml-Spritze mit 5–10 ml Lidocain 1 % (Lokalanästhetikum) ● 10-ml-Spritze mit 5–10 ml NaCl 0,9 %

Abb. 4.7 Punktionsorte für einen intraossären Zugang.

proximaler Humerus

● ●



dünne Kanüle (25–26 G) zur Infiltration der Haut bis zur Knochenhaut mit dem Lokalanästhetikum Infusionsleitung mit Dreiwegehahn Druckspülsystem/Druckinfusionsmanschette, VEL, Infusionssystem Material zum Fixieren des Zugangs, Verbandsmaterial (sterile) Handschuhe, sterile Tupfer, Einmalrasierer, Behälter zum Kanülenabwurf

Durchführung (EZ-IO-System) • Die einfach und sicher anwendbare EZ-IO-Bohrmaschine ist der aktuelle Standard. Das Verfahren ist schmerzarm und kann auch bei nicht bewusstlosen Patienten (Erwachsene und Kinder) durchgeführt werden. Die Gefahr einer Fehllage ist gering. 1. Der Patient wird in Rückenlage und die zu punktierende Extremität stabil und sicher gelagert (z. B. festes Polster unter das Kniegelenk bei Punktion der proximalen Tibia). 2. hygienische Händedesinfektion 3. Aufsuchen und ggf. Rasieren der Punktionsstelle 4. gründliche Desinfektion der Punktionsstelle (Einwirkzeit beachten!) 5. Anziehen der (sterilen) Einmalhandschuhe 6. Auflage eines durchsichtigen Lochtuchs auf die Punktionsstelle 7. bei wachen Patienten: Lokalanästhesie der Punktionsstelle bis zur Knochenhaut 8. Punktion/Bohren der über dem Knochen liegenden Weichteile, bis der Knochenwiderstand nachlässt (▶ Abb. 4.8b) 9. Entfernen des Bohrers und des Trokars bzw. Mandrins 10. Lagekontrolle: Der federnde Sitz der Kanüle wird geprüft, eine Zuleitung mit Dreiwegehahn wird angeschlossen und getestet, ob Knochenmark aspiriert werden kann (kein obligates Kriterium für korrekte Lage) 11. Injektionsprobe, ggf. initial mit einem Lokalanästhetikum (z. B. Lidocain 1 %), danach Injektion eines Flüssigkeitsbolus (5–10 ml NaCl 0,9 %) 12. Fixieren und steriles Abdecken des Zugangs 13. Anschließen und Fixieren der Infusion: Läuft sie problemlos ein? 14. Dokumentation der Punktion Damit der Fluss der Infusion ausreichend ist, wird nach Anschluss der Infusionsleitung möglichst ein Druckinfusionssystem verwendet.

RETTEN TO GO Intraossäre Applikation

distales Femur

proximale Tibia

distale Tibia

Die Punktionsstelle der Wahl ist die proximale Tibia. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Mit der intraossären Punktion wird ein Zugang in den gut durchbluteten Knochenmarkraum geschaffen, wenn die Anlage eines peripheren Venenzugangs notwendig, aber nicht oder nicht schnell genug möglich ist. Eine i.o.Punktion ist bei Patienten jeder Altersgruppe möglich. Die Dosierungen der Medikamente sind identisch wie für die i. v.-Injektion. Für die Punktion eignet sich besonders die proximale Tibia (medial 2–3 Querfinger unter der Kniescheibenunterkante). Die primären Aufgaben von RS sind die Vorbereitung der Materialien und die Assistenz bei der Punktion. Der Zugang zum Markraum wird nach Lokalanästhesie mit einer EZ-IO-Bohrmaschine hergestellt. Nach erfolgreicher Punktion wird die EZ-IO-Nadel fixiert und anschließend die Infusion angeschlossen. Der Punktionszeitpunkt muss dokumentiert werden. Die Komplikationsrate ist gering.

111

4

Pharmakologie Abb. 4.8 Intraossäre Punktion. Druckinfusionsmanschette

Lidocain 2 %

Spritzenset (NaCl 0,9 %) 1

5

VEL

2 Fixierpflaster

4 3

a Infusionssystem

Kanülen

EZ-IO-Bohrer

b

a 1: Handschuhe (je nach eingesetztem System steril), 2: sterile Tupfer, 3: Hautdesinfektionsmittel, 4: ggf. Einmalrasierer, 5: Kanülenabwurfbehälter. Aus: Bornemann P, Reu H. Schritt für Schritt – Intraossäre Punktion. retten! 2013; 2(02): 132 – 135 b Ansetzen des Bohrers an der proximalen Tibia. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Rektale Applikation

Abb. 4.9 Rektiole zur Einführung in den Enddarm.

Grundlagen • Der Wirkstoff wird in die Venen der Analschleimhaut aufgenommen und gelangt direkt in den Körperkreislauf. Daher tritt die Wirkung schneller ein als bei oraler Gabe. Indikationen • Typische Anwendungen als Notfalltherapie sind z. B. Paracetamol zur Fiebersenkung bei Fieberkrämpfen (S. 433), Prednison bei Pseudokrupp (S. 280) und Diazepam zur Durchbrechung von Krampfanfällen (S. 419). Am häufigsten erhalten Kinder, seltener auch bewusstseinsgetrübte Patienten Zäpfchen oder Rektiolen (▶ Abb. 4.9). Durchführung (nach Anweisung unter Aufsicht) • Der Patient sollte sich möglichst in Seitenlage befinden. Ziehen Sie vor der Applikation die Schutzkappe der Rektiole ab und führen Sie sie vorsichtig in den After ein (bei Säuglingen nur bis zur Hälfte). Entleeren Sie die Rektiole durch kräftigen Druck vollständig und ziehen Sie sie in zusammengedrücktem Zustand wieder heraus, damit die Flüssigkeit nicht wieder zurückgesaugt wird. Anschließend sollten die Gesäßbacken für einige Minuten zusammengedrückt werden, damit das Medikament nicht herausfließt.

RETTEN TO GO Rektale Applikation Über die Analschleimhaut wird der Wirkstoff aus einer Rektiole oder einem Zäpfchen schnell resorbiert, die Wirkung tritt deutlich schneller ein als nach oraler Gabe. Typische Einsatzgebiete sind die Fiebersenkung bei Kindern und die Durchbrechung von Krampfanfällen.

Inhalative Applikation Grundlagen • Bei der Inhalation wird der Wirkstoff als Aerosol oder Pulver mit dem Atemstrom in die tieferen Luftwege transportiert, wo er von der Schleimhaut resorbiert wird. Je nach Substanz ist die Wirkung weitgehend lokal auf die Bronchien beschränkt oder breitet sich systemisch aus: Nach der Inhalation von β2-Sympathomimetika (S. 134) ist häufig 112

Rektiolen enthalten flüssige Arzneimittel. Bei Säuglingen dürfen sie nur bis zur Hälfte eingeführt werden. Foto: © K. Oborny/Thieme nicht nur die erwünschte Bronchodilatation zu beobachten, sondern auch ein Anstieg der Herzfrequenz. Verneblung über Maske • Maskensysteme mit einem Vernebler zur Inhalation von Medikamenten werden vor Mund und Nase des Patienten gehalten oder mit einer Haltevorrichtung (Gummizug) am Kopf befestigt (▶ Abb. 4.10b). Letzteres empfinden Patienten häufig als unangenehm, v. a. bei starker Atemnot. Füllen Sie das Fertiginhalat in den Verneblertopf der Maske und wählen Sie den angeschlossenen O2Flow so, dass sich ein Aerosol bildet (6–10 l/min). So wird der Wirkstoff unproblematisch und sicher aufgenommen. Pulverinhalatoren und Dosieraerosole • Für viele Wirkstoffe gibt es Fertiginhalatoren oder Sprays (▶ Abb. 4.10a), die flüssige oder pulverförmige Medikamentenzubereitungen enthalten. Der Applikator muss vor der Benutzung gut geschüttelt werden. Während der Inhalation sollte der Patient den Mund fest um das Mundstück schließen, der Hub wird während einer tiefen Einatmung abgegeben. Anschließend soll der Patient für ca. 5 s die Luft anhalten, damit der Wirkstoff nicht sofort wieder abgeatmet wird.

Allgemeine Pharmakologie Abb. 4.10 Inhalative Applikation von Medikamenten. a Pulverinhalator und Dosieraerosol zur inhalativen Medikamentenapplikation. Typische Indikationen sind Asthma bronchiale und COPD. Foto: © K. Oborny/Thieme

b Verneblermaske. Typische Einsatzbereiche sind die Gabe von Bronchodilatatoren bei Asthmaanfällen oder akut exazerbierter COPD sowie die Verneblung von Adrenalin bei Krupp-Syndrom. Aus: retten – Notfalla

sanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © S. Kürzinger/Thieme

b

Abb. 4.11 Nasale Medikamenten-Applikation mittels MAD-Zerstäuber. Der Einsatz eines MAD-Zerstäubers garantiert durch Mikrozerstäubung eine optimale Resorption des Medikaments. Bei Schnupfen oder Nasenbluten ist die Methode weniger geeignet. a MAD-Zerstäuber auf handelsüblicher Spritze. b Abgabe der feinen Medikamentenpartikel. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

Midazolam: bei zerebralem Krampfanfall, zur Sedierung Glukagon: bei Hypoglykämie

Intranasale, sublinguale und bukkale Applikation



Grundlagen • Die Nasen- und Mundschleimhaut ist sehr gut durchblutet, Wirkstoffe werden rasch resorbiert. Diese Applikationsformen ermöglichen es, einfach, schmerzfrei und schnell ausreichende Wirkspiegel im Blut zu erreichen. Sie sind daher eine bewährte Alternative im RD bei fehlendem i. v.-Zugang und/oder speziellen Krankheitsbildern.

Zahlreiche Medikamente, die zur i. v.-, i. m.- oder s. c.-Gabe zugelassen sind, sind zwar für die intranasale Anwendung geeignet, aber noch ohne Zulassung für diesen Applikationsweg (Off-Label-Use). Das bedeutet: Der Anwender handelt nach Risiko-Nutzen-Abwägung auf eigene Verantwortung.

ACHTUNG Die hier beschriebenen Applikationswege eignen sich nicht bei Schockzuständen oder im Rahmen einer Reanimation. Intranasale Applikation • Geeignete Zerstäuber, sog. MAD (Mucosal Atomization Devices, ▶ Abb. 4.11), werden auf eine handelsübliche Spritze aufgesetzt und gewährleisten eine zuverlässige Medikamentengabe. Lassen Sie den Patienten ggf. vorab die Nase putzen oder saugen Sie die Nase ab. Verteilen Sie die Dosis gleichmäßig auf beide Nasenlöcher. Pro Sprühstoß werden 0,5 ml bis max. 1 ml appliziert. Oft führt die nasale Gabe zu einem Brenngefühl der Schleimhaut, das v. a. bei Kindern die Abwehr verstärkt. Um das Volumen für die benötigte Dosierung gering zu halten, sollte ein Präparat mit möglichst hoher Wirkstoffkonzentration gewählt werden. Beispiele für intranasal anwendbare Substanzen: ● Morphin, Fentanyl, Esketamin: zur Sedierung, Analgosedierung bzw. Analgesie ● Naloxon: bei Opioidintoxikation ● Flumazenil: bei Benzodiazepinintoxikation



Sublingualspray • Dieser Applikationsweg wird v. a. für Nitroglycerin (S. 131) bei Angina-pectoris-Anfällen gewählt. Bevor Sie das Spray einsetzen, geben Sie mehrere Sprühstöße in die Luft ab, um die Pumpeinheit zu entlüften und sicherzustellen, dass der Patient die volle Wirkstoffmenge erhält. Halten Sie den Behälter mit dem Sprühkopf nach oben senkrecht nahe an den Mund des sitzenden Patienten. Bitten Sie ihn, den Atem anzuhalten, und geben Sie einen Sprühstoß unter die Zunge ab. Danach soll der Patient den Mund schließen und nicht sofort schlucken, damit das Medikament über die Schleimhäute resorbiert wird. Bukkale Applikation • Schmelztabletten (z. B. Lorazepam/Tavor Expidet® bei Krampfanfällen, akuter Angst oder Erregung) werden in die Backentasche eingebracht. Kapseln werden zerbissen (z. B. Nifedipin bei Hypertonie). Der ausgetretene Inhalt verteilt sich in der Mundhöhle. Die leere Kapsel kann der Patient schlucken. Beachten Sie den Eigenschutz.

113

4

Pharmakologie Abb. 4.12 Das LADME-Modell.

RETTEN TO GO

1 Liberation Freisetzung des Wirkstoffs aus der Darreichungsform

Weitere Applikationswege ●





Bei der Inhalation wird der Wirkstoff als Aerosol oder Pulver eingeatmet, meist mithilfe eines Fertiginhalators oder über eine Verneblungsmaske. Die wichtigsten Anwendungsgebiete sind Asthmaanfälle, akute Exazerbationen einer COPD und das Krupp-Syndrom. Bei der intranasalen Applikation über Zerstäuber (MAD) wird der Wirkstoff schnell über die Nasenschleimhaut aufgenommen, die Wirkung tritt rasch ein. Anwendungsbeispiele: Midazolam bei zerebralem Krampfanfall, Naloxon bei Opioidintoxikation. Nach sublingualer und bukkaler Applikation wird der Wirkstoff schnell über die Mundschleimhaut aufgenommen, auch hier tritt die Wirkung rasch ein. Möglich ist eine Applikation über einen Spray (unter die Zunge, z. B. Nitrospray bei Angina pectoris), als Kapseln (zum Zerbeißen) oder als Schmelztabletten zum Einlegen in die Backentasche (z. B. Lorazepam zur Sedierung).

4.1.5 Allgemeine Pharmakokinetik

2 Absorption Aufnahme des Wirkstoffs in das Blut

3

4

1

Definition Pharmakokinetik Die Pharmakokinetik beschreibt, was der Körper mit einem Arzneistoff macht: Wie gelangt der Wirkstoff zum Wirkort? Wie wird er abgebaut und schließlich ausgeschieden? Grundbegriffe der Pharmakokinetik ● Der Wirkeintritt ist die Zeitspanne zwischen der Verabreichung eines Arzneimittels und dem Beginn der Wirkung. ● Die Wirkdauer gibt an, wie lange die Wirkung eines Arzneimittels anhält. ● Die Halbwertszeit (HWZ) ist der Zeitraum, nach dem ein in den Körper eingebrachtes Arzneimittel (ausgehend vom Höchstwert) durch Metabolisierung und Elimination nur noch zur Hälfte am Wirkort vorhanden ist. LADME-Modell • Die Prozesse der Pharmakokinetik werden mit der Abkürzung LADME zusammengefasst (▶ Abb. 4.12): ● Liberation: Freisetzung des Wirkstoffs aus der Darreichungsform ● Absorption: Aufnahme des Wirkstoffs in das Blut ● Distribution: Verteilung des Wirkstoffs im Organismus ● Metabolisierung: Stoffwechselvorgänge mit Veränderungen des Wirkstoffs ● Elimination (Exkretion): Ausscheidung des Wirkstoffs bzw. seiner Abbauprodukte Die Liberation, Absorption und Distribution einer Substanz werden als Invasion (Anfluten des Wirkstoffs) zusammengefasst, die Metabolisierung und Elimination einer Substanz als Evasion (Abfluten). Bei bestimmten Patientengruppen, v. a. Kindern, älteren Menschen, Schwangeren und Adipösen, sind Besonderheiten der Pharmakokinetik zu beachten (S. 116). Freisetzung des Wirkstoffs: Liberation (L) • Wirkstoffe werden dem Körper in einer Trägersubstanz zugeführt, z. B. in einer Injektionslösung. Aus dieser müssen sie freigesetzt werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Wie schnell diese Liberation abläuft, hängt von der Arzneiform und von der Applikations-

114

2

3 Distribution Verteilung des Wirkstoffs im Körper

4 Metabolisierung Umwandlung des Wirkstoffs durch körpereigene Enzyme (v. a. in der Leber)

5 Elimination Ausscheidung, v.a. über die Nieren oder den Darm

5

Dargestellt ist der Weg des Wirkstoffs durch den Körper nach oraler Gabe. Im Rettungsdienst spielt in erster Linie die i. v.-Applikation eine Rolle, bei der der Wirkstoff direkt ins Blut gelangt. Der First-Pass-Effekt, d. h. die Umwandlung des Wirkstoffs in der Leber nach oraler Aufnahme, ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 form ab. Nach einer i. v.-Applikation ist diese Phase i. d. R. sehr kurz, nach dem Schlucken einer Tablette hingegen deutlich länger. Auch aus Schmelztabletten, Sprays und Zäpfchen werden die Wirkstoffe eher schnell freigesetzt. Aufnahme des Wirkstoffs: Absorption (A) • Nach der Freisetzung muss der Wirkstoff – sofern er nicht i. v. appliziert wurde – Barrieren (z. B. Magen- oder Darmschleimhaut) überwinden, um in die Blutbahn zu gelangen. Die Bioverfügbarkeit beschreibt, welcher Anteil des Wirkstoffs in den Kreislauf gelangt. Bei i. v. verabreichten Arzneimitteln sind dies 100 % des Arzneistoffs, bei anderen Applikationsarten ist dieser Anteil z. T. deutlich geringer. Verteilung des Wirkstoffs: Distribution (D) • Nach der Aufnahme in das Blut wird der Wirkstoff in die Gewebe verteilt. Die meisten Wirkstoffe werden an Plasmaproteine (v. a. Albu-

Allgemeine Pharmakologie min) gebunden transportiert. Um wirken zu können, müssen die Substanzen die Proteinbindung wieder verlassen, proteingebundene Substanzen sind unwirksam. Abhängig von der Molekülgröße und der Bindungsfähigkeit an Wasser (Hydrophilie) oder Fette (Lipophilie) reichert sich der Wirkstoff in bestimmten Geweben an (z. B. rasches Durchdringen der Blut-Hirn-Schranke bei lipophilen Substanzen). Die Verteilung von Pharmaka im Körper hängt entscheidend von der Kreislauffunktion bzw. der Organdurchblutung ab. Dies unterstreicht z. B. die Wichtigkeit der Thoraxkompressionen im Rahmen einer Reanimation: Nur wenn ein ausreichnder Kreislauf aufrechterhalten wird, kann i. v. appliziertes Adrenalin (oder andere Wirkstoffe) zum Herzen gelangen. Verstoffwechslung eines Wirkstoffs: Metabolismus (M) • Viele (aber nicht alle) Wirkstoffe werden im Körper durch Enzyme verändert (Biotransformation), v. a. in der Leber. Das wichtigste Beispiel für solche Enzyme ist das CytochromP450-System (CYP). Diese häufig mehrstufigen Prozesse bewirken einen Wirkverlust der Substanz. Sie können aber auch gezielt genutzt werden: Dem Körper werden inaktive, besser resorbierbare Vorstufen zugeführt, die erst in der Leber in den eigentlichen Wirkstoff umgewandelt werden. Im Darm aufgenommene Arzneimittel gelangen zunächst in die Darmvenen und von dort weiter über die Pfortader in die Leber, wo sie u. U. verändert werden. Dieser sog. First-PassEffekt beeinflusst die Wirksamkeit oral eingenommener Medikamente z. T. erheblich. Die Biotransformation ist nicht grundsätzlich eine „Entgiftung“, sondern es können auch toxische Zwischen- und Endprodukte entstehen. Ausscheidung eines Wirkstoffs: Elimination oder Exkretion (E) • Die meisten Wirkstoffe werden über die Nieren bzw. den Harn ausgeschieden (renale Exkretion). Bei Patienten mit Niereninsuffizienz muss daher ggf. die Dosierung angepasst werden. Andere Substanzen verlassen den Körper über die Leber bzw. die Gallenwege (biliäre Exkretion), flüchtige Substanzen z. T. auch über die Lungen, die Haare oder die Haut.

RETTEN TO GO Allgemeine Pharmakokinetik Die Pharmakokinetik beschreibt, was der Körper mit einem Arzneistoff macht. ● Die Freisetzung des Wirkstoffs aus der Trägersubstanz (Liberation) hängt von der Applikations- und der Arzneimittelform ab (bei i. v.-Injektion einer Injektionslösung sofort, bei Tabletten erst nach einiger Zeit). ● Nach der Freisetzung erfolgt die Aufnahme in die Blutbahn (Absorption). Die Bioverfügbarkeit ist der Anteil des Wirkstoffs, der in das Blut gelangt (bei oraler Einnahme deutlich geringer als bei i. v.-Gabe). ● Für die Verteilung des Wirkstoffs (Distribution) mit dem Blutstrom ist ein funktionierender Blutkreislauf wichtig. Die Verteilung in verschiedene Gewebe hängt von den chemischen Eigenschaften des Wirkstoffs ab. ● Viele Arzneimittel werden in der Leber durch Enzyme verändert bzw. verstoffwechselt (Metabolisierung). Dabei werden sie häufig inaktiviert, manche Vorstufen werden so erst in den eigentlichen Wirkstoff umgewandelt. ● Die meisten Arzneimittel werden über die Nieren bzw. den Harn ausgeschieden (Exkretion oder Elimination), seltener über die Gallenwege oder die Lungen.

4.1.6 Allgemeine Pharmakodynamik Definition Pharmakodynamik Die Pharmakodynamik beschreibt, was der Arzneistoff mit dem Körper macht. Was bewirkt der Wirkstoff an den Körperzellen? Wie beeinflusst er den Organismus? Wo und wie wirkt er? Welche biochemischen Prozesse ermöglichen die Wirkung? Die Pharmakodynamik beschäftigt sich mit den erwünschten und den unerwünschten Wirkungen eines Arzneistoffs. Wirkstoffe können nicht nur auf den menschlichen Körper wirken, sondern auch auf Fremdorganismen (z. B. Bakterien, Viren, Pilze).

Wirkung über Rezeptoren Rezeptoren und Liganden • Die meisten Arzneimittel wirken, indem sie die Funktion von Rezeptoren beeinflussen. Rezeptoren sind Strukturen an der Oberfläche oder im Inneren von Körperzellen. Sie nehmen Signale auf und verarbeiten sie weiter. An Rezeptoren können nach dem Schlüssel-SchlossPrinzip verschiedene Liganden (= Bindungspartner, z. B. körpereigene Botenstoffe, Arzneistoffe, Toxine) binden und sie aktivieren oder blockieren. Die Bindung ist nur möglich, wenn der Ligand (Schlüssel) und der Rezeptor (Schloss) auf molekularer Ebene zueinander passen. Es gibt Dutzende unterschiedliche Rezeptortypen, die jeweils auf unterschiedliche Liganden reagieren. In verschiedenen Geweben besitzen die Zellen ein unterschiedliches Muster an Rezeptoren an ihrer Oberfläche und in ihrem Inneren, zudem hat die Bindung der Liganden je nach Zielzelle unterschiedliche Effekte (z. B. Kontraktion einer Muskelzelle, erhöhte Aufnahme von Glukose).

! Merke Rezeptorbindung

Die Welt der Rezeptoren ist komplex, bietet aber ein breites Feld an Angriffsmöglichkeiten für Arzneistoffe: Durch spezifische Beeinflussungen bestimmter Rezeptortypen in bestimmten Geweben werden im Idealfall sehr gezielte Effekte erreicht. Ist ein Ligand weniger spezifisch („wählerisch“) für einen Rezeptor, ist die Wirkung breiter. Agonisten und Antagonisten • Substanzen, die als Liganden einen Rezeptor und dessen Funktion aktivieren, sind Agonisten zu diesem Rezeptor. Blockiert ein Stoff hingegen die Wirkung eines Liganden bzw. Agonisten an einem Rezeptor, ist er ein Antagonist zu diesem (▶ Abb. 4.13, ▶ Tab. 4.3). Die Abb. 4.13 Agonist und Antagonist.

Agonist

Agonist besetzt Rezeptor und löst Effekt an Zelle aus

Rezeptor

Antagonist

Antagonist besetzt Rezeptor ohne Effekt

Die Beeinflussung von Rezeptoren durch Agonisten und Antagonisten ist ein zentraler Mechanismus der Pharmakodynamik. 115

4

Pharmakologie

Tab. 4.3 Beispiele für Rezeptoren mit Agonisten und Antagonisten. Rezeptor

physiologische Wirkung bei Aktivierung

Agonisten

Antagonisten

Opioid-Rezeptoren

u. a. reduzierte Schmerzwahrnehmung, Sedierung, reduzierter Atemantrieb, Obstipation

z. B. Endorphine, Morphin, Fentanyl

Naloxon

β2-Rezeptoren (Sympathikus)

u. a. Erweiterung der Bronchien

z. B. Adrenalin, Salbutamol

unspezifische β-Blocker (z. B. Propranolol)

β1-Rezeptoren (Sympathikus)

Zunahme von Herzfrequenz und Schlagvolumen

z. B. Adrenalin

β-Blocker (z. B. Metoprolol)

Acetylcholinrezeptoren an der Skelettmuskulatur

Muskelkontraktion

z. B. Acetylcholin, Succinylcholin (depolarisierendes Muskelrelaxans)

z. B. Rocuronium (nicht depolarisierendes Muskelrelaxans)

Acetylcholinrezeptoren, z. B. an der glatten Muskulatur und am Herz (Parasympathikus)

u. a. Abnahme der Herzfrequenz, Verengung der Bronchien, Zunahme der Darmtätigkeit

z. B. Acetylcholin

z. B. Atropin

Eigenschaft eines Liganden, mehr oder weniger fest an einen Rezeptor zu binden, nennt man Rezeptoraffinität. Agonisten und Antagonisten konkurrieren häufig um den gleichen Rezeptor, d. h. beide „wollen“ gerne binden (kompetitiver Antagonismus). Sind beide Substanzen gleichzeitig bei passenden Rezeptoren, entscheiden die Konzentration und die Rezeptoraffinität der Substanzen darüber, ob die Rezeptoren eher aktiviert oder blockiert werden. Dieser Effekt wird z. B. bei der Therapie von Vergiftungen genutzt: Geeignete Antidote (S. 143) verdrängen Toxine von den Rezeptoren und heben damit deren Wirkung auf. Ein Beispiel sind Opioide und der Opioidrezeptor-Antagonist Naloxon.

Andere Wirkmechanismen Neben der Beeinflussung von Rezeptoren gibt es zahlreiche weitere Wirkmechanismen, z. B. die Hemmung spannungsabhängiger Ionenkanäle (z. B. durch Lokalanästhetika), die direkte Hemmung von Enzymen (z. B. durch Cyclooxygenase-(COX-)Hemmer), die Beeinflussung von Transportkanälen (z. B. durch Diuretika) oder die chemische Bindung von Giftstoffen (z. B. durch Aktivkohle). Nicht bei allen heute eingesetzten Wirkstoffen ist der Wirkmechanismus vollständig verstanden!

RETTEN TO GO Allgemeine Pharmakodynamik Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkung eines Arzneistoffs auf den Organismus. Die meisten Arzneistoffe wirken über die Beeinflussung von Rezeptoren. Die Bindung einer Substanz (Ligand – „Schlüssel“) an einen passenden Rezeptor („Schloss“) löst eine bestimmte Zellantwort aus, z. B. die Öffnung von Ionenkanälen (SchlüsselSchloss-Prinzip). ● Agonisten aktivieren mehr oder weniger spezifisch bestimmte Rezeptortypen. Antagonisten binden ebenfalls an bestimmte Rezeptortypen, blockieren sie aber für die Bindung des Agonisten. Die Eigenschaft von Liganden, mehr oder weniger fest an einen Rezeptor zu binden, ist die Rezeptoraffinität. Konkurrieren Agonisten und Antagonisten um Rezeptoren, „gewinnt“ derjenige mit der 116



größeren Rezeptoraffinität und/oder der höheren Konzentration. Dies wird z. B. bei Gegengiften genutzt (Gegengift bindet anstelle des Giftes an den Rezeptor). Es gibt zahlreiche weitere Wirkmechanismen, z. B. die Beeinflussung von Transportsystemen durch Diuretika oder von Ionenkanälen durch Lokalanästhetika.

4.1.7 Besonderheiten bei bestimmten Patientengruppen Anwendung von Medikamenten bei Kindern Zu physiologischen Besonderheiten bei Kindern siehe das Kapitel „Besondere Patientengruppen“ (S. 522), für Tipps zur Kommunikation siehe das Kapitel „Kommunikation in der Notfallsituation“ (S. 172). Medikamentendosierung • Die korrekte Dosis von Medikamenten bei Kindern lässt sich nicht direkt aus den Dosierungen für Erwachsene ableiten. Es gibt einige Besonderheiten: ● Bei Früh- und Neugeborenen sind Niere und Leber noch nicht vollständig ausgereift, die Kapazität für die Verstoffwechslung und Ausscheidung von Medikamenten ist daher niedrig. ● Die Verteilungsräume für Arzneimittel (z. B. Körperfettund Wasseranteil) verändern sich in der Kindheit stark. ● Körpergewicht, Körpergröße und Körperoberfläche nehmen in unterschiedlichem Ausmaß zu. Häufig benötigen Kinder, bezogen auf ihr Körpergewicht, eine höhere Dosierung als Erwachsene!

! Merke Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!

Für die Wahl der korrekten Dosierung sind pädiatrische Notfalllineale (▶ Abb. 23.2) und Dosierungstabellen für häufig eingesetzte Notfallmedikamente sehr hilfreich. Zugangswege zur Medikamentenapplikation • Für Kinder eignet sich v. a. die intranasale (S. 113) und, eingeschränkt, die rektale und inhalative Applikation von Medikamenten. Je nach Situation kann es zur Beruhigung des Kindes z. B. sinnvoll sein, wenn ein Elternteil ein Medikament rektal appli-

Spezielle Pharmakologie ziert. Ist bei kritisch kranken Kindern die Anlage eines i. v.Zugangs erforderlich, sollten die Punktionsversuche nach 1 min abgebrochen und ein intraossärer Zugang angelegt werden (S. 110). Im Rahmen einer Reanimation wird die Anlage eines i.o.-Zugangs primär alternativ empfohlen.

Anwendung von Medikamenten bei alten Menschen Zu physiologischen Besonderheiten bei alten Menschen siehe das Kapitel „Besondere Patientengruppen“ (S. 530), für Tipps zur Kommunikation siehe das Kapitel „Kommunikation in der Notfallsituation“ (S. 171). Die Alterungsprozesse des Körpers verändern die Pharmakokinetik und -dynamik deutlich und beeinflussen somit die Wirksamkeit von Arzneimitteln. Folgende Veränderungen sind hier v. a. relevant: ● geringere Durchblutung und Aktivität der Magen-DarmSchleimhaut → verzögerte Resorption nach oraler Gabe ● veränderte Verteilungsräume: Abnahme des Muskel- und Wasseranteils, Zunahme des Fettanteils des Körpers ● Abnahme der Leber- und Nierenleistung mit verlangsamter Metabolisierung und Elimination Diese Veränderungen können zu höheren Wirkstoffspiegeln im Blut führen und/oder die Wirkdauer von Medikamenten verlängern. Es bestehen folgende Gefahren: ● Die veränderte Verteilung und Speicherung von Substanzen sowie die verzögerte Metabolisierung und Ausscheidung erhöhen das Risiko von Überdosierungen. ● Die Empfindlichkeit v. a. gegenüber zentralnervös wirksamen und gerinnungsaktiven Substanzen ist erhöht. ● Das Risiko für paradoxe Wirkungen (S. 105) ist erhöht.

Weitere Patientengruppen Bei stark untergewichtigen und v. a. bei adipösen Patienten (S. 533) muss die Dosierung an das Körpergewicht angepasst werden, bei Letzteren darf v. a. nicht überdosiert werden. Bei Patienten mit schweren Leber- und/oder Nierenerkrankungen sind die Metabolisierung und Ausscheidung von Medikamenten reduziert. Je nach Ausmaß der Störung muss die Dosis reduziert werden oder die Substanz ist bei diesen Patienten kontraindiziert. Bei Schwangeren ist zum einen die Gefahr der Schädigung des Kindes durch Medikamente zu beachten. Zum anderen ist die Pharmakokinetik durch die physiologischen Veränderungen während einer Schwangerschaft (z. B. reduzierte Albuminkonzentration im Plasma, stark vergrößerter Extrazellularraum) deutlich verändert. Verlässliche Aussagen zu Dosierungen und Wirkungen verschiedener Medikamente sind aufgrund fehlender Daten kaum möglich. Bei stillenden Frauen ist zu beachten, dass viele Medikamente in die Muttermilch übertreten können. Mitunter muss die Muttermilch nach der Gabe einer Substanz für einige Zeit abgepumpt und verworfen werden.

RETTEN TO GO Besonderheiten bei bestimmten Patientengruppen ●





Bei Kindern ist die Pharmakokinetik durch physiologische Besonderheiten anders als bei Erwachsenen, die Dosis muss an das Alter und/oder Körpergewicht angepasst werden. Bevorzugt werden Medikamente intranasal, rektal oder inhalativ appliziert. In einer Reanimationssituation oder wenn in einer lebensbedrohlichen Situation nicht innerhalb 1 min ein i. v.-Zugang gelegt werden kann, wird ein intraossärer Zugang empfohlen. Bei älteren Menschen verändert sich die Pharmakokinetik, z. B. aufgrund einer abnehmenden Leber- und Nierenfunktion. Die Empfindlichkeit gegenüber einigen Substanzen und das Risiko für Überdosierungen und paradoxe Wirkungen sind erhöht. Auch bei stark unter- oder übergewichtige Menschen, bei Patienten mit chronischen Leber- und/oder Nierenerkrankungen sowie bei Schwangeren und Stillenden müssen die Dosierungen ggf. angepasst werden.

4.2 Spezielle Pharmakologie In diesem Abschnitt wird eine Auswahl von Notfallmedikamenten beschrieben, die im Rettungsdienst eine wichtige Rolle spielen. Weder die Auswahl der Medikamente noch die Gebrauchsinformationen zu den einzelnen Substanzen sind vollständig, da dies den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Zum vertieften Studium der Zusammenhänge muss auf die weiterführende Literatur verwiesen werden. Die angegebenen Dosierungen beruhen auf den Herstellerangaben und gelten für Erwachsene. Die Dosierungen bei Kindern orientieren sich am Lebensalter, an der Körperoberfläche oder am Körpergewicht (je nach Substanz). Für die in den Kurzprofilen aufgeführten Medikamente gelten die vom Hersteller angegebenen Lagerungs- und Aufbewahrungsbedingungen. Keinesfalls dürfen Medikamente bei Patienten mit bekannter Überempfindlichkeit oder Allergie gegen den Wirkstoff oder einen Zusatzstoff verabreicht werden. Daher wird diese generelle Kontraindikation für ein Pharmakon nicht in den Kurzprofilen aufgeführt.

! Merke Immer Medikamentenallergien abfragen

Vertrauen Sie niemals darauf, dass ein Notfallpatient eigenständig auf eine Medikamentenallergie hinweist, fragen Sie immer gezielt nach. Bei Bewusstlosen sollten Sie nach einem Allergieausweis suchen und/oder Angehörige befragen. Für die aktuelle Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben müssen Anwender stets die entsprechenden Fachinformationen der Hersteller berücksichtigen. Die medikamentöse Therapie von Notfallpatienten ist immer eine Einzelfallentscheidung. Derjenige, der Medikamente verabreicht, trägt (auch die juristische) Verantwortung und Haftung.

117

4

Pharmakologie

4.2.1 Analgetika

Abb. 4.14 Schmerzarten.

Definition Analgetika Als Analgetika (Schmerzmittel) werden alle schmerzstillenden oder -vermindernden Substanzen zusammengefasst. Die wichtigsten Gruppen sind die Opioid- und die Nicht-Opioid-Analgetika. Letztere wirken zum Teil auch entzündungshemmend (antiphlogistisch) und fiebersenkend (antipyretisch).

Entstehung und Beurteilung von Schmerzen Akute und chronische Schmerzen • Schmerzen sind unangenehme Sinnes- und Gefühlserlebnisse als Folge einer Gewebeschädigung (s. u.). Sie haben eine wichtige Warn- und Schutzfunktion, indem sie z. B. die Aufmerksamkeit auf eine verletzte oder erkrankte Körperregion lenken oder die Schonung einer beeinträchtigten Region bedingen. Schmerzen können aber auch chronisch werden, ihre Warnfunktion verlieren und als eigenständige Schmerzkrankheit die Betroffenen stark belasten. Schmerzarten • ▶ Abb. 4.14 somatische Schmerzen (S. 336) durch Verletzungen oder Entzündungen der Haut oder des Bewegungsapparates ● viszerale Schmerzen (S. 336) durch Schädigungen innerer Organe ● neurogene Schmerzen durch direkte Schädigung von Nervenstrukturen, z. B. bei Reizung des N. ulnaris („Musikantenknochen“) oder einem Bandscheibenvorfall (S. 430) ● psychogene Schmerzen ohne nachweisbare organische Ursache, z. B. bei psychischen Störungen

neuropathische Schmerzen • einschießend, schneidend, stechend, attackenweise auftretend oder als Dauerschmerz brennend, bohrend • direkte Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems

viszerale Schmerzen • dumpf, ziehend, drückend, schlecht lokalisierbar • Brust-, Bauch- und Beckenraum



Schmerzwahrnehmung (Nozizeption) • Somatische und viszerale Schmerzen werden durch spezialisierte Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) wahrgenommen (▶ Abb. 4.16). Diese finden sich in den meisten Geweben und werden z. B. durch mechanische, thermische, elektrische oder chemische Reize aktiviert. Die Schmerzreize werden über Nervenfasern zum Rückenmark und weiter über den Hirnstamm zum Gehirn übertragen. Hier werden die Schmerzsignale komplex verarbeitet. Die Folgen sind eine bewusste Wahrnehmung in der Großhirnrinde, aber u. a. auch bewusste und unbewusste Handlungen zur Schmerzabwehr (z. B. Schonhaltung) und eine Aktivierung des Sympathikus mit Anstieg von Blutdruck, Herzfrequenz und O2-Bedarf. Schmerz und Entzündung • Bei Gewebeschädigungen werden lokal Gewebehormonen (u. a. Prostaglandine) freigesetzt, die eine Entzündungsreaktion auslösen und Nozizeptoren aktivieren. Andererseits schütten aktivierte Schmerzrezeptoren selbst entzündungsfördernde Subtanzen aus. Damit verstärken sich Schmerzen und Entzündung gegenseitig! Körpereigene Schmerzkontrolle • Bereits während der Reizleitung zum Gehirn schwächen absteigende Nervenbahnen die Schmerzreize ab, indem z. B. körpereigene Opioide (Endorphine) ausgeschüttet werden. Das Ausmaß dieser körpereigenen Schmerzhemmung ist stark von psychischen Faktoren abhängig. Alle Teilbereiche der Nozizeption beeinflussen sich auf komplexe Weise gegenseitig.

118

somatische Schmerzen • stechend, scharf begrenzt, gut lokalisierbar • Oberflächenschmerz in der Haut oder Tiefenschmerz in Muskeln, Bindegewebe, Knochen und Gelenken

psychogene Schmerzen keine organische Ursache nachweisbar

Somatische Schmerzen entstehen durch Störungen der Haut oder des Bewegungsapparats, viszerale Schmerzen gehen von den inneren Organen aus. Neuropathische Schmerzen sind die Folge von Nervenschädigungen. Psychogene Schmerzen haben keine nachweisbare körperliche Ursache. Aus: I care Anatomie Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020.

! Merke Teufelskreis Schmerz

Schmerzen bewirken eine Aktivierung des Sympathikus und erhöhen damit den O2-Bedarf. Dies kann den Zustand des Patienten in einer ohnehin schon bedrohlichen Situation (z. B. nach einem Herzinfarkt) zusätzlich verschlechtern. Dies verängstigt den Betroffenen noch mehr, was den Sympathikus wiederum weiter stimuliert! Dieser Kreislauf kann sich gefährlich verstärken. Eine gute Schmerztherapie fördert daher nicht nur das Wohlbefinden des Patienten, sondern kann auch seine Prognose verbessern!

Spezielle Pharmakologie Abb. 4.15 Beurteilen der Schmerzintensität.

RETTEN TO GO

a Visuelle Analogskala (VAS) Vorderseite (Patient)

Entstehung und Beurteilung von Schmerzen

unerträgliche Schmerzen

keine Schmerzen



Geben Sie mithilfe des Schiebers die von Ihnen empfundene Schmerzstärke an. Rückseite (Untersucher)



unerträgliche Schmerzen

keine Schmerzen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Nachdem der Patient den Schieber auf eine Position umgestellt hat, die seiner Einschätzung nach der Intensität des Schmerzes entspricht, kann der Untersucher auf der Rückseite einen konkreten Zahlenwert zwischen 0 und 100 ablesen.



b Numerische Ratingskala (NRS)

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Geben Sie bitte die Stärke der von Ihnen empfundenen Schmerzen an. c

Smileyskala zur Objektivierung bei der Schmerzintensität bei Kindern

Die Kinder sollen entscheiden, welches der dargestellten Gesichter am ehesten ihren Empfindungen entspricht. Ratingskalen zur Beurteilung der Schmerzintensität. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Schmerzbeurteilung • Erfasst werden die Dauer (Schmerzbeginn?), die Lokalisation, die Qualität (▶ Abb. 14.2) und die Intensität von Schmerzen. Zur Messung der subjektiven Schmerzintensität eignen sich die Numerische Rating Schmerzskala (NRS) oder verschiedene Alternativen, die auch bei Sprach- oder Verständigungsproblemen und bei kleinen Kindern einsetzbar sind (▶ Abb. 4.15).

! Merke Schmerzintensität und Analgesie

Die Schmerzempfindung von Patienten ist individuell sehr unterschiedlich! Während der eine bereits laut jammert, erwähnt ein anderer bei gleicher Ursache vielleicht nur, dass „es schon etwas wehtut“. Bewerten Sie die Schmerzreaktion Ihres Patienten nicht, sondern behandeln Sie den Schmerz entsprechend. Mäßig starke bis starke Schmerzen (ab NRS 4) müssen präklinisch analgetisch behandelt werden. Fordern Sie notärztliche Unterstützung an!



Akute und chronische Schmerzen: Akute Schmerzen sind ein häufiger Einsatzgrund im Rettungsdienst. Sie haben eine wichtige Warn- und Schutzfunktion. Ein chronisches Anhalten von Schmerzen kann zu einer sehr belastenden Schmerzkrankheit führen. Schmerzarten: – somatische Schmerzen durch Schädigungen der Haut oder des Bewegungsapparates – viszerale Schmerzen durch Störungen innerer Organe – neurogene Schmerzen durch direkte Schädigung von Nervenstrukturen – psychogene Schmerzen ohne nachweisbare organische Ursache Schmerzwahrnehmung (Nozizeption): Schädigende Reize aktivieren Schmerzrezeptoren. Die Signale werden über Nervenbahnen zum Gehirn geleitet und lösen dort eine bewusste Wahrnehmung von Schmerzen, aber auch Schutzreaktionen und eine Aktivierung des Sympathikus mit Anstieg von Blutdruck, Herzfrequenz und O2-Verbrauch aus. Der erhöhte O2-Verbrauch kann den Zustand des Patienten weiter verschlechtern. Körpereigene schmerzhemmende Systeme unterdrücken die Weiterleitung und Wahrnehmung von Schmerzen, sie sind stark von psychischen Faktoren abhängig. Schmerzbeurteilung: Wichtige Faktoren sind Dauer, Lokalisation, Qualität und Intensität der Schmerzen. Zur Erfassung der Intensität eignen sich Schmerzskalen, z. B. die Numerische Rating Schmerzskala (NRS).

Grundlagen der Schmerztherapie Die Schmerztherapie orientiert sich an Art, Ursache und Stärke der angegebenen Schmerzen sowie an bekannten Begleiterkrankungen. ▶ Abb. 4.16 zeigt, an welchen funktionellen Strukturen einzelne Maßnahmen ansetzen.

Medikamentöse Schmerztherapie Nicht-Opioid- und Opioid-Analgetika • Im Rettungsdienst haben die Patienten häufig starke oder sehr starke Schmerzen und erhalten daher stark wirksame Opioid-Analgetika, die vorwiegend in Gehirn und Rückenmark wirken. Bei leichten Schmerzen, bestimmten Schmerzformen (z. B. Metamizol bei Kolikschmerzen) und zur Fiebersenkung werden Nichtopioid-Analgetika gegeben, die v. a. peripher wirksam sind. Esketamin • Das Narkotikum Esketamin (S. 126) wird im Rettungsdienst bei starken, v. a. bei traumatisch bedingten Schmerzen häufig eingesetzt. Da es häufig Albträume und unangenehme Halluzinationen auslöst, wird es mit einem Benzodiazepin wie Midazolam (▶ Tab. 4.8) oder mit Propofol kombiniert. Spasmolytika • Kolikschmerzen entstehen durch Krämpfe der glatten Muskulatur innerer Organe. Spasmolytika hemmen diese Krämpfe und lindern daher Kolikschmerzen. Der wichtigste Vertreter im Rettungsdienst ist Butylscopolamin (z. B. Buscopan®), das v. a. bei Spasmen des Magen-DarmTrakts oder bei Gallenkoliken (S. 348) i. v. gegeben wird.

119

4

Pharmakologie Lokalanästhetika • Diese Substanzen (z. B. Lidocain) hemmen für einige Zeit die Weiterleitung von Schmerzreizen in peripheren Nerven. Nach lokaler Applikation bewirken sie eine lokale Schmerzhemmung. Dieser Effekt wird z. B. häufig für kleine chirurgische Eingriffe eingesetzt, aber auch bei Regionalanästhesieverfahren wie der Spinalanästhesie („Kreuzstich“). Im Rettungsdienst ist das wichtigste Einsatzgebiet die Lokalanästhesie bei intraossären Punktionen (S. 110).

Abb. 4.16 Nozizeption und Analgetika.

Wahrnehmung und Bewertung der Schmerzen psychische Betreuung

Analgosedierung • Die Kombination einer schmerzstillenden (z. B. Opioid, Esketamin) und einer sedierenden oder narkotischen Substanz (z. B. Benzodiazepin) wird als Analgosedierung bezeichnet. Der Übergang zu einer Narkose (S. 124) mit Ausschaltung des Bewusstseins ist fließend.

Opioide Esketamin

Zelle absteigende, schmerzhemmende Bahn

Nicht-OpioidAnalgetika Prostaglandine

aufsteigende Schmerzbahn

Schmerzrezeptor

Nichtmedikamentöse Schmerztherapie Die psychische Betreuung der Patienten und physikalische Maßnahmen (z. B. Kühlung, Lagerung, Schienung) tragen erheblich dazu bei, Schmerzen zu lindern und den Teufelskreis aus Schmerz und Angst zu durchbrechen. Dies ist auch eine wesentliche Aufgabe für Sie als Rettungssanitäter!

Nicht-Opioid-Analgetika physikalische Maßnahmen Lokalanästhetika

Rückenmark peripherer Nerv

Gewebeschädigungen lösen Schmerzen aus. Unterschiedliche Maßnahmen hemmen die Weiterleitung und Verarbeitung dieser Signale auf verschiedenen Ebenen. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Nicht-Opioid-Analgetika wirken v. a. über eine Hemmung des Enzyms Cyclooxygenase (COX) und verhindern so die Synthese von Prostaglandinen. Letztere sind Gewebehormone, die u. a. Entzündungsreaktionen und Fieber vermitteln. Da die Substanzen die COX nicht nur im entzündeten Bereich, sondern im gesamten Körper hemmen, haben sie zahlreiche Nebenwirkungen (z. B. erhöhtes Risiko für Magengeschwüre und Asthmaanfälle). Zu dieser Gruppe zählen folgende Substanzen:

Tab. 4.4 Nichtopioid-Analgetikum – Kurzprofil Paracetamol. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. ben-u-ron® Zäpfchen, Perfalgan® Infusionslösung

Darreichungsform

Zäpfchen 75/125/250/1000 mg, Infusionslösung 500/1000 mg

Wirkmechanismus

schmerzlindernd, fiebersenkend

Indikationen

leichte Schmerzen, Fieber

Kontraindikationen (Auswahl)

schwere Leber- oder Nierenfunktionsstörungen

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Überempfindlichkeitsreaktionen, Tachykardie, Hypotonie, Gefahr schwerer Leberschädigungen bei Überdosierung

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung (i. v.)

● ●

Dosierung (rektal)

120

Wirkeintritt: 5–10 min nach i. v.-Applikation, 30–60 min nach rektaler Gabe Wirkdauer: 6–8 h > 50 kg KG: 1 g langsam über 15 min i. v. 10–50 kg KG: 15 mg/kg KG langsam über 15 min i. v.

Körpergewicht

Einzeldosis

3–6 kg

75 mg

7–12 kg

125 mg

13–25 kg

250 mg

ab 26 kg

500 mg

> 43 kg

500–1000 mg

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.5 Kurzprofil Nichtopioid-Analgetikum Metamizol (= Novaminsulfon). Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Novalgin®, Novaminsulfon®

Darreichungsform

1 Amp. à 1 ml/1 g, 5 ml/2,5 g

Wirkmechanismus

schmerzlindernd, fiebersenkend, krampflösend

Indikationen

mäßige bis starke Schmerzen, Kolikschmerzen, (hohes) Fieber

Kontraindikationen (Auswahl)

bekannte Überempfindlichkeit, Allergie oder Blutbildungsstörung, i. v.-Applikation bei instabilem Kreislauf oder Hypotonie, 1. und 3. Schwangerschaftsdrittel, Kinder < 3 Monate

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Blutdruckabfall, Anaphylaxie, Übelkeit/Erbrechen, Blutbildungsstörungen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

● ●









Wirkeintritt (i. v.): nach 2–5 min Wirkdauer: ca. 3–5 h 500–1000 (–2500) mg langsam als Kurzinfusion über 15 min Kinder: 15 mg/kgKG

Acetylsalicylsäure (S. 140): im Rettungsdienst als Thrombozytenaggregationshemmer eingesetzt nicht steroidale Antirheumatika (NSAR, benannt nach ihrer ursprünglichen Anwendung in der Therapie rheumatischer Erkrankungen) mit deutlich entzündungshemmender (antiphlogistischer) und fiebersenkender (antipyretischer) Wirkung, z. B. Diclofenac, Ibuprofen: keine Bedeutung im Rettungsdienst Paracetamol (▶ Tab. 4.4): analgetische und antipyretische Wirkung, im Rettungsdienst v. a. zur Fiebersenkung eingesetzt (v. a. als Zäpfchen bei Kindern) Metamizol (▶ Tab. 4.5): starke analgetische, antipyretische und zusätzlich krampflösende (spasmolytische) Wirkung, im Rettungsdienst v. a. bei Kolikschmerzen eingesetzt

RETTEN TO GO Nicht-Opioid-Analgetika Nicht-Opioid-Analgetika (COX-Inhibitoren) hemmen die Bildung von Prostaglandinen im verletzten Gewebe und damit die Aktivierung der Schmerzrezeptoren. Sie wirken analgetisch und oft auch entzündungshemmend (antiphlogistisch) und fiebersenkend (antipyretisch). Im RD werden v. a. Paracetamol i. v. oder als Zäpfchen bei Fieber sowie Metamizol i. v. bei Kolikschmerzen (v. a. Gallen- und Harnleiterkolik) verwendet.

Opioid-Analgetika Definition Opioide und Opiate Opioide sind alle Substanzen mit Morphin-ähnlicher Wirkung, egal ob sie natürlichen oder synthetischen Ursprungs sind. Sie sind die tragende Säule in der Behandlung starker und stärkster Schmerzen. Opiat ist die korrekte Bezeichnung für alle Substanzen, die sich chemisch aus dem Opiumsaft ableiten, der aus den Kapseln des Schlafmohns gewonnen wird (z. B. Morphin). Abhängigkeit und Intoxikationen • Alle Opioide können eine Substanzabhängigkeit (S. 445) auslösen. Dieser Effekt ist allerdings nur bei länger anhaltender, wiederholter Gabe von Relevanz, nicht bei akuter Analgesie im Rettungsdienst. Da-

neben verursachen sie akute Intoxikationen (S. 512), die jedes Jahr viele Todesopfer fordern. Intoxikationen durch Applikationsfehler oder in suizidaler Absicht sind bei Patienten relevant, die Opioide über längere Zeit wegen chronischer Schmerzen erhalten. Bei Intoxikationen lässt sich die Opioid-Wirkung durch den kompetitiven Antagonisten Naloxon (▶ Tab. 4.34) aufheben.

! Merke Betäubungsmittel

Alle im Rettungsdienst eingesetzten Opioide unterliegen den Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes (S. 107). Wirkungen • Opioide wirken über spezifische Opioidrezeptoren in Gehirn und Rückenmark, aber auch in peripheren Organen (▶ Abb. 4.17). Die eigentlichen Bindungspartner Abb. 4.17 Organeffekte der Opioide.

dämpfende Effekte

vermittelt durch Opioidrezeptoren

erregende Effekte

Schmerzempfindung

Miosis

Analgetikum

antinozizeptives System

Aufmerksamkeit Stimmungslage ⇨ narkotische Effekte Atemzentrum ⇨ Gefahr eines Atemstillstands Hustenzentrum Antitussivum

Analgetikum

glatte Muskulatur im Magen-DarmTrakt ⇨ spastische Obstipation Antidiarrhoikum ableitende Harnwege ⇨ Probleme bei der Miktion, Harnverhalt

Opioide wirken v. a. auf Gehirn und Rückenmark, aber auch auf periphere Strukturen. 121

4

Pharmakologie

Tab. 4.6 Kurzprofil Opioid Morphin. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Morphin Merck®

Darreichungsform

1 Amp. à 1 ml/10 mg, 1 Amp. à 1 ml/20 mg Morphiumhydrochlorid

Wirkmechanismus

Agonist an Opioidrezeptoren → u. a. sedierend, zentral schmerzhemmend, euphorisierend, atemdepressiv; Drucksenkung im Lungenkreislauf

Indikationen

schwere bis schwerste Schmerzen

Kontraindikationen (Auswahl)

Kolikschmerzen, Ileus, Pankreatitis, Atemdepression, Schwangerschaft, Geburt

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Atemdepression, Übelkeit/Erbrechen, Schwindel, Benommenheit, Blutdruckveränderungen, Blasenentleerungsstörungen bis Harnverhalt, Koliken, zerebrale Krampfanfälle (v. a. bei höherer Dosierung bei Kindern)

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 1–2 min Wirkdauer: 3–5 h

Einzeldosis (Erwachsene): 5–10 mg langsam i. v./i.o. (Verdünnung mit NaCl 0,9 % auf 1 mg/ml)

Tab. 4.7 Kurzprofil Opioid Fentanyl. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Fentanyl-Jansen®

Darreichungsform

1 Amp. à 2 ml/0,1 mg, 1 Amp. à 10 ml/0,5 mg Fentanylhydrogencitrat

Wirkmechanismus

Agonist an Opioidrezeptoren → u. a. sedierend, zentral schmerzhemmend, euphorisierend, stark atemdepressiv; Drucksenkung im Lungenkreislauf Wirksamkeit ca. 100 × stärker als Morphin → geringere Dosierung

Indikationen

starke und stärkste Schmerzen, Narkose

Kontraindikationen (Auswahl)

Schwangerschaft und Geburt; Ateminsuffizienz, unbehandelte Kreislaufinstabilität

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Atemdepression, Übelkeit/Erbrechen, Schwindel, Benommenheit, Blutdruckveränderungen, Blasenentleerungsstörungen bis Harnverhalt, Koliken, zerebrale Krampfanfälle (v. a. bei höherer Dosierung bei Kindern)

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach Sekunden Wirkdauer: 20–30 min

Erwachsene: 1–4 μg/kg KG i. v., zur Narkose: 0,05–0,1 mg i. v./i.o.

dieser Rezeptoren sind körpereigene Opioide, z. B. Endorphine. Die Hauptwirkung ist die Analgesie, wobei Opioide nicht die Entstehung der Schmerzen reduzieren, sondern die Verarbeitung, Wahrnehmung und Bewertung der Schmerzen verändern und sie dadurch erträglich(er) machen. Über eine Aktivierung von Opioidrezeptoren in anderen Regionen haben Opioide zahlreiche weitere, z. T. unerwünschte Wirkungen, z. B. eine Hemmung des Atemzentrums mit Gefahr eines Atemstillstands, eine Hemmung des Hustenzentrums (antitussiver Effekt), Veränderungen der Stimmungslage, sedierende und euphorisierende Effekte sowie ein Abfall von Blutdruck und Herzfrequenz.

! Merken Atemdepressive Wirkung

Opioide reduzieren die Ansprechbarkeit des Atemzentrums auf CO2 und damit den wichtigsten Atemanreiz (S. 75). Zusätzlich reduziert auch der Wegfall von Schmerzen den Atemantrieb. Die Folge kann eine mitunter tödlich endende Atemdepression sein. Die Patienten müssen deshalb engmaschig überwacht werden!

122

Opioide im Rettungsdienst • Zur Therapie starker und stärkster Schmerzen werden am häufigsten Morphin (▶ Tab. 4.6) und Piritramid eingesetzt. Die sehr stark wirksamen Substanzen Fentanyl (▶ Tab. 4.7, ca. 100-mal stärkere Wirkung als Morphin) und Sufentanil werden typischerweise im Rahmen der Narkose (S. 126) und zur Analgosedierung gegeben.

RETTEN TO GO Opioid-Analgetika Opioide sind die stärksten bekannten Analgetika. Sie hemmen über spezifische Opioidrezeptoren die Schmerzweiterleitung und -verarbeitung im Gehirn und verstärken die Aktivität der absteigenden schmerzhemmenden Bahnen. Bei starken und stärksten Schmerzen werden v. a. Morphin und Piritramid eingesetzt, die sehr stark wirksame Substanz Fentanyl v. a. für Narkosen. Eine wichtige Nebenwirkung ist die Atemdepression. Bei Opioid-Intoxikationen wird der Opioid-Antagonist Naloxon verabreicht.

Spezielle Pharmakologie

4.2.2 Antikonvulsiva und Sedativa Definition Antikonvulsiva und Sedativa ●



Antikonvulsiva (Antiepileptika) werden eingesetzt, um zerebrale Krampfanfälle zu durchbrechen bzw. das Risiko für erneute Krampfanfälle bei bekannter Epilepsie zu reduzieren. Der Begriff Sedativa fasst verschiedene Substanzgruppen zusammen, die auf das Gehirn „dämpfend“ wirken: Sie haben beruhigende (sedierende) Effekte, können aber auch angstlösend (anxiolytisch), schlaffördernd (hypnotisch), muskelentspannend (muskelrelaxierend), krampflösend (antikonvulsiv) sowie in hoher Dosierung auch narkotisch wirken. Je nach Anwendungsgebiet der Substanzen wird auch von Tranquilizern (Tranquillanzien, Beruhigungsmitteln), Anxiolytika (angstlösenden Medikamenten), Hypnotika (Schlafmitteln) oder Narkotika (S. 126) gesprochen.

zepam und Diazepam (▶ Tab. 4.8). Deren wesentliche Unterschiede sind die Wirkdauer (z. B. Midazolam sehr kurz, Diazepam sehr lang), die verfügbaren Darreichungsformen und die typischen Einsatzindikationen. Antidot • Bei einer Überdosierung oder Vergiftung kann die Wirkung von Benzodiazepinen durch den spezifischen Antagonisten Flumazenil (Anexate®) aufgehoben werden. Abhängigkeitspotenzial • Bei wiederholter Einnahme, z. B. bei Schlafstörungen oder Angstzuständen, kann sich schnell eine Abhängigkeit entwickeln (S. 446).

Wirkstoffe und Indikationen • Die im Rettungsdienst wichtigste Substanzgruppe mit sedierender und antikonvulsiver Wirkung sind die Benzodiazepine. Sie verstärken in Gehirn und Rückenmark die Wirkung des dämpfenden Neurotransmitters GABA (γ-Aminobuttersäure). Neben den oben genannten Wirkungen führen Benzodiazepine auch zu einer anterograden Amnesie, d. h., die Patienten erinnern sich nicht oder kaum an Ereignisse, die nach der Verabreichung der Substanz stattgefunden haben. Indikationen im Rettungsdienst sind zerebrale Krampfanfälle (S. 419), Angstund Erregungszustände (z. B. auch bei akutem Koronarsyndrom) sowie die Analgosedierung (S. 119) und die Einleitung einer Notfallnarkose (S. 124). Die im RD am häufigsten eingesetzten Substanzen sind Midazolam, Clonazepam, Lora-

RETTEN TO GO Antikonvulsiva und Sedativa Die wichtigsten Sedativa und Antikonvulsiva im Rettungsdienst sind Benzodiazepine. Sie binden an GABA-Rezeptoren in Gehirn und Rückenmark und wirken sedierend (beruhigend), angstlösend, hypnotisch, muskelrelaxierend, antikonvulsiv (krampflösend) sowie in hoher Dosierung bei i. v.-Gabe auch narkotisch. Sie werden im RD bei akuten Erregungs- und Angstzuständen, bei Status epilepticus sowie zur Analgosedierung und Narkoseeinleitung eingesetzt. Häufig verwendete Wirkstoffe sind Midazolam (kurz wirksam), Lorazepam, Clonazepam (bei Krampfanfällen) und Diazepam. Bei Überdosierungen kann die Wirkung durch Flumazenil aufgehoben werden.

Tab. 4.8 Kurzprofil Benzodiazepine. Kriterium

Midazolam Dormicum®

Clonazepam

Lorazepam

Rivotril®

Tavor®,

z. B.

z. B. det®

Diazepam Tavor expi-

z. B. Valium®, Diazepam Desitin®

Handelsnamen

z. B.

Darreichungsformen

Injektionslösung zur i. v.-, i. o.- und z. T. intranasalen Anwendung, Lösung zur Anwendung in der Mundhöhle

Wirkmechanismus

Stimulation von GABA-Rezeptoren → sedierende, schlafanstoßende, angstlösende, muskelrelaxierende und antikonvulsive Wirkung, anterograde Amnesie

Indikationen

Sedierung, Narkoseeinleitung, zerebrale Krampfanfälle, Analgosedierung

Kontraindikationen (Auswahl)

bekannte Überempfindlichkeit, schwere Atemstörungen; Vorsicht bei alten Menschen und Kindern, schweren Funktionsstörungen von Leber und Nieren, Myasthenia gravis sowie in Schwangerschaft und Stillzeit

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Atemdepression bis Atemstillstand, Blutdruckabfall, paradoxe Wirkung mit Erregung, Angst und Aggressivität (v. a. bei alten Menschen und Kindern)

Wirkbeginn

2 min nach i. v.-Gabe, 3– 5 min nach intranasaler Gabe

1–3 min nach i. v.-Gabe

1–3 min nach i. v.-Gabe, 20 min nach bukkaler Gabe

1–3 min nach i. v.-Gabe, 7– 20 min nach rektaler Gabe

Wirkdauer

1–2 h

30–40 h

5–9 h

20–60 h

Dosierung: Sedierung

initial 2–2,5 mg i. v. oder i.o.



1 Bukkaltablette (1 oder 2,5 mg)

2–10 mg i. v.

Dosierung: Narkoseeinleitung

0,15–0,2 mg/kg KG i. v. oder i.o







Dosierung: Status epilepticus

0,2 mg/kg KG i. v., i.o., bukkal oder intranasal 10 mg i. m. nasal: < 50 kg KG: 5 mg, > 50 kg KG: 10 mg

0,015 mg/kg KG i. v.

0,1 mg/kg KG i. v.

0,15–0,2 mg/kg KG i. v. 0,2–0,5 mg/kg KG rektal

Injektionslösung für die i. v.-Anwendung

Bukkaltablette zum Einlegen in die Backentasche, Injektionslösung (i. v. oder i. m.)

Injektionslösung (i. v. oder i. m.), Rektiole

123

4

Pharmakologie

4.2.3 Antiemetika RETTEN TO GO

Definition Antiemetika Diese Substanzen unterdrücken Übelkeit (Nausea) und Erbrechen (Emesis). Der entscheidende Angriffspunkt ist das Brechzentrum im Hirnstamm, das den reflexhaften Prozess des Erbrechens steuert.

Antiemetika Antiemetika unterdrücken Übelkeit und Erbrechen, indem sie verschiedene Rezeptoren blockieren. Die wichtigsten Substanzen im RD sind selektive 5-HT3-Antagonisten wie Ondansetron und das Antihistaminikum Dimenhydrinat (zusätzliche Wirkung gegen Schwindel, Sedierung).

Leitsymptom Erbrechen • Für Ursachen und Formen des Erbrechens s. das Kapitel Gastrointestinale Notfälle (S. 340). Wirkstoffgruppen im Rettungsdienst Antihistaminikum Dimenhydrinat (▶ Tab. 4.9, z. B. Vomex A®): auch gegen Schwindel wirksam, deutliche sedierende und anticholinerge Effekte ● selektiver 5-HT3-Antagonist Ondansetron (▶ Tab. 4.10, z. B. Zofran®): starkes Antiemetikum, häufigere Anwendung ● Dopamin-D2-Antagonist Metoclopramid (z. B. Paspertin®): wegen der Gefahr schwerer unerwünschter Wirkungen kaum noch eingesetzt ●

Antihistaminika werden zusätzlich bei allergischen Reaktionen (S. 136) sowie unter Ausnutzung des sedierenden Effekts als Schlafmittel eingesetzt.

4.2.4 Narkose im Rettungsdienst Grundlagen Definition Narkose Eine Narkose (Allgemeinanästhesie) beschreibt eine reversible Ausschaltung des Bewusstseins und der Schmerzempfindung sowie eine Dämpfung der vegetativen Reflexe durch die Anwendung von Medikamenten. Schutzreflexe und Spontanatmung fallen aus, daher sind zwingend eine Atemwegssicherung mit einem Endotrachealtubus oder einem supraglottischen Atemwegshilfsmittel sowie eine manuelle oder maschinelle Beatmung erforderlich.

Tab. 4.9 Kurzprofil Antiemetikum Dimenhydrinat. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Vomex A®

Darreichungsform

1 Amp. à 10 ml/62 mg Dimenhydrinat

Wirkmechanismus

Hemmung von zentralen Histamin- und muskarinischen Acetylcholin-Rezeptoren → antiemetisch, anticholinerg, zentral dämpfend, gegen Schwindel

Indikationen

Übelkeit, Erbrechen, Schwindel

Kontraindikationen (Auswahl)

Krampfanfall, Epilepsie, erhöhter Augeninnendruck (Glaukom), Asthmaanfall, möglichst keine Anwendung in Schwangerschaft und Stillzeit

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

starke Sedierung, Anstieg des Augeninnendrucks, Tachykardien

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 3–5 min Wirkdauer: 3–6 h

62–186 mg i. v./i. o.

Tab. 4.10 Kurzprofil Antiemetikum Ondansetron. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Zofran®

Darreichungsform

1 Amp. à 2/4 ml ≙ 4/8 mg Ondansetron

Wirkmechanismus

selektive Hemmung peripherer und zentraler Serotoninrezeptoren (5-HT3)

Indikationen

Übelkeit, Erbrechen

relative Kontraindikationen (Auswahl)

Schwangerschaft, Stillzeit, Long-QT-Syndrom

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Überempfindlichkeitsreaktionen, Kopfschmerzen, EKG-Veränderungen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

124

Wirkeintritt: rasch Wirkdauer: 3 h

4 mg langsam i. v.

Spezielle Pharmakologie Indikationen zur präklinischen Narkose • Eine Narkose im Rettungsdienst wird i. d. R. eingeleitet (notärztliche Aufgabe), wenn die Atemwege gesichert werden müssen (z. B. bei Bewusstlosigkeit) und/oder eine akute respiratorische Insuffizienz nur durch eine invasive Beatmung (S. 219) behandelt werden kann. Letztere ist nur unter Narkose möglich: ● akute respiratorische Insuffizienz (Hypoxie und/oder Atemfrequenz < 6 oder > 29/min) + Kontraindikationen gegen bzw. Versagen einer nicht invasiven Beatmung (S. 219) + Vorliegen nicht rasch reversibler Ursachen (z. B. schwere Verletzungen von Mittelgesicht und Rachen, Atemwegsverlegung mit respiratorischer Insuffizienz, schweres Thoraxtrauma) ● Hypoxie mit SpO2 < 90 % trotz O2-Gabe (unter Berücksichtigung z. B. von Vorerkrankungen, Zustandsverschlechterung, Erschöpfung) ● Bewusstseinsstörungen/Bewusstlosigkeit/neurologisches Defizit mit Aspirationsgefahr (GCS < 9 Punkte) ● Polytrauma bzw. schweres Trauma, drohende Kreislaufinstabilität mit RRsyst < 90 mmHg ● schwere Hypothermie, Inhalationstrauma mit zunehmendem Stridor, großflächige Verbrennungen ● Atemwegsverlegung, z. B. bei Epiglottitis ● stärkste Schmerzen ● anhaltender Status epilepticus ● Z. n. Reanimation (Analgosedierung) Problematik im Rettungsdienst • Eine Narkose bedeutet immer einen erheblichen Eingriff in die Vitalfunktionen. Im Rettungsdienst kommen weitere Herausforderungen hinzu: ● Die Patienten sind (im Unterschied zu geplanten Narkosen) nicht nüchtern, ihr Aspirationsrisiko ist daher deutlich erhöht. ● Die Vorerkrankungen sind nicht (vollständig) bekannt. ● Eine ausreichende Oxygenierung ist häufig schwierig: Bedingt durch eine akute respiratorische Insuffizienz, einen stressbedingt erhöhten Sauerstoffverbrauch oder ein Schockgeschehen steigt die SpO2 bei einer Maskenbeatmung instabiler Notfallpatienten schlechter an. Während der Narkoseeinleitung fällt sie schneller ab. ● Ein vorbestehender Volumenmangel kann schwere Blutdruckabfälle verursachen. ● Die Arbeitsbedingungen sind (im Vergleich zu einem OP) suboptimal, z. B. Beleuchtung, Lärm, allgemeine Hektik, geringere materielle und personelle Ressourcen bei Komplikationen. Voraussetzung für ein Gelingen der präklinischen Narkose ist, dass alle (!) Beteiligten die Maßnahmen sicher beherrschen und sich an die Kommunikationsregeln der Teamarbeit (S. 21) halten. Folgende Maßnahmen können die Situation „entschärfen“: ● strenge Indikationsstellung für die Einleitung einer Notfallnarkose ● Rapid Sequence Induction (RSI, Blitz-, Nicht-Nüchtern-Einleitung) zur Reduktion des Aspirationsrisikos (s. u.) ● griffbereites Vorbereiten aller evtl. benötigten Materialien ● sofern zeitlich möglich: Einleitung der Narkose in sicherer Umgebung (am besten im RTW), um bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen und um bei Komplikationen besser reagieren zu können

Vorbereiten, Einleiten und Fortführen der Narkose Vorbereitung • Eine gute Vorbereitung ist entscheidend für den weiteren Ablauf. Spezielle RSI-Schablonen und -Checklisten können hier sehr nützlich sein. ● (rasche Fremd)anamnese nach dem AMPEL(N)-Schema: Allergien, Medikation, Persönliche Anamnese, Ereignis, letzte Nahrungsaufnahme, Narkoseanamnese ● bei wachen Patienten: kurze Aufklärung und Einholen des Einverständnisses ● Anlage von möglichst 2 (sicheren) i. v.-Zugängen ● standardisierte Vorbereitung aller für die Narkose, Intubation und Beatmung benötigten Materialien (S. 212) ● Aufziehen aller benötigten Medikamente, Spritzen mit Wirkstoff und Konzentration kennzeichnen ● Absaugbereitschaft herstellen (z. B. Absaugpumpe bereitlegen und einschalten) ● Standardmonitoring etablieren: EKG, RR-Messung, Pulsoxymetrie, Kapnometrie

! Merke Aufgaben des RS

Die Durchführung einer Narkose ist eine notärztliche Aufgabe, als RS müssen Sie aber die erforderlichen Geräte, Abläufe und Medikamente kennen, um situationsgerecht assistieren zu können. Ihre Hauptaufgaben sind das Vorbereiten der notwendigen Utensilien und Medikamente, die Assistenz des NA und die engmaschige Überwachung der Vitalparameter des Patienten. Narkoseeinleitung 1. Positionierung des Patienten für die Intubation (S. 214) 2. Präoxygenierung spontan atmender Patienten über eine dicht sitzende Gesichtsmaske (100 % O2 für 3–4 min), ggf. assistierte Beatmung bzw. wenige tiefe Atemzüge unter 100 % O2 um die Hypoxietoleranz zu verlängern 3. Applikation der Narkosemedikamente in der angeordneten Reihenfolge und Dosierung, immer unter Wiederholung der ärztlichen Anweisung 4. sobald der Patient das Bewusstsein verloren hat und das Relaxans wirkt: Anreichen von Laryngoskop und Endotrachealtubus mit Führungsstab für eine zügige Intubation (S. 214) 5. Lagekontrolle (auch nach jeder Umlagerung!) und Sicherung des Tubus 6. engmaschiges Monitoring der Vitalparameter (RR, Kapnometrie, SpO2, EKG), der Beatmungsparameter und der Narkosetiefe Fortführung • Um die Narkose aufrechtzuerhalten, wird eine Analgosedierung (Opioid + Propofol/Ketamin/Benzodiazepin, ggf. auch Muskelrelaxans) vorgenommen. Sie gewährleistet, dass der Patient den Tubus toleriert und beatmet werden kann. Er ist damit transportfähig (auf Wärmeerhalt achten!). Bei unerwünschten Abweichungen der Vitalwerte wird z. B. durch das Anpassen der Infusionstherapie, der Beatmungsparameter und/oder der Medikation gegengesteuert. Das Monitoring muss dokumentiert werden.

125

4

Pharmakologie möglichen, i. d. R. Succinylcholin (▶ Tab. 4.13) oder Rocuronium (▶ Tab. 4.14)

RETTEN TO GO

Narkotika

Narkose im Rettungsdienst ●





Durch eine Narkose (Allgemeinanästhesie) werden das Bewusstsein und die Schmerzempfindung ausgeschaltet und die vegetativen Reflexe gedämpft. Da die Schutzreflexe und die Spontanatmung ausfallen, müssen die Patienten beatmet werden. Die Einleitung einer präklinischen Narkose ist eine notärztliche Aufgabe. Indikationen: z. B. akute respiratorische Insuffizienz (nur durch invasive Beatmung behandelbar), Aspirationsgefahr bei Bewusstseinsstörungen, stärkste Schmerzen, Polytrauma, schweres Trauma mit Kreislaufinstabilität Die präklinische Narkose sollte am besten im RTW durchgeführt werden. Die Aufgaben von RS sind in erster Linie das Bereitlegen aller notwendigen Materialien und Medikamente (aufgezogene, gekennzeichnete Spritzen), Assistenz des NA sowie die Überwachung und Dokumentation der Vitalparameter. Die Transportfähigkeit (Tubustoleranz und Beatmungsfähigkeit) des Patienten wird durch eine Analgosedierung gewährleistet.

Narkosemedikamente Folgende Substanzgruppen werden zur Einleitung und Aufrechterhaltung einer Narkose eingesetzt: ● Sauerstoff zur Präoxygenierung vor der Narkoseeinleitung, im Verlauf weiter zur Beatmung ● ein Opioid (S. 121) zur Schmerzausschaltung, typischerweise kurz wirksame Substanzen wie Fentanyl (▶ Tab. 4.7) oder Sufentanil (z. B. Sufenta® Injektionslösung) ● ein Narkotikum zur Ausschaltung des Bewusstseins und der Schutzreflexe, i. d. R. Propofol (▶ Tab. 4.11), Esketamin (▶ Tab. 4.12), Thiopental oder das Benzodiazepin Midazolam (▶ Tab. 4.8) ● ein Muskelrelaxans, um Eigenbewegungen des Patienten zu verhindern und eine endotracheale Intubation zu er-

Definition Narkotika Diese Substanzen rufen einen raschen, reversiblen Bewusstseinsverlust mit Ausfall der Schutzreflexe im Sinne einer Narkose hervor. Aufgrund der schlafinduzierenden Wirkung wird auch von Hypnotika gesprochen – hier ist jedoch die Abgrenzung zu „normalen“ Schlafmitteln unklar. Narkotika im Rettungsdienst • Es werden ausschließlich Substanzen zur i. v.-Applikation verwendet (intravenöse Anästhetika, Injektionsanästhetika). In der innerklinischen Medizin kommen auch gasförmige Narkotika (Narkosegase, Inhalationsanästhetika) zum Einsatz. Folgende Substanzen werden im RD häufig verwendet: ● Propofol (▶ Tab. 4.11) ist die Standardsubstanz zur Narkoseeinleitung bei kreislaufstabilen Patienten. Eine wichtige Nebenwirkung ist ein dosisabhängiger Blutdruckabfall. Propofol hat keine analgetischen Effekte. ● Esketamin (▶ Tab. 4.12) wirkt stark analgetisch, narkotisch und psychotrop. Eine alleinige Gabe löst eine dissoziative Anästhesie mit einem tranceartigen Zustand und unangenehmen Halluzinationen ohne Atemstillstand aus, daher wird zusätzlich immer ein Benzodiazepin (z. B. Midazolam) oder Propofol gegeben. Es bewirkt einen Blutdruckanstieg und ist daher auch bei kreislaufinstabilen Patienten geeignet (z. B. Traumapatienten). ● Midazolam (▶ Tab. 4.8): kurzwirksames Benzodiazepin, z. B. zur Aufrechterhaltung einer Narkose ● Thiopental (z. B. Trapanal®) ist ein Barbiturat mit geringer Atemdepression und starker neuroprotektiver Wirkung. Es eignet sich besonders für Patienten im Status epilepticus oder bei erhöhtem Hirndruck. Bei Myokardinfarkt oder im Schock ist es kontraindiziert, da es u. a. stark negativ inotrop wirkt und zu einem Blutdruckabfall führt.

Tab. 4.11 Kurzprofil Narkotikum Propofol. Kriterium

Besschreibung

Handelsname

z. B. Disoprivan®, Propofol®-Lipuro

Darreichungsform

Ampulle, Stechampulle mit 20 ml 1 % oder 2 %iger Sojaöl-Emulsion

Wirkmechanismus

vermutliche Bindung an GABA-Rezeptoren → ZNS-Dämpfung: sedierende, amnestische, zentral dämpfende und antikonvulsive Wirkung

Indikation

Narkose: Einleitung und Aufrechterhaltung

Kontraindikationen (Auswahl)

Schock, dekompensierte Herzinsuffizienz; Vorsicht bei instabiler Kreislaufsituation, Hypovolämie relative KI: Schwangerschaft

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

dosisabhängiger Blutdruckabfall, Atemstillstand, Unverträglichkeitsreaktionen

Pharkamokinetik

● ●

Dosierung

126

Wirkbeginn: unmittelbar nach Applikation Wirkdauer: 6–9 min

Einleitung einer Narkose

1–2,5 mg/kg KG i. v./i. o.

Aufrechterhaltung einer Narkose

4 mg/kg KG/h i. v. oder i.o. (Perfusor)

Kinder < 8 Jahre

2,5–4 mg/kgKG

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.12 Kurzprofil Narkotikum und Analgetikum Esketamin. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Ketanest S®

Darreichungsform

1 Amp. à 2 ml/50 mg Esketaminhydrochlorid

Wirkmechanismus

Antagonismus an NMDA-Rezeptoren → anästhetische, analgetische und, amnestische Wirkung zusätzliche Wirkungen: dissoziativ, sedierend, lokalanästhetisch, antikonvulsiv, bronchienerweiternd und sympathomimetisch (→ RR und Herzfrequenz ↑)

Indikationen

Analgesie bei Traumapatienten Intubation bei therapieresistentem Status asthmaticus Narkoseeinleitung bei hypotoner Kreislaufsituation

Kontraindikationen (Auswahl)

bekannte Überempfindlichkeit, arterielle Hypertonie (RR > 180/100 mmHG), Herzinsuffizienz, manifeste KHK, frischer Myokardinfarkt, Präeklampsie und Eklampsie, drohende Uterusruptur, Nabelschnurvorfall relative KI: Augenverletzungen, Glaukom, Schädel-Hirn-Trauma, erhöhter Hirndruck, ohne adäquate Beatmung

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Albträume, Halluzinationen, Übelkeit/Erbrechen, Anstieg von Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffverbrauch, Zunahme des Augeninnendrucks, des Muskeltonus und der Schleimbildung, Laryngospasmus und temporäre Atemdepression (abhängig von Dosis und Injektionsgeschwindigkeit), Arrhythmien

Dosierung

Narkose

initial 0,5–1(–2,5) mg/kg KG i. v./i.o., zur Aufrechterhaltung halbe Initialdosis alle 10–15 min nachinjizieren

Analgesie

● ● ● ●

i. v./i.o.: 0,125–0,25 mg/kg KG i. m.: 0,25–0,5 mg /kg KG Erwachsene nasal: 15–25 mg Kinder nasal: 0,25 mg/kg KG

Tab. 4.13 Kurzprofil Muskelrelaxans Succinylcholin (Suxamethonium). Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Pantolax®, Lysthenon-siccum®

Darreichungsform

z. B. 1 Amp. à 5 ml/100 mg Succinylcholin

Wirkmechanismus

depolarisierendes Muskelrelaxans: initiale Erregung und anschließende Blockade der neuromuskulären Endplatte

Indikation

Intubation bei Narkoseeinleitung

Kontraindikationen (Auswahl)

Hyperkaliämie, primäre Myopathien, Querschnittssyndrom, schwere Verbrennungen oder Verletzungen (nach 24–48 Stunden), fehlende Beatmungsmöglichkeit, Disposition zu maligner Hyperthermie

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Herzrhythmusstörungen, Hypo- oder Hypertonie, Bronchospasmen, anaphylaktischer Schock, Glaukomanfall, Hyperkaliämie, Erbrechen, schwere Azidose maligne Hyperthermie (sehr selten, aber gravierend!): fortbestehende Muskelkontraktionen trotz Relaxierung → lebensbedrohliche Überaktivierung des Stoffwechsels mit Tachykardie, Hyperkapnie, Anstieg der Körpertemperatur und Herzrhythmusstörungen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkbeginn („Anschlagzeit“): nach 30–60 s Wirkdauer: ca. 10 min

1–1,5 mg/kg KG i. v.

Die konkrete Auswahl der am besten geeigneten Substanz liegt in der notärztlichen Verantwortung. Entscheidungskriterien sind z. B. die kardiovaskuläre Situation des Patienten oder bestehende Verletzungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma mit Gefahr eines Hirndruckanstiegs).

Muskelrelaxanzien

Definition Muskelrelaxanzien Muskelrelaxanzien lösen durch eine Blockade der neuromuskulären Übertragung an der motorischen Endplatte der Muskelzellen eine reversible, schlaffe Lähmung der gesamten Skelettmuskulatur (inkl. Atemmuskulatur) aus. Sie bewirken keinen Bewusstseinsverlust und werden deshalb ausschließlich in Kombination mit Narkotika und Opioiden für eine Narkoseeinleitung bzw. -aufrechterhaltung eingesetzt. Wegen der Lähmung der Atemmuskulatur ist eine Beatmung über einen Endotracheltubus oder ein supraglottisches Atemwegshilfsmittel zwingend notwendig. 127

4

Pharmakologie

Tab. 4.14 Kurzprofil Muskelrelaxans Rocuronium. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Esmeron®

Darreichungsform

1 Amp. à 5 ml/50 mg Rocuroniumbromid

Wirkmechanismus

nicht depolarisierendes Muskelrelaxans: kompetitiver Antagonist an den ACh-Rezeptoren der motorischen Endplatte

Indikation

Intubation bei Narkoseeinleitung

Kontraindikationen (Auswahl)

fehlende Beatmungsmöglichkeit

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Tachykardie, Hypotonie, anaphylaktische Reaktionen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkbeginn („Anschlagzeit“): nach 90–120 s Wirkdauer: 30–90 min, vollständige Aufhebung der Wirkung innerhalb von 90 s durch die Injektion von Sugammadex

bei Blitzeinleitung im Rettungsdienst 1–1,5 mg/kg KG i. v., sonst 0,6 mg/kg KG i. v.

Depolarisierende Muskelrelaxanzien • Die Substanzen führen an der motorischen Endplatte (wie der natürliche Transmitter Acetylcholin = ACh) zu einer Aktivierung der ACh-Rezeptoren und damit zunächst zu einem allgemeinen, unkoordinierten Muskelzittern. Die Aktivierung der Rezeptoren hält jedoch länger an, sodass keine weiteren Erregungen übertragen werden können und die Muskulatur gelähmt ist. Die Wirkung der wichtigsten Substanz Succinylcholin (= Suxamethonium, ▶ Tab. 4.13) beginnt bereits nach 30–60 Sekunden („Anschlagzeit“). Dies ist v. a. für Notfallnarkosen vorteilhaft, weil die für Aspirationen besonders kritische Phase zwischen der Gabe der Einleitungsmedikamente und der Intubation sehr kurz gehalten werden kann. Gelingt die Intubation nicht, ist die kurze Wirkdauer von 3–10 Minuten vorteilhaft. Aufgrund dieser Vorteile wird Succinylcholin in der Notfallmedizin trotz der Gefahr schwerwiegender Nebenwirkungen (z. B. Herzrhythmusstörungen, Blutdruckabfall) weiterhin eingesetzt. Nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien • Diese Substanzen, z. B. Rocuronium (▶ Tab. 4.14, ▶ Abb. 4.18), binden ohne eigene Wirkung an den ACh-Rezeptor (kompetitive Antagonisten) und blockieren so die neuromuskuläre Übertragung. Die Wirkung tritt erst nach 90–120 Sekunden ein. Ist eine Intubation nicht möglich, lässt sich die Wirkung von Rocuronium durch den spezifischen Antagonisten Sugammadex (z. B. Bridion®) innerhalb von ca. 90 Sekunden aufheben.

RETTEN TO GO Narkosemedikamente ● ●





128

Sauerstoff kurzwirksames Opioid zur Schmerzausschaltung (Fentanyl oder Sufentanil) Narkotikum zum Erzielen eines Bewusstseinsverlusts, v. a. Midazolam, Esketamin (zusätzlich analgetische Wirkung), Propofol oder Thiopental Muskelrelaxans zur Blockade der neuromuskulären Übertragung mit schlaffer Lähmung der gesamten Skelettmuskulatur (inkl. Atemmuskulatur): Succinylcholin (Suxamethonium), Rocuronium

Abb. 4.18 Nicht depolarisierende Muskelrelaxanzien.

Rocuronium ACh

Antidot: Sugammadex

Blockade der Acetylcholinrezeptoren (keine Depolarisation der motorischen Endplatte)

Erschlaffung der Skelettmuskeln (inkl. Atemmuskulatur)

Beatmung und Narkose notwendig

Die Substanzen bewirken eine schlaffe Lähmung auch der Atemmuskulatur. Der Patient muss daher beatmet werden.

4.2.5 Pharmakologie des Herz-Kreislauf-Systems Katecholamine Physiologische Grundlagen • Die Katecholamine Adrenalin (Epinephrin), Noradrenalin (Norepinephrin) und Dopamin werden im Nebennierenmark, in sympathischen Nervenendigungen und in einigen Bereichen des Gehirns synthetisiert. Adrenalin und Noradrenalin vermitteln über eine Stimulierung der α- und β-Rezeptoren die Effekte des Sympathikus (sympathomimetische Effekte: z. B. Steigerung von

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.15 Kurzprofil Sympathomimetikum Adrenalin (= Epinephrin). Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Suprarenin®, INFECTOKRUPP Inhal®

Darreichungsform

● ● ● ●

Wirkmechanismus

● ● ●

Indikationen

1 Amp. à 1 ml/1 mg Epinephrin 1 Stechamp. à 25 ml/25 mg Epinephrin Fertigspritze (z. B. Fastjekt®) 0,3 ml/0,3 mg Epinephrin Inhalationslösung 4 mg/ml, 0,56 mg Epinephrin/Hub Agonismus an Agonismus an der koronaren Agonismus an

α1-Rezeptoren: Vasokonstriktion, RR-Steigerung, abschwellende Wirkung β1-Rezeptoren: Anstieg von Herzfrequenz und Herzkraft, beschleunigte Reizleitung, Zunahme und zerebralen Durchblutung. β2-Rezeptoren: Hemmung der glatten Muskulatur → u. a. Bronchodilatation

i. v.

Herz-Kreislauf-Stillstand (kardiogener Schock)

i. m.

Anaphylaxie ab Grad II (1. Wahl!)

inhalativ

Obstruktion der oberen Atemwege, z. B. bei Krupp-Syndrom (S. 280)

Kontraindikationen (Auswahl)

Reanimation: keine; gerechtfertigte Anwendung bei schwerer Anaphylaxie trotz Kontraindikationen sonstige Situationen: arterielle Hypertonie, KHK, Glaukom, Tachykardien, Hyperthyreose, Phäochromozytom, Cor pulmonale

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Tachykardie, Extrasystolie, Kammerflimmern, Anstieg des kardialen O2-Verbrauchs, Blutdruckanstieg, Angina pectoris, Hyperglykämie, Hypokaliämie, Übelkeit/Erbrechen

Pharmakokinetik (i. v.-Bolus)



Dosierung

Reanimation



Wirkeintritt: sofort Wirkdauer: 3–5 min ● ●

Anaphylaxie

● ● ●

Obstruktion der oberen Atemwege

Erwachsene und Kinder > 12 Jahre: 1 mg (10 ml verdünnte Lösung) i. v. oder i.o., ggf. Wiederholung alle 3–5 min Kinder < 12 Jahre: 0,01 mg/kg KG i. v. oder i.o., ggf. Wiederholung alle 3–5 min Erwachsene und Kinder > 12 Jahre: 0,5 mg i. m., ggf. Wiederholung nach 5– 10 min Kinder 6–12 Jahre: 0,3 mg i. m. Kinder < 6 Jahre 0,15 mg i. m.

Inhalationslösung in Vernebler füllen und 7–14 Hübe (ca. 1–2 ml), entsprechend 4–8 mg Adrenalin inhalieren lassen

Herzfrequenz und Blutdruck, Erweiterung der Bronchien, Vasokonstriktion; ▶ Abb. 3.56). Dopamin hat v. a. als Neurotransmitter im Gehirn Bedeutung. Medizinischer Einsatz von Katecholaminen • Neben den natürlichen Katecholaminen Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin werden auch künstlich hergestellte Sympathomimetika eingesetzt, v. a. Dopexamin und Dobutamin. Die wichtigsten Unterschiede zwischen diesen Substanzen sind die Bindungsstärke zu den einzelnen Rezeptortypen und das Ausmaß, in dem sie diese stimulieren. Folgende Substanzen werden im Rettungsdienst am häufigsten eingesetzt: ● Adrenalin (▶ Tab. 4.15) vermittelt folgende Wirkungen: – α-Rezeptoren: Schleimhautabschwellung, Verengung der Gefäße → Zunahme von peripherem Widerstand und Blutdruck – β1-Rezeptoren: Steigerung von Herzfrequenz, Überleitungsgeschwindigkeit und Kontraktionskraft → Zunahme des Herzzeitvolumens, des Blutdrucks sowie der koronaren und zerebralen Durchblutung – β2-Rezeptoren: Erschlaffung der glatten Muskulatur, entscheidend v. a. in den Bronchien (→ Bronchodilatation), Wehenhemmung ● Noradrenalin (▶ Tab. 4.16) stimuliert am stärksten die α1Rezeptoren der Gefäße und bewirkt so eine starke Vasokonstriktion und einen deutlichen Anstieg des peripheren Widerstands und des Blutdrucks.



Akrinor® (Theodrenalin/Cafedrin) ist ein Mischpräparat verschiedener adrenerg wirkender Substanzen und wird bei leichteren Hypotonien eingesetzt.

RETTEN TO GO Katecholamine Im Rettungsdienst werden am häufigsten Adrenalin und Noradrenalin eingesetzt. ● Adrenalin stimuliert α1-Rezeptoren (Vasokonstriktion, RR-Steigerung), β1-Rezeptoren (Steigerung von Herzfrequenz, Überleitungsgeschwindigkeit und Kontraktionskraft) und β2-Rezeptoren (Bronchodilatation). Es wird bei Herz-Kreislauf-Stillstand (i. v.), Anaphylaxie (i. m., 1. Wahl) und bei Obstruktionen der oberen Atemwege (inhalativ) angewendet. ● Noradrenalin stimuliert am stärksten die α1-Rezeptoren der Gefäße und bewirkt so eine starke Vasokonstriktion und einen Blutdruckanstieg. Es wird bei kritischen Blutdruckabfällen eingesetzt. ● Akrinor® ist ein Mischpräparat verschiedener adrenerg wirkender Substanzen und wird bei leichteren Hypotonien eingesetzt.

129

4

Pharmakologie

Tab. 4.16 Kurzprofil Sympathomimetikum Noradrenalin (= Norepinephrin). Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Arterenol®

Darreichungsform

1 Amp. à 1 ml/1 mg Norepinephrin, 1 Stechampulle à 25 ml/25 mg Norepinephrin

Wirkmechanismus

v. a. Agonismus an α1-Rezeptoren und β1-Rezeptoren (s. Adrenalin)

Indikationen

schwere Hypotonie, Schock, wenn durch Volumengabe keine Kreislaufstabilisierung zu erreichen ist

Kontraindikationen (Auswahl)

Vorsicht bei: KHK, Glaukom, Tachykardien, Hyperthyreose, Phäochromozytom, Cor pulmonale, schwerer Nierenfunktionsstörung

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Tachykardien, Herzrhythmusstörungen bis Kammerflimmern, Hyperglykämie, Hypokaliämie, Hyperkalzämie, myokardiale Ischämie, zu starker Blutdruckanstieg mit reflektorischer Bradykardie, Gefahr von zerebralen Blutungen und Lungenödem

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: sofort Wirkdauer: 1–2 min

0,6–12 ml/h, nach Wirkung (0,014–0,28 μg/kg/min)

Tab. 4.17 Kurzprofil Sympathikolytikum Urapidil. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Ebrantil®, Urapidil®

Darreichungsform

1 Amp. à 5 ml = 25 mg, à 10 ml = 50 mg Urapidil

Wirkmechanismus

Blockade von α1-Rezeptoren → Gefäßerweiterung und Abnahme des peripheren Widerstands → syst. und diast. RR ↓; zusätzlich zentrale Sympathikusblockade über Serotoninrezeptoren

Indikation (im Rettungsdienst)

hypertensive Entgleisung

Kontraindikationen (Auswahl)

Aortenisthmusstenose, arteriovenöser Shunt

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, EKG-Veränderungen, Schweißausbrüche, Tachykardie, Angina pectoris

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 2–5 min Wirkdauer: 1–3 h

10–50 mg langsam i. v./i. o. ggf. Gabe über Perfusor: initial bis 2 mg/min, dann 9 mg/h Erhaltungsdosis

Antihypertensiva Definition Antihypertensiva Diese Substanzen werden zur Senkung eines erhöhten Blutdrucks eingesetzt (Blutdrucksenker). Synonym • Antihypertonika Dauerbehandlung vs. Notfalltherapie des Bluthochdrucks • Die Dauertherapie (S. 310) soll den Blutdruck möglichst dauerhaft in den Normalbereich senken und so die kardiovaskuläre Sterblichkeit reduzieren. Die Wirkspiegel sollen möglichst konstant sein, lange Halbwertszeiten (HWZ) sind vorteilhaft. Da die Medikation i. d. R. langfristig eingenommen werden soll, sind eine nur 1- bis 2-mal tägliche Einnahme und eine geringe Nebenwirkungsrate wichtig. In der Notfallsituation einer hypertensiven Entgleisung (S. 310) geht es hingegen darum, den Blutdruck zügig, verlässlich und stark abzusenken. Nebenwirkungen einer dauerhaften Einnahme sind nicht relevant. Eine kurze HWZ ist vorteilhaft, da sich die Wirkung so besser steuern lässt. 130

Substanzen zur Behandlung hypertensiver Entgleisungen • Die im Rettungsdienst am häufigsten eingesetzte Substanz ist das Sympatholytikum Urapidil (z. B. Ebrantil®, ▶ Tab. 4.17): Es hemmt die sympathische Aktivität über eine Blockade der peripheren α1-Rezeptoren und stimuliert zudem Serotoninrezeptoren im Gehirn. Die Folge ist eine Abnahme des peripheren Gefäßwiderstands und damit ein Absinken des Blutdrucks, wegen der Wirkung auf die Serotoninrezeptoren ohne reflektorische Tachykardie. Eine ähnliche Wirkung hat das Sympatholytikum Clonidin (z. B. Catapresan®). Hauptsächlich über eine periphere Gefäßerweiterung wirken Nitroglyzerin (▶ Tab. 4.18), das v. a. bei begleitender Anginapectoris-Symptomatik eingesetzt wird, sowie die Kalziumkanalblocker Nitrendipin (z. B. Bayotensin® akut) und Nifedipin (z. B. Adalat®) zur sublingualen Anwendung.

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.18 Kurzprofil Antianginosum Glyceroltrinitrat. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Nitrolingual akut® Spray

Behältnis

Dosierspray 0,4 mg/Hub Glyceroltrinitrat

Wirkmechanismus

Freisetzung von NO → Erweiterung der arteriellen Widerstandsgefäße und der venösen Kapazitätsgefäße → verbesserte Koronardurchblutung, Abnahme der Vor- und Nachlast des Herzens → Reduktion der Herzarbeit

Indikationen

akute Angina pectoris (im Anfall und vorbeugend), akutes Koronarsyndrom, akute Linksherzinsuffizienz mit Lungenödem

Kontraindikationen (Auswahl)

Hypotonie < 90 mmHg, Einnahme von Sildenafil oder verwandten Substanzen in den letzten 48 Stunden, Schock, Volumenmangel

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Kopfschmerzen, Schwindel, Reflextachykardie, Blutdruckabfall, Übelkeit/Erbrechen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 1–2 min Wirkdauer: 30–60 min

1–3 Sprühstöße (0,4–1,2 mg) bei angehaltenem Atem direkt unter die Zunge (sublingual)

RETTEN TO GO Antihypertensiva Antihypertensiva sind Blutdrucksenker. Im RD sollen sie in der Akutsituation einer hypertensiven Entgleisung den Blutdruck zügig senken. Sympatholytika wie Urapidil erreichen dies, indem sie über eine periphere Blockade der α1Rezeptoren den Gefäßwiderstand reduzieren. Weitere eingesetzte Substanzen sind Nitroglyzerin und die Kalziumkanalblocker Nitrendipin und Nifedipin.



stanz eingenommen und erhält dann ein Nitrat, kann dies zu einem lebensbedrohlichen Blutdruckabfall führen! Fragen Sie daher explizit nach der Einnahme potenzfördernder Substanzen in den letzten 2 Tagen und erklären Sie, warum es wichtig ist, eine ehrliche Antwort zu geben! Auch der vorhergehende Konsum von Alkohol kann die blutdrucksenkende Wirkung verstärken. Es besteht keine Explosionsgefahr: Nitroglyzerin ist zwar ein potenter Sprengstoff, in medizinischen Präparaten ist die Konzentration jedoch so gering, dass sie nicht explodieren können.

RETTEN TO GO

Antianginosa Definition Antianginosa Diese Substanzen werden zur symptomatischen Behandlung von Angina-pectoris-Beschwerden (S. 300) eingesetzt. Die wichtigsten Vertreter sind die Nitrate, allen voran Nitroglyzerin („Nitro“). Nitroglyzerin (Glyceroltrinitrat, z. B. Nitrolingual akut® Spray, ▶ Tab. 4.18) setzt bei seinem Abbau Stickstoffmonoxid (NO) frei, das zu einer Entspannung der glatten Gefäßmuskulatur führt. Die Folgen sind eine Gefäßerweiterung, eine Blutdrucksenkung und eine bessere Durchblutung der Koronararterien. Die Gefäßerweiterung senkt den peripheren Widerstand und damit die Nachlast des Herzens. Eine Erweiterung der venösen Kapazitätsgefäße fördert ein „Pooling“ des Blutes in den Beinen und senkt damit die Vorlast des Herzens (S. 57). Insgesamt wird das Herz so entlastet. Beachten Sie für eine sichere Anwendung folgende Aspekte: ● Nitroglyzerin darf nicht inhaliert werden, der Patient muss daher während der Applikation den Atem anhalten. ● Die Anwendung kann zu einem starken Blutdruckabfall führen: Der Patient muss daher während und nach der Anwendung sitzen, ein RR-Monitoring ist obligatorisch. ● verstärkter Blutdruckabfall nach der Einnahme von Sildenafil (z. B. Viagra®) oder einer verwandten Substanz: Hat ein Patient in den letzten 48 Stunden (!) eine solche Sub-

Antianginosa Mit Nitroglyzerin (Glyceroltrinitrat, „Nitro“) wird dem Körper Stickstoffmonoxid (NO) von außen zugeführt. Dadurch sinkt der Tonus der Gefäßmuskulatur und die Gefäße erweitern sich (Vasodilatation). Im RD wird Nitroglyzerin i. d. R. als Spray verwendet und zur symptomatischen Therapie von Angina-pectoris-Beschwerden eingesetzt.

Antiarrhythmika Definition Antiarrhythmika Antiarrhythmika sind alle Substanzen, die zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen (S. 307) eingesetzt werden. Überblick • Herzrhythmusstörungen (HRST) können an unterschiedlichen Stellen des Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystems des Herzens (S. 61) entstehen und sich als zu schneller Rhythmus (tachykarde Störungen), zu langsamer Rhythmus (bradykarde Störungen) und/oder als unregelmäßige Herztätigkeit (Arrhythmien) manifestieren. So vielfältig wie die möglichen Störungen sind auch die Strukturen und Wirkmechanismen der Antiarrhythmika. Entsprechend des Wirkmechanismus werden verschiedene Substanzklassen unterschieden (▶ Tab. 4.19).

131

4

Pharmakologie

Tab. 4.19 Einteilung der Antiarrhythmika (nach Vaughan Williams, Auswahl). Klasse

wichtige Substanzen im Rettungsdienst

Wirkmechanismus

Einsatzbereiche

I: Na+-Kanal-Blocker



Hemmung des schnellen Na+-Einstroms in Herzmuskelzellen

kaum noch verwendet

II: β-Blocker

Metoprolol (z. B. Beloc®)

Blockade der β1-Rezeptoren am Herzen → Abnahme von Herzfrequenz und Kontraktionskraft

tachykarde Störungen

III: K+-Kanal-Blocker

Amiodaron (z. B. Cordarex®)

Hemmung des Ausstrom von K+ aus den Herzmuskelzellen → Erregungsleitung und Herzfrequenz ↓

Kammerflimmern, andere tachykarde Störungen

IV: Kalziumkanalblocker

Verapamil (z. B. Isoptin®)

Hemmung des Einstroms von Ca2 + in die Herzmuskelzellen → Erregungsbildung und -leitung ↓, Herzfrequenz ↓

tachykarde Störungen

unklassifizierte Substanzen

Adenosin (z. B. Adrekar®)

Aktivierung von Adenosinrezeptoren → verlängerte Überleitungszeit im AV-Knoten

bestimmte tachykarde Störungen

Atropin (Atropinsulfat Braun®)

Antagonist an Acetylcholinrezeptoren → am Herzen Erregungsbildung und -leitung ↑ → Herzfrequenz ↑

bradykarde Störungen

Therapie von Rhythmusstörungen • Eine medikamentöse Therapie ist nur sinnvoll, wenn der Patient durch Symptome beeinträchtigt ist oder die HRST das Überleben des Patienten gefährdet (v. a. erhöhtes Risiko für plötzlichen Herztod): Behandelt wird der Patient, nicht das EKG! Bei der Gabe von Antiarrhythmika besteht immer die Gefahr, dass diese selbst schwerwiegende Rhythmusstörungen auslösen: Eine selektive Unterdrückung von HRST ist nicht möglich. Antiarrhythmika greifen immer in die gesamte Erregungsbildung und -ausbreitung sowie in die elektromechanische Kopplung des Herzens ein. Die wichtigsten Therapieziele sind daher eine Ökonomisierung der Herzarbeit (= Normalisierung der Auswurfleistung des Herzens) und eine Reduktion des Risikos für bedrohliche Rhythmusstörungen. Antiarrhythmika im Rettungsdienst β-Blocker (Betablocker) bewirken über eine Blockade der β1-Rezeptoren am Herzen eine Abnahme von Herzfrequenz, Überleitungsgeschwindigkeit, Kontraktionskraft und O2-Verbrauch. Sie sind damit zur Behandlung tachykarder Herzrhythmusstörungen geeignet. Da sie den Blutdruck senken, werden sie auch in der Dauertherapie der arteriellen Hypertonie eingesetzt. Bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom (S. 300) werden sie gegeben (sofern der Blutdruck stabil ist), weil sie den Sauerstoffverbrauch des Herzens reduzieren. Je nach Substanz blockieren sie auch die β2-Rezeptoren in den Bronchien, es besteht daher die Gefahr einer Bronchokonstriktion, v. a. bei Patienten mit Asthma bronchiale. Im Rettungsdienst wird am häufigsten Metoprolol zur i. v.-Gabe verwendet (▶ Tab. 4.20). ● Amiodaron hemmt den Ausstrom von K+ aus den Herzmuskelzellen und verlangsamt so die Erregungsleitung und die Herzfrequenz. Das wichtigste Einsatzgebiet im Rettungsdienst ist die kardiopulmonale Reanimation bei Kammerflimmern. Zusätzlich kann es bei anderen Tachyarrhythmien gegeben werden, wenn andere Antiarrhythmika nicht gewirkt haben (▶ Tab. 4.21). ● Der Kalziumkanalblocker Verapamil (▶ Tab. 4.22) hemmt den Einstrom von Ca2 + in die Herzmuskelzellen und verlangsamt so die Erregungsbildung und damit die Herzfrequenz. Die Substanz kann daher bei tachykarden Rhythmusstörungen gegeben werden, z. B. bei Vorhofflimmern. ● Adenosin (▶ Tab. 4.23) verlängert u. a. die Überleitungszeit im AV-Knoten. Dadurch können bei bestimmten Tachykar●

132





dien Reentry-Kreise unterbrochen und der normale Sinusrhythmus wiederhergestellt werden. In den aktuellen Leitlinien wird Adenosin nur noch eingeschränkt bei regelmäßigen supraventrikulären Tachykardien empfohlen, wenn andere Substanzen kontraindiziert sind. Die Halbwertszeit ist sehr kurz, die Substanz wird immer als Bolus gegeben. Atropin ist ein Agonist an muskarinergen Acetylcholinrezeptoren (Parasympatholytikum), d. h., es blockiert u. a. die hemmende Wirkung des Parasympathikus auf das Herz: Die Folge sind ein Anstieg der Herzfrequenz und der Überleitungsgeschwindigkeit im AV-Knoten. Der Einsatzbereich sind daher bradykarde Rhythmusstörungen. Zusätzlich wird Atropin wegen seiner parasympatholytischen Wirkung auch als Antidot bei Vergiftungen durch Organophosphate (S. 519) eingesetzt. Bei Torsade-de-Pointes-Tachykardien kann Magnesiumsulfat gegeben werden (10 %, 2,5 g i. v. oder i.o.).

RETTEN TO GO Antiarrhythmika Antiarrhythmika werden zur Behandlung von symptomatischen Herzrhythmusstörungen (HRST) eingesetzt. Folgende Substanzen sind im Rettungsdienst relevant: ● β-Blocker (z. B. Metoprolol) blockieren am Herzen β1Rezeptoren und senken so die Herzfrequenz. Indikationen: tachykarde HRST (z. B. Vorhofflimmern/-flattern), arterielle Hypertonie, akutes Koronarsyndrom. ● Amiodaron hemmt den Ausstrom von K+ aus den Herzmuskelzellen und verlangsamt so die Erregungsleitung und die Herzfrequenz. Die Hauptindikation ist die Reanimation bei anhaltendem Kammerflimmern. ● Der Kalziumkanalblocker Verapamil hemmt den Einstrom von Ca2 + in Herzmuskelzellen und verlangsamt so die Erregungsbildung und -leitung. Das Einsatzgebiet sind tachykarde HRST, z. B. Vorhofflimmern. ● Adenosin: nur bei speziellen tachykarden HRST, wenn andere Substanzen kontraindiziert sind ● Atropin: v. a. bei Bradykardien und Bradyarrhythmien ● Magnesiumsulfat: bei Torsade-de-Pointes-Tachykardien

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.20 Kurzprofil Antiarrhythmikum β-Blocker Metoprolol. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Beloc®, Lopresor®

Darreichungsform

1 Amp. à 5 ml/5 mg Metoprololtartrat

Indikationen

Vorhoftachykardien, Vorhofflattern/-flimmern, Kardioprotektion („Herzschutz“) bei akutem Koronarsyndrom, arterielle Hypertonie (Dauertherapie)

Kontraindikationen (Auswahl)

Bradykardien, AV-Block > II°, Schock, Hypotonie (RRsyst < 90 mmHg), schwere Herzinsuffizienz, pAVK; Vorsicht bei Asthma bronchiale

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Bradykardie, AV-Überleitungsstörungen, Hypotonie, Asthmaanfälle (β2-Blockade)

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 3–4 min Wirkdauer: 8–15 h

initial 5 mg (1–2 ml/min) i. v./i.o., ggf. Wiederholung nach 5–10 min

Tab. 4.21 Kurzprofil Antiarrhythmikum Amiodaron. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Cordarex®, Amiodarex®

Darreichungsform

1 Amp. à 3 ml/150 mg Amiodaronhydrochlorid

Indikationen

anhaltendes Kammerflimmern während einer kardiopulmonalen Reanimation; andere tachykarde Rhythmusstörungen (bei Unwirksamkeit anderer Antiarrhythmika)

Kontraindikationen (Auswahl)

im Reanimationsfall: keine sonst: Bradykardien, schwere Hypotonien, schwere Herzinsuffizienz, Hypokaliämie, Jodallergie, Schilddrüsenerkrankungen

unerwüschte Wirkungen (Auswahl)

verstärkte Rhythmusstörungen bis zu Kammerflimmern, Blutdruckabfall, anaphylaktische Reaktionen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach wenigen Minuten Wirkdauer: bis zu 4 h

Reanimation (Erwachsene)

300 mg i. v. oder i.o. als Bolus nach dem 3. erfolglosen Schock; ggf. nach dem 5. Schock erneut 150 mg

tachykarde Rhythmusstörungen

300 mg als Kurzinfusion über 20–60 min, danach Dauerinfusion 900 mg über 24 h

Tab. 4.22 Kurzprofil Antiarrhythmikum Verapamil. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Isoptin Injektionslösung

Behältnis

1 Amp. à 2 ml/5 mg Verapamil

Indikationen

tachykarde Rhythmusstörungen, z. B. Vorhofflimmern/-flattern, nicht Mittel der 1. Wahl

Kontraindikationen (Auswahl)

Schock, AV-Block II° + III°, schwere Herzinsuffizienz, Schwangerschaft und Stillzeit

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Bradykardie bis Asystolie, Hypotonie

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkdauer: ca. 4 h HWZ: 2–5 h

2,5–5 mg langsam über mind. 2 min i. v. oder i.o., ggf. WH nach 5–10 min

133

4

Pharmakologie

Tab. 4.23 Kurzprofil Antiarrhythmikum Adenosin. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Adrekar®

Darreichungsform

1 Amp. à 1 ml/3 mg Adenosin, 1 Stechamp. à 2 ml/6 mg Adenosin

Indikationen

regelmäßige supraventrikuläre Tachykardie, wenn andere Substanzen kontraindiziert sind

Kontraindikationen (Auswahl)

AV-Block II° + III°, Sick-Sinus-Syndrom (außer Schrittmacher-Träger), QT-Verlängerung, obstruktive Atemwegserkrankungen, ACS

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Abklingen i. d. R. innerhalb kürzester Zeit: Bradykardie, (kurzzeitige) Asystolie, Extrasystolen, Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Thoraxschmerzen, Flush (Patienten warnen)

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: sofort Wirkdauer: < 10 s

1. Dosis: 6 mg*, bei Nichtansprechen: 2. Dosis: 12 mg*, 3. Dosis: 12 mg* * jeweils i. v. oder i.o., schnell injizieren und mit NaCl nachspülen

Tab. 4.24 Kurzprofil Antiarrhythmikum Atropin. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Atropinsulfat Braun®

Darreichungsform

1 Amp. à 1 ml/0,5 mg Atropinsulfat; Antidot: 10 ml/100 mg Atropinsulfat

Indikationen

symptomatische Bradykardie bzw. bradykarde HRST, AV-Blockierungen, Intoxikation mit Organophosphaten (S. 519)

Kontraindikationen (Auswahl)

Tachykardie, paralytischer Ileus, Glaukom beim Einsatz als Antidot: keine Kontraindikationen

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Tachykardie, bei höherer Dosis Arrhythmien, verkürzte AV-Überleitung, Unruhe und Erregung, Verwirrtheit, Delir, Krämpfe, Mundtrockenheit, Glaukomanfall

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 5–40 s Wirkdauer: 30–120 min

bei Bradykardie

0,5–3 mg i. v., i.o. oder i. m.

als Antidot

2–5 mg alle 10 min bis Erfolg i. v., i.o. oder i. m.

bei Überdosierung

Physostigmin 1–2 mg i. v.

4.2.6 Pharmakologie der Atmung

Bronchospasmolytika

Leitsymptom Atemnot • Atemnot ist ein häufiger Grund für die Alarmierung des Rettungsdienstes. Für die wichtigsten Ursachen siehe das Kapitel Respiratorische Notfälle (S. 256). Die Patienten empfinden Atemnot subjektiv als äußerst quälend und dramatisch. Dieser Stress erhöht zusätzlich den Sauerstoffbedarf, was aber durch die Störung der Atemfunktion nicht erfüllt werden kann. Es resultiert ein Teufelskreis aus Stress, erhöhtem Sauerstoffbedarf und zunehmender Sauerstoffschuld des Organismus.

Definition Bronchospasmolytika

Medizinischer Sauerstoff Siehe das Kapitel Arbeitstechniken (S. 216).

134

Die Substanzen bewirken eine Erschlaffung der Bronchialmuskulatur und erweitern so die Atemwege. Die wichtigste Indikation ist akute Atemnot bei Patienten mit Asthma bronchiale oder COPD. Synonym • Bronchodilatatoren Akute Bronchialobstruktion • Bei einem Asthmaanfall (S. 261) führt eine akute, reversible Verengung der Bronchien zu Atemnot, bei einer akuten Exazerbation einer COPD (S. 264) ist das Problem eine akute Verschlechterung einer chronisch fixierten Obstruktion. Das therapeutische Vorgehen in der Akutsituation ist vergleichbar: Die Ziele sind eine Relaxierung der Bronchialobstruktion mit Erweiterung der Atemwege und eine Kontrolle der Entzündungsreaktion.

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.25 Kurzprofil β2-Sympathomimetikum Salbutamol. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Sultanol® Inhalationslösung, Sultanol forte® Fertiginhalat

Darreichungsform

Inhalationslösung 1 ml/5 mg Sultanol, Fertiginhalat: 1 Amp. à 2,5 ml/5 mg Sultanol

Wirkmechanismus

Stimulation der β2-Rezeptoren mit Relaxation der glatten Muskulatur bei inhalativer Anwendung v. a. in den Bronchien, geringer in den Gefäßen und im Uterus, zusätzliche Stimulation der β1-Rezeptoren am Herzen möglich

Indikationen

Bronchospasmen bei Asthma bronchiale und COPD

Kontraindikationen (Auswahl)

Vorsicht bei Patienten mit Hyperthyreose, schweren Herzerkrankungen, Phäochromozytom, schwerer/ unbehandelter Hypertonie

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Tachykardie, Extrasystolen, Blutdruckanstieg, Übelkeit, Schwindel

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

sofortiger Wirkeintritt Wirkdauer 4–6 h

1,25–2,5 mg (5–10 Trpf. Fertiginhalat in 3 ml NaCl 0,9 % zur Verneblung), ggf. Wiederholung nach 15– 20 min

Physiologie • Die glatte Muskulatur der Bronchien verfügt u. a. über folgende Rezeptoren, vgl. ▶ Abb. 3.56: ● β2-Rezeptoren (Sympathikus): Ihre Aktivierung durch den Transmitter Adrenalin bewirkt eine Erschlaffung der Muskulatur sowie eine verminderte Freisetzung von Acetylcholin und Histamin. ● muskarinerge Rezeptoren (Parasympathikus): Ihre Aktivierung durch den Transmitter Acetylcholin bewirkt eine Konstriktion der Muskulatur und damit eine Verengung der Bronchien. β2-Sympathomimetika (β2-Agonisten) • Diese Substanzen stimulieren sehr stark die β2-Rezeptoren und sind die am stärksten wirksamen Bronchodilatatoren. Im Rettungsdienst sind v. a. folgende Substanzen von Bedeutung: ● Salbumatol (▶ Tab. 4.25) wird inhalativ verabreicht, um systemische Nebenwirkungen zu vermeiden, oft in Kombination mit Iptratropiumbromid (s. u.). ● Reproterol (z. B. Bronchospasmin®) wird bei schwerer Atemnot i. v. oder i.o. injiziert, wenn die inhalative Gabe von Salbutamol nicht erfolgreich war. Zu beachten ist ein erhöhtes Risiko für systemische Nebenwirkungen, insbesondere für Tachykardien und tachykarde Herzrhythmusstörungen (EKG-, SpO2- und RR-Monitoring!). Eine weitere Indikation für die i. v.-Anwendung im Rettungsdienst sind vorzeitige Wehen (S. 484). Anticholinergika (Parasympatholytika) • Die Substanzen hemmen die muskarinergen Rezeptoren, bei inhalativer Anwendung bewirkt dies eine Erweiterung der Bronchien. Am häufigsten wird Ipratropiumbromid gegeben. Für den Einsatz im Rettungsdienst gibt es gebrauchsfertige Lösungen zur Inhalation (z. B. Atrovent® 250 μg/ml Inhalationslösung).





Das Sympathomimetikum Adrenalin (▶ Tab. 4.15) wird v. a. bei Kindern mit Bronchiolitis (S. 278), Pseudokrupp (S. 280) oder Epiglottitis (S. 279) inhalativ als Verneblerlösung gegeben. Bei schwerer Bronchialobstruktion kann das Glukokortikoid Prednisolon i. v. (▶ Tab. 4.26) gegeben werden, um die Abschwellung der Schleimhäute zu unterstützen.

RETTEN TO GO Pharmakologie der Atmung ●



Medizinischer Sauerstoff wird im Rettungsdienst bei Hypoxien und bei der Beatmung eingesetzt. Bronchospasmolytika (Bronchodilatatoren) erweitern die Atemwege, indem sie eine Erschlaffung der Bronchialmuskulatur bewirken. So lindern sie akute Atemnot (Bronchospasmus) bei Asthma bronchiale oder COPD. Folgende Wirkstoffgruppen werden am häufigsten eingesetzt: – β2-Sympathomimetika aktivieren β2-Rezeptoren in den Bronchien und führen so zu einer Erschlaffung der Bronchialmuskulatur. Im RD häufig verwendet werden Salbutamol inhalativ und (bei Unwirksamkeit von Salbutamol) Reproterol i. v. oder i.o. (Gefahr von Tachykardien und Rhythmusstörungen → EKG-Monitoring!). – Anticholinergika (Parasympatholytika) hemmen die Wirkung von Acetylcholin an den Muskarinrezeptoren, wodurch sich die Bronchialmuskulatur entspannt. Ipratropiumbromid (inhalativ) wird unterstützend zu β2Sympathomimetika eingesetzt.

Weitere Substanzen Bei lebensbedrohlichen Asthmaanfällen kann Magnesiumsulfat (10 %, 2 g) i. v. oder i.o. eingesetzt werden, um die verkrampfte Bronchialmuskulatur zu entspannen. Weitere Einsatzbereiche sind bestimmte tachykarde Rhythmusstörungen und Krampfanfälle bei Eklampsie (S. 481).



135

4

Pharmakologie

Tab. 4.26 Kurzprofil Glukokortikoide Prednisolon und Prednison. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Solu Decortin® (Prednisolon), Rectodelt® (Prednison)

Darreichungsform

Stechamp. à 250 mg/500 mg Prednisolon Zäpfchen (Supp.) à 100 mg Prednison

Wirkmechanismus

Unterdrückung entzündlicher Prozesse, abschwellend bei Schleimhautödemen, Hemmung der Bronchialobstruktion, Reduktion der Schleimproduktion

Indikationen (im Rettungsdienst)

anaphylaktische Reaktionen (2. Wahl nach Adrenalin!), schwere Asthmaanfälle, exazerbierte COPD Zäpfchen: Krupp-Syndrom (S. 280), akute Epiglottitis (S. 279)

Kontraindikationen

im Notfall keine

unerwünschte Wirkungen

im Notfall keine, in der Langzeittherapie vielfältig

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkbeginn: nach ca. 5 min (i. v.) bzw. nach 30 min (rektal) Wirkdauer: ca. 12–36 h

Anaphylaxie

● ●

Erwachsene: 1000 mg i. v. oder i.o. Kinder: 250 mg i. v. oder i.o.

akute bronchiale Obstruktion



Krupp-Syndrom

100 mg rektal oder 3–5 mg/kg KG i. v.



Erwachsene: 100–500 mg i.v Kinder: 2 mg/kg KG i. v.

4.2.7 Substanzen zur Behandlung anaphylaktischer Reaktionen Für den rettungsdienstlichen Alltag ist von den verschiedenen Typen der allergischen Reaktion nur die anaphylaktische Sofortreaktion, also die Typ-1-Allergie (S. 290) von Bedeutung. Das wichtigste Medikament zur Akuttherapie schwerer anaphylaktischer Reaktionen ist Adrenalin. Die Wirkung von Glukokortikoiden und Antihistaminika setzt verzögert ein und ist alleine nicht ausreichend.

ACHTUNG Potenziell kann jeder Arzneistoff oder jeder in einem Medikament enthaltene Zusatzstoff eine schwerwiegende allergische Reaktion auslösen. Folgende Maßnahmen sind daher empfehlenswert: ● Erheben Sie vor jeder Medikamentengabe sorgfältig bekannte Unverträglichkeiten und Allergien. ● Achten Sie nach der Applikation eines Medikaments darauf, dass der Patient immer unter Beobachtung ist.



(→ Abschwellen von Ödemen) und die Ausschüttung von Entzündungsmediatoren, z. B. Histamin. antientzündlicher Effekt: Glukokortikoide hemmen im Verlauf von Stunden bis Tagen die Entzündungsreaktion.

Im Rettungsdienst werden synthetische Derivate der natürlichen Glukokortikoide i. v., inhalativ oder rektal eingesetzt. Sie wirken akut antiphlogistisch und verzögert immunsuppressiv und unterstützen die Wirkung von Bronchodilatatoren (S. 134). Typische Indikationen sind anaphylaktische Reaktionen (2. Wahl nach Adrenalin!) und akute Bronchoobstruktionen, z. B. schwere Asthmaanfälle (S. 261). Wichtige Vertreter sind Prednisolon und Prednison (▶ Tab. 4.26). Bei längerer Einnahme unterdrücken Glukokortikoide generell die Reaktionen des Immunsystems. Hier sind zahlreiche Nebenwirkungen zu beachten (z. B. Gewichtszunahme, erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus und Herz-Kreislauf-Erkrankungen). In der Akuttherapie im Rettungsdienst sind diese Effekte allerdings nicht zu beobachten, Glukokortikoide sind hier auch bei hoher Dosierung als praktisch nebenwirkungsfrei zu klassifizieren.

Adrenalin Das Sympathomimetikum Adrenalin (▶ Tab. 4.15) ist das wichtigste Medikament bei anaphylaktischen Reaktionen (S. 290) ab Schweregrad II: Empfohlen wird eine i. m.-Applikation von 0,5 mg Adrenalin (0,5 ml Adrenalin 1:1000, bei Erwachsenen) in den mittleren Bereich der Oberschenkelaußenseite (M. vastus lateralis, ▶ Abb. 11.6).

Glukokortikoide Die körpereigenen Glukokortikoide Kortisol und Kortison werden in der Nebennierenrinde (S. 89) gebildet und vermitteln eine Vielzahl von Wirkungen auf den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem. Für den pharmakologischen Einsatz sind 2 Effekte entscheidend: ● antiallergischer Effekt: Glukokortikoide reduzieren innerhalb von Minuten die Durchlässigkeit von Zellmembranen 136

Antihistaminika Histamin ist ein zentraler Botenstoff bei der Vermittlung allergischer Typ-1-Reaktionen (S. 290). Antihistaminika verdrängen Histamin von seinen Rezeptoren und mildern so anhaltende bzw. überschießende Reaktionen ab. In der Notfalltherapie anaphylaktischer Reaktionen werden als H1-Rezeptorblocker Dimetinden (z. B. Fenistil®, ▶ Tab. 4.27) oder Clemastin (z. B. Tavegil®) eingesetzt. Für leichte allergische Reaktionen (z. B. „Heuschnupfen“) stehen zahlreiche Antihistaminika als Tabletten oder Augentropfen zur Verfügung. Die topische Applikation von Antihistaminika als Gel lindert Juckreiz, z. B. nach Insektenstichen (z. B. Fenistil® Gel). Das Antihistaminikum Dimenhydrinat (S. 124) wird als Antiemetikum eingesetzt.

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.27 Kurzprofil Antihistaminikum Dimetinden. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Histakut® Dimetindenmaleat, Fenistil®

Darreichungsform

1 Amp. à 4 ml/4 mg Injektionslösung

Wirkmechanismus

nicht kompetitive Hemmung von Histamin H1-Rezeptoren → Blockade der Wirkung von Histamin an den Geweben: Reduktion der Bronchokonstriktion und Vasodilatation sedierende Effekte, in höherer Dosierung anticholinerge Wirkung

Indikation

allergische Reaktionen (2. Wahl bei schweren allergischen Reaktionen)

Kontraindikationen

im Notfall keine, Säuglinge < 1 Jahr

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Schwindel, Schläfrigkeit, Tachykardien, Mundtrockenheit, Blutdruckabfall

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkbeginn: nach 15–20 min Wirkdauer: bis zu 12 h

4 mg langsam i. v./i.o.

RETTEN TO GO Behandlung anaphylaktischer Reaktionen ●





Adrenalin ist das wichtigste Medikament bei schweren anaphylaktischen Reaktionen. Die i. m.-Gabe in den Oberschenkel gilt als sicherste und schnellste Applikationsform. Glukokortikoide hemmen akut die Ausschüttung von Histamin und unterdrücken Entzündungsreaktionen. Häufige Einsatzbereiche im RD sind anaphylaktische Reaktionen (2. Wahl nach Adrenalin!), akute bronchiale Obstruktionen (z. B. schwere Asthmaanfälle) sowie bei Kindern das Krupp-Syndrom und die akute Epiglottitis. Verwendet werden hier z. B. Prednisolon (i. v.) und Prednison (Zäpfchen). Antihistaminika wirken als Antagonisten an Histaminrezeptoren und hemmen so die Wirkung des bei Typ-1Allergien wichtigen Botenstoffs Histamin. Sie sind die 2. Wahl bei schweren anaphylaktischen Reaktionen. Im RD eingesetzt werden v. a. Dimentiden und Clemastin.

4.2.8 Pharmakologie des Wasserund Elektrolythaushalts Zur Physiologie des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-BasenHaushalts s. das Kapitel Anatomie und Physiologie (S. 83). Für Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts (S. 501) und für Störungen des Säure-Basen-Haushalts (S. 505) s. das Kapitel Nephrologische und urologische Notfälle.

Diuretika Definition Diuretika Diuretika bewirken eine erhöhte Harnausscheidung über die Nieren. Bei den meisten Substanzen geschieht dies über eine Beeinflussung der Ausscheidung von Elektrolyten in den Nierenkanälchen, sie werden daher auch als Saluretika bezeichnet. Im Rettungsdienst wird aus der großen Gruppe der Diuretika fast nur das Schleifendiuretikum Furosemid (z. B. Lasix®,

▶ Tab. 4.28) eingesetzt. Es hemmt in den Nierenkanälchen (S. 82) die Wiederaufnahme von Elektrolyten aus dem Primärharn. Die Elektrolyte ihrerseits binden Wasser, das dann als Harn ausgeschieden wird. Furosemid ist eine besonders schnell, stark und kurz wirksame Substanz und daher gut für den Einsatz bei Notfällen mit Überwässerung des Körpers geeignet, z. B. bei einem kardialen Lungenödem (S. 268) oder – sofern noch Harn ausgeschieden wird – bei einer akuten Niereninsuffizienz (S. 497). Die entwässernde Wirkung geht mit einem Kaliumverlust einher. Dieser kann bei chronischer Anwendung als unterwünschte Wirkung zu einer Hypokaliämie (S. 504) führen, im Akutfall jedoch auch zur Behandlung einer Hyperkaliämie (S. 503) genutzt werden.

RETTEN TO GO Diuretika Diuretika (Saluretika) erhöhen die Harnausscheidung, indem sie in den Nierenkanälchen die Ausscheidung von Elektrolyten steigern, denen das Wasser osmotisch folgt. Im RD wird meistens das Schleifendiuretikum Furosemid (z. B. Lasix®) verwendet. Die wichtigste Indikation ist das Lungenödem (z. B. bei akuter Herzinsuffizienz).

Infusionslösungen Einsatzbereiche ● Offenhalten von i. v.-Zugängen ● Verdünnung von Medikamenten ● Zumischen von Medikamenten zu einer Infusionslösung (Trägerlösung) ● Volumenersatz ● Zufuhr von Glukose bei Hypoglykämie ● evtl. als Pufferlösung bei schwerer Azidose

Kristalloide Infusionslösungen

Definition Kristalloide Infusionslösungen Salze (kristallisierbare Stoffe, z. B. NaCl) in Form von Ionen (z. B. Na+, Cl–) und/oder Glukose sind in einer wässrigen Lösung gelöst. Man spricht daher auch von Elektrolytlösungen.

137

4

Pharmakologie

Tab. 4.28 Kurzprofil Schleifendiuretikum Furosemid. Kriterium

Beschreibung

Handelsnamen

z. B. Lasix®, Furosemid-ratiopharm®

Darreichungsform

1 Amp. à 2 ml/20 mg, 1 Amp. à 4 ml/40 mg Furosemid

Wirkmechanismus

Hemmung der Rückresorption von Na+, Cl–- und K+ in den Nierenkanälchen → erhöhte Ausscheidung von Wasser, Na+, Cl–- und K+ über den Harn → Volumenreduktion und Blutdrucksenkung zusätzlich Erweiterung der venösen Kapazitätsgefäße

Indikationen (Rettungsdienst)

Lungenödem (z. B. bei akuter Herzinsuffizienz, akuter Niereninsuffizienz), Hyperkaliämie

Kontraindikationen (Auswahl)

schwere Leberschädigungen, schwere Hypokaliämie oder Hyponatriämie, Dehydratation, Hypovolämie, Stillzeit, Nierenversagen mit fehlender Harnproduktion (Anurie), Unverträglichkeit von Sulfonamiden

unterwünschte Wirkungen (Auswahl)

Innenohrschädigungen (v. a. bei schneller i. v.-Injektion), Dehydratation, Hypokaliämie, Hyponatriämie, Blutdruckabfall, allergische Reaktionen

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung

Wirkeintritt: nach 2–15 min Wirkdauer: 3–6 h

20–40 mg langsam (!) i. v. oder i.o., max. 0,4 ml/min; ggf. nach 30–60 min wiederholen

Tab. 4.29 Kurzprofil Vollelektrolytlösungen (VEL). Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Ionosteril®, Sterofundin®, Ringer-Acetat-Lösung®

Darreichungsform

Fertiggebinde 500 ml/1000 ml Plastikflaschen oder Beutel

Indikationen

Volumenmangelzustände jeglicher Genese, Offenhalten von i. v.-Zugängen, Erwärmung bzw. Kühlung bei Hypo- bzw. Hyperthermie

Kontraindikationen

zum Offenhalten eines i. v.-Zugangs im Notfall: keine Achtung! bei Hyperhydratation, Hyperkaliämie (z. B. bei schwerer Nierenfunktionsstörungen → bevorzugt NaCl 0,9 %), Hypernatriämie (auch hypertone Dehydratation)

unerwünschte Wirkungen

allergische Reaktionen möglich (laktathaltige Lösungen)

Dosierung

bis 40 ml/kg KG; bei Volumenmangel durch Blutung: bis zur 4-fachen Menge des geschätzten/tatsächlichen Volumenverlusts, Erfolgskontrolle über Normalisierung der Rekapillarisierungszeit spezielle Dosierungsschemata bei Verbrennungen (S. 399), z. B. Parkland-Formel: 4 ml Ringerlösung × kg KG × % verbrannte Oberfläche in 24 h, davon die Hälfte in den ersten 8 h

Vollelektrolytlösungen (VEL) • VEL enthalten die wichtigsten Elektrolyte des Blutplasmas (Na+, K+, Cl–, Ca2 + , Mg2 + ) in möglichst physiologischer Konzentration sowie metabolisierbare Anionen als Puffer: Laktat (z. B. Ringer-Laktat), Acetat (z. B. Ringer-Acetat, Jonosteril) und/oder Malat (Apfelsäure, z. B. Sterofundin ISO, ▶ Tab. 4.29). Diese organischen Anionen werden zu Bikarbonat umgewandelt, was das Risiko einer Verdünnungsazidose verringert. Malat und Acetat haben gegenüber Laktat den Vorteil, dass sie unabhängig von der Leberfunktion und unter geringerem Sauerstoffverbrauch umgesetzt werden und daher auch bei Leberinsuffizienz bzw. unzureichender Oxygenierung und in Schockzuständen einsetzbar sind. Solche Infusionslösungen sind sehr sicher für die Patienten, da sie Störungen des Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts „automatisch“ abmildern und die Osmolarität des Blutes kaum verändern. Sie sind damit gut zum kurzfristigen Volumenersatz bei isotoner Dehydratation bzw. bei Volumenmangelzuständen geeignet. Allerdings verteilen sich die infundierten Elektrolyte (und damit auch die Flüssigkeit) sehr schnell im Gewebe, nur etwa 25 % des Volumens verbleibt nach ca. 20–30 min in den Gefäßen und kann damit einem intravasalen Volumenmangel 138

entgegenwirken. VEL sind die Volumenersatzmittel der Wahl bei allen Volumenmangelzuständen. Sie können nach Bedarf als Druckinfusion verabreicht werden (z. B. zur raschen Applikation von viel Volumen). Venenverweilkatheter mit großem Innendurchmesser gewährleisten hohe Flussraten (S. 225). Für die Druckinfusion mit Manschette muss der Infusionslösungsbehälter kollabierbar und frei von Luft sein, um eine Luftembolie zu verhindern. Isotonische Kochsalzlösung • Die Infusionslösung NaCl 0,9 % enthält pro Liter Wasser als einzige Elektrolyte 9 g Kochsalz (NaCl). Der Begriff „physiologische Kochsalzlösung“ sollte nicht verwendet werden, da die Lösung nicht „physiologisch“ im Sinne von „ähnlich wie das Blutplasma“ ist: Der Gehalt an Na+ und v. a. an Cl– ist höher, zudem fehlt der wichtige Säure-Puffer Bikarbonat. Damit kann eine Infusion von NaCl 0,9 % zum Volumenersatz eine Verdünnungsazidose und eine Natriumüberladung auslösen. NaCl 0,9 % wird v. a. zum Spülen und Offenhalten von i. v.-Zugängen sowie als Trägersubstanz für Medikamente verwendet. Zum Volumenersatz wird es nur bei Patienten mit eingeschränkter

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.30 Kurzprofil Glukose-Lösungen 20 % und 40 %. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Glucosteril® 20 % Infusionslösung bzw. Glucosteril® 40 % Injektionslösung

Darreichungsform

Glukose 20 %

Durchstechflaschen zu 100 oder 500 ml

Glukose 40 %

Kunststoffampullen zu 10 ml

Wirkmechanismus

Zufuhr von Glukose als Energieträger

Indikation

Hypoglykämie (S. 358)

Kontraindikationen (Auswahl)

Hyperglykämie, Hypokaliämie

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Hyperglykämie, Elektrolytstörungen, Gewebeschädigungen bei paravasaler Gabe

Dosierung

nach Bedarf z. B. 8–16 g Glukose (≙ 25–50 ml G 20 %.) i. v., parallel VEL anhängen, bis Normoglykämie erreicht, BZ-Kontrollen

Nierenfunktion und Gefahr einer Kaliumüberladung eingesetzt: NaCl 0,9 % ist die einzige kaliumfreie Infusionslösung. Glukose 5 % • Die Infusionslösung enthält 5 g Glukose auf 100 ml Wasser (G-5 %), aber keine Elektrolyte. Sie wird als Trägersubstanz für einige Medikamente eingesetzt. Die Glukose diffundiert rasch in die Zellen und den Intrazellularraum und wird dort verstoffwechselt, sodass „freies Wasser“ zurückbleibt. Daher kann G-5 % im stationären Kontext (nicht im RD!) bei hypertoner Dehydratation (S. 502) bzw. bei Hypernatriämie gegeben werden. Die Lösung wird im RD kaum noch verwendet.

Korrigierende Lösungen Natriumhydrogencarbonat (NaHCO3) 8,4 % wird in der Klinik zur Korrektur von nicht respiratorischen Azidosen eingesetzt. Präklinische Hauptindikationen (Ultima Ratio!) sind lebensbedrohliche Hyperkaliämien bzw. ein Herz-KreislaufStillstand aufgrund einer Hyperkaliämie und eine schwere Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva.

RETTEN TO GO Infusionslösungen

ACHTUNG



Glukose 5 % darf keinesfalls zur Behandlung einer Hypoglykämie eingesetzt werden, da die Lösung zu einer Umverteilung von Wasser in das Gewebe führen und so Zellschwellungen auslösen kann, insbesondere ein Hirnödem! Glukose 20 % und 40 % • Im Rettungsdienst werden G-20 % bzw. G-40 % (▶ Tab. 4.30) zur Therapie von Hypoglykämien (S. 358) eingesetzt. Beachten Sie, dass Glukose stark venenreizend ist (Gefahr von Nekrosen bei Fehlinjektion!). G-40 % muss immer verdünnt über einen korrekt liegenden i. v.-Zugang injiziert und mit einer VEL nachgespült werden.

Kolloidale Infusionslösungen Kolloidale Infusionslösungen sind isotonische NaCl-Lösungen, die zusätzlich organische Makromoleküle enthalten, die nicht in das Gewebe übertreten können. So steigt der kolloidosmotische (onkotische) Druck in den Gefäßen und die zugeführte Flüssigkeit wird in den Gefäßen gehalten bzw. „zieht“ bei noch höherer Konzentration sogar Wasser aus dem Gewebe in die Gefäße. Dadurch wird ein deutlich höherer Volumeneffekt erzielt als bei VEL. Allerdings gibt es für den Rettungsdienst aufgrund des ungünstigen NutzenRisiko-Profils (u. a. hohes Risiko für Nierenschädigungen und anaphylaktische Reaktionen) und der rechtlichen Restriktionen kaum noch eine Indikation. Das Fehlen geeigneter Alternativen zur Flüssigkeitstherapie in der Präklinik kann bei Patienten mit Volumenmangel problematisch sein. Es gibt inzwischen einige (v. a. luftgebundene) Rettungsmittel, die Blutkonserven und/oder Plasma (lyophilisiertes Plasma oder angetautes Frischplasma) vorhalten (Stand 2023).







Kristalloide Infusionslösungen sind Lösungen, bei denen Ionen und/oder Glukose in Wasser gelöst sind. Vollelektrolytlösungen (VEL) enthalten die wichtigsten Elektrolyte des Blutplasmas (Na+, K+, Cl–, Ca2 + , Mg2 + ) in möglichst physiologischer Konzentration sowie Laktat, Acetat und/oder Malat als organische Anionen. VEL eignen sich gut zum Volumenersatz, allerdings hält der Volumeneffekt nur kurzfristig an. Die Dosierung beträgt ca. das 3- bis 4-Fache des Volumenverlusts. Isotone Kochsalzlösung (NaCl 0,9 %) wird v. a. zum Spülen und Offenhalten von i. v.-Zugängen sowie als Trägersubstanz für Medikamente verwendet, zum Flüssigkeitsersatz nur bei stark eingeschränkter Nierenfunktion. Glukoselösungen werden als Trägersubstanz für Medikamente (Glukose 5 %) oder zur Behandlung einer Hypoglykämie (Glukose 20 % und 40 %) eingesetzt. Natriumhydrogencarbonat (NaHCO3) ist eine Puffersubstanz. Hauptindikationen sind lebensbedrohliche Hyperkaliämien bzw. Herz-ein Kreislauf-Stillstand aufgrund einer Hyperkaliämie.

4.2.9 Pharmakologie der Gerinnung Für die Physiologie der Gerinnung (Hämostase) siehe das Kapitel Anatomie und Physiologie (S. 55) und ▶ Abb. 4.19.

Antikoagulanzien Definition Antikoagulanzien Die Substanzen hemmen die plasmatische Gerinnung, d. h. den Ablauf der Aktivierungskaskade der Gerinnungsfaktoren (▶ Abb. 4.19).

139

4

Pharmakologie Abb. 4.19 Gerinnungssystem und pharmakologische Ansatzpunkte.

Aktivierung der Hämostase Gefäßwandschaden

Thrombozytenaggregationshemmer

Vasokonstriktion

Thrombozytenaggregation und -aktivierung Thrombozytenadhäsion

weißer Thrombus (primärer Gefäßverschluss)

Freisetzung von Gewebethromboplastin (Faktor III) Faktor VII

Rivaroxaban, Apixaban unfraktioniertes Heparin

Faktor VIIa

Faktor X

Faktor Xa

aktiviertes Protein C (APC)

Antithrombin

Faktor Va Thrombin (Faktor IIa)

Prothrombin (Faktor II) Fibrinogen (Faktor I)

Dabigatran Fibrin (Faktor Ia) roter Thrombus (Fibrinthrombus)

primäre Hämostase (Blutstillung)

Plasmin Fibrinolytika (z. B. Tenecteplase)

sekundäre Hämostase (Blutgerinnung)

tPA Fibrinolyse körpereigene Gerinnungshemmer Wirkstoff/-gruppe

Tranexamsäure hemmende Wirkung verstärkende Wirkung

Plasminogen Fibrinolyse im Rahmen der Wundheilung

Vereinfachte Darstellung des Gerinnungssystems (tPA: tissue plasminogen activator, Gewebeplasminogenaktivator). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Unfraktioniertes Heparin • Im Rettungsdienst wird in der Regel unfraktioniertes Heparin (z. B. Liquemin®, ▶ Tab. 4.31) eingesetzt. Es hemmt mehrere Gerinnungsfaktoren, hauptsächlich aber aktiviert es das Enzym Antithrombin III, einen körpereigenen Hemmstoff der Gerinnungskaskade. Typische Einsatzbereiche sind das akute Koronarsyndrom, Lungenembolien und venöse Thrombosen. Weitere Antikoagulanzien • Im stationären Umfeld erhalten die Patienten häufig subkutan niedermolekulare Heparine (z. B. Enoxaparin/Clexane®) zur Prophylaxe venöser Thrombosen („Thrombosepritzen“). Im Rettungsalltag werden Sie immer wieder mit Patienten zu tun haben, deren Blutungsrisiko durch eine Dauertherapie mit einem „Blutverdünner“ erhöht ist. Diese Gruppe umfasst Gerinnungshemmer, die als Tabletten eingenommen werden (orale Antikoagulanzien, OAK), z. B. die direkt wirkenden Antikoagulanzien Rivaroxaban (u. a. Xarelto®), Apixaban (u. a. Eliquis®), Dabigatran (u. a. Pradaxa®) und Edoxaban (u. a. Lixiana®) und das über eine Hemmung der Vitamin-K-Synthese indirekt wirkende Phenprocoumon (u. a. Marcumar®). 140

! Merke „Blutverdünner“

Prägen Sie sich die Handelsnamen der gebräuchlichen OAK ein: Nimmt ein Notfallpatient ein solches Medikament ein, müssen Sie bei Verletzungen mit deutlich stärkeren Blutungen rechnen. Auch nach Punktionen o. ä. halten Blutungen länger an als üblich.

Thrombozytenaggregationshemmer Definition Thrombozytenaggregationshemmer Diese Substanzgruppe verhindert die Aktivierung und Verklumpung (Aggregation) der Blutplättchen (▶ Abb. 4.19). Acetylsalicylsäure (ASS) • Die im Rettungsdienst wichtigste Substanz ist Acetylsalicylsäure, kurz ASS (▶ Tab. 4.32). Sie hemmt irreversibel und unselektiv das Enzym Cyclooxygenase (COX). Die Isoform COX-1 ist für die Aktivierung der Thrombozyten entscheidend, die COX-2 für die Auslösung von Entzündungsprozessen. ASS hemmt damit die Thrombozytenaggregation, zudem wirkt es entzündungshemmend, fiebersenkend und schmerzstillend. Letztere Effekte

Spezielle Pharmakologie

Tab. 4.31 Kurzprofil Antikoagulans unfraktioniertes Heparin. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Liquemin®, Heparin-Calcium 5 000 ratiopharm®

Darreichungsform

1 Amp. à 5 ml/25 000 IE Heparin (1 ml/5 000 IE Heparin)

Wirkmechanismus

Bindung an Antithrombin III und Hemmung von Gerinnungsfaktoren → Hemmung der plasmatischen Gerinnung

Indikationen

akutes Koronarsyndrom (S. 300), Lungenembolie (S. 303), akuter peripherer arterieller Verschluss (S. 312), tiefe Venenthrombose (S. 314)

Kontraindikationen (Auswahl)

Heparinunverträglichkeit, heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT), Verletzungen, aktive Blutungen oder offene Wunden, gastroduodenale Ulzera, Verletzungen oder Operationen Eingriffe an ZNS oder Augen, schwere Leber-, Nieren- oder Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, Hypertonie > 105 mmHg diastolisch

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

Blutungen, Thrombozytopenien

Pharmakokinetik

Wirkeintritt: sofort

Dosierung

initial 5 000 IE als Bolus i. v.

Tab. 4.32 Kurzprofil Thrombozytenaggregationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS). Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Aspisol®, Aspirin®

Darreichungsform

1 Amp. à 500 mg, Auflösung mit 5 ml H2O für Injektionszwecke

Wirkmechanismus

irreversible, unselektive COX-Hemmung ● Hemmung der Prostaglandinsynthese: entzündungshemmend, schmerzstillend, fiebersenkend ● Hemmung der Thrombozytenaggregation

Indikation (Rettungsdienst)

akutes Koronarsyndrom (S. 300)

Kontraindikationen (Auswahl)

gastroduodenale Ulzera, aktuelle Blutungen, erhöhte Blutungsneigung, schwere Nierenfunktionsstörungen, Unverträglichkeit von Salizylaten, letztes Schwangerschaftsdrittel Vorsicht bei Asthma bronchiale! Kontraindikation bei Salizylat-induziertem Asthma in der Anamnese

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

erhöhtes Blutungsrisiko, Asthmaanfälle, Blutdruckabfall

Pharmakokinetik

● ●

Dosierung (akutes Koronarsyndrom)

Wirkeintritt: nach 30 min Wirkdauer (Gerinnungshemmung): ca. 1 Woche

250 mg i. v.

sind für die Eigenmedikation von Patienten relevant, nicht aber im Rettungsdienst. „Irreversibel“ bedeutet, dass die COX über die gesamte Lebensdauer der Thrombozyten gehemmt wird. Die gerinnungshemmende (nicht die schmerzstillende!) Wirkdauer beträgt daher etwa 1 Woche.

Fibrinolytika Definition Fibrinolytika Fibrinolytika fördern die Aktivierung des Enzyms Plasmin und beschleunigen so die Auflösung von Blutgerinnseln (▶ Abb. 4.19). Die Applikation eines Fibrinolytikums wird als Lysetherapie bezeichnet. Synonym • Thrombolytika

prinzipiell für die Akuttherapie z. B. eines Herzinfarkts geeignet. Allerdings ist die Anwendung mit einem hohen Blutungsrisiko verbunden. Daher werden Fibrinolytika wie Tenecteplase (z. B. Metalyse®) präklinisch nur in Ausnahmefällen eingesetzt (▶ Tab. 4.33). Im klinischen Setting kommt eine Lysetherapie auch bei ischämischen Schlaganfällen (S. 428), akuten peripheren arteriellen Verschlüssen (S. 312) und venösen Thrombosen (S. 314) in Frage.

! Merke Lysetherapie unter Reanimation

Bei einer Lysetherapie unter Reanimationsbedingungen muss die Reanimation nach Verabreichung des Medikaments für mindestens 60 Minuten fortgesetzt werden, um eine ausreichende Verteilung und Wirkung zu erreichen.

Einsatzbereiche • Fibrinolytika führen dazu, dass frische Blutgerinnsel (Thromben) aufgelöst werden. Damit sind sie 141

4

Pharmakologie

Tab. 4.33 Kurzprofil Fibrinolytikum Tenecteplase. Kriterium

Beschreibung

Handelsname

z. B. Metalyse®

Darreichungsform

1 Stechampulle enthält 10 000 IU (50 mg) Tenecteplase + 1 Fertigspritze mit 10 ml Wasser für Injektionszwecke

Wirkmechanismus

Aktivierung von Plasminogen zu Plasmin → Aktivierung der körpereigenen Fibrinolyse → Auflösung von Thromben

Indikationen (Rettungsdienst)



● ●

STEMI (S. 300), sofern... – eine Koronarintervention nicht innerhalb der nächsten 90–120 Minuten möglich ist – ein therapierefraktärer kardiogener Schock besteht fulminante Lungenembolie (S. 303) Herz-Kreislauf-Stillstand (S. 316) mit Verdacht auf Lungenembolie

Kontraindikationen

im streng definierten präklinischen Notfall (s. o.) keine

unerwünschte Wirkungen (Auswahl)

schwere Blutungen, v. a. bei Kombination mit Heparin

Pharmakokinetik

schneller Wirkeintritt, aber verzögerte Auflösung des Thrombus

Dosierung

nach Körpergewicht, z. B. 70–80 kg KG 8 000 IU bzw. 40 mg, 80–90 kg KG 9 000 IU/45 mg Einmalgabe als i. v.-Bolus innerhalb von 10 s

Antifibrinolytika RETTEN TO GO

Definition Antifibrinolytika Antifibrinolytika hemmen die Fibrinolyse, d. h., sie blockieren die Umwandlung von Plasminogen zu Plasmin und damit den Abbau von Thromben (▶ Abb. 4.19). So bleiben Thromben länger stabil.

Pharmakologie der Gerinnung ●

Synonym • Plasmin-Inhibitoren Tranexamsäure • Wird das physiologische Gleichgewicht zwischen der Bildung und der Auflösung der Gerinnseln (Fibrinolyse) z. B. durch starke traumatische Blutungen oder eine Sepsis gestört, kann sich eine Hyperfibrinolyse entwickeln, eine überschießende Auflösung von Gerinnseln. Die Folge sind schwere, kaum zu stillende Blutungen. Zur Therapie oder Prophylaxe dieser Situation soll bei schweren Blutungen Tranexamsäure (Cyklokapron®) 1000 mg als langsame i. v. Injektion über 10 min, gefolgt von 1 g über 8 h i. v., gegeben werden. Die Wirkung tritt rasch ein und hält nach Bolusgabe 4–6 Stunden an. Als unerwünschte Wirkung besteht u. a. die Gefahr von arteriellen oder venösen Embolien.







Hämostyptika Hämostyptika wie Chistosan fördern lokal die Verengung der Gefäße und ein Verkleben der Blutzellen im Bereich der Wunde, und zwar unabhängig von der Funktionstüchtigkeit der körpereigenen Gerinnungsfaktoren. Die Substanzen werden zum Stillen kritischer äußerer Blutungen direkt auf der Wunde angewendet (S. 377).

142



Antikoagulanzien hemmen die plasmatische Blutgerinnung, indem sie die Gerinnungskaskade beeinflussen. Im RD wird v. a. unfraktioniertes Heparin i. v. eingesetzt. Indikationen sind das akute Koronarsyndrom, Lungenembolien sowie arterielle und venöse Thrombosen. Thrombozytenaggregationshemmer verhindern, dass sich Thrombozyten untereinander vernetzen. Acetylsalicylsäure (ASS) ist im RD die wichtigste Substanz. Die wichtigste Indikation ist das akute Koronarsyndrom. Fibrinolytika (Thrombolytika) lösen Blutgerinnsel auf, indem sie Plasmin aktivieren (Lysetherapie). Im RD wird v. a. Tenecteplase verwendet. Die wichtigsten Indikationen sind fulminante Lungenembolien und Myokardinfarkte mit ST-Hebung (STEMI), wenn eine zeitnahe Koronarintervention nicht möglich ist. Antifibrinolytika (Plasmin-Inhibitoren) blockieren den Abbau von Thromben. Tranexamsäure wird im RD bei unkontrollierbaren, schweren inneren und äußeren Blutungen eingesetzt. Hämostyptika fördern lokal die Blutgerinnung, geeignet für die Blutstillung bei kritischen äußeren Blutungen.

Spezielle Pharmakologie

4.2.10 Antidote Definition Antidote Antidote (Gegengifte) sind Arzneistoffe, die einen oder mehrere Giftstoffe chemisch oder physikalisch inaktivieren. Wirkprinzipien • Antidote haben, je nach Substanz, unterschiedliche Wirkungsweisen: ● Das Antidot bindet den Giftstoff und verändert ihn chemisch, sodass seine Toxizität abnimmt. ● Das Antidot bindet an denselben Rezeptor wie das Toxin und hebt seine Wirkung auf (spezifischer Antagonist). ● Das Antidot beschleunigt den Abbau und die Ausscheidung des Toxins.

Vergiftungen vorkommen sowie von der Notwendigkeit, das Antidot im Vergiftungsfall möglichst schnell zu applizieren. Die Bremer Liste umfasst Antidote, die wegen ihrer Relevanz im präklinischen Einsatz auf jedem Rettungsmittel in Deutschland vorhanden sein sollten (▶ Tab. 4.34). Weitere Antidote • Bei einigen Antidoten (z. B. Flumazenil bei Benzodiazepin-Intoxikation, N-Acetylcystein bei Paracetamol-Vergiftung) reicht es aus, wenn sie erst in der Zielklinik verabreicht werden. Andere Substanzen (die z. B. v. a. bei Unfällen in der chemischen Industrie eingesetzt werden) sind so speziell, dass sie im Idealfall von den entsprechenden Unternehmen vorgehalten werden. Eine wichtige Informationsquelle sind die Giftinformationszentralen (S. 511), die Sie über die Leitstelle kontaktieren können.

Antidote im Rettungsdienst • Von der Vielzahl an Antidoten ist im Rettungsdienst i. d. R. nur eine kleine Auswahl verfügbar. Die regional unterschiedliche Bevorratung hängt davon ab, wie häufig und in welchem Schweregrad verschiedene Tab. 4.34 Bremer Liste der für den Rettungsdienst relevanten Antidote. Freiname

Handelsname (Beispiel)

Indikation

Wirkmechanismus

Anwendungsempfehlung*

Aktivkohle (Carbo medicinalis)

Kohle-Pulvis®

unspezifisches Antidot bei vielen oralen Vergiftungen

Wirkstoff mit großer Oberfläche, der viele Giftstoffe binden kann und selbst nicht resorbiert wird → verhindert die Resorption von Giftstoffen

orale Gabe innerhalb von 1 Stunde nach der Giftaufnahme (aufgeschwämmt in stillem Wasser): ● Erwachsene: 50–100 g ● Kinder 0,5–1 g/kg KG

Atropin

Atropinsulfat Braun®

Vergiftungen durch Alkylphosphate (S. 519)

Parasympatholytikum: kompetitiver Antagonist an Muskarinrezeptoren, s. a. ▶ Tab. 4.24

5 – 10 – 100 mg bis zum Verschwinden der Vagussymptomatik

Naloxon

Narcanti®

Vergiftungen durch Opioide (S. 512)

Antagonist an den Opioidrezeptoren

initial 0,4–2 mg langsam i. v., i.o., nasal titrieren! schneller Wirkeintritt, aber kurze HWZ → ggf. wiederholte Applikation notwendig bei Abhängigen mitunter akute Entzugssymptome

Toloniumchlorid

Toluidinblau®

Vergiftungen durch Methämoglobinbildner (z. B. Nitroverbindungen, Salpetersäure, Anilin, Chlorate, Perchlorate): Umwandlung von Hämoglobin (2-wertiges Eisen) in Methämoglobin (3-wertiges Eisen) → Einschränkung der O2-Transportkapazität

beschleunigte Rückumwandlung von MetHb in Hb → wieder mehr O2-Träger verfügbar

2–4 mg/kg KG i. v.

4-DMAP (4-Dimethylaminophenol)

4-DMAP®

Zyanidvergiftungen (S. 519): Zyanide binden an Eisen und blockieren den Zellstoffwechsel.

MetHb-Bildner (s. o.) → Entkopplung der Zyanide vom Eisen, aber Einschränkung der O2-Transportkapazität

3–4 mg/kg KG i. v. keine Gabe bei Rauchgasintoxikationen (S. 269)!

Hydroxocobalamin

Cyanokit®

Zyanidvergiftung, Mischintoxikation bei Rauchgasinhalation

Hydroxocobalamin ist ein Vitamin B12-Derivat, das im Körper in die aktiven Formen von Vitamin B12 umgewandelt wird. Es geht mit Zyanidionen stabile Komplexe ein und bindet so Zyanide.

Anfangs- und Folgedosis je 5 g

143

4

Pharmakologie

RETTEN TO GO Antidote Antidote (Gegengifte) inaktivieren einen oder mehrere Giftstoffe chemisch oder physikalisch, z. B. durch beschleunigten Abbau. Folgende Substanzen sollten in allen Rettungsmitteln verfügbar sein: ● Aktivkohle: unspezifisches Antidot bei vielen oralen Vergiftungen ● Atropin: spezifisches Antidot bei Vergiftungen durch Organophosphate ● Naloxon: spezifisches Antidot bei Vergiftungen durch Opioide ● Toloniumchlorid: spezifisches Antidot bei Vergiftungen durch Methämoglobinbildner ● 4-DMAP (4-Dimethylaminophenol): spezifisches Antidot bei Vergiftungen durch Zyanide ● Hydroxocobalamin: Antidot gegen Zyanide, geeignet auch für Mischintoxikationen bei Rauchgasinhalation

144

5

Infektionen und Hygiene

5.1 Einführung Bei Rettungseinsätzen kommen Sie zwangsläufig in Kontakt mit potenziell infektiösem Material wie Blut, Schweiß, Speichel und Urin. Aber wie werden Infektionen eigentlich ausgelöst, wie stecke ich mich im Rahmen eines Einsatzes möglicherweise an? Wie kann ich vermeiden, dass ich Erreger an Patienten und Kollegen weitergebe? Welche Infektionen sind im Rettungsdienst besonders wichtig? Welche Maßnahmen schützen mich und die Patienten vor einer Infektion?

5.2 Infektiologie 5.2.1 Grundlagen Wichtige Begriffe Definition Infektiologie und Epidemiologie Die Infektiologie ist die Lehre von den Infektionskrankheiten. Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verbreitung und den Folgen von infektiösen, aber auch nicht infektiösen Erkrankungen in einer Bevölkerung. Damit Sie sich fachlich korrekt über Krankheitserreger und Infektionskrankheiten austauschen können, sollten Sie die hierfür notwendigen Begriffe kennen, siehe ▶ Tab. 5.1, ▶ Tab. 5.2 und ▶ Abb. 5.1.

146

Infektion und Ansteckung • Der Begriff „Infektionskrankheit“ sagt nichts darüber aus, ob Ansteckungsgefahr besteht oder nicht! Einige Infektionen werden z. B. durch Mückenstiche übertragen – ohne Mücken ist keine Übertragung möglich. Infektion und Intoxikation • Krankheitserreger können den Körper auch schädigen, ohne sich in ihm zu vermehren, d. h. ohne eigentliche Infektion. Dies ist z. B. der Fall, wenn Bakterien bei ihrer Vermehrung in Lebensmitteln Giftstoffe produzieren. Werden diese konsumiert, resultiert eine Lebensmittelvergiftung (S. 519).

Krankheitserreger

! Merke Erreger und Krankheit

Viele Infektionen (z. B. Pneumonien, Meningitis) können durch unterschiedliche Erreger ausgelöst werden, also z. B. durch verschiedene Arten von Bakterien und Viren. Ist der Erreger genauer bekannt, wird z. B. von einer Influenza-Pneumonie oder einer Meningokokken-Meningitis gesprochen. Andere Infektionskrankheiten werden spezifisch durch einzelne Erreger verursacht (z. B. AIDS durch HI-Viren, COVID-19 durch SARS-CoV-2).

Bakterien Merkmale • Bakterien sind Einzeller ohne Zellkern. Nach ihrer Form werden kugel-, stäbchen- und spiralförmige Bakterien unterschieden, nach ihrem Färbeverhalten im Lichtmikroskop gramnegative und grampositive Bakterien. Unterschieden werden zudem Bakterien, die für ihr Überleben Sauerstoff benötigen (aerobe B.), und solchen, die keinen Sauerstoff benötigen (anaerobe B.).

Wichtige Begriffe Krankheitserreger Grundlagen

▶S. 146 ▶S. 146

Infektionskette ▶S. 149 Leitsymptome bei Infektionskrankheiten

▶S. 150

Allgemeines Infektiologie Wichtige Infektionskrankheiten im Rettungsdienst

Influenza

▶S. 150

▶S. 151

COVID-19 ▶S. 151 Infektiöse Durchfallerkrankungen ▶S. 151

Infektionsschutzgesetz

▶S. 152

HIV und AIDS

Infektionsprophylaxe

▶S. 151

▶S. 152

Reinigung, Desinfektion und Sterilisation

▶S. 156

Hygiene Persönliche Hygiene (Eigenhygiene) Vorgehen bei Kontamination

Infektionstransporte

Planung

▶S. 158

▶S. 160

▶S. 161

Durchführung ▶S. 161

Tab. 5.1 Wichtige Begriffe aus der Infektionslehre. Begriff

Definition

Krankheitserreger

Mikroorganismus, der beim Menschen eine Infektionskrankheit auslösen kann

Infektion

Eindringen eines Krankheitserregers in einen Organismus mit Vermehrung der Erreger und evtl. Schädigung des Organismus

Infektionskrankheit

Krankheit als Folge einer Infektion mit für den Menschen krank machenden Erregern

asymptomatische (latente, stumme, inapparente) Infektion

Infektion mit einem pathogenen Erreger ohne Krankheitssymptome

subklinische (mitigierte) Infektion

Infektion mit einem pathogenen Erreger mit leichten Krankheitssymptomen

Kolonisation

unschädliche Besiedlung mit Mikroorganismen

Superinfektion

Zusatzinfektion mit einem anderen Erreger, der sich in einem durch eine erste Infektion geschwächten Gewebe ausbreitet (Beispiel: Superinfektion mit Bakterien bei bestehender Virusinfektion)

Inkubationszeit

Zeit vom ersten Eindringen eines Krankheitserregers in den Körper bis zum Auftreten erster Krankheitssymptome; meistens wenige Tage bis zu 3 Wochen

Kontamination

Verunreinigung eines Objekts durch Mikroorganismen oder andere Schadstoffe

Kontagiosität

Ansteckungsfähigkeit, Übertragbarkeit

Pathogenität

grundsätzliche Fähigkeit eines Krankheitserregers, in einem Organismus eine Krankheit auszulösen

Virulenz

Ausmaß der Pathogenität eines Erregers (Aggressivität eines Erregers)

Physiologische Funktion • Mit vielen Bakterien leben wir in einer vorteilhaften Wechselbeziehung (Symbiose). Die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die einen Menschen besiedeln, ist das Mikrobiom oder Normal- bzw. Standortflora. In unserem Darm leben mehrere hundert Bakterienarten, dazu kommt eine Vielzahl von Bakterien auf der Haut und den

Schleimhäuten. Die genaue Zusammensetzung ist individuell unterschiedlich und verändert sich auch im Lebensverlauf. Die Stoffwechselleistungen dieser Bakterien sind essenziell für unser Überleben: Sie spalten z. B. Nahrungsbestandteile auf, stimulieren und modulieren das Immunsystem und verdrängen schädliche Keime. 147

5

Infektionen und Hygiene

Tab. 5.2 Grundbegriffe der Epidemiologie. Begriff

Definition

Inzidenz

Häufigkeit von Neuerkrankungen an einer Krankheit in einem bestimmten Zeitraum

Prävalenz

Anzahl der zum Untersuchungszeitpunkt erkrankten Personen in einer definierten Gruppe (Krankheitshäufigkeit)

Morbidität

Häufigkeit einer Erkrankung in einer Bevölkerungsgruppe (Verhältnis der Erkrankten zur Bevölkerung)

Mortalität

Häufigkeit der Sterbefälle innerhalb einer Bevölkerungsgruppe (z. B. Säuglingssterblichkeit) (Verhältnis der Verstorbenen zur Bevölkerung)

Letalität

„Tödlichkeit“ einer Erkrankung = Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur Zahl der Erkrankten (Verhältnis der Verstorbenen zu den Erkrankten)

Endemie

örtlich begrenztes, aber zeitlich unbegrenztes Auftreten („Endemie = Ende nie“) einer Infektionskrankheit; z. B. FSME in einigen Regionen Europas (S. 432)

Epidemie

zeitlich und örtlich begrenztes Vorkommen einer Infektionskrankheit, z. B. Ebola-Fieber in der Demokratischen Republik Kongo

Pandemie

auffällig häufiges, zeitlich begrenztes, aber weltweites Vorkommen einer Infektionskrankheit, z. B. COVID-19

breitung von MRE gilt der unkritische Einsatz von Antibiotika, u. a. in der Massentierhaltung. Wichtige Erregergruppen: ● Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) siedeln v. a. im Nasen-Rachen-Raum und werden durch Hände, Gegenstände und Tröpfchen (Husten, Niesen) übertragen. Sie können auch unter schwierigen Bedingungen überleben, mitunter über mehrere Wochen. MRSA kommen auch bei Gesunden, besonders häufig bei medizinischem Personal, symptomlos im Nasenbereich vor und können so weiterverbreitet werden. In diesen Fällen wird MRSA durch die Anwendung eines bestimmten Reserveantibiotikums als Nasensalbe beseitigt („Sanierung“). ● Vancomycin- (VRE) oder Glykopeptid-resistente Enterokokken (GRE) sind lange überlebensfähig und siedeln meist in Dickdarm, Mundhöhle, Harnröhre oder Vagina. Infektionsquelle sind v. a. infizierte Menschen. ● ESBL-produzierende Bakterien (ESBL = extended spectrum beta-lactamase, v. a. E. coli, Klebsiellen, Proteus) und MBLBildner (MBL = Metallo-Beta-Lactamase, z. B. Pseudomonas aeruginosa) siedeln meist im Magen-Darm-Trakt, seltener in den Harn- oder in Atemwegen. Für den Umgang mit Patienten, die mit MRE besiedelt oder infiziert sind, gelten besondere Hygienevorschriften, die zum Eigenschutz und zum Schutz anderer Patienten unbedingt eingehalten werden müssen (z. B. Schutzkittel, Atemschutz bzw. FFP-Maske, konsequente Desinfektionsmaßnahmen), s. a. Infektionstransport (S. 161).

Viren Abb. 5.1 Grundbegriffe der Epidemiologie.

Neuerkrankungen: Inzidenz Kranke: Prävalenz Heilung Gesunde

Tod: Mortalität (bezogen auf die Gesamtbevölkerung) bzw. Letalität (bezogen auf die Anzahl der Erkrankten)

Die Grafik veranschaulicht die Zusammenhänge zwischen Inzidenz, Prävalenz, Mortalität und Letalität. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Bakterielle Infektionen • Bakterien können eine Vielzahl von Infektionskrankheiten auslösen, z. B. lokale eitrige Entzündungen, Lungen- (S. 267) und Hirnhautentzündungen (S. 432), die akute Epiglottitis (S. 278), Magen-Darm- und Harnwegsinfektionen und die Sepsis (S. 292). Für die Behandlung dieser Infektionen werden Antibiotika (Einzahl: Antibiotikum) eingesetzt, z. B. Penicilline. Multiresistente Erreger (MRE) • Diese Bakterien sind weitgehend unempfindlich gegen die meisten Antibiotika, sodass diese Wirkstoffe keine (ausreichende) Wirkung mehr zeigen. Infektionen mit solchen Erregern sind schwierig zu behandeln, v. a. bei immungeschwächten Patienten auf Intensivstationen. Als Hauptursache für die zunehmende Ver-

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Merkmale • Viren sind infektiöse Partikel, die aus Erbinformation (RNA oder DNA), einigen Proteinen und – je nach Art – einer Lipidhülle bestehen. Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel und gelten nicht als Lebewesen: Sie benötigen zur Vermehrung immer eine Wirtszelle. Sie sind etwa hundertmal kleiner als Bakterien. Virale Infektionen • Beispiele sind Atemwegs- und grippale Infekte, Influenza, COVID-19, AIDS, Magen-Darm-Infekte, Leberentzündungen (S. 346), Pseudokrupp (S. 280) und Bronchiolitis (S. 278) bei Kleinkindern und Säuglingen, Lippenherpes sowie „klassische“ Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps und Röteln. Meist steht die symptomatische Therapie im Vordergrund, nur gegen wenige Viren gibt es spezifische Virostatika (Einzahl: Virostatikum).

Weitere Krankheitserreger Diese Erreger sind im Rettungsdienst von untergeordneter Bedeutung, sollten aber zumindest prinzipiell bekannt sein. Pilze • Häufige Probleme sind z. B. ein Fuß- oder Vulvovaginalpilz. Das Risiko ist bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem erhöht, systemische Pilzinfektionen (Mykosen) werden nur bei starker Immunschwäche beobachtet, z. B. bei Patienten mit AIDS. Zur Behandlung gibt es Antimykotika (Einzahl: Antimyoktikum). Pilze können nicht nur Infektionen, sondern auch Intoxikationen (S. 516) auslösen. Relevant im Rettungsdienst sind hier v. a. Vergiftungen durch Großpilze, d. h. durch Pilze, die einen mit bloßem Auge sichtbaren Fruchtkörper bilden (z. B. grüner Knollenblätterpilz). Parasiten • Parasiten sind Lebewesen, die einen Wirt befallen, um von ihm zu leben, und ihn dabei schädigen. Unterschieden werden einzellige Parasiten (Protozoen), z. B. Plasmodien als Erreger der Malaria, Würmer (z. B. Bandwürmer) und

Infektiologie Gliederfüßer (z. B. Spinnen, Mücken, Zecken, Flöhe). Letztere spielen u. a. als Vektoren eine große Rolle: Durch ihren Stich/ Biss übertragen sie andere Krankheitserreger (z. B. Viren). Prionen • Diese pathologisch gefalteten Proteine enthalten keine Erbinformation, sie sind keine Lebewesen. Sie werden nur selten übertragen, lösen aber im Gehirn irreversible degenerative Veränderungen aus. Die wichtigste Erkrankung ist die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit mit einer rasch fortschreitenden Demenz.

RETTEN TO GO Krankheitserreger ●









Bakterien: einzellige Lebewesen ohne Zellkern, Einteilung nach der Färbbarkeit (grampositiv oder -negativ), der Form (kugel-, stäbchen- oder spiralförmig) und dem Bedarf an O2 (aerob oder anaerob); wichtige bakterielle Infektionen: z. B. Lungen- und Hirnhautentzündungen, Magen-Darm- und Harnwegsinfektionen, Sepsis; Therapie: Antibiotika, aber zunehmend antibiotikaresistente Bakterienstämme Viren: bestehen aus DNA oder RNA und einer Hülle; benötigen für die Vermehrung Wirtszellen, keine eigenständigen Lebewesen; wichtige virale Infektionen: z. B. Atemwegs- und grippale Infekte, Influenza, COVID-19, AIDS, Leberentzündungen, Masern, Mumps und Röteln; Therapie: meist symptomatisch, seltener Virostatika Pilze: Infektionen v. a. bei Immunschwäche, am häufigsten an der Haut oder den Schleimhäuten (z. B. Nagel-, Vulvovaginalpilz); Therapie: Antimykotika Parasiten: einzellige Parasiten (z. B. die Erreger der Malaria), Würmer (z. B. Bandwürmer) und Gliederfüßer (z. B. Spinnen, Zecken, Mücken, Flöhe); letztere v. a. als Vektoren relevant: Durch ihren Stich/Biss übertragen sie andere Krankheitserreger. Prionen: pathologisch gefaltete Proteine, die im Gehirn degenerative Veränderungen auslösen können (v. a. Creutzfeldt-Jakob-Krankheit)

Infektionskette

als „nosokomial“ auch Infektionen als Folge ambulanter medizinischer Behandlungen. Ein allgemeiner Begriff für Infektionen als Folge medizinischer Maßnahmen ist auch der Begriff iatrogene Infektionen .

Übertragungswege und Eintrittspforten Direkte und indirekte Infektionen • Infektionen können direkt (z. B. Mensch zu Mensch, Tier zu Mensch) oder indirekt über eine Zwischenstation (z. B. Punktionskanüle, Lichtschalter) übertragen werden (▶ Abb. 5.2). Bei einer indirekten Übertragung über Vektoren übertragen Insekten Erreger durch ihre Bisse/Stiche von einem Infizierten auf den nächsten. Manche Erreger (z. B. bei infektiösen Durchfallerkrankungen) werden direkt oder indirekt über eine ganze Kette von Berührungen weitergegeben. Bei einer solchen Schmieroder Kontaktinfektion gelangen die Keime meist von der Hand in Mund, Nase oder Augen, wenn der Keimträger sich ins Gesicht fasst. Enterale Infektionen • Die Erreger gelangen über den Verdauungstrakt in den Körper, meist über kontaminiertes Wasser oder Lebensmittel. Bei einer fäkal-oralen Infektion treten Erreger aus menschlichen oder tierischen Ausscheidungen (= Fäkalien) über den Mund, also oral, in den Körper ein. Ein typisches Beispiel sind infektiöse Durchfallerkrankungen. Parenterale Infektionen • Die Infektion erfolgt am Verdauungstrakt „vorbei“ in den Körper: ● aerogen-inhalativ: über die Atemwege, v. a. als Tröpfchen oder Aerosole, seltener als Staub ● urogenital: über den Harntrakt bzw. die Geschlechtsorgane (z. B. bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr) ● permukös: über eine Schleimhaut (= Mukosa), z. B. Mundschleimhaut, Schleimhaut der Harnröhre, Bindehäute ● perkutan: durch aktive Verletzung der Haut, z. B. Insektenstich, Wunden, Nadelstichverletzung ● intrauterin: in der Gebärmutter (= Uterus) während der Schwangerschaft (über die Plazenta)

! Merke Ein Erreger, viele Möglichkeiten

Für viele Erreger kommen mehrere Übertragungswege in Frage: Beispielsweise können HI-Viren sexuell, perkutan und perinatal weitergegeben werden, aber nicht aerogen oder fäkal-oral.

Definition Infektionskette Ein Erreger wird von der Infektionsquelle auf einem bestimmten Übertragungsweg auf einen anderen Organismus (Infektionsempfänger) übertragen und kann diesen infizieren oder kolonisieren.

Infektionsquellen

RETTEN TO GO Infektionskette ●

Endogene Infektionen • Die Erreger stammen aus der eigenen, normalerweise ungefährlichen Darm- oder Hautflora (▶ Abb. 5.2). Bei Immunschwäche können sie jedoch eine Infektion auslösen. Zudem können eigentlich harmlose „Mitbewohner“ in falschen Regionen zum Problem werden, z. B. bei der Verschleppung von Darmkeimen in die Harnwege (häufigste Ursache einer Harnwegsinfektion). ●

Exogene Infektionen • Die Erreger stammen von außerhalb des eigenen Körpers und gelangen über verschiedene Eintrittspforten (z. B. Atemwege, Magen-Darm-Trakt) in den Körper. Ein „Spezialfall“ sind nosokomiale Infektionen, die im Rahmen einer medizinischen Maßnahme erworben werden. Daher sind häufig krankenhaustypische, mitunter multiresistente Erreger beteiligt. In einem weiteren Sinne gelten



Krankheitserreger können aus dem eigenen Körper stammen (endogene Infektion, z. B. bei Immunschwäche oder Keimverschleppung) oder von außen in den Körper eindringen (exogene Infektion). Eine nosokomiale Infektion ist eine Infektion, die im Zuge einer medizinischen Maßnahme (oder allgemeiner auch als Folge einer ambulanten Behandlung) erworben wird. Eine iatrogene Infektion ist allgemein eine Infektion als Folge einer medizinischen Behandlung. Infektionen können direkt von Mensch zu Mensch (oder von Tier zu Mensch) oder indirekt über Gegenstände oder Vektoren übertragen werden. Erreger können über den Verdauungstrakt (enteral) oder über verschiedene parenterale Eintrittspforten in den Körper gelangen: Atemwege (inhalativ), Haut (perkutan), Schleimhäute (permukös), Harntrakt/Geschlechtsorgane (urogenital), Plazenta (intrauterin) 149

5

Infektionen und Hygiene Abb. 5.2 Infektionsquellen, Übertragungswege und Eintrittspforten.

Eintrittspforten

Übertragungsweg

Infektionsquelle (Beispiele)

Erregerherkunft von außen

von innen, z. B. E. coli MagenDarmTrakt

enteral

enteral parenteral Atemwege

aerogeninhalativ Schmierinfektion

Haut

perkutan

direkter Kontakt über die Hände

Husten, Niesen

Blutkonserve direkte Infektion

Harn- oder Geschlechtsorgane

Plazenta

urogenital

intrauterin

Kontakt zu kontaminierten Gegenständen oder Lebensmitteln

kontaminierte Insektenbisse Nahrungsmittel indirekte Infektion

Beispiele für Übertragungswege, Infektionsquellen und Eintrittspforten. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Leitsymptome bei Infektionskrankheiten Die Symptome von Infektionskrankheiten sind oft unspezifisch, sodass Sie im Rettungsdienst allein aufgrund der Symptomatik meist keine Aussage über den Erreger machen können. Für die genaue Diagnosestellung ist ein Erregernachweis unerlässlich. Typische Symptome von Infektionskrankheiten sind u. a.: ● schlechter Allgemeinzustand, Krankheitsgefühl ● Fieber und Schüttelfrost ● Kopf- und Gliederschmerzen ● Übelkeit, Erbrechen, Durchfall ● Husten, Schnupfen ● Schwitzen, Unruhe

5.2.2 Wichtige Infektionskrankheiten im Rettungsdienst Allgemeines Der folgende Abschnitt präsentiert eine Auswahl häufiger systemischer Infektionen, mit denen Sie im Rettungsdienst zu tun haben können. Entscheidend wichtig für die Prognose der Patienten ist das frühzeitige Erkennen einer Sepsis (S. 292), um die sehr hohe Sterblichkeit durch eine optimale präklinische Versorgung zu verringern.

150

Organspezifische Infektionen • Infektionskrankheiten, die v. a. bestimmte Organsysteme betreffen, finden Sie in den entsprechenden Kapiteln: ● Meningitis und Enzephalitis (S. 432) ● Infektionen der Atemwege: Pneumonie (S. 267), akute Exazerbation einer COPD (S. 264), Bronchiolitis (S. 278), akute Epiglottitis (S. 278), Pseudokrupp (S. 280) ● urogenitale Infektionen (S. 499) ● Hepatitis (S. 346) Versorgung der Patienten • Die Vitalfunktionen werden nach dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichergestellt und der Patient unter Beachtung der erforderlichen Hygienemaßnahmen zur Zielklinik transportiert. Die erweiterten Maßnahmen ergeben sich aus der jeweils führenden Problematik (z. B. O2Gabe bei Ateminsuffizienz, VEL bei Dehydratation). Bei hohem Fieber wird die Körpertemperatur evtl. bereits präklinisch gesenkt, z. B. durch nicht medikamentöse Maßnahmen wie kalte Wadenwickel und das Entfernen warmer Kleidung. Zusätzlich sind eine i. v.-Flüssigkeitstherapie mit VEL sowie die Gabe fiebersenkender Medikamente (S. 120), z. B. Paracetamol, von Bedeutung.

Infektiologie

Influenza Definition Influenza Die durch Influenzaviren (Typ A und B) ausgelöste Infektion kommt weltweit vor, betrifft v. a. die Atemwege betrifft und tritt gehäuft in den Wintermonaten auf. Synonyme • Virusgrippe, echte Grippe Übertragungswege • Tröpfcheninfektion oder direkter Kontakt mit kontaminierten Händen oder Flächen Symptome • Nach einer Inkubationszeit von 1–2 Tagen entwickeln sich meist sehr plötzlich hohes Fieber (bis > 40 °C), trockener Husten, Halsschmerzen und Schnupfen, begleitet von heftigen Kopf-, Glieder- und Muskelschmerzen sowie evtl. Erbrechen und Durchfall. Der Allgemeinzustand ist deutlich reduziert. Das hohe Fieber erhöht den Flüssigkeitsund Elektrolytbedarf mit Gefahr einer Dehydratation, eines Blutdruckabfalls und eines hypovolämischen Schocks. Insbesondere bei älteren oder immungeschwächten Menschen, bei Vorerkrankungen der Atemwege (z. B. COPD) sowie bei Schwangeren besteht ein erhöhtes Komplikationsrisiko. Bei deutlicher Lungenbeteiligung kann sich eine Ateminsuffizienz entwickeln. Sinnvolle Hygienemaßnahmen • Tragen Sie bei der Versorgung von Patienten mit Verdacht auf Influenza Handschuhe, eine Schutzbrille und eine FFP2-/3-Maske. Für alle Mitarbeitenden im Gesundheitswesen wird eine jährliche Schutzimpfung empfohlen.

COVID-19 Definition COVID-19 Die Abkürzung COVID-19 steht für „Corona Virus Disease 2019“, eine symptomatische Infektion mit dem Ende 2019 erstmals nachgewiesenen Coronavirus SARS-CoV-2 (schweres akutes Atemwegssyndrom Coronavirus 2). Übertragungswege • SARS-CoV-2 gelangt meistens durch die Aufnahme von Aerosolen und virushaltigen Tröpfchen in die Atemwege. Infizierte sind bereits einige Tage vor Symptombeginn ansteckend, auch Ansteckungen durch im kompletten Infektionsverlauf symptomfreie Personen sind möglich. Symptome • Nach einer Inkubationszeit von 5–6 Tagen entwickeln sich variable und eher unspezifische Symptome, darunter Fieber, trockener Husten, Schnupfen, Geruchs- und/ oder Geschmacksverlust, Atemnot, Muskel-, Gelenk-, Halsund Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfälle, Hautausschläge und Lymphknotenschwellungen. Bei schweren Verläufen entwickelt sich eine Pneumonie mit der Gefahr eines akuten Lungenversagens (S. 267), eines septischen Schocks (S. 292) und/oder eines Multiorganversagens. Insbesondere ältere und vorerkrankte Menschen haben ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Sinnvolle Hygienemaßnahmen • Tragen Sie bei der Versorgung von Patienten mit Verdacht auf COVID-19 Handschuhe, eine Schutzbrille, einen Schutzoverall oder -kittel und eine FFP2-/3-Maske. Die wichtigste prophylaktische Maßnahme gegen einen schweren Verlauf ist die aktive Impfung gegen SARS-CoV-2, entsprechend den aktuellen Empfehlungen. Das Einhalten der AHA-L-Regeln reduziert das Risiko weiter: Halten Sie nach Möglichkeit einen Abstand von 1,5 m (A), be-

achten Sie Hygieneregeln (H: Reinigen und Desinfizieren der Hände, Husten und Niesen in die Ellenbeuge), tragen Sie eine FFP2-Maske im Alltag (A) und lüften Sie regelmäßig (L).

Infektiöse Durchfallerkrankungen Definition Infektiöse Durchfallerkrankungen Ein breites Spektrum von Erregern kann Schleimhautentzündungen im Magen-Darm-Trakt und damit eine Gastroenteritis mit den Leitsymptomen Übelkeit, Erbrechen und Durchfall auslösen. Erreger • In Deutschland sind die häufigsten Erreger Noround Rotaviren (v. a. bei Kleinkindern) sowie Bakterien aus der Gruppe der Salmonellen, E. coli, Campylobacter, Shigellen oder Clostridien. Nach einem Aufenthalt in den Tropen kommen zusätzlich u. a. Einzeller (z. B. Amöben, Giardien) sowie die Erreger des Typhus und der Cholera infrage. Übertragungswege • Die Infektionen werden meistens fäkaloral übertragen, d. h. durch das Berühren verunreinigter Gegenstände oder Hände oder den Konsum verunreinigter Lebensmittel (v. a. Fleisch- und Eiprodukte) bzw. verunreinigten Trinkwassers. Noroviren können, wenn der Betroffene erbricht, auch über Aerosole übertragen werden. Dadurch sind sie sehr ansteckend und können kleine Epidemien auslösen (z. B. in Pflegeheimen oder Kindergärten). Symptome • Nach Ablauf der erregertypischen Inkubationszeit entwickeln die Betroffenen Durchfall, Übelkeit und Erbrechen. Die „Qualität“ des Durchfalls (z. B. wässrig, blutig, schleimig, voluminös) und das Ausmaß von Übelkeit und Erbrechen unterscheiden sich je nach Erreger. Mögliche Begleitsymptome sind Fieber und krampfartige Bauchschmerzen. Meist ist der Verlauf relativ harmlos, Säuglinge, Kleinkinder und alte Menschen haben jedoch ein erhöhtes Risiko für starke Flüssigkeits- und Elektrolytverluste, die zu einer Dehydratation (S. 502) mit Gefahr eines hypovolämischen Schocks und zu Elektrolytstörungen führen können. Sinnvolle Hygienemaßnahmen • Tragen Sie bei der Versorgung von Patienten mit Verdacht auf eine infektiöse Gastroenteritis Handschuhe und eine FFP2-/3-Maske. Verwenden Sie zur Händedesinfektion viruswirksame Händedesinfektionsmittel. Gehen Sie z. B. immer davon aus, dass sich an den Händen der Erkrankten Erreger finden, ebenso an Gegenständen in deren Umfeld und in Erbrochenem.

HIV und AIDS Definition HIV und AIDS Das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) ist der Erreger der weltweit verbreiteten und bislang nicht heilbaren Erkrankung AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome), die v. a. durch eine zunehmende Schwächung des Immunsystems geprägt ist. Übertragungswege • HI-Viren werden über Sexualkontakte (am wichtigsten: ungeschützter Geschlechtsverkehr), infiziertes Blut (z. B. bei Needle-Sharing bei i. v.-Drogenkonsum) oder von Müttern auf die Kinder (vor oder während der Geburt, beim Stillen) übertragen. Die Viren infizieren und schädigen v. a. T-Helferzellen. Dies beeinträchtigt die Immunabwehr des Körpers gegen das HI-Virus, aber auch gegen andere Erreger und Vorstufen von Tumorzellen. Symptome • Ohne Behandlung ist das Immunsystem nach einer Latenzphase von durchschnittlich 10 Jahren so weit 151

5

Infektionen und Hygiene geschädigt, dass auch eigentlich harmlose Erreger Infektionen auslösen können und generell häufiger Infektionen auftreten (z. B. Tuberkulose, häufige Pilzinfektionen). Die eingeschränkte Immunabwehr erhöht zudem das Risiko für bestimmte bösartige Tumoren. Treten solche AIDS-definierenden Erkrankungen auf, spricht man von der Krankheit AIDS. Therapie • Inzwischen stehen hochwirksame Medikamente zur Verfügung, die zwar keine vollständige Heilung ermöglichen, aber die Virusvermehrung so weit unterdrücken, dass AIDS nicht zum Ausbruch kommt. Behandelte haben eine fast normale Lebenserwartung bei guter Lebensqualität. Insbesondere in armen Ländern ist die Versorgungssituation allerdings oft sehr schlecht. Sinnvolle Hygienemaßnahmen • Im Rettungsdienst besteht die Gefahr einer Infektion v. a. bei Nadelstichverletzungen (S. 160) und bei Kontakt mit Patientenblut, z. B. bei der Versorgung blutender Wunden. Allgemein wichtige Maßnahmen sind die Verwendung von Kondomen bei Sexualkontakten, die Bereitstellung von sauberen Nadeln für Menschen, die i. v. Drogen konsumieren, ggf. eine Präexpositionsprophylaxe (S. 153) sowie ein HIV-Test in der Schwangerschaft, um eine Übertragung auf das Kind zu vermeiden. Eine Impfung ist noch nicht verfügbar.

RETTEN TO GO Wichtige Infektionskrankheiten im Rettungsdienst ●







152

Influenza: Die „echte Grippe“ wird durch Influenzaviren ausgelöst. Sie beginnt plötzlich mit Fieber, trockenem Husten, Halsschmerzen und Schnupfen. Begleitend bestehen Kopf-, Glieder- und Muskelschmerzen. Schwere Verläufe mit Pneumonie und ggf. Ateminsuffizienz kommen v. a. bei älteren Menschen oder Vorerkrankungen der Atemwege (z. B. COPD) vor. COVID-19 ist eine symptomatische Infektion durch das Coronavirus SARS-CoV-2 (schweres akutes Atemwegssyndrom Coronavirus 2). Die Viren werden durch größere Tröpfchen und Aerosole, die eingeatmet werden, übertragen. Häufige Symptome sind Fieber, Husten, Schnupfen, Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns, Atemnot, Kopf- und Gliederschmerzen, Erbrechen und Durchfall. Wichtige Akutkomplikationen sind eine Pneumonie mit Gefahr eines akuten Lungenversagens, eines septischen Schocks und/oder eines Multiorganversagens. Besonders gefährdet sind ältere und vorerkrankte Menschen. Infektiöse Durchfallerkrankungen werden durch zahlreiche Erreger ausgelöst (z. B. Noro- und Rotaviren, Salmonellen, E. coli). Der Krankheitsverlauf ist meist harmlos und selbstlimitierend. Typische Symptome sind Durchfall, Übelkeit und Erbrechen, evtl. auch Fieber oder Bauchschmerzen. Bei älteren Menschen und Säuglingen/ Kleinkindern besteht durch die Flüssigkeits- und Elektrolytverluste die Gefahr einer Dehydratation mit hypovolämischem Schock und Elektrolytstörungen. AIDS (Acquired Immunodeficiency Syndrome) ist eine erworbene Immunschwächekrankheit, die durch das humane Immundefizienz-Virus (HIV) ausgelöst wird. Die Viren werden durch Sexualkontakte, infiziertes Blut oder von der Mutter auf das Kind übertragen. Ohne Behandlung treten nach einer Latenzphase (ca. 10 Jahren) erste AIDS-definierende Erkrankungen auf, u. a. Infektionen durch eigentlich harmlose Erreger (z. B. Pilzinfektionen)

und bestimmte bösartige Tumoren. Eine Heilung ist noch nicht möglich. Medikamente unterdrücken jedoch die Virusvermehrung und den Ausbruch von AIDS, sodass Behandelte eine fast normale Lebenserwartung haben.

5.2.3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) Das Ziel des Infektionsschutzgesetzes ist der Schutz der Bevölkerung vor übertragbaren Erkrankungen durch ein frühzeitiges Erkennen, Vorbeugen und Verhindern von Infektionskrankheiten. Meldepflicht • Verschiedene Infektionen müssen bereits bei Verdacht dem Gesundheitsamt gemeldet werden (z. B. Keuchhusten, COVID-19, Windpocken, akute Virushepatitis), andere erst beim Nachweis des Erregers. In der Regel führt der behandelnde Arzt die Meldung durch. Prinzipiell sind auch Mitarbeitende des Not- und Rettungsdienstes zur Meldung verpflichtet (im Sinne einer „sektorübergreifenden Informationsvermittlung“ an die geeignete Stelle, z. B. Äußerung der Vermutung im Zielkrankenhaus). Allerdings ist diese Pflicht ausgesetzt, wenn der Patient unverzüglich in ein Krankenhaus gebracht wird, wo der behandelnde Arzt dieser Pflicht nachkommt. Weitere Regelungsbereiche • Geregelt sind auch die Absonderung von Personen (Isolierung, Quarantäne), die Verpflichtung zur Erstellung von Hygieneplänen für medizinische Einrichtungen und den Rettungsdienst und die Ermächtigung der Länder zum Erlass von Hygieneverordnungen. Somit sind auch die medizinischen Hygieneverordnungen (MedHygV) der Länder für den Rettungsdienst zu berücksichtigen. Umfangreiche Hygieneverordnungen werden in Gesetzestexten, Verordnungen und Fachtexten bzw. Regelwerken (TRBA 250, TRGS 525) festgehalten und bilden den rechtlichen Rahmen für den Umgang mit medizinischen Hygieneprodukten, potenziell infektiösen Patienten und Materialien.

5.3 Hygiene Definition Hygiene Hygiene ist die Lehre von der Verhütung von Krankheiten und der Förderung der Gesundheit. Sie beschäftigt sich u. a. mit Maßnahmen zur Vorbeugung von Infektionskrankheiten, um den Kontakt mit potenziellen Krankheitserregern zu reduzieren. Im gesamten medizinischen Bereich, auch im Rettungsdienst, ist die gewissenhafte Durchführung von Hygienemaßnahmen äußerst wichtig, um das Risiko einer Übertragung von Krankheitserregern zu reduzieren.

5.3.1 Infektionsprophylaxe Expositionsprophylaxe Zielsetzung • Die Maßnahmen sollen den Kontakt mit (= die Exposition gegenüber) potenziellen Krankheitserregern möglichst reduzieren. Geeignete Maßnahmen Maßnahmen der persönlichen Hygiene (S. 158), z. B. hygienische Händedesinfektion, Tragen der PSA ● Desinfektion bzw. Sterilisation (S. 156) von „Werkzeugen“ (z. B. Instrumente, Kanülen) und Oberflächen ●

Hygiene







● ●



Hygienemaßnahmen am Patienten, z. B. Hautdesinfektion vor invasiven Eingriffen Vermeiden des Aufenthalts in infektionsgefährdeten Regionen, z. B. keine Einreise in Epidemiegebiete Lebensmittel- und Trinkwasserhygiene, z. B. Abkochen des Wassers bei fragwürdiger Trinkwasserqualität Sexualhygiene, z. B. Verwendung von Kondomen Schutz vor Insektenstichen (z. B. durch bedeckende Kleidung, Repellents oder Moskitonetze) Absonderung potenziell infektiöser Personen

Dispositionsprophylaxe Zielsetzung • Die Maßnahmen reduzieren die individuelle Empfänglichkeit („Disposition“) für eine Infektionskrankheit. Grundlagen • Eine Infektionskrankheit entsteht nur, wenn die Erreger das Immunsystem des Infizierten überwinden können. Deshalb gilt: Je schwächer die Immunabwehr des betroffenen Organismus, umso höher ist das Infektionsrisiko. Typische Gründe für eine unzureichende Immunabwehr sind angeborene Störungen des Immunsystems, schwere Grunderkrankungen, Diabetes mellitus, eine HIV-Infektion oder bestimmte Medikamente (z. B. Chemotherapie, Glukokortikoide). Dadurch können auch normalerweise harmlose oder sog. opportunistische Erreger (diese lösen nur eine Infektion aus, wenn die Umstände es zulassen) eine Erkrankung auslösen. Aber auch ein gesundes Immunsystem kann durch besonders aggressive (= virulente) Erreger überfordert sein. Geeignete Maßnahmen ● gesunder Lebensstil, z. B. ausreichend Schlaf, ausgewogene Ernährung, regelmäßige sportliche Betätigung, gute Psychohygiene, Meiden schädigender Faktoren (z. B. Alkohol, Nikotin, sonstige Drogen, unnötige Medikamente) ● Impfungen (aktive Immunisierung) ● ggf. passive Immunisierungen ● ggf. optimale Einstellung chronischer Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus) ● ggf. Prä- oder Postexpositionsprophylaxe Impfungen • Dem Körper werden lebende und vermehrungsfähige, aber abgeschwächte Krankheitserreger (Lebendimpfstoffe), tote Krankheitserreger (Totimpfstoffe) oder

auch nur einzelne Proteine oder Erbinformationen (mRNAImpfstoffe) des Erregers verabreicht (▶ Abb. 5.3). Der geimpfte Organismus bildet dann Antikörper („aktive“ Immunisierung) gegen diesen Erreger, wodurch sich ein immunologisches Gedächtnis bildet, das spezifische Immunsystem (S. 56) bei einem erneuten Kontakt mit dem Erreger sofort „einsatzbereit“ ist und der Geimpfte keine oder nur abgeschwächte Krankheitssymptome entwickelt. Je nach Impfung hält der Immunschutz mehr oder weniger lang an. Bei vielen Impfstoffen müssen für einen guten Schutz zur Grundimmunisierung mehrere Teilimpfungen und im späteren Verlauf Auffrischungsimpfungen (Booster) durchgeführt werden. Die Ständige Impfkommission beim Robert Koch Institut (STIKO) gibt jährlich aktualisierte, online abrufbare Impfempfehlungen mit hohem Empfehlungsgrad heraus. Für Personal im Gesundheitswesen sind folgende Impfungen vorgeschrieben (Stand 01/2024): ● Hepatitis A und B: ggf. Grundimmunisierung nachholen ● Kombinationsimpfung Masern/Mumps/Röteln (MMR), sofern nach 1970 geboren: ggf. Grundimmunisierung nachholen ● COVID-19 entsprechend den aktuellen Empfehlungen Folgende Impfungen werden für Personal im Gesundheitswesen empfohlen (zusätzlich zu den allgemeinen Impfempfehlungen): ● Influenza: jährlich, unabhängig vom Lebensalter ● Pertussis (Keuchhusten): Auffrischungen alle 10 Jahre ● Varizellen (Windpocken): ggf. Grundimmunisierung nachholen Passive Immunisierung • Die Patienten erhalten „fertige“ Antikörper, d. h. der Körper muss sie nicht selbst bilden. Dadurch sind sie sofort vor dem jeweiligen Erreger geschützt, dies hält jedoch nicht lange an. Präexpositionsprophylaxe • Bereits im Vorfeld einer Risikosituation werden bestimmte Medikamente eingenommen, die eine Infektion verhindern sollen. Typische Anwendungssituationen für eine solche Chemoprophylaxe sind: ● HIV-PrEP: Personen mit erhöhtem Risiko für eine HIV-Infektion über Sexualkontakte (z. B. HIV-positiver Partner) können anlassbezogen oder über einen längeren Zeitraum gegen HIV wirksame Medikamente einnehmen. ● Malaria: Reisende in bestimmte Gebiete sollen prophylaktisch Malariamedikamente einnehmen.

Abb. 5.3 Aktive und passive Immunisierung.

aktive Immunisierung

mRNA abgeschwächte Antigene oder tote Erreger

Körper produziert eigene Antikörper

passive Immunisierung

fremde Antikörper

fremde Antikörper bekämpfen die Infektion

Schutz über Jahre

kurzfristiger Schutz

z.B. SARS-CoV-2, Masern, Mumps, Röteln, Diphtherie, FSME

z.B. Tetanus, Tollwut

Im Unterschied zur passiven Immunisierung muss sich der Körper bei der aktiven Immunisierung selbst mit dem Antigen auseinandersetzen. Typische Anwendungen für passive Immunisierungen sind Infektionen durch toxinbildende Bakterien (z. B. Tetanus, Tollwut) oder die Behandlung stark abwehrgeschwächter Patienten. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der „Nestschutz“ für Neugeborene: Sie erhalten über die Plazenta bzw. Muttermilch Antikörper der Mutter, die sie in den ersten Lebensmonaten vor Infektionen schützen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

153

HYGIENE IM RETTUNGSDIENST STANDARDHYGIENEMASSNAHMEN

MUND- UND AUGENSCHUTZ ggf. Mundschutz/ Schutzbrille schützen vor Kontakt mit erregerhaltigen Flüssigkeiten/Aerosolen

HANDSCHUHE ERSETZEN NICHT DIE HÄNDEDESINFEKTION!

SCHUTZKLEIDUNG

+

schützt vor Kontamination mit organischem Material

EINMALHANDSCHUHE schützen bei Kontakt mit Schleimhäuten und Körperflüssigkeiten

NADELABWURFBEHÄLTER/ SICHERHEITSKANÜLEN

!

schützen vor Nadelstichverletzungen

EINWIRKZEIT BEACHTEN!

REINIGUNG UND DESINFEKTION DES FAHRZEUGS

kontaminierte Flächen Wischdesinfektion im Rahmen der Einsatznachbereitung verunreinigte Flächen sofortige Wischdesinfektion + wöchentliche Routinedesinfektion und Gesamtreinigung

PERSÖNLICHE HYGIENE

HÄNDEHYGIENE ALS ZENTRALES ELEMENT

WANN? 5 MOMENTE DER HÄNDEDESINFEKTION

1. REINIGUNG

15–30 s Waschen mit flüssigem Reinigungspräparat

WANN? vor jedem Patientenkontakt

nach jedem Kontakt mit der unmittelbaren Patientenumgebung

• bei Dienstantritt und -ende • vor dem Essen • nach dem Niesen, Husten usw. • nach jedem WC-Besuch • bei Verschmutzung

1. 5.

2. 4.

nach jedem Patientenkontakt

3.

vor aseptischen Tätigkeiten

2. TROCKNEN

nach jedem Kontakt mit potenziell infektiösem Material

3. HYGIENISCHE HÄNDEDESINFEKTION

Desinfektionsmittel auf der trockenen Haut verreiben (30 s nach 6-Punkt-Methode)

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

5

Infektionen und Hygiene Postexpositionsprophylaxe • Die prophylaktische Einnahme eines Antiinfektivums (z. B. Antibiotikum, Virostatikum), nachdem man potenziell Kontakt mit Krankheitserregern hatte, soll die Verbreitung von Erregern im Organismus verhindern. Typische Anwendungssituationen sind: ● Nadelstichverletzungen (S. 160) ● potenzieller Kontakt mit Meningokokken (S. 432)

RETTEN TO GO Infektionsprophylaxe ●



Maßnahmen der Expositionsprophylaxe reduzieren den Kontakt mit Erregern, z. B. durch Händehygiene, Schutzkleidung, Absonderung Infizierter, Verwendung steriler Arbeitsmaterialien und Lebensmittelhygiene. Maßnahmen der Dispositionsprophylaxe reduzieren die individuelle Empfänglichkeit für eine Infektion, z. B. durch einen gesunden Lebensstil, die optimale Einstellung chronischer Erkrankungen, Immunisierungen (aktiv oder passiv) oder eine medikamentöse Prä- bzw. Postexpositionsprophylaxe.

5.3.2 Reinigung, Desinfektion und Sterilisation

Desinfektion Grundlagen

Definition Desinfektion Die Belastung mit Mikroorganismen wird thermisch, chemisch bzw. durch Bestrahlung um bis zu 99,9 % reduziert. Methoden ● thermische Desinfektion (Waschen mit hohen Temperaturen, strömender Dampf): Bettwäsche, Kleidung, Geschirr ● chemische Desinfektion durch Alkohole (Ethanol, Isopropanol, N-Propanol), Aldehyde (für Instrumente, Flächen, Geräte) oder Halogene (Chlor für Trink-, Bade- und Abwasser) ● Desinfektion durch Bestrahlung, z. B. mit UV-Licht oder ionisierenden Strahlen Im Rettungsdienst wird meistens chemisch mit Alkoholen desinfiziert, weil dies einfach und schnell ist. Vorschriften • Für die in Rettungswachen relevanten Reinigungs- und Desinfektionsmittel sowie deren Anwendung sollte es genaue Reinigungsvorschriften geben. Die Hygienebeauftragten der Wache (S. 19) sollen diese Vorschriften erarbeiten und an alle relevanten Personen kommunizieren (z. B. als Aushänge mit Checklisten und Abbildungen).

Hautdesinfektion

Reinigung Definition Reinigung Verunreinigungen werden mechanisch und chemisch entfernt. Dies reduziert die Zahl der Keime um 50–80 %. Die verbleibenden Keime sind weiterhin vermehrungsfähig. Die zu reinigende Oberfläche (Haut, Gegenstände) wird mechanisch mit Bürsten, Lappen o. Ä. abgerieben und mit warmem oder heißem Wasser abgespült, s. a. Händewaschen (S. 158). Zusätzlich werden Reinigungsmittel, v. a. enzymatische Reiniger oder Tenside, eingesetzt. Eine Reinigung ist die Voraussetzung für eine effiziente Desinfektion oder Sterilisation.

Indikationen ● Wunden, invasive Eingriffe: Jede Wunde bietet Krankheitserregern eine Eintrittspforte. Daher müssen Sie nach einer Verletzung oder vor einem invasiven Eingriff (Injektion, Punktion, chirurgischer Eingriff) den Bereich um die Wunde bzw. den geplanten Eingriff desinfizieren (▶ Abb. 5.4). ● hygienische Händedesinfektion (S. 159) Typische Einwirkzeiten von Hautdesinfektionsmitteln sind 30 s bzw. 60 s bei stark behaarter Haut. Beachten Sie allerdings immer die ggf. abweichenden Herstellerangaben!

Instrumentendesinfektion Medizinische Instrumente (z. B. Laryngoskope, Absaugpumpen, Beatmungsmasken) sollten unmittelbar nach dem Gebrauch desinfiziert werden. In der Regel werden sie in einem Behälter mit Desinfektionsmittel (Dosierung beachten!) benetzt und der Behälter abgedeckt, da sich reizende

Abb. 5.4 Hautdesinfektion. Eine Desinfektion mit einem alkoholischen Hautdesinfektionsmittel ist z. B. vor der Punktion einer peripheren Vene indiziert. Sofern es der Vitalzustand des Patienten erlaubt, sollten Sie die Einwirkzeit des Desinfektionsmittels abwarten. a Besprühen Sie die Punktionsstelle aus geringem Abstand. b Wischen Sie die Punktionsstelle anschließend mit einem sterilen Tupfer ab. a

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b

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Hygiene Abb. 5.5 Wisch-Desinfektion.

Wann wird desinfiziert? Laufende Desinfektion • Im Rahmen von Desinfektionsroutinen werden verunreinigte Flächen möglichst sofort, der Patientenraum täglich und der gesamte Rettungswagen wöchentlich desinfiziert.

Tragen Sie beim Arbeiten mit Flächendesinfektionsmitteln immer geeignete Schutzhandschuhe. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme.

Gase bilden können. Nach Ende der Einwirkzeit werden die desinfizierten Instrumente abgespült und zum Trocknen an einem dafür gekennzeichneten Ort abgelegt. Abschließend wird die Funktion überprüft. Für das genaue Vorgehen gibt es Reinigungspläne. Um eine Kontamination und Keimübertragung sicher zu verhindern, werden möglichst Einmalmaterialien verwendet.

Oberflächendesinfektion des Rettungswagens Nach der Reinigung mit Beseitigen der groben Verunreinigungen wird Desinfektionsmittel auf die Oberflächen (z. B. Ablageflächen, Boden, Wände) aufgetragen (▶ Abb. 5.5). Bewährt haben sich hierfür folgende Maßnahmen (dabei auf Schutzmaßnahmen gemäß TRBA 250 achten; TRBA = technische Regeln für biologische Arbeitsstoffe): ● Wisch-Scheuer-Methode: Das Desinfektionsmittel wird mit Wisch-Scheuer-Bewegungen auf der Fläche verteilt. ● Zwei-Eimer-Wischmethode: Zwei Eimer werden mit der Desinfektionslösung befüllt. In den ersten Eimer tauchen Sie das Desinfektionstuch ein und verteilen das Desinfektionsmittel auf der zu desinfizierenden Fläche. Zum Auswaschen tauchen Sie das Tuch in den zweiten Eimer, um die Mehrzahl der Keime auszuwaschen. Danach tauchen Sie das Tuch wieder in den ersten Eimer und verteilen erneut Desinfektionsmittel. ● Vliestuchspendertechnik: Vliestücher werden aus einem Behälter entnommen, der mit Desinfektionsflüssigkeit getränkt ist. Bei korrekter Pflege der Behälter kann sich kein Biofilm bilden. Diese Methode reduziert die Abwasserbelastung. Bei allen genannten Methoden sollte ein leichter Flüssigkeitsfilm auf der Oberfläche verbleiben. Wichtig ist, dass Sie die notwendige Einwirkzeit einhalten und die desinfizierte Oberfläche nicht abtrocknen. Achten Sie während der Desinfektion auf eine gute Belüftung.

ACHTUNG Um Schleimhaut- und/oder Hautirritationen zu vermeiden, sollten Sie immer speziell für die Desinfektion geeignete (!) Schutzhandschuhe, eine Schutzbrille und einen Schutzkittel tragen.

Schlussdesinfektion • Das Ziel ist es, dass vom Innenraum des Rettungswagens keine Infektionsgefahr mehr ausgeht. Im Anschluss an einen Transport oder eine Behandlung muss desinfiziert werden, und zwar: ● nach einem normalen Transport: Desinfektion aller Gegenstände, Instrumente und Flächen, die der Patient berührt hat, sowie der patientennahen Umgebung; Wechsel der Einweglaken, Kissenbezüge und Decken ● nach einem Infektionstransport: Anwendung spezieller Desinfektionsmittel (Einwirkzeiten beachten!) und Konzentrationen im Patientenraum; nur sehr selten, bei hochansteckenden Krankheiten Aufbereitung des gesamten Fahrzeug mittels Dampfreinigungsverfahren etc.

Sterilisation Definition Sterilisation Das Ziel ist eine irreversible Inaktivierung bzw. Abtötung aller vermehrungsfähigen Mikroorganismen und deren Dauerformen (z. B. Sporen) auf Gegenständen – durch Hitze, chemische Substanzen oder Bestrahlung. Eine Sterilisation kann nur in speziellen Sterilisationsabteilungen erfolgen (meist in einem Krankenhaus). Was muss im Rettungsdienst steril sein? • Steril müssen alle Instrumente oder Materialien sein, mit denen man unter die Haut vorstößt (z. B. Kanülen, sterile Handschuhe, Instrumente), sowie das gesamte Wundversorgungsmaterial. Steril verpackte Gegenstände müssen unbeschädigt sein, das Verfallsdatum darf nicht überschritten und der farbige Indikatorstreifen als Hinweis auf Sterilität muss gut erkennbar sein. Ist einer dieser Punkte nicht erfüllt, werden die Gegenstände entsorgt oder (wenn möglich) erneut sterilisiert.

RETTEN TO GO Reinigung, Desinfektion und Sterilisation ●





Der erste Schritt ist immer eine mechanische Reinigung, meist unterstützt durch Tenside oder enzymatische Reiniger. Bei der Desinfektion werden Erreger thermisch oder chemisch entfernt bzw. abgetötet, sodass keine Infektionsgefahr mehr von ihnen ausgeht. Typische Anwendungen im Rettungsdienst sind die Hautdesinfektion am Patienten, die hygienische Händedesinfektion und die Oberflächendesinfektion im Rettungswagen. Die Sterilisation zielt darauf ab, alle vermehrungsfähigen Mikroorganismen und deren Dauerformen (z. B. Sporen) auf Gegenständen irreversibel zu inaktivieren bzw. abzutöten – durch Hitze, chemische Substanzen oder Bestrahlung.

157

5

Infektionen und Hygiene

5.3.3 Persönliche Hygiene

Abb. 5.6 Rettungssanitäter mit Dienstkleidung.

Allgemeine persönliche Hygiene Eine sorgfältige persönliche Hygiene der Mitarbeitenden im Rettungsdienst reduziert die Infektionsgefahr stark. Darüber hinaus ist ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild auch im Rettungsdienst wichtig. Grundsätzlich sollten Sie sich an folgende Regeln der Körperhygiene halten (auch erwähnt in der TRBA 250). Nach jedem Schichtende duschen und Haare waschen • Dabei werden die auf der Haut bzw. den Haaren befindlichen Erreger abgespült (Vorteil gegenüber einem Vollbad). Lange Haare sollten im Dienst geschlossen getragen werden. Fingernägel kurz (und nicht lackiert) Kurze, rund geschnittene Fingernägel reduzieren das Verletzungsrisiko für die Patienten (z. B. beim Umlagern). ● Bei lackierten Nägeln sind vermutlich Verunreinigungen unter den Nägeln nicht erkennbar. Durch chemische Desinfektionsmittel wird der Nagellack abgelöst und spröde (→ Keimnische für Mikroorganismen und Schmutz). In der TRBA 250 wird jedoch das Lackieren der Fingernägel nicht explizit untersagt, sondern obliegt einer gesonderten Risikobeurteilung. ●

Regelmäßige Hautpflege • Pflegen Sie Ihre durch häufiges Duschen, Händewaschen und Desinfizieren strapazierte Haut regelmäßig, damit sie elastisch, geschmeidig und widerstandsfähig bleibt. Deshalb gibt es in Rettungswachen oder Krankenhäusern häufig Cremespender neben den Waschbecken. Kein Schmuck • Uhren, Ringe sowie Schmuck an Unterarmen und Händen sollen laut TRBA 250 nicht getragen werden, anderer Schmuck sollte kritisch hinterfragt bzw. möglichst zum Dienst abgenommen werden: Patienten und Kollegen können verletzt werden, Fingerringe können die darüber getragenen Schutzhandschuhe beschädigen. Darüber bietet Schmuck potenzielle „Keimnischen“.

Dienstkleidung Dienstkleidung • Der Arbeitgeber muss die notwendige und geeignete Dienstkleidung kostenlos zur Verfügung stellen: Diensthose und -jacke, Pullover, Sweatshirt, Poloshirt sowie geschlossene, knöchelhohe rutsch- und säurefeste Sicherheitsschuhe (geregelt durch die gesetzliche Unfallversicherung, Regel 2106, ▶ Abb. 5.6). In der Rettungswache muss eine entsprechende Reinigung (Wäschedesinfektion, Waschen bei hohen Temperaturen) möglich sein. Persönliche Schutzausrüstung (PSA) • Abhängig von der Art des Einsatzes wird spezielle Schutzausrüstung getragen, z. B. Kleidungsstücke oder Ausrüstungsgegenstände, die vor Infektionen, Verletzungen oder CBRN-Gefahren (S. 544) schützen, insbesondere Einmalhandschuhe, Atemschutz bzw. FFP-Maske, Schutzbrille und Helm, für Infektionstransporte zusätzlich spezielle Schutzhandschuhe, Einmaloveralls und eine Filtermaske. Kleiderregeln im Rettungsdienst Beginnen Sie jeden Dienst mit einer frisch gereinigten Uniform. ● Halten Sie die Dienstkleidung möglichst immer geschlossen, um eine Kontamination der Unterkleidung bzw. der Haut zu verhindern. ●

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a

b

Der Arbeitgeber muss kostenlos Dienstkleidung bereitstellen. a Persönliche Schutzausrüstung: Helm, geschlossene Dienstjacke, geschlossene Schuhe, Dienstkleidung mit Reflektorstreifen. b Schutzanzug (Einmaloverall) zum Transport infektiöser Patienten (Einmalhandschuhe, Atemschutz und Schutzbrille). Fotos: © K. Oborny/Thieme







● ● ●

Wechseln Sie kontaminierte Kleidung sofort nach dem Einsatz. Desinfizieren Sie kontaminierte Schuhe so schnell wie möglich. Trennen Sie Dienstkleidung und private Kleidung konsequent! Ziehen Sie die Dienstkleidung nach jedem Dienst aus und lassen Sie diese reinigen, um eine Verschleppung der anhaftenden Keime in den privaten Bereich zu vermeiden. Die Wäsche muss in der Wache oder in einer externen Wäscherei mit einem desinfizierenden Waschverfahren gereinigt werden. Schutzkleidung darf nicht zu Hause gewaschen werden. Reinigen und ggf. desinfizieren Sie die Schuhe regelmäßig. Bei stärkeren Verunreinigungen oder nach Infektionstransporten muss die Wäsche durch Fremdfirmen aufbereitet werden (am besten in reißfesten und flüssigkeitsdichten Säcken lagern bzw. anliefern lassen).

Händehygiene Die Händehygiene ist entscheidend wichtig, um Schmierinfektion zu vermeiden und damit sowohl die Patienten als auch sich selbst vor Infektionen zu schützen.

Händewaschen Zielsetzung • Die werden Mikroorganismen nicht abgetötet, sondern nur abgewaschen und ihre Zahl vermindert. Obwohl die Keimzahl signifikant reduziert wird, ist das Händewaschen keine Alternative zur hygienischen Händedesinfektion. Es wird in folgenden Situationen empfohlen: ● bei Dienstbeginn und -ende ● vor den Mahlzeiten ● nach jedem Toilettenbesuch ● bei sichtbarer Verschmutzung ● nach dem Niesen, Naseputzen oder Husten

Hygiene Abb. 5.7 Hygienische Händedesinfektion Schritt für Schritt.

1 Handfläche auf Handfläche

2 rechte Handfläche über linkem Handrücken, linke Handfläche über rechtem Handrücken

3 Handfläche auf Handfläche mit verschränkten, gespreizten Fingern

4 Außenseite der Finger auf gegenüberliegenden Handflächen mit verschränkten Fingern

5 kreisendes Reiben des rechten Daumens in der geschlossenen linken Handfläche und umgekehrt

6 kreisendes Reiben mit geschlossenen Fingerkuppen der linken Hand in der rechten Handfläche und umgekehrt

Achten Sie auf eine korrekte Vorgehensweise, damit die Keimzahl auf Ihren Händen weitestgehend vermindert wird. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020; Foto: © K. Oborny/Thieme

Vorgehen • Im Rettungsdienst wird hautverträgliche, rückfettende Flüssigseife aus Wandspendern eingesetzt. Waschen Sie die Hände mit lauwarmem Wasser 15–30 s lang, und zwar die gesamte Haut der Hände und die Fingernägel. Achten Sie darauf, beim Waschen die Umgebung und die Bekleidung nicht zu bespritzen! Haben Sie beim Händewaschen das Waschbecken und die Umgebung (z. B. durch Spritzwasser) übermäßig kontaminiert, müssen Sie diese Oberflächen und im Anschluss Ihre Hände desinfizieren. Trocknen Sie die Hände mit einem Einmalpapierhandtuch ab und pflegen Sie Ihre Hände mit Hautschutzcreme. Vor einer anschließenden Händedesinfektion muss die Haut vollständig trocken sein, da sonst das Desinfektionsmittel verdünnt und seine Wirkung eingeschränkt wird.

Hygienische Händedesinfektion Zielsetzung • Die Zahl unerwünschter Keime auf der Haut der Hände soll so weit reduziert werden, dass eine Übertragung nach Möglichkeit verhindert wird. Vorgehen • ▶ Abb. 5.7 ● Geben Sie 3–5 ml alkoholisches Händedesinfektionsmittel aus einer Flasche oder einem Wandspender (normalerweise: 1–2 Hübe aus dem Spender) auf die trockenen (!) Hände. ● Verreiben Sie es so lange, bis die Haut wieder trocken ist. Benetzen Sie dabei auch „schwierige Stellen“ wie die Fingernägel, Fingerzwischenräume und Falten der Handinnenfläche sorgfältig. ● Beachten Sie die Herstellerangaben zur Einwirkzeit des Desinfektionsmittels (meist 30 s), verwenden Sie ggf. eine weitere Portion Desinfektionsmittel.

Video 5.1 Anziehen steriler Handschuhe.

Üben Sie diesen Vorgang immer wieder, um die Handschuhe möglichst nicht bereits beim Anziehen zu kontaminieren. Video: © K. Oborny/Thieme

ACHTUNG Das Tragen von (Einmal-)Handschuhen ersetzt nicht die hygienische Händedesinfektion! Indikationen • Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine hygienische Händedesinfektion in folgenden Situationen (5 Momente der Händedesinfektion): ● vor und nach jedem Patientenkontakt ● nach Kontakten mit der unmittelbaren Patientenumgebung ● vor aseptischen Tätigkeiten ● nach einem Kontakt mit potenziell infektiösen Materialien ● nach dem Ausziehen von Schutzhandschuhen

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5

Infektionen und Hygiene

Sterile Handschuhe In einigen Situationen (z. B. Assistenz bei einer Thorakotomie) kann es auch für Sie als RS notwendig sein, sterile Handschuhe anzuziehen (▶ Video 5.1).

RETTEN TO GO Händehygiene Händewaschen: ● Indikationen: bei Dienstbeginn und -ende, vor den Mahlzeiten, nach jedem Toilettenbesuch, bei sichtbarer Verschmutzung, nach dem Niesen, Naseputzen oder Husten ● Verwenden Sie hautverträgliche, rückfettende Flüssigseife, spülen Sie mit lauwarmem Wasser gründlich ab. Verwenden Sie zum Abtrocknen Einmalpapierhandtücher und pflegen Sie die Hände mit Hautschutzcreme. hygienische Händedesinfektion: ● Indikationen: vor und nach jedem Patientenkontakt, nach Kontakten mit der unmittelbaren Patientenumgebung, vor aseptischen Tätigkeiten, nach einem Kontakt mit potenziell infektiösen Materialien, nach dem Ausziehen von Schutzhandschuhen ● Die Einwirkzeit des Händedesinfektionsmittels beträgt i. d. R. 30 Sekunden.

5.3.4 Vorgehen bei Kontamination Nadelstich- und Schnittverletzungen Definition Nadelstichverletzung Die Haut wird durch einen scharfen oder spitzen Gegenstand (Kanüle, Skalpell) verletzt, der mit Blut oder einer anderen Körperflüssigkeit eines Patienten (Indexpatient) kontaminiert ist. Häufigkeit und Risiken • Nadelstichverletzungen sind ein sehr häufiges Problem, Experten gehen in Deutschland von mindestens 500 000 Fällen jährlich aus (hohe Dunkelziffer!). Grundsätzlich kann bei einer Nadelstichverletzung jeder pathogene Erreger übertragen werden, besonders relevant sind jedoch Hepatitis B, Hepatitis C und HIV/AIDS.

Praktisches Vorgehen bei Kontamination Entfernen Sie ggf. kontaminiertes Material mit einem in Desinfektionsmittel getränkten Tupfer und reiben Sie anschließend die betroffene Stelle gründlich mit einem weiteren getränkten Tupfer ab. ● bei einer Nadelstichverletzung: Fördern Sie mind. 1 Minute lang den Blutfluss durch Druck auf das umgebende Gewebe. Desinfizieren Sie anschließend die Wunde gründlich und versorgen Sie sie mit einer sterilen Wundauflage. ● Melden Sie die Verletzung nach dem Patiententransport an den Dienstführenden bzw. an das ärztliche Personal im Krankenhaus. Durch Blutuntersuchungen beim Verletzten und beim Indexpatienten wird das Infektionsrisiko ermittelt, ggf. wird eine Postexpositionsprophylaxe (S. 153) empfohlen. ●

Die korrekte Dokumentation der Verletzung ist essenziell für den Versicherungsschutz: Eine Nadelstichverletzung gilt als Arbeitsunfall, die daraus folgende Infektion kann als Berufskrankheit mit entsprechenden Ansprüchen anerkannt werden. Verletzen Sie sich im Dienst mit einem kontaminierten Gegenstand und sind Sie nicht sicher, wie Sie vorgehen sollen: Sprechen Sie unbedingt sofort ärztliches Personal oder den Dienstführenden darauf an! Prävention • ▶ Abb. 5.8 ● kein „Recapping“: Stecken Sie Kanülen niemals in die Schutzkappe zurück! ● Lassen Sie gebrauchte Kanülen nicht umherliegen, sondern benutzen Sie durchstich- und flüssigkeitsfeste Nadelabwurfbehälter. ● Verwenden Sie für eine Blutabnahme nur sichere Systeme (Stichschutz, „automatische Schutzhülle“). ● Tragen Sie Einmalhandschuhe und betrachten Sie jeden Patienten als potenziell infektiös. ● Öffnen Sie niemals Abwurfboxen zum Entleeren. ● Lassen Sie sich gegen Hepatitis B impfen.

Schleimhautkontamination Gehen Sie bei der Kontamination von Schleimhäuten (v. a. Mund, Augen) folgendermaßen vor: ● Spülen Sie den Bereich ausgiebig mit Wasser. ● Spülen Sie anschließend mit einem schleimhautverträglichen Desinfektionsmittel. ● Meldung, Dokumentation und ggf. Postexpositionsprophylaxe wie bei Nadelstichverletzungen

Abb. 5.8 Prävention von Nadelstichverletzungen.

a

b

c

Durch das Einhalten der korrekten Abläufe lassen sich viele Nadelstichverletzungen vermeiden. a Kein Recapping! b Venenverweilkanüle mit Stichschutz: Nach Rückzug der Punktionsnadel wird die Kanülenspitze automatisch umschlossen. c Abwurf einer Kanüle in den dafür vorgesehenen Behälter. Fotos: © K. Oborny/Thieme

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Infektionstransporte

RETTEN TO GO Nadelstichverletzungen Es besteht v. a. die Gefahr der Übertragung von Hepatitis B, Hepatitis C und HIV/AIDS. ● praktisches Vorgehen: Wunde > 1 min bluten lassen und desinfizieren; anschließend melden und dokumentieren, Blutabnahme, ggf. Postexpositionsprophylaxe ● Prophylaxe: kein Recapping, Nadelabwurfbehälter und Kanülen mit Stichschutz verwenden, Einmalhandschuhe verwenden, Impfung gegen Hepatitis B

5.4 Infektionstransporte Bei Infektionstransporten ist die Diagnose einer Infektionskrankheit in den meisten Fällen bereits gesichert (z. B. bei Verlegung eines Patienten von einer Klinik in eine andere). Bei Notfalleinsätzen besteht in der Regel nur der Verdacht auf eine Infektionskrankheit.

5.4.1 Planung Im Optimalfall wird ein Infektionstransport geplant, damit er reibungslos und sicher verläuft. Um welche Infektionskrankheit geht es? • Je nachdem, wie übertragbar und wie gefährlich eine Infektionskrankheit ist, wird sie in unterschiedliche Infektionskategorien eingeordnet. Daraus ergeben sich die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen (z. B. Schutzkleidung, ▶ Abb. 5.6b) und das Vorgehen bei der Fahrzeugaufbereitung (Desinfektion und Reinigung). Die spezifischen Vorgaben entnehmen Sie den entsprechenden Richtlinien Ihrer Rettungswache. Abstimmung mit dem Zielkrankenhaus • Idealerweise wird der Transport vorab mit einer Kontaktperson des Zielkrankenhauses abgeklärt, damit entsprechende Vorbereitungen getroffen und der beste Transportweg (möglichst kurz und ohne Unterbrechung) sowie der konkrete „Anlieferort“ koordiniert werden. Viele Krankenhäuser haben für infektiöse Patienten spezielle Eingänge.

5.4.2 Durchführung Geeignetes Fahrzeug • Bei entsprechender Vorbereitung und Einhalten der Sicherheitsmaßnahmen (s. o.) lassen sich die meisten Infektionstransporte mit den üblichen Rettungsmitteln durchführen. Für Patienten mit besonders gefährlichen Infektionen gibt es Infektionsrettungstransportwagen (I-RTW) mit spezieller Klimaanlage und angepasster Inneneinrichtung. In der Regel wird hier speziell ausgebildetes Personal eingesetzt.

Vor dem Transport Der RTW wird „abgerüstet“, d. h., Sie entfernen alle Geräte und Utensilien, die sicher nicht benötigt werden, aus dem Innenraum. Dies reduziert den Aufwand bei der abschließenden Fahrzeugaufbereitung. ● Bereiten Sie die benötigte Schutzausrüstung vor und legen Sie diese vor dem Patientenkontakt an, z. B. eine FFP-Maske (FFP steht für „filtering facepiece“) bei aerogen übertragbaren Infektion. Bei solchen Infektionen sollte zusätzlich der Patient eine Mund-Nasen-Schutzmaske anlegen – sofern für ihn tolerabel. ●

Während des Transports Informieren Sie den Patienten über die notwendigen Schutzmaßnahmen. Achten Sie auf ein taktvolles Verhalten und ausreichend menschliche Zuwendung, um dem Patienten nicht das Gefühl zu vermitteln, er sei aufgrund seiner Infektion „unerwünscht“. ● Vermeiden Sie Kontaminationen der Umgebung durch den Patienten. ● bei Erbrechen: Nach Möglichkeit sollte der Patient in einen Plastikbeutel erbrechen. Dieser kann luftdicht verschlossen und im Krankenhaus entsorgt werden. ● Führen Sie ggf. laufende Desinfektionen durch. ● Verzichten Sie möglichst auf die Nutzung der Klimaanlage oder der Heizung (Verwirbelung der Keime, keine adäquate Desinfektion möglich). ●

Nach dem Transport • Das Fahrzeug wird bei der Leitstelle als „nicht einsatzklar“ gemeldet und auf der Rettungswache gereinigt und desinfiziert (S. 157). Tragen Sie dabei Schutzkleidung und folgen Sie dem Aufbereitungsplan Ihrer Rettungswache. Anschließend entsorgen Sie die Schutzkleidung fachgerecht (medizinischer Sondermüll in Kleidersäcken, beschriftet mit dem Verdachtserreger). Führen Sie die entsprechende Körperhygiene durch (Duschen, Desinfektion) und wechseln Sie in normale Dienstkleidung. Abschließend dokumentieren Sie den gesamten Einsatz (inkl. der Reinigungsmethoden etc.). Bei hochinfektiösen Krankheiten kann es notwendig sein, dass ein staatlich geprüfter Desinfektor die Reinigung übernimmt. Nachträglicher Infektionstransport • Stellt sich erst nachträglich heraus, dass ein potenziell infektiöser Patient transportiert wurde (z. B. Identifikation einer Infektionskrankheit im Krankenhaus nach dem Transport), sind folgende Maßnahmen notwendig: ● Meldung an die Leitstelle bzw. den Dienstführenden ● Das Personal des RTWs wird außer Dienst gestellt, damit Hygienemaßnahmen durchgeführt (Duschen, Desinfektion, Kleidungswechsel) werden. Das Fahrzeug wird gereinigt und desinfiziert. ● Bei manchen Infektionen wird eine Postexpositionsprophylaxe (S. 153) empfohlen. ● Dokumentation

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5

Infektionen und Hygiene

RETTEN TO GO Infektionstransporte ●





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Planung: Der Transport infektiöser Patienten sollte geplant werden: Um welche Infektionskrankheit geht es? Welche Infektionskategorie und folglich welche Schutzund Desinfektionsmaßnahmen? Information und Absprache mit dem Zielkrankenhaus (z. B. spezieller Eingang für infektiöse Patienten?) Transport: – Vorbereitung des RTWs (alles entfernen, was nicht unbedingt gebraucht wird und kontaminiert werden könnte), ggf. Transport mit speziellem I-RTW (Infektionsrettungstransportwagen) – Vorbereiten und Anlegen der geeigneten Schutzausrüstung (z. B. Schutzanzug) – Kontakt des Patienten mit Gegenständen im Fahrzeug möglichst gering halten, Ausscheidungen (z. B. Erbrochenes) in luftdicht verschlossenen Plastikbeuteln entsorgen; ggf. laufende Desinfektion nach dem Transport: sorgfältige Reinigung und Desinfektion des RTWs nach Hygieneplan; Schutzkleidung als medizinischen Sondermüll entsorgen; adäquate Körperhygiene (Duschen, Desinfektion); Dokumentation

III

Methoden und Arbeitstechniken 6 Kommunikation und Verhalten in Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 7 Einsatztaktik und -ablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 8 Die Untersuchung des Notfallpatienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 9 Notfallmedizinische Arbeitstechniken und Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

6

Kommunikation und Verhalten in Notfallsituationen

6.1 Die Notfallsituation Eine Notfallsituation ist in vielerlei Hinsicht besonders, sowohl für die Betroffenen als auch für die Helfenden. Natürlich sammeln Helfende im Laufe der Zeit Erfahrung und eine gewisse Routine im Umgang mit typischen Notfallsituationen (Patient mit Herzinfarkt, Schlaganfall, Asthma bronchiale, …). Trotzdem wird jeder, sei er auch noch so lange im Rettungsdienst tätig, bestätigen, dass sich Notfallsituationen so gut wie nie wiederholen. Genau das macht den Notfall aus: Jede Notfallsituation ist anders. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit Verhalten und Kommunikation speziell in der Notfallsituation. Zu den generellen Grundlagen der Kommunikation, z. B. zu Kommunikationsmodellen, siehe „Team Resource Management“ (S. 21).

Fallbeispiel Die Notfallsituation* An einem sonnigen Samstagvormittag Anfang Mai sitzen ein angehender Rettungssanitäter und seine Ausbilderin auf der Rettungswache. Sie wollen gerade gemeinsam den Ausbildungsnachweis durchgehen, als der Funkmelder mit lautem Piepen ihren Puls in die Höhe treibt: „Notfalleinsatz für den RTW Retthausen, Verkehrsunfall mit Motorrad auf der B333.“ Schon die Alarmierung eines Rettungsmittels löst bei der Besatzung eine Stressreaktion aus – sowohl eine körperliche (z. B. Anstieg von Blutdruck, Atem- und Pulsfrequenz) als auch eine seelische (Anspannung, Orientierung, Schärfung der Wahrnehmung bis hin zum sprichwörtlichen Tunnelblick). 166

Ausbilderin und RS stehen auf und gehen zügig zum Fahrzeug. „Oje!“, denkt sich der junge Kollege: „Das kann ja heiter werden. Meine Ausbilderin hält doch sowieso nichts von mir – und jetzt auch noch ein Verkehrsunfall.“ Auf der Anfahrt versucht sich der RS auf mögliche Szenarien vorzubereiten und überlegt sich, ob das Motorrad wohl unter der Leitplanke durchgerutscht oder gar frontal mit einem PKW zusammengestoßen ist. Je mehr er darüber nachdenkt, desto mulmiger wird ihm, während seine Ausbilderin den RTW mit Sondersignal geschickt durch den zäh fließenden Verkehr lenkt. Die Reaktion des Auszubildenden ist eine normale Stressreaktion. Sobald unser Organismus wahrgenommen hat (und dazu zählt insbesondere auch die psychische Wahrnehmung!), dass eine Aufgabe zu bewältigen ist, versucht er, sich darauf vorzubereiten: Körperlich, indem er den sympathischen Teil des vegetativen Nervensystems aktiviert, und seelisch („intrapsychisch“), indem wir uns automatisch an vergleichbare Ereignisse erinnern und entsprechend „ausloten“, welche Handlungsspielräume die momentane Situation bietet. Das ist ein wenig bis gar nicht bewusst gelenkter Prozess und auch dadurch gekennzeichnet, dass man sich dabei oft den „GAU“, den größten anzunehmenden Unfall, ausmalt. Dass dieser in der Realität nur sehr selten eintritt, spielt dabei keine Rolle, denn wir sind sprichwörtlich gerne „auf alles“ vorbereitet. Leider verstärkt das Nachdenken über solche Katastrophen oft auch die körperliche Reaktion auf die Belastung. In unserem Beispiel führt also schon der Gedanke, dass die Ausbilderin einen nur geringschätzt, zu einer zunehmenden Belastung. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Die Notfallsituation

▶S. 166

Stress in der Notfallsituation

▶S. 167

Kommunikation mit Patienten

Kommunikation in der Notfallsituation

Kommunikation mit Kollegen und anderen Berufsgruppen Kommunikation mit Angehörigen

Zeitstress • Der Faktor „Zeit“ ist im Rettungsdienst als Stressauslöser allgemein sehr wichtig, ganz besonders im Notfall. Um Zeitstress zu vermindern, gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Es hilft ungemein, die Arbeitsumgebung (inklusive aller Gerätschaften) sicher zu beherrschen und Abläufe, z. B.

▶S. 171

Abb. 6.1 Yerkes-Dodson-Gesetz.

hoch Leistungsfähigkeit

Stress und Leistungsfähigkeit • Bei Stress kommt es sozusagen auf die richtige „Dosierung“ an. Diesen engen Zusammenhang zwischen Stress und Leistungsfähigkeit beschreibt das Yerkes-Dodson-Gesetz,▶ Abb. 6.1: Zu wenig Stress birgt ein hohes Risiko für schlechtere Leistung durch Flüchtigkeitsfehler – das wäre der Fall, wenn man „ultracool“ an der Einsatzstelle herumflanierte und dabei einen Patienten mit lebensbedrohlicher Bewusstseinstrübung fälschlich als „einschlafenden Patienten“ abtäte. Umgekehrt ist eine „Überstressung“ oft durch hektisches und unkoordiniertes Verhalten charakterisiert, das den Einsatzablauf eher behindert. Extremer Stress führt häufig zum völligen Stillstand, auch „Blackout“ genannt. Ein solcher „Blackout“ ist Zeichen einer maximalen Überbeanspruchung und mit einem hohen Risiko für Folgeerkrankungen verbunden (S. 20). Wichtig ist, dass dieser Extremstress keine Schwäche darstellt, sondern vielmehr die normale Reaktion auf die „außernormale“ Situation. In unserem Fallbeispiel wäre also eine ausgeprägte Stressreaktion normal, wenn z. B. der Motorradfahrer tatsächlich bewusstlos und polytraumatisiert wäre. Extremer Stress könnte entstehen, wenn z. B. durch den Unfall Gliedmaßen abgetrennt worden wären oder andere Beteiligte, z. B. Kinder als Mitfahrer, in besonderem Ausmaß betroffen oder der Betroffene gar ein Bekannter/Verwandter des Auszubildenden wäre.

▶S. 170

▶S. 170

Kommunikation mit besonderen Patientengruppen

6.2 Stress in der Notfallsituation

▶S. 168

gering niedrig

mittel

hoch

Stresslevel Stress und Leistungsfähigkeit hängen eng miteinander zusammen. Sowohl ein deutliches Zuviel als auch ein deutliches Zuwenig an Stress verringert die Leistungsfähigkeit. Dazwischen liegt der Bereich, in dem Stress die Leistung optimal steigert. das (c)ABCDE-Schema (S. 183), routiniert abzuarbeiten. Mit zunehmender Erfahrung steigt auch die Resistenz gegen die Anforderungen im Rettungsdienstalltag. Stressbewältigung • Generell können Sie Stress besser bewältigen, wenn Sie bestimmte Voraussetzungen dafür mitbringen. Dazu gehören z. B. eine gewisse körperliche Fitness und Berufserfahrung. Sehr wichtig ist auch, die eigene Kompetenz richtig, also realistisch einzuschätzen und sich nicht zu überschätzen. Nicht zuletzt hilft auch die Unterstützung durch Familie und Freunde ganz entscheidend bei der Stressbewältigung (S. 25). ▶ Abb. 6.2 zeigt typische Stressoren und

167

6

Kommunikation in Notfallsituationen Abb. 6.2 Belastungen und Ressourcen.

Stressoren

Ressourcen gute körperliche Kondition und Fitness

Zeit- und Termindruck Umweltbedingungen (z.B. Lärm, Kälte, Hitze)

familiäre Konflikte

6.3.1 Kommunikation mit Patienten

gute Wohnverhältnisse

Konflikte am Arbeitsplatz

Unterstützung durch Familie und Freunde

strukturierte Arbeitsweise

gute Ausblidung

Beispiele für Stressoren und ausgleichende Ressourcen in der Arbeitswelt und im sozialen Umfeld. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme:

Die „4 S“ der psychischen Ersten Hilfe Gasch und Lasogga formulierten die „4 S“ der psychischen Ersten Hilfe. Sie gelten für Fachpersonal und Laienhelfende und entstanden aus dem Gedanken, dass Unterstützung und Hilfe bei Unfällen sich nicht nur auf das korrekte medizinische Handeln beziehen dürfen. Stellen Sie sich kurz vor, wie es sich anfühlen würde, wenn Sie selbst einen Unfall hätten und eingeklemmt im Fahrzeug säßen. Ein gut eingespieltes Team aus professionellen Helfenden könnte einen solchen Einsatz sicher abwickeln, ohne auch nur ein Wort mit Ihnen zu wechseln … Aber wie würden Sie sich fühlen, wenn es plötzlich im Arm piekt, Ihnen schwummrig wird oder es plötzlich kracht und Glas bedrohlich knirscht? S1: Sage, dass du da bist und was nun geschieht! • Stellen Sie sich bei den Patienten mit Namen vor. Sagen Sie, wer Sie sind und welche Funktion Sie im Rettungsteam haben. Dies bringt eine gewisse Normalisierung der zunächst noch eher unnormalen Situation mit sich: Den Rettungsdienst hat man nicht jeden Tag im Haus! Ziel ist es, die Hilflosigkeit, die der Patient empfindet, zu reduzieren.

Stuttgart; 2023

Ressourcen, die für Rettungskräfte (und nicht nur für diese) bei der Bewältigung von Stress wichtig sind.

RETTEN TO GO Stress in Notfallsituationen Bei Stress kommt es auf die richtige „Dosierung“ an (Yerkes-Dodson-Gesetz): Zu wenig Stress birgt ein hohes Risiko für schlechtere Leistung. „Überstressung“ dagegen kann zu unkoordiniertem Verhalten führen und den Einsatzablauf behindern. Extremer Stress kann zum völligen Stillstand führen („Blackout“). Um Zeitstress im Notfall zu vermindern, sollten Sie Ihre Arbeitsumgebung sicher beherrschen und Abläufe routiniert abarbeiten können. Körperliche Fitness, eine korrekte Einschätzung der eigenen Kompetenzen, Berufserfahrung sowie Freunde und Familie können bei der Stressbewältigung helfen.

6.3 Kommunikation in der Notfallsituation Kommunikation ist ein fundamentaler Teil der Arbeit des Rettungsfachpersonals. Was dem einen im Umgang mit Notfallpatienten und deren sozialem Umfeld leicht fällt, stellt andere vor große Herausforderungen. Für alle bedeutet es, sich selbst reflektieren zu können und willens zu sein, die eigene Kommunikation zu verändern und ggf. der Notfallsituation anzupassen. Eine große Herausforderung ist dabei das „Multitasking“: Kommunikation muss oft gleichzeitig mit medizinischen Maßnahmen stattfinden.

S2: Schirme den Verletzten ab! • Das gilt sowohl für neugierige Blicke von Zuschauern bei einem Verkehrsunfall als auch für unerwünschte Personen im häuslichen Umfeld (z. B. lästiger Nachbar, der es „nur gut meint“). Meist ist es schon damit getan, dass Sie die Störer deutlich anweisen, z. B.: „Bitte treten Sie zurück!“ oder „Bitte halten Sie Zuschauer fern!“. Bei Unfällen im öffentlichen Raum können Sie die Feuerwehr oder die Polizei um Übernahme dieser Aufgabe bitten. S3: Suche vorsichtigen Körperkontakt! • Dies ist im Rettungsdienst bei vielen Untersuchungen, z. B. Puls fühlen, gar nicht anders möglich, aber es ist wichtig, dass es vorsichtig geschieht und an „unverfänglicher“ Stelle, z. B. an Hand und Schulter. Wenn möglich, sollte der Kontakt auch so erfolgen, dass der Betroffene ihn auch wieder unterbrechen kann, wenn er ihm unangenehm ist. So können Sie oft auch während des Transports nochmals „Puls fühlen“ und dabei darauf achten, ob der Kontakt aufrechterhalten (Patient lässt Hand liegen) oder beendet wird (Patient nimmt seine Hand weg). Oft empfinden Patienten das Zudecken als angenehm – gerade auch, wenn die Kleidung durch den Unfallhergang in Mitleidenschaft gezogen wurde oder sie ihrer Ansicht nach nicht „richtig“ angezogen sind. S4: Sprich und höre zu! • Dies ist die schwierigste Form der Hilfe, denn sie hängt sehr stark vom Betroffenen ab: Die einen möchten selbst reden und beruhigen sich dabei, andere wiederum möchten nur ihren Gedanken nachhängen. Wichtig ist zu fragen, ob Sie jemanden benachrichtigen sollen: Machen Sie sich bewusst, dass Menschen durch einen Notfall oft bei einer Handlung unterbrochen werden, z. B. die Mutter, die einen Verkehrsunfall erleidet, während sie auf dem Weg ist, ihr Kind vom Kindergarten abzuholen.

! Merke „Vier S“ der psychischen Ersten Hilfe ● ● ● ●

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S1: Sage, dass du da bist und was nun geschieht! S2: Schirme den Verletzten ab! S3: Suche vorsichtigen Körperkontakt! S4: Sprich und höre zu!

Kommunikation in der Notfallsituation An Rettungsdienstmitarbeitende werden selbstverständlich höhere Anforderungen gestellt, als sie die psychische Erste Hilfe umfasst. Diese Form der Ersten Hilfe ist jedoch sehr wichtig! Noch immer gibt es rettungsdienstliche und ärztliche Kollegen, die eine gewisse Wortknappheit im Umgang mit Patienten für „professionelle Distanz“ halten. Daran sollten Sie sich keinesfalls orientieren! Im Gegenteil: Zur erfolgreichen Bewältigung komplexer Notfallsituationen müssen Sie die Gesamtsituation berücksichtigen. Beispielsweise wird eine verunfallte Mutter immer in größter Sorge um ihr Kind sein und ein älterer Mensch nicht unbedingt gerne seine gewohnte Umgebung verlassen, um im Krankenhaus behandelt zu werden – besonders wenn er dort schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Weitere Kommunikationsrichtlinien im Umgang mit Patienten Patienten einbeziehen Das wichtigste Instrument der Kommunikation ist das sichere Auftreten, das Sie nur dann haben, wenn Sie sich selbst sicher fühlen. Das bedeutet: Es ist in jeder Notfallsituation wichtig, sich zuallererst einen Überblick über die Einsatzsituation zu verschaffen und bis dahin auch Rettungsmaßnahmen zu verschieben (S. 175). Ob Sie selbst den Überblick haben oder nicht, zeigt sich auch daran, wie Sie die Patienten in die Versorgung einbeziehen: Nur, wenn Sie selbst wissen, was warum als Nächstes zu tun ist, können Sie diese klaren Gedanken auch (in verständlicher Form!) dem Patienten vermitteln und ihn in das Geschehen einbeziehen. Sprechen Sie Betroffene immer mit ihrem Nach(!)namen an, auch als Zeichen des Respekts. Gerade Ältere möchten sicherlich nicht als „Oma“ oder „Opa“ tituliert werden.

! Merke Maßnahmen besprechen

Das Besprechen der jeweiligen Maßnahmen in einer für den Patienten angemessenen Form hilft entscheidend dabei, die Angst des Patienten zu verringern! Nehmen wir als Beispiel das Legen eines peripheren Venenzuganges: Sie könnten z. B. Folgendes fragen und erläutern: „Herr Meyer, darf ich Ihnen am Unterarm einen Venenzugang legen, damit wir notfalls Medikamente spritzen können? Das piekt normalerweise einmal – so, wie Sie es sicherlich vom Blutabnehmen kennen.“ Dieses Vorgehen erleben die meisten Patienten als sehr positiv, weil es ihnen das Gefühl gibt, Kontrolle über die Situation zu haben. Immerhin könnten sie theoretisch „Nein“ sagen – was jedoch in der Realität nach der Erfahrung des Autors praktisch nie vorkommt. Es reicht nicht, nur zu sagen, was Sie tun: Sie müssen auch die Zustimmung abwarten, um das Vertrauensverhältnis nicht wieder zu zerstören. Ebenso ist es wichtig, die Antwort auf eine gestellte Frage abzuwarten. Das gelingt nur, wenn Sie auch bereit sind, als Helfender einen Moment lang zu schweigen, um etwas über den Hergang oder den Zustand zu erfahren. Vielen Menschen fällt es schwer, sich völlig Fremden sofort und umfänglich zu öffnen und teilweise private oder intime Details mitzuteilen. Deswegen ist es auch wichtig, manche Fragen (z. B. zu Vorerkrankungen) ggf. im Rettungswagen (z. B. dann unter Abwesenheit der Angehörigen) noch einmal zu stellen, wenn der Patient sie in der Wohnung offenbar nicht beantworten wollte.

Tab. 6.1 „Todsünden“ im Umgang mit Patienten. negatives Verhalten

Beispiel

Vorwürfe machen

„Warum mussten Sie auch so rasen! Und Sie stinken nach Alkohol!“

angsteinflößende Diagnosen stellen

„Das sieht nach Amputation aus“ oder „Sie haben einen schweren Infarkt“.

Abgestumpftheit zeigen

„Haben Sie sich nicht so – Sie sind doch nicht der Erste, der einen Unfall hat!“

Kombination

„Sie haben doch Ihr ganzes Leben geraucht, also jammern Sie jetzt nicht wegen Luftnot!“

Übergabe des Patienten an die Zielklinik Der letzte Schritt im Einsatzablauf ist die Übergabe des Patienten im Krankenhaus (S. 41). Der Patient hat sich auf der Fahrt in Krankenhaus nun gerade mit der „neuen“ Situation arrangiert – jetzt wird er erneut mit einer neuen Situation, neuen Menschen und meist auch neuen Örtlichkeiten konfrontiert. All dies löst im Grunde wieder die gleiche Angst aus wie die Ankunft des Rettungsdienstes zu Hause. Es ist daher sehr wichtig, einen ruhigen Übergang vom Rettungswagen ins Krankenhaus zu schaffen und den Patienten nicht einfach in der zentralen Patientenaufnahme auf eine Liege umzulagern, während man sich höflich verabschiedet. Optimal ist eine Übergabe, z. B. nach SAMPLER-Schema (S. 193), an die weiterbetreuende Pflegekraft, die sich dem Patienten dann auch gleich persönlich vorstellen kann. Im Psychologen-Deutsch nennt man das „psychischen Ersatz“ schaffen. Für diesen „Ersatz“ müssen Sie auch sorgen, wenn Sie sich während des Einsatzes vom Patienten entfernen müssen, um z. B. noch benötigtes Material zu holen. In der Regel sollte das ohnehin derjenige erledigen, der während eines Einsatzes nicht den primären Patientenkontakt hat. Nur in absoluten Ausnahmefällen (z. B., wenn es andere Schwerverletzte gibt, die dringender versorgt werden müssen) dürfen Sie einen Patienten allein lassen. ▶ Tab. 6.1 fasst einige „Todsünden“ im Umgang mit Patienten zusammen.

RETTEN TO GO Kommunikation mit Patienten Berücksichtigen Sie bei der Kommunikation mit Patienten die „4 S“ der psychischen Ersten Hilfe: ● S1: Sage, dass du da bist und was nun geschieht! ● S2: Schirme den Verletzten ab! ● S3: Suche vorsichtigen Körperkontakt! ● S4: Sprich und höre zu! Ein sicheres Auftreten ist ein wichtiges Instrument der Kommunikation. Besprechen Sie alle Maßnahmen in angemessener Form mit dem Patienten. Vorwürfe oder angsteinflößende Diagnosen sowie betont „cooles“, abgestumpftes Verhalten sind absolute „Todsünden“ im Umgang mit Patienten! Um den psychischen Stress des Patienten zu reduzieren, sollten Sie einen ruhigen Übergang vom Rettungswagen ins Krankenhaus schaffen. Optimal ist eine Übergabe an die weiterbetreuende Pflegekraft.

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6

Kommunikation in Notfallsituationen

6.3.2 Kommunikation mit Kollegen und anderen Berufsgruppen Gegenseitige Wertschätzung und Respekt sind die Grundlagen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im rettungsdienstlichen Umfeld. Aber auch im Rettungsdienst gibt es Hierarchien mit vielen unterschiedlichen Charakteren. Die Kommunikation im Einsatz ist oft von Stress und Zeitnot gekennzeichnet. Daher wird in einer solchen Situation niemand auf unnötigen Höflichkeitsfloskeln bestehen, die die Patientenversorgung nur behindern und verzögern würden.

! Merke Klar und deutlich sprechen

Eine deutliche und präzise Sprache ist in Rettungseinsätzen entscheidend, ähnlich wie auch im Funk- und Flugverkehr. Gerade im Umgang mit Ärztinnen und Ärzten kann es schwierig sein, sich nicht von einem evtl. subjektiv als unhöflich empfundenen Umgangston „anstecken“ zu lassen und dann ebenso unfreundlich oder unhöflich zu antworten. Es ist oft von Vorteil, in einer angespannten Situation weniger zu sagen und sich nur auf das Einsatzgeschehen und patientenrelevante Informationen zu beschränken. Eine Diskussion mit anderen Einsatzkräften an der Einsatzstelle wird nicht als professionelles Verhalten wahrgenommen. Konflikte lassen sich oft vermeiden, wenn Sie berücksichtigen, welche Aufgaben für andere am Einsatz beteiligte Berufsgruppen jeweils im Vordergrund stehen: Die Feuerwehr möchte z. B. bei einem Verkehrsunfall optimale Sicherheit schaffen, für sie hat die technische Rettung Vorrang. Hingegen beginnt die Polizei oft schon unmittelbar nach Sicherung der Unfallstelle mit der Beweisaufnahme und Dokumentation und übersieht dabei evtl., dass die Rettung noch Vorrang hat. Bei der Übergabe im Krankenhaus scheint es gelegentlich die „unmotivierte“ Pflegefachkraft der Notaufnahme zu geben, die aber vielleicht schon seit Stunden ununterbrochen im Dienst ist und nun gerade von der Ankunft des aktuellen Patienten überfordert ist oder im Nebenzimmer noch einen instabilen Patienten mitversorgen muss. Wenn Sie sich dies alles bewusst machen, werden Sie mehr Verständnis für das Verhalten der anderen Einsatzkräfte haben und keine unnötigen Diskussionen beginnen oder Aggressionen aufbauen. Oft nehmen Menschen die Stimmung des Gegenübers durch non- oder paraverbale Signale (S. 22) wahr, machen sich dies aber nicht bewusst. Ein übermüdeter und erschöpfter Mitarbeitender einer Notaufnahme wird selbst selten die gerade eintreffenden Rettungsdienstmitarbeitenden mit seiner Situation belasten wollen. Diese sollten jedoch bemüht sein, die Signale von Übermüdung und Erschöpfung bewusst wahrzunehmen und ggf. mit einer kleinen Geste der Unterstützung (z. B. Hilfe beim Umlagern oder – wenn erlaubt – Heranbringen der notwendigen Krankenhaustrage) zur Entschärfung der Situation beizutragen und nicht mit einer flapsigen Bemerkung, z. B. „Ihr kriegt hier heute aber auch gar nichts gebacken, oder?“, zur weiteren Eskalation beizutragen. Sie wissen nie, was sich vor 20 Minuten in der Notaufnahme abgespielt hat…

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! Merke Sachlich bleiben

In jedem Fall sollten Sie sich auch in „aufgeheizten“ Situationen nicht von der Unruhe und/oder Aggressivität anderer anstecken zu lassen, sondern sich darum bemühen, sachlich zu bleiben.

RETTEN TO GO Kommunikation mit Kollegen Gegenseitige Wertschätzung und Respekt sind die Grundlagen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Rettungsdienst. In der Einsatzsituation sollten Sie deutlich und präzise sprechen. Niemand wird auf unnötigen Höflichkeitsfloskeln bestehen, die die Patientenversorgung behindern. Machen Sie sich klar, für welche Berufsgruppe welche Aufgaben im Vordergrund stehen (z. B. Feuerwehr: technische Rettung; Rettungsdienst: medizinische Versorgung). Achten Sie auch auf non- und paraverbale Signale bei Ihrem Gegenüber, z. B. auf Hinweise auf Erschöpfung und Übermüdung. Lassen Sie sich auch in „aufgeheizten“ Situationen nicht von der Unruhe und/oder Aggressivität anderer anstecken.

6.3.3 Kommunikation mit Angehörigen Bei der Versorgung von Patienten sind häufig dessen Angehörige anwesend. Oft zeigen sie ähnliche Reaktionen und fühlen sich ebenso hilflos und ausgeliefert wie die Patienten selbst. Ein sicheres Auftreten des Rettungsdienstteams (S. 168) ist also nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Angehörigen wichtig. Manchmal sind die Angehörigen in der Konfliktsituation, dass der Betroffene uneinsichtig ist und keine Hilfe in Anspruch nehmen möchte (z. B. bei psychischen Erkrankungen), oder sie sind sehr fordernd, weil vielleicht eine langjährige häusliche Pflege sie an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit gebracht hat. Fragen können Sie so weit möglich beantworten – Diagnosen oder Ähnliches sollten Sie gegenüber Patienten und/ oder Angehörigen nicht äußern. Aggressive Angehörige sind ein Grund, sich aus dem Einsatz zurückzuziehen, vgl. Eigenschutz (S. 178). Wenn möglich, können Sie Angehörige auch in die Patientenversorgung einbeziehen (z. B. eine Infusion halten lassen) – aber auch nur, wenn sie das möchten. Diese kleinen Aufgaben können Angehörigen das Gefühl geben, die Situation zu kontrollieren. Eine besondere Situation ist der Tod des Patienten, oft nach einer erfolglosen Reanimation (S. 327). Dies stellt für die Angehörigen i. d. R. eine akute Belastungssituation dar. Es ist nicht primär die Aufgabe des Rettungsdienstes, an dieser Stelle Krisenintervention zu leisten, wohl aber, Angehörige einer adäquaten Versorgung zuzuführen. Die Regelungen sind je nach Landkreis verschieden. Informieren Sie sich im Vorfeld auf der eigenen Rettungswache, wer ggf. die Aufgabe der Krisenintervention (S. 439) übernimmt.

Kommunikation in der Notfallsituation

RETTEN TO GO Kommunikation mit Angehörigen Angehörige können selbst stark belastet und/oder verängstigt sein oser auch sehr fordernd auftreten. Empfehlungen im Umgang mit Angehörigen: ● Fragen (soweit möglich) beantworten, aber keine Äußerungen über Diagnosen! ● Bei aggressiver Stimmung Eigenschutz beachten! ● Angehörige dürfen in die Patientenversorgung einbezogen werden. ● Verständigen Sie ggf. (z. B. beim Tod eines Patienten) ein Kriseninterventionsteam.

6.3.4 Kommunikation mit besonderen Patientengruppen Es ist schwierig, verschiedene Typen von Notfallpatienten zu beschreiben, und es ist auch nicht Ziel dieses Abschnitts, „Schubladen“ für bestimmte Situationen zu erfinden oder eine Standardschema, nach dem zu handeln ist. Es gibt aber Besonderheiten im Umgang mit bestimmten Menschengruppen in bestimmten Situationen, die an dieser Stelle kurz erläutert werden sollen. Sie entbinden nicht von der Verpflichtung, in der jeweiligen Situation individuell auf den einzelnen Patienten einzugehen.

Alte Menschen Diese Patientengruppe hat oft schon Erfahrung mit dem Gesundheitswesen gemacht und kennt sich häufig auch mit den eigenen Erkrankungen sehr gut aus. Gerade wenn die Patienten z. B. Hausnotrufteilnehmer sind, haben sie oft sehr genaue Vorstellungen von der geforderten Hilfeleistung. Andererseits bedürfen ältere Menschen zunehmend der Geduld und Ruhe im Umgang. Im Alter nehmen die Sinnesbeeinträchtigungen (v. a. Sehschwäche, Schwerhörigkeit), aber auch Gedächtnisschwäche bis hin zu Demenz (S. 444) und körperliche Gebrechlichkeit zu. Eine Unsitte ist es, alte Menschen ungefragt zu duzen oder gar als „Oma“/„Opa“ zu bezeichnen. Besonderheiten bezüglich der physiologischen Konstitution und der Versorgung älterer Menschen sind im Kapitel „Besondere Patientengruppen“ (S. 530) dargestellt.

Sprachprobleme Eine für alle Beteiligten schwierige Situation sind Sprachbarrieren, d. h., wenn Betroffene und Helfende keine gemeinsame Sprache haben. Das viel beschworene Reden „mit Händen und Füßen“, eine Kommunikation durch Gestik und Mimik, mag für den täglichen Einkauf ausreichend sein – in Notfallsituationen sind dramatische Missverständnisse möglich. Besonders gefährlich sind „falsche Freunde“, also Wörter, die in zwei Sprachen sehr ähnlich klingen, aber etwas anderes bedeuten, z. B. ital. „caldo“, englisch „cold“ und deutsch „kalt“: Während sich das Englische und das Deutsche entsprechen, bedeutet das italienische caldo „heiß“. Aufgrund von Globalisierung und Fluchtbewegungen kommen Sie bei Notfällen mit immer mehr Sprachen in Kontakt. Wo das mobile Internet gut genug ist, können Sie auf Übersetzungshilfen zurückgreifen, z. B. den Google Translator. Alternativen sind auch internationale Anamnese-

bögen, die ggf. von Patienten in ihrer Muttersprache ausgefüllt und dann mithilfe einer deutschen Schablone ausgewertet werden können (z. B. von MEDI-LEARN). Übersetzer sind, wenn vorhanden, eine große Hilfe, aber auch dabei sind Fehler und Missverständnisse möglich. In manchen Situationen ist besondere Vorsicht angebracht: So sind Konflikte bei der wahrheitsgemäßen Übersetzung z. B. möglich, wenn ein Erntearbeiter einen Unfall erlitten hat und sein Vorarbeiter der Übersetzer ist. Auch in Flüchtlingsunterkünften bieten sich manche Menschen als Übersetzer an, sprechen dann aber nicht den gleichen Dialekt wie die betroffene Person und wollen das nicht zugeben.

! Merke Korrekt und deutlich sprechen

Sprechen Sie auch mit ausländischen Patienten und Angehörigen grammatikalisch korrekt und mit deutlicher Betonung. Hinterfragen Sie den oben empfohlenen Körperkontakt bei Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund immer kritisch: Beispielsweise ist bei strenggläubigen Muslimen der Kontakt zwischen einer erwachsenen Frau und einem männlichen Rettungsdienstmitarbeiter häufig problematisch. Nicht zuletzt ist im „mediterranen“ Kulturkreis oft ein starkes Beistandsbedürfnis seitens der Angehörigen vorhanden, der im Einsatz berücksichtigt werden muss.

Schwerstpflegefälle Der Anteil von Rettungseinsätzen für Menschen mit Pflegebedarf nimmt zu. Je nach Schweregrad der Grunderkrankungen ist die Kommunikation nur eingeschränkt möglich, zudem ist „die eine“ Diagnose bei verschiedenen Grunderkrankungen mit sich überlappenden Symptomen oft nicht festzumachen. Jedoch benötigen gerade diese Menschen besondere Zuwendung und Aufmerksamkeit, da sie nicht alle Befindlichkeiten äußern können und oft nur noch minimale Kommunikationsmöglichkeiten haben. Ein ruhiges Verhalten vermittelt in solchen Fällen nonverbal Sicherheit, im Zweifelsfall ist Geduld der beste Berater.

Intoxikierte Patienten Die klassischen Vergiftungsnotfälle werden zunehmend seltener, wohingegen Alkohol- und Drogennotfälle (S. 512) immer öfter zu Einsätzen des Rettungsdienstes führen. Meistens steht die Stabilisierung der Vitalfunktionen unter Berücksichtigung des Eigenschutzes im Vordergrund. Intoxikierte Patienten haben aber oft nur eine eingeschränkte Willensbildung und sind selten einsichtsfähig. Der Umgangston sollte möglichst sachlich sein und die Kommunikation sich auf das offensichtlich vorliegende Problem beschränken. Unkooperative oder gar aggressive Patienten sind ggf. nur mit entsprechender notärztlicher und/oder polizeilicher Unterstützung zu behandeln. Wenn Sie schon eine Weile im Rettungsdienst tätig sind und über eine gewisse Berufserfahrung verfügen, sind z. B. „bekannte Alkoholiker“ ein wenig beliebtes Einsatzstichwort: Oft sind die Patienten (manchmal sogar persönlich) bekannt, d. h., Sie haben den Patienten „schon wieder“. Das kann bis hin zu dem Eindruck führen, dass Sie sich als Rettungsdienst ausgenutzt fühlen, weil sich dieser oder jener „immer, wenn es kalt wird“, in die Klinik einweisen lässt.

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6

Kommunikation in Notfallsituationen

ACHTUNG Die größte Gefahr bei Patienten, die Sie bereits kennen, ist die Nachlässigkeit: Auch ein schon zigmal transportierter Patient mit offensichtlichem Alkoholproblem kann dieses Mal an einer Unterzuckerung leiden, weil die Glukoneogenese (= Neubildung von Zucker aus Nicht-Kohlenhydraten) in der Leber durch den hohen Blutalkoholspiegel blockiert wird (S. 515).

Aggressionen – Gewalt im Rettungsdienst

! Merke Grundsatz der Neutralität

Auch im Bereich der Notfallrettung gibt es zunehmend Situationen, in denen Menschen gewalttätig werden. Gewalt kann sich gegen die Personen richten, die den Rettungsdienst zu Hilfe rufen, aber auch der eigentliche Patient kann gewalttätig gegen das Rettungsdienstpersonal werden. Wichtig ist dabei, die Gesamtsituation nicht vorschnell zu beurteilen und das Gegenüber nicht zu verurteilen. Bemühen Sie sich, z. B. Beleidigungen oder Drohungen nicht persönlich zu nehmen. Unterlassen Sie unbedingt Eskalationen und ein weiteres Anschüren der Situation. Dass Rettungskräfte Ziel und Opfer von Gewalt werden, ist kein völlig neues Phänomen, scheint aber in letzter Zeit zugenommen zu haben. Die Medien haben in den letzten Jahren immer wieder Kampagnen zur Sensibilisierung gegenüber Gewalt gegen Helfenden gestartet (z. B. #IMMERDA). Pro Jahr werden etwa 4 000 Fälle gemeldet, in denen Helfende im Gesundheitswesen von Patienten attackiert oder gar verletzt wurden – von einer höheren Dunkelziffer ist auszugehen. Woher die Aggressivität kommt, ist oft nicht sicher festzustellen. Sehr oft spielt übermäßiger Alkoholkonsum eine Rolle. Darüber hinaus wird aber auch eine wachsende Zahl prinzipiell gewaltbereiter Menschen registriert, die das Ausüben von Gewalt offenbar zu ihrer Freizeitbeschäftigung erklärt haben und sich dazu sogar „anlassbezogen verabreden“ (z. B. Hooligans rivalisierender Fußballvereine). Mögliche Angriffsformen sind: ● Anpöbeln (verbale Attacke bis hin zu sexueller Belästigung) ● Anspucken (mit möglicher Ansteckungsgefahr) ● Wegschubsen (einfache Gewalt) ● Schlagen oder Treten (tätliche Gewalt) ● Angriffe mit Waffen (Knüppel, Messer etc.) Zum Schutz vor solchen Übergriffen gibt es im Rettungsdienst Hilfsmittel wie Schutzbrillen oder Gesichtsmasken. Ob Sie diese bei Bedarf allerdings schnell genug zur Hand haben, ist fraglich. Umgekehrt reagieren sicher viele Patienten mit großem Unverständnis, wenn Sie ihnen bei einem Einsatz prinzipiell in kompletter Schutzausrüstung gegenübertreten. Aus einsatztaktischen Gründen ist immer darauf zu achten, dass möglichst niemand ohne Team-Kollegen in Notfallsituationen unterwegs ist. Auch beim Betreten von Wohnungen und Gebäuden sollten Sie immer einen „Rückzugsweg“ im Auge haben, um sich im schlimmsten Fall schnell zurückziehen zu können. Die Aufgabe der Gewaltbekämpfung obliegt der Polizei und den Ordnungsbehörden, deren Eintreffen Sie bei entsprechenden Einsatzmeldungen (z. B. „Massenschlägerei“) nach Möglichkeit abwarten sollten. Schwieriger ist es, wenn die Gewalt in der Situation zunächst nicht als solche leicht erkennbar ist, z. B., wenn Sie zu einem „häuslichen Sturz“ gerufen werden und im Verlauf des Einsatzes klar wird, dass möglicherweise ein Mann eine Frau misshandelt hat und diese Tat aber nicht als solche versteht („Die hat doch darum gebettelt!“ oder „Die ist doch 172

selbst schuld!“). In diesem Zusammenhang müssen Sie beachten, dass der Rettungsdienst keinen Strafverfolgungszwang hat und sich auf die medizinische Versorgung der Patientin konzentrieren sollte. Entflammt dann aber der Konflikt zwischen Mann und Frau erneut, kann die „Rettung aus der Wohnung“ (und damit das Verlassen der Situation) mitunter das einzig Sinnvolle sein. Auch bei Suizidversuchen (S. 441) mit Messern oder anderen gefährlichen Gegenständen müssen Sie ein großes Maß an Eigensicherung betreiben und ggf. den Rückzug antreten, wenn der Patient z. B. immer noch eine Waffe in der Hand hält. Es gibt Überlegungen, gefährdetes Personal in körperlichen Abwehrtechniken auszubilden – solche Maßnahmen fördern jedoch nur die Eskalation der Gewalt und sind daher kaum hilfreich. Es bleiben also wenig konkrete Empfehlungen, wie Sie sich angesichts aggressiver Patienten verhalten sollen. Die wichtigsten Maßnahmen sind sicher, sich zurückzuziehen, auch andere möglichst vor gewalttätigen Ausschreitungen zu bewahren und die Polizei zu alarmieren. Auf alle Fälle sollten Sie entsprechende Vorkommnisse melden und ggf. zur Anzeige bringen.

! Merke Verhaltensgrundsätze im Einsatz ● ● ● ● ● ● ● ●

● ●

Beobachten Sie das Umfeld und die anderen Anwesenden. Treten Sie selbst höflich, professionell und freundlich auf. Halten Sie einen Rückzugsweg offen. Stimmen Sie die Vorgehensweisen im Team ab. Räumen Sie im Zweifel dem Eigenschutz absoluten Vorrang ein. Fordern Sie bei unklarer Lage dringend die Polizei nach. Schützen Sie den Patienten möglichst vor weiteren Angriffen. Leiten Sie bei Bedrohung oder gar Angriffen sofort die eigene Befreiung ein und ziehen Sie sich zurück. Ihr eigenes Verhalten muss immer deeskalierend wirken. Lassen Sie sich zu keiner Zeit provozieren, gehen Sie nicht auf Provokationen/Beleidigungen ein.

Manchmal müssen Sie eine Gewalterfahrung psychologisch aufarbeiten: Der Umgang mit aggressiven Patienten ist für jemanden, der helfen möchte, generell nicht leicht. Die Aggression des Gegenübers signalisiert nicht nur sofort: „Ich möchte keine Hilfe!“, sondern scheint die helfende Person auch gleich mit abzulehnen. Außerdem muss das bedrohliche, nicht alltägliche Erlebnis, offen mit Gewalt konfrontiert worden zu sein, verarbeitet werden. Geschieht dies nicht, entwickeln Betroffene unter Umständen verstärkt Ängste vor zukünftigen Einsätzen. Es sollte daher in jedem Bereich Ansprechpartner geben, die Gespräche mit Betroffenen führen und ggf. weitere Hilfen vermitteln. Nicht über die Gewalterfahrung zu sprechen, ist selten hilfreich oder gar zielführend: Die Folgen von Gewalt lassen sich gemeinsam oft besser bearbeiten als „allein im stillen Kämmerlein“.

Kinder Kinder benötigen besonderen Schutz und lösen bei fast allen Erwachsenen starke Emotionen aus. Kinder sind aber auch selten allein in der Notfallsituation. Daher ist es wichtig, die primäre Bezugsperson (meist ein Elternteil) in möglichst günstiger Weise in das Einsatzgeschehen einzubeziehen, also auch dem Elternteil klarzumachen, warum welche Maßnahmen notwendig sind. Besonderheiten bezüglich der Physiologie und der Versorgung von Kindern finden Sie im Kapitel „Besondere Patientengruppen“ (S. 522). Kinder denken erst mit zunehmendem Lebensalter rational und sind unangenehmen oder gar schmerzhaften Maßnahmen gegenüber – verständlicherweise – nicht zugäng-

Kommunikation in der Notfallsituation Abb. 6.3 Kommunikation mit Kindern.

RETTEN TO GO Kommunikation mit besonderen Patientengruppen ●



Bei Kindern ist es wichtig, das Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Lässt es der Zustand des Kindes zu, kann ein unverfängliches Gespräch das Kind vom Geschehen ablenken. Themen dafür finden sich oft in der Umgebung, z. B. ein Fahrzeug, der Aufdruck auf dem T-Shirt oder ein mitgeführtes Spielzeug. Aus: retten



– Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme



lich. Aber auch ihre Fragen müssen altersgerecht beantwortet werden (▶ Abb. 6.3). Ein Kuscheltier als Geschenk oder ein aufgeblasener Handschuh kann in vielen Fällen ein Türöffner sein. Ein unkooperatives Kind mit Gewalt zu behandeln, ist nur in Betracht zu ziehen, wenn Lebensgefahr für das Kind besteht, z. B. bei einer Rettung aus einem für das Kind nicht erkennbaren Gefahrenbereich. Kinder, die z. B. einen Schulunfall erlitten haben und zunächst keine Bezugsperson vor Ort haben, sind in besonderer Weise auf Zuwendung angewiesen. In manchen Fällen kann z. B. bei einem verunglückten Teenager auch der beste Freund/die beste Freundin mitgenommen werden, um die Unsicherheit des Kindes zu vermindern. Chronisch kranke Kinder sind oft sehr genau über ihre Erkrankung und den Umgang damit informiert und wissen (wie auch ihre Eltern), was in einem speziellen Notfall zu tun ist. Eine medizinische Fachdiskussion über die weitere Versorgung und evtl. geeignete Krankenhäuser ist hier oft eher frustrierend und nicht zielführend.





Alte Menschen bedürfen besonderer Ruhe und Geduld. Sinnesbeeinträchtigungen, Demenz und körperliche Gebrechlichkeit sind zu berücksichtigen. Sprachprobleme: Hilfreich sind eine korrekte und deutliche Sprache sowie erklärende Mimik und Gestik. Missverständnisse können aber immer vorkommen und mitunter dramatische Folgen haben. Übersetzungshilfen im Internet oder internationale Anamnesebögen können helfen. Übersetzer aus dem Umfeld können unterstützen, allerdings sind auch hier Fehler oder Missverständnisse bzw. absichtliche Fehlübersetzungen aus Eigeninteresse möglich. Körperkontakt zwischen männlichen Rettungsdienstmitarbeitern und muslimischen Frauen muss auf das absolut Notwendigste reduziert werden. Schwerstpflegefälle: Ruhiges, geduldiges Verhalten vermittelt Sicherheit. Intoxikierte Patienten haben meist nur eine eingeschränkte Willensbildung und Fähigkeit zur Einsicht. Der Umgangston sollte möglichst sachlich sein. Behandeln Sie unkooperative oder aggressive Patienten nur, wenn Unterstützung vor Ort ist (z. B. Polizei). Mitunter kann nach dem Erleben von Gewalt eine psychologische Aufarbeitung sinnvoll und notwendig sein. Kinder müssen altersgerecht informiert werden. Beziehen Sie die Eltern (oder andere Bezugspersonen) möglichst ein. Die Anwendung von Gewalt ist als letztes Mittel nur zur Lebensrettung in Betracht zu ziehen.

173

7

Einsatztaktik und -ablauf



7.1 Definition und Ablauf eines Einsatzes Definition Einsatztaktik und -ablauf Einsatztaktik bezeichnet die Koordination, also die Abstimmung aller Rettungsmaßnahmen am Notfallort aufeinander. Nur ein koordiniertes Vorgehen aller Beteiligten ermöglicht eine schnelle und effiziente Rettung. Einsatztaktik und -ablauf umfassen sowohl das Handeln nach bestimmten Standards, z. B. dem (c)ABCDE-Schema (S. 183), als auch Kenntnisse über Führungsstile und mögliche Gefahren am Einsatzort. Zur Einsatztaktik bei einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten vgl. MANV/E (S. 536). Zwar können Einsätze im Rettungsdienst unterschiedlich ablaufen, jedoch bleibt eine bestimmte Abfolge der Ereignisse während eines Einsatzes gleich (▶ Abb. 7.1): ● Die Leitstelle alarmiert (S. 30) je nach Art der eingegangenen Meldung ein oder mehrere Rettungsmittel mit entsprechender Besetzung. ● Anfahrt: Die Rettungsmittel (S. 36) fahren zum Notfallort, der Einsatzstelle. ● An der Einsatzstelle verschaffen sich die Rettungskräfte einen Überblick über die Notfallsituation und den Notfallort, d. h. über mögliche Gefahren an der Einsatzstelle, die Art des Notfalls und die Zahl der Beteiligten. Je nachdem fordern sie ggf. weitere Rettungsmittel oder notärztliche Unterstützung an, sofern diese nicht bereits von der Leitstelle mit entsandt wurden.



Die Sofortmaßnahmen, die Akutversorgung der Betroffenen vor Ort (präklinisch), haben das Ziel, die Vitalparameter zu stabilisieren und die Transportfähigkeit herzustellen, um die Patienten zur weiteren Versorgung in ein geeignetes Krankenhaus (Zielklinik) zu transportieren. Der Transport erfolgt unter entsprechender fachlicher Betreuung und ggf. Fortführung der medizinischen Maßnahmen (erweiterte Maßnahmen). Das bedeutet einerseits, dass der Notarzt oder die Notärztin einen wieder stabilen Patienten an einen Mitarbeitenden des Rettungsdienstes übergeben kann und für einen neuen Notfalltransport bereitsteht. Andererseits kann ein Patient auch z. B. unter laufender Reanimation in ein Krankenhaus transportiert

Abb. 7.1 Ablauf eines Einsatzes im Rettungsdienst.

Alarmierung durch die Leitstelle

Anfahrt

Überblick über den Notfallort verschaffen

Übergabe an die Zielklinik

Transport

Akutversorgung vor Ort

Einsätze im Rettungsdienst verlaufen in einer bestimmten Reihenfolge. 174

Definition und Ablauf eines Einsatzes

▶S. 174

Prinzipielle Vorgehensweise Verhalten an der Einsatzstelle

Vorgehen im Einzelnen Eigenschutz

▶S. 176

▶S. 178

Weitere Schutzmaßnahmen



RETTEN TO GO Definition und Ablauf eines Einsatzes ●



Einsatztaktik und -ablauf umfassen das Handeln nach bestimmten Standards (z. B. (c)ABCDE-Schema) sowie Kenntnisse über Führungsstile und mögliche Gefahren am Einsatzort. Einsatzablauf: – Die Leitstelle alarmiert ein Rettungsmittel. – Das Rettungsmittel fährt zur Einsatzstelle, das Rettungsteam verschafft sich einen Überblick und fordert ggf. über die Leitstelle weitere Rettungsmittel und/ oder notärztliche Unterstützung nach. – An der Einsatzstelle erfolgt die Akutversorgung des Patienten (immer erst, nachdem man sich einen Überblick verschafft hat!), um die Vitalparameter zu stabilisieren und ihn für die Übergabe an eine geeignete Zielklinik transportfähig zu machen. – Der Patient wird unter fachkundiger Betreuung und ggf. Fortführung der medizinischen Maßnahmen in die Zielklinik transportiert und dort an die Notaufnahme übergeben, z. B. nach dem (c)ABCDE- und SAMPLERSchema, damit keine Informationen verloren gehen.

▶S. 179

Teamarbeit ▶S. 180

Teamarbeit und Führung im Einsatz

werden. Dies ist letztlich eine ärztliche Entscheidung, sie sollte aber von allen Beteiligten in gegenseitigem Einverständnis getroffen werden. Die Übergabe des Patienten an die Notaufnahme der Zielklinik erfolgt z. B. nach dem (c)ABCDE- und SAMPLERSchema. Bei wenig „dramatischen“ Einsätzen reicht es auch, einfach die Diagnose und die aktuellen Beschwerden mitzuteilen. Die strukturierte Mitteilung nach den genannten Schemata verringert jedoch im Stressfall das Risiko, dass etwas vergessen wird.

▶S. 175

Führung im Einsatz

▶S. 181

7.2 Verhalten an der Einsatzstelle 7.2.1 Prinzipielle Vorgehensweise Oft ist der Einsatzort des Rettungsdienstes die Wohnung des Patienten. Je nach Situation sind dort verschiedene „Stolperfallen“ und bauliche Besonderheiten vorzufinden, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Bei Verkehrsunfällen spielen häufig die Wetterbedingungen ein entscheidende Rolle. Im ländlichen Raum sind die Einsatzstellen bei Unfällen in der Land- und Fortwirtschaft manchmal schwierig zu finden oder mit den für öffentliche Straßen vorgesehenen Rettungsmitteln gar nicht zu erreichen.

Die „vier S“ Verschaffen Sie sich zunächst einen Überblick über die Einsatzstelle. Dabei helfen die „4 S“ (▶ Abb. 7.2): ● Scene: Beurteilung der Einsatzstelle, d. h.: Gibt es Besonderheiten an der Einsatzstelle? ● Safety: Fremd- und Eigengefährdung feststellen, siehe Eigenschutz (S. 178). ● Situation: Beurteilung von Verletzungsmechanismus und Kinematik (Unfallhergang): Wie viele Patienten sind betroffen? Wie viele davon sind vital bedroht? Ist eine Aufgabenteilung sinnvoll und möglich (S. 537)? ● Support: Sind weitere Rettungsmittel oder andere Fachdienste (Feuerwehr u. a.) nötig? Fordern Sie, wenn nötig, weitere Einsatzkräfte an.

175

7

Einsatztaktik und -ablauf Abb. 7.2 4-S-Matrix an der Einsatzstelle.

Art der Einsatzstelle, Umweltbedingungen, Patientenzugang usw.

v. a. Beurteilung der Eigen- und Fremdgefährdung (4A-1C-4E- Schema)

Scene

Safety

Support

Situation

ggf. Nachforderung weiterer Rettungskräfte oder Fachdienste

Keine Einsatzstelle gleicht der anderen. Die 4-S-Matrix dient dem schnellen Lageüberblick. Sie berücksichtigt die Punkte Scene (engl. für „Schauplatz, Szenerie“), Safety (engl. für „Sicherheit“), Situation (engl. für „Lage, Umstände, Situation“) und Support (engl. für „Unterstützung“). Achten Sie beim Eigenschutz auch auf Warntafeln o. Ä., die auf eine CBRN-Gefahr (S. 541) hinweisen können. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Anzahl der Verletzten, Verletzungsmechanismus, Schweregrad der Verletzungen, Überprüfung des Meldebilds usw.

Sofortmaßnahmen und Strategien Beginnen Sie mit den Sofortmaßnahmen erst, wenn Sie sich einen Überblick über die Notfallsituation und den Notfallort verschafft haben.

! Merke Sofortmaßnahmen

Beginnen Sie nie mit der Behandlung von Patienten, bevor Sie sich nicht prinzipiell einen Überblick über die Gesamtsituation verschafft haben. Sonst besteht die Gefahr, dass Sie eine harmlose Verletzung vor der lebensbedrohlichen behandeln, weil Sie die vitale Bedrohung in der Hektik übersehen haben. Wie lange Sie insgesamt an einer Einsatzstelle verbleiben, hängt v. a. vom Gesundheitszustand des Patienten ab. Können vor Ort Maßnahmen getroffen werden, die den Zustand des Patienten verbessern, dann sollten sie auch dort durchgeführt werden, z. B. die Infusion von Glukose zur Behandlung einer Hypoglykämie (S. 358). Kann aber vor Ort keine wirkliche Verbesserung erreicht werden, ist es sinnvoll, schnellstmöglich die nächste geeignete Klinik anzufahren, z. B., wenn nach einem Verkehrsunfall bei einem kreislaufinstabilen Patienten der Verdacht auf eine Blutung in den Bauchraum besteht. Eine solche verdeckte (= von außen nicht sichtbare) Blutung kann am Notfallort nur symptomatisch durch Infusionen behandelt werden. Das eigentliche Problem, die Blutung in den Bauchraum, kann nur durch eine Operation behoben werden. Die beiden beschriebenen Strategien werden „Stay and play“ (engl. für „Bleiben“ und wörtlich „Spielen“, hier im Sinne von „Agieren“, z. B. bei dem oben erwähnten Patienten mit Hypoglykämie) und „Scoop and run“ genannt (= „Load and go“, engl. für „Einladen und Losfahren“ bzw. „Abräumen – scoop – und Loslaufen“, wie bei der oben erwähnten Blutung in den Bauchraum). Die meisten Einsätze spielen sich irgendwo dazwischen ab, aber bei Schlaganfällen, Herzinfarkten und nicht stillbaren Blutungen (inkl. Hirnblutungen) ist die „Golden Hour“ (= goldene Stunde) oft das Maß der Dinge: Gemeint ist damit die eine Stunde, die Sie nach der Alarmierung Zeit haben, um den Patienten einer adäquaten Versorgung zuzuführen. Es ist also im Einzelfall immer abzuwägen, welche Strategie für den einzelnen Patienten zum voraussichtlich besten Ergebnis führt.

176

RETTEN TO GO Prinzipielle Vorgehensweise an der Einsatzstelle Verschaffen Sie sich vor der Behandlung von Patienten immer einen Überblick über die Gesamtsituation, da sonst die Gefahr besteht, eine vitale Gefährdung eines Patienten zu übersehen. Die „vier S“ sind eine Richtschnur für das Vorgehen an der Einsatzstelle und stehen für Scene, Safety, Situation und Support und bezeichnen die Beurteilung der Einsatzstelle, einer Fremd- und Eigengefährdung sowie des Unfallhergangs und die Anforderung weiterer Rettungsmittel/ personeller Unterstützung. Maßnahmen, die den Zustand des Patienten bereits an der Einsatzstelle verbessern, sollen auch dort durchgeführt werden = „Stay and play“ („Bleiben und Agieren“). Kann an der Einsatzstelle nichts (mehr) für den Patienten getan werden, sollte er schnellstmöglich in die nächste geeignete Klinik transportiert werden = „Scoop and run“ oder auch „Load and go“ („Einladen und Losfahren“ bzw. „Abräumen und Loslaufen“).

7.2.2 Vorgehen im Einzelnen Absichern der Einsatzstelle bei Verkehrsunfällen • Berücksichtigen Sie Folgendes: ● Parken Sie mit Blaulicht und Warnblinkanlage vor der Unfallstelle (Schutzbarriere). Ausnahme: Andere Fahrzeuge rücken nach oder sind schon vor Ort, dann ggf. hinter der Einsatzstelle parken, möglichst in Schrägposition. ● Stellen Sie in ausreichendem Abstand Warndreiecke und Warnleuchten auf (▶ Abb. 7.3). ● Stellen Sie Sicherungsposten auf (möglichst hinter der Leitplanke) – solange nicht Feuerwehr oder Polizei die Unfallstelle absichern. ● Fordern Sie ggf. Polizei und/oder Feuerwehr nach (u. a. für Absperrung, Verkehrsregelung). Rettung von Verletzten aus Lebensgefahr • Die Rettung vital bedrohter Patienten muss unbedingt unter Beachtung des Eigenschutzes (S. 178) erfolgen, d. h.:

Verhalten an der Einsatzstelle Abb. 7.3 Absichern von Unfallstellen.

200 m

200 m a

200 m 600 m b

800 m

Ein korrektes Absichern von Unfallstellen ist wichtig, um das Risiko von Folgeunfällen zu verringern. a Auf Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften sollten ca. 200 m vor der Einsatzstelle Absicherungen aufgestellt werden. Bei Straßen mit Gegenverkehr muss immer nach beiden Seiten gesichert werden. Stellen Sie zur besseren Erkennbarkeit neben dem Warndreieck zusätzlich eine Warnleuchte auf. Sind ausreichend viele Absicherungen vorhanden, stellen Sie diese auf beiden Seiten der Fahrbahn auf. Bei unübersichtlicher Straßenführung (z. B. Kurven) kann ein größerer Sicherheitsabstand erforderlich sein. b Gefahrenstellen auf Straßen mit getrennten Richtungsfahrbahnen werden entgegen der Fahrtrichtung des fließenden Verkehrs abgesichert. Der Beginn der Absicherung richtet sich nach den möglichen Höchstgeschwindigkeiten herannahender Verkehrsteilnehmer, z. B. in Streckenbereichen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung 800 m. Die Zeichen werden nach 200 m in Fahrtrichtung wiederholt (im Beispiel 600 m vor der Unfallstelle). Zur Absicherung von Gefahrenstellen auf Autobahnen sind Warndreiecke und Leuchten nicht auffällig genug, daher werden in der Regel zusätzlich Verkehrszeichen oder Faltsignale verwendet. Zur Sperrung von Fahrstreifen (im Beispiel 200 m vor der Einsatzstelle) werden Verkehrsleitkegel in Verbindung mit Blitzleuchten eingesetzt. ●



Legen Sie beim Einsatz von Rettungsgeräten (z. B. Brecheisen) immer geeignete Schutzkleidung an (z. B. Helm mit Visier, Schutzhandschuhe). Machen Sie einen Rettungsversuch nur, wenn dies risikoarm und schnell möglich ist; sonst erst Rückmeldung an die Leitstelle mit Nachforderung von Fachdiensten!

Ersthelfende einbeziehen • Falls Ersthelfende anwesend sind, können Sie diese bitten, nachrückende Fahrzeuge einzuweisen. Dies ist v. a. bei versteckten Einsatzstellen (z. B. Hinterhof, Wald) wichtig, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Für Ordnung und Schutz vor Schaulustigen sorgen ● Sie können Schaulustige z. B. als Ordner einsetzen, die andere Schaulustige fernhalten.



Schaffen Sie Platz und lassen Sie Verletzte mit Decken als Sichtschutz umgeben (Schutz vor Zuschauern).

Kooperation als Team Führen Sie keine Diskussionen, nicht vor Patienten und nicht vor Angehörigen oder gar Dritten (z. B. der Presse). ● Geben Sie nur notwendige Anweisungen, also weisen Sie z. B. nicht „Zugang fixieren“ an, wenn der Kollege das entsprechende Material schon in der Hand hat. Denken Sie daran, nach Möglichkeit Aufgaben zu delegieren (S. 181). ● Kommunizieren Sie sachlich, klar und eindeutig. ● Kooperieren Sie mit anderen (z. B. Feuerwehr, Polizei), um das gemeinsame Ziel, die Rettung aller Notfallpatienten, zu erreichen. ●

177

7

Einsatztaktik und -ablauf





Ordnen Sie sich in vorhandene Strukturen ein: So obliegt z. B. bei Feuerwehreinsätzen die Gesamteinsatzleitung dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Vergessen Sie bei allen (faszinierenden) technischen Dingen (z. B. Hubschrauberlandung) den Patienten nicht!

Abb. 7.4 Persönliche Schutzausrüstung (PSA).

RETTEN TO GO Vorgehen an der Einsatzstelle im Einzelnen ●





● ●

Sichern Sie die Einsatzstelle ab, z. B. indem Sie das Fahrzeug als Schutzbarriere vor der Unfallstelle parken. Vergessen Sie nie den Eigenschutz, auch nicht, wenn Verletzte aus Lebensgefahr gerettet werden müssen! Weisen Sie evtl. vorhandenen Ersthelfenden Aufgaben zu, z. B. das Einweisen nachrückender Fahrzeuge. Schirmen Sie die Patienten vor Schaulustigen ab. Arbeiten Sie effektiv und zielorientiert mit anderen im Team zusammen und führen Sie keine Diskussionen vor Patienten, Angehörigen oder anderen Personen.

7.2.3 Eigenschutz Achten Sie bei Notfalleinsätzen immer auf den Eigenschutz! Organisationen wie Polizei oder Feuerwehr werden an der Einsatzstelle häufig mit ganz offensichtlichen Gefahren konfrontiert und widmen schon deshalb dem Eigenschutz meist mehr Aufmerksamkeit als Mitarbeitende des Rettungsdienstes. So ist auf Fotos von Einsatzstellen immer wieder zu sehen, dass Feuerwehreinsatzkräfte mit Helm und Handschuhen unterwegs sind, wohingegen direkt daneben ein Rettungsdienstmitarbeitender mit dem Helm in der Hand (statt auf dem Kopf) steht und die Notärztin oder der Notarzt sogar „in Schlappen“ unterwegs ist.

! Merke Eigenschutz

a

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, PSA zur Verfügung zu stellen. a Die persönliche Schutzkleidung besteht aus Jacke bzw. Weste und Hose, Sicherheitsschuhen und Einmalhandschuhen, ggf. auch FFP2-Maske. b Bei Bedarf wird die PSA durch Schutzhelm und schnittfeste Handschuhe ergänzt, ggf. auch durch Schutzbrille und Einmalschürze bzw. -overall. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Helfende im Rettungsdienst dürfen sich nie selbst in Gefahr bringen! Bei jedem Einsatz ist vorher zu klären, ob Gefahren für die Einsatzkräfte bestehen. Ein Hinweis darauf kann z. B. eine rote Warntafel am Unfallfahrzeug sein, d. h. ein Hinweis auf Gefahrguttransport (S. 542), oder auch eine aufgeheizte Stimmung an Einsatzorten wie einem Bierzelt. Bei unübersichtlichen Großschadenslagen sind neu eintreffende Einsatzkräfte zunächst an die Weisungen der Feuerwehr gebunden. Gibt es keine Anweisungen, so lohnt es sich, die entsprechenden Informationen beim Einsatzleiter der Feuerwehr zu erfragen. Grundlegende Regeln • Beherzigen Sie folgende Regeln: Halten Sie Sicherheitsabstand! Dies gilt besonders bei CBRN-Lagen (S. 541), z. B. bei Unfällen mit Gefahrguttransportern. Gehen Sie hier nach der GAMS-Regel (S. 542) vor! Auch bei Feuer, Gasgeruch und Gewalttätigkeiten (z. B. Schlägereien) hat der Eigenschutz in jedem Fall Vorrang. Auch eine scheinbare Banalität, z. B. ein freilaufender Hund, kann dazu führen, dass Sie sich zunächst noch nicht einmal aus dem Auto begeben können – der Hinweis „Der tut nichts!“ kommt von so ziemlich jedem Hundebesitzer. Aber auch Tiere spüren die Ausnahmesituation und neigen zu unvorhersehbarem Verhalten – vgl. Fallbeispiel (S. 192). ● Tragen Sie Schutzkleidung! Der Arbeitgeber ist verpflichtet, entsprechende persönliche Schutzausrüstung (PSA) zu stellen (▶ Abb. 7.4). Auch wenn diese im Einzelfall nicht ●

178

b





den persönlichen modischen Vorstellungen entsprechen mag – getragen werden muss sie in jedem Fall! Ein Verstoß gegen die UVV (Unfallverhütungsvorschrift) kann dazu führen, dass ein im Einsatz entstandener Schaden zu Ihren Lasten geht! Für CBRN-Einsätze gibt es spezielle Schutzausrüstungen (S. 544). Halten Sie Schutzausrüstung einsatzbereit und tragen Sie diese im Zweifel! Was selbstverständlich klingt, wird oft übersehen. Auch wenn das Aufsetzen eines Helmes die Frisur ruiniert: Bei Verkehrsunfällen, Brandeinsätzen oder auf Baustellen müssen Sie einen Helm tragen! Gleiches gilt für das Tragen der geschlossenen Sicherheitsschuhe, auch wenn dies im Sommer manchmal unangenehm ist. Im Einsatz sind sie obligatorisch! Nachalarmieren/Hilfe anfordern (auch von Fachdiensten, z. B. der Feuerwehr)! Es ist immer vernünftig, sich fachliche Hilfe zu holen, wenn Sie selbst nicht mehr weiter wissen. Alarmieren Sie Fachdienste nach, wenn z. B. ein Verkehrsunfall in der Nähe eines Umspannhäuschens passiert ist. Anschließend müssen Sie natürlich auf deren Eintreffen warten – egal, was die Anwesenden sagen und was sie vom Rettungsdienst erwarten.

Verhalten an der Einsatzstelle

7.2.4 Weitere Schutzmaßnahmen

Abb. 7.5 Airbagsicherungssystem Octopus®.

Brandschutz Rettungsdienstpersonal sollte in der Brandbekämpfung ebenso kompetent handeln können wie jeder andere Bürger auch: Sie sollten z. B. in der Lage sein, einen Feuerlöscher sicher zu bedienen. Eine akute Bedrohung durch Feuer müssen Sie korrekt einschätzen und ggf. an die Leitstelle rückmelden. Es gilt immer: Personenrettung vor Löschversuch! Prinzipiell können Pulverlöscher auch zur Löschung von Kleiderbränden eingesetzt werden. Dies ist jedoch eine absolute Ausnahmesituation!

! Merke Löschmittel

Sparen Sie beim Einsatz von Löschmitteln am Menschen möglichst immer das Gesicht aus und löschen Sie vom Boden aufwärts! Nehmen Sie so oft wie möglich an Brandschutzinstruktionen und Übungen zum Umgang mit Feuerlöschern teil, denn nur wer mit einem Feuerlöscher umgehen kann, sollte ihn auch einsetzen. Es ist außerdem wichtig zu wissen, dass die Funktionsdauer eines Feuerlöschers zwischen 6 (< 3-kg-Löscher) und 15 Sekunden (> 10-kg-Löscher) liegt. Danach ist der Löscher i. d. R. erschöpft. Denken Sie bei Bränden immer daran, dass auch von nicht wahrnehmbaren Gasen (CO, CO2) eine hohe Eigengefährdung für eine akute Intoxikation (S. 275) ausgeht. Die Gase werden auch über die Einsatzkleidung verschleppt. Tragen Sie die mittlerweile fast überall verfügbaren Gas-Warner immer am Oberkörper! Lassen Sie sich im Zweifel auch selbst mit den entsprechenden bei Feuerwehren vorgehaltenen Messgeräten vor Ort noch überprüfen.

Umgang mit Airbags Die wachsende Zahl von Airbags auch an unüblichen Stellen (z. B. rechts und links der Kopfstützen oder im Fußraum bei den Pedalen) ist ebenfalls eine besondere Gefahr, sowohl bei der Behandlung verunglückter Personen in ihrem Fahrzeug als auch bei deren Rettung aus dem Unfallfahrzeug. In Zukunft wird es Airbagsysteme möglicherweise auch für die Rücksitze geben. Zunächst ist es wichtig, an einen evtl. nicht ausgelösten Airbag überhaupt zu denken! Während der Rettungsarbeiten kann er u. U. ausgelöst werden und sowohl die verunglückte Person als auch die Retter schwer verletzen. Meistens schaltet die Bordelektronik die nicht ausgelösten Airbags nach einem Unfall ab, aber es gibt auch hier Ausnahmen. Airbags sind meist an einem Schriftzug (meist „SRS“) zu erkennen. Treffen Sie bei einem nicht ausgelösten Airbag folgende Vorsichtsmaßnahmen: ● Halten Sie sich nach Möglichkeit nie zwischen Airbag und Patient auf! ● Benutzen Sie Sicherungssysteme (Octopus®, ▶ Abb. 7.5). ● Lassen Sie die Autobatterie abklemmen, dies verhindert die Zündung. Allerdings gibt es Fahrzeuge mit mehreren Batterien und nach Unterbrechung der Batterieverbindung kann noch einige Zeit die Gefahr der Zündung bestehen (Kondensatorwirkung, z. T. bis zu 20 min). ● Führen Sie keine Schneid- oder Bohrarbeiten (Hitze vermeiden!) im Bereich des Airbagsystems durch! ● Legen Sie keine Gegenstände auf oder über Airbagtaschen ab (z. B. Beifahrerseite vor der Frontscheibe)!

Airbagsicherungssysteme schützen sowohl Retter als auch Unfallopfer vor Airbags, die plötzlich und unkontrolliert zünden. Das abgebildete System wird auf die Mitte des Lenkrads gelegt und mit den Gurten hinter dem Lenkradkranz befestigt. Mit freundlicher Genehmigung Weber Hydraulik GmbH, Güglingen

Notfälle im Gleisbereich der Bahn Bei Notfällen im Gleisbereich der Bahn gibt es besondere Gefahren an der Einsatzstelle, z. B.: ● Gefahrgut ● herabhängende Oberleitungen (Achtung: Hochspannung bis 15 000 V Wechselspannung!) mit Gefahr von Stromunfällen (S. 409) ● auf dem Gegengleis verkehrende Züge ● erschwerte Rettung aus Zügen bei schlechter Zugänglichkeit im Gelände, auf Brücken oder gar in Tunneln Bei Notfällen im Gleisbereich müssen Sie immer das Eintreffen der Fachdienste abwarten (Feuerwehr, THW, Bundespolizei und Notfallmanager der Bahn). Vor Arbeiten im Bereich des Bahngleises muss die Strecke gesperrt sein.

ACHTUNG Der normale Mindestabstand zu einer intakten Oberleitung sollte 1,50 m nicht unterschreiten (z. B. auch bei Menschenrettung!). Bei Oberleitungsschäden ist ein Abstand von 10–15 m zu allen potenziell spannungsführenden Teilen einzuhalten, da in diesem Spannungstrichter sonst lebensgefährliche Lichtbögen entstehen können (▶ Abb. 15.43)! Ein Betreten der Einsatzstelle ist in jedem Fall nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch eine Fachkraft (z. B. Notfallmanager) möglich.

Unfälle mit Elektrofahrzeugen Besonderheiten • An den Grundsätzen der Rettungstaktik ändert sich nichts im Vergleich zu Unfallfahrzeugen mit herkömmlicher Verbrennungstechnik, allerdings ist bei Verkehrsunfällen mit Elektro- und Hybridfahrzeugen mit zusätzlichen Gefahren zu rechnen. Die Antriebsbatterien sind oft an unterschiedlichen und meist nicht gut zugänglichen Stellen verbaut. Durch mechanische Beschädigung oder externe Beflammung können sie sich auch verzögert entflammen. Zudem sind teilweise spannungsführende Teile an der Karosserie verbaut, die bei Beschädigung die (mitunter hohe) Spannung (mit erheblicher Stromstärke) an die Umgebung abgeben können. Da ein Motorengeräusch fehlt, ist nicht sicher feststellbar, ob das Fahrzeug abgeschaltet ist. 179

7

Einsatztaktik und -ablauf Abb. 7.6 Warnmarkierungen bei einem Elektrofahrzeug.

Kennzeichnung von Hochvoltbaugruppen bei Elektrofahrzeugen. Orangefarbene Hochvoltkabel und Warnaufkleber. Aus: Ventzke M, Ziegler B. Technische Rettung beim Verkehrsunfall – Was der Notarzt an der Einsatzstelle wissen muss – Teil 2. NOTARZT 2017; 33(01): 31–37

Der abweichende Schwerpunkt führt zu einem veränderten Kippverhalten, z. B. wenn das Unfallfahrzeug auf der Seite liegt. Das Austreten von zischendem Nebel, Knister- oder Knallgeräusche und strenge Gerüche sind oft Hinweise auf eine Beschädigung der Batterie. Flüssigkeiten, die aus Batterien austreten, sind oft ätzend und atemwegsreizend. Elektrofahrzeuge verfügen i. d. R. über das Warnzeichen „Achtung Hochvolt“, Hochvoltkabel sind in Hellorange markiert und berührungssicher verbaut. Auch sind Elektrofahrzeuge an Ladebuchsen, Typenschildern oder einem „E“ an der letzten Stelle des deutschen Kennzeichens erkennbar. Pulverlöscher und Löschgas sind nach derzeitigem Stand bei einem Batteriebrand wirkungslos. Die technischen Rettungskräfte und Leitstellen verfügen über „Rettungskarten“, die besondere Arbeitsweisen mit diesen Unfallfahrzeugen beschreiben (▶ Abb. 7.6).

7.3 Teamarbeit und Führung im Einsatz 7.3.1 Teamarbeit Teamarbeit wurde schon vor langer Zeit erfunden, als die Menschen feststellten, dass sie gemeinsam größere Ziele (z. B. ein Mammut erlegen) erreichen konnten als jeder für sich allein. Feste Bestandteile der Teamarbeit sind die Aufgabenteilung und das bestmögliche Erledigen einer Aufgabe mit dem Ziel, ein optimales Ergebnis zu erreichen. Dies schließt ein, dass jedes Teammitglied jede Position/Aufgabe im Team erfüllen können sollte. Im Rettungsdienst ist dies aufgrund unterschiedlicher Qualifikationen und gesetzlich geregelter Kompetenzen nicht immer möglich.

Sinnvolle Maßnahmen • Als Ersteintreffende können Sie folgendes tun: ● Wählhebel des Unfallfahrzeugs auf „P“ stellen ● Feststellbremse ziehen ● ggf. Start-Stopp-Schalter drücken ● Fahrzeug nach Möglichkeit gegen Wegrollen sichern

! Merke Teamarbeit

Achten Sie dabei (wie immer) auf die Eigensicherung. Bedenken Sie, dass die Rettung des Verunfallten aus dem Gefahrenbereich einfacher und sicherer sein kann als das Arbeiten in der Nähe des Fahrzeuges.

Besonders wichtig ist dies, wenn die Versorgung bereits begonnen wurde und weitere Kollegen zum Team hinzukommen. Das heißt z. B., dass Sie nicht alles können müssen, was eine Notärztin oder ein Notarzt kann – aber Sie sollten wissen, wann welche Schritte erfolgen und welche Rolle Sie selbst dabei einnehmen können. Wenn Sie z. B. die Abfolge des cABCDE-Schemas (S. 183) genau kennen, wissen Sie, wann der Notarzt eine Halskrause benötigt oder einen Zugang legen wird, und können beides rechtzeitig vorbereiten. Um die Teamleistung zu optimieren, ist es entscheidend, diese Abläufe gemeinsam zu trainieren und sich an die vereinbarten Standards, z. B. cABCDE, zu halten. Dies verhindert, dass der eine plötzlich nicht mehr weiß, was der andere tut! Wenn möglich, können Sie auch auf der Anfahrt absprechen, wer welche Rolle im aktuellen Einsatz übernehmen möchte, z. B. wer den Einsatz im Sinne des primären Patientenkontaktes leiten soll – also zunächst der Hauptansprechpartner sein möchte. Diese Möglichkeiten werden oft durch gesetzliche Vorgaben oder Dienstanweisungen begrenzt, die sinngemäß so lauten können: „Der höher Qualifizierte muss zum Patienten!“ Die Realität und die unterschiedlichen Anforderungen der Einsätze gewähren ab und zu einen gewissen Spielraum.

RETTEN TO GO Schutzmaßnahmen an der Einsatzstelle Eigenschutz: ● Halten Sie Sicherheitsabstand, v. a. bei Strom-, Strahlen- und Gefahrgutunfällen. ● Tragen Sie die vollständige Schutzkleidung! Halten Sie ggf. spezielle Schutzausrüstung einsatzbereit und tragen Sie diese! ● Fordern Sie ggf. zusätzlich Hilfe an (auch von Fachdiensten, z. B. Feuerwehr)! Brandschutz: ● Melden Sie Bedrohungen durch Feuer der Leitstelle. ● Immer Personenrettung vor Löschversuch! Sparen Sie beim Einsatz von Löschmitteln am Menschen immer das Gesicht aus und löschen Sie vom Boden an aufwärts! 180

Umgang mit Airbags: ● Denken Sie immer daran, dass ein Airbag auslösen kann! ● Halten Sie sich nach Möglichkeit nicht zwischen Airbagsystem und Patient auf. Notfälle im Gleisbereich der Bahn: ● Eintreffen der Fachdienste abwarten (Feuerwehr, THW, Bundespolizei und Notfallmanager der Bahn) ● Einsatzstelle nur bei Genehmigung durch eine Fachkraft betreten: Lebensgefahr durch Oberleitungsschäden! ● vor Arbeiten im Gleisbereich die Strecke sperren lassen Unfälle mit Elektrofahrzeugen: ● Achten Sie auf Ladebuchsen, Typenschilder und das Kennzeichen, um Elektrofahrzeuge zu erkennen. ● Antriebsbatterien können entflammen, mitunter mit Verzögerung. Zischender Nebel, Knister- oder Knallgeräusche sowie strenge Gerüche können auf Beschädigungen hinweisen. ● Achten Sie auf spannungsführende Karosserieteile.

Um im Rettungsdienst eine gute Teamleistung zu erbringen, muss nicht jeder alles selbst können. Jeder Einzelne sollte aber die Aufgaben aller Teammitglieder kennen und sich selbst in den Ablauf eines Einsatzes integrieren.

Teamarbeit und Führung im Einsatz

7.3.2 Führung im Einsatz

! Merke Zweck von Führung

Führung in Organisationen soll durch Koordinieren (aufeinander Abstimmen) der Einzelleistungen die gemeinsame Leistung verbessern. Das Ganze ist mehr als nur die Summe der Teile. Koordinieren • Die Gesamtarbeit einer Organisation kann bei ineinander verschachtelten Teilleistungen nur so gut sein wie die Arbeit jedes Einzelnen. Im Rettungsdienst treffen viele Standpunkte aufeinander, die dem gemeinsamen Ziel „optimale Notfallversorgung“ untergeordnet sind. Den Notarzt z. B. interessiert v. a. die optimale Notfalltherapie des Patienten. Entsprechend koordiniert er die Arbeit des Rettungsfachpersonals. Den Einsatzleiter der Feuerwehr interessiert hingegen oft primär die persönliche Sicherheit der Beteiligten und die Abwendung weiteren Schadens z. B. auch von übergeordneten Sachwerten (z. B. großen Gebäuden). Delegieren • Je mehr Aufgaben an eine Person herangetragen werden, desto mehr Aufgaben sollte sie versuchen zu delegieren, um eine eigene Überforderung zu vermeiden. In der Regel gibt die Notärztin oder der Notarzt den Mitarbeitenden klare Handlungsanweisungen, die diese ohne Rückfragen durchführen können. Das Delegieren setzt Mitarbeitende voraus, die kompetent genug sind, sowohl die an sie delegierten Aufgaben zu übernehmen, als auch offensichtlich falsche oder widersinnige Aufträge zu erkennen und auf diesen Mangel hinzuweisen.

! Merke Keine Eskalation

Vermeiden Sie in der Notfallsituation immer Eskalationen: Diese kosten die Lebenszeit des Ihnen anvertrauten Patienten! Involvieren • Involvieren bedeutet, andere in das eigene Handeln miteinzubeziehen und ihnen dabei Handlungsspielräume zu lassen. Notärztinnen und Notärzte sollen dem Rettungsfachpersonal Freiheiten und Handlungsspielräume lassen, solange der von ihm beschrittene Weg ohne Umschweife zum Ziel führt. Auch hier ist die Kompetenz der Mitarbeitenden zwingende Voraussetzung. Beispiel: „Bereite doch bitte alles für die Intubation vor!“ Ob die Mitarbeitenden nun damit beginnen, das Laryngoskop zu richten, oder erst den Tubus mit dem Führungsstab bestücken, spielt keine Rolle. Es zählt allein, dass in kürzester Zeit alle notwendigen Dinge für die Intubation bereit sind. Eine solche Beteiligung steigert die Motivation der Mitarbeitenden! Der gegenseitige Respekt spielt dabei ebenfalls eine große Rolle.

Transparenz herstellen • Den Mitarbeitenden (wie auch dem Patienten) muss klar sein, wie die Notärztin oder der Notarzt das Behandlungsziel erreichen will. Dabei ist wichtig, dass die Behandlungsschritte kurz erläutert werden, damit alle die Zielrichtung verstehen. Beispiel bei der Narkoseeinleitung: „Ich gebe jetzt zunächst das Opiat, um den Patienten zu beruhigen und die Schmerzen zu lindern. Dann gebe ich das Narkotikum und erst, wenn der Patient sicher schläft, das Relaxans, um die Intubation sicher zu gestalten.“ Transparenz dient auch der Selbstkontrolle, denn bei einem guten Teamklima können kompetente Mitarbeitende z. B. ein anderes Narkotikum empfehlen, das sich weniger negativ auf den Kreislauf auswirkt – insbesondere, wenn der Patient schon einen niedrigen Blutdruck hat. Viele junge Notärztinnen und Notärzte können von erfahrenen Rettungsdienstmitarbeitenden lernen, wenn sie sich bewusst machen, dass es genau diese Erfahrung ist, die ihnen selbst noch fehlt. Am besten ist es, wenn die unterschiedlichen Ausbildungs-, Wissens- und Reifestadien der Mitarbeitenden in einem Team berücksichtigt und optimal eingesetzt werden.

RETTEN TO GO Teamarbeit und Führung im Einsatz Effektive Teamarbeit setzt voraus, ● dass jeder die Aufgaben aller Teammitglieder kennt und sich entsprechend sinnvoll in den Ablauf eines Einsatzes integrieren kann. ● dass gängige Abläufe immer wieder gemeinsam trainiert werden und jeder sich an Standards hält, z. B. das cABCDE-Schema. Führung im Einsatz hat das Ziel, Einzelleistungen optimal aufeinander abzustimmen, um so die Gesamtleistung zu steigern und ein gutes Klima im Team zu schaffen. Dabei helfen folgende Maßnahmen: ● Aufgaben delegieren, um eigene Überforderung zu vermeiden: Dies setzt Mitarbeitende voraus, die kompetent genug sind, sowohl die an sie delegierten Aufgaben zu übernehmen, als auch falsche oder widersinnige Aufträge als solche zu erkennen und darauf hinzuweisen. ● Mitarbeitende involvieren, d. h. sie in das eigene Handeln miteinbeziehen und ihnen dabei Handlungsspielräume lassen: Auch dies setzt zwingend die Kompetenz der Mitarbeitenden voraus. ● Behandlungsschritte kurz erläutern, um klarzumachen, wie welches Behandlungsziel erreicht werden soll.

181

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten

ACHTUNG

8.1 Einführung Ersteinschätzung und Primary Survey • In Notfallsituationen geht es darum, rasch das Richtige zu tun, um die Vitalfunktionen Bewusstsein, Atmung und Kreislauf des Patienten zu beurteilen und ggf. Störungen zu beseitigen. Nach der Ersteinschätzung folgt eine allgemeine Erstuntersuchung nach dem international bewährten (c)ABCDE-Schema. Dies wird auch als Primary Survey (= Primary Assessment) bezeichnet. Bei Trauma-Ereignissen wird von cABCDE gesprochen. Dabei steht das vorangestellte „c“ für eine kritische, akut lebensbedrohliche Blutung (engl. „critical bleeding“), deren Behandlung oberste Priorität hat. Anamnese • Das (c)ABCDE-Schema wird um eine Notfallanamnese erweitert, die in der Akutsituation v. a. Informationen über aktuelle Geschehnisse (z. B. Unfallhergang) liefern soll. Diese umfasst (wie jede Anamnese) eine Eigenanamnese mit Befragung des Patienten, um einen subjektiven Eindruck des aktuellen Zustands und der Beschwerden zu erheben, und/oder eine Fremdanamnese durch die Befragung Dritter (Angehörige, Augenzeugen, Hausarzt). Je nach Verlauf des Einsatzes wird die Notfallanamnese während oder nach Anwendung des (c)ABCDE-Schemas um eine genauere Anamnese nach dem SAMPLER-Schema (S. 193) erweitert. Zur Einschätzung von Schmerzen können Sie das OPQRST-Schema einsetzen.

182

Manchmal ist eine Fremdanamnese die einzige Möglichkeit, etwas über den Patienten zu erfahren. Sie kann allerdings auch absichtlich (z. B. bei Gewaltdelikten) oder unabsichtlich durch falsche oder fehlende Erinnerungen verfälscht werden. Secondary Survey (S. 193) • Je nach Krankheitsbild wird der Notfallpatient im weiteren Verlauf genauer körperlich untersucht. Besondere Patientengruppen • Beachten Sie die in Kapitel 23 beschriebenen Besonderheiten der Beurteilung von Kindern (S. 526), alten Patienten (S. 531) und übergewichtigen Patienten (S. 533).

! Merke Regelmäßig reevaluieren!

Auch nachdem das (c)ABCDE-Schema abgearbeitet ist, müssen Sie wachsam bleiben. Reevaluieren Sie den Patientenzustand regelmäßig, damit Ihnen keine Veränderungen entgehen.

8.2 Ersteinschätzung In den ersten Sekunden des Kontakts mit einem Notfallpatienten gewinnen Sie einen Ersteindruck, aus dem Sie bereits vorsichtig (!) den Schluss ziehen können, ob ein kritischer Zustand besteht oder nicht. Achten Sie dabei v. a. auf mögliche Probleme in den Bereichen Atmung, Kreislauf und Bewusstsein. Diese initiale Einschätzung wird als Fivesecond-round (dt. Fünf-Sekunden-Überblick) bezeichnet. Siehe dazu auch den Basischeck bei Verdacht auf einen Herz-Kreislauf-Stillstand (S. 320). Zunächst erfassen Sie den Bewusstseinszustand durch Anschauen und Ansprechen. Hat der Patient die Augen ge-

Einführung

▶S. 182

Ersteinschätzung

▶S. 182 c – Critical Bleeding: kritische Blutungen stoppen ▶S. 186 A – Airway: Atemwege kontrollieren, freimachen, freihalten B – Breathing: Belüftung

Primary Survey: (c)ABCDE-Schema

▶S. 186

▶S. 187

C – Circulation: Kreislaufkontrolle

▶S. 188

Schnelle Traumauntersuchung (STU) ▶S. 190 D – Disability: neurologisches Defizit? E – Exposure and Environment ABCDE-Schema: Fallbeispiel

SAMPLER-Schema Secondary Survey

▶S. 191

▶S. 191 ▶S. 192

▶S. 193

OPQRST-Schema ▶S. 195 IPPAF-Schema ▶S. 195

Tab. 8.1 AVPU- bzw. WASB-Schema. AVPU

WASB

Reaktion des Patienten

Einstufung des Patienten

Alert

Wachheit

ansprechbar und orientiert

akut bedrohliche Atem- und/oder Kreislaufsituation wenig wahrscheinlich

Verbal Stimuli

Ansprache

Reaktion nur auf (laute) Ansprache

evtl. akut bedrohliche Atem- und/oder Kreislaufsituation

Painful Stimuli

Schmerz

Reaktion nur auf Schmerzreiz

akut bedrohliche Atem- und/oder Kreislaufsituation wahrscheinlich

Unresponsive

Bewusstlosigkeit

nicht ansprechbar, bewusstlos

kritisch

schlossen und antwortet nicht, können Sie ihn vorsichtig an der Schulter anfassen und rütteln. Dies erlaubt Ihnen eine orientierende Beurteilung anhand des AVPU-Schemas (▶ Tab. 8.1, auf Deutsch als WASB-Schema bezeichnet).

Ergebnis der Ersteinschätzung • Schätzen Sie einen Patienten aufgrund des Ersteindrucks als kritisch oder potenziell kritisch ein, muss bereits zu diesem Zeitpunkt entschieden werden, ob zügig transportiert oder notärztliche Unterstützung angefordert wird.

ACHTUNG Bei Bewusstlosigkeit („unresponsive“ nach AVPU) müssen Sie davon ausgehen, dass die Schutzreflexe ausgefallen sind. Die Atemwege müssen freigehalten werden (z. B. durch Seitenlage). Es dürfen unter keinen Umständen oral Medikamente (z. B. Tabletten) verabreicht werden (Aspirations- und Erstickungsgefahr!). Nutzen Sie bewusst Ihre Sinne, um Problemfelder zu erkennen: ● Sehen: Starke Blutung? Offene Wunde? Grobe Achsfehlstellungen der Extremitäten? Zyanose? Körperhaltung? ● Hören: Stöhnt oder hustet der Patient? Hören Sie laute Atemneben- oder gar keine Atemgeräusche? ● Riechen: Riecht der Patient z. B. nach Alkohol, Azeton (diabetische Ketoazidose!) oder Urin? Riecht die Umgebung auffällig (z. B. nach Rauch)?

8.3 Primary Survey: (c)ABCDESchema 8.3.1 Vorgehen Zielsetzung • Basierend auf dem Grundsatz „treat first what kills first“ (behandle zuerst, was den Patienten am schnellsten umbringt) enthält das (c)ABCDE-Schema klare Handlungsanweisungen für die strukturierte Erstuntersuchung von Notfallpatienten. Es dient also dazu, Störungen zu erkennen, die für die Patienten akut bedrohlich sind. Eigenschutz • Auch für das „Abarbeiten“ des ABDCE-Schemas gelten die Grundsätze der Eigensicherung (S. 178)! 183

CRITICAL BLEEDING

PRIMARY SURVEY NACH cABCDE-SCHEMA

c

TRAUMAPATIENT

KRITISCHE ÄUSSERE BLUTUNG?

AIRWAY

Atemwege sicher und frei?

A

Atmet und spricht der Patient normal?

nein ja

BREATHING

Lunge ausreichend belüftet?

•Atemfrequenz auszählen •Atemrhythmus und -muster bestimmen •SpO2 messen (Pulsoxymetrie) •Lunge seitenvergleichend auskultieren •ggf. auf Thoraxverletzungen achten

B

CIRCULATION

Hämodynamik stabil?

C

STU

Puls gut tastbar, regelmäßig und von normaler Frequenz?

•Inspektion des Mundraums •Indikation für HWS-Immobilisierung prüfen

nein ja

SCHNELLE TRAUMAUNTERSUCHUNG

•Rekapillarisierungszeit bestimmen •Hautkolorit, -temperatur und -feuchte beurteilen •auf versteckte Blutungen achten •Blutdruck messen •Herz auskultieren •EKG anlegen

TRAUMAPATIENT

DISABILITY

•Pupillenstatus untersuchen •Blutzucker messen •Sensibilität und Motorik prüfen •Verhalten beurteilen (Alkohol- oder Drogeneinfluss?) •D-Zustand vor dem Ereignis erfragen

EXPOSURE + ENVIRONMENT

TRANSPORTPRIORITÄT FESTLEGEN:

LOAD AND GO

ODER

STAY AND PLAY ?

ggf. während des Transports

Bewusstseinslage und neurologischer Status unauffällig?

D

nein GCS ≥ 14 Punkte? ja

Gibt es weitere Problematiken? Hypothermiegefahr? Schmerzbekämpfung nötig?

E

situationsabhängig: •Ganz-/Teilkörperuntersuchung •Temperatur messen •Abdomen palpieren und auskultieren •Schmerzstärke ermitteln •auf Infektionszeichen achten •Monitoring komplettieren

REEVALUIERUNG

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten Dauer • Den Primary Survey sollten Sie innerhalb von 90 Sekunden durchführen (etwaige lebensrettende Maßnahmen ausgenommen). Grundsätzlich gilt, dass der Untersuchungsaufwand der Situation anzupassen ist. Öffnet ein Patient selbst die Tür und unterhält sich mit Ihnen, müssen Sie nicht explizit alle Punkte des (c)ABCDE-Schemas im Detail abarbeiten (→ symptomorientierte Untersuchung, situationsangepasstes Vorgehen). Behalten Sie aber das Schema im Hinterkopf, um nichts zu vergessen oder zu übersehen.

c – Critical Bleeding: kritische Blutungen stoppen Synonym • Statt der Abkürzung „c“ wird mitunter „x“ für „exsanguinate haemorrhage“ (dt. Ausbluten) verwendet, entsprechend xABCDE-Schema. Vorgehen • Sehen Sie bei einem Patienten kritische äußere Blutungen (z. B. arterielle Spritzblutung, Amputationsverletzung), müssen Sie diese sofort stoppen, damit der Patient nicht verblutet. Die Techniken zur Blutstillung (manuelle Kompression, Druckverband, Tourniquet, Hämostyptika) werden im Kapitel Traumatologie (S. 375) beschrieben.

A – Airway: Atemwege kontrollieren, freimachen, freihalten

! Merke A (Airway)

Sind die Atemwege sicher und frei? Bei Traumapatienten zusätzlich: Muss die HWS immobilisiert werden? Vorgehen bei bewusstseinsklaren Patienten • Inspizieren Sie den Mundraum: Fordern Sie den Patienten auf, den Mund zu öffnen und die Zunge herauszustrecken. Bei Atemnot können Sie enge Kleidung (z. B. eng sitzende Krawatte, Hemdkragen) öffnen und für Frischluft durch Öffnen eines Fensters sorgen, ggf. Sauerstoff verabreichen. Vorgehen bei Bewusstlosen • Öffnen Sie den Mund mit dem Kreuzgriff (▶ Abb. 9.11), inspizieren Sie die Mundhöhle und

entfernen Sie ggf. Fremdkörper, bei Bedarf durch Absaugen oder mithilfe einer Magill-Zange (S. 208). Die nicht einsehbaren Atemwege könen Sie durch das Überstrecken des Kopfes oder den Esmarch-Handgriff (S. 209) freimachen. Auch eine Verengung der oberen Luftwege (Mund/Nase bis zum Kehlkopf), z. B. bei einer allergischen Reaktion (S. 290), kann zu einer Verlegung der Atemwege führen. Diese äußert sich durch einen inspiratorischen Stridor (pfeifende oder ziehende/juchzende Geräusche bei der Einatmung, oft schon ohne Stethoskop, sozusagen „von der Tür aus“ hörbar). Zum Freihalten der Atemwege dienen die stabile Seitenlage (▶ Abb. 9.57) oder Hilfsmittel wie Pharyngealtuben (S. 210).

ACHTUNG Ist die Atmung bei einem Bewusstlosen unzureichend, müssen Sie von einem Herz-Kreislauf-Stillstand ausgehen. Beginnen Sie sofort eine kardiopulmonale Reanimation (S. 322)! Immobilisation der Halswirbelsäule • Bei Verletzten müssen Sie prüfen, ob die HWS immobilisiert werden muss (zunächst manuell, im Verlauf ggf. mit Hilfsmitteln), um (weitere) Schädigungen des Rückenmarks zu verhindern. Dies wird u. a. anhand der adaptierten Nexus-Kriterien entschieden (▶ Abb. 8.1): Sobald auch nur eines der 5 Kriterien nicht erfüllt ist, ist eine HWS-Immobilisation indiziert. Hilfreich bei der Entscheidungsfindung kann auch die Canadian C-Spine Rule sein: Liegt mindestens einer der folgenden Hochrisikofaktoren vor, wird eine HWS-Immobilisation empfohlen: ● Alter ≥ 65 Jahre ● Missempfindungen an den Extremitäten (z. B. Taubheit, Kribbeln) ● gefährlicher Unfallhergang – Sturz aus > 1 m Höhe bzw. 5 Treppenstufen – Sturz auf den Kopf (axiale Stauchung) – Hochgeschwindigkeitsunfall (> 100 km/h), Autounfall mit Überschlag oder Herausschleudern – 2-Rad-Unfall: Aufprall oder Kollision Zum korrekten Vorgehen bei der Immobilisierung siehe die Kapitel Arbeitstechniken (S. 233) und Traumatologie (S. 385).

Abb. 8.1 Adaptierte Nexus-Kriterien. Ist nur eines der Kriterien nicht erfüllt (hier in der Grafik: Vigilanzminderung), muss die HWS immobilisiert werden. Umgekehrt: Es darf nur auf eine Immobilisierung verzichtet werden, wenn alle Kriterien erfüllt sind. Aus: retten – Not-

kein Druckschmerz über der Medianen der HWS keine fokalen neurologischen Defizite

fallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

keine Vigilanzminderung

Vigilanz gemindert

kein Hinweis auf Intoxikation keine schwere Verletzung, die von einer HWS-Verletzung ablenken kann keine HWSImmobilisierung

186

alle Kriterien ≥ 1 Kriterium nicht erfüllt erfüllt

HWSImmobilisierung

Primary Survey: (c)ABCDE-Schema

B – Breathing: Belüftung

! Merke B (Breathing)

Sind die Lungen ausreichend belüftet?

Atmung kontrollieren Sobald die Atemwege gesichert sind, wird die Atmung kontrolliert und somit beurteilt, wie effektiv der Körper mit Sauerstoff versorgt wird. Dies geschieht durch „Sehen“, „Hören“ und „Fühlen“. Bei bewusstlosen Patienten müssen Sie zunächst kontrollieren, ob der Patient überhaupt atmet: Knien Sie sich seitlich vom Kopf des Patienten, greifen Sie mit dem linken Arm um den Kopf des Patienten und fassen Sie dessen linken Unterkiefer. So können Sie den Kopf in der überstreckten Position halten. Achten Sie nun auf Atemgeräusche und blicken Sie dabei zu den Füßen des Patienten. Legen Sie die rechte Hand sanft auf den Übergang von Brustkorb zu Bauch (▶ Abb. 13.6b). So können Sie auch sehr leise Atemgeräusche hören und den Atemzug am Ohr oder Atembewegungen des Thorax oder des Bauches fühlen. Außerdem sehen Sie, ob sich der Brustkorb oder die Bauchdecke bewegen. Alternativ können Sie parallel mit der rechten Hand (statt sie auf den Bauch zu legen) den Puls der A. carotis tasten (S. 188).

Atmung beurteilen Im nächsten Schritt beurteilen Sie, wie der Patient atmet. Atemfrequenz • Achten Sie auf die Atemfrequenz, d. h. die Anzahl der Atemzüge pro Minute. Zählen Sie dazu über einen Zeitraum von 15 s die Bewegungen des Thorax bzw. der Bauchdecke des Patienten und multiplizieren Sie das Ergebnis mit 4. Eine Atemfrequenz von 12–15/min ist bei Erwachsenen in Ruhe normal (Normopnoe). Atmet der Patient zu schnell, spricht man von einer Tachypnoe. Die häufigsten Ursachen sind Schmerzen, Angst, Fieber und Atemnot. Eine zu niedrige Atemfrequenz wird als Bradypnoe bezeichnet und ist häufig ein Anzeichen für eine Schädigung des Gehirns oder eine Intoxikation. Kinder haben physiologische eine höhere Atemfrequenz als Erwachsene, s. ▶ Tab. 23.1. Atemtiefe • Beobachten Sie die Atembewegungen: Bei einer flachen Atmung hebt und senkt sich der Brustkorb nur leicht. Sie kann z. B. auf starke Schmerzen (Schonatmung) hinweisen, aber auch auf eine Erschöpfung der Atemmuskulatur, z. B. bei einem lange anhaltenden Asthmaanfall. Bei der paradoxen Atmung, z. B. bei Erschöpfung der Atemmuskulatur oder bei Rippenserienfrakturen (S. 386), hebt sich der Brustkorb bei der Ausatmung und senkt sich bei der Einatmung. Bei Rippenserienfrakturen kann auch eine rechts-links-paradoxe Atmung vorkommen: Eine Thoraxhälfte hebt sich und die andere senkt sich und umgekehrt (▶ Abb. 15.25). Bei Traumapatienten müssen Sie auf sichtbare oder tastbare Verletzungen oder Veränderungen des Brustkorbs achten. Eine inverse oder Schaukelatmung ist eine Atemstörung, bei der sich während der Einatmung der Brustkorb einzieht und die Bauchdecke hebt. Bei der Ausatmung passiert das Gegenteil. Dabei wird faktisch keine Luft bewegt – es besteht daher ein funktioneller Atemstillstand (Apnoe). Die typische Ursache ist eine komplette Verlegung der Atemwege, z. B. durch einen Fremdkörper (Bolus). In dieser Situation müssen die Atemwege sofort freigemacht werden (S. 273)!

Atemrhythmus • Störungen des Atemrhythmus (▶ Tab. 8.2) kommen eher selten vor. Sie sind Ausdruck einer schwerwiegenden Erkrankung. Atemgerüche • Achten Sie auch auf den „Mundgeruch“ des Patienten: Riecht der Patient z. B. nach Alkohol, Azeton (Nagellackentferner, typisch bei diabetischer Ketoazidose) oder Urin (Hinweis auf Nierenversagen)? Weitere Parameter • Patienten mit Atemnot (S. 256) setzen oft die Atemhilfsmuskulatur ein. Eine Zyanose (S. 258) weist auf einen Sauerstoffmangel hin. Ein Hautemphysem ist ein Hinweis auf einen Pneumothorax (S. 387), eine Halsvenenstauung (▶ Abb. 12.8) auf einen Blutrückstau vor dem Herzen, z. B. bei einer Überlastung des rechten Herzens oder einer Lungenembolie.

Auskultation Prüfen Sie bei spontan atmenden Patienten die Belüftung der verschiedenen Lungenabschnitte mit dem Stethoskop. Dazu genügt es meist, die Brust über 4 Quadranten abzuhören (▶ Abb. 8.2, oben und unten, jeweils rechts und links). Bemerken Sie dabei eine Belüftungsstörung, müssen Sie auch am Rücken abhören. Der Normalbefund ist ein gleich starkes Atemgeräusch über der gesamten Lunge. Abgeschwächte oder gar fehlende Atemgeräusche sind ein Hinweis auf eine lebensbedrohliche Situation, z. B. einen Spannungspneumothorax (S. 387). Zu den Atemnebengeräuschen s. ▶ Tab. 10.2. Bei verletzten Patienten genügt oft ein seitenvergleichendes Abhören der rechten und der linken Lunge. Hören Sie auch kurz das Herz ab: Ein schmatzendes Geräusch kann auf eine lebensbedrohliche Herzbeuteltamponade (S. 387) hinweisen.

Pulsoxymetrie Bei der Pulsoxymetrie (S. 200) wird die O2-Partialsättigung (SpO2) des Blutes gemessen. Dies ist ein Maß für die O2-Versorgung des Körpers. Da die Pulsoxymetrie aus einer Pulskurve errechnet wird, ist sie auch ein Indikator für die mechanische Herzfrequenz. Zugleich kennzeichnet sie im (c) ABCDE-Schema den Übergang von „B“ nach „C“. Beachten Sie mögliche Störfaktoren, z. B. bei schlechter Durchblutung (z. B. kalte Finger, Schock) oder durch Verschmutzungen (z. B. Blut) bzw. Nagellack. Abb. 8.2 Auskultation der Lunge.

Zur orientierenden Untersuchung der Belüftung der Lungen genügt es oft, die Brust über 4 Quadranten abzuhören (oben und unten jeweils rechts und links). Foto: © K. Oborny/Thieme

187

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten

Tab. 8.2 Störungen der Atemfrequenz (Af) und des Atemrhythmus. Ursache

normale Atmung

Af 12–15/min

Normalbefund bei Erwachsenen Ein

g un

at m

un g

Charakteristika

tm sa Au

Atemtyp

Störungen der Atemfrequenz Tachypnoe

Af > 15/min

physiologisch bei erhöhtem O2Bedarf (z. B. Anstrengung, Hitze) pathologisch z. B. bei Hyperventilation, Fieber, Herz- und Lungenerkrankungen

Bradypnoe

Af < 12/min

physiologisch im Schlaf und bei tiefer Entspannung pathologisch bei Schädigung des ZNS oder Vergiftungen (z. B. mit Beruhigungsmitteln oder Opioiden)

Störungen des Atemrhythmus KußmaulAtmung

vertiefte, regelmäßige Atmung

metabolische Azidose, z. B. bei Hyperglykämie (S. 356)

Cheyne-StokesAtmung

periodisch an- und abschwellende Atemzüge, dazwischen kurze Pausen

Störungen des Atemzentrums: z. B. bei Durchblutungsstörungen des Gehirns, Vergiftungen

Biot-Atmung

vereinzelte, tiefe und kräftige Atemzüge, dazwischen längere Pausen

Störungen des Atemzentrums: v. a. bei erhöhtem Hirndruck durch ein SHT

Schnappatmung

vereinzelte, tiefe Atemzüge, dazwischen lange Atempausen

kurz vor dem Tod

Maßnahmen bei Störungen von „B“ Die Maßnahmen des Atemwegsmanagements richten sich nach der Schwere der Beeinträchtigung und werden im Kapitel Arbeitstechniken (S. 207) beschrieben. Sie reichen von einer atemerleichternden Lagerung mit erhöhtem Oberkörper über die O2-Gabe bis zur assistierten Beatmung und ggf. Intubation. Bei einem Spannungspneumothorax (S. 387) muss eine sofortige Entlastungspunktion durchgeführt und in der Folge eine Thoraxdrainage gelegt werden!

188

C – Circulation: Kreislaufkontrolle

! Merke C (Circulation)

Ist die hämodynamische Situation, d. h. die Herz- und Kreislauffunktion des Patienten, stabil oder instabil?

Tasten des Pulses Zum Tasten des Pulses der A. radialis (▶ Abb. 8.3a) legen Sie den Zeige- und Mittelfinger mit mäßigem (!) Druck auf die radiale Seite des Handgelenks. Bei bewusstlosen oder verletzten Patienten sowie Patienten im Schockzustand sollten Sie den Puls zentral an der A. carotis (▶ Abb. 8.3b) oder der A. femoralis tasten (direkt unterhalb des Leistenbandes). Hier ist auch bei einer Zentralisation und niedrigem Blutdruck bis ca. 70 mmHg noch ein Puls zu tasten. Ist ein Puls tastbar, beurteilen Sie nun Frequenz, Rhythmus und Pulsqualität.

Primary Survey: (c)ABCDE-Schema Abb. 8.3 Palpation des Pulses. Bei bewusstlosen Patienten können Sie den Puls an der A. radialis tasten, bei bewusstseinsgetrübten Patienten sollten Sie ihn an der A. carotis tasten. Tasten Sie den Puls immer im Seitenvergleich! a Palpation des Pulses an der A. radialis. Aus: Eckhardt C, Hess A: Pulspalpation – Schritt für Schritt. In: retten! 2020; 9(05): 363–366. Stuttgart: Thieme.

a

b Palpation des Pulses an der A. carotis mit 3 Fingern: Legen Sie dazu den Zeige-, Mittel- und Ringfinger sanft auf den Hals auf, direkt seitlich der hart tastbaren Luftröhre. Foto: ©

b

ACHTUNG

K. Oborny/Thieme

Video 8.1 Nagelbettprobe.

Es kann passieren, dass Sie nicht den Puls des Patienten, sondern die eigene Pulsation im palpierenden Finger tasten. Üben Sie keinen zu starken Druck aus, verändern Sie zwischendurch ruhig mal die Position und schließen Sie die Palpation der A. carotis an. Tasten Sie den Puls an der A. carotis niemals links und rechts gleichzeitig, da dies die Durchblutung des Gehirns einschränken kann.

! Merke Fehlende Kreislaufzeichen

Ist am Hals kein Puls tastbar und gibt es auch keine weiteren Zeichen eines Kreislaufs wie Husten, Atmen oder Bewegung, müssen Sie sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen (S. 322) beginnen. Herzfrequenz • Bei der Palpation des Pulses können Sie die Herzfrequenz (Hf) bestimmen, also die Anzahl der Schläge pro Minute. Zählen Sie dazu 15 s lang die tastbaren Pulsschläge und multiplizieren Sie mit 4 – genau wie bei der Atemfrequenz. Die Hf können Sie auch am Pulsoxymeter in Schlägen/Minute ablesen. Der Normalwert für Erwachsene in Ruhe beträgt etwa 60–80/min, für Kinder gelten andere Normwerte (▶ Tab. 23.1). Eine Tachykardie bezeichnet eine Hf > 100/min, eine Bradykardie eine Hf < 60/min. Rhythmus • In erster Linie beurteilen Sie, ob der Herzschlag regelmäßig ist. Ein unregelmäßiger Herzschlag ist ein Zeichen für eine Herzrhythmusstörung (S. 307). Bei manchen Rhythmusstörungen oder einer schweren Herzinsuffizienz kommen mitunter nicht alle Herzaktionen als Pulsschläge peripher an. Im EKG erkennen Sie dann mehr elektrische Impulse, als Pulsschläge peripher tastbar sind oder als die Pulsoxymetrie am Finger anzeigt (Pulsdefizit).

Blutdruck Sofern ein Puls tastbar ist, messen Sie den Blutdruck (S. 198), und zwar ebenfalls im Seitenvergleich. Links ist der Blutdruck aufgrund der Nähe zum Herzen in der Regel 10– 20 mmHg systolisch höher. Stärkere Unterschiede sind ein Hinweis auf ein akutes Aortensyndrom (S. 312).

Nagelbettprobe Die Nagelbettprobe ist ein einfacher Test (▶ Video 8.1), um die periphere Durchblutung und somit die Kreislauffunktion des Patienten einzuschätzen: ● Drücken Sie ca. 2 s lang auf den vorderen Teil eines Fingernagels des Patienten. Dies presst das Blut aus dem Gewebe, es färbt sich unter dem Fingernagel weißlich.

Über die Nagelbettprobe gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme



Nun lassen Sie den Fingernagel wieder los, das Gewebe unter dem Fingernagel wird wieder durchblutet und färbt sich wieder rosig. Diese Rekapillarisierungszeit (CRT = Capillary Refill Time) dauert normalerweise < 2 s.

Eine verlängerte Rekapillarisierungszeit (> 2 s) deutet auf eine periphere Minderdurchblutung hin, z. B. im Rahmen einer Zentralisation bei Schock (S. 286). Als Begleitbefund ist die Gesichtshaut häufig blass und fahl.

ACHTUNG Die Nagelbettprobe ist fehleranfällig: Ist es kalt oder hat der Patient gerade eben geraucht, ist die Kapillardurchblutung dadurch reduziert und Sie können den Test nur eingeschränkt verwerten.

„Versteckte Blutungen“ Bei sicher oder möglicherweise verunfallten Patienten müssen Sie nach bedrohlichen „versteckten“ Blutungen suchen. Eine Abwehrspannung bei Palpation des Abdomens ist ein Hinweis auf eine intraabdominelle Blutung (S. 391), Schmerzen bei Kompression des Beckens auf eine Beckenfraktur (S. 395). Auch Frakturen großer Röhrenknochen, v. a. des Oberschenkels, können zu lebensbedrohlichen Blutverlusten führen (▶ Abb. 15.9).

EKG Das EKG zeigt Ihnen die elektrische Aktivität des Herzens. Bei allen Notfallpatienten wird mindestens ein „kleines“ 6189

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten Kanal-EKG (4 Klebeelektroden am Körperstamm) angelegt, bei Hinweisen auf eine kardiale Problematik (z. B. Brustschmerzen) zusätzlich die Brustwandableitungen („großes“ 12-Kanal-EKG). Zum Vorgehen siehe das Kapitel Arbeitstechniken (S. 201).

Tab. 8.3 Schnelle Traumauntersuchung. Körperregion

Untersuchung

Kopf



sichtbare Verletzungen? knöcherne Instabilitäten? GCS (▶ Tab. 8.4) Pupillenstatus (S. 465)

starke Blutung aus der Kopfhaut, intrakranielle Blutung



Austritt von Blut oder Liquor aus Nase oder Ohr?

Schädelbasisfraktur



Blut im Mund? Zungenbiss?

Krampfanfall

Prellmarken? Stufe in der Schädelkalotte?

Schädel-Hirn-Trauma

Stufenbildung? Druck- oder Klopfschmerzen? Hämatome? Hartspann der Halsmuskulatur?

Wirbelkörperfraktur



sensible und/oder motorische Ausfälle der Arme?

Verletzung des Halsmarks



Stufenbildung der Rippen? Instabilität? asymmetrische oder paradoxe Atembewegungen?

Rippen(serien)fraktur

Hautemphysem? abgeschwächtes Atemgeräusch?

Pneumothorax





atemabhängige Schmerzen?

Rippen- oder Sternumfraktur



gedämpfte Herztöne?

Herzbeuteltamponade



sichtbare Verletzung/Prellmarke? bei Austritt von Darmanteilen hohe Infektionsgefahr!

intraabdominelle Blutung



Nierenlager klopfschmerzhaft?

Nierenverletzung



Abwehrspannung/Druckschmerz?

Verletzung von Bauchorganen



Kompressionsschmerz? KISS-Schema (S. 395)

Beckenfraktur



Blutaustritt aus der Harnröhre?

Verletzung von Blase, Harnröhre oder Nieren



unkontrollierter Abgang von Stuhl/Urin?

Rückenmarksverletzung Krampfanfall



Amputationsverletzung?



Fehlstellungen? Druckschmerz? Krepitation?

Fraktur

motorische und/oder sensible Ausfälle an den Beinen

LWS-Trauma



Maßnahmen bei Störungen von „C“



Die Maßnahmen, um Störungen von „C“ zu beheben, reichen je nach Schwere der Beeinträchtigung vom Etablieren eines i. v.-Zugangs und Volumenersatz über die Gabe von Katecholaminen zur Kreislaufunterstützung bis zur CPR (S. 318).



Festlegen der Transportpriorität



Spätestens 2 Minuten nach der Ankunft am Notfallort sollte der Punkt C des (c)ABCDE-Schemas abgearbeitet und die Einsatzstrategie (S. 176) festgelegt sein: Wird der Patient schnellstmöglich in die Zielklinik transportiert („Load and Go“) oder vor Ort erstversorgt („Stay and Play“)? Die Punkte D und E werden ggf. während des Transports abgearbeitet.

● ●

Wirbelsäule (v. a. HWS!)

● ● ● ●

Schnelle Traumauntersuchung (STU) Bei Traumapatienten schließt sich an den Punkt „C“ des cABCDE-Schemas eine strukturierte Ganzkörperuntersuchung, die schnelle Traumauntersuchung oder TraumaCheck an (▶ Video 8.2). Dabei wird der ganze Körper des Patienten beurteilt und auf Verletzungen untersucht – und zwar ggf. unter weiterhin manueller Immobilisation der HWS! Dafür muss der Verletzte vollständig entkleidet werden, ggf. unter Verwendung einer Kleiderschere. Achten Sie dabei so gut wie möglich auf die Würde des Verletzten und auf den Wärmeerhalt: Führen Sie die Untersuchung an einem möglichst geschützten Ort (z. B. im RTW) durch. Entkleiden Sie ggf. nacheinander erst den Ober- und dann den Unterkörper und bedecken Sie den Bereich anschließend wieder. Beispielhaft sind das Vorgehen und mögliche Untersuchungsbefunde in ▶ Tab. 8.3 dargestellt.

! Merke Schnelle Traumauntersuchung

Der Befund der Ganzkörperinspektion darf bei der Übergabe im Krankenhaus nicht unterschlagen werden. Oft werden „kleine“ Begleitverletzungen wie Prellungen und Schürfungen zu Anfang von den Patienten nicht bemerkt und erst durch eine wiederholte Untersuchung des ganzen Körpers erkannt. Gelegentlich fallen aber auch schwere Verletzungen erst im Verlauf auf, z. B. wenn eine Milzblutung (S. 392) erst dann Schmerzen auslöst, wenn die Milzkapsel durch die Blutung gedehnt wird. Reißt die Kapsel des Organs, besteht akute Verblutungsgefahr!

Thorax

● ●



Abdomen



Becken



Video 8.2 Schnelle Traumauntersuchung.

Extremitäten

● ● ●

Über die schnelle Traumauntersuchung gibt es ein Video! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme 190

Verdachtsdiagnosen

Primary Survey: (c)ABCDE-Schema

D – Disability: neurologisches Defizit?

ACHTUNG

! Merke D (Disability)

Berücksichtigen Sie bei der neurologischen Untersuchung unbedingt den vorherigen Zustand des Patienten: Bereits bestehende neurologische Defizite (z. B. Demenz, Halbseitenlähmung) sind von neu aufgetretenen Symptomen abzugrenzen. Das gelingt oft nur durch Befragen der Angehörigen und anderer anwesender Personen (z. B. Pflegepersonal im Altenheim oder Angehörige).

Wie steht es um die Bewusstseinslage des Patienten? Bestehen neurologische Defizite? Bewusstseinslage • Zwar wird der grobe Bewusstseinszustand bei der Beurteilung von „A“ und „B“ meist durch die Kontaktaufnahme und „Anschauen, Ansprechen, Anfassen“ erfasst, unter „D“ wird dieser jedoch noch einmal gezielt und fokussiert geprüft. Das geschieht mittels der Glascow Coma Score (GCS, ▶ Tab. 8.4). Für Kinder unter 3 Jahren gibt es eine modifizierte Variante des GCS, bei der z. B. Plappern und Brabbeln als adäquate verbale Reaktion gelten.

E – Exposure and Environment

! Merke E (Exposure and Environment)

Bestehen weitere Zustände oder Verletzungen, die sofort behandelt werden müssen? Besteht die Gefahr einer Hypothermie? Muss der Patient vor weiteren Umwelteinflüssen geschützt werden? Benötigt er eine Analgesie?

Orientierung • Prüfen Sie, ob der Patient bezüglich Zeit, Ort, Person und Situation orientiert ist: Welcher Tag ist heute? Wo sind wir hier? Wie heißen Sie? Was ist gerade passiert?

Ganzkörperuntersuchung • Der Schritt „Exposure“ bedeutet wörtlich übersetzt „Enthüllung“. Mithilfe einer strukturierten Ganzkörperuntersuchung wird nun auch bei unverletzten Patienten der gesamte Körper beurteilt (z. B. Narben? Hämatome? Hautveränderungen? Einstichstellen? Anzeichen für innere Blutungen?). Beachten Sie dabei – wie bei der STU beschrieben – die Würde und Privatsphäre des Patienten und einen ausreichenden Wärmeerhalt. Passen Sie die Untersuchung der jeweiligen Situation an: Bei bewusstseinsklaren Patienten kann eine Teilinspektion ausreichen. Je nach Beschwerdebild wird z. B. das Abdomen näher untersucht oder die Lunge ausführlich auskultiert.

Pupillenreaktion • Regelhaft getestet wird die Reaktion der Pupillen auf Lichteinfall. Das Vorgehen und typische Befunde finden Sie im Kapitel Augennotfälle (S. 465). Blutzuckermessung • Diese einfache Untersuchung ist sehr wichtig, da Störungen des Blutzuckerspiegels u. a. eine häufige Ursache von Bewusstseinsstörungen (S. 416) sind. Zum Vorgehen siehe das Kapitel Arbeitstechniken (S. 204). pDMS-Schema • Bei Patienten mit Verletzungen an einer Extremität müssen Sie die periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität im Seitenvergleich mit der unverletzten Extremität untersuchen (S. 366). Die Untersuchung wird ggf. nach dem Anlegen eines Verbands oder einer Schienung wiederholt.

Weitere Parameter Messen Sie die Körpertemperatur, ggf. Hypothermieprophylaxe bzw. -behandlung (S. 249). ● Schützen Sie den Patienten vor Umwelteinflüssen („Environment“: Regen oder Kälte, aber auch Sonne). ● Ermitteln Sie den Schmerzzustand und die Notwendigkeit einer Analgesie (S. 118) ● Erheben Sie spätestens jetzt die Anamnese nach dem SAMPLER-Schema (S. 193). ● Achten Sie auf Hinweise für eine Sepsis (S. 292). ●

Neurologische Untersuchung • Je nach Situation folgt eine neurologische Untersuchung, z. B. mit Prüfung der Reflexe und Einschätzung einer Kraftminderung, z. B. BE-FAST-Test bei Verdacht auf einen Schlaganfall (S. 414).

Tab. 8.4 Glasgow Coma Score: Die Punktwerte der einzelnen Kriterien werden addiert. Maximal werden 15 Punkte erreicht, minimal 3 Punkte. Punkte

Augen öffnen

Sprache

Bewegung

6





befolgt Anweisungen

5



orientiert

gezielte Schmerzabwehr

4

spontan

desorientiert

ungezielte Schmerzabwehr

3

auf Aufforderung

unzusammenhängende Worte

Beugekrämpfe nach Schmerzreiz

2

auf Schmerzreiz

unverständliche Laute

Streckkrämpfe nach Schmerzreiz

1

keine Reaktion

keine Reaktion

keine Reaktion

Gesamtpunktzahl

erforderliche Maßnahmen

15–14

keine spezifischen Maßnahmen erforderlich

13–12

engmaschige Überwachung

11–9

stabile Seitenlage, engmaschige Überwachung, NA anfordern

3–8

zusätzlich Intubation vorbereiten, Reanimationsbereitschaft, Transport nur in NA-Begleitung

191

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten

! Merke Regeln für das cABCDE ●





Jeder Patient wird nach dem (c)ABCDE-Schema beurteilt – egal, wie gesund er erscheinen mag. Trauma-Patienten: Suchen Sie zuerst nach kritischen Blutungen und stoppen Sie diese. Nach Punkt C folgt eine schnelle Traumauntersuchung. Beheben Sie Probleme immer in der Reihenfolge des (c)ABCDESchemas, also immer A vor B vor C vor D vor E.







Behandeln Sie Störungen nach ABCDE vorrangig – eine Verdachtsdiagnose kann warten. Führen Sie einfache Maßnahmen zuerst, aufwendigere erst danach durch (also erst den Puls fühlen, danach ein EKG anlegen). Jedes (c)ABCDE-Problem muss sofort gelöst werden, bevor Sie weiter untersuchen. Verschlechtert sich der Zustand des Patienten oder haben Sie die Übersicht über seinen Zustand verloren, beginnen Sie mit der Beurteilung wieder bei A.

8.3.2 ABCDE-Schema: Fallbeispiel Fallbeispiel Folgenschwerer Toilettengang* Ein sonniger Morgen. Nach kurzer Fahrt mit dem RTW erreichen Sie und Ihr Team eine Reihenhaussiedlung. Das Einsatzstichwort lautet „Synkope“. Ihr Team eilt zu der schon offen stehenden Haustür mit dem Namensschild „Fam. Bauer“ und ruft laut: „Hallo! Hier ist der Rettungsdienst! Wo sind Sie denn?“ Aus dem oberen Stockwerk antwortet eine Frauenstimme: „Hierher! Im Bad! Hier liegt mein Mann!“ Sie und Ihre Kollegen stürzen die Treppe hinauf, nehmen dabei immer 2 Stufen auf einmal. Oben angekommen, sehen Sie durch die geöffnete Badezimmertür einen Mann auf dem Boden liegen: Er ist mit einem Bademantel bekleidet, ca. 70 Jahre alt und normalgewichtig. Neben ihm kniet eine Frau im gleichen Alter. Davor steht ein ausgewachsener Schäferhund, der umgehend heftig zu bellen und zu knurren beginnt. Unter der Annahme, dass Schutzkleidung und Einmalhandschuhe schon im Fahrzeug getragen werden, besteht die erste Maßnahme darin, den Hund „ruhig zu stellen“. Sie fordern daher zunächst die Frau auf, den Hund in ein anderes Zimmer zu bringen, damit er Ihre Arbeit nicht behindert. Hunde reagieren oft verunsichert und in der Folge aggressiv, wenn plötzlich Fremde in der Wohnung auftauchen – und das umso mehr, wenn diese Personen, z. B. durch Untersuchungen, auch noch Schmerzäußerungen bei ihrem Besitzer verursachen. Die Besitzer der Tiere denken in Notfallsituationen oft nicht an diese Problematik, sind aber meist schnell einsichtig und folgen dann den Anweisungen des Rettungsdienstes. Nebenbei: Es ist zwar „sportlich“, eine Treppe doppelt so schnell hochzulaufen wie im Normalfall, aber Sie stolpern und stürzen dabei auch häufiger. Bewegen Sie sich daher zügig, aber nicht hastig zum Einsatzort und vermeiden Sie alles, was zusätzlichen Stress für den Notfallpatienten verursacht. Dazu gehört auch unnötig lautes Rufen an der Haustür. Nachdem der Hund im Schlafzimmer untergebracht ist, erkennen Sie, dass im Badezimmer keine weiteren Gefahrenquellen vorhanden sind (z. B. Boden trocken, keine Elektrogeräte in Steckdosen eingesteckt). Ihre Kollegin sieht Herrn Bauer an, er liegt am Boden, ist blass und etwas zittrig. Sie kniet sich neben ihn und sagt: „Guten Tag, meine Name ist Schneider, ich bin vom Rettungsdienst. Was ist denn passiert?“ Dieses scheinbar banale Vorgehen ist in Notfallsituationen sehr wichtig, da dieses „normale Verhalten“ der Notfallsituation ein wenig den Stress nimmt. Im Übrigen gehört es sich auch, sich vorzustellen, wenn Sie einem fremden Menschen begegnen (S. 168). Herr Bauer blickt Ihre Kollegin an und antwortet: „Ich weiß nicht. Ich war auf der Toilette fertig und bin aufgestanden, um mir die Hände zu waschen – und dann werde ich wach, als meine Frau neben mir kniet und mich rüttelt wie verrückt.“ Die Atemwege sind also frei. Da Herr Bauer normal sprechen kann, ist auch die Atmung („Breathing“) als normal anzusehen. Das Bewusstsein ist erhalten – sehr wichtig beim Einsatzstich-

192

wort „Synkope“. Als Nächstes schätzen Sie die Circulation ein, also die Herz-Kreislauf-Funktion des Patienten. „Aha“, antwortet die Kollegin. „Mein Kollege wird nun einen Sauerstoffmesser an Ihrem Finger anbringen und ein EKG auf die Brust kleben. Ich messe in der Zwischenzeit Ihren Blutdruck. Ist das in Ordnung?“ Herr Bauer nickt eifrig und meint: „Ich war erst letzte Woche beim Hausarzt und da war alles okay!“ Es ist sehr wichtig, dass Sie Patienten verständlich erklären, warum Sie welche Maßnahmen ergreifen: Dies mindert Angst und Stress, was wiederum den Kreislauf stabilisiert. Zudem gebietet es der Respekt vor dem Patienten, ein Schema nicht wortlos abzuarbeiten. Die SpO2 beträgt 98 %, die Hf 96 Schläge/min. Der Blutdruck liegt bei 110/70 mmHg. Das EKG zeigt einen Sinusrhythmus. „Ihre Werte sind in Ordnung, Herr Bauer“, fasst die Kollegin zusammen. „Ich leuchte Ihnen jetzt noch mal kurz in die Augen und untersuche Sie am ganzen Körper. Mein Kollege müsste Sie kurz in die Fingerspitze stechen, um Ihren Blutzucker zu messen.“ Herr Bauer nickt wieder. „Wissen Sie, ich habe nur ein wenig Bluthochdruck und sonst nix. Ich halte mich fit! Wir fahren viel Fahrrad und achten auch auf gesunde Ernährung.“ Die leicht erhöhte Herzfrequenz von Herrn Bauer ist wohl der Aufregung geschuldet. Der Blutdruck ist für einen Menschen mit sonst eher höheren Werten etwas niedrig. Da sich der Patient aber bereits wieder erholt, ist keine sofortige Gabe einer Infusion indiziert. Die Untersuchung der Pupillenreaktion und die Blutzuckermessung gehören zur Beurteilung des neurologischen Status (Disability). Die Pupillenreaktion ist beidseits positiv auf Lichteinfall und Herr Bauer kann alle Gliedmaßen auf Aufforderung bewegen. Der Blutzucker liegt bei 95 mg/dl. „Haben Sie heute schon gefrühstückt?“, fragt Ihre Kollegin. „Nein … ich bin heute mal ein wenig später aufgestanden. Die Nacht war so warm und ich bin erst spät eingeschlafen. Sagen Sie, könnte ich mich hinsetzen? Die Fliesen sind ganz schön hart und mir geht es doch wieder gut.“ Sie stellen bei Herrn Bauer bezüglich des neurologischen Status keine Probleme fest. Dennoch sollten Sie seinem Wunsch, sich hinzusetzen, im Moment noch nicht nachgeben, denn es fehlt noch die Beurteilung der Kategorie Exposure. Diese Untersuchung kann, wie im Fallbeispiel beschrieben, fast gleichzeitig mit der neurologischen Untersuchung erfolgen. Wenn der Patient – wie hier – die Extremitäten bewegen kann und keine Schmerzen hat, ist es unwahrscheinlich, dass eine Fraktur vorliegt. Dennoch ist Herr Bauer offenbar gestürzt, und da der Boden in einem Badezimmer hart ist und es zudem Ecken und Kanten gibt, an denen man sich verletzen kann, könnte er sich eine Schürfwunde oder Prellung zugezogen haben. „Also, Herr Bauer: Ich fasse zusammen: Sie können tief durchatmen, Ihr Kreislauf ist stabil, Sie haben so weit keine neurologischen Auffälligkeiten und wir können bei Ihnen keine äußeren

Secondary Survey

Verletzungen feststellen. Wenn Sie möchten, helfen wir Ihnen vorsichtig beim Hinsetzen und sehen mal, wie Ihr Kreislauf darauf reagiert.“ Herr Bauer nickt erneut und sagt: „O ja, das wäre für meinen Rücken eine Wohltat. Wissen Sie, ich habe viel mit dem Kreuz gearbeitet als Maschinenschlosser.“ Beim Aufsetzen verändert sich der Zustand des Patienten nicht, außer dass sein Blutdruck auf 120/80 mmHg steigt. Dies ist jedoch eine normale Reaktion auf das Aufrichten. Die Herzfrequenz bleibt stabil: Der besonnene Umgang Ihres RTW-Teams und die nachlassende Aufregung wirken beruhigend. Die Untersuchung nach ABCDE ist damit beendet. Ein einmal abgearbeitetes (c)ABCDE-Schema sollte aber nicht als „abgehakt und fertig“ betrachtet werden. Vielmehr müssen Sie die Situation im-

RETTEN TO GO cABCDE-Schema Das cABCDE-Schema ist ein international bewährtes Schema mit klaren Handlungsanweisungen für die Erstversorgung von Notfallpatienten. ● c – critical Bleeding (alternativ: „x“ – „exsanguinate haemorrhage“): bei Traumapatienten gezielte Suche nach kritischen Blutungen, ggf. Blutungen stoppen! ● A – Airway: Atemwege kontrollieren, freimachen, freihalten, ggf. HWS immobilisieren ● B – Breathing: Atmung beurteilen (Atemfrequenz, -rhythmus und -muster, Auskultation der Lunge, SpO2), O2-Versorgung sicherstellen, ggf. Beatmung, Entlastungspunktion/Thoraxdrainage ● C – Circulation: Kreislauffunktion beurteilen (Pulse, RR, Rekapillarisierungszeit), versteckte Blutungen? ● D – Disability: Bewusstseinslage (GCS), neurologisches Defizit? BZ messen. ● E – Exposure and Environment: Bodycheck, Schutz vor Umwelteinflüssen, Wärmeerhalt, Schmerzbekämpfung Probleme nach ABCDE werden grundsätzlich vorrangig und in der Reihenfolge des Schemas behandelt (also A vor B vor C ...). Das (c)ABCDE-Schema muss regelmäßig reevaluiert, also neu abgearbeitet werden, damit keine Änderung des Patientenzustands übersehen werden. Bei Traumapatienten wird nach Punkt C die STU (schnelle Traumauntersuchung) durchgeführt, damit lebensbedrohliche Verletzungen zügig erkannt werden. Alle Körperabschnitte werden systematisch untersucht. Dabei wird in erster Linie auf Blutungen, Hämatome, Schmerzhaftigkeit sowie kritische Kopfverletzungen geachtet.

mer wieder neu einschätzen und bewerten (Reevaluation, Reassessment). Achten Sie auf auffällige Befunde: Wird dem Patienten in den nächsten Minuten erneut schwindelig? Verändert sich sein subjektives Befinden? Prüfen Sie auch immer wieder, ob die Maßnahmen, die Sie ergriffen haben, um Störungen im (c)ABCDESchema zu beheben, Wirkung zeigen. In unserem Beispiel wurde bisher auf das Anlegen eines peripher-venösen Zuganges verzichtet, da diese invasive Maßnahme im Moment nicht notwendig ist. Wäre der Patient instabil oder müssten Medikamente verabreicht werden, würde die Anlage am besten während der Phase „C“ erfolgen. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

8.4 Secondary Survey Nach dem Abarbeiten des (c)ABCDE-Schemas sollte das Hauptproblem erkannt und der Patient im Idealfall stabilisiert sein. Ist dies der Fall, wird der Patient gezielt weiter untersucht, um mögliche Differenzialdiagnosen einzugrenzen bzw. eine Verdachtsdiagnose zu stellen. Dies trifft jedoch nur auf nicht kritische Patienten zu, die nach dem Prinzip „Stay and Play“ versorgt werden. Folgende Punkte sind im Secondary Survey situationsabhängig von Bedeutung: ● weitergehende Untersuchung des Organsystems bzw. der Organsysteme, die wahrscheinlich für das Hauptproblem verantwortlich sind (z. B. Herz-Kreislauf-System) ● weitergehende Untersuchung und Behandlung von Veränderungen, die während des Primary Survey zwar erkannt, aber als nicht lebensbedrohlich eingestuft wurden (z. B. kleinere Blutungen) ● Festlegen des weiteren Vorgehens

8.4.1 SAMPLER-Schema Damit das Rettungsteam auf sicherer Grundlage über das weitere Vorgehen entscheiden kann, sollte es mehr über den Patienten in Erfahrung bringen. Für diese erweiterte Anamnese gibt es eine Merkhilfe, das SAMPLER-Schema (▶ Abb. 8.4). Bei Frauen im gebährfähigen Alter wird „SAMPLER“ um ein weiteres S (für: Schwangerschaft?) ergänzt: Im Eifer des Einsatzgeschehens wird oft vergessen, nach einer möglichen Schwangerschaft zu fragen. Dies ist aber z. B. bei der Entscheidung für eine Zielklinik und für die Beurteilung von Symptomen (klassisch „Bauchschmerz“) sehr wichtig.

193

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten Abb. 8.4 SAMPLER(S)-Schema zur Erhebung der Anamnese.

Symptome

?

• • • • • • •

?

?

Was sind die Hauptbeschwerden (z. B. Schmerzen, Luftnot, Schwindel)? Wann haben sie begonnen? Wie stark sind welche Beschwerden ausgeprägt? Bestehen Schmerzen? Wo genau? Wohin ausstrahlend? Sind die Schmerzen wellenförmig, stechend oder ziehend? Gibt es Begleitbeschwerden? Wie ist ggf. das Sputum bzw. das Erbrochene beschaffen?

Allergien

• Bestehen Allergien, insbesondere gegen Medikamente, Pflaster, Latex?

Medikamente (inkl.

• • • • •

pflanzlicher und nicht verschreibungspflichtiger Präparate)

Welche Medikamente werden (regelmäßig) eingenommen (inkl. „Pille“! )? Gibt es einen Medikamentenplan? Werden aktuell (zusätzliche) Medikamente eingenommen (welche, in welcher Dosierung)? Gab es Einnahmefehler (vergessene Einnahme, Verwechslungen, Dosierungsfehler)? Wurden kurz vor dem Notfallereignis Medikamente eingenommen (z. B. Schmerzmittel, potenzsteigernde oder gerinnungshemmende Mittel)? • Wurden in letzter Zeit Drogen konsumiert oder besteht eine Abhängigkeit?

Patientenvorgeschichte

• Bestehen Vorerkrankungen (z. B. KHK, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Epilepsie) oder wurde der Patient operiert? • Ist der Patient aktuell in Behandlung? • Gab es in letzter Zeit eine auffällige Gewichtszunahme oder -abnahme? • Bestehen Schlafstörungen (Schlaflosigkeit oder gesteigertes Schlafbedürfnis)?

Letzte Mahlzeit, letzte Ausscheidung usw.

• Wann und was hat der Patient zuletzt zu sich genommen (v.a. wichtig bei Patienten mit Diabetes mellitus und für eine ggf. notwendige Operation)? • Wie ist der Appetit (Heißhungerattacken, Appetitlosigkeit)? • Ist der Durst unverändert, vermehrt oder vermindert? • Wann war der letzte Stuhlgang, die letzte Miktion?

Ereignisse, die zum Notfall führten

• Gingen dem Notfall bestimmte Ereignisse voraus (z. B. Schwindel, Angst, Schwäche)? • Was genau führte zum Notfall (z. B. Treppensteigen)?

Risikofaktoren Schwangerschaft

!

• Gibt es Faktoren, die bestimmte Erkrankungen wahrscheinlicher machen (z. B. Diabetes mellitus, Übergewicht, Schwangerschaft)? • Könnte eine Schwangerschaft bestehen? Wichtig: Frage offen formulieren, Patientin weiß evtl. noch nichts davon. • Wenn ja: Welche Schwangerschaftswoche? Erste Schwangerschaft? Komplikationen in früheren Schwangerschaften? Mutterpass verfügbar?

Das Schema hilft in Notfallsituationen dabei, eine vollständige Anamnese zu erheben. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Fallbeispiel Fortsetzung – Folgenschwerer Toilettengang Im Fallbeispiel stellt sich nun die Frage, ob Herr Bauer ins Krankenhaus möchte oder sollte. Da er anscheinend im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, steht es ihm auch frei, weitere Behandlungen und Untersuchungen abzulehnen (S. 554). „Ach, Frau Schneider … mir geht es schon viel besser. Ich glaube, ich muss nicht mit Ihnen ins Krankenhaus fahren. Das dauert immer so lange und macht so viele Umstände für meine Frau. Das letzte Mal habe ich fast 3 Stunden auf dem Gang gelegen und musste so dringend auf Toilette.“ Ihre Kollegin nickt verständnisvoll: „Das kann ich gut verstehen und wir werden Ihren Wunsch auch respektieren. Vorher würde ich aber gerne noch ein wenig mehr über Sie erfahren, damit wir nichts übersehen.“ „Na dann … ich habe Ihnen ja schon gesagt, ich bin kerngesund mache viel Sport für mein Alter!“ – „Okay. Aber hatten Sie, bevor Sie 194

ohnmächtig wurden, auf der Toilette oder gestern Nacht bereits irgendwelche Besonderheiten oder Veränderungen bei sich festgestellt (Symptome)? – „Nein“, antwortet Herr Bauer. „Die Nacht war heiß und ich habe viel geschwitzt, aber sonst war nichts.“ – „In Ordnung. Haben Sie A llergien? Welche Medikamente nehmen Sie regelmäßig ein? Sie erwähnten da was gegen hohen Blutdruck.“ „Allergien habe ich keine, aber gegen den Blutdruck nehme ich Exforge® – aber das ist nur eine Tablette!“ Es entsteht eine Pause. „Ach ja, und dann habe ich noch diese zusätzlichen Wassertabletten für morgens … die hatte ich aber gestern Morgen vergessen und dann abends genommen.“ Exforge® ist ein kombiniertes RR-Mittel und die zusätzliche Wassertablette deutet darauf hin, dass bei Herrn Bauer doch nicht nur ein „leichter“ Bluthochdruck vorliegt.

Secondary Survey

„Okay. Waren Sie sonst schon mal in Behandlung oder sind Sie operiert worden? Oder sind Sie regelmäßig bei einem Arzt in Behandlung?“ (Patientenvorgeschichte). „Nein – nur bei meinem Hausarzt. Der checkt immer alles durch, mit Blutprobe, und sagt, ich bin so fit wie ein Vierzigjähriger!“ Eine Frage nach der letzten Mahlzeit (L) erübrigt sich eigentlich, da Herr Bauer schon gesagt hatte, dass er noch nicht gefrühstückt habe. Streng genommen müssen Sie aber nach der letzten Nahrungsaufnahme fragen, insbesondere, wenn eine Intubation zur Sicherung der Atemwege anstehen könnte. „Und auf dem Weg zur Toilette heute Morgen war auch nichts anders als sonst? Kein Schwindel oder Schwarzwerden vor den Augen?“, fragt Kollegin Schneider ruhig weiter. (Ereignisse direkt vor dem Notfall). „Na ja, wenn Sie so fragen …“, sagt Herr Bauer langsam. „Mir war nach dem Aufstehen schon kurz schwindelig, sodass ich mich nochmal auf den Kleiderstuhl im Schlafzimmer

gesetzt hab. Dann war mir auch ein wenig übel und ich dachte, bevor ich mich übergeben muss, geh ich mal schnell ins Bad ...“ „Daran können Sie sich aber noch erinnern?“, fragt die Kollegin Schneider weiter. „Ja. Ich hatte ja noch den Deckel hochklappen müssen, und sobald ich saß, ging es eigentlich auch wieder.“ Ihre Kollegin lässt nicht locker: „Was heißt das genau? Weniger oder gar kein Schwindel mehr?“ – „Ein wenig schwindelig war mir die ganze Zeit, aber das ist doch mal normal in meinem Alter, oder?“ – „Na, dann wäre es vielleicht doch besser, wir nehmen Sie mit, damit Sie nicht nochmal umfallen und sich dann was brechen.“ Ihre Kollegin blickt dabei Herrn Bauer aufmunternd in die Augen. „Und wenn im Krankenhaus alles in Ordnung ist, sind Sie ja auch im Nullkommanichts wieder zu Hause.“ Das Abfragen nach SAMPLER hat ergeben, dass bei Herrn Bauer wohl am ehesten eine orthostatische Synkope (S. 419) vorlag, wahrscheinlich durch den Wasserverlust als Folge starken Schwitzens.

8.4.2 OPQRST-Schema

8.4.3 IPPAF-Schema

Mit dem OPQRST-Schema können Sie v. a. bei Erkrankungen des Abdomens und des Herz-Kreislauf-Systems gezielter nach den Beschwerden fragen und mögliche Ursachen eingrenzen (▶ Abb. 8.5).

Für die Reihenfolge der weiteren Untersuchungen können Sie sich am IPPAF-Schema orientieren (▶ Tab. 8.5). Die Untersuchung der einzelnen Körperregionen sind in den entsprechenden Kapiteln genauer beschrieben.

Abb. 8.5 OPQRST-Schema.

Onset

• Wann haben die Beschwerden angefangen? • Haben die Beschwerden plötzlich oder eher schleichend begonnen? • Was hat die Schmerzen ausgelöst?

Provocation/Palliation

• Was verstärkt und was lindert die Beschwerden?

Qualität

• Wie fühlt sich der Schmerz an: stechend, drückend, brennend?

Region/Radiation

• Wo genau spüren Sie den Schmerz? • Strahlt er in andere Körperregionen aus?

Severity (Stärke)

• Wie stark sind die Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10?

Time

• Traten die Beschwerden schon häufiger auf?

Das OPQRST-Schema eignet sich für eine strukturierte, detaillierte Anamnese bei abdominalen und kardiozirkulatorischen Notfällen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Tab. 8.5 Vollständige Notfalluntersuchung nach IPPAF. Abkürzung

Bedeutung

beispielhafte Befunde

Inspektion

Betrachten

fahle Haut (Schock, Blutarmut), trockene Schleimhäute (Exsikkose)

Palpation

Abtasten

bretthartes Abdomen (Peritonitis), Ödeme (Herzinsuffizienz)

Perkussion

Beklopfen

abgeschwächter Klopfschall über der Lunge (Erguss)

Auskultation

Abhören

Atemnebengeräusche (▶ Tab. 10.2), fehlende Darmgeräusche (paralytischer Ileus)

Funktion

Überprüfen der Funktion

Funktionseinschränkung (Frakturen, Lähmung bei Schlaganfall)

195

8

Die Untersuchung des Notfallpatienten

RETTEN TO GO Secondary Survey ●





196

Das SAMPLER(S)-Schema hilft dabei, eine erweiterte Notfallanamnese zu erheben. Dabei wird nach den aktuellen Symptomen, Allergien, Medikamenten, der Vorgeschichte des Patienten, der letzten Mahlzeit bzw. Einund Ausfuhr, besonderen Ereignissen, die zum Notfall führten, und Risikofaktoren gefragt. Bei Frauen im gebärfähigen Alter sollten Sie immer nach einer möglichen Schwangerschaft fragen. Das OPQRST-Schema wird v. a. bei Erkrankungen des Abdomens und des Herz-Kreislauf-Systems angewendet. Nach Abschluss des Primary Survey und Stabilisierung des Patienten werden mithilfe einer gezielten, weiterführenden Diagnostik Differenzialdiagnosen eingegrenzt bzw. eine Verdachtsdiagnose gestellt. Hilfreich ist hier das IPPAF-Schema: Inspektion, Palpation, Perkussion, Auskultation und Funktionskontrolle. Auch während des Secondary Survey muss der Zustand des Patienten regelmäßig gemäß dem (c)ABCDE-Schema reevaluiert werden.

9

Notfallmedizinische Arbeitstechniken und Monitoring

9.1 Monitoring und apparative Diagnostik Die klinische Diagnostik hat das Ziel, mithilfe unserer Sinne Informationen zu gewinnen. Gleichzeitig wird Beziehung zum Patienten aufgebaut. Dies wird heute durch Verfahren der apparativen Diagnostik stark unterstützt. Das Basismonitoring wird im Rettungsdienst üblicherweise bei jedem Patienten angewendet, um die Vitalwerte und deren Verlauf zu überwachen. Es umfasst primär die Beobachtung des Patienten, die Blutdruckmessung, die Pulsoxymetrie, und das „kleine“ EKG zur Rhythmusdarstellung.

! Merke „Treat your patient, not your equipment“

Richten Sie Ihr Augenmerk immer auf den Patienten und nicht auf den Monitor: Auch wenn die Technik einmal nicht einsatzbereit ist oder einen Defekt aufweisen sollte, können wir mit unseren Sinnen immer noch wichtige Vitalparameter oder Zustände des Patienten erkennen.

und wird daher bei jedem Notfallpatienten durchgeführt. Da sich der Blutdruck (S. 67) synchron zur Herzaktion verändert, werden in der Regel 2 Werte angegeben: ● Der systolische Wert entspricht dem aktuell höchsten Druck in den Arterien. Er wird v. a. von der Auswurfleistung des Herzens beeinflusst und gibt Auskunft darüber, ob der Blutdruck des Patienten erhöht (hyperton), normal (normoton) oder verringert (hypoton) ist. ● Der diastolische Wert ist die aktuelle Druckuntergrenze. Er entspricht dem dauerhaft in den Arterien herrschenden Druck (zu dem in der Systole noch die Druckwelle aus dem Herzen hinzukommt), ist abhängig von der Dehnbarkeit und dem Füllungszustand der Blutgefäße und gibt somit Auskunft über den peripheren Gefäßwiderstand. Mittlerer arterieller Druck • Ein guter Indikator für die Organdurchblutung ist der mittlere arterielle Druck (MAD, arterieller Mitteldruck) und wird nach folgender Formel berechnet: MAD = diastolischer Druck + ⅓ (systolischer – diastolischer Druck) Beispiel: Bei einem Blutdruck von 120/80 mmHg ist der MAD: 80 + ⅓ (120–80) = ca. 93 mmHg

Durchführung

9.1.1 Blutdruckmessung Grundlagen Synonym • RR-Messung: RR steht für den italienischen Arzt Scipione Riva-Rocci, den Erstbeschreiber der Blutdruckmessung mit einer Blutdruckmanschette. Systolischer und diastolischer Druck • Die Blutdruckmessung ist wichtig für die Beurteilung der Herz-Kreislauf-Situation 198

Der Blutdruck kann palpatorisch (durch Tasten), auskultatorisch (mit einem Stethoskop) oder oszillatorisch (mit einem Gerät, das Schwingungen darstellt) gemessen werden. Palpatorische RR-Messung • Sie legen eine luftleere RR-Manschette um den entkleideten Oberarm des Patienten, sodass sich die untere Kante 2 Fingerbreit oberhalb der Ellenbeuge befindet. Der Patient sollte den Arm entspannt ablegen. Nun tasten Sie den Puls an der Arteria radialis (Speichenarterie)

Blutdruckmessung ▶S. 198 Pulsoxymetrie

▶S. 200

Elektrokardiogramm (EKG)

▶S. 201

Blutzuckermessung ▶S. 204 Monitoring und apparative Diagnostik

Kapnometrie und Kapnografie ▶S. 205 Temperaturmessung

▶S. 206

Blutgasanalyse (BGA)

▶S. 207

Monitoringsysteme Notfallsonografie

▶S. 207 ▶S. 207 Freimachen der Atemwege

▶S. 208

Atemwegsmanagement Freihalten und Sichern der Atemwege ▶S. 210 Sauerstofftherapie ▶S. 216

Sauerstofftherapie und Beatmung

Beatmung

▶S. 219

Vorbereiten von Injektionen ▶S. 222 Injektionen und Infusionen

Periphere Venenpunktion

▶S. 225

Vorbereiten und Anschließen von Infusionen

▶S. 227

Helmabnahme ▶S. 229 Rautek-Rettungsgriff Rettungstechniken

▶S. 230

Schaufeltrage ▶S. 231 Spineboard

▶S. 232

Kombinationsgeräte

und pumpen die Manschette mit dem Blasebalg auf. Sobald der Druck in der Manschette höher ist als der Blutdruck des Patienten, können Sie den Radialispuls nicht mehr tasten. Pumpen Sie die Manschette nun noch ca. 30 mmHg weiter auf. Öffnen Sie dann das Ventil und lassen Sie den Druck langsam ab. Sobald Sie den ersten Pulsschlag spüren, lesen Sie den Wert auf dem Manometer der RR-Manschette ab. Er entspricht dem systolischen Wert. Den diastolischen Wert können Sie mit dieser Methode nicht bestimmen. Daher wird das Verfahren in erster Linie für die schnelle Einschätzung der Kreislaufsituation eingesetzt oder wenn starker Umgebungslärm die auskultatorische Messung erschwert. Auskultatorische RR-Messung • Sie benötigen eine RR-Manschette und ein Stethoskop (▶ Abb. 9.1). Auch hier legen Sie zunächst – wie oben beschrieben – eine Blutdruckmanschette an, tasten den Puls der Radialarterie und pumpen die Manschette bis ca. 30 mmHg über den Druck auf, bei dem Sie den Puls des Patienten nicht mehr tasten. Nun stecken Sie die Ohroliven des Stethoskops in Ihre äußeren Gehörgänge und legen die Membran des Stethoskops auf die Ellenbeuge des Patienten. Öffnen Sie das Ventil, lassen Sie den Druck langsam ab und beobachten Sie dabei das Manometer. Sobald der Druck in der Manschette gleich hoch ist wie der systolische Wert des Patienten, hören Sie Klopfgeräusche (Korotkow-Geräusche). Merken Sie sich diesen Wert und lassen Sie den Druck weiter ab. Der Druck, ab dem Sie die Klopfgeräusche nicht mehr hören, entspricht dem diastolischen Blutdruck des Patienten. Die Korotkow-Geräusche entstehen durch den turbulenten Blutstrom der teilweise abgedrückten Oberarmarterie (A. brachialis). Wird der Manschettendruck zunehmend reduziert, findet keine Kompression der Arterie mehr statt, das Blut geht in eine laminare Strömung über und die Strömungsgeräusche sind nicht mehr hörbar.

Notfallmedizini allmedizini zinische Arbeitstechniken und Monitoring Teil 2

▶S. 233

▶ S. 234

Oszillometrische Messung • Ein technisches Gerät registriert über Drucksensoren automatisch die Pulswellen als Druckschwankungen (Oszillationen) in der Manschette und leitet daraus die RR-Werte ab. Diese Methode ist sehr genau, aber auch störanfällig, da Bewegungen (Armbewegungen, Muskelkontraktionen) und Erschütterungen (Fahrt im RTW) zu Fehlmessungen führen können. Auch Herzrhythmusstörungen können die Messung stören, da durch den unregelmäßigen Herzschlag der Blutfluss stark schwankt und in der Folge keine stabile Gefäßschwingung registriert wird. Bei niedrigem Blutdruck können die Messungen durch die geringe Amplitude der Pulswelle ungenau sein. Eine engmaschige Überwachung des Blutdrucks wird bei der oszillometrischen Methode durch Intervallmessungen erreicht, z. B. startet das Gerät alle 2 Minuten einen Messvorgang.

! Merke Beidseitige Messung

Sofern keine Kontraindikationen (z. B. schwere Verletzung) bestehen, sollten Sie den Blutdruck initial vergleichend an beiden Armen messen! Eine Blutdruckdifferenz > 20 mmHg kann z. B. auf ein akutes Aortensyndrom (S. 312) hinweisen.

Bewertung Der Blutdruck bei gesunden Erwachsenen in Ruhe (!) beträgt ca. 120/80 mmHg, wobei 120 mmHg dem systolischen Wert und 80 mmHg dem diastolischen Wert entsprechen. Für die Normalwerte bei Kindern verschiedener Altersstufen s. ▶ Tab. 23.1. ● Hypotonie (zu niedriger Blutdruck): < 100/60 mmHg ● Hypertonie (zu hoher Blutdruck): > 140/90 mmHg Bei der Interpretation der Messwerte müssen Sie verschiedene Einflussfaktoren berücksichtigen (z. B. RR-Anstieg als Folge von Schmerzen oder Stress), die RR-Messung ist im 199

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.1 Auskultatorische Blutdruckmessung.

a

b

a Legen Sie die Blutdruckmanschette am unbekleideten Oberarm an. b Zwischen Arm und Manschette muss Platz für einen Finger sein, Abstand zur Ellenbeuge 2–3 cm. c Pumpen Sie die Manschette auf und tasten Sie den Radialispuls. Ist dieser nicht mehr tastbar, erhöhen Sie den Manschettendruck um weitere 20– 30 mmHg. d Setzen Sie das Stethoskop in der Ellenbeuge auf. Lassen Sie langsam den Druck aus der Manschette ab. Beim ersten Korotkow-Geräusch lesen Sie den systolischen Druck ab, beim letzten Geräusch den diastolischen Druck. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

Grunde immer nur um eine Momentaufnahme. Kontrollieren Sie auffällige Werte engmaschig. Der mittlere arterielle Druck liegt normalerweise zwischen 70 und 105 mmHg. Bei geringeren Werten ist eine ausreichende Organdurchblutung nicht mehr gewährleistet.

Abb. 9.2 Pulsoxymetrie.

RETTEN TO GO Blutdruckmessung Die RR-Messung ist ein wichtiges Verfahren zur Beurteilung der Herz-Kreislauf-Situation. Üblicherweise werden 2 Werte angegeben: ● Der systolische Wert entspricht dem aktuell höchsten Druck in den Arterien und wird v. a. von der Auswurfleistung des Herzens beeinflusst. ● Der diastolische Wert ist der dauerhaft in den Arterien herrschende Druck und hängt v. a. von der Dehnbarkeit und dem Füllungszustand der Blutgefäße ab. Der Blutdruck kann palpatorisch (durch Tasten des Pulses), auskultatorisch (mit RR-Manschette und Stethoskop) oder oszillometrisch (automatisch mithilfe eines Geräts, das Schwingungen darstellt) gemessen werden. Bei gesunden Erwachsenen in Ruhe beträgt der Blutdruck ca. 120/80 mmHg, wobei 120 mmHg dem systolischen Wert und 80 mmHg dem diastolischen Wert entsprechen. Werte < 100/60 mmHg entsprechen einer Hypotonie (zu niedriger Blutdruck), Werte > 140/90 mmHg einer Hypertonie (zu hoher Blutdruck).

9.1.2 Pulsoxymetrie Grundlagen • Mithilfe eines Pulsoxymeters können Sie die O2-Sättigung (S. 53) des arteriellen Blutes nicht invasiv bestimmen, d. h. ohne Blutentnahme. Dabei entspricht die arterielle O2-Sättigung (SaO2) dem Anteil des Hämoglobins in den roten Blutkörperchen, der mit Sauerstoff beladen ist. Auf diese Weise ist eine indirekte Beurteilung des O2-Austausches in der Lunge (Oxygenierung) möglich. Zusätzlich wird die Pulsfrequenz (S. 67) des Patienten beurteilt.

200

Pulsoxymeter messen nicht invasiv die Sauerstoffsättigung im arteriellen Blut. Foto: © K. Oborny/Thieme Aufbau eines Pulsoxymeters • Ein Pulsoxymeter enthält auf einer Seite eine Lichtquelle, die rote und infrarote Lichtwellen aussendet. Diese werden unterschiedlich stark absorbiert (aufgenommen), abhängig davon, wieviel Sauerstoff an das Hämoglobin (S. 53) gebunden ist. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein Photodetektor, der das hier ankommende Licht registriert. Das Gerät vergleicht die Messergebnisse mit Referenzwerten und gibt an, wie viel Prozent des Hämoglobins mit Sauerstoff beladen sind. Dieser Wert entspricht der SaO2. Für die pulsoxymetrisch gemessene O2-Sättigung wird die Abkürzung SpO2 verwendet. Durchführung • Sie legen dem Patienten einen Clipsensor am Finger (▶ Abb. 9.2) oder am Ohrläppchen an. Bei Kindern oder sehr unruhigen Patienten (z. B. im epileptischen Anfall) sollten Sie Klebesensoren verwenden. Bewertung • Der Zielwert für die O2-Sättigung liegt bei ca. 92–96 % (abhängig vom Krankheitsbild werden auch andere Werte toleriert/angestrebt). Bei einer SpO2 < 92 % (Hypoxämie) ist eine O2-Gabe indiziert. Fehlerquellen • Beurteilen Sie die O2-Sättigung nicht nur anhand der Pulsoxymetrie, sondern berücksichtigen Sie immer den Gesamtzustand des Patienten! Nagellack oder der Befall

Monitoring und apparative Diagnostik eines Nagels mit Nagelpilz, aber auch Fremdlichtquellen (z. B. Leuchtstoffröhren, Sonneneinstrahlung) oder Bewegungsartefakte (z. B. bei Messung im fahrenden RTW oder bei einem zitternden Patienten) können die Messwerte verfälschen. Ist die Durchblutung des Fingers reduziert, z. B. bei Kälte, Schock oder lokalen Durchblutungsstörungen, sind die gemessenen Werte zu niedrig. Eine Kohlenmonoxidvergiftung (S. 276) können Sie mit den meisten Pulsoxymetern nicht diagnostizieren, da diese nicht unterscheiden können, ob das Hämoglobin mit CO oder mit O2 beladen ist.

Herzzyklus im EKG • ▶ Abb. 9.3 zeigt den Verlauf der EKGKurve eines herzgesunden Menschen. Die einzelnen Ausschläge werden mit den Buchstaben von P bis T bezeichnet und kennzeichnen jeweils eine bestimmte Phase des Herzzyklus. Die Erregung in den Vorhöfen wird davon überlagert, dass sich gleichzeitig die Erregung in den Kammern ausbreitet, und lässt sich nicht separat ablesen. Eine im Vergleich zur T-Welle stark ausgeprägte U-Welle kann auf eine Hypokaliämie (S. 504) hinweisen.

EKG-Ableitungen RETTEN TO GO

Extremitätenableitungen

Pulsoxymetrie Mit der Pulsoxymetrie wird die arterielle O2-Sättigung bestimmt. Die Messung erfolgt durch einen Clipsensor, der am Finger oder am Ohrläppchen angebracht wird. Physiologisch ist eine pulsoxymetrisch gemessene O2-Sättigung (SpO2) zwischen 92 und 96 %. Zusätzlich lässt sich mit einem Pulsoxymeter auch die Pulsfrequenz beurteilen.

9.1.3 Elektrokardiogramm (EKG) Grundlagen Das EKG ist ein nicht invasives Verfahren, um die elektrische Aktivität des Herzens im zeitlichen Verlauf grafisch aufzuzeichnen: Die Kontraktionen des Herzens werden durch schwache elektrische Ströme (S. 61) ausgelöst, die bei jedem Herzschlag durch das Herz wandern. Diese Spannungsveränderungen können mit Elektroden an der Körperoberfläche gemessen werden. Daraus ergibt sich eine Herzstromkurve oder ein Elektrokardiogramm (EKG).

Anbringen der Elektroden • Die Elektroden werden nach dem Ampelprinzip angebracht (▶ Abb. 9.4): ● rot: rechter Arm (RA) ● gelb: linker Arm (LA) ● grün: linkes Bein (LL, das zweite „L“ steht für engl. leg) ● schwarz: rechtes Bein (RL), zur Erdung Im Rettungsdienst werden die Elektroden häufig am Körperstamm des Patienten geklebt. Für eine reine Rhythmusanalyse ist dies problemlos möglich, bei der Auswertung eines großen EKGs (▶ Abb. 9.7) kann dies jedoch Fehler verursachen! Um die Fehler möglichst gering zu halten, sollten Sie die Elektroden möglichst weit voneinander entfernt anbringen (rot an der rechten Schulter, gelb an der linken Schulter, grün am linken Unterbauch und schwarz am rechten Unterbauch).

Abb. 9.4 Elektroden für die Extremitätenableitungen. I

I

I

Abb. 9.3 Herzzyklus im normalen EKG. II

Zeit: 0,8–1 Sekunde

PWelle

PQQRSSTStrecke Komplex Strecke

TWelle

I III

II

II

III

III

UWelle

R

II

T P

U Q

1

III

2

a 3

S

4

5

6

1 Erregungsausbreitung im Vorhofmyokard (Beginn der Systole) 2 Das gesamte Vorhofmyokard ist erregt. Erregungsüberleitung auf die Kammern im AV-Knoten 3 Erregungsausbreitung im Kammermyokard 4 Beginn der Erregungsrückbildung in den Kammern (Beginn der Diastole) 5 Abschluss der Erregungsrückbildung in den Kammern 6 nicht immer vorhanden

Die Abschnitte des EKGs lassen sich den einzelnen Phasen der Herzaktion zuordnen. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

b

Ampelprinzip rechter Arm/rechte Schulter linker Arm/linke Schulter linkes Bein/linker Unterbauch

rechtes Bein/rechter Unterbauch (Erdung)

Bei der Ableitung nach Einthoven werden Spannungsdifferenzen jeweils zwischen 2 Elektroden an den Extremitäten gemessen. a Bei der klassischen Ableitung werden die Elektroden für die Extremitätenableitungen an den Gliedmaßen angebracht. b Im Rettungsdienst werden die Elektroden für die Extremitätenableitungen häufig am Körperstamm des Patienten angebracht. Kleben Sie dabei die Elektroden möglichst weit voneinander entfernt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

201

9

Arbeitstechniken und Monitoring Ableitung nach Einthoven • Diese Ableitung ist eine bipolare Extremitätenableitung: Es werden 3 Ableitungen erfasst, die als Spannungsdifferenzen zwischen jeweils 2 Elektroden gemessen werden (▶ Abb. 9.4): ● Ableitung I: zwischen rechtem und linkem Arm (RA – LA) ● Ableitung II: zwischen rechtem Arm und linkem Bein (RA – LL) ● Ableitung III: zwischen linkem Arm und linkem Bein (LA – LL) Ableitung nach Goldberger • Diese Ableitung ist eine unipolare Extremitätenableitung: Gemessen werden die Spannungsdifferenzen zwischen einer einzelnen Elektrode (= differente Elektrode) und einem elektrischen Nullpunkt (= indifferente Elektrode), der durch den Zusammenschluss zweier Ableitungspunkte entsteht. Dabei entstehen folgende 3 Ableitungen (▶ Abb. 9.5): ● aVR (augmented Voltage Right): RA gegen LA und LL ● aVL (augmented Voltage Left): LA gegen RA und LL ● aVF (augmented Voltage Foot): LL gegen LA und RA

Brustwandableitungen Ableitung nach Wilson • Diese Ableitung ist eine unipolare Brustwandableitung: Die 6 Elektroden V1–V6 werden auf dem Brustkorb angebracht (▶ Abb. 9.6) und jeweils die Spannungsdifferenz zwischen einer Brustwandelektrode und den als indifferente Elektrode zusammengeschalteten Extremitätenableitungen gemessen: ● V1: 4. ICR (Zwischenrippen- oder Interkostalraum) am rechten Rand des Brustbeins ● V2: 4. ICR am linken Rand des Brustbeins ● V3: auf der 5. Rippe zwischen V2 und V4 ● V4: Schnittpunkt des 5. ICR mit der linken Medioklavikularlinie (gedachte Linie senkrecht durch die Mitte des Schlüsselbeins) ● V5: gleiche Höhe wie V4, auf der vorderen Axillarlinie (gedachte Linie senkrecht durch den höchsten Punkt der vorderen Achselfalte) ● V6: gleiche Höhe wie V4, auf der mittleren Axillarlinie (gedachte Linie senkrecht durch den höchsten Punkt der Achselhöhle) Denken Sie unbedingt daran, den Brustkorb nach dem Kleben der Elektroden wieder zu bedecken, insbesondere bei

Frauen: Auch in Notfallsituationen ist ein möglichst würdevoller Umgang mit den Patienten gefordert! Erweiterte Ableitungen • Insbesondere für die Abklärung eines Hinterwandinfarkts kann die Anlage weiterer Elektroden (z. B. rechtsthorakal, linksdorsal) sinnvoll sein. Über diese Elektrodenpositionen lassen sich auch die hinteren Areale des Herzmuskels abdecken.

Ableitungsarten Einkanal-EKG • Einkanal-EKGs werden wegen ihrer begrenzten Aussagekraft im Rettungsdienst nicht routinemäßig eingesetzt. Sie dienen dem Patientenmonitoring in ambulanten Notfallsituationen (z. B. zur Detektion von Kammerflimmern oder in Form eines Langzeitmonitorings zur Diagnostik von Herzrhythmusstörungen). Inzwischen gibt es EKG-fähige Smartwatches, die die Aufzeichnung eines Einkanal-EKGs, meist über 30 Sekunden, erlauben. So sind sie prinzipiell als Ereignisrekorder einsetzbar. Innerhalb enger Grenzen werden automatisch Sinusrhythmus und Vorhofflimmern erkannt. Ein EKG mit Vorhofflimmern, das mit einer Smartwatch aufgezeichnet wurde, kann für diagnostische Zwecke verwendet werden, setzt aber immer eine ärztliche Einschätzung voraus. Eine EKG-Überwachung ist auch mit selbstklebenden Defibrillationspads möglich, die v. a. zur Defibrillation oder für eine synchronisierte Kardioversion und Stimulation eingesetzt werden. Kleines EKG • Bei fast allen Notfallpatienten im Rettungsdienst wird routinemäßig ein EKG abgeleitet. Mit dem 4-poligen EKG-Kabel können die bipolaren Extremitätenableitungen nach Einthoven (I, II, III) und die unipolaren Extremitätenableitungen nach Goldberger (aVR, aVL, aVF) abgeleitet, aufgezeichnet und auf dem Monitor als 6 EKG-Kurven dargestellt werden. Die kontinuierliche Überwachung von Herzfrequenz und -rhythmus ermöglicht es, gefährliche Rhythmusstörungen möglichst sofort zu erkennen. Großes EKG • Für eine erweiterte Diagnostik der elektrischen Herzaktivität und der Herzlage, insbesondere bei kardiovaskulären Notfällen, wird das 6-polige EKG-Kabel für die AbAbb. 9.6 Brustwandableitung nach Wilson.

ICR = Interkostalraum/ Zwischenrippenraum

Abb. 9.5 Extremitätenableitung nach Goldberger.

V1

R

L

V2

V3

4. ICR V4 V5 V6

5. ICR

F aVR

aVL

aVF

Medioklavikularlinie links mittlere Axillarlinie links vordere Axillarlinie links

Bei den Ableitungen nach Goldberger (aVR, aVL, aVF) werden die Spannungsdifferenzen zwischen einer differenten Elektrode und einem elektrischen Nullpunkt (indifferente Elektrode) gemessen. Dieser elektrische Nullpunkt entsteht durch den Zusammenschluss zweier Ableitungen. 202

Für die Brustwandableitungen V1–V6 werden 6 Klebeelektroden am Brustkorb angebracht. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Monitoring und apparative Diagnostik Abb. 9.7 12-Kanal-EKG.

Video 9.1 Anlage eines 12-Kanal-EKGs.

Über die Anlage eines 12-Kanal-EKGs gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Durchführung Vorbereitung • Achten Sie – sofern möglich – auf eine angenehme Umgebungstemperatur, um Störungen durch Muskelzittern oder Muskelverspannungen zu vermeiden. Verhindern Sie den Kontakt mit leitenden Gegenständen, z. B. Metallgestellen. Nach Möglichkeit sollte der Patient mit freiem Oberkörper auf einer angenehmen Unterlage liegen. Entfernen Sie ggf. lokal die Behaarung, um die Elektroden fest aufkleben zu können. Schalten Sie das EKG-Gerät ein und legen Sie die Klebeelektroden bereit.

Normales 12-Kanal-EKG mit den Extremitätenableitungen I, II, III, aVR, aVL, aVF und den Brustwandableitungen V1–V6. Aus:

Durchführung • Kleben Sie die Klebeelektroden an die definierten Stellen (▶ Video 9.1) und schließen Sie die Ableitungskabel an die Klebeelektroden und an das EKG-Gerät an. Sofern die Zeit dafür ausreicht, geben Sie den Namen des Patienten in das EKG-Gerät ein. Weisen Sie den Patienten an, sich während der Aufzeichnung nicht zu bewegen, nicht zu sprechen und möglichst ruhig zu atmen, um eine gute EKG-Qualität zu erhalten.

Horacek T, Hrsg. Der EKG-Trainer. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

leitungen V1–V6 als Erweiterung verwendet und ermöglicht ein 12-Kanal-EKG. Die Anzahl der simultan darstellbaren EKG-Kurven ist geräteabhängig. Mit dem integrierten oder drahtlos angeschlossenen Drucker kann das 12-Kanal-EKG ausgedruckt werden (▶ Abb. 9.7). Die Auswertung durch den Anwender wird durch optionale Analyse- und Softwarefunktionen (z. B. Intervall- und Referenzmarker, grafische Zusammenfassung) unterstützt.

! Merke Kanal und Pol

Bei der Beschreibung von EKG-Ableitungen werden die Begriffe „Kanal“ und „Pol“ verwendet: ● „Pol“ steht für die Anzahl der aufgeklebten Elektroden. ● „Kanal“ steht für die Anzahl der Ableitungen, die gleichzeitig aufgezeichnet bzw. ausgedruckt werden. Beispiel: Bei einem 3-Kanal-EKG werden zeitgleich 3 EKG-Kurven aufgezeichnet.

Bewertung Die Auswertung des EKGs erfolgt in der Regel nach einem standardisierten Schema: ● Rhythmus: Schlägt das Herz regelmäßig oder liegen Herzrhythmusstörungen vor? ● Herzfrequenz: Wie schnell oder langsam schlägt das Herz? ● Lagetyp: Die Amplitude bzw. Höhe der QRS-Komplexe erlaubt Rückschlüsse auf die anatomische Lage des Herzens im Brustkorb und kann auf akute oder chronische Belastungen des Herzens hinweisen. ● Intervalle: Für alle o. g. Wellen, Zacken und Strecken gibt es Normwerte für die Zeitintervalle. Abweichungen sprechen für bestimmte Störungen. ● Ischämiezeichen: Insbesondere in der Diagnostik des akuten Koronarsyndroms (S. 300) spielen die ST-Strecke und die T-Welle eine wichtige Rolle. Eine frische Ischämie kann sich z. B. als ST-Strecken-Hebung zeigen (▶ Abb. 12.4), eine ST-Strecken-Senkung kann auf eine länger zurückliegende bzw. chronische Mangeldurchblutung hinweisen.

203

9

Arbeitstechniken und Monitoring

RETTEN TO GO Elektrokardiogramm (EKG) Das EKG ist ein nicht invasives Verfahren, um die elektrische Aktivität des Herzens im zeitlichen Verlauf grafisch aufzuzeichnen. Dabei entsprechen die verschiedenen Kurvenanteile bestimmten Phasen des Herzzyklus: ● P-Welle: Vorhofkontraktion und Beginn der Systole ● PQ-Strecke: Überleitung der Erregung von den Vorhöfen auf die Kammern ● QRS-Komplex: Kammerkontraktion ● ST-Strecke: Erregungsrückbildung in den Kammern und Beginn der Diastole ● T-Welle: Abschluss der Erregungsrückbildung in den Kammern Die Ableitung erfolgt über Elektroden an den Extremitäten (nach Einthoven und nach Goldberger) und an der Brustwand (nach Wilson). Für die einfachste Analyse der elektrischen Herzaktionen (z. B. Diagnose eines Kammerflimmerns) ist ein einziger Ableitungskanal ausreichend, z. B. über die Defibrillationselektroden. Die Standardmethode bei fast allen Notfallpatienten im Rettungsdienst ist die 4-Pol-Ableitung mithilfe der Extremitätenelektroden (kleines EKG, 6-Kanal-EKG). Für eine weiterführende Diagnostik, v. a. bei kardiovaskulären Notfällen, werden zusätzlich Brustwandelektroden angelegt und die Brustwandableitungen beurteilt (12-Kanal-EKG, großes EKG). Beurteilt werden Rhythmus, Frequenz, Lagetyp des Herzens, Kurvenintervalle und Ischämiezeichen.

Alternativ können Sie auch einen Tropfen Blut aus einer Venenverweilkanüle für die Blutzuckermessung nutzen, entweder direkt beim Legen der Kanüle oder durch Entfernen der Verschlusskappe bei einem bereits liegenden Zugang (bevor Infusionen oder Medikamente verabreicht werden). Bewertung • Prinzipiell müssen Sie zwischen Messungen im nüchternen (nach > 8 Stunden Nahrungskarenz) und im nicht nüchternen Zustand unterscheiden. Als physiologisch für Erwachsene (Normoglykämie) im Nüchternzustand gelten Werte zwischen 3,3 mmol/l (60 mg/dl) und 5,6 mmol/l (100 mg/dl). Bei einer nicht nüchternen Messung sollte der Wert < 7,8 mmol/l (140 mg/dl) liegen. ● Hypoglykämie (S. 358): Blutzucker < 2,8 mmol/l (50 mg/dl) ● Hyperglykämie (S. 356): Blutzucker über 5,5 mmol/l (> 100 mg/dl) nüchtern bzw. über 7,8 mmol/l (> 140 mg/dl) nach dem Essen In der Notfallmedizin dürfen Sie diese Werte jedoch nicht als absolut verstehen: Beispielsweise kann ein Patient, der aufgrund eines langjährigen Diabetes mellitus permanent an einen Blutzucker von 9 mmol/l gewöhnt ist, auch bei einem physiologischen Wert von 5 mmol/l Symptome einer Hypoglykämie entwickeln.

! Merke Maßeinheit des Blutzuckerwertes

Der Blutzuckerwert wird in mmol/l (Millimol pro Liter) oder in mg/dl angegeben. 1 mmol/l entspricht 18,02 mg/dl. Die meisten Blutzuckermessgeräte können von einer Einheit in die andere umgeschaltet werden.

RETTEN TO GO

9.1.4 Blutzuckermessung Grundlagen • Prinzipiell sollten Sie den Blutzuckerspiegel (BZ) bei allen Notfallpatienten bestimmen. Besonders wichtig ist eine frühzeitige Messung bei Bewusstseinsstörungen, um zügig eine Hypoglykämie als Ursache abzuklären. Durchführung • Für die BZ-Bestimmung genügt ein Tropfen Blut, den Sie aus dem Ohrläppchen oder aus einem Finger (Mittel-, Ring- oder kleiner Finger) entnehmen (▶ Abb. 9.8). Bei Säuglingen eignet sich als Punktionsstelle am besten die seitliche Ferse. ● Führen Sie den Teststreifen in das Gerät ein. ● Desinfizieren Sie die Entnahmestelle und warten Sie die Einwirkzeit von ca. 30 s ab. Beachten Sie ggf. die Herstellerangaben. ● Ist das Desinfektionsmittel nicht vollständig verdunstet, wischen Sie die Punktionsstelle mit einem sterilen Tupfer trocken, da das Messergebnis sonst verfälscht sein kann. ● Punktieren Sie die Haut mit einer speziellen Lanzette/Nadel, in die Außenseite der Fingerbeere, um die für das Tasten wichtige Mitte der Fingerspitzen zu schonen. ● Sobald sich ein ausreichend großer Blutstropfen gebildet hat, halten Sie diesen an den Teststreifen. Der Blutstropfen wird automatisch in das Testfeld eingesogen. In manchen Standards wird ein Abwischen des ersten Blutstropfens empfohlen (geringe Evidenz). ● Wenige Sekunden später wird der Blutzuckerwert am Display des Gerätes angezeigt. ● Entsorgen Sie Teststreifen und Lanzette/Nadel sicher.

204

Blutzuckermessung Die Blutzuckerkonzentration (BZ) sollte bei allen Notfallpatienten gemessen werden, mit erhöhter Priorität bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen. Hierzu benötigen Sie ein elektronisches Blutzuckermessgerät und die dazugehörigen Teststreifen. Für die Bestimmung genügt ein Tropfen Blut, der durch einen Stich in die Haut (Ohrläppchen, seitliche Fingerbeere) oder aus einer liegenden Venenverweilkanüle entnommen werden kann. Der Blutzuckerwert wird in mmol/l oder mg/dl angegeben (1 mmol/l ≙ 18,02 mg/dl). Er sollte nüchtern zwischen 3,3 mmol (60 mg/dl) und 5,6 mmol/l (100 mg/dl) und nach einer Mahlzeit < 7,8 mmol/l (140 mg/dl) liegen.

Monitoring und apparative Diagnostik Abb. 9.8 Blutzuckermessung.

a

b

c

d

Für die Messung benötigen Sie ein elektronisches Blutzuckermessgerät und passende Teststreifen. Vor der Anwendung müssen Sie die Einsatzbereitschaft entsprechend den Herstellerangaben prüfen, s. Medizinproduktegesetz (S. 562). a Prüfen Sie das Gerät auf Funktionstüchtigkeit und führen Sie den Teststreifen ein. b Desinfizieren Sie die Entnahmestelle. c Wischen Sie nach ca. 30 s ggf. noch verbliebenes Desinfektionsmittel mit einem Tupfer ab. d Führen Sie die Punktion an der seitlichen Fingerbeere mit einer speziellen Lanzette/Nadel durch. e Verwerfen Sie den ersten Blutstropfen (regionalen Standard beachten, geringe Evidenz!). f Der Tropfen wird vom Teststreifen angesaugt. Das Gerät zeigt das Messergebnis an. Achten Sie für die Dokumentation darauf, in welcher Einheit (mg/dl oder mmol/l) das Ergebnis angezeigt wird. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

e

f

9.1.5 Kapnometrie und Kapnografie Grundlagen • Die Kapnometrie dient dazu, den Kohlendioxidgehalt der Ausatemluft (endexspiratorisches bzw. endtidales CO2 = etCO2) zu messen. Die Kapnografie bezeichnet die Aufzeichnung und grafische Darstellung der in der Kapnometrie gemessenen CO2-Werte im zeitlichen Verlauf (also über mehrere Atemzüge hinweg). CO2 entsteht im Körper v. a. als Endprodukt der Energiegewinnung aus mehrwertigen Kohlenstoffverbindungen (z. B. Glukose) und O2. Es wird im Blut zur Lunge transportiert und abgeatmet. Indikationen • Die Kapnometrie wird am häufigsten eingesetzt, um nach einer Intubation (S. 214) die korrekte Lage des Tubus zu überprüfen: Nur wenn der Tubus tatsächlich in der Luftröhre liegt, steigt der CO2-Gehalt in der Ausatemluft an. Fehlt das CO2 in der Ausatemluft, liegt der Tubus versehentlich in der Speiseröhre und der Magen wird beatmet. Im Rahmen einer kardiopulmonalen Reanimation (S. 318) wird das Verfahren zur „Erfolgskontrolle“ genutzt: Nur bei effizienten Herzdruckmassagen werden die Lungen gut durchblutet und CO2 kann abgeatmet werden. Ein plötzli-

cher Anstieg des etCO2 während einer Reanimation weist auf einen wiederkehrenden Spontankreislauf hin (S. 327). Messverfahren ● Hauptstrom- oder Inlineverfahren: Der Messsensor, bestehend aus Infrarotlicht oder einem chemischen Gemisch, Messkammer und Detektor, wird direkt in den Atemstrom des Patienten eingebracht. Dort wird der CO2-Gehalt der Atemluft spektrometrisch oder über einen Farbindikator bestimmt. ● Nebenstromverfahren: Über eine Bypassleitung wird Luft aus dem eigentlich geschlossenen Beatmungssystem angesaugt und der CO2-Gehalt in einem separaten Gerät gemessen. Dazu wird eine spezielle Messleitung an einen auf den Tubus aufgesetzten Adapter oder an den Beatmungsfilter angeschlossen. Bewertung • Der Normalbereich des etCO2 liegt bei 35– 45 mmHg (4,5–6 %, ▶ Abb. 9.9). Ein erhöhter Wert weist auf eine Hypoventilation (zu geringe Beatmung), ein erniedrigter Wert auf eine Hyperventilation (zu intensive Beatmung) des Patienten hin – die Intensität der Beatmung muss ent205

9

Arbeitstechniken und Monitoring sprechend angepasst werden, bis wieder der Normalbereich erreicht ist. Enthält die Ausatemluft gar kein CO2, muss die Ursache umgehend gefunden und behoben werden. Die wichtigsten Ursachen sind: ● ösophageale Fehlintubation ● versehentliche Extubation ● Leckagen im Beatmungssystem durch eine Unterbrechung (Diskonnektion) oder Materialfehler ● mangelnde Durchblutung der Lungen im Rahmen eines Herz-Kreislauf-Stillstands

RETTEN TO GO Kapnometrie und Kapnografie Mit der Kapnometrie wird bei beatmeten Patienten der Kohlendioxidgehalt in der Ausatemluft (endexspiratorisches bzw. endtidales CO2 = etCO2) gemessen. Die Kapnografie bezeichnet die Aufzeichnung und grafische Darstellung der in der Kapnometrie gemessenen CO2-Werte im zeitlichen Verlauf. Für die Messung wird ein Messsensor direkt in den Atemstrom des Patienten eingebracht oder ein Teil der Atemluft zu einem separaten Gerät geleitet und dort gemessen. Der Normalbereich des etCO2 liegt bei 35–45 mmHg (4,5–6 %). Ein erhöhtes etCO2 deutet auf eine Hypoventilation, ein erniedrigtes etCO2 auf eine Hyperventilation des Patienten hin.

Abb. 9.9 Kapnogramm.

9.1.6 Temperaturmessung Grundlagen • Die Körpertemperatur bzw. das Erkennen von Hitzenotfällen (S. 405), einer Hypothermie (S. 402) oder von Fieber als Hinweis auf eine Infektionskrankheit ist ein wichtiger Parameter für die Versorgung von Notfallpatienten. Durchführung • Im Rettungsdienst wird die Körpertemperatur üblicherweise mit einem Ohrthermometer gemessen (Tympanothermometer, ▶ Abb. 9.10): Die Temperatur des Trommelfells entspricht ziemlich gut der Körperkerntemperatur (S. 91). Ziehen Sie die Ohrmuschel beim Einführen des Thermometers leicht nach oben hinten, um den Gehörgang zu begradigen. Nur so trifft der Infrarot-Messstrahl auf das Trommelfell. Eine rektale Messung durch Einführen des Thermometers in den Anus ist zwar genauer, aber deutlich unangenehmer und wird daher nur selten durchgeführt. Bewertung • Die physiologische KKT des Menschen liegt relativ konstant bei 37 °C (36–38 °C). Sie unterliegt geringen Schwankungen im Tagesverlauf und ist bei Frauen nach dem Eisprung physiologisch erhöht. Ab einer Temperatur von 37,1–37,5 °C gilt die Körpertemperatur als erhöht (subfebrile Temperatur), ab einer Temperatur von 37,8–38,1 °C spricht man von Fieber. Die Körpertemperatur wird von bestimmten Zentren im Gehirn gesteuert. Eine erhöhte Temperatur kann die Folge eines erhöhten Sollwerts (z. B. bei Infektionen) sein oder auf eine Störung (z. B. bei einer Hirnschädigung) oder Überlastung dieser Regulation (bei Hitzschlag) hinweisen. Bei einer KKT < 35 °C spricht man von einer Hypothermie (S. 402) oder Unterkühlung. Gefährdet sind v. a. alte und/ oder sehr dünne Menschen, Säuglinge, Opfer von Ertrinkungsunfällen sowie generell alle verunfallten Patienten. Zu beachten ist u. a. auch, dass eine adäquate Blutgerinnung nur bei Körpertemperaturen > 34,0 °C möglich ist.

RETTEN TO GO Temperaturmessung Die Körpertemperatur wird im Rettungsdienst üblicherweise mit einem Ohrthermometer gemessen. Die physiologische Körperkerntemperatur liegt relativ konstant bei 37 °C. Ab einer Temperatur von 37,1–37,5 °C spricht man von subfebrilen Temperaturen, ab einer Temperatur von 37,8–38,1 °C von Fieber. Bei einer Körperkerntemperatur < 35 °C besteht eine Hypothermie (Unterkühlung). Normales Kapnogramm mit einem etCO2 von 35 mmHg. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.10 Temperaturmessung mit einem Ohrthermometer. a Der Sensor misst die Temperatur des Trommelfells, die weitestgehend der Körperkerntemperatur entspricht. b Ziehen Sie die Ohrmuschel zur Begradigung des Gehörgangs vor dem Einführen leicht nach hinten-oben. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

206

b

Atemwegsmanagement

9.1.7 Blutgasanalyse (BGA) Grundlagen • Die Blutgasanalyse liefert Informationen über die Konzentrationen von Sauerstoff und Kohlendioxid sowie über den pH-Wert und den Säure-Basen-Haushalt im Blut. Insbesondere bei beatmeten Patienten ist dies wichtig, um genaue Aussagen über den Sauerstoffgehalt im Blut der Patienten zu erhalten (exakter als mittels Pulsoxymetrie und Kapnografie). Weitere wichtige Einsatzgebiete sind die Beurteilung von metabolischen Störungen, z. B. einer diabetischen Ketoazidose (S. 356), und von Schockzuständen. Zudem erhalten Sie so den aktuellen Hämoglobin-, Blutzuckerund Laktatwert sowie Informationen zum Volumenstatus. Durchführung • Für eine BGA benötigen Sie nur wenige Mikroliter Blut, die i. d. R. arteriell oder kapillär entnommen werden. Für diese Untersuchung gibt es spezielle Kapillaren (kleine, mit Heparin beschichtete Glasröhrchen) und Blutentnahmeröhrchen. Bei Traumapatienten kann eine BGA aus venösem Blut wichtige Hinweise auf Blutverluste und ein Schockgeschehen liefern. Exakte Aussage über den Sauerstoffgehalt im Blut sind so jedoch nicht möglich. Bewertung • Die BGA gibt Auskunft über den pH-Wert im Blut und den Partialdruck der im Blut gelösten Gase (▶ Tab. 9.1). Ein pH-Wert < 7,37 wird als Azidose (Übersäuerung) bezeichnet, ein pH-Wert > 7,43 als Alkalose (erhöhte Basenkonzentration). Bei Azidosen und Alkalosen (S. 505) werden jeweils metabolische und respiratorische Ursachen unterschieden, dabei gibt der Basenüberschuss (BaseExcess, BE) an, ob im Körper zu viele Basen (metabolische Alkalose) oder zu wenig Basen (metabolische Azidose) vorhanden sind (▶ Tab. 9.2).

RETTEN TO GO Blutgasanalyse (BGA) Die BGA liefert Informationen über die Konzentrationen von Sauerstoff und Kohlendioxid sowie über den pHWert und den Säure-Basen-Haushalt im Blut. Für die Bestimmung der Werte wird eine Blutprobe benötigt.

9.1.8 Monitoringsysteme Moderne Monitoringsysteme mit modularem Aufbau dienen als multifunktionale Werkzeuge für die Diagnostik, Überwachung und Therapie im Rettungsdienst. Je nach Bedarf können die Funktionen der Kompaktgeräte angepasst bzw. weitere Funktionen integriert werden. Die Möglichkeiten reichen vo einem einfachen EKG-Transportmonitor mit EKG-Überwachung über ein 12-Kanal-Ruhe-EKG mit Pulsoxymetrie und integrierter Defibrillations- und Schrittmachereinheit bis hin zu vollwertig ausgestatteten Intensivtransportmonitoren: Es besteht u. a. die Möglichkeit, zusätzliche Module für Kapnometrie/-grafie, nicht invasive RRMessung, verschiedene invasive Druckmessungen (z. B. arterieller Blutdruck, zentraler Venendruck, Hirndruck) sowie die Überwachung verschiedener Temperaturen anzuschließen. Ebenfalls integrierbar sind Einheiten für Gesundheitsund Kommunikationskarten zur schnellen Erfassung von Patientendaten und zur elektronischen Übermittlung von Überwachungs- und Diagnosedaten an die Zielklinik. Die verfügbaren Geräte unterschiedlicher Hersteller (z. B. Corpuls C 3, Physiocontrol Lifepak15, Geräte von Schiller,

Tab. 9.1 Normwerte einer arteriellen BGA. Parameter

Normwert

pH-Wert

7,37–7,43

O2-Partialdruck (pO2, PaO2)

75–100 mmHg

O2-Sättigung (SaO2)

94–98 %

CO2-Partialdruck (pCO2, PaCO2)

35–45 mmHg

Standardbikarbonat (HCO3–)

22–26 mmol/l

Basenüberschuss (BE)

–2 bis + 2 mmol/l

Tab. 9.2 Störungen des Säure-Basen-Haushalts. pHWert

pCO2

Bikarbonat

Basenüberschuss (BE)

metabolisch









respiratorisch







(↑)

metabolisch









respiratorisch







(↓)

Azidose

Alkalose

ZOLL oder Philips) haben ähnliche Funktionen, Details und die Bedienung können sich aber deutlich unterscheiden. Daher sollten Sie sich intensiv mit dem auf dem Ihrem Fahrzeug vorhandenen Gerät vertraut machen und neben der Einweisung nach MPG (Medizinproduktegesetz) die einzelnen Funktionen auch regelmäßig nutzen bzw. ihre Handhabung trainieren.

9.1.9 Notfallsonografie In manchen Rettungsmitteln stehen mobile Ultraschallgeräte zur Verfügung, mit denen der Notarzt oder die Notärztin v. a. Blutungen im Bauch- und Brustraum schnell erkennen kann, z. B. bei Bauchtrauma (S. 391), rupturiertem Bauchaortenaneurysma (S. 352) oder Thoraxtrauma (S. 386).

9.2 Atemwegsmanagement Definition Atemwegsmanagement Das Atemwegsmanagement umfasst das Freimachen und Freihalten der Atemwege sowie ggf. die Beatmung. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, eine O2-Minderversorgung zu verhindern und eine Aspiration (S. 273) zu vermeiden. Grundproblematik • Bei einer wachen Person sorgen Schutzreflexe (v. a. Husten-, Würge- und Schluckreflex) dafür, dass keine Fremdkörper oder Flüssigkeiten in die Luftröhre gelangen. Bei Bewusstlosen sind diese Schutzreflexe jedoch herabgesetzt oder erloschen, wodurch die Gefahr einer Aspiration besteht. Befindet sich der Bewusstlose in Rückenlage, besteht zusätzlich das Risiko, dass die Zungenmuskulatur erschlafft und die Zunge so weit in den Rachenraum zu-

207

9

Arbeitstechniken und Monitoring rücksinkt, dass die Atemwege verlegt werden und eine Erstickung droht.

9.2.1 Freimachen der Atemwege Als Punkt A des (c)ABCDE-Schemas (S. 183) kontrollieren Sie bei jedem Patienten die Atemwege und machen sie ggf. frei.

Inspektion des Mund-Rachen-Raums Wache Patienten • Bitten Sie den Patienten, den Mund zu öffnen. Achten Sie bei der Inspektion auf sichtbare Fremdkörper oder Flüssigkeiten sowie auf Schwellungen, Verletzungen und Ruß (Hinweis auf ein Inhalationstrauma).

Magill-Zange • Diese abgewinkelte, stumpfe Zange (▶ Abb. 9.13) eignet sich gut für das Entfernen tiefer gelegener Fremdkörper aus dem Mund-Rachen-Raum. Um unter Sicht zu arbeiten, wird sie in der Regel in Kombination mit einem Laryngoskop (S. 213) eingesetzt. Zusätzlich wird die Magill-Zange häufig bei der Intubation benötigt, um den Tubus zu greifen und durch die Stimmritze zu führen, v. a. bei der nasotrachealen Intubation (S. 212). Abb. 9.12 Manuelles Ausräumen.

Bewusstlose Patienten • Öffnen Sie den Mund des Patienten z. B. mit dem Kreuzgriff (▶ Abb. 9.11): Dabei drücken Sie mit dem Daumen der rechten Hand den Unterkiefer des Patienten nach kaudal (unten). Der rechte Zeige- oder Mittelfinger unterkreuzt den Daumen und bildet an der oberen Zahnreihe ein Widerlager. Zum Öffnen des Mundes ist auch der Esmarch-Handgriff (S. 209) geeignet.

Entfernen von Fremdkörpern oder Flüssigkeiten Manuelles Ausräumen • So können Sie lose Fremdkörper, Zahnprothesen oder brockige bzw. zähe Flüssigkeiten aus der Mundhöhle des Patienten entfernen: 1. Drehen Sie den Kopf des Patienten zur Seite, damit Flüssigkeiten besser abfließen können. 2. Drücken Sie mit dem Daumen einer Hand die Wange des Patienten von außen zwischen dessen Zahnreihen, um sich vor Bissverletzungen zu schützen. 3. Räumen Sie mit dem Zeige- oder Mittelfinger der anderen Hand unter Sicht die Mundhöhle des Patienten aus (▶ Abb. 9.12): Bei blindem Ausräumen besteht die Gefahr, etwaige Fremdkörper weiter nach hinten zu schieben. Entfernen Sie ggf. lose Zahnprothesen. 4. Bringen Sie nun den Kopf wieder in die gerade Position.

ACHTUNG

Der Kopf des Patienten ist zur Seite gedreht, während Sie die Mundhöhle unter Sicht mit Zeige- und Mittelfinger ausräumen. Mit der anderen Hand drücken Sie die Wange des Patienten als Beißschutz zwischen dessen Zahnreihen. Foto: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.13 Magill-Zange.

a

Bei Verdacht auf eine HWS-Verletzung (S. 383) müssen Sie den Patienten im Ganzen vorsichtig und achsengerecht zur Seite drehen, um weitere Schäden zu vermeiden. Unterpolstern Sie anschließend den Kopf in Neutralposition oder lassen Sie ihn von einer zweiten Person halten. Abb. 9.11 Kreuzgriff.

b

Sie bauen zwischen Ober- und Unterkiefer einen Gegendruck auf. Dies öffnet den Mund. Foto: © K. Oborny/Thieme 208

Die Magill-Zange wird für die Führung des Tubus durch die Stimmritze bei der nasotrachealen Intubation verwendet, aber auch für die Entfernung von Fremdkörpern. a Durch den zur Seite gebogenen Griff bleibt der Blick in den Mund-Rachen-Raum frei. Die abgerundeten Enden verringern die Verletzungsgefahr. b Die Magill-Zange darf nur unter Sicht verwendet werden, daher wird sie in der Regel mit einem Laryngoskop kombiniert. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Atemwegsmanagement Absaugen • Mit einer mechanischen oder elektrischen Absaugpumpe können Sie einen Unterdruck erzeugen, um Flüssigkeiten aus den oberen bzw. nach einer endotrachealen Intubation auch aus den unteren Atemwegen zu entfernen. Die Flüssigkeit wird über ein Schlauchsystem in einen Sekretbehälter gesaugt. An das Schlauchsystem wird für den Absaugvorgang ein Absaugkatheter angeschlossen. Absaugkatheter sind in verschiedenen Größen verfügbar (Farbcode am Ansatz des Katheters) und steril verpackt. Gehen Sie beim Absaugen folgendermaßen vor (▶ Abb. 9.14): 1. Bestimmen Sie die einzuführende Katheterlänge: – beim Absaugen über den Mund (oral): Abstand vom Mundwinkel zum Ohrläppchen – beim Absaugen über die Nase (nasal): Abstand von der Nasenspitze zum Ohrläppchen 2. Führen Sie nun den Absaugkatheter ohne Sog vorsichtig (!) in Mund oder Nase ein. 3. Bauen Sie Sog durch Verschluss des Fingertips (Absaugunterbrecher) auf. Abb. 9.14 Absaugen.

4. Entfernen Sie den Katheter unter Sog. 5. Wiederholen Sie ggf. den Vorgang.

! Merke Absaugen

Katheter mit geringem Durchmesser verstopfen häufig. Es ist daher sinnvoll, auf dem Rettungsfahrzeug mehrere größere Absaugkatheter vorzuhalten.

ACHTUNG Bei nicht komplett bewusstlosen, sondern nur somnolenten Patienten kann das Absaugen oder ein Manipulieren mit der Magill-Zange Erbrechen mit Aspirationsgefahr auslösen. Heimlich-Handgriff • Dieser Handgriff kann bei nicht bewusstlosen Patienten mit Fremdkörperaspiration angewendet werden, wenn alle anderen Versuche, den Fremdkörper zu entfernen, nicht erfolgreich waren und weiterhin schwere Atemnot besteht (S. 273).

Überstrecken des Kopfes Synonyme • Reklination des Kopfes, HTCL-Manöver (head tilt and chin lift)

a

Kinn-Scheitel-Griff,

Durchführung • Das Überstrecken des Kopfes (▶ Abb. 9.15) ist eine einfache Maßnahme, wenn die Atemwege bei Bewusstlosen durch erschlafftes Gewebe verlegt sind, z. B. durch den Zungengrund oder den weichen Gaumen. Inspizieren Sie zunächst den Mundraum und beseitigen Sie ggf. Fremdmaterial. Legen Sie dazu eine Hand an die Stirn des Patienten, mit der anderen Hand umgreifen Sie seine Kinnpartie. Nun beugen Sie den Kopf des Patienten mit beiden Händen in den Nacken und heben gleichzeitig den Unterkiefer an. So wird der Zungengrund des Patienten angehoben und der Atemweg wieder geöffnet. Halten Sie den Kopf des Patienten anschließend permanent in dieser Position, bis die Atemwege gesichert sind, z. B. durch einen Pharyngealtubus (S. 210). Alternativ können Sie den Patienten in die stabile Seitenlage bringen (▶ Abb. 9.57).

ACHTUNG

b

Führen Sie bei Verdacht auf eine HWS-Verletzung den EsmarchHandgriff durch, da ein Überstrecken des Kopfes weitere Schädigungen bis hin zu einer Querschnittsverletzung verursachen kann.

Esmarch-Handgriff

c

Dieser Handgriff wird zum Freimachen der Atemwege und zum Öffnen des Mundes von Bewusstlosen eingesetzt. Dazu umfassen Sie vom Kopfende aus mit beiden Händen den Kieferwinkel des Patienten (▶ Abb. 9.16) und legen die Daumen auf dessen Kinn. Nun ziehen Sie den Unterkiefer mit Druck am Kiefergelenk nach oben vorne, wodurch der Zungengrund angehoben wird. Gleichzeitig öffnen Sie mit den Daumen den Mund des Patienten. Der Kopf wird dabei nicht überstreckt – ein großer Vorteil bei Verdacht auf eine HWSVerletzung. Halten Sie diese Position, bis die Atemwege gesichert sind, z. B. durch einen Pharyngealtubus (S. 210).

Mit einer Absaugpumpe können Sie Flüssigkeiten aus den oberen Atemwegen und nach Intubation auch aus den unteren Atemwegen entfernen. a Abmessen der Länge des Absaugkatheters. b Einführen des Katheters. c Sogaufbau durch Verschließen des Fingertips. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

209

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.15 Überstrecken des Kopfes.

Atemwege verlegt

Atemwege frei

Zunge

Die erschlaffte Zunge verlegt die Atemwege (links). Das Überstrecken des Kopfes (Mitte) verlagert den Zungengrund so, dass die Atemwege wieder frei sind (rechts). Abb. 9.16 Esmarch-Handgriff.

9.2.2 Freihalten und Sichern der Atemwege Nachdem Sie die Atemwege freigemacht haben, müssen Sie dafür sorgen, dass sie nicht erneut verlegt werden. Maßnahmen zum Freihalten und Sichern der Atemwege lassen sich grundsätzlich einteilen in: ● Freihalten ohne Hilfsmittel: stabile Seitenlage ● Freihalten mit Hilfsmitteln: Rachentuben – bei Notwendigkeit einer Beatmung: endotracheale Intubation oder supraglottische Atemwegshilfen – Ultima Ratio: Koniotomie

Stabile Seitenlage Beim Esmarch-Handgriff öffnen Sie den Mund des Patienten durch Druck auf Kieferwinkel und Unterkiefer. Sein Kopf wird dabei nicht überstreckt Foto: © K. Oborny/Thieme

RETTEN TO GO

210

Die stabile Seitenlage (S. 248) ist eine einfache Möglichkeit, um die Atemwege bei bewusstseinseingetrübten Personen mit ausreichender Spontanatmung freizuhalten. Bei allen Techniken der Seitenlagerung (▶ Abb. 9.57) bildet der Mund des Patienten den tiefsten Punkt des Körpers, wodurch Flüssigkeiten (z. B. Blut, Erbrochenes) ablaufen können und die Gefahr einer Aspiration vermindert wird (Aspirationsprophylaxe). Die seitliche Lage und die Überstreckung des Kopfes verhindern ein Zurückfallen der Zunge.

Freimachen der Atemwege

Rachentuben

Die Kontrolle und ggf. das Freimachen der Atemwege ist der Punkt A des (c)ABCDE-Schemas. ● Mund-Rachen-Inspektion: Bitten Sie den Patienten, den Mund zu öffnen. Bei Bewusstlosen öffnen Sie den Mund mit dem Kreuzgriff oder dem Esmarch-Handgriff. ● Entfernen von Fremdkörpern oder Flüssigkeiten durch manuelles Ausräumen, mit der Magill-Zange (v. a. bei tiefer liegenden Fremdkörpern), durch Absaugen mit einem Absauggerät oder als letzte Option (!) mit dem Heimlich-Handgriff ● Sind die Atemwege bei einem Bewusstlosen durch erschlaffte Weichteile (Zungengrund, Gaumensegel) verlegt, wird der Kopf überstreckt. Dadurch hebt sich der Zungengrund und der Atemweg öffnet sich wieder. Bei Verdacht auf eine HWS-Verletzung wird der EsmarchHandgriff angewendet, da dabei der Kopf nicht überstreckt wird.

Synonym • Pharyngealtuben Grundprinzip • Die Tuben werden über den Mund (Oropharyngeal- oder Guedel-Tubus) oder über die Nase (Nasopharyngeal- oder Wendl-Tubus) eingeführt und verhindern, dass die Zunge die Atemwege verlegt. Allerdings bieten sie keinen Aspirationsschutz. Da sie den Würgereflex auslösen können (v. a. Guedel-Tubus), sollten sie nur bei bewusstlosen oder narkotisierten Patienten verwendet werden.

Guedel-Tubus Der Guedel-Tubus (Oropharyngealtubus, ▶ Abb. 9.17) besteht aus 2 Anteilen: ● Der kurze, gerade Anteil dient als Beißblock und endet mit einer runden Auflagefläche (Schild), die den Tubus an den Lippen fixiert. ● Der längere, gebogene Anteil folgt der Wölbung der Zunge und verhindert bei korrekter Lage ein Zurücksinken des Zungengrundes.

Atemwegsmanagement Abb. 9.17 Anwendung des Guedel-Tubus.

a

Der Guedel-Tubus ist ein abgeflachtes Rohr aus Kunststoff oder Hartgummi. Er darf nur bei bewusstlosen Patienten eingesetzt werden. a Wählen Sie die korrekte Tubuslänge: Der Tubus sollte vom Ohrläppchen bis zum Mundwinkel des Patienten reichen. b Halten Sie den Tubus zunächst so, dass die untere Öffnung zum Gaumen des Patienten weist. c Führen Sie den Tubus etwa zur Hälfte ein, drehen Sie ihn um 180° und schieben Sie ihn weiter vor. d Sobald der Tubus komplett eingeführt ist, sollte die Auflagefläche mit den Lippen des Patienten abschließen.

b

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

Abb. 9.18 Lage des Guedel-Tubus.

zu lang

korrekte Länge und Lage

Auswahl der richtigen Tubusgröße • Der Tubus soll vom Ohrläppchen bis zum Mundwinkel des Patienten reichen. Bei korrekter Lage und Größe liegt die Tubusspitze (untere Öffnung) vor dem Kehlkopf. Sowohl ein zu großer als auch ein zu kleiner Tubus kann den Atemweg verlegen (▶ Abb. 9.18). Anwendung des Tubus 1. Halten Sie den Tubus zum Einführen so, dass die untere Öffnung nach oben in Richtung Gaumen zeigt. 2. Öffnen Sie mit der freien Hand den Mund des Patienten. 3. Führen Sie den Tubus in dieser Position bis zur Hälfte in den Mund ein. 4. Drehen Sie den Tubus um 180°, sodass er anatomisch dem Atemweg folgt. 5. Schieben Sie den Tubus vorsichtig über die Zunge, bis der Schild mit den Lippen bündig abschließt. Der Tubus muss nicht fixiert werden.

zu kurz

Bei korrekter Länge und Lage verhindert der Guedel-Tubus ein Zurücksinken des Zungengrunds. Ist er zu lang, drückt er den Kehldeckel nach unten. Ist er zu kurz, drückt er den Zungengrund nach unten. In beiden Fällen blockiert dies den Atemweg.

Wendl-Tubus Der Wendl-Tubus (Nasopharyngealtubus) ist leicht gebogen, die Tubusspitze ist abgeschrägt (▶ Abb. 9.19a). Die Tubuslänge muss etwa der Distanz zwischen Nasenspitze und Ohrläppchen des Patienten entsprechen, die Tubusdicke etwa dem Durchmesser seines kleinen Fingers. Anwendung des Tubus 1. Bestreichen Sie die Tubusspitze mit Gel. 2. Führen Sie den Tubus in ein Nasenloch ein, dabei zeigt die Schräge der Tubusspitze zur Seite. 3. Schieben Sie den Tubus langsam vor und drehen Sie ihn dabei langsam um 90°, sodass die Tubusschräge zur Rachenhinterwand zeigt. Bei korrekter Lage befindet sich die Tubusspitze vor dem Kehlkopfeingang (▶ Abb. 9.19b).

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9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.19 Wendl-Tubus.

aa

b

! Merke Guedel- oder Wendl-Tubus?

Der Guedel-Tubus löst häufig einen starken Würgereiz aus und darf daher nur bei bewusstlosen Patienten eingesetzt werden. Für die Patienten ist meist der Wendl-Tubus angenehmer. Bei einem SchädelHirn-Trauma oder einer Gesichtsschädelfraktur darf er wegen der Gefahr weiterer Schädigungen jedoch nicht verwendet werden.

Endotracheale Intubation Bei der (endotrachealen) Intubation wird ein Beatmungsschlauch (Tubus) durch Mund, Nase oder Kehlkopf in die Luftröhre (Trachea) eingeführt, über den der Patient beatmet werden kann. Die Intubation wird im Rettungsdienst v. a. bei Bewusstlosen eingesetzt, um eine sichere Beatmung zu gewährleisten und die Patienten vor einer Aspiration von Mageninhalt zu schützen (Schutzintubation).

ACHTUNG Einen sicheren Aspirationsschutz bietet nur die Intubation!

! Merke Intubation

Außer bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand darf eine Intubation nur unter Narkose durchgeführt werden. Die Intubation ist eine heilkundliche Maßnahme, die nur von NA oder NotSan durchgeführt werden darf. Als RS sollten Sie jedoch die verwendeten Geräte, den Ablauf und die möglichen Komplikationen kennen, um situationsgerecht assistieren zu können.

Intubationsverfahren Orotracheale Intubation • Der Tubus wird über den Mund eingeführt und durch die Stimmritze in die Trachea vorgeschoben. Dies ist das Standardverfahren für die Intubation im Rettungsdienst. Alternativen Bei der nasotrachealen Intubation wird der Tubus über die Nase in die Luftröhre vorgeschoben. Diese Methode ist wesentlich schwieriger als die orotracheale Intubation und wird im Rettungsdienst nur selten durchgeführt (z. B. bei Unmöglichkeit einer orotrachealen Intubation, bei schweren Verletzungen im Bereich Mund-Rachen-Raum). ● Bei der Koniotomie (S. 216) wird der Tubus durch einen Schnitt im Kehlkopfband eingeführt. Dies ist das Verfahren der letzten Wahl (!), um den Patienten vor dem Ersticken zu retten, wenn eine orotracheale oder nasotracheale Intubation nicht möglich ist. ●

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Der Wendl-Tubus besteht aus weichem Gummi, sodass er sich dem Atemweg gut anpasst. Das obere Ende hat bei manchen Modellen eine bewegliche Scheibe, die den Tubus im Bereich des Naseneingangs fixiert und ein zu tiefes Eindringen verhindert. a Der Wendl-Tubus ist nur leicht gebogen. Foto: © K. Oborny/Thieme b Der Wendl-Tubus wird über die Nase eingeführt. Bei korrekter Lage endet er vor dem Kehlkopfeingang.

Geräte und Material zur Intubation Benötigtes Material • Für die orotracheale Intubation werden folgende Hilfsmittel benötigt: ● Endotrachealtuben inkl. Blockerspritze (10- oder 20-mlEinwegspritze, zum Blocken des Cuffs, s. u.): Der nächstkleinere und der nächstgrößere Tubus sollte immer bereitliegen! ● Führungsstab (Mandrin) als Einführhilfe für den Tubus: Er darf niemals distal über den Tubus hinausragen, da er sonst das umgebende Gewebe verletzen kann. ● Laryngoskop oder Videolaryngoskop mit Spatel (verschiedene Größen) ● Gleitmittel (z. B. Kochsalz/NaCl, Xylocain® Gel) für den Endotrachealtubus und den Führungsstab ● Magill-Zange (S. 208), um ggf. Fremdkörper, Zahnprothesen oder Speisereste sofort entfernen zu können ● Beißschutz (Guedel-Tubus oder Mundkeil) ● Absaugpumpe und -katheter: Ein Absaugen kann die Sicht auf die Stimmritze verbessern. Außerdem kann bei Erbrechen schnell reagiert werden. ● Fixiermaterial, um den Tubus zu befestigen (Tubushalter) ● Beatmungsbeutel mit Maske und O2-Reservoir ● Cuffdruckmessgerät ● Stethoskop und Kapnografie-Gerät für die Kontrolle der Tubuslage Endotrachealtubus • Der Tubus besteht aus einer biegsamen Kunststoffröhre (▶ Abb. 9.20a). Am unteren Ende befindet sich bei den meisten Tuben ein Cuff, ein aufblasbarer Ballon, der die Luftröhre abdichtet und so vor einer Aspiration schützt. Er ist über einen kleinen Schlauch mit einem Kontrollballon verbunden, über den der Cuff mit einer luftgefüllten Spritze aufgeblasen (= geblockt) wird. Anhand des Kontrollballons können Sie den Füllungszustand des Cuffs abschätzen und ggf. mit einem Cuff-Druckmesser überwachen.

! Merken Tuben ohne Cuff

Bei der Intubation von Neugeborenen und Säuglingen (Körpergewicht < 5 kg) werden Tuben ohne Cuff verwendet, da die Luftröhrenschleimhaut in diesem Alter sehr sensibel ist und der geblockte Cuff Druckschäden verursachen kann. Unterschiedliche Tubusarten werden aufgrund ihrer Beschaffenheit für unterschiedliche Situationen eingesetzt. Die Standardtuben für die orotracheale Intubation sind der einfach gekrümmte Magill-Tubus und der sehr flexible Woodbridge-Tubus (Verwendung immer mit Führungsstab). Die Tubusgröße wird in der Regel als Innendurchmesser (ID) in mm, seltener als Außendurchmesser (AD) in Charriè-

Atemwegsmanagement re (1 Ch. = ⅓ mm) angegeben. Für die Auswahl der richtigen Größe können Sie sich am kleinen Finger des Patienten orientieren: Der ID des Tubus sollte etwa dem Durchmesser des kleinen Fingers des Patienten entsprechen. Bei Erwachsenen sind dies meist Tuben mit einem ID zwischen 7,0 und 8,5 mm. Bei Kindern wird der geeignete Innendurchmesser für Tuben mit Cuff mit folgender Formel berechnet: Abb. 9.20 Endotrachealtubus.

Cuff

Kontrollballon

Blockerspritze

ID ½mm ¼ 3þ

Alter des Kindes in Jahren 4

Laryngoskop • EinLaryngoskop dient dazu, den Kehlkopf (Larynx) zu betrachten (z. B. auch in der HNO-Heilkunde). Im Rahmen der orotrachealen Intubation ermöglicht dies die sichere Platzierung des Tubus in der Luftröhre. Das Laryngoskop besteht aus einem Griff mit einem Batteriefach für die Lichtquelle und einem i. d. R. abnehmbaren Spatel. Der Spatel ist in unterschiedlichen Formen und Größen erhältlich. Weit verbreitet ist der gebogene Macintosh-Spatel (▶ Video 9.2). Bei Säuglingen und Kleinkindern kommen häufiger gerade Spatel (z. B. Miller-Spatel) zum Einsatz. Die Lichtquelle des Laryngoskops ist je nach Ausführung im Griff (Kaltlichtlaryngoskop) oder im Spatel (Warmlichtlaryngoskop) eingebaut.

ACHTUNG Prüfen Sie vor jeder Intubation die Lichtquelle des Laryngoskops (ggf. Batterie wechseln!). Führungsstab

Videolaryngoskop • Im Spatel befinden sich eine Kamera und eine Lichtquelle. Das Bild wird in Echtzeit auf einem integrierten Monitor angezeigt (▶ Abb. 9.21), häufig am GeräteVideo 9.2 Endotracheale Intubation.

a

b

Zur endotrachealen Intubation gibt es ein Video. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme Abb. 9.21 Videolaryngoskop.

c

Endotrachealtuben reichen im Unterschied zu Pharyngealtuben und supraglottischen Atemwegshilfen in die Trachea hinein. a Endotrachealtuben mit Blockerspritze und Führungsstab. b Anhand der Längenmarkierungen wird die korrekte Intubationstiefe ermittelt. Gemessen wird in Höhe der oberen Zahnreihe. c Cuffdruckmesser. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Die Verwendung eines Videolaryngoskops vereinfacht die Intubation und reduziert das Risiko für Komplikationen. Auf dem Bildschirm sind die relevanten Strukturen zu sehen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

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Arbeitstechniken und Monitoring griff. So können alle beteiligten Mitarbeitenden die Intubation mitverfolgen und gezielt das BURP-Manöver (s. u.) anwenden. Dies steigert die Effektivität. Generell ermöglichen Videolaryngoskope eine verbesserte Sicht auf die Glottisebene, reduzieren die Zahl fehlgeschlagener Intubationen bei „schwierigem“ Atemweg und haben – aufgrund einer geringeren Überstreckung der Halswirbelsäule – Vorteile bei Patienten mit Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung.

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6.

7.

Vorbereitung und Durchführung der Intubation Vorbereitung des Materials • Als Assistenz des Intubierenden bereiten Sie alle Geräte und Materialien vor (s. o.) und überprüfen die Funktion (u. a. Laryngoskop funktionstüchtig? Tubus steril verpackt? Richtige Tubusgrößen?). Bereiten Sie die für die Narkoseeinleitung benötigten Medikamente vor (S. 124). Legen Sie auch das Material für Alternativmaßnahmen bereit, z. B. Larynxmaske, Larynxtubus und/oder Material für eine Notfall-Koniotomie – bei einem Fehlschlagen der Intubation müssen alle Beteiligten schnell reagieren! Lagerung und Vorbereitung des Patienten • Durch eine optimale Lagerung des Kopfes des Patienten lassen sich viele Intubationsschwierigkeiten vermeiden. Für die Intubation wird der Patient auf den Rücken gelegt. In der Regel wird der Kopf leicht überstreckt und etwas erhöht (ca. 5–10 cm) gelagert. Diese sog. verbesserte Jackson-Position ermöglicht die beste Sicht auf den Kehlkopf während der Intubation. Eine Zahnprothese muss ggf. vor der Intubation entfernt werden. Für die Narkoseeinleitung benötigt der Patient einen intravenösen oder intraossären Zugang.

! Merke Nicht immer überstrecken

Bei Neugeborenen, Säuglingen und Patienten mit Verdacht auf ein HWS-Trauma darf der Kopf nicht überstreckt werden! Lagern Sie den Kopf nur leicht erhöht (Schnüffelstellung, ▶ Abb. 13.15). Durchführung der Intubation • Während der Intubation sitzt der Intubateur (NA oder NotSan) am Kopfende des Patienten und die Assistenz seitlich des Patienten (▶ Video 9.2). 1. Präoxygenierung: Spontan atmende Patienten werden mehrere Minuten mit 100 % O2 über eine dicht sitzende Gesichtsmaske beatmet, möglichst mit erhöhtem Oberkörper. Dadurch wird eine O2-Reserve gebildet und eine Hypoxie während der Intubation vermieden. 2. Einleitung einer Narkose (S. 125) mit einem Analgetikum, einem Hypnotikum und bei Bedarf einem Muskelrelaxans 3. Einführen des Laryngoskops und Einstellen der Stimmritze: Die Assistenz gibt dem Intubateur das einsatzbereite Laryngoskop (Lichtquelle aktiviert) in die linke Hand. Der Intubateur öffnet den Mund des Patienten mit dem Kreuzgriff (S. 208) und schiebt das Laryngoskop langsam unter Verdrängung der Zunge in den Rachen, bis er freie Sicht auf die Stimmlippen hat. – BURP-Manöver (backward upward rightward pressure): Bei fehlender Sicht kann die Assistenz vorsichtig den Schildknorpel des Kehlkopfes nach hinten-oben-rechts drücken, um die Lage zu optimieren. – Bei eingeschränkter Sicht kann die Videolaryngoskopie eine geeignete Alternative sein. 4. Einführen des Tubus: Die Assistenz reicht auf Anweisung dem Intubateur den vorbereiteten Tubus – ggf. inkl. Führungsstab (beide mit Gleitmittel versehen) – in die rechte Hand. Dieser führt den Tubus durch die Stimmritze in die Luftröhre ein, bis der Cuff hinter der Stimmritze verschwunden ist. Anschließend entfernt er das Laryngoskop

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8.

und den Führungsstab vorsichtig, während er mit der rechten Hand den Tubus im Mundwinkel gut festhält. Blocken des Tubus: Die Assistenz blockt den Cuff mit der aufgesteckten und mit Luft gefüllten Einmalspritze. Der korrekte Cuffdruck beträgt in der Regel 21–28 cmH2O. Beginn der Beatmung: Der Beatmungsbeutel wird mit dem vorher aufgesetzten Beatmungsfilter an den Tubus angeschlossen, die Beatmung wird sofort begonnen. Lagekontrolle des Tubus: Liegt der Tubus korrekt in der Trachea, sodass beide Lungen belüftet werden? – Die Auskultation mit dem Stethoskop ist zwar einfach, lässt aber keine sichere Aussage über die Tubuslage zu. Zunächst wird der Magen und anschließend beide Lungen abgehört. Der Tubus liegt richtig, wenn über beiden Lungen ein Atemgeräusch zu hören ist. Falsch liegt er, wenn es über dem Magen „blubbert“ (Zeichen einer Fehllage in der Speiseröhre). Auch die Intubationstiefe ist von Interesse: Eine korrekte Belüftung beider Lungen ist bei Erwachsenen bei einer Tiefe von ca. 22 cm ab Zahnreihe zu erwarten. – Die Kapnometrie (S. 205) ist die wichtigste Maßnahme zur Kontrolle der Tubuslage. – Im Notfall kann die Lage auch über die optische Kontrolle der Thoraxbewegungen abgeschätzt werden. Beißschutz und Fixierung: Nach erfolgreicher Intubation wird ein Beißschutz (z. B. Guedel-Tubus) eingelegt und der Tubus sicher mit einem Tubushalter befestigt.

! Merke Erneute Lagekontrolle

Werden intubierte Patienten umgelagert, muss die Tubuslage erneut geprüft werden.

Probleme und Komplikationen bei der Intubation Mögliche Komplikationen bei der Intubation ● Intubation nur einer Lunge: Der Tubus sitzt zu tief in einem der beiden Hauptbronchien. Durch ein vorsichtiges Zurückziehen (Cuff vorher entblocken!) lässt sich die Lage i. d. R. korrigieren. ● Fehllage des Tubus in der Speiseröhre: Der Tubus muss entfernt und die Intubation erneut versucht werden. ● Schädigungen der Zähne ● Weichteilverletzung in Mund und Rachen, Verletzungen der Stimmbänder und/oder der Luftröhre ● Laryngospasmus: Stimmritzenkrampf mit Verschluss der Atemwege ● Glottisödem: Schwellung der Kehlkopfschleimhaut mit Verschluss der Atemwege ● Reizung des N. vagus mit Abfall von Herzfrequenz und Blutdruck Probleme bei der Intubation • Im Rettungsdienst wird häufig unter erschwerten Bedingungen intubiert (z. B. Patient nicht nüchtern, Lagerung vor Ort schwierig, mangelnde Beleuchtung). Zusätzliche Probleme können sich durch schwierige anatomische Verhältnisse in Mund und Hals (z. B. große Zunge, kurzer, dicker Hals, vorstehender Oberkiefer) sowie durch Erkrankungen oder Verletzungen ergeben (z. B. Tumoren im Mund-Rachen-Raum, Verletzungen im Gesichts- und Halsbereich, HWS-Verletzungen). Daher gelingt eine Intubation selbst geübten Intubateuren nicht immer im ersten Anlauf. Scheitert die Intubation, muss die Intubationstechnik geprüft und ggf. optimiert werden. Zwischen zwei Intubationsversuchen sollte eine Maskenbeatmung erfolgen. Bleibt die Intubation weiterhin erfolglos, muss schnell zu einem alternativen Verfahren gewechselt werden, da das Risiko le-

Atemwegsmanagement bensbedrohlicher Komplikationen mit jedem weiteren Intubationsversuch steigt.

! Merke Probleme bei der Intubation

Eine Intubation kann scheitern. Daher sollte das gesamte Rettungsteam immer eine Alternative zur Intubation im Kopf haben.

Supraglottische Atemwegshilfen Larynxmaske und Larynxtubus sind alternative Hilfsmittel zur Sicherung der Atemwege bei bewusstlosen bzw. narkotisierten Patienten. Sie werden ohne Laryngoskop und blind (ohne Sicht) eingeführt. Sie werden als supraglottische Atemwegshilfen (SGA) bezeichnet, da ihr unteres Ende bei Abb. 9.22 Larynxmaske.

korrekter Lage oberhalb (supra) der Stimmritze (Glottis) liegt – bei der Intubation (s. o.) liegt das untere Ende hingegen unterhalb der Stimmritze in der Luftröhre. Eine Beatmung mit einer SGA ist i. d. R. deutlich effektiver als mit Beutel und Maske. SGA können zusammen mit einem Beatmungsgerät verwendet werden. Im Gegensatz zur Intubation bieten sie jedoch keinen sicheren Aspirationsschutz.

Larynxmaske Bauart • Die Larynxmaske (LM, LMA, ▶ Abb. 9.22a) besteht aus einem weiten, einlumigen Tubus, an dessen unterem Ende sich eine ovale, schlauchbootartige Maske (= Cuff) befindet, deren Randwulst über einen kleinen Schlauch aufgeblasen (geblockt) wird. Bei korrekter Lage stülpt sich die LMA über den Kehlkopf und dichtet mit dem geblockten Cuff den Atemweg ab (▶ Abb. 9.22b). Im Rettungsdienst verwendete LMA verfügen i. d. R. über einen Drainagekanal zum Einlegen einer Magensonde. Diese wird immer mit eingelegt, um den Magen zu entlasten (z. B. bei vorheriger BeutelMasken-Beatmung). LMA sind in verschiedenen Größen für Kinder und Erwachsene verfügbar. Durchführung 1. Die korrekte Größe wird ausgewählt und die LMA mit Gleitmittel benetzt. 2. Der Mund des Patienten wird mit dem Kreuzgriff (S. 208) geöffnet. 3. Die Larynxmaske wird vorsichtig mit der Öffnung zur Zunge hin mittig am oberen Gaumen des Patienten entlang eingeführt, bis ein leichter Widerstand zu spüren ist. 4. Der Cuff wird mit Luft geblockt (entsprechend den Angaben auf dem Ventil). 5. Die LMA wird an das Beatmungssystem angeschlossen und fixiert. 6. Der Cuffdruck wird gemessen und ggf. korrigiert. 7. Die Lage wird durch Auskultation und Kapnometrie (S. 205) überprüft, im Notfall durch das Beobachten der Thoraxbewegungen. 8. Die Magensonde wird eingelegt, Magenflüssigkeiten und Gase werden unter der Möglichkeit der gleichzeitigen Beatmung abgesaugt.

a

b

Larynxtubus

a Die Larynxmaske besteht aus einem weiten, einlumigen Tubus, an dessen unterem Ende sich ein ovaler, schlauchbootartiger Cuff befindet. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020; Foto: © K. Oborny/Thieme

b Eine korrekt sitzende Larynxmaske stülpt sich über den Kehlkopf.

Bauart • Der Larynxtubus (LT) besteht aus einem Tubus mit zwei Cuffs (▶ Abb. 9.23). Bei korrekter Lage kommt ein Cuff vor dem Eingang der Speiseröhre und der andere im Rachen zu liegen. Durch kleine Öffnungen zwischen den beiden Cuffs strömt die Luft in die Trachea. Über einen farblich kodierten und normierten Konnektor am oberen Ende können

Abb. 9.23 Larynxtubus.

a

b

Larynxtuben gibt es in verschiedenen Größen, die auf dem Tubus farblich sowie auf der Blockerspritze mit Zahlen und farblich gekennzeichnet sind. a Der Larynxtubus verfügt über 2 Cuffs, die sich mit einer Spritze aufblasen lassen. Foto: © K. Oborny/Thieme b Korrekt platziert schließt der obere Cuff den Rachenraum ab, der untere den Eingang zur Speiseröhre. Durch Öffnungen zwischen den Cuffs strömt die Luft in die Atemwege.

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Arbeitstechniken und Monitoring Sie z. B. einen Beatmungsbeutel anschließen. Larynxtuben verfügen über einen Kanal zum Einlegen einer Magensonde. Durchführung 1. Die Cuffs werden vor dem Einführen vollständig entlüftet, der Tubus wird bei Bedarf mit Gleitgel oder etwas Flüssigkeit (NaCl) gleitfähig gemacht. 2. Der Anwender öffnet den Mund des Patienten, führt einen Esmarch-Handgriff durch oder hebt das Kinn an (Chin-Lift-Manöver). Damit wird der Zungengrund von der Rachenhinterwand angehoben und so der oropharyngeale Raum maximiert. Diese Stellung muss bis zur vollständigen Platzierung des Tubus beibehalten werden. 3. Der Anwender hält den Larynxtubus wie einen Stift und führt ihn mittig am oberen Gaumen des Patienten entlang in den Mundraum ein. 4. Sobald der proximale Cuff die Zähne passiert hat, wird der Tubus in Richtung Nase gekippt und weiter entlang des Zungengrundes bis zur obersten Zahnmarkierung eingeführt bzw. bis ein leichter, federnder Widerstand zu spüren ist. 5. Belüften der Cuffs: Die Blockerspritze darf nur so weit mit Luft befüllt werden, wie es farbig auf dem Tubuskonnektor gekennzeichnet ist. 6. Der Larynxtubus wird an das Beatmungssystem angeschlossen und fixiert. 7. Der Cuffdruck wird gemessen und ggf. angepasst. 8. Die Lage wird durch Auskultation und Kapnometrie (S. 205) überprüft, im Notfall durch das Beobachten der Thoraxbewegungen. 9. Eine Magensonde wird in den dafür vorgesehenen Drainagekanal eingeführt, Magenflüssigkeiten und Gase werden unter der Möglichkeit der gleichzeitigen Beatmung abgesaugt.

Koniotomie Synonym • Notfall-Luftröhrenschnitt Grundprinzip • Dieses invasive Verfahren wird als ärztliche Notfallmaßnahme zur Atemwegssicherung durchgeführt, wenn eine Intubation und sämtliche alternative Verfahren nicht durchführbar sind, z. B. bei schweren Gesichtsverletzungen mit Verlagerung von Knochenteilen, entzündlichen bzw. allergischen Schwellungen der oberen Atemwege, einem nicht entfernbaren Bolus oder einer Kiefersperre. Durchführung • Der Notarzt oder die Notärztin überstreckt den Kopf des Patienten, setzt mit einem Skalpell einen längsverlaufenden Hautschnitt zwischen Schild- und Ringknorpel und durchtrennt das Ligamentum conicum (S. 70) quer. Die so entstandene Öffnung wird gespreizt, eine Trachealkanüle oder ein Endotrachealtubus eingeführt, die Lage des Tubus kontrolliert und dieser sicher fixiert.

RETTEN TO GO Freihalten und Sichern der Atemwege Nach dem Freimachen der Atemwege müssen Sie dafür sorgen, dass sie nicht erneut verlegt werden: ● Die stabile Seitenlage verhindert ein Zurückfallen der Zunge und reduziert die Aspirationsgefahr. ● Rachen- oder Pharyngealtuben werden über den Mund (Oropharyngeal- oder Guedel-Tubus) oder über die Nase (Nasopharyngeal- oder Wendl-Tubus) eingeführt. Sie verhindern, dass die Zunge die Atemwege verlegt, allerdings schützen sie nicht vor einer Aspiration. ● Bei der (endotrachealen) Intubation wird ein Beatmungsschlauch (Tubus) in die Luftröhre eingeführt, über den der Patient beatmet werden kann. Das Standardverfahren im Rettungsdienst ist die orotracheale Intubation: Ein Tubus wird über den Mund eingeführt und durch die Stimmritze in die Luftröhre (Trachea) vorgeschoben. Ihre wichtigsten Aufgaben als Rettungssanitäter bei einer Intubation sind folgende: – Vorbereiten der Intubation: Vorbereiten der Medikamente, Vorbereiten und Überprüfen der Geräte, Lagerung des Patienten – Anreichen der Geräte und des Materials während der Intubation – Sichern der Intubation (Tubusfixierung, Beißschutz) ● Larynxmaske und Larynxtubus sind alternative Verfahren zur Atemwegssicherung, bei denen ein Tubus ohne besondere Hilfsmittel (ohne Laryngoskop) und blind (ohne Sicht) eingeführt wird. Ihr unteres Ende befindet sich bei korrekter Lage oberhalb der Stimmritze (bei endotrachealer Intubation unterhalb der Stimmritze). Diese Verfahren schützen nicht sicher vor Aspirationen! ● Das Mittel der letzten Wahl, um einen Patienten vor dem Ersticken zu retten, ist eine ärztlich durchgeführte Koniotomie (Kehlkopfschnitt).

9.3 Sauerstofftherapie und Beatmung 9.3.1 Sauerstofftherapie Grundlagen Zielsetzung und Risiken • Das Ziel einer Sauerstoffgabe ist eine verbesserte Oxygenierung der Gewebe des Patienten. Beachten Sie: Sauerstoff (O2) ist ein Medikament, das bewusst und gezielt eingesetzt werden muss. Eine zu hohe Konzentration kann auch gefährlich sein! Beispielsweise kann eine unkontrollierte O2-Zufuhr bei Patienten mit COPD den Atemantrieb kritisch reduzieren (S. 266). Bei Neugeborenen kann eine hoch dosierte O2-Gabe die Lunge (Gefahr: Lungenkollaps) und die Netzhaut der Augen (Erblindungsgefahr) schädigen.

ACHTUNG Sauerstoff ist ein Medikament, das nicht nur Nutzen, sondern auch Schaden bringen kann. Als Rettungssanitäter sind Sie daher in erster Linie für die Vorbereitung einer O2-Gabe und die Applikation auf Anweisung zuständig.

216

Sauerstofftherapie und Beatmung Potenzielle Probleme • Der Erfolg einer O2-Therapie kann durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt werden, u. a. durch Störungen der Ventilation wie bei einem Asthmaanfall (S. 261), Störungen der Diffusion bei einem Lungenödem (S. 268) oder bei einer niedrigen O2-Transportkapazität des Blutes, z. B. im hämorrhagischen Schock (S. 289). Sauerstoffbedarf • Die O2-Gabe wird nicht „blind“ für jeden Notfallpatienten empfohlen, sondern ist situationsbedingt und krankheitsbezogen geregelt. Die Richtwerte unterliegen den aktuellen SOPs (Standard Operating Procedures) der jeweiligen Rettungsdienstbereiche. Die wichtigste Untersuchung, um den O2-Bedarf im Rettungsdienst festzustellen, ist die Pulsoxymetrie (S. 200), also die Messung der peripheren O2-Sättigung (SpO2). Für die meisten Patienten wird die O2-Gabe so dosiert, dass eine SpO2von ca. 92–96 % erreicht wird. Besteht die Gefahr eines hyperkapnischen Atemversagens (v. a. bei Patienten mit COPD), wird eine SpO2 von 88–92 % angestrebt. Sauerstoffeinheit • Sie besteht aus einer (weißen) O2-Flasche, einem Druckminderer mit Manometer und einem Flussregler (▶ Abb. 9.24). Der Druckminderer senkt den Druck in der Flasche auf einen Wert ab, der für die Verwendung am Patienten geeignet ist. O2-Flaschen sind in unterschiedlichen Füllgrößen erhältlich. Im Rettungsdienst werden in der Regel Flaschen mit 2 Liter Füllvolumen für die mobile O2-Ausrüstung (Notfallrucksack und tragbares Beatmungsgerät) und 10-Liter-Flaschen für fest installierte Geräte im Rettungsfahrzeug verwendet. Der Druck in einer vollen O2-Flasche beträgt normalerweise 200 bar. Dieser Fülldruck wird am Manometer angezeigt. Der tatsächliche Inhalt bzw. die verfügbare O2-Menge einer Flasche berechnet sich aus dem Volumen der Flasche und dem angezeigten (Rest-)Druck.

Abb. 9.24 Sauerstoffeinheit.

a

b Haupthahn

Sauerstoffflasche

! Merke Berechnung des Inhaltes einer O -Flasche 2

verfügbarer Flascheninhalt ½l ¼ Flaschenvolumen ½l  Druck ðManometeranzeigeÞ ½bar In einer vollen 2-Liter-Flasche befinden sich demnach 400 Liter O2, in einer vollen 10-Liter-Flasche 2000 Liter O2. Flussrate • Die verabreichte Menge an Sauerstoff wird in Liter pro Minute angegeben. Diese O2-Flussrate (Flow) wird durch den Flussregler an der O2-Einheit eingestellt. Sie richtet sich nach dem Zustand des Patienten und den verwendeten Hilfsmitteln (Nasenbrille/-sonde, Gesichtsmaske, ▶ Tab. 9.3). Ist die verfügbare O2-Menge bekannt, können Sie berechnen, wie lange der Sauerstoff für eine Behandlung noch ausreicht (Laufreserve).

! Merke Berechnung der Vorratsdauer einer O2-Flasche

Vorratsdauer½min ¼

c

Manometer: Anzeige des Restdrucks in der Flasche

Druckminderer und Flussregler

Im Rettungsdienst werden üblicherweise 2-l-Flaschen für den Notfallrucksack und das tragbare Beatmungsgerät verwendet sowie 10-l-Flaschen für die in RTW, KTW oder ITW fest installierten Geräte. a Fest installierte 10-l-Flaschen im RTW. b Das Manometer der 10-l-Flaschen kann vom Innenraum des RTW aus abgelesen werden. c Tragbare 2-l-Flasche. Der Haupthahn entspricht dem Flaschenventil. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Flascheninhalt ½l Flussrate ½l=min

Je nach Vorgaben des Geräteherstellers muss evtl. ein Restdruck in der O2-Flasche belassen und berücksichtigt werden (z. B. durch Abzug von 10 bar bei der Berechnung des Flascheninhalts). Heute sind den Flaschen i. d. R. Restdruckventile eingebaut, sodass Sie nicht mehr so sehr darauf achten müssen.

Fallbeispiel Laufreserve Der Fülldruck einer 2-Liter-Flasche beträgt noch 50 bar. Damit stehen noch 100 l O2 zur Verfügung. Bei einer Flussrate von 5 l/ min reicht dies für 20 min.

217

9

Arbeitstechniken und Monitoring

Tab. 9.3 Inspiratorische Sauerstofffraktion (FiO2) bei verschiedenen Applikationsarten für Sauerstoff.



Applikationsart

Flow

FiO2

Nasensonde

2–4 l/min

0,2–0,3

20–30 %

Nasenbrille

4–6 l/min

0,3–0,4

30–40 %

einfache Maske

6–8 l/min

0,4–0,6

40–60 %

Maske mit Reservoir

6–10 l/min

0,5–0,8

50–80 %

Maske mit Reservoir und Nichtrückatemventil

8–15 l/min

0,7–1,0

70–100 %

1,0

100 %

Beatmungsmaske mit Demand-Ventil



Verabreichung von Sauerstoff Grundlagen Selbstständig atmende Patienten erhalten Sauerstoff über eine Nasensonde, eine Nasenbrille oder verschiedene Typen einer Sauerstoffmaske (▶ Abb. 9.25). Bei beatmeten Patienten wird der Sauerstoff an den Beatmungsbeutel angeschlossen oder über das Beatmungsgerät zugeführt. Der Erfolg der O2-Gabe wird mittels Pulsoxymetrie (S. 200) oder Blutgasanalyse (S. 207) geprüft. Inspiratorische Sauerstofffraktion (FiO2) • Dieser Wert gibt den Anteil des Sauerstoffs am eingeatmeten Gas an, als Dezimale oder in Prozent. Die FiO2 beim Einatmen normaler Umgebungsluft beträgt 21 % oder 0,21. Bauartbedingt können Sie die FiO2 bei verschiedenen Applikationsarten unterschiedlich stark steigern (▶ Tab. 9.3). Je höher die FiO2 ist, umso höher ist der alveoläre Sauerstoffpartialdruck im Vergleich zum Sauerstoffpartialdruck in den Lungenkapillaren (S. 74). Der Sauerstoff diffundiert schneller ins Blut und die arterielle Sauerstoffsättigung steigt an. Wahl der Applikationsmethode • Die Auswahl orientiert sich am Zustand und der SpO2 des Patienten. Grundsätzliche Empfehlungen: ● Benötigt der Patient einen Flow < 6 l/min, sollte eine Nasenbrille oder Nasensonde verwendet werden. Nasenbrillen werden oft besser toleriert.

Eine Maskenbeatmung wird in vielen Fällen leichter toleriert, wenn sich der Patient die Maske selbst vor das Gesicht hält. Bei Patienten mit COPD, die eine Maskenbeatmung brauchen, sollten wegen des Hyperkapnierisikos Reservoirmasken mit Nichtrückatemventil verwendet werden.

Nasensonde Die Nasen- oder Sauerstoffsonde (▶ Abb. 9.25a) ist ein dünner Schlauch, an dessen Ende ein Schaumstoffkissen angebracht ist. Dieses wird vorsichtig in ein Nasenloch geschoben, die Sonde wird anschließend fixiert. Wegen des engen Lumens der Sonde ist nur ein Flow von 2–4 l/min möglich.

Nasenbrille Die Nasen- oder Sauerstoffbrille besitzt 2 Kanülen, die in die Nasenlöcher des Patienten eingelegt werden. Die Schläuche werden wie eine Brille über die Ohren des Patienten geführt (▶ Abb. 9.25b). Ihr Lumen ist etwas größer, dadurch ist ein Flow von 4–6 l/min möglich. Ein höherer Flow trocknet die Schleimhäute des Nasen-Rachen-Raums aus und wird von den Patienten schlecht toleriert.

! Merke „Mund halten“

Erhält ein Patient Sauerstoff über eine Nasensonde oder -brille, sollte er den Mund geschlossen halten, damit der eingeatmete Sauerstoff nicht teilweise über den Mund entweicht. Achten Sie darauf, ob dies dem Patienten möglich ist!

Gesichtsmaske Einfache Maske • Die Gesichts- oder Sauerstoffmaske wird vor Mund und Nase gehalten oder mit einem Gummiband um den Kopf fixiert. Beim Einatmen wird Umgebungsluft über seitliche Löcher in der Maske angesaugt, die sich mit dem zugeleiteten O2 vermischt. Die Ausatemluft entweicht ebenfalls über diese Löcher. Der Flow muss mind. 6 l/min betragen, da sich sonst das ausgeatmete CO2 in der Maske sammelt und rückgeatmet wird. Der maximal wirksame Flow liegt bei 10 l/min. Maske mit Reservoir • An die Maske wird ein vorab mit Sauerstoff gefüllter Reservoirbeutel (Atembeutel) angeschlossen (▶ Abb. 9.25c). So wird gewährleistet, dass die FiO2 auch bei tiefer Einatmung hoch ist. Allerdings muss dazu die Maske dicht auf dem Gesicht des Patienten aufsitzen. Auch bei die-

Abb. 9.25 Sauerstoffapplikation bei selbstständig atmenden Patienten.

a

a Sauerstoffsonde. b Sauerstoffbrille. c Sauerstoffmaske mit Reservoir. Fotos: © K. Oborny/Thieme

218

b

c

Sauerstofftherapie und Beatmung sen Masken besteht die Gefahr, dass sich CO2 in der Maske ansammelt (Mindest-Flow: 6 l/min). Maske mit Nichtrückatemventil • Diese Maske besitzen zusätzlich ein Ventil am Reservoirbeutel: Der Sog bei der Einatmung bewirkt, dass der Patient das Gasgemisch mit hoher O2-Konzentration aus dem Reservoir einatmet. Bei der Ausatmung entweicht die ausgeatmete Luft in die Umgebung. Dies verhindert die Zumischung von CO2 in die Einatemluft und die FiO2 steigt an. Der Flow muss so hoch sein, dass das Reservoir bei der Inspiration ausreichend gefüllt ist.

Beatmungsmaske mit Demand-Ventil Einsatzbereiche und Vorteile • Diese Applikationsart erlaubt eine FiO2 von fast 100 % und ist sowohl für spontan atmende Patienten als auch für eine Beutel-Masken-Beatmung (S. 220) bei unzureichender oder fehlender Eigenatmung geeignet. Ein weiterer Vorteil ist, dass nur O2 verbraucht wird, wenn der Patient ihn durch die Einatmung „anfordert“ (engl. on demand = auf Anforderung). Funktionsprinzip • Atmet der Patient ein, wird der Druck unter der Maske negativ, das Demand-Ventil öffnet sich und O2 strömt während der gesamten Einatmung in die Maske. Sobald kein Unterdruck mehr herrscht, also der Patient nicht mehr einatmet, schließt sich das Ventil. Das Demand-Ventil wird über eine spezielle Hochdruckleitung und einen separaten Adapter an eine tragbare O2-Flasche oder die Bordversorgung im Rettungswagen angeschlossen und auf die Beatmungsmaske gesteckt. Für eine optimale Funktion muss die Maske sehr dicht auf dem Gesicht des Patienten sitzen. Verwendung bei der Beutel-Masken-Beatmung • Schließen Sie das Demand-Ventil an den Beatmungsbeutel an. Das Ventil öffnet sich durch den negativen Druck im zusammengedrückten Beatmungsbeutel nach jeder Beatmung und der Beutel füllt sich mit Sauerstoff.

Sicherheitsregeln beim Umgang mit Sauerstoff Sauerstoff ist ein explosives und brandgefährdendes Gas, daher müssen Sie einige Sicherheitsregeln beachten: ● Kein Feuer, Rauchen, Fett oder Öl in der Nähe von O2-Flaschen! ● Schützen Sie O2-Flaschen vor starker Wärme (z. B. Sonneneinstrahlung). ● Halten Sie Ihre Hände fettfrei (Achtung: Handcremes), ggf. waschen. ● Sichern Sie O2-Flaschen gegen Um- und Herabfallen. ● Beachten Sie die TÜV-Fristen und das Verfallsdatum. ● Transportieren Sie O2-Flaschen nur mit verschlossenem Ventilschutz (Flaschenkappe). ● Achten Sie darauf, dass die Ventile immer geschlossen sind, solange kein Sauerstoff entnommen wird. ● Öffnen und schließen Sie die Ventile nur von Hand, auch wenn sie klemmen. ● Machen Sie das System vor einem Flaschenwechsel drucklos, schließen Sie den Druckminderer nur von Hand an. ● Lüften Sie nach einem Aufenthalt in einer möglicherweise O2-angereicherten Atmosphäre sorgfältig: Sauerstoff haftet sehr gut in Kleidung, es besteht Brandgefahr!

RETTEN TO GO Sauerstofftherapie Die O2-Gabe ist im Rettungsdienst situationsbedingt und krankheitsbezogen geregelt. Meistens wird die Dosierung so gewählt, dass eine SpO2von ca. 92–96 % erreicht wird. Im Rettungsdienst werden i. d. R. Sauerstoffflaschen mit 2 l (Notfallrucksack, tragbares Beatmungsgerat) und 10 l Inhalt (fest installierte Geräte) verwendet. Selbstständig atmende Patienten erhalten Sauerstoff über eine Nasensonde, eine Nasenbrille oder eine Gesichtsmaske (ggf. mit O2-Reservoir). Der inspiratorische O2-Anteil (FiO2) ist je nach verwendetem Hilfsmittel sehr unterschiedlich. Die höchste O2-Konzentration wird durch eine Beatmungsmaske mit Demand-Ventil erzielt (FiO2 1,0). Beim Umgang mit Sauerstoff müssen Sie wegen der Explosionsgefahr Sicherheitsregeln beachten, z. B. kein Feuer, Rauchen oder Fett in der Nähe von O2-Flaschen, Schutz der Flaschen vor starker Wärme.

9.3.2 Beatmung Grundlagen Lässt sich durch das Freimachen und Freihalten der Atemwege keine ausreichende Spontanatmung wiederherstellen, muss mit einer künstlichen Beatmung begonnen werden. Manuelle und maschinelle Beatmung • Im Rettungsdienst stehen verschiedene Hilfsmittel wie Beatmungsmasken, Beatmungsbeutel und Intubationssets zur Verfügung. Die Beatmung kann manuell mit einem Beatmungsbeutel (S. 220) oder maschinell durch ein Beatmungsgerät (S. 221) erfolgen. Assistierte und kontrollierte Beatmung • Abhängig vom Grad der Kooperation des Patienten lassen sich folgende Beatmungsformen unterscheiden: ● assistierte Beatmung: Der Atemantrieb des Patienten ist vorhanden, jedoch reicht die Kraft der Atemmuskulatur nicht mehr aus, um wirksame Atemzüge auszuführen (z. B. bei Lungenödem, exazerbierter COPD oder Asthmaanfall). In diesen Fällen ist eine Unterstützung der noch vorhandenen Spontanatmung nötig. Dies reduziert die Atemarbeit und verbessert die Sauerstoffversorgung des Patienten. Im Rettungsdienst erfolgt die assistierte Beatmung in der Regel als nicht invasive Beatmung (s. u.). ● kontrollierte Beatmung: Der Patient atmet nicht selbst (z. B. bei Herz-Kreislauf-Stillstand, in Narkose), die Atemarbeit wird vollständig von einem Helfer oder einem Beatmungsgerät übernommen. Die kontrollierte Beatmung kann sowohl nicht invasiv als auch auf invasiv erfolgen. Nicht invasive und invasive Beatmung ● nicht invasive Beatmung (NIV, noninvasive Ventilation): Die Atemunterstützung bzw. Beatmung des Patienten erfolgt ohne endotracheale Intubation. Die typische Form der Atemunterstützung/Beatmung ist CPAP (continuous positive airway pressure) mittels enganliegender CPAPMasken. Diese Beatmungsform kann mit einer ASB (Assisted Spontaneous Breathing) kombiniert werden, d. h., die Einatembemühungen des Patienten werden bis zu einem eingestellten Druckwert unterstützt. Es ist wichtig, den Patienten kontinuierlich zu beobachten und immer wieder 219

9

Arbeitstechniken und Monitoring



kritisch zu prüfen, ob das angewandte Verfahren nach wie vor indiziert ist oder ob sich im Verlauf sogar Kontraindikationen ergeben haben. Dies erfordert neben einem gut ausgebildeten und erfahrenen Rettungsteam ein umfassendes Monitoring und klinische Beobachtung (Agitationszeichen, Dyspnoe, Atemfrequenz, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur). In folgenden Situationen ist eine NIV nicht möglich (Kontraindikationen für eine NIV): – mangelnde Kooperation des Patienten – fehlende Spontanatmung (z. B. im Herz-Kreislauf-Stillstand) – hochgradige Bewusstseinsstörung – erhöhtes Aspirationsrisiko, z. B. bei Ileus oder gastrointestinaler Blutung – Verletzungen im Gesichtsbereich invasive Beatmung: Die Beatmung wird maschinell oder manuell über einen Endotrachealtubus oder eine SGA (Larynxmaske oder Larynxtubus) durchgeführt. Ist eine NIV nicht möglich, wird zur Überbrückung mit Maske und Beatmungsbeutel beatmet, bis ein Tubus oder eine SGA eingesetzt werden kann.

Erfolgskontrolle • Bei jeder Form der Beatmung ist ein engmaschiges Monitoring erforderlich, um den Erfolg der Maßnahme zu kontrollieren. Neben der kontinuierlichen Beobachtung des Patienten (z. B. thorakale Atembewegungen, Hautfarbe) umfasst das Monitoring u. a. Pulsoxymetrie, Kapnometrie, EKG und RR-Messung sowie bei maschineller Beatmung zusätzlich die Überwachung der Beatmungsparameter des Beatmungsgerätes.

RETTEN TO GO Grundlagen der Beatmung Die Beatmung kann sowohl manuell mit einem Beatmungsbeutel oder maschinell mit einem Beatmungsgerät durchgeführt werden. Je nachdem, ob der Patient noch über einen eigenen Atemantrieb verfügt oder nicht, wird zwischen assistierter und kontrollierter Beatmung unterschieden. Bei der assistierten Beatmung wird die unzureichende Atemarbeit des Patienten unterstützt. Bei der kontrollierten Beatmung übernimmt der Helfer oder das Gerät die gesamte Atemarbeit. Bei der nicht invasiven Beatmung (NIV) unterstützt das Beatmungsgerät die Atemarbeit des Patienten, was den Einsatz einer enganliegenden CPAP-Maske erfordert. Außerdem muss der Patient ausreichend kooperativ sein und spontan atmen. Die invasive Beatmung wird manuell oder maschinell über einen Endotrachealtubus, einen Larynxtubus oder eine Larynxmaske durchgeführt. Der Erfolg der Beatmung wird durch die Beobachtung des Patienten, das Monitoring (u. a. Pulsoxymetrie, Kapnometrie, EKG, RR) und die Überwachung der Beatmungsparameter kontrolliert.

Manuelle Beatmung mit Beatmungsbeutel Material • Der Beatmungsbeutel ist ein Hilfsmittel für die manuelle Beatmung. Er besteht aus einem elastischen Beutel, der für die Beatmung mit der Hand zusammengedrückt wird, verschiedenen Ventilen und einem Ansatzstück für eine Beatmungsmaske, einen Endotrachealtubus oder eine supraglottische Atemwegshilfe. Beatmungsbeutel gibt es mit unterschiedlichen Volumina (1500 ml für Erwachsene, 500 ml für 220

Kinder und 250 ml für Säuglinge). Auch die Masken sind in verschiedenen Größen erhältlich Durchführung einer Beutel-Masken-Beatmung 1. Lagern Sie den Patienten flach (ggf. Kissen unter dem Kopf entfernen), der Kopf ist leicht überstreckt (Ausnahme: Neugeborene und Säuglinge in „Schnüffelposition“, ▶ Abb. 13.15). 2. Wählen Sie eine für den Patienten geeignete Maskengröße: Die Maske sitzt gut, wenn ihr oberer Rand auf der Nasenwurzel und ihr unterer Rand zwischen Unterlippe und Kinnspitze aufliegt. 3. Verbinden Sie die Maske mit dem Beatmungsfilter und dem Beatmungsbeutel, ggf. unter Verwendung einer „Gänsegurgel“ als Verlängerung. 4. Positionieren Sie sich hinter den Kopf des Patienten. 5. Legen Sie bei bewusstlosen Personen einen Guedel-Tubus (S. 210) ein, um den Zungengrund zu sichern. 6. Legen Sie die Beatmungsmaske mit Daumen und Zeigefinger im C-Griff (▶ Abb. 9.26) auf das Gesicht und pressen Sie sie fest an – Nase und Mund müssen bedeckt sein. Ziehen Sie mit den übrigen Fingern den Unterkiefer nach oben, sodass das Kinn an den unteren Rand der Maske gepresst wird. Drücken Sie dabei nur auf knöcherne Strukturen! 7. Nun drückt eine assistierende Person (oder notfalls Sie selbst mit der anderen Hand) den Beutel langsam und gleichmäßig zusammen und lässt ihn dann wieder zügig aus. Drücken Sie den Beutel nie vollständig aus: Ein Beatmungshub soll bei einem Erwachsenen ein Volumen von ca. 500–800 ml haben. Höhere Volumina können den Magen überblähen (s. u.). Warten Sie die völlige Entfaltung des Beutels ab, bevor Sie erneut beatmen. 8. Beginnen Sie mit der Beatmung: – assistierte Beatmung: Unterstützen Sie die Einatembewegung des Patienten, indem Sie den Beutel während der Inspiration komprimieren. – kontrollierte Beatmung: Sie selbst geben die Atemfrequenz vor: – Erwachsene 10 Atemzüge/min – Kinder 20–30 Atemzüge/min – Säuglinge 40–50 Atemzüge/min 9. Schließen Sie über das Sauerstoffventil eine Sauerstoffeinheit an (Flow: 15 l/min) an, um die FiO2 zu erhöhen. Durch die Verwendung eines Demand-Ventils (S. 219) könne Sie die FiO2 auf fast 1,0 erhöhen. Häufige Probleme Undichtigkeit der Maske (z. B. bei Patienten mit Vollbart, zahnlosen Patienten): Die 2-Helfer-Technik kann hilfreich sein: Helfer 1 drückt die Maske mit beiden Händen (doppelter C-Griff) auf das Gesicht, während Helfer 2 den Beatmungsbeutel komprimiert (nur mit einer Hand!). Auch die Verwendung einer kleineren Maske kann Abhilfe schaffen. ● Verlegung der Atemwege: Sie spüren bei der Beatmung einen hohen Gegendruck oder Sie sehen keine Thoraxbewegungen? Prüfen Sie, ob ein A-Problem (S. 208) besteht und beheben Sie ggf. die Verlegung. ● schlechte Lagerung des Patienten: Im Verlauf der Beatmung kann der Kopf des Patienten verrutschen. Positionieren Sie ggf. den Kopf neu. ● falsche Beatmungstechnik: Achten Sie auf die korrekte Frequenz, die korrekte Geschwindigkeit und das korrekte Volumen. Häufiges Üben hilft! ●

Sauerstofftherapie und Beatmung Abb. 9.26 Beutel-Masken-Beatmung. a 1-Helfer-Methode: Mit einer Hand fixieren Sie die Maske mit einfachem C-Griff (Daumen der einen Hand oberhalb und Zeigefinger unterhalb des Beutelanschlusses), mit der anderen Hand bedienen Sie den Beatmungsbeutel. b 2-Helfer-Methode: Ein Helfer fixiert die Maske mit doppeltem C-Griff. Der andere Helfer bedient den Beatmungsbeutel – gedrückt wird aber nur mit einer Hand! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

Erfolgskontrolle • Beim Betätigen des Beutels sollte sich der Brustkorb heben und beim Loslassen wieder absenken. Es sollten keine Geräusche hörbar sein, die auf eine undichte Stelle zwischen Beutel und Maske hinweisen – prüfen Sie ggf. den Sitz der Maske.

Abb. 9.27 Notfallrespirator.

Aspirationsgefahr • Bei der Beutel-Masken-Beatmung wird die Luft mit Überdruck in den Patienten gedrückt. Insbesondere bei einem zu hohen Druck oder einem zu großen Atemhubvolumen kann Luft in den Magen gelangen. Bei einer Magenüberblähung besteht die Gefahr von Erbrechen und Aspiration. Solange der Patient nicht intubiert ist, ist er nicht vor Aspirationen geschützt – eine Beutel-Masken-Beatmung sollte daher nur zeitlich begrenzt als überbrückende Maßnahme durchgeführt werden.

RETTEN TO GO Beutel-Masken-Beatmung Der Beatmungsbeutel ist ein Hilfsmittel für die manuelle assistierte oder kontrollierte Beatmung. Er wird in Kombination mit einer Gesichtsmaske eingesetzt oder direkt auf eine SGA oder einen Endotrachealtubus gesteckt. Bei der Beutel-Masken-Beatmung wird die Gesichtsmaske mittels C-Griff über Mund und Nase angepresst und mit der anderen Hand der Beutel komprimiert. Bei der 2Helfer-Technik fixiert Helfer 1 die Maske mit dem doppelten C-Griff, während Helfer 2 den Beatmungsbeutel bedient. Achten Sie auf die richtige Beatmungstechnik! Für Erwachsene gilt: 500–800 ml pro Hub, ca. 10–12 Hübe/ min, Beutel langsam und nicht vollständig ausdrücken. Eine erfolgreiche Beatmung ist u. a. an beatmungssynchronen Thoraxbewegungen erkennbar.

Maschinelle Beatmung mit einem Notfallrespirator Eine maschinelle Beatmung mit einem mobilen Beatmungsgerät, dem Notfallrespirator (▶ Abb. 9.27), ist sowohl als nicht invasive Beatmung (NIV) als auch bei intubierten Patienten möglich. Die Geräte pressen das Atemgas in die Lunge des Patienten (Überdruckbeatmung).

Der Notfallrespirator ist ein kompaktes, leicht zu transportierendes Beatmungsgerät, das im Rettungsdienst und in Notaufnahmen eingesetzt wird. Foto: © K. Oborny/Thieme Beatmungsparameter • ▶ Tab. 9.4 zeigt die Parameter, die sich üblicherweise an Notfallrespiratoren einstellen lassen. Beatmung mit PEEP • Bei einer Beatmung mit PEEP (positiver endexspiratorischer Druck) wird am Ende der Ausatmung (Exspiration) ein positiver Druck in den Atemwegen aufrechterhalten. Dieser Überdruck wird in mbar (oder cm H2O) angegeben und durch das Beatmungsgerät gesteuert oder durch ein PEEP-Ventil erzeugt, das an den Ausatemschenkel des Beatmungsbeutels oder des Beatmungsgeräts angeschlossen wird. Der PEEP verbessert den Gasaustausch in der Lunge und damit die Oxygenierung des Blutes, zudem vermindert er einen Kollaps der Lungenbläschen während der Ausatmung. Eine Beatmung mit PEEP kann allerdings bei einigen Patienten ungünstige Kreislaufeffekte haben (Abnahme des venösen Rückstroms zum Herzen und des Herzzeitvolumens), weshalb die Indikation von ärztlicher Seite gestellt wird. Typische Indikationen sind ein Polytrauma, schwerwiegende Lungenschädigungen, ein Lungenödem, ein Zustand nach Reanimation oder ein Ertrinkungsunfall. CPAP-Beatmung • CPAP (continuous positive airway pressure) ist ein nicht invasives, maschinelles Beatmungsverfahren, das für spontan atmende Patienten infrage kommt. Während der In- und während der Exspiration herrscht ein positiver Druck, was den Gasaustausch in der Lunge verbessert. Allerdings 221

9

Arbeitstechniken und Monitoring

Tab. 9.4 Grundeinstellungen von Notfallrespiratoren. Parameter

Grundeinstellung

Atemfrequenz (AF)

14–16/min (Erwachsene) 20–30/min (Kinder) 40–50/min (Säuglinge)

Atemzugvolumen (AZV, ▶ Tab. 3.4) = Tidalvolumen

6–8 ml/kg KG (bezogen auf Idealgewicht)

Atemminutenvolumen (AMV) = AF × AZV

ca. 100–120 ml/kg/min

FiO2 (Anteil von O2 am Gasgemisch)

initial 1,0 (100 %), im Verlauf reduzieren auf < 0,6 (< 60 %)

Atemzeitverhältnis (I:E-Verhältnis): Dauer der Einatmung (I) im Verhältnis zur Ausatmung (E)

Standardeinstellung: 1:1,5–1:2 bei obstruktiver Ventilationsstörung (z. B. COPD): verlängerte Ausatmungsphase, 1:2–1:2,5

PEEP

0–10 mbar

Spitzendruck (maximaler Beatmungsdruck)

möglichst < 30 mbar

Beatmungsform

kontrolliert (Beatmungsgerät übernimmt komplett die Atemarbeit) oder assistiert (Beatmungsgerät unterstützt die Eigenatmung des Patienten)

gibt es keine inspiratorische Druckunterstützung, der Patient muss die gesamte Atemarbeit selbst leisten. Der positive Druck wird durch die PEEP-Einstellung des Respirators erzeugt. Typische Anwendungssituationen sind ein kardiales Lungenödem (S. 268), eine Lungenentzündung (S. 267) oder eine akut exazerbierte COPD (S. 266).

RETTEN TO GO Maschinelle Beatmung mit einem Notfallrespirator Mobile Beatmungsgeräte (Notfallrespiratoren) pressen das Atemgas in die Lunge des Patienten. Sie sind sowohl für eine NIV als auch für eine invasive Beatmung geeignet. An den Geräten werden u. a. folgende Parameter eingestellt: Atemfrequenz, Atemzugvolumen, Atemminutenvolumen, Atemzeitverhältnis, FiO2, PEEP, Spitzendruck und Beatmungsform. ● Bei einer Beatmung mit PEEP (positiver endexspiratorischer Druck) wird am Ende der Ausatmung ein positiver Druck in den Atemwegen aufrechterhalten. Dies verbessert den Gasaustausch in der Lunge und sorgt somit für eine bessere Oxygenierung des Blutes. ● CPAP (continuous positive airway pressure) ist ein nicht invasives, maschinelles Beatmungsverfahren, das für spontan atmende Patienten infrage kommt. Sowohl während der In- als auch während der Exspiration herrscht ein positiver Druck, was den Gasaustausch in der Lunge verbessert.

9.4 Injektionen und Infusionen 9.4.1 Vorbereiten von Injektionen Ampullen • Im Rettungsdienst werden Injektionslösungen meist aus einer Ampulle in eine Spritze aufgezogen: ● Kunststoffampullen, meist für Trägerlösung (z. B. 10 ml NaCl 0,9 %) ● Glasampullen (Brechampullen) zum Aufbrechen ● Stechampullen (Durchstechflaschen) mit Gummistopfen Fertigspritzen mit bereits aufgezogenem Arzneimittel, Spritzenstempel und Injektionsnadel werden präklinisch kaum 222

angewendet. Zur Injektion eines Medikaments aus einer Fertigspritze genügt es meist, diese auszupacken und die Nadelschutzkappe zu entfernen. Materialien • Sie müssen folgende Materialien vorbereiten und auf Unversehrtheit prüfen: ● richtiges Medikament: Ist die Ampulle unversehrt? Ist das Verfallsdatum nicht überschritten? Ist der Inhalt weder trüb noch ausgeflockt? Manche Ampullen bestehen aus gefärbtem Glas (Lichtschutz), hier kann die Beurteilung des Inhalts schwierig sein. ● mehrere Tupfer ● Spritze: Inhaltsvolumen = Volumen des Medikaments oder des Medikaments + Verdünnung ● Aufziehkanüle(n), bei Stechampullen je nach Medikament auch Entnahmespike ● Injektionskanüle passend zur Injektionsart (sofern das Medikament nicht über einen peripheren Venenzugang oder in eine Infusion gegeben wird) ● Abwurfbehälter Hygiene • Eine strikte Händehygiene ist wichtig: Führen Sie vorab eine hygienische Händedesinfektion durch und tragen Sie immer Handschuhe. Sicherheitsregeln • Überprüfen Sie vor dem Öffnen des Medikaments nach dem 4-Augen-Prinzip die Richtigkeit: ● Richtiger Wirkstoff? ● Vorgesehene Applikationsart? ● Korrekte Zubereitung (unverdünnt oder gelöst, ggf. korrekte Trägerlösung)? ● Korrekte Dosierung für den jeweiligen Patienten? Auch die 8-R-Regel (▶ Abb. 4.3) kann hier hilfreich sein.

Glasampullen Glasampullen (Brechampullen) sind die häufigste Ampullenform im Rettungsdienst. Sie ähneln Glasfläschchen. Der „Flaschenhals“ hat eine durch einen farbigen Punkt oder Ring gekennzeichnete Sollbruchstelle, an der Sie sie in eine definierte Richtung aufbrechen können. Hier besteht eine Verletzungsgefahr für den Anwender!

Injektionen und Infusionen Abb. 9.28 Aufziehen eines Medikaments aus einer Glasampulle. MedikaAbwurfTupfer Spritze Kanüle ment behälter

a

b

c

d

e

f

Beachten Sie unbedingt eine sterile Arbeitsweise: Desinfizieren Sie vorab Ihre Hände und tragen Sie Handschuhe. a Legen Sie das Material bereit. b Umfassen Sie den Ampullenkopf mit einem Tupfer und brechen Sie ihn an der Sollbruchstelle ab. c Stecken Sie die Aufziehkanüle unter sterilen Bedingungen auf die Spritze. d Ziehen Sie die Injektionslösung auf. e Entsorgen Sie die Aufziehkanüle in einem sicheren Kanülenabwurfbehältnis. f Entfernen Sie die Luft aus der Spritze und setzen Sie einen Stopfen oder eine Injektionskanüle auf. Fotos: © K. Oborny/Thieme

ACHTUNG Beim Aufbrechen von Glasampullen besteht die Gefahr von Schnittverletzungen durch die scharfe Kante. Verwenden Sie zum Abbrechen einen Tupfer oder einen speziellen Ampullenöffner. Aufziehen aus einer Glasampulle • ▶ Abb. 9.28 1. Befinden sich Teile des Inhalts im Ampullenkopf, klopfen Sie diese vorsichtig zurück in den Ampullenkörper. 2. Umfassen Sie den Ampullenkopf mit einem Tupfer und brechen Sie ihn an der vorgesehen Stelle ab (Markierung beachten). Der Tupfer soll Ihre Finger vor Verletzungen durch die scharfe Glaskante schützen. 3. Setzen Sie (unter Beachtung der Sterilität) die Aufziehkanüle auf die Spritze und entfernen Sie die Schutzkappe. 4. Ziehen Sie den kompletten Inhalt der Glasampulle in die Spritze auf. Achten Sie darauf, dass Sie mit der Spritze nicht die Außenseite der Ampulle berühren. 5. Entsorgen Sie die Aufziehkanüle umgehend in ein sicheres Kanülenabwurfbehältnis. 6. Entfernen Sie Luft aus der Spritze und setzen Sie einen Stopfen oder eine Injektionskanüle auf die Spritze, passend zur Applikationsform (z. B. intramuskulär, subkutan). Belassen Sie die Schutzkappe auf der Kanüle. 7. Beschriften Sie die Spritze immer mit Wirkstoff und Dosierung bzw. kleben Sie einen entsprechenden Aufkleber auf (▶ Abb. 4.5). 8. Reichen Sie die Spritze dem NotSan oder NA unter Nennung von Wirkstoff und Dosierung an (z. B. „eine Ampulle Urapidil 25 mg. 5 mg pro Milliliter“). Verdünnung von Medikamenten • Zum einfacheren Applizieren einer bestimmten Dosis werden manche Medikamente mit einer Trägerlösung (i. d. R. NaCl 0,9 %) verdünnt. Beachten Sie dies bei der Wahl der Spritzengröße.

Fallbeispiel Verdünnen eines Medikaments Sie sollen 1 Ampulle des Opioids Piritramid auf eine Verdünnung von 1 mg/ml aufziehen. Auf der Ampulle steht: „15 mg pro 2 ml“. 1. Nehmen Sie eine 20-ml-Spritze und ziehen Sie 13 ml eines Verdünnungsmittels (z. B. NaCl 0,9 %) auf. 2. Belassen Sie die Aufziehkanüle auf der Spritze und ziehen Sie 2 ml des Medikaments in die gleiche Spritze auf. 3. Es befinden sich nun 15 ml in der Spritze, 1 mg Wirkstoff pro Milliliter. 4. Verwerfen Sie die Aufziehkanüle und kennzeichnen Sie die Spritze entsprechend (Piritramid 15 mg. 1 mg/ml).

Stechampullen Synonym • Durchstechflaschen Aufziehen aus einer Stechampulle • ▶ Abb. 9.29 1. Entfernen Sie den Verschluss (Metall- oder Plastikdeckel). Der nun sichtbar werdende Gummistopfen verbleibt auf der Ampulle. 2. Ob der Gummistopfen desinfiziert werden sollte oder nicht, ist umstritten. Bei Desinfektion: Sprühen Sie den Stopfen mit einem geeigneten alkoholischen Desinfektionsmittel satt ein, wischen Sie ihn mit einem sterilen Tupfer kurz ab und sprühen Sie erneut ein. Lassen Sie das Desinfektionsmittel gemäß Herstellerangaben einwirken. 3. Durchstechen Sie mit dem Entnahmespike den Gummistopfen und entnehmen Sie die benötigte Menge des Medikaments. Wird eine Entnahmekanüle verwendet, können Sie Schwierigkeiten beim Aufziehen beheben, wenn Sie vor dem Aufziehen etwa die gleiche Menge Luft in die 223

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.29 Aufziehen aus einer Stechampulle mit Entnahmespike.

a

b

Stechampullen bestehen meistens aus Glas. Ein Gummistopfen mit Durchstichgummi („Septum“) schützt den Inhalt vor Kontamination. Das Durchstichgummi wiederum ist von einer äußeren Krampe aus Kunststoff oder Aluminiumblech umschlossen. Die Wirkstoffe liegen oft in Pulverform vor und müssen vor dem Aufziehen aufgelöst werden. Für manche Substanzen sind Kunststoffampullen verfügbar, deren Handhabung einfacher und ungefährlicher ist. a Entfernen Sie den Deckel der Stechampulle. b Stechen Sie den Entnahmespike ein. c Entnehmen Sie die gewünschte Menge des Medikaments. d Beschriften Sie die Spritze eindeutig. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

Ampulle einspritzen: Dadurch entsteht ein Überdruck in der Ampulle, der das Medikament in die Spritze drückt. 4. nach dem Aufziehen: Verschließen Sie den Entnahmespike bzw. werfen Sie die Entnahmekanüle in den Abwurfbehälter. Stecken Sie die Injektionskanüle auf die Spritze. 5. Beschriften Sie die Spritze und reichen Sie das Medikament dem NA bzw. NotSan an.

ACHTUNG Auch wenn es verschwenderisch erscheint: Verwenden Sie angefangene Stechampullen niemals für mehrere Patienten, sondern verwerfen Sie sie. Sollen für denselben Patienten einzelne Dosen mehrfach steril entnommen werden, wird ein Mehrfachentnahmeadapter (Entnahmespike) verwendet: Dies ist eine Entnahmekanüle aus Plastik mit Luftfilter, der eine Kontamination des Ampulleninhalts mit Raumluft-Keimen verhindert.

Aufziehen und Mischen von Trockensubstanzen Sind sowohl die Trockensubstanz als auch das Lösungsmittel in Glasampullen abgefüllt, führen Sie das Aufziehen und Mischen in folgenden Schritten durch (▶ Abb. 9.30): 1. Befördern Sie ggf. vorhandenes Pulver oder Lösung vom Ampullenkopf durch Beklopfen in den Ampullenkörper. 2. Brechen Sie beide Ampullenköpfe mithilfe eines Tupfers an den farblichen Markierungen ab. 3. Wählen Sie die passende Spritzengröße und setzen Sie die Aufziehkanüle auf. 4. Ziehen Sie das Lösungsmittel auf und spritzen Sie es vorsichtig (!) in die Trockensubstanzampulle. Berühren Sie dabei die Außenseite der Kanüle nicht. 224

5. Entsorgen Sie die Aufziehkanüle im Abwurfbehälter. 6. Schwenken Sie die Ampulle mit dem Trockensubstanz-Lösungsmittel-Gemisch vorsichtig, bis sich die Trockensubstanz vollständig aufgelöst hat. Schütteln Sie die Ampulle keinesfalls, da sich sonst Schaum bildet. 7. Ziehen Sie das gelöste Gemisch mit einer neuen Aufziehkanüle in die Spritze auf. 8. Verwerfen Sie die Aufziehkanüle und stecken Sie die Injektionskanüle bzw. einen Stopfen auf die Spritze. 9. Beschriften Sie die Spritze und reichen Sie diese an.

RETTEN TO GO Vorbereiten von Injektionen Im Rettungsdienst werden Injektionslösungen meistens aus einer Ampulle (Kunststoff-, Glas- oder Stechampulle) in eine Spritze aufgezogen. Vor der Injektion müssen Sie alle Materialien vorbereiten: Abwurfbehälter, Spritze, Aufziehkanüle bzw. Entnahmespike, Injektionskanülen, Ampulle mit Medikament, Tupfer. Zum Öffnen einer Glasampulle (Brechampulle) brechen Sie den Ampullenkopf an der Sollbruchstelle auf. Stechampullen sind mit einem Gummistopfen verschlossen, den Sie zur Entnahme der Injektionslösung mit der Aufziehkanüle durchstechen. Angefangene Stechampullen dürfen niemals für mehrere Patienten verwendet werden. Trockensubstanzen werden vor der Injektion mit dem geeigneten Lösungsmittel vermischt. Dazu spritzen Sie das Lösungsmittel in die Trockensubstanzampulle und schwenken die Ampulle vorsichtig, bis sich die Trockensubstanz vollständig aufgelöst hat.

Injektionen und Infusionen Abb. 9.30 Mischen von Trockensubstanzen und Aufziehen.

a

Trockensubstanzen müssen vor der Injektion mit dem geeigneten Lösungsmittel vermischt werden. Meist befinden sich die Trockensubstanz- und die Lösungsmittelampulle in einer Verpackungseinheit. a Öffnen Sie zunächst beide Ampullen durch Abbrechen der Köpfe. b Ziehen Sie das Lösungsmittel mit einer Aufziehkanüle aus der Ampulle auf. c Geben Sie das Lösungsmittel vorsichtig zur Trockensubstanz. Verwerfen Sie die Aufziehkanüle. d Lösen Sie die Trockensubstanz durch Schwenken der Ampulle. e Entnehmen Sie das gelöste Gemisch mit einer neuen Aufziehkanüle. Verwerfen Sie anschließend die Kanüle. f Versschließen Sie die Spritze mit einem Stopfen oder einer Injektionskanüle und beschriften Sie sie eindeutig.

b

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

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f

9.4.2 Periphere Venenpunktion



Grundprinzip • Venenverweilkanülen bestehen aus einem flexiblen Kunststoffschlauch. In diesem befindet sich eine Metallkanüle (Stahlmandrin), deren Spitze aus dem Kunststoffschlauch herausragt. Der Stahlmandrin dient als Einstichhilfe und wird nach der Venenpunktion entfernt. Anschließend kann eine Infusion angeschlossen werden. Wird der Zugang vorübergehend nicht benötigt, kann ein Kunststoffmandrin eingeführt werden. Dieser verhindert, dass die Kanüle durch zurückfließendes Blut verstopft wird. In der Regel werden Sicherheitssysteme zum Schutz vor Nadelstichverletzungen vorgehalten (▶ Abb. 9.31).



Materialien ● Einweghandschuhe in passender Größe ● Venenverweilkanüle in geeigneter Größe und entsprechend der Indikation (▶ Tab. 9.5, ▶ Abb. 9.31) ● Hautdesinfektionsmittel ● Stauband oder RR-Manschette ● sterile Tupfer ● Material zum Fixieren (Pflaster, Rollbinde)





vorbereitete Infusion oder Kunststoffmandrin Abwurfbehälter evtl. vorbereiteter Dreiwegehahn (bereits luftleer) evtl. Blutentnahmeset für die Zielklinik

Geeignete Punktionsstellen • Gut geeignet sind v. a. die Venen am Handrücken oder an der Innenseite des Unterarms. Alternativen (z. B. bei schwierigen Venenverhältnissen oder Trauma der oberen Körperhälfte) sind die V. jugularis externa am Hals oder Venen am Fußrücken oder im Knöchelbereich. Bei Säuglingen eignen sich zusätzlich Venen unter der Kopfhaut (bei schreienden Kindern besser sichtbar!). Allerdings sollte zur Stressvermeidung bei Kindern nach Möglichkeit eine weniger invasive Applikationsform (z. B. rektal, nasal) gewählt werden. Kontraindikationen • Absolute Kontraindikationen für die Anlage eines i. v.-Zugang sind z. B. massive Weichteil- oder Gefäßverletzungen an derselben Extremität proximal (rumpfwärts), Entzündungen im Punktionsgebiet und der Shuntarm von Dialysepatienten. Relative Kontraindikationen sind die Anlage an der gelähmten Extremität nach einem 225

9

Arbeitstechniken und Monitoring Schlaganfall und der Zustand nach einer radikalen Operation eines Mammakarzinoms auf der gleichen Körperseite.





Vorbereitung • Als RS assistieren Sie dem NotSan oder NA bei der peripheren Venenpunktion. Treffen Sie folgende Vorbereitungen (▶ Video 9.3): ● Legen Sie das benötigte Material übersichtlich bereit. Die meisten Rettungsdienstbereiche haben ein bereits fertiges, kompaktes Set, verpackt in einer Nierenschale. Abb. 9.31 Venenverweilkanülen.

Links im Bild und vergrößerter Bildausschnitt: Stahlmandrin mit Sicherheitssystem. Beim Zurückziehen umschließt die Metallklammer die Mandrinspitze und schützt so vor Kanülenstichverletzungen. Weiter von links nach rechts: Venenverweilkanülen in unterschiedlichen Größen. Fotos: © K. Oborny/Thieme



Bereiten Sie die Blutentnahmeröhrchen für die Klinik vor, konnektieren Sie ggf. notwendige Adapter. Bereiten Sie eine Infusion zur Anlage vor (s. u.). Bereiten Sie ein Blutzuckermessgerät vor: Aus dem im Stahlmandrin befindlichen Blut kann der Blutzucker bestimmt werden.

Durchführung • ▶ Video 9.4 1. Der Punktierende (NotSan oder NA) klärt den Patienten über die geplante Punktion auf, legt eine venöse Stauung an und sucht eine geeignete Punktionsstelle. Zur besseren Venenfüllung kann die Punktionsstelle leicht beklopft und die Extremität tief gelagert werden. Zudem hilft es, wenn der Patient die Faust öffnet und schließt. 2. Sie reichen dem Punktierenden das Hautdesinfektionsmittel an. Das Areal wird satt eingesprüht, mit einem sterilen Tupfer einmal abgewischt und erneut benetzt. 3. Auf Aufforderung reichen Sie dem Punktierenden die Venenverweilkanüle in gewünschter Größe an (ggf. Verpackung geöffnet, Flügel bereits nach unten geklappt). 4. Der Punktierende spannt die Haut mit der darunter sichtbaren Vene. Die Punktion erfolgt nun entweder indirekt (erst neben der Vene in die Haut, dann in die Vene) oder direkt (Stich direkt durch die Haut in die Vene). 5. Ist die Punktion erfolgreich, fließt Blut durch den Stahlmandrin in die Kammer der Kanüle. Die Kanüle wird noch ein wenig weiter vorgeschoben, damit auch die umliegende Kunststoffkanüle sicher in der Vene liegt. 6. Jetzt wird der Stahlmandrin fixiert und die Kunststoffkanüle komplett in die Vene vorgeschoben. 7. Anschließend wird die venöse Stauung geöffnet und der Stahlmandrin komplett entfernt. Dabei können Sie be-

Tab. 9.5 Verschiedene Venenverweilkanülen (am Beispiel Vasofix® der Firma Braun) Farbcode

Außendurchmesser*

Stichlänge

Durchflussrate

Verwendung

blau

22 G

0,9 mm

25 mm

36 ml/min

20 G

1,1 mm

33 mm

61 ml/min

Kinder und schlechte Venenverhältnisse bei Erwachsenen

rosa grün

18 G

1,3 mm

45 mm

96 ml/min

weiß

17 G

1,5 mm

45 mm

128 ml/min

grau

16 G

1,7 mm

50 mm

196 ml/min

orange

14 G

2,2 mm

50 mm

343 ml/min

Erwachsene

Volumengabe

*G (Gauge-Zahl): Maßeinheit für den Außendurchmesser. Beachte: Je höher der G-Wert, desto kleiner ist der Außendurchmesser.

226

Video 9.3 Vorbereiten einer peripheren Venenpunktion.

Video 9.4 Durchführen einer peripheren Venenpunktion.

Über die Vorbereitung einer peripheren Venenpunktion gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Über die Durchführung einer peripheren Venenpunktion gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Injektionen und Infusionen hilflich sein, indem Sie die Vene am Ende der Kunststoffkanüle abdrücken, damit kein Blut austritt. 8. Der Punktierende fixiert die Venenverweilkanüle mit einem speziellen Pflaster und führt ggf. eine Blutentnahme durch. Parallel führen Sie an dem in der Kammer befindlichen Blutstropfen eine Blutzuckermessung durch. 9. Reichen Sie die vorbereitete Infusion an. 10. Prüfen Sie die korrekte venöse Lage (Infusion läuft problemlos, keine Schwellung, kein Schmerz, keine pulsierende Blutsäule). Komplikationen der peripheren Venenpunktion • Eine häufige Komplikation ist eine Fehlpunktion bzw. Fehllage der Kunststoffkanüle. Auch im weiteren Verlauf kann der Zugang beim Umlagern des Patienten (z. B. im Pflegeheim vom Bett auf die Trage) verrutschen oder „gezogen“ werden. Fixieren Sie daher den Zugang unbedingt ausreichend! Gelangt der infundiererte bzw. injizierte Wirkstoff in das umliegende Gewebe (Paravasat), schwillt das Gewebe proximal des Zugangs an. Durch eine Blutung aus dem verletzten Gefäß kann sich ein Hämatom bilden. Wird eine Vene durchstochen („Vene geplatzt“) bzw. eine Fehllage der Kanüle bemerkt, muss der Punktionsversuch sofort beendet und die venöse Stauung geöffnet werden. Legen Sie Tupfer und Verbandmaterial bereit: Unmittelbar nach Entfernen der Kanüle können starke Blutungen entstehen, v. a. bei antikoagulierten Patienten. Die Kanüle wird entfernt und die Punktionsstelle für mehrere Minuten komprimiert (manuell, mit Druckverband oder Stauband). Ein erneuter Punktionsversuch wird entweder an derselben Extremität weiter proximal (weiter zum Körperstamm hin) oder an der anderen Extremität unternommen. Eine mitunter schwere Komplikation ist eine arterielle Fehlpunktion (am häufigsten in der Ellenbeuge): Mögliche Hinweise sind ein pulsierender Blutrückfluss (Achtung: z. B. im Schock nicht sehr ausgeprägt), ein anhaltender Punktionsschmerz, der sich nach distal in die Extremität fortsetzt, und evtl. ein Abblassen der Extremität. Bereits bei einem entsprechenden Verdacht muss die Maßnahme sofort abgebrochen und die Kanüle entfernt werden. Die Einstichstelle muss im Anschluss komprimiert werden. Wurde versehentlich ein Medikament intraarteriell verabreicht, muss die Kanüle liegen bleiben, damit ggf. gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen werden können.

ACHTUNG Vorsicht bei Punktionen in der Ellenbeuge: Hier ist die Gefahr einer arteriellen Punktion aufgrund der anatomischen Verhältnisse besonders groß. Zudem können die Punktion selbst und die dort befindliche Venenverweilkanüle dem Patienten sehr unangenehm sein. Besonderheiten bei Kindern • Denken Sie grundsätzlich bei Kindern immer daran, besonders einfühlsam vorzugehen, Ruhe und Vertrauen auszustrahlen und die Eltern in die Versorgung einzubeziehen. Probleme speziell bei der i. v.-Punktion bereiten „unkooperative“, verängstigte Kinder sowie die Gewebebeschaffenheit („Speckärmchen“) mit kaum sichtbaren Venen. Wurde eine geeignete Punktionsstelle gefunden, sollten Arm, Bein oder Kopf des Kindes gegen Abwehrmanöver gut fixiert werden (hier können Eltern äußerst hilfreich sein!). Zur Verringerung des Punktionsschmerzes gibt es zwar diverse Pflaster (z. B. EMLA®-Pflaster), diese sind im Rettungsdienst jedoch nicht verbreitet, da eine Einwirkdauer von bis zu 30 min einzuhalten ist. Statt mit einem Stauband kann oft mit der Hand gestaut werden. Kopfvenen werden durch Druck auf die nach proximal

Tab. 9.6 Venenverweilkanülen für Kinder. Alter

Größe

Farbe

Neugeborene

26 G

lila

Säuglinge (bis 1 Jahr)

24 G

gelb

Kleinkinder (1–6 Jahre)

22 G

blau

Schulkinder (ab 6 Jahren)

20/22 G

rosa/blau

(herzwärts) verlaufende Vene gestaut. ▶ Tab. 9.6 zeigt die für Kinder verwendeten Größen der peripheren Venenverweilkanülen. Der Blutrückfluss in die Kanüle kann bei Kindern etwas länger dauern (→ abwarten).

! Merke Indikation für i. v.-Zugang prüfen

Prüfen Sie bei Kindern immer im Team die Notwendigkeit eines i. v.-Zugangs: Ist eine Medikamentenapplikation z. B. auch rektal, intranasal oder inhalativ bzw. bei schwerwiegenden Beeinträchtigungen intraossär möglich? Kann mit der i. v.-Applikation von Medikamenten auch bis zur Ankunft in der Zielklinik gewartet werden, wo die Punktion von einem Kinderarzt oder einer Kinderärztin ausgeführt wird?

RETTEN TO GO Periphere Venenpunktion Als Rettungssanitäter treffen Sie alle Vorbereitungen und assistieren dem punktierenden NotSan oder NA. Legen Sie folgende Materialien bereit: Einmalhandschuhe, Venenverweilkanüle, Hautdesinfektionsmittel, Stauschlauch oder RR-Manschette, Tupfer, Material zum Fixieren, vorbereitete Infusion oder Kunststoffmandrin, Abwurfbehälter und Blutzuckermessgerät. Venenverweilkanülen bestehen aus einem flexiblen Kunststoffschlauch, in dem sich eine Metallkanüle (Stahlmandrin) befindet. Bei erfolgreicher Punktion wird der Kunststoffschlauch komplett in die Vene vorgeschoben und die Metallkanüle anschließend entfernt. Nach Sicherung des Zugangs mit einem speziellen Pflaster wird eine Infusion angeschlossen. Vorübergehend nicht genutzte Venenverweilkanülen werden mit einem Kunststoffmandrin verschlossen.

9.4.3 Vorbereiten und Anschließen von Infusionen Materialien • Nach Anlage eines peripheren Venenzugangs wird z. B. zum Ausgleich eines Volumenmangels eine Infusionslösung angeschlossen. Eine VEL zum Offenhalten eines periphervenösen Zugangs sollte nicht mehr standardmäßig erfolgen. Die Infusionslösung sollten Sie vor oder parallel zur Anlage des Venenzugangs vorbereiten. Dazu benötigen Sie folgende Materialien: ● Infusionslösung (S. 137) nach Indikation, im Rettungsdienst meistens in 500-ml-Plastikflaschen oder -beuteln ● Das Infusionssystem (▶ Abb. 9.32) ist ein steril verpacktes Schlauchsystem als Verbindung zwischen der Infusionslösung und dem venösen Zugang. Es besteht aus einem Einstichdorn für die Infusionslösung, einer Tropfkammer, einem Infusionsschlauch, einer Rollklemme zur Regulie227

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.32 Infusionslösung und Infusionssystem. Öffnung zum Aufhängen

Filter

Video 9.5 Vorbereiten einer Infusion.

Luer-Lock-Anschluss für venösen Zugang

Tropfkammer Rollenklemme

Belüftung Spike (hier unter Spike-Schutzkappe) Injektionsport

Infusionsport

Über das Vorbereiten einer Infusion gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Aufbau eines Infusionssystems. Foto: © K. Oborny/Thieme



rung der Infusionsgeschwindigkeit und einem Konnektor für den venösen Zugang. Rollenpflaster (zur Zugentlastung)

Durchführung • ▶ Video 9.5 1. Führen Sie eine hygienische Händedesinfektion durch. 2. Überprüfen Sie die Infusionslösung (Unversehrtheit, Verfallsdatum, keine Ausflockungen, Farbveränderungen). 3. Nehmen Sie das Infusionssystem aus der sterilen Umverpackung. 4. Drehen Sie die Rollklemme bis ganz nach unten: Das Infusionssystem ist nun geschlossen. 5. Entfernen Sie die Verschlusskappe der Infusionslösung (Öffnung jetzt nicht mehr berühren!). 6. Entfernen Sie die Schutzkappe des Einstichdorns und stecken Sie diesen mit mäßiger Kraft in den Flaschen- bzw. Beutelverschluss. 7. Nehmen Sie die Infusion „kopfüber“ in die Hand und drücken Sie die Tropfkammer zusammen, bis sie etwa zur Hälfte gefüllt ist. Bei Bedarf öffnen Sie das Belüftungsventil. 8. Öffnen Sie die Rollklemme leicht, um den Schlauch mit Infusionslösung zu füllen. Das System ist nun luftleer und kann an die liegende Venenverweilkanüle angeschlossen werden. Soll der Patient mehr als eine Infusion erhalten, schließen Sie zusätzlich einen entlüfteten (!) Dreiwegehahn an. 9. Stellen Sie Tropfgeschwindigkeit je nach Indikation ein, langsam zum „Offenhalten“ oder schnell zur Volumensubstitution; Richtwert: 20 Tropfen entsprechen ca. 1 ml. 10. Bilden Sie zur Zugentlastung der Venenverweilkanüle mit dem Infusionsschlauch eine Schlaufe und fixieren Sie diese mit Pflasterstreifen.

ACHTUNG Um lebensgefährlichen Luftembolien auszuschließen, prüfen Sie vor dem Anschließen der Infusion immer, ob der Infusionsschlauch komplett mit Flüssigkeit gefüllt ist. Entlüften Sie bei Bedarf das System. Probleme bei der Infusion • Infusionen „laufen“ häufig zu langsam oder gar nicht. ▶ Abb. 9.33 zeigt häufige Ursachen und die entsprechenden Problemlösungen. Mitunter ist die Tropfkammer zu voll und die Tropfgeschwindigkeit daher nicht mehr beurteilbar. Schließen Sie in diesen Fällen die Rollklemme, drehen Sie die Infusionsflasche „auf den Kopf“ und entleeren Sie die Tropfkammer in die Flasche, bis sie nur mehr halb gefüllt ist.

228

Beenden einer Infusion • Ist die Infusionslösung vollständig durchgelaufen, führen Sie folgende Schritte durch: 1. Schließen Sie die Rollklemme. 2. Legen Sie einen sterilen Verschlussstöpsel bereit, öffnen Sie dessen Verpackung (Patientenseite nicht berühren!). 3. Legen Sie einen Tupfer unter die Trennstelle des Zugangs. 4. Drücken Sie die Vene oberhalb der Einstichstelle ab. 5. Entfernen Sie die Infusion. 6. Drehen Sie den Verschlussstöpsel auf die Verweilkanüle.

RETTEN TO GO Vorbereitung und Anschluss von Infusionen Zur Vorbereitung einer Infusion benötigen Sie folgende Materialien: Infusionslösung, Infusionssystem (zur Verbindung von Infusionslösung und venösem Zugang) und Rollenpflaster (zur Zugentlastung). Das Infusionssystem ist ein Schlauchsystem, das aus einem Einstichdorn für die Infusionslösung, einer Tropfkammer, einem Infusionsschlauch, einer Rollklemme zur Regulierung der Infusionsgeschwindigkeit und einem Konnektor für den venösen Zugang besteht. Bevor Sie das Infusionssystem an den Zugang anschließen, muss das Schlauchsystem luftleer mit Infusionslösung gefüllt werden.

9.4.4 Weitere Applikationstechniken Weitere im Rettunsdienst wichtige Applikationswege sind der intraossäre Zugang (S. 110), die inhalative Applikation (S. 112), die rektale Applikation (S. 112) sowie die intransale oder bukkale Applikation (S. 113). Das Vorgehen bei der intramuskulären Injektion (S. 291) wird bei der einzigen im RD relevanten Indikation beschrieben, dem anaphylaktischen Schock.

Rettungstechniken Abb. 9.33 Häufige Fehlerquellen beim Verabreichen von Infusionen.

Blutdruckmanschette aufgepumpt unzureichende Höhendifferenz

Kanülenspritze liegt an Venenwand oder -klappe an

Infusionsflasche höher aufhängen

Blutdruck am anderen Arm messen

Verband lösen, Zugang vorsichtig und millimeterweise zurückziehen Infusionsschlauch komprimiert oder abgeknickt

Rollklemme geschlossen

Kompression oder Knick beheben

Staubinde nicht entfernt

Rollklemme öffnen

Staubinde entfernen Paravasat

Dreiwegehahn geschlossen

Infusion stoppen, neuen venösen Zugang anlegen (am anderen Arm oder proximal der ersten Punktionsstelle), bisherigen venösen Zugang entfernen

Dreiwegehahn öffnen

Häufige Gründe dafür, dass eine Infusion nicht oder zu langsam läuft. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

9.5 Rettungstechniken

Video 9.6 Helmabnahme.

Rettungstechniken dienen dazu, Menschen aus Notsituationen oder Zwangslagen zu befreien und dadurch Folgeschäden zu vermeiden.

9.5.1 Helmabnahme Bewusstseinsklare Patienten können selbst entscheiden, ob sie einen Schutzhelm abnehmen wollen oder nicht. Weisen Sie jedoch darauf hin, dass sie mit Helm schlechter Luft bekommen, bei Erbrechen Erstickungsgefahr besteht und sie allgemein besser behandelt werden können, sofern sich der Zustand verschlechtert. Nehmen Sie bei bewusstlosen Patienten einen Schutzhelm immer ab, auch bei Verdacht auf eine Halswirbelsäulenverletzung: Solange der Helm aufgesetzt ist, können Sie die Vitalfunktionen (v. a. Atmung) nicht kontrollieren und sichern.

ACHTUNG Am Atemstillstand stirbt ein Patient „zuerst“: Bei Bewusstlosen sollte daher immer (!) der Helm abgenommen werden, auch von Laien („treat first what kills first“). Durchführung • Der Helm sollte – wenn möglich – immer durch 2 Helfer abgenommen werden (▶ Video 9.6): ● Vorbereitung: 1. Helfer 1 kniet am Kopfende des Patienten, Helfer 2 seitlich des Patienten (etwa auf Schulterhöhe). 2. Helfer 1 fasst mit beiden Händen den Helm und den Unterkiefer und stabilisiert den Kopf und den Hals des Patienten in Neutralposition. 3. Helfer 2 öffnet das Visier, entfernt ggf. eine Brille oder einen Schal und öffnet den Kinnriemen.

Über die Helmabnahme gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme ●

Helmabnahme: 1. Helfer 2 übernimmt jetzt die Stabilisierung der HWS: Er stützt mit einer Hand den Nacken und hält mit der anderen Hand den Unterkiefer. Daumen und Zeigefinger liegen dabei am rechten bzw. linken Kieferwinkel. Alternative: Helfer 2 fährt mit beiden Händen seitlich in den Helm, sodass er mit den Fingern den Nacken stützt und mit den Daumen den Unterkiefer hält. 2. Helfer 1 ergreift die Schale des Helms, weitet den Helm und zieht ihn langsam in seine Richtung ab. HWS und Kopf sollten sich dabei nicht bewegen. Vorsicht bei der Nase und ggf. bei Ohrringen! 3. Sobald der Helm entfernt ist, übernimmt Helfer 1 wieder die Stabilisierung der HWS: Er fixiert mit beiden Händen den Kopf, den Nacken und den Unterkiefer des Patienten.

Nach der Helmabnahme können weitere Untersuchungen und Maßnahmen durchgeführt werden, z. B. Prüfung der Vi229

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Arbeitstechniken und Monitoring talfunktionen (S. 183), Anlage eines HWS-Stützkragens (S. 233) und stabile Seitenlage (S. 248).

Video 9.7 Rautek-Rettungsgriff.

RETTEN TO GO Helmabnahme Schutzhelme werden bei bewusstlosen Patienten immer abgenommen, da nur so die Vitalfunktionen geprüft und gesichert werden können. Bewusstseinsklare Patienten können selbst darüber entscheiden. Der Helm sollte – wenn möglich – immer durch 2 Helfer abgenommen werden, um die Halswirbelsäule optimal zu stabilisieren. Über den Rautek-Rettungsgriff gibt es ein Video! Video: © K. Obor-

9.5.2 Rautek-Rettungsgriff

ny/Thieme

Wann wird der Griff angewendet? • Der Rautek-Rettungsgriff ist eine Maßnahme zur schnellen Rettung von Patienten aus einer Gefahrenzone, um z. B. bei Brand- oder Explosionsgefahr eine bewusstlose Person aus einem PKW zu retten. Beachten Sie unbedingt die Eigensicherung (S. 178)!



ACHTUNG Der Rautek-Rettungsgriff kann beim Patienten Verletzungen (z. B. Arm- oder Rippenfrakturen) verursachen. Er darf daher nur eingesetzt werden, wenn es keine andere Möglichkeit zur schnellen Rettung aus der Gefahrenzone gibt. Durchführung • Der Rautek-Rettungsgriff kann von einem Helfenden und sowohl bei liegenden als auch bei sitzenden Patienten angewendet werden. Ist der Patient ansprechbar, erklären Sie ihm das Vorgehen. ● liegender Patient (▶ Video 9.7): 1. Liegt der Patient auf der Seite oder auf dem Bauch, bringen Sie ihn zunächst in Rückenlage. 2. Positionieren Sie sich mit gebeugten Knien und breitem Stand hinter dem Kopf des Patienten. 3. Umgreifen Sie mit beiden Händen den Nacken und die Schultern des Patienten und bringen Sie ihn vorsichtig in eine sitzende Position. Stabilisieren Sie diese Haltung, indem Sie mit Ihren Oberschenkeln den Rücken des Patienten stützen. 4. Greifen Sie von hinten mit beiden Armen unter den Achseln des Patienten durch. 5. Winkeln Sie einen Arm des Patienten ab und umfassen Sie mit beiden Händen den quer liegenden Unterarm. Verwenden Sie dabei den „Affengriff“, d. h., Daumen und Finger umgreifen den Arm von vorne (auch die Daumen zeigen nach vorne). 6. Verlagern Sie Ihr Körpergewicht nach hinten und strecken Sie gleichzeitig leicht Ihre Beine. So ziehen Sie den Patienten auf Ihre Oberschenkel. 7. Entfernen Sie den Patienten mit kleinen Rückwärtsschritten aus der Gefahrenzone. Blicken Sie sich dabei um, um mögliche Stolperfallen zu erkennen! 8. Legen Sie den Patienten in umgekehrter Reihenfolge ab. Stabilisieren Sie dabei seinen Kopf schonend und kontrolliert mit Ihren Unterarmen, während Sie den Oberkörper ablegen.

230

sitzender Patient (im Kfz, ▶ Abb. 9.34): 1. Schalten Sie ggf. die Zündung des Kfz aus. 2. Öffnen Sie den Sicherheitsgurt bzw. schneiden Sie ihn durch. Schieben Sie den Sitz zurück, befreien Sie ggf. eingeklemmte Beine (Pedale!). 3. Fassen Sie mit einer Hand die von Ihnen abgewandte Hüfte des Patienten (z. B. am Hosenbund oder Gürtel) und legen Sie die andere Hand an das Ihnen zugewandte Knie: Durch Zug an der Hüfte und gleichzeitiges Wegschieben der Knie drehen Sie den Patienten im Sitz, bis sein Rücken zu Ihnen zeigt. 4. Gehen Sie weiter vor wie bei einem liegenden Patienten. Bitten Sie einen Kollegen oder Helfenden darauf zu achten, dass die Füße nicht am Türrahmen hängen bleiben oder auf den Boden fallen.

RETTEN TO GO Rautek-Rettungsgriff Der Rautek-Rettungsgriff wird zur schnellen Rettung von Patienten aus der Gefahrenzone eingesetzt. Beachten Sie dabei immer den Eigenschutz! Der Rettungsgriff kann beim Patienten Verletzungen verursachen (z. B. Arm- oder Rippenfrakturen). Daher darf er nur angewendet werden, wenn andere Formen der Rettung nicht möglich sind.

Rettungstechniken Abb. 9.34 Rautek-Rettungsgriff zur Rettung eines nicht eingeklemmten Patienten aus einem PKW.

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b

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Der Rautek-Rettungsgriff eignet sich auch dazu, einen Patienten von einem Fahrzeugsitz zu ziehen – sofern seine Beine nicht im Pedalraum eingeklemmt sind. Durch die spezielle Technik mit Gewichtsverlagerung und Hebelprinzip können Sie auch relativ schwere Patienten bewegen. Achten Sie dennoch unbedingt auf eine rückenschonende Haltung und vermeiden Sie ruckartige Bewegungen – insbesondere in der gedrehten Haltung, die Sie bei der Rettung aus einem Fahrzeug zunächst einnehmen müssen. a Schalten Sie ggf. die Zündung des Autos aus. b Stellen Sie die Beine des Patienten auf. c Drehen Sie den Patienten auf dem Sitz durch Zug an dem Ihnen abgewandten Hosenbund und Druck auf das Ihnen zugewandte Knie, sodass sein Rücken zu Ihnen zeigt. d Fassen Sie einen Unterarm des Patienten. e Ziehen Sie den Patienten vom Fahrzeugsitz. f Ein weiterer Helfender verhindert, dass die Füße des Patienten auf dem Boden aufschlagen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

e

f

9.5.3 Schaufeltrage Aufbau • Die Schaufeltrage (▶ Abb. 9.35) besteht aus Aluminium und/oder Kunststoff (relativ geringes Eigengewicht!) und ist in der Länge verstellbar. Durch Öffnen der Sicherheitsverschlüsse am Kopf- und am Fußende kann die Trage in ihre beiden Hälften geteilt werden. Je nach Modell sind Schaufeltragen mit Systemen zur Fixierung des Kopfes kombinierbar, sog. Headblocks. Einsatzbereiche • Die Schaufeltrage wird im Rettungsdienst häufig eingesetzt – insbesondere für die Rettung von Patienten, die möglichst schonend gelagert werden müssen, weil sie starke Schmerzen haben oder das Risiko von Sekundärverletzungen besteht, z. B. bei Verletzungen der Wirbelsäule oder Becken- und Oberschenkelfrakturen. Schaufeltragen eignen sich außerdem zum wirbelsäulenschonenden Umlagern von Patienten auf eine Vakuummatratze (S. 235) oder eine Fahrtrage (S. 247).

Abb. 9.35 Aufbau einer Schaufeltrage. Verschluss am Kopfende Körperteil Fußteil (ausziehbar) Kopfteil

Arretierungshebel für die Längenverstellung Verschluss am Fußende

Die Schaufeltrage ist gut für eine schonende Rettung und Umlagerung von Patienten geeignet, auch in beengten Verhältnissen und bei schlechter Kreislaufsituation. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

231

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.36 Umlagern auf eine Schaufeltrage. a Drehen Sie den Patienten achsengerecht auf eine Seite. Platzieren Sie eine Hälfte der Schaufeltrage unter ihm. b Verfahren Sie auf der anderen Seite ebenso. Sind die beiden Hälften der Schaufeltrage verbunden, können Sie den Patienten anheben. c Vor allem für längere Transportstrecken müssen Sie den Patienten mit Sicherungsgurten auf der Schaufeltrage fixieren. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

c

Abb. 9.37 Spineboard. Das Spineboard ermöglicht eine sehr gute Immobilisierung des Patienten. Es ist auftriebs- und schwimmfähig und eignet sich somit auch für die Wasserrettung (S. 271). a Aufbau des Spineboards. b Korrekt auf einem Spineboard gelagerter Patient. Der Kopf wurde mit Headblocks fixiert.

Kopffixiersystem Spineboard

a

Anwendung • Für eine fachgerechte Anwendung sind 2 Helfer erforderlich (▶ Abb. 9.36): 1. Bringen Sie den Patienten ggf. in Rückenlage. 2. Legen Sie die Schaufeltrage neben den Patienten und passen Sie sie an seine Größe an: Füße innerhalb des Rahmens, Nase etwa in Mitte des Kopfteils 3. Lösen Sie die beiden Sicherheitsverschlüsse am Kopf- und am Fußende und teilen Sie die Trage in ihre Hälften. 4. Legen Sie die Tragenhälften dicht neben den Patienten. 5. Schieben Sie die Tragehälften nacheinander unter den Patienten und stecken Sie die Sicherheitsverschlüsse am Kopf- und am Fußende zusammen. 6. Fixieren Sie den Patienten mit Sicherheitsgurten an der Schaufeltrage. Nun können Sie ihn anheben. Zum Umlagern legen Sie den Patienten mit der Schaufeltrage auf eine Trage oder Vakuummatratze. Öffnen Sie dann die Sicherheitsgurte und Sicherheitsverschlüsse und ziehen Sie die beiden Hälften unter dem Patienten weg (▶ Video 9.9).

9.5.4 Spineboard Synonym • Rettungsbrett Aufbau • Das Spineboard ist ein aus Kunststoff hergestelltes, stabiles, nicht teilbares Brett mit zahlreichen Griffmulden, die als Tragegriffe und für die Befestigung von Fixiergurten genutzt werden (▶ Abb. 9.37). Am Kopfende kann ein zusätzliches Kopffixiersystem montiert werden, was v. a. bei Verdacht auf ein Wirbelsäulentrauma von Bedeutung ist. Einsatzbereiche • Spineboards sind – ähnlich wie Schaufeltragen – für die Ruhigstellung (Immobilisation), die Rettung und den Transport von Patienten über kurze Strecken geeig232

Fotos: © K. Oborny/Thieme

b

net. Die Wahl zwischen Schaufeltrage und Spineboard hängt zum Teil von der Einsatzsituation ab, v. a. aber von den im RTW vorgehaltenen Materialien sowie von den Erfahrungen der Rettungsdienstmitarbeitenden. Anwendung • Für die Benutzung des Spineboards bei liegenden Patienten sind mindestens 2 Helfer notwendig. Der Patient wird dabei achsengerecht (Log-Roll-Manöver) auf das Board gedreht. 1. Helfer 1 positioniert sich am Kopfende des Patienten. Er stabilisiert den Kopf und ist für die achsengerechte Mitführung des Kopfes während des gesamten Manövers verantwortlich. 2. Helfer 2 legt einen HWS-Stützkragen (S. 233) an. 3. Das Spineboard wird neben dem Patienten in Längsrichtung positioniert, Helfer 2 kniet auf der anderen Seite des Patienten. 4. Auf Anweisung von Helfer 1 wird der Patient achsengerecht in Richtung Helfer 2 gedreht. 5. Helfer 2 zieht das Spineboard heran und richtet es um 45° auf. 6. Der Patient wird achsengerecht auf das Spineboard gerollt und dieses langsam abgesenkt. Dabei wird der Patient ggf. vorsichtig achsengerecht zentriert. 7. Der Patient wird mit Gurten fixiert und sein Kopf im Kopffixiersystem gesichert.

ACHTUNG Für den Transport über lange Strecken bzw. über längere Zeit sind weder die Schaufeltrage noch das Spineboard geeignet, weil der Patient auf einer „harten“ Unterlage liegt. Dies ist für ihn nicht nur unbequem, sondern kann auch Druckstellen verursachen, bis hin zu einem Dekubitus („Wundliegen“). Durch die glatte Oberfläche kann der Patient z. B. bei einer Fahrt im RTW leichter verrutschen, was zu unerwünschten Scherkräften am Übergang vom Hals zum Thorax führen kann.

Ruhigstellungstechniken

9.5.5 Kombinationsgeräte II®

Kombigeräte wie der CombiCarrier oder der ultraCOMBISTRETCHER® versuchen, die Vorteile von Spineboard und Schaufeltrage zu kombinieren. Verletzte können sowohl aufgeschaufelt als auch über das Log-Roll-Manöver gedreht und auf das Hilfsmittel verbracht werden. Die Geräte bestehen aus Kunststoff und sind damit schwimmfähig und röntgendurchlässig. Sie sind nur unwesentlich länger als ein Spineboard und lassen sich daher unproblematisch verstauen. Die Einsatzbereiche sind im Wesentlichen ähnlich wie bei Schaufeltrage und Spineboard. Sie sind ebenfalls nicht für längere Transporte geeignet.

9.6 Ruhigstellungstechniken (Immobilisation) 9.6.1 Manuelle Inlinestabilisierung (MILS) Die manuelle Inlinestabilisierung ist die einfachste und ständig verfügbare Methode zur Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bei Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung (S. 385). Sie verschafft dem Rückenmark das größte Platzangebot im knöchernen Rückenmarkskanal. Durchführung • Halten Sie Kopf und HWS mit den Händen in Neutralposition, ohne dabei Zug auszuüben. Dies ist sowohl in Rückenlage (▶ Abb. 9.38) als auch bei sitzenden Patienten (z. B. in einem PKW, ▶ Abb. 9.39a) möglich. Die MILS muss auch nach der Anlage eines HWS-Stützkragens fortgeführt und darf erst nach einer Fixierung mit Headblocks (▶ Abb. 9.37b), einem Rettungskorsett oder einer Vakuummatratze beendet werden!

RETTEN TO GO Schaufeltrage, Spineboard und Kombinationsgeräte Die Schaufeltrage besteht aus zwei teilbaren Hälften und ist in der Länge verstellbar, das Spineboard (Rettungsbrett) ist nicht teilbar. Beide Transportmittel eignen sich für die Rettung und den kurzfristigen Transport von Patienten. Für den Transport in die Klinik muss der Patient z. B. auf eine Vakuummatratze umgelagert werden, um Druckstellen zu vermeiden. Beide Rettungsmittel ermöglichen in Kombination mit Kopffixiersystemen (Headblocks) eine Immobilisierung traumatisierter Patienten. Spineboards sind schwimmfähig und damit auch für die Wasserrettung geeignet. Kombinationsgeräte versuchen, die Vorteile beider Hilfsmittel zu vereinen.

9.6.2 HWS-Stützkragen Synonyme • HWS-Orthese, Zervikalstütze, Halskrause, Halskrawatte, HWS-Immobilisationsschiene Einsatzbereich • Ein HWS-Stützkragen dient zur Stabilisierung und Ruhigstellung der Halswirbelsäule bei traumatisierten Patienten. Er sollte immer angelegt werden, wenn

Abb. 9.38 Manuelle In-Line-Stabilisierung (MILS). a Bringen Sie den Patienten in Rückenlage. Richten Sie Beine, Rumpf und Kopf vorsichtig achsengerecht aus. b Umfassen Sie den Kopf mit den Händen und bringen Sie ihn in Neutralposition. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

Abb. 9.39 Anlegen eines HWS-Stützkragens bei einem sitzenden Patienten.

a

b

a Helfer 1 steht oder sitzt hinter dem Patienten und fixiert den Kopf in Neutralposition, Helfer 2 bereitet den Stützkragen vor. b Helfer 1 führt die MILS auch nach Anlage des Stützkragens weiter. Fotos: © K. Oborny/Thieme

233

▶S. 233

Manuelle Inlinestabilisierung (MILS) HWS-Stützkragen

▶S. 235

Rettungskorsett

Ruhigstellungstechniken (Immobilisation)

Rettungs-BOA

▶S. 233

▶S. 235

Vakuummatratze

▶S. 236

Retention von Frakturen

▶S. 237

Rückenschonendes Heben und Tragen Kinästhetik im Rettungsdienst Transport und Lagerung von Patienten

Führen von Patienten Transport von Patienten Lagerungsarten

Wärmeerhalt Wärmeerhalt und Kühlung

Todesfeststellung Todesfeststellung und Leichenschau

Leichenschau

▶S. 240

▶S. 246 ▶S. 246

▶S. 248

▶S. 249

▶S. 251

▶S. 251

▶S. 252

Video 9.8 Anlegen einer HWS-Stütze.

Über das Anlegen eines HWS-Stützkragens gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

eine Verletzung der Halswirbelsäule nicht ausgeschlossen werden kann. Die Entscheidung wird anhand der adaptierten Nexus-Kriterien (▶ Abb. 8.1) und/oder der Canadian-CSpine-Rule (S. 183) getroffen. Eine Anlage ist sowohl bei liegenden als auch bei sitzenden Patienten möglich.

ACHTUNG Ein HWS-Stützkragen, ganz gleich welches Modell, bietet keine ausreichende Immobilisierung. Daher muss eine MILS bei Verdacht auf eine HWS-Verletzung weitergeführt werden, bis der Kopf durch Headblocks oder eine Vakuummatratze sicher fixiert ist. Nachteile einer HWS-Immobilisation • Ein HWS-Stützkragen sollte nicht unkritisch bei jedem verunfallten Patienten angelegt werden, sondern nach sorgfältiger Abwägung der

234

Kühlung

▶S. 237

oben genannten Kriterien. Folgende Nachteile ergeben sich für die Patienten: ● Die Sicherung der Atemwege ist deutlich erschwert. ● Die Mundöffnung ist eingeschränkt. Dadurch steigt das Aspirationsrisiko. ● Der venöse Abfluss aus dem Schädelinneren über die inneren Drosselvenen (Vv. jugulares internae) kann beeinträchtigt sein. Dies kann v. a. bei Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma zu einem Anstieg des intrakraniellen Drucks führen. Aufbau • Es gibt verschiedene Modelle, gängig sind z. B. Stifneck®, X-Collar® oder Ambu-Perfit®. Alle Modelle bestehen aus einem äußeren Kragen aus Kunststoff, der für die Stabilisierung sorgt, und einem Innenpolster aus Schaumstoff zur Vermeidung von Druckstellen. HWS-Stützkragen sind in unterschiedlichen Größen erhältlich, bei neueren Modellen ist die Größe direkt am Modell verstellbar. Anwendung • Ein HWS-Stützkragen sollte immer durch 2 Helfer angelegt werden. Entfernen Sie vorab ggf. störende Schmuck- oder Kleidungsstücke. Gehen Sie folgendermaßen vor (▶ Video 9.8, ▶ Abb. 9.39): 1. Helfer 1 kniet, steht oder sitzt hinter dem Patienten und führt eine MILS durch. 2. Helfer 2 bereitet den Stützkragen vor und wählt die richtige Größe aus bzw. stellt diese am HWS-Stützkragen ein. 3. Helfer 2 legt den Stützkragen an und verschließt ihn. 4. Helfer 1 führt die MILS fort.

Ruhigstellungstechniken

RETTEN TO GO HWS-Stützkragen Der HWS-Stützkragen dient zur Stabilisierung und Ruhigstellung der Halswirbelsäule bei traumatisierten Patienten und kann sowohl bei liegenden als auch bei sitzenden Patienten angelegt werden. Dafür sind 2 Helfer nötig: Ein Helfer stabilisiert die HWS in Neutralposition (MILS), der andere Helfer legt den HWS-Stützkragen an. Die MILS muss fortgesetzt werden, bis eine sichere Stabilisierung der HWS mithilfe von Headblocks oder einer Vakuummatratze erfolgt ist. Legen Sie einen HWS-Stützkragen nicht unkritisch an, sondern orientieren Sie sich an den angepassten Nexus-Kriterien und/oder an der Canadian-CSpine-Rule.

9.6.3 Rettungskorsett Synonym • Immobilisationsset, Kendrick Extrication Device (KED) Aufbau • Das Rettungskorsett besteht aus Kunststoffgewebe, das durch senkrecht eingenähte Streben stabilisiert wird. Es umfasst einen Kopf- und einen Brustteil, an denen zahlreiche Gurte, Klettbefestigungsstreifen und Hebeschlaufen befestigt sind (▶ Abb. 9.40). Zur Grundausstattung gehören außerdem ein Kinn- und ein Stirngurt sowie ein Kopfpolster. Einsatzbereich • Das Rettungskorsett wird zur Ruhigstellung und Rettung von Verletzten aus schwer zugänglichen Lagen (z. B. Autowrack) eingesetzt, insbesondere bei Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung. Bei korrekter Anlage immobilisiert es die Wirbelsäule. Nach der Rettung aus dem Fahrzeug wird das Rettungskorsett entfernt und durch eine vollständige Immobilisation mit einem Spineboard (+ Headblocks) oder einer Vakuummatratze ersetzt. Abb. 9.40 Rettungskorsett (KED®-System).

Anwendung • Das KED sollte von mindestens 2, besser von 3 Helfern angelegt werden. Ein Helfer stabilisiert während des gesamten Vorgangs den Kopf des Patienten, während der andere bzw. die anderen Helfer das Korsett anlegen. 1. Legen Sie einen HWS-Stützkragen an. 2. Schieben Sie das KED von schräg oben vorsichtig hinter den Patienten. Die Seite mit den Gurten muss vom Patienten wegweisen. 3. Richten Sie das KED mittig über der Wirbelsäule aus, die Bruststützteile sollen sich knapp unterhalb der Achselhöhlen befinden. 4. Legen Sie das Brustteil um den Rumpf, schließen Sie die Brustgurte und ziehen Sie diese (bis auf den obersten) moderat fest. 5. Schließen Sie die Beckengurte (außer bei Verdacht auf eine Oberschenkelfraktur). 6. Stecken Sie das Kopfpolster zwischen KED und Hinterkopf. 7. Legen Sie die Kopfstützteile um den Kopf des Patienten. 8. Befestigen Sie den Kinn- und den Stirngurt. 9. Jetzt kann die HWS-Stabilisierung gelöst werden. 10. Schließen Sie den obersten Brustgurt und ziehen Sie die unteren Brustgurte fest. Achten Sie dabei darauf, dass die Atmung nicht beeinträchtigt wird!

ACHTUNG Das Anlegen eines Rettungskorsetts besteht aus vielen Einzelschritten und sollte intensiv und wiederholt geübt werden. Ein nicht sachgerecht angelegtes Korsett kann vorhandene Verletzungen verschlimmern!

RETTEN TO GO Rettungskorsett Das Rettungskorsett besteht aus Kunststoffgewebe und hat zahlreiche Gurte und Schlaufen. Es wird zur Ruhigstellung und Rettung von Verletzten aus schwer zugänglichen Lagen eingesetzt, z. B. zur Rettung aus einem Autowrak. Bei korrekter Anlage immobilisiert es die Wirbelsäule.

9.6.4 Rettungs-BOA Einsatzbereiche • Die Rettungs-BOA (z. B. PAX-RettungsBOA®) ist eine ca. 3 m lange, aufgerollte, antibakterielle Fleecedecke mit leuchtgelber, wasserdichter Beschichtung und Handschlaufen. Sie ermöglicht eine schnelle Rettung von Patienten, z. B. aus Fahrzeugen, und ist damit eine Alternative zum Rautek-Rettungsgriff (S. 230) und zum Rettungskorsett. Bei sachgerechter Anwendung immobilisiert sie die Hals- und Brustwirbelsäule. Entfernt man die Hülle, kann die quadratische Decke mit einer Kantenlänge von ca. 2 m entrollt werden. Diese kann dem Wärmeerhalt des Patienten dienen.

Das Rettungskorsett wird zur Ruhigstellung und Rettung von Verletzten aus schwer zugänglichen Lagen eingesetzt. Foto: © K.

Durchführung • Für eine fachgerechte Anwendung sind 2 Helfer erforderlich (▶ Abb. 9.41): 1. Helfer 1 führt eine MILS aus, von der anderen Fahrzeugseite oder vom Rücksitz aus. 2. Helfer 2 legt einen HWS-Stützkragen an. Die MILS muss aufrechterhalten werden, bis die Rettungs-BOA richtig angelegt ist!

Oborny/Thieme

235

9

Arbeitstechniken und Monitoring Video 9.9 Umlagern auf die Vakuummatratze.

Abb. 9.41 Rettungs-BOA.

Zum Umlagern von der Schaufeltrage auf die Vakuummatratze gibt es ein Video! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; ViNach dem Anlegen eines HWS-Stützkragens wird die BOA vorne mittig auf den Stützkragen aufgesetzt. Die Enden werden über die Schultern nach hinten geführt, gekreuzt und fest zusammengezogen. Danach werden die Enden wieder nach vorne gebracht und ohne Überkreuzung unter der jeweiligen Achsel zum Rücken geführt.

deo: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.42 Vakuummatratze. a Das Füllmaterial wird durch Glattstreichen gleichmäßig verteilt. Zur Demonstration liegt die Matratze hier auf dem Boden. Im Rettungsdienst wird sie in der Regel – abhängig vom Modell – direkt auf die Fahrtrage gelegt. b Durch Absaugen der Luft passt sich die Matratze an den Körper des Patienten an. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

3. Helfer 2 setzt die Mitte der Rettungs-Boa (Markierung beachten!) im Kehlkopfbereich auf den Stützkragen und führt die beiden Enden über die Schultern nach hinten. 4. Helfer 2 kreuzt die Enden der Rettungs-BOA und zieht sie zur Immobilisation fest zu. Nun bringt er die Enden nach vorne und führt sie ohne Überkreuzung unter der jeweiligen Achsel zum Rücken zurück. 5. Helfer 2 übt Zug auf die BOA aus, Helfer 1 beendet die MILS. 6. Beide Helfer evakuieren den Patienten unter ständigem Zug auf die BOA aus dem Fahrzeug und lagern ihn auf einem Spineboard. 7. Helfer 1 führt eine MILS aus, Helfer 2 entfernt die BOA. 8. Die Helfer fixieren den Patienten mit Gurten und Headblocks auf dem Spineboard.

9.6.5 Vakuummatratze Aufbau • Die Vakuummatratze besteht aus einer luftundurchlässigen Hülle, in der sich Kunststoffkügelchen befinden (▶ Abb. 9.42). Je nach Hersteller ist sie mit seitlichen Tragegriffen sowie zusätzlichen Patientengurten ausgestattet. Im Ausgangszustand ist die Matratze formbar und kann an den Patienten anmodelliert werden. Anschließend wird die Luft in der Matratze über ein Ventil abgesaugt. Dadurch

236

werden die Kügelchen fest aneinandergepresst: Die Matratze wird hart und behält ihre anmodellierte Form bei. Einsatzbereiche • Die Vakuummatratze eignet sich für die Ruhigstellung und den längeren Transport bei Verdacht auf Wirbelsäulen- oder Beckenverletzungen sowie Polytraumata. Die meisten Vakuummatratzen sind in sich wenig stabil und müssen daher auf einem anderen Transportmittel liegen (Fahrtrage, Schaufeltrage). Einige Modelle sind stabiler und erlauben auch das Tragen von Patienten über kurze Strecken, z. B. zur Fahrtrage. In einer abgesaugten Vakuummatratze können Patienten reanimiert werden. Dafür sollte die Vakuummatratze auf einer festen Unterlage liegen, d. h. auf der Patiententrage oder auf dem Boden. Anwendung • Bei Patienten in Rückenlage gehen Sie folgendermaßen vor (idealerweise mit 4 Helfern, ▶ Video 9.9): 1. Bereiten Sie die Vakuummatratze vor: Legen Sie die Matratze neben den Patienten oder, wenn möglich, auf eine Trage. Öffnen Sie das Ventil und streichen Sie die Matratze glatt, damit sich die Kügelchen gleichmäßig verteilen. 2. Legen Sie den Patienten auf die Vakuummatratze (z. B. mit einer Schaufeltrage). 3. Schließen Sie die Fixiergurte zunächst locker. 4. Modellieren Sie die Vakuummatratze an den Patienten an. Saugen Sie die Luft mit einer Vakuumpumpe ab, bis

Transport und Lagerung von Patienten die Matratze eine stabile Schale bildet, die den Patienten ausreichend fixiert. Ziehen Sie die Fixiergurte während der Anmodellierung kontinuierlich enger. Während Sie das Kopfteil der Vakuummatratze anmodellieren, muss die HWS durch eine MILS (S. 233) kontinuierlich stabilisiert werden. Ist eine sichere Fixierung gewährleistet, kann die MILS aufgehoben werden. Es ist keine zusätzliche Immobilisierung durch eine HWS-Stütze erforderlich. 5. Entfernen Sie die Vakuumpumpe, Ventil schließen. 6. Sichern Sie den Patienten auf der Fahrtrage zusätzlich mit den Sicherungsgurten. Patienten in Bauchlage werden mit der „Sandwich“-Technik möglichst schonend und achsengerecht auf den Rücken gedreht: Platzieren Sie dazu die Schaufeltrage unter den Patienten. Legen Sie dann die Vakuummatratze auf den Rücken des Patienten und modellieren Sie sie an. Fixieren Sie den Patienten mit Gurten und drehen Sie ihn auf den Rücken.

RETTEN TO GO

! Merke Gelenk miteinbeziehen

Für eine effektive Ruhigstellung ist es wichtig, dass Sie bei der Schienung die benachbarten Gelenke miteinbeziehen.

RETTEN TO GO Ruhigstellung von Extremitäten Für die Ruhigstellung und Schienung von Frakturen können verschiedene Hilfsmittel genutzt werden: ● Armtragetuch (Dreiecktuch) ● Vakuumschiene ● pneumatische Schiene (Luftkammerschiene) ● Kunststoffsplintschiene ● Aluminiumpolsterschiene (SAM-Splint®-Schiene) ● Vakuummatratze

9.7 Transport und Lagerung von Patienten

Vakuummatratze Die Vakuummatratze wird bei längeren Transporten eingesetzt, v. a. zur Immobilisation bei Wirbelsäulen- oder Beckenverletzungen und Polytraumata. Durch das Absaugen der Luft passt sich die Matratze an den Körper des Patienten an.

9.6.6 Retention von Frakturen ▶ Tab. 9.7 zeigt häufig eingesetzte Hilfsmittel für die Retention, also die Ruhigstellung und Schienung von Frakturen (S. 368). Die Wahl des Materials hängt von der Frakturart ab. Bei einigen Frakturarten können Sie aus mehreren Möglichkeiten wählen, bei anderen muss eine bestimmte Schiene verwendet werden.

9.7.1 Rückenschonendes Heben und Tragen Im Rettungsdienst sind viele Tätigkeiten mit dem Heben, Ziehen, Schieben, Tragen oder Senken von schweren Lasten (Patienten, Transportmittel, medizinische Geräte) verbunden. Eine Über- oder Fehlbelastung durch ungünstige Körperhaltungen wirkt sich insbesondere auf die Wirbelsäule (v. a. Lendenwirbelsäule) aus und kann Rückenschmerzen und Erkrankungen der Wirbelsäule, z. B. Bandscheibenvorfälle (S. 430), zur Folge haben. Hebelsystem der Wirbelsäule • Die Kraft, die auf die Wirbelsäule bzw. die Bandscheiben einwirkt, wird nach dem Hebelgesetz berechnet: Kraft  Kraftarm ¼ Last  Lastarm

Tab. 9.7 Präklinisch häufig genutzte Schienungsmaterialien. Material

Vorteile

Dreiecktuch (Armtragetuch, ▶ Abb. 9.43a)



Vakuumschiene (▶ Abb. 9.43b)



Luftkammerschiene (pneumatische Schiene, ▶ Abb. 9.43c)



schnell angelegt gute Stabilität



evtl. zusätzlicher Weichteilschaden bei Überbefüllung



Kunststoffsplint



sehr schnell angelegt



geringe Stabilität

Aluminiumpolsterschiene (Sam-Splint®-Schiene, ▶ Abb. 9.43d und ▶ Abb. 9.43e)



flexibel leicht



geringe Stabilität leicht zu verbiegen

Vakuummatratze (▶ Abb. 9.42)



stabilisiert mehrere Körperregionen gleichzeitig gute Stabilität



schnell angelegt

Nachteile ● ●

initial sehr gute Stabilität

● ●









mangelnde Stabilität nur für Schulter und Arm geeignet evtl. Kompression der Fraktur und der Weichteile Nach einigen Einsätzen halten die Schienen das Vakuum nur noch eine begrenzte Zeit. Luft in der Schiene macht sie instabil. Es besteht die Gefahr, dass sich die Extremität bewegt und die Neutralstellung verlässt.

hoher Zeitaufwand ungeeignet bei Frakturen der Arme

237

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.43 Schienungsmaterial.

a

c

b

d

e

Die Wahl des Materials hängt von der Art und der Lokalisation der Fraktur ab. a Dreiecktuch (Armtragetuch): Bringen Sie zunächst das Ellenbogengelenk des verletzten Arms in eine 90°-Beugestellung. Ziehen Sie das eine Ende des Tuchs unter dem Arm der verletzten Seite bis zur Schulter. Dabei muss die Spitze des Tuchs zum Ellenbogen zeigen. Schlagen Sie das andere Ende hoch und verknoten Sie es auf der Schulter der nicht verletzten Seite mit dem anderen Ende. Achten Sie darauf, dass das Handgelenk vollständig im Dreiecktuch liegt. Zuletzt drehen Sie die Spitze des Tuchs ein oder verknoten Sie sie, damit der Arm nicht herausrutschen kann. b Vakuumschiene zur Fixierung von Unterschenkel und Fuß: Ähnlich wie die Vakuummatratze besteht die Schiene aus einer luftdichten Hülle, die mit Kunststoffkügelchen gefüllt ist. Modellieren Sie sie an die verletzte Extremität an und saugen Sie die Luft in der Hülle über ein Ventil ab. Der Unterdruck in der Hülle presst die Kügelchen aneinander und die Schiene verhärtet sich. c Luftkammerschiene (pneumatische Schiene): Legen Sie die Schiene im nicht aufgeblasenen Zustand um die verletzte Extremität und blasen Sie sie auf. d Aluminiumpolsterschiene (Sam-Splint®-Schiene): Die Schiene besteht aus einer dünnen Aluminiumschicht, die mit Schaumgummi ummantelt ist. Es gibt verschiedene Größen für Arm, Bein und Finger. Sie ist gut formbar, um sie an die verletzte Extremität anzupassen. e SAM-Splint®-Schiene, angelegt an rechten Arm: Passen Sie die Schiene vor dem Anlegen an die Größe der verletzten Extremität an und formen Sie sie an der gesunden Extremität vor. Nach der Anlage fixieren Sie die Schiene mit Mullbinden oder Pflastern. Fotos: © K. Oborny/Thieme

Betrachtet man die Wirbelsäule als Hebelsystem mit einem Drehpunkt im Bereich der Bandscheiben, so entspricht der Kraftarm dem Abstand zwischen dem Drehpunkt und der Rückenmuskulatur und der Lastarm dem Abstand zwischen dem Drehpunkt und dem gemeinsamen Schwerpunkt von Oberkörper und Last (▶ Abb. 9.44). Während der Kraftarm sehr kurz ist (nur 5 cm), kann der Lastarm je nach Körperhaltung bis zu 40 cm betragen. Berechnet man nach obiger Formel die Kraft, die auf die Wirbelsäule einwirkt (Rückenmuskelkraft), so wird deutlich: Je weiter die zu hebende Last vom Drehpunkt entfernt ist (d. h. je länger der Lastarm ist), umso mehr Kraft wirkt auf die Wirbelsäule (▶ Abb. 9.45). Beim Heben mit gebeugtem Rücken wird der Druck zudem ungleich auf die Bandscheiben verteilt. Der vordere Bandscheibenbereich wird stärker belastet, wodurch die Bandscheibe keilförmig verformt wird (▶ Abb. 9.45). Bei einer Überlastung besteht die Gefahr, dass die Bandscheibe einreißt und ihr Kern seitlich oder in Richtung Wirbelkanal austritt, es entsteht ein Bandscheibenvorfall (S. 430).

Abb. 9.44 Hebelsystem der Wirbelsäule.

Oberkörpergewicht + Last

Wirbelkörper

Kraftarm Lastarm

Drehpunkt

Rückenmuskelkraft

Das Hebelsystem der Wirbelsäule setzt sich aus dem Lastarm und dem Kraftarm zusammen. Der Drehpunkt liegt im Bereich der Bandscheiben. Während der Kraftarm nur ca. 5 Zentimeter lang ist, variiert die Länge des Lastarms, je nachdem wie ein Gegenstand getragen oder gehoben wird. Aus: Lauber A, Schmalstieg P, Hrsg. Prävention und Rehabilitation. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

238

Transport und Lagerung von Patienten Abb. 9.45 Krafteinwirkung auf die Wirbelsäule bei unterschiedlichen Hebetechniken.

Kraftarm = 5 cm

Rückenmuskelkraft

Kraftarm = 5 cm Lastarm = 20 cm

Rückenmuskelkraft

Drehpunkt

Lastarm = 35 cm

Drehpunkt

Last = 20 kg

Wirbelkörper Last = 20 kg

Bandscheibe a

b

Rückenmuskelkraft =

20 x 20 = 80 kg 5

Last x Lastarm Rückenmuskelkraft =

Kraftarm

Rückenmuskelkraft =

20 x 35 = 140 kg 5

Beim richtigen Heben mit kurzem Lastarm und geradem Rücken (a) werden Rückenmuskulatur und Zwischenwirbelscheiben wesentlich weniger belastet als beim falschen Heben mit langem Lastarm und gekrümmtem Rücken (b). Aus: Lauber A, Schmalstieg P, Hrsg. Prävention und Rehabilitation. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

Abb. 9.46 Rückenschonendes Anheben einer Fahrtrage.

a

a b c d

b

c

d

Treten Sie frontal an die Fahrtrage heran. Gehen Sie mit geradem Rücken in die Hocke. Heben Sie die Fahrtrage mit geradem Rücken und vorgeneigtem Oberkörper an. Aufrechte Position.

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Rückenschonendes Arbeiten • Die richtige Hebe- und Tragetechnik reduziert die Belastung der Wirbelsäule. Auch ein regelmäßiges Training v. a. der Rumpfmuskulatur hilft, Folgeschäden zu vermeiden. Nutzen Sie Angebote wie Rückenschulen und beachten Sie folgende Regeln beim Heben, Tragen und Absetzen von Lasten: ● Heben von Lasten (▶ Abb. 9.46, ▶ Abb. 9.47): – Stellen Sie sich frontal und möglichst nahe an die Last, die Füße hüftbreit auseinander. – Umfassen Sie die Last mit geradem Rücken und gebeugten Knien. – Heben Sie die Last aus den Beinen und aus dem Gesäß, indem Sie die Kniegelenke strecken.





– Führen Sie Bewegungen immer gleichmäßig aus (nicht ruckartig oder mit Schwung). – Spannen Sie die Rücken- und Bauchmuskeln an, um die Wirbelsäule zu entlasten. – beim Heben der Last ausatmen (Luft nicht anhalten) – Verdrehen Sie die Wirbelsäule beim Heben nicht: Heben Sie erst die Last an, drehen Sie dann den ganzen Körper. Absetzen von Lasten: Gehen Sie in umgekehrter Reihenfolge vor, d. h., beugen Sie langsam die Knie ab und lassen Sie den Rücken dabei gerade. Tragen Sie Lasten möglichst nahe am Körper und verteilen Sie sie möglichst gleichmäßig auf beide Körperseiten (ungünstig: einseitiges Tragen). 239

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.47 Rückenschonendes Heben und Tragen.

9.7.2 Kinästhetik im Rettungsdienst Grundlagen Definition Kinästhetik Die Kinästhetik ist ein kreatives Handlungskonzept, das Ihnen zusammen mit den Notfallpatienten individuelle Möglichkeiten einer kraftsparenden Mobilisation bietet: Sie unterstützen die Patienten während der gesamten Mobilisation in ihren natürlichen Bewegungsabläufen, damit sie den Hauptanteil ihres Gewichts selbständig kontrollieren und tragen können.

a

b

a Tragen Sie die Last körpernah und auf beide Arme gleichmäßig verteilt. Um die Last besser vor den Körperschwerpunkt zu bringen, können Sie die Arme auch anwinkeln. b Zum Absetzen der Last beugen Sie die Knie, damit der Rücken gerade bleiben kann. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

● ●



Lassen Sie sich helfen, nutzen Sie technische Hilfsmittel. Geben Sie offen zu, wenn Ihnen eine Last zu schwer ist, und fordern Sie ggf. weitere Hilfe an (z. B. beim Transport übergewichtiger Personen durch ein enges Treppenhaus). bei mehreren Helfern: Heben Sie die Last gleichzeitig an bzw. setzen Sie sie gleichzeitig ab, Kommando durch den Helfer am Kopfende.

! Merken Heben von Lasten ● ●

richtig: aus den Beinen und dem Gesäß mit geradem Rücken falsch: aus dem Rücken heraus mit gebeugtem Rücken

RETTEN TO GO Rückenschonendes Heben und Tragen Durch die richtige Hebe- und Tragetechnik reduzieren Sie die Belastung Ihrer Wirbelsäule. Zu den wichtigsten Regeln zählen dabei: ● Heben von Lasten: Stellen Sie sich frontal vor die Last, umfassen Sie sie mit geradem Rücken und gebeugten Knien. Heben Sie die Last aus den Beinen und dem Gesäß durch Strecken der Kniegelenke. Vermeiden Sie Drehungen der Wirbelsäule beim Heben. ● Absetzen von Lasten: in umgekehrter Reihenfolge wie beim Heben, d. h. Knie langsam abwinkeln und Rücken dabei gerade lassen. ● Tragen Sie Lasten möglichst nahe am Körper und gleichmäßig verteilt. ● Nehmen Sie Hilfe an, fordern Sie ggf. Unterstützung ein.

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Zielsetzung • Der Grundsatz „Nicht gegen, sondern mit der Schwerkraft arbeiten“ bedeutet, dass Sie sich weg von den gängigen Unterstützungen aus einer statischen Position beim Hochheben von Patienten bzw. Ziehen an deren Armen und dafür hin zur schonenden und kraftsparenden kinästhetischen Interaktion bewegen. Nicht nur das Heben und Tragen von Patienten, sondern auch deren Mobilisation wird Ihren Rücken in Ihrem zukünftigen Arbeitsalltag belasten. Die Kinästhetik ist ein präventives, gesundheitsförderndes Konzept zur kraftsparenden Mobilisation der Patienten: Sie lernen, die Bewegungsressourcen der Patienten zu erkennen, zu aktivieren und zu nutzen. Jede Mobilisation zielt darauf ab, die Patienten so zu unterstützen, dass sie ihr Hauptgewicht selbständig tragen und in jeder Position ausbalancieren können. Dies verringert den Kraftaufwand auf beiden Seiten deutlich und spürbar. Weitere positive Effekte für die Patienten sind Wertschätzung, Erhalt der Selbständigkeit und ein Training der Muskulatur. Die Säulen der Kinästhetik • Die Begründer der Kinästhetik Dr. Lenny Maietta (Psychologin, 1950–2018) und Dr. Frank Hatch (Verhaltenskybernetiker) definierten 2003 die Kinästhetik folgendermaßen: „Kinästhetik ist das Studium der Bewegung und der Wahrnehmung, die wiederum aus der Bewegung entsteht – sie ist die Lehre von der Bewegungsempfindung.“ Das Erlernen kinästhetischer Handlungsabläufe beruht auf mehreren Säulen: ● Training des eigenen Gleichgewichtssinns und der Tiefensensibilität, z. B. durch Gehen in unebenem Gelände, u. a. zur Prävention von Verletzungen ● bewusste Selbstanalyse des natürlichen Bewegungsablaufs inkl. aller Gewichtsverlagerungen, z. B. beim Aufstehen (▶ Abb. 9.48) ● Selbsterfahrung von Mobilisation: Kinästhetische Mobilisation lässt sich nur durch mehrfaches Üben erlernen, am besten im Kollegenkreis unter der Aufsicht eines Kinästhetik-Trainers. Dabei ist es wichtig, dass Sie im aktiven Rollentausch sowohl die Rolle des Patienten als auch die des Helfenden erfahren. ● Beachten des Prinzips „Führen und Folgen“ (Synchronisation des Bewegungsablaufs): Der Patient gibt das Kommando zum Start der Mobilisation. Geben Sie ihm die Zeit, sich selbst individuell zu positionieren und erlauben Sie ihm, auch das Tempo des Bewegungsablaufs zu bestimmen. Allein Ihre Aussage: „Wir haben Zeit“ nimmt dem Patienten den Druck, die Aktivität in einer vorgegebenen Zeit ausführen zu müssen. Indem Sie den Schwung aus dem synchronen Bewegungsablauf nutzen, benötigen Sie viel weniger Kraft für die Mobilisation als bei einem Heben aus einer statischen Position.

Transport und Lagerung von Patienten Abb. 9.48 Bewegungsablauf beim Aufstehen.

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c

Beim Aufstehen erfahren Sie bewusst die Gewichtsverlagerung von den Sitzbeinhöckern zu den Beinen und weiter zu den Füßen. a Beim Sitzen auf einem Stuhl spüren Sie beide Sitzbeinhöcker und den Kontakt der Füße mit dem Boden. Die Ausgangsposition für das Aufstehen ist das Sitzen auf dem vorderen Teil der Sitzfläche. Dies verringert die Körperauflagefläche, ermöglicht eine größere Beweglichkeit und reduziert den Kraftaufwand während der Aktivität. b Beim Aufstehen senkt sich zunächst der Blick nach unten, dann folgt der Oberkörper mit einer Beugung nach vorne. Das Abstützen mit den Armen am Stuhl oder an einer Tischkante stabilisiert die Position. Gleichzeitig verteilt sich das Körpergewicht auf Arme und Beine. Der Blick geht stetig weiter zum Boden. Das Becken verlagert sich von der senkrechten Position nach hinten, sodass die Gewichtsverlagerung weg von den Sitzbeinhöckern hin zu den Beinen und Füßen spürbar wird. c Erst wenn das Gewicht auf beide Füße verteilt ist, beginnt die Aufrichtung des Körpers bis hin zum kompletten Stand. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.49 Touchpoints für die Mobilisation.



Hinterkopf

Brustkorb

Schultern ●

Ellenbogen

Unterarme

Beckenkamm Knie

Ferse

Schienbein

Touchpoints sind tastbare knöcherne Strukturen, an denen Sie Patienten bei der kinästhetischen Mobilisation unterstützen können. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Die Touchpoints für die Mobilisation (▶ Abb. 9.49) sind von außen gut tastbare knöcherne Strukturen (i. d. R. auch bei adipösen Menschen), an denen Sie den Patienten bei der Mobilisation unterstützen können. Sie bieten Ihnen einen festen Halt am Körper des Patienten und geben eine klare Bewegungsrichtung vor. Der Patient fühlt einen stabilen Halt und kann seine Körperspannung während der Aktivität anpassen. Dies erlaubt eine effektivere Führung als z. B. an der weichen Muskulatur. No-Touchpoints sind alle von außen tastbaren weichen Strukturen (Muskulatur, Achseln, Taille, Leisten, Hals) sowie die Wirbelsäule. Sie ermöglichen die Bewegungen und sollten daher nicht komprimiert und damit inaktiviert werden. Zudem ist ein Anfassen in diesen Bereichen für den Patienten in der Regel unangenehm bis schmerzhaft, was sich negativ auf seine Mitarbeit auswirken kann.

! Merke Erlaubte Berührungspunkte

Eine effektive Mobilisation des Patienten gelingt nur, wenn Sie ihn an knöchernen Strukturen unterstützen. Das bedeutet: Finger weg von den Weichteilen, vom Hals und von der Wirbelsäule! Bedeutung der Körperspannung • Eine ausreichende Körperspannung ist Voraussetzung dafür, sich zu halten und zu bewegen. Die Körperspannung des Patienten ist daher ein maßgeblicher Faktor für die Auswahl der geeigneten kinästhetischen Methode. Dabei gilt es zu beachten: ● Ein erhöhter Muskeltonus wird als Widerstand und Steifheit wahrgenommen und vermindert die Beweglichkeit. ● Bei einem zu niedrigen Tonus fehlt dem Patienten die Stabilität dafür, seinen Körper in einer Position zu halten. Erfassen Sie vor Beginn der Mobilisation den aktuellen Muskeltonus des Patienten durch den Händedruck bei der Begrüßung und anhand einer ressourcenorientierten Anamnese. Welche eigenständigen Bewegungsfähigkeiten hat der Patient, um sich unabhängig bzw. mit geringer Unterstützung im Alltag zu bewegen?

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Arbeitstechniken und Monitoring

Die kinästhetische interaktive Mobilisation

! Merke Mobilisation ist Teamarbeit

Nehmen Sie den Patienten mit einer wertschätzenden, verständlichen und zielorientierten Kommunikation von Anfang an in das Team auf. So fördern Sie seine Bereitschaft, aktiv bei der Mobilisation mitzuarbeiten. Praktische Beispiele • Essenziell für das Erlernen und Anwenden kinästhetischer Methoden sind die Selbsterfahrung und ein wiederholtes Üben, am besten in einem entsprechenden Kurs. Die folgenden Fotos und Videos zeigen Ihnen Beispiele für die Unterschiede zwischen gängigen und kinästhetischen Methoden im Rettungsalltag: ● Mobilisation aus der Rückenlage zum Sitzen an der Bettkante: ▶ Video 9.10 ● Aufstehen: – gängige Technik: ▶ Abb. 9.50 – kinästhetische Mobilisation mit einem (▶ Abb. 9.51, ▶ Video 9.11) oder mit 2 Helfern (▶ Abb. 9.52) ● Umsetzen eines Patienten von Stuhl zu Stuhl: ▶ Video 9.12 und ▶ Video 9.13 ● Mobilisation eines am Boden liegenden Patienten zum Sitzen mit (▶ Video 9.14) und ohne Tragetuch (▶ Video 9.15)

ACHTUNG Bevor Sie ein Tragetuch für die Mobilisation verwenden, muss unbedingt beim Hersteller des Tragetuchs die Freigabe für diese Nutzung eingeholt werden! Außerdem sollte die Methode durch den ÄLRD freigegeben worden sein. Liegen diese Genehmigungen nicht vor, haften Sie, falls der Patient geschädigt wird (z. B. bei einem Sturz durch Reißen des Tragetuchs).

Tipps und Hinweise ● Erklären Sie dem Patienten zu Beginn die Mobilisation im Ganzen und leiten Sie ihn dann fortlaufend in kleinen Schritten an. ● Lassen Sie dem Patienten ausreichend Zeit für den Bewegungsablauf: Geben Sie bei der Mobilisation keine Zeitvorgaben. Solche Anweisungen verstärken die Körperspannung des Patienten und reduzieren seine Beweglichkeit. Das erhöht den Kraftaufwand auf beiden Seiten. Video 9.10 Mobilisation zum Sitzen an der Bettkante.

Bei der gängigen Methode zieht der Helfende den Patienten an beiden Armen aus dem Liegen zum Sitzen. Dann fasst er beide Beine gleichzeitig und zieht sie mit einer Drehung aus dem Bett. Dies ist kein natürlicher Bewegungsablauf! Bei der kinästhetischen Methode wird der Patient aus der Rückenlage in die Seitenlage mobilisiert und erst dann zum Sitzen an der Bettkante aufgerichtet. Wichtig ist, dass der Patient anfangs nicht mittig im Bett liegt, sondern weiter außen, damit er beim Drehen nicht zu nah an die Bettkante gerät (Sturzgefahr!). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.50 Hochheben eines Patienten aus dem Sitzen (gängige Technik).

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b

c

a Variante 1 (1 Helfender): Hochheben. Die Helferin steht mit gebeugtem Oberkörper in statischer Position dicht vor dem Patienten. So hat dieser nur einen geringen Bewegungsspielraum, er kann sein Gewicht nicht nach vorne auf die Füße verlagern. Dadurch muss die Helferin einen Großteil des Patientengewichts nach oben stemmen. b Variante 2 (1 Helfender): Greifen am Oberarm. Der Helfer steht seitlich neben der Patientin in statischer Position und fasst sie am Oberarm. Er muss die Patientin in einer Scherbewegung und mit hohem Kraftaufwand am Oberarm nach oben ziehen. Der erforderliche feste Griff um die Oberarmmuskulatur der Patientin kann Hämatome auslösen. c Aufstehen mit 2 Helfenden: Die Helfenden greifen dem Patienten unter die Achseln, er kann seinen Schwerpunkt nicht verlagern. Die Helfenden ziehen ihn unter hohem Kraftaufwand fast senkrecht nach oben. Die gekrümmte Haltung und die folgende Scherbewegung bei der Unterstützung des Patienten sind schädlich für den Rücken der Helfenden. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

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Transport und Lagerung von Patienten Abb. 9.51 Kinästhetische Mobilisation aus dem Sitzen in den Stand.

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b

c

a Die Helferin steht vor dem Patienten, aber außerhalb seines Bewegungsraums. So hat der Patient den nötigen Bewegungsspielraum. Ein Fuß der Helferin zeigt nach vorne, der andere Fuß ist um ca. 90° gedreht. In dieser Position geht sie leicht in die Hocke, um mit geradem Rücken auf Augenhöhe mit dem Patienten zu kommen. Sie fasst den Patienten an beiden Händen und verlagert ihr Körpergewicht auf das hintere Bein. b Der Patient gibt das Kommando zum Start der Aktivität und bewegt seine Arme nach unten. Dadurch verlagert er sein Gewicht über die Beine auf die Füße und sein Gesäß hebt sich vom Stuhl. c Erst wenn der Patient sein Gewicht vollständig auf seine Füße verlagert hat, wird mit der Aufrichtung begonnen. Dafür geht die Helferin einen oder zwei kleine Schritte mit gestreckten Armen nach hinten. In der Folge richtet sich der Patient vollständig auf. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Video 9.11 Kinästhetische Mobilisation aus dem Sitzen in den Stand.

Der Helfer steht seitlich neben der Patientin, diese stützt sich auf einem stabilen Gegenstand (hier: Tisch) ab bzw. hält sich daran fest. Der Helfer hält die Patientin mit einer Hand am abgewandten Beckenkamm und mit der anderen Hand von vorne an der zugewandten Schulter. Durch leichten Druck auf den Beckenkamm gibt er den Impuls zu einer Aufwärtsbewegung. Gleichzeitig verhindert er durch ein Stützen an der Vorderseite der Schulter, dass sie nach vorn stürzt. Bei Kreislaufprobleme während der Mobilisation kann der Helfer die Patientin in einer Rückwärtsbewegung auf den Stuhl zurückführen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme ●



Fördern Sie die Selbstständigkeit des Patienten: Lassen Sie ihn, soweit möglich, alle Abläufe tatsächlich selbst ausführen und unterstützen Sie nur bei Bedarf. Achten Sie auf eine aktivierende Kommunikation: Aussagen wie „Wir helfen Ihnen hoch“ lösen ein passives Verhalten aus, der Patient wartet ab, auf welche Art er hochgehoben wird. Hingegen bewirken Sie durch eine Aussage wie „Wir unterstützen Sie beim Aufstehen“ ein aktives, mitarbeitendes Verhalten. Der Patient wird motiviert, zügig seinen individuellen Bewegungsablauf aus dem Gedächtnis abzurufen und sich selbst zu positionieren. Auch bei nur minimalen Veränderungen können Sie davon ausgehen, dass sich der Patient gedanklich bei der anstehenden Aktivität befindet. Lobende Worte fördern die Eigeninitiative des Patienten.



Anleitung zur Selbsthilfe: Die Anleitung des Patienten kann zwar einige Zeit dauern, hat aber den Vorteil, dass er bei einem nächsten Sturz eher selbst versuchen wird, mit den gezeigten Möglichkeiten selbstständig wieder aufzustehen. Beziehen Sie dabei ggf. Angehörige mit ein, damit sie den Patienten besser unterstützen können.

Mobilisation von Patienten mit Handicap • Von der eigenen körperlichen Unversehrtheit ausgehend, ist es schwer vorstellbar, wie Menschen mit körperlichen Einschränkungen ihren Alltag selbständig oder mit nur geringer Hilfe bewältigen. Beachten Sie immer, dass Patienten mit Handicap nicht hilflos sind, sondern ihre individuellen Bewegungsmuster entwickeln, um ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung möglichst lange zu erhalten. ● Erkennen und nutzen Sie die Ressourcen der Patienten. ● Bieten Sie Unterstützung an und leisten Sie diese nach der Anleitung des Patienten. So können Sie den an das Handicap angepassten natürlichen, wenn auch für Sie möglicherweise ungewöhnlichen Bewegungsablauf mit minimiertem Kraftaufwand für beide Seiten unterstützen. ● Bei Patienten mit Zustand nach Schlaganfall müssen Sie die neue Sitzgelegenheit immer auf die nicht betroffene Körperseite stellen. ● Auch Patienten mit Querschnittlähmung können sich meistens selbständig umsetzen. Fragen Sie nach, wie der Patient dabei normalerweise vorgeht. Mobilisation bei fehlender Mitarbeit • Beispielsweise können Patienten mit schwerer Demenz längeren Anweisungen oft nicht folgen. Leiten Sie solche Patienten in kleinen Schritten an. Hier ist es oft hilfreich, kurz vorzumachen, was die Patienten tun sollen. Nur wenn der Patient der Anweisung sofort folgen kann, kann er mitarbeiten. In manchen Fällen muss der Patient ohne dessen aktive Mitwirkung mobilisiert werden, gehen Sie hier möglichst zu zweit vor.

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Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.52 Kinästhetische Mobilisation aus dem Sitzen in den Stand.

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Diese Art der Mobilisation ist anwendbar, wenn der Patient auf dem Boden oder auf einem Stuhl sitzt. Sitzt der Patient auf dem Boden, müssen seine Beine angewinkelt sein. a Die Helfenden stehen zu beiden Seiten des Patienten. Der Patient neigt den Kopf zur Brust und beugt den Oberkörper nach vorne. So verlagert er sein Gewicht weg von den Sitzbeinhöckern hin zu den Beinen und Füßen. Die Helfenden drücken die Ellenbogen des Patienten während der gesamten Mobilisation fest an seinen Körper und fassen mit der anderen Hand seinen Unterarm. b Um die Körperspannung zu erhöhen, befinden sich die Unterarme des Patienten in einer leichten Außenrotation und seine Handflächen zeigen nach oben. Bei Patienten mit sehr hoher Körperspannung sollten die Unterarme leicht nach innen und die Handflächen nach unten zeigen, um die Beweglichkeit zu erhöhen. c Zum Aufstehen führen die Helfenden die Unterarme des Patienten in einer vorwärtsgehenden Bewegung so lange parallel zum Boden, bis der Patient sein Körpergewicht vollständig auf seine Füße verlagert hat. Erst wenn der Patient sein Gewicht selbst tragen kann, beginnen die Helfenden in einer weiteren Vorwärtsbewegung mit der Aufrichtung des Patienten in den Stand. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

Video 9.12 Kinästhetisches Umsetzen von Stuhl zu Stuhl.

Bei der gängigen Technik zieht der Helfer den Patienten aus der sitzenden Position hoch und dreht ihn mit hohem Kraftaufwand. Bei der kinästhetischen Methode wird die gewünschte Sitzgelegenheit in einem Winkel von 90° so nahe wie möglich neben den sitzenden Patienten gestellt. Der Helfer unterstützt ihn so, dass er im gesamten Bewegungsablauf sein Hauptgewicht selbständig tragen und balancieren kann. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

Kinästhetik im Rettungsalltag Neben dem Beherrschen der kinästhetischen Methoden sind auch Ihre Körpersprache, das Erkennen der körperlichen Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten und eine gemeinsame Planung wichtig für das Gelingen der Mobilisation. Beurteilen des körperlichen Zustands • Für die Planung einer Mobilisation müssen Sie den aktuellen körperlichen Zustand des Patienten kennen. Mit einer ressourcenorientierten Anamnese versuchen Sie, vom Patienten bzw. von Dritten möglichst viele Informationen über dessen Fähigkeiten im

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Video 9.13 Kinästhetisches Umsetzen von Stuhl zu Stuhl bei geringer Körperspannung.

Die hier gezeigte Methode verringert bei Patienten mit geringer Körperspannung die Sturzgefahr beim Umsetzen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

Alltag zu erhalten. Ein Händedruck zur Begrüßung erlaubt Rückschlüsse auf den aktuellen Muskeltonus und die Körperspannung, Sie bekommen nonverbal Informationen über den Allgemeinzustand des Patienten und Sie beginnen, Vertrauen aufzubauen. Nur wenige Patienten, denen Sie im Rettungsdienst begegnen werden, sind in einem so kritischen Zustand, dass nicht auf deren eigene Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Die reale Körperspannung eines Patienten, der aus Bequemlichkeit getragen werden möchte, können Sie leicht überprüfen, indem Sie beim Händedruck die Hand des Patienten unvermittelt zu sich heranziehen: Spüren Sie dabei einen deutlichen Widerstand, sind Muskeltonus und Kraft des Patienten deutlich höher, als er vorgibt. Weitere Hinweise auf die Mobilität ergeben sich unter Umständen aus Straßenschuhen, die Sie dem Patienten zuordnen können, oder Gehhilfen (z. B. Rollator).

Transport und Lagerung von Patienten Video 9.14 Kinästhetische Mobilisation mithilfe eines Tragetuchs.

Transport • Gibt es keine medizinische Kontraindikation, kann der Patient zu Fuß zum Rettungsmittel gehen. Eine kinästhetische Teilmobilisation ist aber häufig auch bei kritischen Patienten machbar, z. B. für ein Setzen an die Bettkante oder die Mobilisierung in einen Tragestuhl. Die Belastung des Patienten ist dabei nicht höher als bei der herkömmlichen Arbeitsweise.

ACHTUNG Wird ein Patient aufgrund von Verletzungen auf dem Spineboard immobilisiert, darf er nicht kinästhetisch mobilisiert werden.

Diese Methode zur Mobilisation eines Patienten vom Boden ist geeignet, wenn der Patient am Boden sitzt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

Video 9.15 Kinästhetische Mobilisation vom Boden.

Der unverletzte Patient wird angeleitet, über den Vierfüßlerstand mithilfe von 2 Stühlen vom Boden aufzustehen. Bei Knieproblemen kann es helfen, ein zusammengelegtes Handtuch unter die Knie zu schieben. Je nachdem, wo der Patient gestürzt ist, kann er sich z. B. an einem Toilettenstuhl, am Badewannenrand oder an stabilen Haushaltsgegenständen abstützen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

Beteiligte an der Mobilisation • Integrieren Sie den Patienten und ggf. andere Anwesende (z. B. Angehörige) in Ihre Planung. Weitere Anwesende sind v. a. bei Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme und Kommunikation mit dem Patienten wichtig. Manche Patienten sind so stark auf Vertrauenspersonen fixiert, dass die Mitarbeit bei der Anamnese und der anschließenden Mobilisation nur funktioniert, wenn sie von diesen Personen angesprochen und angeleitet werden.

! Merke Gehen lassen oder tragen?

„Zuerst fragen, dann tragen!“ lautet das Motto für die Mobilisation. Getragen wird nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Das erspart Ihnen unnötige Hilfeleistungen, erhält die Selbstständigkeit der Patienten und schützt Ihre eigene Gesundheit. Wenn Sie für einen Ihnen unbekannten Patienten den Auftrag „Transport mit Tragestuhl“ bekommen, lassen Sie den Tragestuhl dennoch vorerst im Fahrzeug: Ein sofort mitgebrachter Tragestuhl reduziert die Mitarbeit des Patienten und es wird unwahrscheinlicher, dass er selbständig gehend mit Ihnen das Haus verlässt, auch wenn er dazu in der Lage sein sollte.

Unfallverhütung ● Entfernen Sie vor dem Transport rutschende Bodenbeläge (z. B. Teppiche) und störendes Mobiliar. ● Ziehen Sie an der Fahrtrage oder sonstigen Hilfsmitteln beim Anhalten immer die Bremsen an. ● Legen Sie dem Patienten für den Transport ggf. Sicherheitsgurte an. ● Achten Sie auf eine optimale Position der Hilfsmittel. ● Hat der Patient die geplante Mobilisation verstanden? Vergewissern Sie sich und fragen Sie lieber noch einmal nach. ● Reichen die Körperspannung und Kraft des Patienten für die geplante Mobilisation aus? ● Muss die Mobilisation – in Abhängigkeit von den Fähigkeiten des Patienten – schrittweise durchgeführt werden? ● Trägt der Patient rutschfestes Schuhwerk bzw. Stoppersocken? ● Sind alle Anwesenden ausreichend und verständlich über die geplante Aktivität informiert? Ermuntern Sie alle Beteiligten, bei Verständnisproblemen nachzufragen. ● Vergewissern Sie sich, dass Ihre Ausgangsposition außerhalb des Bewegungsraums des Patienten ist und kein Teammitglied im Weg steht. ● Geben Sie auch Ihren Teammitgliedern verständliche Anleitungen.

! Merke Planung statt Haftung

Planen Sie jede Mobilisation sorgfältig. Denken Sie daran, dass Sie bei einer Schädigung des Patienten durch die Mobilisation in Haftung genommen werden können. Das gilt allerdings nicht nur für die kinästhetische Mobilisation, sondern für jede Form der Unterstützung, die Sie durchführen. Zeitaufwand • Ein in der Kinästhetik ausgebildetes Team benötigt im Durchschnitt die gleiche Zeit wie ein Team, das mit gängigen Methoden des Hebens und Tragens arbeitet. Die Zeit, die ein Patient zum Aufstehen und Gehen benötigt, kann Ihnen zwar sehr lang vorkommen, bei einem direkten Vergleich ist der Zeitaufwand jedoch nur unwesentlich höher als bei konventionellem Hochheben und Tragen. Somit steht der Kraftaufwand des Teams in keinem Verhältnis zu der gefühlt „gewonnenen Zeit“.

ACHTUNG Wird ein Patient zu schnell gehoben oder mobilisiert, kann eine Synkope (ggf. mit sturzbedingten Verletzungen) die Folge sein! Der vermeintliche Zeitgewinn steht hier im drastischen Gegensatz zu den Konsequenzen.

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Arbeitstechniken und Monitoring

9.7.3 Führen von Patienten RETTEN TO GO Kinästhetik im Rettungsdienst Die Methoden der Kinästhetik dienen dazu, bei einer Mobilisation den natürlichen Bewegungsablauf des Patienten zu unterstützen und anzuleiten: Der Patient soll die Hauptlast seines Gewichts selbst übernehmen, das Rettungspersonal wird entlastet. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass Sie sowohl Ihre eigenen Bewegungen als auch die des Patienten bewusst wahrnehmen. Nur so ist ein synchroner und fließender Bewegungsablauf mehrerer Beteiligter möglich. Die Unterstützung des Patienten erfolgt an den knöchernen Strukturen (Touchpoints). Die kinästhetische Mobilisation ist eine gut koordinierte Teamarbeit des Patienten und des/der Helfenden. Kinästhetische Methoden können insbesondere bei der Mobilisation einer liegenden Person zum Sitzen, einer sitzenden Person (allein oder zu zweit) und eines unverletzten Patienten nach Sturz sowie beim Umsetzen einer Person angewendet werden. Prinzipiell gilt: ● Die Kenntnis der eigenen, natürlichen Bewegungsabläufe ist die Voraussetzung für die Planung, optimale Anleitung und Unterstützung des Patienten für die Mobilisation. ● Der Bewegungsfreiraum des Patienten darf während der Mobilisation nicht eingeschränkt werden. ● Die Gewichtsverlagerung des Körpers läuft immer analog zum ständigen Richtungswechsel während des Bewegungsablaufs. Die Unterstützung der natürlichen Bewegung findet daher nur an den bewegungsfreien und nicht gewichttragenden Körperteilen statt. ● Die Kommunikation des Helfenden kann ein aktives oder passives Verhalten des Patienten auslösen. Für die Planung einer kinästhetischen Mobilisation im Einsatz müssen Sie den aktuellen Zustand des Patienten (Bewegungsfähigkeit inkl. der geistigen Fähigkeiten) kennen. Entscheidend sind die Körperspannung und Kraft des Patienten. Um die Selbstständigkeit des Patienten zu fördern, sollten Sie auch ungewöhnliche individuelle Bewegungsabläufe des Patienten berücksichtigen. Getragen wird nur, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sowohl innerhalb des Rettungsteams als auch patientenseitig müssen die Abläufe klar sein, um Unfälle zu vermeiden.

Patienten sollten nur zu Fuß zum RTW gehen, wenn sie gehfähig, bewusstseinsklar und kreislaufstabil sind. Achten Sie dabei darauf, den Patienten jederzeit sichern zu können, z. B. indem Sie sich bei ihm einhaken oder er sich bei Ihnen abstützen kann. Der Patient sollte die Hände frei haben, nehmen Sie ihm ggf. Taschen oder Unterlagen ab. Wählen Sie die Strecke so, dass keine Gegenstände im Weg liegen, die die Sicherheit des Patienten gefährden und dass er Hindernisse (z. B. Bordsteinkanten) sicher überwinden kann.

9.7.4 Transport von Patienten mit Hilfsmitteln Transportrichtung • Transportieren Sie Patienten so, dass sie sehen können, wohin sie getragen bzw. gefahren werden, d. h. mit den Füßen voran und Blick in Transportrichtung. Nur bei einem ansteigenden Transportweg (bergauf, treppauf) weist der Kopf in Transportrichtung (▶ Abb. 9.53b).

Tragestuhl Synonym • Tragesessel Beschreibung • Mit dem Tragestuhl (▶ Abb. 9.53) werden Patienten sitzend transportiert. Er wird eingesetzt, wenn Patienten nicht gehen können, ein Liegendtransport aber nicht notwendig ist, also bei kreislaufstabilen, nicht gehfähigen Patienten. Tragestühle sind wendig, benötigen nicht viel Platz und sind daher auch für den Transport bei beengten Platzverhältnissen geeignet (z. B. Treppenhäuser, Aufzüge). Sie haben vorne und hinten Tragegriffe und werden von 2 Helfenden getragen. Der Patient muss immer mit Sicherheitsgurten gesichert sein. Da er über Sicherheitsgurte verfügt und im RTW verankert werden kann, muss der Patient für den Transport nicht umgelagert werden. Selbstfahrende Tragestühle • Treppensteiger oder Treppenraupen (▶ Abb. 9.53b) sind Hilfssysteme, die es ermöglichen, Treppenstufen treppab zu überwinden. Sie entlasten das Rettungsfachpersonal deutlich (z. B. Stryker Tragestuhl StairPro®). Elektronische Treppensteiger können einen Tragestuhl auch treppauf transportieren (z. B. AAT s-max®). Sie lassen sich an viele Tragestühle anbauen und arbeiten praktisch auf „Knopfdruck“. Auf dem Markt findet sich eine Vielzahl von Modellen und Systemen.

Abb. 9.53 Tragestuhl. Tragestühle sind wendiger als Fahrtragen. Mit den Tragegriffen wird der Stuhl von 2 Helfenden getragen, auf ebenem Grund wird er gerollt. a Der Patient wird auf dem Tragestuhl mit Sicherheitsgurten gesichert. b Tragestühle mit Raupensystem erleichtern den Transport über Treppen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

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Transport und Lagerung von Patienten

Fahrtrage Die Fahrtrage (▶ Abb. 9.54) besteht aus einer abnehmbaren Krankentrage (Trageaufsatz) und einem höhenverstellbaren Fahrgestell mit Feststellbremsen. An der Trage befinden sich Tragegriffe für den Transport ohne Fahrgestell (z. B. über unwegsames Gelände), Gurte für die Sicherung des Patienten und seitliche Bügel. Je nach Modell sind die Kopf- und Fußteile verstellbar und ermöglichen so eine patientengerechte Lagerung (z. B. angehobenes Fußteil bei Schocklagerung). Denken Sie beim Abstellen der Fahrtrage immer daran, die Feststellbremse zu aktivieren. Beim Transport muss der Patient immer mit den Sicherheitsguten gesichert sein. Für stark adipöse Patienten gibt es spezielle Schwerlast-Fahrtragen (▶ Abb. 23.7). Elektrohydraulische Systeme ermöglichen es, dass die Trage sich auf Knopfdruck hebt und senkt.

Rettungstuch Synonyme • Tragetuch, Bergetuch Beschreibung • Das Rettungstuch (▶ Abb. 9.55) ist ein rechteckiges Tuch aus reißfestem Gewebe (meist Kunststoff) mit mehreren Trageschlaufen. Es eignet sich für das Retten und

den Transport nicht gehfähiger und/oder kreislaufinstabiler Patienten aus beengten Umgebungen (z. B. sehr enge Treppenhäuser) oder für Evakuierungen von Patienten aus einem Gefahrenbereich unter Zeitdruck (z. B. Brand in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung). Die maximale Traglast beträgt in der Regel 150 kg. Anwendung • Zum Umlagern auf ein Rettungstuch und den Transport sind mindestens 3 Helfer erforderlich, wegen der hohen körperlichen Belastung sollten Sie jedoch nach Möglichkeit auch zusätzliche Kräfte heranziehen (z. B. auch Ersthelfende oder Familienangehörige). Das Umlagern eines liegenden Patienten wird in folgenden Schritten durchgeführt (Falt-und-Roll-Technik, ▶ Video 9.16): 1. Legen Sie das Rettungstuch neben dem Patienten der Länge nach aus und falten oder rollen Sie es in Längsrichtung zur Mitte ein. 2. Drehen Sie den Patienten in die Seitenlage, sodass sein Rücken zum Rettungstuch weist. 3. Ziehen Sie die gefaltete Seite des Rettungstuchs an den Körper des Patienten heran. 4. Rollen Sie den Patienten vorsichtig auf die andere Seite. 5. Ziehen Sie das Rettungstuch flach aus und bringen den Patienten wieder in Rückenlage.

Abb. 9.54 Fahrtrage.

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a Mithilfe der Fahrtrage kann der Patient ohne weiteres Umlagern direkt in den RTW verbracht werden. Foto: © K. Oborny/Thieme b Der Patient muss auf der Fahrtrage immer nach Herstellerangaben gesichert sein. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.55 Rettungstuch.

Video 9.16 Umlagern mit dem Rettungstuch.

Zur Falt-und-Roll-Technik beim Umlagern mit dem Rettungstuch gibt es ein Video! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; Tragetücher werden häufig in beengten räumlichen Verhältnissen eingesetzt, wenn ein Transport mit einem Tragestuhl aufgrund der Kreislaufsituation des Patienten nicht möglich ist. Aus:

2023; Video: © K. Oborny/Thieme

retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

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Arbeitstechniken und Monitoring Beim Transport mit 3 Helfern fasst ein Helfer die Schlaufen am Fußende, während die anderen beiden Helfer die Schlaufen in der Mitte und am Kopfende des Rettungstuchs greifen. Die Füße des Patienten zeigen dabei in Transportrichtung. Um die körperliche Belastung zu reduzieren, achten Sie darauf, dass der Weg bis zur Fahrtrage möglichst kurz ist: Bringen Sie die Fahrtrage so nah wie möglich zum Patienten, z. B. zur Wohnungstür oder in den Hauseingang. Beim Umlagern auf die Fahrtrage kann das Tuch zum Transport unter dem Patienten verbleiben. Dies erleichtert die spätere Umlagerung des Patienten in der Notaufnahme auf das Patientenbett oder eine Transportliege. Das Tragetuch stört Röntgen- und MRT-Aufnahmen nicht und kann daher auch während einer Bildgebung belassen werden.

ACHTUNG Patienten, die z. B. aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung vollständig immobilisiert werden müssen, dürfen nicht in einem Rettungstuch transportiert werden.

Tragestuhl, Fahrtrage und Rettungstuch





Eine der Situation des Patienten angemessene Lagerung kann dessen Zustand positiv beeinflussen. Sofern aus medizinischen Gründen nicht anders erforderlich, sollten Sie bei der Wahl der Lagerungsart immer auf die Bedürfnisse des Patienten eingehen und die für ihn angenehmste Lagerung erfragen. Die Standardlagerung im Rettungsdienst ist die Rückenlagerung mit leicht angestelltem Kopfteil, entsprechend den Wünschen des Patienten. Für weitere wichtige Lagerungsarten siehe ▶ Tab. 9.8. Bei Bedarf können mehrere Lagerungen kombiniert werden, z. B. eine Linkseiten- und eine Trendelenburg-Lagerung bei einer Schwangeren mit hypovolämischem Schock.

RETTEN TO GO Lagerungsarten Im Rettungsdienst übliche Lagerungsarten sind: ● Rückenlagerungen (häufigste Lagerungsart): – Flachlagerung: z. B. Reanimation oder Wirbelsäulenverletzungen – Oberkörperhochlagerung: z. B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Dyspnoe oder Schädel-Hirn-Trauma – mit erhöhten Beinen („klassische“ Schocklagerung): bei Volumenmangelschock ohne Begleitverletzungen an Wirbelsäule, Becken oder Beinen – mit Kopftieflagerung (Trendelenburg-Lagerung): bei Volumenmangelschock mit Verletzungen an Wirbelsäule, Becken oder Beinen ● sitzende Lagerung (Herzbettlagerung): v. a. bei kardialem Lungenödem ● stabile Seitenlage: alle bewusstlose Patienten mit selbstständiger Atmung und ohne gesicherten Atemweg ● bauchdeckenentspannte Lagerung: bei Bauchschmerzen ● Linksseitenlage: bei allen Schwangeren ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel ● Fritsch-Lagerung (überkreuzte Beine auf Höhe der Kniegelenke): bei vaginalen Blutungen

RETTEN TO GO



9.7.5 Lagerungsarten

Der Tragestuhl (Tragesessel) wird eingesetzt, wenn Patienten nicht gehfähig sind, ein Liegendtransport aber nicht notwendig ist. Er ist gut für den Transport bei beengten Verhältnissen (z. B. in einem Treppenhaus) geeignet. Der Patient muss für den Transport mit den Sicherheitsgurten gesichert sein. Die Fahrtrage besteht aus einer abnehmbaren Krankentrage und einem höhenverstellbaren Fahrgestell. Je nach Modell sind die Kopf- und Fußteile verstellbar, um eine patientengerechte Lagerung zu ermöglichen. Der Patient muss für den Transport mit den Sicherheitsgurten gesichert sein. Das Rettungstuch eignet sich für die Rettung und den Transport nicht gehfähiger und/oder kreislaufinstabiler Patienten aus beengten Umgebungen oder für die Evakuierung aus einem Gefahrenbereich unter Zeitdruck. Die körperliche Belastung für die Helfer ist hoch!

Tab. 9.8 Wichtige Lagerungsarten im Rettungsdienst (SHT: Schädel-Hirn-Trauma). Durchführung

Indikationen

Rückenlage, Kopf und Beine des Patienten auf gleicher Höhe



Rückenlagerung mit erhöhten Beinen („klassische“ Schocklagerung, ▶ Abb. 11.1)

Rückenlage, Ankippen des Fußteils der Fahrtrage um 30–60°



Trendelenburg-Lagerung (Kopftieflagerung, ▶ Abb. 11.2)

Rückenlage, Ankippen der Krankentrage um 15–30° mit dem Kopf als tiefstem Punkt



Oberkörperhochlagerung (▶ Abb. 9.56)

Rückenlage, Ankippen des Kopfteils um ca. 30° (je nach Patientenzustand); Kopf in möglichst gerader Position (→ optimaler Blutabfluss über die Halsvenen)



Flachlagerung

248



● ●

Kontraindikationen

Reanimation (feste Unterlage!) Immobilisierung bei Verdacht auf Wirbelsäulenverletzung



Volumenmangelschock (Mobilisierung von Blut aus den Beinen → Anstieg des Herzzeitvolumens)



Volumenmangelschock bei Patienten mit Verdacht auf Verletzungen von Wirbelsäule, Becken oder Beinen

● ●

kardiogener Schock starke Atemnot Verdacht auf SHT

kardiale Notfälle (falls RRsyst > 80 mmHg) Dyspnoe Verdacht auf erhöhten Hirndruck (z. B. nach SHT)



RRsyst < 80 mmHg



● ● ●



erhöhter Hirndruck nach SHT akute kardiale Belastung (z. B. bei akutem Koronarsyndrom) kardiogener Schock starke Atemnot Verdacht auf SHT Verdacht auf Verletzungen von Wirbelsäule, Becken oder Beinen

Wärmeerhalt und Kühlung

Tab. 9.8 Fortsetzung. Durchführung

Indikationen

stabile Seitenlage, ▶ Abb. 9.57

bei Thoraxverletzungen: Drehung auf verletzte Seite



Herzbettlagerung (▶ Abb. 11.3)

sitzende Lagerung (Kopfteil um 30–90° aufgestellt) mit herabhängenden oder auf der Liege angewinkelten Beinen



bauchdeckenentspannte Lagerung (▶ Abb. 14.5)

Rückenlage, Beine angewinkelt (Knierolle), Oberkörper leicht hochgelagert (nach Patientenwunsch)



Linksseitenlagerung (▶ Abb. 20.2)

Lage auf der linken Seite, unterstützt durch eine Decke oder ein Kissen



Schwangere ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel zur Vermeidung eines Vena-cavaKompressionssyndroms (S. 480)

Fritsch-Lagerung (▶ Abb. 20.1)

Rückenlage, Beine etwa auf Höhe des Kniegelenke überkreuzt, sterile Vorlagen vor die Vulva



vaginale Blutungen, z. B. nach einer Geburt

Kontraindikationen

alle bewusstlosen Patienten mit ausreichender Eigenatmung und ohne gesicherten Atemweg



kardiales Lungenödem





● ●

Bauchschmerzen

● ●

Abb. 9.56 Oberkörperhochlagerung.

fehlende Atmung Herz-Kreislauf-Stillstand

Bewusstlosigkeit Schock Verletzungen der Wirbelsäule oder des Beckens Verletzungen der Wirbelsäule oder des Beckens Polytrauma

störungen bis hin zur Bewusstlosigkeit sowie Kreislauf- und Herzrhythmusstörungen hinzu (▶ Abb. 15.39).

ACHTUNG Häufig wird eine Unterkühlung zu spät erkannt, weil die Temperaturmessung vernachlässigt wird! Die Temperatur im Rettungswagen sollte für den Patienten angenehm sein und nicht für das Personal!

Der Patient befindet sich in Rückenlage, der Oberkörper ist um 30° erhöht. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

9.8 Wärmeerhalt und Kühlung 9.8.1 Wärmeerhalt Synonym • Hypothermieprophylaxe Grundlagen • Eine Hypothermie (S. 402) oder Unterkühlung ist definiert als ein Absinken der Körperkerntemperatur < 35 °C. Die Vermeidung bzw. Therapie dieses Zustands ist eine sehr wichtige, aber häufig vernachlässigte Maßnahme bei der Versorgung von Notfallpatienten: Bereits eine leicht verringerte Körpertemperatur hat negative Effekte auf den Organismus, z. B. eine reflektorische Steigerung des Stoffwechsels mit aktiver Wärmeproduktion durch Muskelzittern, wodurch der Sauerstoff- und Energieverbrauch ansteigt. Die Folgen sind ein Absinken des Blutzuckerspiegels, des pO2 und des pH-Werts im Blut. Ein weiteres Problem sind Gerinnungsstörungen, da die Blutgerinnung nur bei einer Körpertemperatur > 34,0 °C „funktioniert“. Bei einem weiteren Absinken der Temperatur kommen Bewusstseins-

Maßnahmen zum Wärmeerhalt • Am wichtigsten ist es, ein weiteres Auskühlen des Patienten zu vermeiden: ● Bringen Sie den Patienten an einen warmen, windgeschützten Ort (z. B. RTW). ● Heizen Sie den RTW mit der Standheizung auf ca. 28–30 °C vor: Auch wenn das Team bereits schwitzt, ist es für den Patienten meist noch zu kalt. ● Entfernen Sie ggf. kalte, feuchte Kleidung, bekleiden bzw. bedecken Sie den Patienten danach unmittelbar wieder. ● Verwenden Sie angewärmte Infusionslösungen (38–42 °C) aus der Thermobox. ● Decken Sie den Patienten nach der Untersuchung und Erstversorgung sorgfältig zu, mit einer Rettungsdecke (luftundurchlässige, aluminiumbeschichtete Folie) oder am besten mit einer speziellen Wärmedecke (▶ Abb. 9.58). Bei Verwendung einer Wärmedecke müssen Sie den Patienten immer zuerst mit einer normalen Decke (keine Rettungsdecke!) zudecken. Über diese legen Sie dann die Wärmedecke (nur auf den Körperstamm!). Das gilt v. a. für bewusstlose, analgesierte oder narkotisierte Patienten, die nicht sagen können, wenn die Wärmedecke zu heiß ist.

249

9

Arbeitstechniken und Monitoring Abb. 9.57 Stabile Seitenlage.

a

b

c

d

Die stabile Seitenlage wird bei bewusstseinsgetrübten Patienten angewendet, deren Atemwege noch nicht gesichert wurden. a Winkeln Sie den Ihnen zugewandten Arm des Patienten nach oben an. Die Handfläche muss nach oben zeigen. b Heben Sie den gegenüberliegenden Arm des Patienten über dessen Brust und legen Sie ihn mit dem Handrücken an die Ihnen zugewandte Wange des Patienten. c Fassen Sie mit Ihrer freien Hand das gegenüberliegende Bein des Patienten etwas oberhalb des Knies und stellen Sie es auf. Ziehen Sie dann den Patienten zu sich herüber. d Überstrecken Sie den Kopf des Patienten, sodass der Mund zum Sekretabfluss geöffnet ist. Fotos: © K. Oborny/Thieme

Abb. 9.58 Wärmedecke.

a

b

c

Wärmedecken enthalten eingenähte Platten, die bei Kontakt mit Luftsauerstoff Wärme abgeben. Nach der Entnahme aus der Vakuumpackung erwärmen sie sich innerhalb von 10 Minuten durch eine langsam ablaufende chemische Reaktion auf ca. 40 °C. a Ready-Heat II®-Wärmedecke in der Verpackung. b Zunächst wird die Patientin mit einer normalen Decke zugedeckt: Legen Sie Wärmedecken niemals direkt auf die Haut des Patienten, da sie Temperaturspitzen bis 50 °C erreichen können. c Über die Wärmedecke wird eine weitere Decke gebreitet, um eine stationäre Lufthülle um die Patientin zu schaffen. Die Wärmedecke sollte den Rumpf möglichst vollständig bedecken. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

250

Todesfeststellung und Leichenschau

9.8.2 Kühlung

Abb. 9.59 Totenflecke.

Die Kühlung von Patienten spielt im Rettungsdienst eine eher geringe Rolle. Das wichtigste Hilfsmittel sind Kühlkompressen. In folgenden Situationen ist das Thema Kühlung relevant, das Vorgehen wird bei den einzelnen Notfällen beschrieben: ● lokale Kühlung: z. B. bei kleineren Sportverletzungen (S. 367) ● systemische Kühlung: v. a. bei Hitzschlag (S. 406) ● Kühlung von Amputaten (S. 378)

RETTEN TO GO Wärmeerhalt und Kühlung Wärmeerhalt: Das Vermeiden einer Unterkühlung ist eine wichtige, häufig vergessene Maßnahme im Rettungsdienst. Wichtige Maßnahmen: ● Patienten an einen warmen, windgeschützten Ort (z. B. RTW) bringen ● RTW auf ca. 28–30 °C vorheizen ● ggf. kalte, feuchte Kleidung entfernen ● angewärmte Infusionslösungen (38–42 °C) ● Patienten mit Rettungs- oder Wärmedecke zudecken Kühlung: Es stehen Kühlkompressen zur Verfügung, die zur lokalen (z. B. bei kleinen Verletzungen) oder systemischen Kühlung (v. a. bei Hitzschlag) angewendet werden.

Totenflecke entstehen ab ca. 15–30 Minuten nach einem HerzKreislauf-Stillstand und lassen sich in einem Zeitraum von ca. 10 Stunden wegdrücken. Aus: Scholz J, Gräsner J, Bohn A, Hrsg. Referenz Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2019





9.9 Todesfeststellung und Leichenschau Definition Klinischer Tod und Scheintod ●



Der klinische Tod entspricht einem Ausfall der Herzaktion und der Atmung (Herz-Kreislauf-Stillstand). Durch eine kardiopulmonale Reanimation kann dieser Zustand reversibel sein! Der Scheintod (Vita minima) ist eine weitgehende Reduktion aller Lebens- und Stoffwechselvorgänge: Der Mensch wirkt leblos, durch apparative Untersuchungen (z. B. EKG, EEG) sind jedoch noch Lebenszeichen nachweisbar. Oft bestehen unsichere Todeszeichen, die Ursachen sind häufig die der Vokal-Regel (s. u.).

Als Rettungssanitäter werden Sie unweigerlich früher oder später mit dem Thema Sterben und Tod konfrontiert. Auch wenn die Todesfeststellung und die Leichenschau ärztliche Aufgaben sind, so können Sie unter Umständen bei der Leichenschau assistierend tätig werden.

9.9.1 Todesfeststellung Nur approbierte Ärzte und Ärztinnen dürfen den Tod eines Menschen im rechtlichen Sinne feststellen. Allerdings dürfen Mitarbeitende des Rettungsdienstes beim Vorliegen sicherer Todeszeichen Reanimationsmaßnahmen oder Behandlungen unterlassen. Sichere Todeszeichen ● Totenflecke (Leichenflecke, Livores, ▶ Abb. 9.59) sind normalerweise rötliche bis blauviolette, zunächst wegdrückbare Hautverfärbungen. Sie entstehen, der Schwerkraft folgend, ab ca. 15–30 Minuten nach einem Herz-KreislaufStillstand in den abhängigen Körperpartien. Farbvariationen der Flecken können Hinweise auf die Todesursache



geben, z. B. hell- bis kirschrot bei Kohlenmonoxidvergiftung (S. 276). Die Totenstarre (Rigor mortis) beginnt ca. 2–3 h nach Eintritt des Todes, ist nach ca. 6–8 h voll ausgeprägt und löst sich (je nach Umgebungstemperatur) nach ca. 2–3 Tagen wieder. Autolyse und Fäulnis: Körpereigene Enzyme und Bakterien zersetzen das Gewebe. Typische Fäulniszeichen sind ein stark eindringlicher Geruch, eine grünliche Verfärbung der Bauchdecke und eine Aufblähung des Bauchs durch Gase. Verletzungen, die nicht mit dem Leben vereinbar sind, z. B. Abtrennung des Kopfes, Zerstückelung

! Merke Todeszeichen und Reanimation

Liegt mindestens 1 sicheres Todeszeichen vor, dürfen Sie eine Reanimation unterlassen. Bestehen nur unsichere Todeszeichen, müssen Sie immer eine Reanimation beginnen. Unsichere Todeszeichen ● Blässe der Haut ● Pulse nicht tastbar ● Abnahme der Körperwärme ● Atemstillstand ● Herz-Kreislauf-Stillstand ● Bewusstlosigkeit ● fehlende Pupillenreaktion ● Muskelerschlaffung, fehlende Muskeleigenreflexe Die Vokal-Regel (AEIOU) fasst wichtige Ursachen für unsichere Todeszeichen zusammen: ● A – Anämie, Anoxämie, Alkoholvergiftung (!) ● E – Epilepsie, Elektrizität ● I – Injury (Verletzung, v. a. bei Schädel-Hirn-Trauma) ● O – Opioide und andere zentral wirksame Substanzen ● U – Urämie oder andere Formen einer metabolischen Entgleisung, Unterkühlung

251

9

Arbeitstechniken und Monitoring

9.9.2 Leichenschau Verantwortlichkeit • Prinzipiell ist jeder approbierte Arzt entsprechend landesrechtlichen Vorschriften zur Leichenschau verpflichtet und muss diese bei jedem Todesfall möglichst unmittelbar durchführen. Zielsetzung • Die Leichenschau dient dazu, folgende Punkte festzustellen: ● Wer ist der Tote (Personalien)? ● Ist die Person tatsächlich verstorben, d. h., liegen sichere Todeszeichen vor? ● Wann ist die Person verstorben (Todeszeitpunkt)? ● Woran ist die Person verstorben (Todesursache, wenn möglich)? ● Um welche Todesart handelt es sich: natürlicher Tod (z. B. Herzinfarkt), nicht natürlicher Tod (z. B. Unfälle, Vergiftungen, Suizid) oder unklar Vorgehen • Für die Leichenschau muss der Verstorbene vollständig entkleidet werden. Auch sämtliche Verbände und Pflaster sind vollständig zu entfernen, da sich darunter Verletzungen verbergen können, die auf eine nicht natürliche Todesart hinweisen können. Wichtig ist außerdem eine ausreichende Beleuchtung. Neben der Inspektion der gesamten Körperoberfläche müssen auch alle Körperöffnungen untersucht werden. Im Anschluss stellt der untersuchende Arzt eine Todesbescheinigung (Totenschein) aus. Vgl. den Abschnitt zum Vorgehen bei erfolgloser Reanimation (S. 327).

ACHTUNG Bei Verdacht auf einen nicht natürlichen Tod oder bei ungeklärter Todesart muss die Polizei benachrichtigt werden. Bei Hinweisen auf übertragbare Krankheiten ist das zuständige Gesundheitsamt zu informieren.

252

RETTEN TO GO Todesfeststellung und Leichenschau ●





Die Feststellung des Todes und die Leichenschau sind ärztliche Aufgaben, Sie können jedoch assistierend tätig werden. Besteht bei einer Person mindestens eines der folgenden sicheren Todeszeichen, dürfen Sie auch als Rettungssanitäter eine Reanimation unterlassen: – Totenflecke (Leichenflecke, Livores) – Totenstarre (Rigor mortis) – Autolyse und Fäulnis – Verletzungen, die nicht mit dem Leben vereinbar sind (z. B. Abtrennung des Kopfes) Bei unsicheren Todeszeichen (z. B. Blässe der Haut, reduzierte Körperwärme, Atem- oder Herz-Kreislauf-Stillstand), muss immer reanimiert werden. Bei der Leichenschau werden die Personalien, der Tod, der Todeszeitpunkt, ggf. die Todesursache und die Todesart festgestellt. Im Anschluss wird eine Todesbescheinigung ausgestellt.

9.10 Weitere Arbeitstechniken Weitere im Rettungsdienst wichtige Techniken und Vorgehensweisen werden in anderen Kapiteln beschrieben: ● Reanimation und Defibrillation (S. 316) ● Prinzipien der Blutstillung (S. 375) ● Augenspülung bei Kontakt des Auges mit Säuren, Laugen oder anderen reizenden Fremdstoffen (S. 466) ● Dokumentation (S. 566): Jeder Einsatz muss ausführlich dokumentiert werden.

IV

Notfälle 10 Respiratorische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 11 Schock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 12 Herz-Kreislauf-Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 13 Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 14 Gastrointestinale, endokrine und Stoffwechselnotfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 15 Traumatologische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 16 Neurologische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 17 Psychische Notfälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 18 HNO-Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 19 Augennotfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 20 Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 21 Nephrologische und urologische Notfälle, Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 22 Intoxikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 23 Besondere Patientengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 24 Spezielle Einsatzsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536

10

Respiratorische Notfälle

10.1 Grundlagen Definition Respiratorischer Notfall Bei einem respiratorischen Notfall hat der Patient Atemnot (Dyspnoe), also das Gefühl hat, nicht ausreichend Luft zu bekommen, und/oder eine akute respiratorische Insuffizienz. Letztere bedeutet eine Unterversorgung des arteriellen Bluts mit Sauerstoff (O2) mit oder ohne Anstieg der arteriellen CO2-Konzentration. In der Regel stehen beide Merkmale in einer Wechselbeziehung. Häufigkeit und Ursachen • Respiratorische Notfälle sind ein häufiges Problem im Rettungsdienst: Allein ca. 21 % aller Kindernotfälle sind durch respiratorische Probleme bedingt. Ursächlich können Störungen der Lungenfunktion in den Bereichen Ventilation, Diffusion oder Perfusion (S. 68) sein, aber auch Störungen der zentralen Atemregulation (S. 75), z. B. bei Vergiftungen. Risiken • Bei einer schweren Atemstörung droht ein akuter Atemstillstand (= Apnoe) bzw. ein hypoxisch bedingter Kreislaufstillstand (S. 316). Insbesondere das Gehirn reagiert sehr empfindlich auf einen O2-Mangel: Zunächst entwickeln sich Bewusstseinsstörungen bzw. Bewusstlosigkeit, innerhalb weniger Minuten folgen irreversible Gehirnschäden. Besonderheiten in der Patientenversorgung • Im Rettungsdienst ist es entscheidend, einen respiratorischen Notfall schnell zu erkennen, die Ursache zu ermitteln und eine entsprechende Behandlung einzuleiten. Störungen der Atmung sind für den Betroffenen oft belastend und bedrohlich. Da256

her sind neben dem vorrangigen Ziel der Verbesserung des physischen Zustands des Patienten auch psychische Aspekte wichtig: Erläutern Sie den Patienten die Abläufe und erhobenen Befunde, nehmen Sie ihre Ängste ernst und begegnen Sie ihnen verständnisvoll. So können Sie in dieser unbekannten und bedrohlichen Situation Sicherheit und Vertrauen vermitteln. Da Stress oder Angst den O2-Bedarf zusätzlich erhöhen, können diese beruhigenden Maßnahmen zudem die physische Situation verbessern.

10.1.1 Leitsymptome Atemnot Definition Atemnot Atemnot beschreibt das subjektive Gefühl einer erschwerten Atmung. Sie geht in der Regel einher mit einer erhöhten Atemfrequenz (Tachypnoe) als Versuch des Körpers, eine unzureichende Sauerstoffversorgung auszugleichen. Synonym • Dyspnoe Ursachen • Atemnot unter Belastung (Belastungsdyspnoe) oder bereits in Ruhe (Ruhedyspnoe) ist ein häufiges Symptom mit vielfältigen Ursachen. Im Rettungsdienst relevant sind v. a. Störungen, die zu akuter Dyspnoe führen, also zu einer Atemnot, die sich innerhalb weniger Minuten bis Stunden entwickelt. Siehe dazu ▶ Abb. 10.1. ▶ Tab. 10.1 zeigt wichtige anamnestische Fragen, um bei Patienten mit akuter Atemnot die möglichen Ursachen einzugrenzen. Zur Ermittlung relevanter Vorerkrankungen sollten Sie auch nach dauerhaft eingenommenen Medikamenten fragen.

Atemnot Zyanose Leitsymptome

Basismaßnahmen

▶S. 259

▶S. 259

Asthma bronchiale COPD

▶S. 261

▶S. 264

Lungenentzündung Lungenödem Notfälle und Erkrankungen

▶S. 258

Husten und Bluthusten ▶S. 258

Anamnese und Untersuchung

Grundlagen

▶S. 256

▶S. 267

▶S. 268

Hyperventilation

▶S. 270

Ertrinkungsunfälle ▶S. 271 Aspiration

▶S. 273

Kohlendioxid-Erstickung

▶S. 275

Kohlenmonoxid-Intoxikation

Respiratorische Notfälle bei Kindern

Allgemeines

▶S. 278

Bronchiolitis

▶S. 278

Akute Epiglottitis Pseudokrupp

▶S. 276

▶S. 279

▶S. 280

Abb. 10.1 Akute Dyspnoe.

Atmungssystem Schwellung, Entzündung Verletzung Fremdkörper

Asthma bronchiale COPD

Pneumothorax Pleuraerguss

obere Atemwege • Schleimhautschwellung, Entzündung (z.B. Epiglottitis, Reizgasinhalation, Allergie) • Fremdkörperverlegung • Verletzung untere Atemwege • Asthma bronchiale • COPD • Fremdkörperverlegung Lunge • Pneumonie • Lungenödem Pleura • Pneumothorax • Pleuraerguss

Pneumonie Lungenödem

Lungengefäße • Lungenembolie

Lungenembolie

Ursachen außerhalb des Atmungssystems • kardial (z.B. Herzinsuffizienz) • psychogen (z.B. Hyperventilation) • zerebral (z.B. Störung des Atemzentrums, Trauma, Intoxikation)

• Stoffwechselerkrankungen (z.B. entgleister Diabetes mellitus mit Azidose) • Anämie

Gezeigt sind die für den Rettungsdienst relevantesten Ursachen für akute Atemnot. 257

10

Respiratorische Notfälle

Tab. 10.1 Wichtige anamnestische Fragen, Befunde und Verdachtsdiagnosen bei Patienten mit akuter Atemnot. anamnestische Fragen

Befunde

Verdachtsdiagnosen

Wie hat die Dyspnoe begonnen?

plötzlich

z. B. Lungenembolie, Fremdkörperaspiration

schleichend

z. B. Pneumonie

Bestehen Begleitsymptome?

gestaute Halsvenen, plötzliche Atemnot, Thoraxschmerzen, Husten

Lungenembolie

Tachypnoe, Tachykardie, kribbelnde Hände, evtl. Pfötchenstellung

Hyperventilationssyndrom

hohes Fieber

Pneumonie

Thoraxschmerzen, Übelkeit/Erbrechen, Todesangst

akutes Koronarsyndrom

Sind Allergien oder andere Vorerkrankungen bekannt?

Allergie

Asthmaanfall

COPD, Herzinsuffizienz

akute Verschlechterung der Grunderkrankung

Gab es besondere Ereignisse vor Beginn der Atemnot?

körperliche Belastung

akute Linksherzinsuffizienz

psychische Belastung

Hyperventilationssyndrom

längere Reise, größere Operation, Bettlägerigkeit

Lungenembolie

Zyanose

Abb. 10.2 Zyanose.

Definition Zyanose Die Sauerstoffsättigung des Blutes ist verringert (> 5 g/dl des Hämoglobins nicht mit O2 gesättigt), wodurch sich Haut und Schleimhäute bläulich verfärben. Einteilung ● zentrale Zyanose: Die Sauerstoffsättigung ist bereits in den Arterien zu gering, auch die Zunge und die Mundschleimhaut sind bläulich verfärbt (▶ Abb. 10.2a). Folgende Erkrankungen können ursächlich sein: – Herzfehler mit Rechts-Links-Shunt: Sauerstoffarmes Blut aus dem rechten Herzen mischt sich mit dem sauerstoffreichen Blut im großen Kreislauf. – Störungen im Bereich der Lunge: Störungen der Ventilation, Diffusion oder Perfusion beeinträchtigen den Gasaustausch und damit die O2-Aufnahme in den Alveolen: z. B. Lungenembolie, Asthma bronchiale, COPD, Lungenstauung (z. B. bei Linksherzinsuffizienz) ● periphere Zyanose: Die O2-Ausschöpfung in den Kapillaren ist erhöht. Dadurch werden Hände und Füße und oft v. a. die Lippen zyanotisch, die Zunge und die Mundschleimhaut bleiben aber rosig (▶ Abb. 10.2b). Diese Veränderung kann den gesamten Körper betreffen (generalisierte Zyanose, z. B. bei Herzinsuffizienz) oder auf einen bestimmten Bereich begrenzt sein (lokalisierte Zyanose, z. B. bei venöser Thrombose oder Kälteeinwirkung an den Akren).

ACHTUNG Bei Patienten mit Blutarmut (Anämie) zeigt sich die Zyanose erst bei einem deutlichen O2-Mangel im Blut! Wichtige Fragen bei Zyanose Hat sich die Zyanose akut entwickelt (z. B. bei Lungenembolie)? ● Sind pulmonale oder kardiale Vorerkrankungen bekannt (z. B. bei Herzinsuffizienz, COPD, Asthma bronchiale)? ● Welche Begleitsymptome liegen vor? – thorakale bzw. retrosternale Schmerzen: Verdacht auf akutes Koronarsyndrom mit kardialer Dekompensation ●

258

a

b

Bei zu geringer Sauerstoffsättigung des Blutes verfärben sich die Haut und/oder die Schleimhäute bläulich. a Zentrale Zyanose: Zunge und Lippen sind zyanotisch verfärbt. b Periphere Zyanose: Die Lippen sind zyanotisch verfärbt, die Zunge bleibt aber rosig. Aus: Arastéh K, Baenkler H, Bieber C, Brandt R, Chatterjee T, Dill T, Ditting T, Duckert M, Eich W et al., Hrsg. Duale Reihe Innere Medizin. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

– gestaute Halsvenen, plötzliche Atemnot: Verdacht auf Lungenembolie mit pulmonaler Dekompensation – exspiratorischer Stridor: Verdacht auf Asthma bronchiale oder COPD

Husten und Bluthusten Husten ist ein Begleitsymptom bei vielen Atemwegserkrankungen und kann daher – je nach Kontext – z. B. auf einen banalen Infekt der oberen Atemwege oder aber auf einen respiratorischen Notfall hinweisen.

! Merke Husten als Notfall

Warnsignale für schwerwiegende Ursachen sind Dyspnoe, Zyanose, Thoraxschmerzen, Bewusstseinsstörungen sowie Blutbeimengungen im Sputum oder das Aushusten größerer Blutmengen. Stärkere Blutungen (z. B. aus einem Tumor) können durch eine „Füllung“ des Bronchialsystems zu einer schweren respiratorischen Insuffizienz führen.

Grundlagen Wichtige Fragen bei Husten ● Ist der Husten akut aufgetreten oder besteht er schon seit mehreren Wochen? – akuter Husten: z. B. häufig bei akuter Bronchitis, Pneumonie (oft zusätzlich Fieber und schweres Krankheitsgefühl), Lungenembolie (zusätzlich plötzliche Luftnot), nach einer Fremdkörperaspiration oder Reizstoffinhalation (als akuter Reizhusten) – chronischer Husten: z. B. bei COPD, Asthma bronchiale, Bronchialkarzinom ● Ist der Husten produktiv, d. h., produziert der Patient beim Husten Auswurf (Sputum)? – eitriges Sputum, z. B. bei Bronchitis, Pneumonie – rötlich-schaumiges Sputum, z. B. bei (fortgeschrittenem) Lungenödem ● Ist dem Sputum Blut beigemengt (Hämoptyse) oder werden größere Blutmengen ausgehustet (Hämoptoe)? – häufige Ursachen: Bronchialkarzinom, Tuberkulose, seltener bei ausgeprägter Bronchitis oder Pneumonie oder bei Einnahme von Antikoagulanzien („Blutverdünnern“ – Medikamentenanamnese!) – wegen der Gefahr einer respiratorischen Insuffizienz Transport in ein Krankenhaus mit Thoraxchirurgie und/ oder Pulmologie und Möglichkeit einer Notfall-Bronchoskopie und bronchoskopischen Blutstillung ● Sind Vorerkrankungen bekannt (z. B. Asthma bronchiale, COPD)? ● Welche Medikamente nimmt der Patient ein (z. B. ACEHemmer: Hustenreiz als häufige Nebenwirkung)?

Akute Thoraxschmerzen Akute Thoraxschmerzen sind ein häufiger Alarmierungsgrund für den Rettungsdienst. Für die vielfältigen Ursachen und deren Abklärung siehe das Kapitel Herz-Kreislauf-Notfälle (S. 296).

RETTEN TO GO Leitsymptome bei respiratorischen Notfällen ●





Atemnot (Dyspnoe): Die Ursachen dieses sehr häufigen Symptoms sind vielfältig, z. B. Verlegungen oder Erkrankungen der Atemwege (z. B. Fremdkörperaspiration, Asthma bronchiale, COPD), Erkrankungen der Lunge (z. B. Pneumonie) oder der Pleura (z. B. Pneumothorax), aber auch psychische Ursachen (z. B. Hyperventilation) und kardiale Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz). Zyanose: Die Haut und/oder die Schleimhäute eines Patienten sind durch einen Sauerstoffmangel bläulich verfärbt. – periphere Zyanose: Die Sauerstoffausschöpfung in den Kapillaren ist erhöht, z. B. bei Herzinsuffizienz oder Kälteexposition. Hände, Füße und v. a. Lippen sind zyanotisch, die Zunge und die Mundschleimhaut bleiben rosig. – zentrale Zyanose: Die Sauerstoffsättigung des arteriellen Blutes ist zu gering, z. B. bei Lungenembolie, Asthmaanfall oder COPD. Bei diesen Patienten sind auch die Zunge und die Mundschleimhaut bläulich verfärbt. Husten kann ein Begleitsymptom eines banalen Infekts sein, aber auch ein Hinweis auf einen respiratorischen Notfall. Warnsignale sind Dyspnoe, Zyanose, Thoraxschmerzen, Bewusstseinsstörungen sowie Blutbeimengungen im Sputum (Hämoptyse) oder das Aushusten größerer Blutmengen (Hämoptoe).

10.1.2 Anamnese und Untersuchung Erster Eindruck • Bei Patienten mit einer Atemstörung können bereits bei der Begrüßung und der ersten Inspektion Symptome auffallen, die auf ein Problem in den Bereichen A (Atemwege) oder B (Belüftung) hinweisen: ● Klagt der Patient darüber, „fast keine“ oder schlecht Luft zu bekommen? ● Wie spricht der Patient mit Ihnen (z. B. abgehackte Sätze wegen Atemnot?) ● Besteht Atemnot bereits in Ruhe? ● Setzt der Patient die Atemhilfsmuskulatur ein? ● Hören Sie bereits ohne Stethoskop Atemnebengeräusche (▶ Tab. 10.2)? ● Hustet der Patient? Wenn ja, mit oder ohne (blutigen) Auswurf? ● Wie ist das Hautkolorit des Patienten? Ist die Haut z. B. blass oder bläulich verfärbt (Zyanose)? ● Wie ist das Umfeld des Patienten (z. B. Rauchgeruch)? Anamnese • Die Anamnese orientiert sich am SAMPLERSchema (S. 193). Dabei sind die medizinische Vorgeschichte und die Medikamentenanamnese oft wegweisend: Häufig ist der Notfall durch eine Verschlechterung einer Grunderkrankung (z. B. Asthma bronchiale) bedingt. Untersuchung • Das Hauptaugenmerk beim Vorgehen nach dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) liegt auf den Bereichen A (Atemwege) und B (Belüftung). Folgende Befunde weisen auf akute Lebensgefahr hin: ● Schnappatmung, Atemstillstand → sofortige Reanimation ● Verschlechterung einer Atemnot im Verlauf, Zeichen der muskulären Erschöpfung ● pathologische Atemmuster (▶ Tab. 8.2), z. B. Biot- oder Cheyne-Stokes-Atmung ● Atembewegungsstörungen, im Sinne einer paradoxen oder inversen Atmung (S. 187) ● akut aufgetretene Zyanose ● Bewusstseinsstörungen bzw. Bewusstlosigkeit ● Kreislaufinstabilität bzw. Schockzeichen In der Untersuchung nach dem IPPA(F)-Schema (S. 195) liegt bei spontan atmenden Patienten besondere Aufmerksamkeit auf der Auskultation der Lunge bzw. auf Atemnebengeräuschen (▶ Tab. 10.2). Achten Sie bei der Untersuchung auch auf die Fingernägel der Patienten: Bei chronischen Lungenerkrankungen mit Hypoxie wirken diese oft groß und übermäßig gewölbt (Uhrglasnägel, ▶ Abb. 10.3).

10.1.3 Basismaßnahmen Die Maßnahmen sind abhängig von Ursache und Schweregrad des respiratorischen Notfalls. Neben dem Sichern der Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) und dem Basismonitoring (S. 198), insbesondere Puls, O2-Sättigung, RR, ggf. EKG, hat das Atemwegsmanagement (S. 207) eine besondere Bedeutung. Weitere wichtige Maßnahmen: ● atemerleichternde Lagerung: Bewusstseinsklare Patienten mit Dyspnoe werden möglichst mit aufrechtem Oberkörper gelagert, damit sie die Atemhilfsmuskulatur gut einsetzen können. Spezielle Haltungen wie der Kutschersitz und die Torwarthaltung (▶ Abb. 10.5) können ebenfalls sinnvoll sein. ● Patienten beruhigen und auf Wärmeerhalt achten

259

10

Respiratorische Notfälle

Tab. 10.2 Wichtige Atemnebengeräusche – Übersicht über die Hauptursachen. Atemnebengeräusch

Ursache

Klang

Stridor (trockene Rasselgeräusch)

Einengung oder teilweise Verlegung der Atemwege

● ● ●

● ●

feuchte Rasselgeräusche, ▶ Audio 10.2

Luft strömt durch einen Bronchus, der mit dünnflüssigem Sekret unter Blasenbildung gefüllt ist.

● ● ● ●

Vorkommen (Beispiele)

inspiratorisch: beim Einatmen zu hören, auch ohne Stethoskop Pfeifen/Juchzen verlängerte Inspiration

Problematik im Bereich von Kehlkopf, Luftröhre oder großen Bronchien ● Epiglottitis ● Pseudokrupp ● Fremdkörperaspiration (obere Atemwege)

exspiratorisch: beim Ausatmen zu hören, evtl. auch ohne Stethoskop Pfeifen, Giemen, Brummen (▶ Audio 10.1)

Problematik im Bereich der kleinen Bronchien und der Bronchiolen ● Asthma bronchiale ● COPD ● Fremdkörperaspiration (tiefere Atemwege)

feinblasiges Blubbern/Brodeln: Flüssigkeit in den Lungenbläschen v. a. beim Einatmen zu hören

● ●

Linksherzinsuffizienz mit Lungenstauung Pneumonie

grobblasiges Blubbern/Brodeln: Flüssigkeit in den großen Bronchen mitunter auch ohne Stethoskop hörbar



Lungenödem

Abb. 10.3 Trommelschlägelfinger und Uhrglasnägel.

Audio 10.2 Feinblasige Rasselgeräusche.

Bei chronischer Hypoxie sind die Fingerendglieder oft kolbig aufgetrieben und die Fingernägel vergrößert und verstärkt gewölbt. Aus: Greutmann M, Lüscher T. Inspektion. In: Battegay E, Hrsg. Differen-

Feuchte Rasselgeräusche (RG) entstehen, wenn Luft durch einen Bronchus strömt, der mit dünnflüssigem Sekret unter Blasenbildung gefüllt ist. Grobblasige RG entstehen bei Flüssigkeit in den Bronchien (v. a. bei Lungenödem), feinblasige RG bei Flüssigkeit in den Lungenbläschen (z. B. bei Pneumonie). Aus: Gahl K, Auskulta-

zialdiagnose Innerer Krankheiten. 21. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

tion und Perkussion. Stuttgart: Thieme; 2014

Audio 10.1 Trockene Rasselgeräusche.







Giemen und Brummen: Zäher Schleim füllt das Innere der Bronchien nicht vollständig aus, die Membranen und Fäden werden in Schwingung versetzt und verursachen typische Geräusche. Giemen und Brummen sind die „klassischen“ Auskultationsbefunde bei COPD und Asthma bronchiale. Aus: Gahl K, Auskultation und Perkussion. Stuttgart: Thieme; 2014

260

frühzeitige Sauerstoffgabe (S. 216) bei Patienten mit Atemnot und/oder Zyanose, die noch ausreichend selber atmen können, möglichst über eine Inhalationsmaske mit Reservoir und Nichtrückatemventil (Ziel: SpO2 92–96 %) – Achtung: Bei Patienten mit chronischen Atemwegserkrankungen (v. a. COPD) darf O2 nur unter strenger Überwachung der respiratorischen Situation gegeben werden, da der Atemantrieb dadurch unterdrückt werden kann (Ziel: SpO2 88–92 %). je nach Kreislaufsituation und Medikamentenbedarf i. v.Zugang vorbereiten bei unzureichender Spontanatmung assistierte Beatmung (S. 219) bzw. Intubation (S. 212), ggf. Koniotomie (S. 216)

Notfälle und Erkrankungen

Grundlagen RETTEN TO GO Respiratorische Notfälle: Grundlagen ●



Anamnese und Untersuchung: Zur Anamnese und weiterführenden Untersuchung bieten sich das SAMPLERund IPPA(F)-Schema an. Der „erste Eindruck“, die Vorgeschichte und Medikamentenanamnese des Patienten können bereits richtungsweisend sein. Bei respiratorischen Notfällen liegt das Hauptaugenmerk auf den Punkten A und B des (c)ABCDE-Schemas. Nachdem die Atemwege kontrolliert und ggf. freigemacht wurden, wird die Atmung kontrolliert und beurteilt. Wesentliche Abweichungen von den physiologischen Vergleichswerten bei Atemfrequenz, Atemtiefe, Atemgeräuschen und Atemrhythmus sind als Alarmsignal zu werten. Achten Sie bei der Auskultation der Lunge auf feuchte und trockene Rasselgeräusche. Basismaßnahmen: Sicherung der Vitalfunktionen, Basismonitoring, Atemwegsmanagement, atemerleichternde Lagerung, Patienten beruhigen, Wärmeerhalt, ggf. i. v.Zugang vorbereiten, ggf. frühzeitige O2-Gabe, bei unzureichender Spontanatmung assistierte Beatmung bzw. Intubation, ggf. Koniotomie

10.2 Notfälle und Erkrankungen 10.2.1 Asthma bronchiale Fallbeispiel Die Luft bleibt weg!*

Definition Asthma bronchiale Bei Patienten mit Asthma bronchiale ist das Bronchialsystem überempfindlich gegen bestimmte Reize, was zu einer chronischen Entzündung der Bronchien mit anfallsweisen Verengungen der Atemwege führt. Diese sind von allein oder durch eine medikamentöse Behandlung „umkehrbar“ (reversibel). Pathophysiologie • Die Bronchialschleimhaut ist bei Patienten mit Asthma bronchiale dauerhaft gereizt bzw. entzündet. Die Folgen sind eine erhöhte Produktion von Sekret und Schleim, Schwellungen (Ödeme) der Schleimhaut und Spasmen (Verkrampfungen) der Muskulatur in den Wänden der Bronchien. Dies führt zu einer Verengung der Bronchien (Bronchialobstruktion) mit Problemen bei der Atmung, v. a. bei der Ausatmung: Die Luft strömt zwar relativ normal in die Lunge ein, kann aber nicht mehr ausreichend ausgeatmet werden. Dies führt zu einer Überblähung der Lunge. Auslöser von Asthmaanfällen • ▶ Abb. 10.4 ● allergisches oder extrinsisches Asthma bronchiale: Die Asthmaanfälle werden durch den Kontakt mit Substanzen ausgelöst, gegen die die Patienten eine Allergie (S. 290) entwickelt haben. Die häufigsten Allergene sind Tierhaare, Hausstaub (bzw. der Kot von Hausstaubmilben) und Pollen, seltener sind Nahrungsmittel- oder Berufsallergene (z. B. Mehlbestandteile beim „Bäckerasthma“). ● nicht allergisches oder intrinsisches Asthma bronchiale: Rauch, kalte Luft, Atemwegsinfektionen, Medikamente (z. B. ASS und NSAR = Analgetika-Asthma), psychische Belastungen, Schmerzen oder starke körperliche Belastung (Anstrengungsasthma) können Asthmaanfälle auslösen. ● Mischformen: Auch bei bestehender Allergie können intrinsische Faktoren Asthmaanfälle auslösen.

Symptomatik und Differenzialdiagnosen Symptomatik • Bei einem Asthmaanfall sind, je nach Schweregrad, folgende Symptome zu erwarten: ● plötzlich beginnende Atemnot, Probleme beim Sprechen ● Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, atemerleichternde Haltung (▶ Abb. 10.5) ● anfallsartiger, trockener Husten ● Auskultationsbefund: verlängerte Ausatmung mit exspiratorischem Giemen und Brummen (▶ Audio 10.1) ● erhöhte Herz- und Atemfrequenz ● Zyanose ● Unruhe, Angst, Panik bis hin zur Todesangst ● Schweißausbruch

© bubutu/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by a model

Sie werden auf den Sportplatz einer Schule gerufen. Dort treffen Sie auf eine 12-jährige Schülerin, die sich an der Wand abstützt und nach Luft ringt. Eine Sportlehrerin betreut sie und berichtet, dass das Mädchen unter Asthma leide und an diesem Vormittag schon einmal Atemprobleme gehabt habe. Diese habe die Schülerin allerdings mit ihrem eigenen Asthmaspray gut behandeln können. Jetzt allerdings, so die Schülerin selbst, werde „es immer schlimmer“, das Spray wirke nicht mehr. *Fallbeispiel fiktiv

Warnhinweise für bedrohliche Asthmaanfälle • Die meisten Patienten mit Asthma bronchiale sind gut geschult und können mit ihrer Erkrankung und ihrer Bedarfsmedikation („Asthmaspray“) kompetent umgehen. Mitunter kommen dennoch kritische Situationen vor, die Sie an folgenden Symptomen erkennen können: ● Die Atemnot ist so stark, dass der Patient nicht mehr sprechen kann. ● Die SpO2 fällt stark ab, der Patient wird verwirrt und schläfrig. ● In der Auskultation sind keine Atemgeräusche mehr zu hören („silent chest“). ● Die Atmung wird durch eine Erschöpfung der Atemmuskulatur flacher, langsamer und evtl. unregelmäßig. ● Der Patient wird zyanotisch. ● Die Herzfrequenz sinkt ab. 261

10

Respiratorische Notfälle Abb. 10.4 Asthma bronchiale.

Knorpel

Luftweg frei

normal

intrinsisch Stress

Luftverschmutzung

kalte Luft

Medikamente

körperliche Belastung

allergische Sofortreaktion

Pollen

Tierhaare

Reizung der Bronchien

Hausstaub

Virusinfekt

akuter Asthmaanfall zusammengezogene Bronchialmuskulatur (Bronchospasmus)

extrinsisch

geschwollene Schleimhaut (Schleimhautödem) vermehrter Schleim (Dyskrinie) Luftweg verengt Auslöser von Asthmaanfällen sind allergische und nicht allergische Faktoren wie Kälte oder Infekte. Die Verengung der Luftwege löst bei den Patienten Atemnot aus. Aus: retten - Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme; 2023 Tab. 10.3 Differenzialdiagnosen eines Asthmaanfalls. Differenzialdiagnose

Hinweise

akute Exazerbation einer COPD (S. 264)

langjähriges Rauchen, bekannte chronische Bronchitis

Asthma cardiale bei Linksherzinsuffizienz (S. 306)

bekannte Herzschädigung, hoher Blutdruck, ▶ Tab. 10.4

Lungenembolie (S. 303)

Thoraxschmerzen, Atemnot

Funktionsstörung der Stimmbänder (vocal cord dysfunction)

anfallsartige Atemnot, die spontan innerhalb von Minuten abklingt; keine Wirkung von Asthmamedikamenten

Komplikationen • Vor allem bei verzögertem Therapiebeginn (z. B. Asthmaspray nicht verfügbar) besteht die Gefahr einer muskulären Erschöpfung mit Hyperkapnie und/oder Hypoxämie (▶ Tab. 3.6). Lebensgefährlich ist ein Status asthmaticus, ein Anhalten eines Asthmaanfalls über mehrere Stunden trotz adäquater Medikation. Wird die Erkrankung über

262

längere Zeit nicht (ausreichend) behandelt, besteht die Gefahr einer dauerhaften Lungenschädigung, ähnlich wie bei einer COPD (S. 264). Differenzialdiagnosen • Siehe ▶ Tab. 10.3.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): vorrangig SpO2, Puls, AF, RR ● Lagerung mit aufrechtem Oberkörper, damit der Patient die Atemhilfsmuskulatur optimal einsetzen kann, Positionierung in atemerleichternder Haltung (▶ Abb. 10.5): – Kutschersitz: Der Patient sitzt mit geöffneten Beinen auf der vorderen Hälfte der Sitzfläche eines Stuhls. Die Fußspitzen zeigen leicht nach außen. Die Arme ruhen auf den Oberschenkeln und tragen die Last des Oberkörpers. Der Rücken ist gerundet, die Hände hängen locker herab, der Kopf ist leicht nach vorn geneigt. Alternativ kann der Patient die Unterarme auf einer Tischplatte ablegen.

Notfälle und Erkrankungen Abb. 10.5 Atemerleichternde Haltungen. Alle atemerleichternden Haltungen haben denselben Effekt: Die Schultern werden hochgedrückt, um den Einsatz der Atemhilfsmuskeln und damit die Ausdehnung des Brustkorbs zu erleichtern. a Kutschersitz. b Torwarthaltung. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a



● ●





● ●

b

– Torwarthaltung: Der Patient steht in breitem Stand mit gebeugten Beinen und nach vorn geneigtem Oberkörper. Die Hände liegen auf den Knien, die Finger weisen nach innen. Die Ellenbogen zeigen zur besseren Öffnung des Brustkorbs nach außen und sind leicht gebeugt. Patienten beruhigen und betreuen: Eine Abnahme von Angst und Stress reduziert den O2-Bedarf. enge Kleidung öffnen, ggf. für Frischluft sorgen zur Lippenbremse auffordern bzw. anleiten und dabei unterstützen, Atemkommandos geben (▶ Video 10.1) möglichst zügige O2-Gabe, Flow initial 10 l/min, je nach SpO2 ggf. anpassen (Ziel: 92–96 %) notärztliche Unterstützung anfordern bei fehlender Besserung trotz Basismaßnahmen, schwerer Dyspnoe, Komplikationen oder vital bedrohlichen Zuständen Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation Transport: Je nach Verlauf und Schwere des Anfalls sollten sich die Patienten in ihrer hausärztlichen Praxis oder in einer Notaufnahme vorstellen. Klingt ein leichter Anfall nach der präklinischen Therapie rasch ab, müssen die Patienten meistens nicht stationär aufgenommen werden. In schwereren Fällen sollten sie in eine Klinik mit internistisch-pulmologischer Abteilung transportiert werden.

Erweiterte Maßnahmen • Die meisten Patienten mit Asthma bronchiale besitzen einen „Asthmaspray“ für die Eigenbehandlung von Asthmaanfällen. Dieser enthält als Bronchospasmolytikum ein kurzwirksames β2-Sympathomimetikum (S. 134) wie Salbutamol (z. B. Sultanol®), das akut eine Erweiterung der Bronchien bewirkt. Unterstützen Sie den Patienten ggf. dabei, diese Eigenmedikation anzuwenden. Achtung: Erfragen Sie vorab, wie oft der Spray bereits angewendet wurde, und achten Sie auf die Herzfrequenz.

! Merke Verwechslungsgefahr bei Asthmasprays

Viele Patienten mit Asthma bronchiale haben zusätzlich einen Glukokortikoid-Spray. Dieser wird bei häufigen Anfällen angewendet, um die Entzündung in den Bronchien und damit die Anfallshäufigkeit zu reduzieren, hat jedoch keine direkte bronchienerweiternde Wirkung und ist damit nicht geeignet, einen Anfall zu beenden. In der Stresssituation eines Asthmaanfalls kann es jedoch passieren, dass der Patient die beiden Sprays verwechselt und für die Eigenmedikation versehentlich den Glukokortikoid-Spray verwendet.

Video 10.1 Anleitung für die Lippenbremse.

Bei der Lippenbremse lässt der Patient die Lippen nur einen Spalt weit geöffnet oder spitzt sie wie beim Pfeifen und atmet gegen diesen Widerstand aus. Dies verlängert und verbessert die Phase des Ausatmens. Kinder kann man dazu z. B. Kerzen ausblasen oder einen Tischtennisball durch die Ausatemluft bewegen lassen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

chen Medikation des Patienten. Mittel der Wahl sind Bronchospasmolytika (S. 134) zur Erweiterung der Bronchien, am besten über eine Verneblermaske (▶ Abb. 4.10b). Zum Einsatz kommt ein β2-Sympathomimetikum wie Salbutamol (z. B. Sultanol®), ggf. in Kombination mit einem Parasympatholytikum wie Ipratropium (Atrovent®). Weitere Optionen sind ein Glukokortikoid wie Prednisolon p. o. oder i. v. (S. 136), ein β2-Sympathomimetikum wie Reproterol (z. B. Bronchospasmin®) i. v. oder Magnesiumsulfat i. v. oder inhalativ. Die Infusion einer VEL unterstützt die Sekretverflüssigung. Da die Substanzen Tachykardien und Herzrhythmusstörungen auslösen können, wird (spätestens) vor der Applikation ein Monitoring-EKG angelegt. Bei einem Status asthmaticus bzw. bei zunehmender Erschöpfung trotz der genannten Maßnahmen muss frühzeitig an atemunterstützende Maßnahmen gedacht werden, z. B. eine NIV mit CPAP-Maske (S. 219). Als Ultima Ratio muss der Patient intubiert und beatmet werden.

Die Auswahl der Medikation richtet sich nach dem Auslöser des Asthmaanfalls sowie nach dem Zustand und der tägli-

263

10

Respiratorische Notfälle

Fallbeispiel Fortsetzung – Die Luft bleibt weg! Sie gehen nach dem (c)ABCDE-Schema vor: ● A: Die oberen Atemwege sind frei, Ihnen fällt eine angestrengte Atmung auf. ● B: Sie hören bereits ohne Stethoskop ein pfeifendes, trockenes exspiratorisches Atemgeräusch, in der Auskultation bestätigt sich dies. Die Atemfrequenz ist auf ca. 25/min erhöht. Die Lippen sind leicht blau gefärbt, das Pulsoxymeter zeigt eine SpO2 von 86 % an. ● C: Radialispuls 125/min, RR 130/95 mmHg, CRT 3 s ● D: Die Schülerin ist wach, guter körperlicher Zustand. ● E: Die Schülerin klagt nicht über Schmerzen. Im Vordergrund der Symptomatik steht eindeutig eine B-Problematik, v. a. bei der Ausatmung (verlängerte und von pfeifenden, trockenen Rasselgeräuschen begleitete Exspiration). Da Sie dieses Problem wohl nicht ohne die Gabe von Medikamenten werden lösen können, entscheiden Sie sich, notärztliche Unterstützung nachzufordern. Bis zum Eintreffen des NA leiten Sie die Schülerin an, ihre Atemhilfsmuskulatur und die Lippenbremse einzusetzen, und verabreichen wegen der akuten Atemnot in Verbindung mit einer Tachypnoe und einer SpO2 < 90 % Sauerstoff (10 l/min über

Maske). Der Zustand der Patientin verbessert sich daraufhin etwas, sodass Sie eine Anamnese nach SAMPLER-Schema durchführen können: ● S: Dyspnoe, Tachypnoe, Zyanose, verlängerte Ausatmung, exspiratorischer Stridor ● A: Hausstaub- und Tierhaarallergie ● M: β2-Sympathomimetika: Autohaler mit Salbutamol, 1 Hub bei Bedarf ● P: seit mehreren Tagen leichte Erkältung, Asthma bronchiale bekannt seit etwa 5 Jahren ● L: 1 Marmeladenbrot zum Frühstück ● E: im Tagesverlauf 3 Hübe des eigenen Sprays verwendet ● R: nicht eruierbar Nach wenigen Minuten trifft eine Notärztin ein und legt einen i. v.-Zugang an, der mit einer VEL offengehalten wird. Sie behandelt den Asthmaanfall mit einer Salbutamolinhalation (5 mg auf 2 ml NaCl 0,9 % über Maskenvernebler) und Prednisolon i. v. Hierdurch verbessert sich die Symptomatik deutlich und die O2-Gabe kann reduziert werden. Nach Voranmeldung wird die Schülerin in die nächstgelegene Kinderklinik transportiert.

RETTEN TO GO ●

Asthma bronchiale ●









264

Definition: Das Bronchialsystem ist überempfindlich gegen bestimmten Reize, was zu einer chronischen Entzündung der Bronchien mit anfallsweisen Verengungen der Atemwege führt. Diese sind von allein oder durch eine medikamentöse Behandlung „umkehrbar“ (reversibel). Ursachen: Unterschieden werden eine allergische oder extrinsische (z. B. durch Tierhaare, Pollen, Hausstaub) und eine nicht allergische oder intrinsische Form, bei der die Anfälle z. B. durch Rauch, kalte Luft, Atemwegsinfektionen, Medikamente (z. B. ASS), psychische oder körperliche Belastung oder Schmerzen ausgelöst werden. Mischformen sind nicht selten. Symptomatik bei Asthmaanfall: plötzlich beginnende Atemnot, Probleme beim Sprechen, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, atemerleichternde Haltung, anfallsartiger, trockener Husten, in der Auskultation verlängerte Ausatmung mit exspiratorischem Giemen und Brummen, erhöhte Herz- und Atemfrequenz, Zyanose, Unruhe, Angst, Panik, Schweißausbruch Warnhinweise für einen lebensbedrohlichen Anfall: sehr starke Atemnot mit Sprechunfähigkeit, starker Abfall der SpO2, schläfriger und verwirrter Patient, keine Atemgeräusche in der Auskultation hörbar („silent chest“), flache, langsamer und evtl. unregelmäßig werdende Atmung, Zyanose, Absinken der Herzfrequenz ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, Af, RR), Lagerung mit aufrechtem Oberkörper, atemerleichternde Haltungen (Kutschersitz, Torwarthaltung), Patienten beruhigen und betreuen, enge Kleidung öffnen, ggf. für Frischluft sorgen; zur Lippenbremse anleiten, Atemkommandos geben; O2-Gabe, Flow initial 10 l/min, Ziel: SpO2 92–96 %; NA anfordern (fehlende Besserung trotz Basismaßnahmen, schwere Dyspnoe, Komplikationen, vitale Gefährdung), Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation, Transport:

in schwereren Fällen in eine Klinik mit internistisch-pulmologischer Abteilung ToDo erweitert: Unterstützung bei der Anwendung der Eigenmedikation (Achtung: richtigen Spray wählen!); β2Mimetikum, ggf. kombiniert mit Parasympatholytikum inhalativ über Verneblermaske; weitere Optionen: Glukokortikoid p. o. oder i. v., β2-Mimetikum i. v., Magnesiumsulfat i. v. oder inhalativ; ggf. atemunterstützende Maßnahmen wie NIV; Ultima Ratio: Intubation/Beatmung

10.2.2 COPD Grundlagen Definition COPD Der Begriff „chronisch-obstruktive Lungenerkrankung“ (COPD: chronic obstructive pulmonary disease) umfasst chronische Krankheiten der Lunge, die mit einer zunehmenden und unumkehrbaren Verengung der Bronchien (irreversible Obstruktion) einhergehen. Diese entwickelt sich aus einer chronischen Bronchitis (= in den letzten 2 Jahren mindestens 3 Monate Husten mit Auswurf) und/ oder einem Lungenemphysem (s. u.). Risikofaktoren bzw. Ursachen • Die COPD ist eine der häufigsten chronischen Lungenerkrankungen und die vierthäufigste Todesursache weltweit. Betroffen sind v. a. ältere Personen. Der wichtigste Risikofaktor ist Zigarettenrauch (v. a. aktive Raucher, aber auch ehemalige und Passivraucher). Weitere Risikofaktoren sind Luftschadstoffe (z. B. Feinstaub, Ozon, Reizstoffe), häufige virale Atemwegsinfekte in der Kindheit, eine gestörte vorgeburtliche Lungenentwicklung sowie genetische Faktoren. Lungenschädigung • Schadstoffe (v. a. Zigarettenrauch) irritieren und schädigen die Schleimhaut der Bronchien. Die Schleimhautdrüsen bilden vermehrt zähflüssigen Schleim, der nicht vollständig abtransportiert werden kann, da auch die Flimmerhärchen ihre Funktion verlieren. Eine chronische Bronchitis entsteht. Wirken die Schadstoffe weiter auf die Schleimhaut ein, bleibt die Entzündung bestehen

Notfälle und Erkrankungen Abb. 10.6 Entstehung der COPD.

Noxe, z.B. Zigarettenrauch

Flimmerhärchen können Schleim nicht mehr transportieren

Drüsen bilden vermehrt Schleim

Bronchospasmus Entzündung (chronische Bronchitis)

vermehrter Schleim

Obstruktion

(Schleimhautödem) Bronchien werden irreversibel geschädigt

Noxe bleibt bestehen, z.B. fortgesetztes Rauchen

chronisch-obstruktive Bronchitis (COPD)

Alveolen werden zerstört Lungenemphysem

Luftansammlung Im Unterschied zum Asthma bronchiale ist die Obstruktion bei COPD durch die Gabe von Medikamenten nicht mehr vollständig reversibel. Aus: I care Krankheitslehre. Stuttgart: Thieme; 2020 und führt letztlich zu einer dauerhaften Gewebeveränderung mit irreversibel verengten Bronchien. Wie bei Patienten mit Asthma bronchiale reagieren die Bronchien überempfindlich, was einen Bronchospasmus zusätzlich fördert. Eine chronisch-obstruktive Bronchitis entsteht (▶ Abb. 10.6). Durch die chronische Entzündung werden außerdem aggressive Enzyme freigesetzt, die die Alveolarwände angreifen und das Bindegewebe zerstören. Sie tragen zur Entstehung eines Lungenemphysems bei, d. h. zu einer unumkehrbaren, pathologischen Erweiterung der Lufträume unterhalb der Endbronchiolen. Dadurch entstehen funktionslose Lufträume, in denen kein Gasaustausch mehr möglich ist. Entwicklung eines Cor pulmonale • Die chronische Obstruktion behindert die Ventilation der Alveolen, die Folge ist eine chronische Hypoxie. Physiologisch werden in der Lunge Gefäße zu schlecht belüfteten Lungenanteilen verengt, damit das Blut v. a. durch gut belüftete Anteile fließt. Ist bei einer COPD die gesamte Lunge schlecht belüftet, verengen sich die Lungenarterien chronisch und es resultiert eine Druckerhöhung im Lungenkreislauf (pulmonale Hypertonie). Das rechte Herz muss gegen diesen erhöhten Druck arbeiten und wird dadurch chronisch überlastet. Die Folge ist eine Rechtsherzinsuffizienz, ein Cor pulmonale (Rechtsherzbelastung infolge einer pulmonalen Hypertonie). Akute Exazerbationen • Bei einer akut exazerbierten COPD (AECOPD) verschlechtert sich der Zustand von Patienten mit COPD plötzlich deutlich, sodass potenziell Lebensgefahr für die Betroffenen besteht. Die häufigsten Auslöser sind bakterielle oder virale Atemwegsinfektionen, als mitauslösend gelten feuchte Witterung, Kälte und Umweltbelastungen. Akute Exazerbationen werden daher gehäuft in den Herbstund Wintermonaten beobachtet.

Symptomatik und Differenzialdiagnosen Allgemeine Symptomatik • Typisch für die COPD sind die AHA-Symptome: ● Auswurf: Hochhusten von Schleim ● Husten: chronisch, mitunter seit Jahren ● Atemnot: zunächst bei körperlicher Belastung (Belastungsdyspnoe), später auch in Ruhe (Ruhedyspnoe) Im Krankheitsverlauf nimmt die körperliche Leistungsfähigkeit ab und es entwickelt sich eine chronische Hypoxämie (O2-Mangel im arteriellen Blut) mit zentraler Zyanose (▶ Abb. 10.2a). Im fortgeschrittenen Stadium wird die Abatmung von CO2 unzureichend und es resultiert eine respiratorische Globalinsuffizienz (zusätzlich pCO2 ↑). Auffällig sind zudem Zeichen einer chronischen Lungenüberblähung („Fassthorax“, ▶ Abb. 10.7) und einer nachlassenden (Rechts-)Herzleistung (▶ Abb. 12.7, Ödeme an den Knöcheln und Unterschenkeln, gestaute Halsvenen) sowie ein Gewichtsverlust (pulmonale Kachexie, v. a. durch die erhöhte Atemanstrengung). Akute Exazerbation • Typische Hinweise sind zunehmende Atemnot, Tachykardie, Tachypnoe, Zyanose, Unruhe, Angst und mitunter Bewusstseinsstörungen. Die Ausatmungsphase ist verlängert, der Patient setzt die Atemhilfsmuskulatur ein (▶ Abb. 10.5). Beim Ausatmen ist ein Giemen zu hören (ggf. schon ohne Stethoskop, ▶ Audio 10.1). Bei Patienten mit Lungenemphysem sind die Atemgeräusche nur abgeschwächt zu hören.

ACHTUNG Geht die Tachykardie in eine Bradykardie über, ist der Patient vital gefährdet!

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Respiratorische Notfälle Abb. 10.7 Fassthorax bei COPD.



● ●

Auskultation der Lunge: Atemnebengeräusche (Giemen, Brummen?), Atemgeräusche beidseits (Lungenemphysem) oder einseitig abgeschwächt (Pneumothorax)? ggf. notärztliche Unterstützung nachfordern Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation

! Merke Vorsichtige Sauerstoffgabe bei COPD

Normalerweise ist ein Anstieg des pCO2 der stärkste Atemanreiz (S. 75). Bei Patienten mit chronischem O2-Mangel, wie ihn COPD-Patienten haben, fällt dieser Antrieb jedoch aus, da sich der Körper an die höhere pCO2 gewöhnt hat. Bei ihnen ist der wichtigste Atemantrieb ein Abfall des pO2 im Blut. Erhalten diese Patienten unkontrolliert Sauerstoff, wird ihr Atemantrieb reduziert und es resultiert eine Hypoventilation. Dadurch entsteht eine Hyperkapnie, die zu einer respiratorischen Azidose (S. 505) mit Gefahr eines hyperkapnischen Komas (CO2-Narkose) führt! Daher müssen Sie bei dieser Patientengruppe mit der O2-Gabe immer vorsichtig sein! Erweiterte Maßnahmen • Die medikamentöse Therapie entspricht weitgehend der bei einem Asthmaanfall (S. 262). Bei Zeichen einer Rechtsherzbelastung können zusätzlich Nitrate, Diuretika sowie herzkraftsteigernde Medikamente notwendig werden. Führt dies zu keiner Besserung, muss eine assistierte oder ggf. kontrollierte Beatmung (S. 219) eingeleitet werden. Bei Erschöpfung des Patienten und/oder zunehmender Ateminsuffizienz ist frühzeitig an atemunterstützende Maßnahmen, z. B. NIV mit einer CPAP-Maske, zu denken: Eine frühzeitig eingesetzte CPAP-Maske kann dabei helfen, eine Intubation zu vermeiden! Die Lunge ist überbläht. Dadurch nimmt der Brustkorb bei Patienten mit COPD die Form eines Fasses mit vergrößerten Zwischenrippenabständen an. Aus: Schmidt G, Görg C, Hrsg. Kursbuch Ultraschall. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015

RETTEN TO GO COPD (chronisch-obstruktive Lungenerkrankung)

! Merke Gefahr im Verzug



Differenzialdiagnosen • Die Symptomatik bei akuten Exazerbationen ähnelt einem Asthmaanfall (S. 261), allerdings lässt sich die Obstruktion medikamentös nicht mehr vollständig beheben. Darüber hinaus ist an einen Pneumothorax (einseitig abgeschwächtes oder fehlendes Atemgeräusch, Thoraxschmerzen), eine Fremdkörperaspiration, eine Lungenembolie und ein kardiales Lungenödem (Asthma cardiale) zu denken.



Atemnot ist für „erfahrene“ Patienten mit COPD nichts Ungewöhnliches, nehmen Sie Notrufe dieser Patienten besonders ernst.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● bewusstseinsklare Patienten beruhigen, Oberkörper hochlagern, Atemhilfsmuskulatur (▶ Abb. 10.5) und ggf. Lippenbremse (▶ Video 10.1) einsetzen lassen ● frühzeitige, sättigungsabhängige O2-Gabe mit einer ZielSättigung von 88–92 %: – SpO2 > 80 %: 3 l/min über Brille; ggf. kann das O2-Gerät des Patienten weiter genutzt werden. – SpO2 < 80 %: vorsichtig 6–10 l/min über Maske ● Monitoring (S. 198): v. a. SpO2, Puls, AF, RR, EKG ● Leiten Sie den Patienten ggf. beim Atmen an (Atemkommandos): Bei einer Atemfrequenz < 10/min entfernen Sie den Sauerstoff kurzzeitig, bis sich die Atemfrequenz wieder deutlich erhöht hat.

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Definition: Der Begriff COPD umfasst chronische Lungenkrankheiten, die mit einer zunehmenden und irreversiblen Atemwegsverengung (Obstruktion) einhergehen. Diese entwickelt sich aus einer chronischen Bronchitis und/oder einem Lungenemphysem. Ursachen: Die wichtigste Ursache ist Rauchen, auch andere Faktoren wie Luftschadstoffe sind von Bedeutung. Akute Verschlechterungen des Zustands (akute Exazerbationen = AECOPD) werden meistens durch bakterielle oder virale Atemwegsinfektionen ausgelöst. Symptomatik: Typisch sind die AHA-Symptome Auswurf, (chronischer) Husten und Atemnot, zunächst bei Belastung, später auch in Ruhe. Im Verlauf nimmt die körperliche Leistungsfähigkeit ab und eine Hypoxämie mit zentraler Zyanose entwickelt sich. Bei fortgeschrittener Erkrankung bestehen eine respiratorische Globalinsuffizienz, eine chronische Lungenüberblähung („Fassthorax“) und eine nachlassende (Rechts-)Herzleistung. Anzeichen für eine akute Exazerbation sind zunehmende Atemnot (mit exspiratorischem Giemen), Tachypnoe, Zyanose und ggf. Bewusstseinsstörungen. Es besteht potenziell Lebensgefahr!

Notfälle und Erkrankungen





ToDo Basis: – Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (v. a. SpO2, Puls, Af, RR, EKG), Patient beruhigen, Oberkörper hochlagern, Atemhilfsmuskulatur und ggf. Lippenbremse einsetzen lassen – frühzeitige, sättigungsabhängige O2-Gabe, Ziel SpO2 88–92 % – keinesfalls unkontrolliert (Gefahr eines Atemstillstands!): – SpO2 > 80 %: 3 l/min über Brille – SpO2 < 80 % vorsichtig 6–10 l/min über Maske – ggf. Atemkommandos, bei Atemfrequenz < 10/min O2-Zufuhr pausieren – ggf. NA nachfordern, Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation ToDo erweitert: medikamentöse Therapie wie bei Asthmaanfall, bei fehlender Besserung frühzeitig atemunterstützende Maßnahmen (z. B. NIV mit CPAP)

10.2.3 Lungenentzündung Grundlagen Definition Lungenentzündung Eine Lungenentzündung ist eine infektiöse Entzündung der Lunge. Synonym • Pneumonie Häufigkeit • Pneumonien zählen weltweit zu den häufigsten Infektionskrankheiten. Im globalen Norden sind sie die am häufigsten zum Tode führende Infektion. Erreger • Die häufigsten Erreger sind Bakterien (z. B. Pneumokokken), seltener Viren. Pilze sind v. a. bei immunsupprimierten Patienten von Bedeutung. Das Erregerspektrum unterscheidet sich danach, ob die Infektion innerhalb oder außerhalb eines Krankenhauses erworben wurde, sowie nach den Vorerkrankungen des Infizierten.

Symptomatik Die Symptome hängen u. a. vom Erregertyp und von der Lokalisation der Entzündung ab. Typische Pneumonie • Die Entzündung wird häufig durch Pneumokokken ausgelöst und betrifft i. d. R. einen Lungenlappen (Lobärpneumonie). Typisch ist ein plötzlicher Krankheitsbeginn mit hohem Fieber, Tachypnoe, Dyspnoe, produktivem Husten und schwerem Krankheitsgefühl. In der Auskultation der Lunge sind feinblasige Rasselgeräusche zu hören (▶ Audio 10.2). Atypische Pneumonie • Die Infektion wird durch verschiedene Bakterien (z. B. Legionellen) oder Viren verursacht und verläuft deutlich milder und eher schleichend mit leichtem Fieber, (trockenem) Reizhusten und mäßigem Krankheitsgefühl. Die Entzündung betrifft hier i. d. R. das Lungeninterstitium (Gewebe zwischen den Lungenbläschen).

Komplikationen • Häufig ist die Pleura gereizt, was zu atemabhängigen Schmerzen und einem Pleuraerguss führen kann. Die krankheitsbedingte Bettruhe erhöht das Risiko für venöse Thrombosen (S. 314) bzw. eine Lungenembolie (S. 303). Bei bakteriellen Pneumonien kann der Erreger über die Blutbahn streuen und einen septischen Schock (S. 292) auslösen. Weitere mögliche Komplikationen sind eine respiratorische Insuffizienz und ein ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome, akutes Lungenversagen) mit Lungenödem und schwerer Schädigung des Lungengewebes.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): Körpertemperatur, Puls, SpO2, Atemfrequenz, RR, EKG ● Lagerung: Oberkörper hochlagern ● möglichst zügige O2-Gabe, Flow initial 10 l/min, je nach SpO2 ggf. anpassen (Ziel: 92–96 %) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● notärztliche Unterstützung anfordern, abhängig von SpO2, Ausmaß der Dyspnoe und Bewusstseinslage des Patienten Erweiterte Maßnahmen • Ein i. v.-Zugang wird gelegt und mit VEL offengehalten, ggf. werden fiebersenkende oder schmerzlindernde Medikamente gegeben. Bei zunehmender Ateminsuffizienz und/oder Bewusstseinstrübung ist frühzeitig an atemunterstützende Maßnahmen zu denken, z. B. NIV mit CPAP-Maske (S. 219). Die Patienten werden unter engmaschigem Monitoring in eine Klinik mit internistischer Abteilung transportiert.

RETTEN TO GO Lungenentzündung (Pneumonie) ●







Definition und Ursachen: infektiöse Entzündung der Lunge, am häufigsten durch Bakterien, seltener durch Viren; bei Immunsuppression evtl. durch Pilze Symptomatik: – typische Pneumonie: plötzlicher Krankheitsbeginn mit hohem Fieber, Dyspnoe, produktivem Husten und schwerem Krankheitsgefühl; Auskultation: feinblasige Rasselgeräusche – atypische Pneumonie: eher milder und schleichender Verlauf ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (Körpertemperatur, SpO2, Puls, Af, RR), Lagerung mit aufrechtem Oberkörper, O2-Gabe, Flow initial 10 l/min (Ziel SpO2 92–96 %); NA anfordern (abhängig von SpO2, Ausmaß der Dyspnoe, Bewusstseinslage), Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ToDo erweitert: i. v.-Zugang anlegen und mit VEL offen halten, ggf. schmerzstillende und fiebersenkende Medikation; ggf. atemunterstützende Maßnahmen; Transport in ein Krankenhaus mit internistischer Abteilung

! Merke Pneumonie bei älteren Patienten

Insbesondere bei älteren Menschen können die typischen Symptome wie Fieber und Husten trotz einer schweren Entzündung gering ausgeprägt sein. Mitunter können eine akute Verwirrtheit oder Bewusstseinsstörungen die einzigen Symptome sein!

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Respiratorische Notfälle

10.2.4 Lungenödem Fallbeispiel Brodeln in der Lunge*





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Kardiales Lungenödem

Mit dem Einsatzstichwort „Herz-Kreislauf-Beschwerden“ werden Sie in ein Pflegeheim gerufen. Der diensthabenden Pflegerin sind während des Frühstücks bei der 80-jährigen Frau B. leichte Rasselgeräusche (RGs) beim Atmen aufgefallen. Auf Nachfrage hat diese über Atemnot geklagt, woraufhin die Pflegerin den Rettungsdienst gerufen hat. Die Bewohnerin liegt bei Ihrem Eintreffen im Bett. Ihnen fallen eine zunehmende Atemnot mit hörbaren RGs und eine leichte Lippenzyanose auf. In der Vorgeschichte sind eine Linksherzinsuffizienz und ein Hypertonus bekannt.

Symptomatik • Zu Beginn sind die Patienten meist unruhig, sie haben Husten und beginnende Atemnot bei gesteigerter Atemfrequenz. Letztere ist ein (un)bewusster Versuch, die O2-Versorgung aufrechtzuerhalten, der meist kurzfristig gelingt. Nach Möglichkeit setzen die Patienten die Atemhilfsmuskulatur ein (▶ Abb. 10.5). Tritt die Flüssigkeit in die Alveolen über, nehmen Atemnot und Unruhe deutlich zu. Die Patienten werden blass oder zyanotisch, die Haut ist kaltschweißig. Im fortgeschrittenen Stadium kann fleischwasserfarbener Schaum aus dem Mund austreten und es sind grobblasige Rasselgeräusche zu hören, oft schon ohne Stethoskop (▶ Audio 10.2). Es besteht akute Lebensgefahr!

*Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Grundlagen Definition Lungenödem Im Gewebe zwischen den Lungenbläschen (Interstitium) und/oder in den Lungenbläschen (Alveolen) sammelt sich zu viel Flüssigkeit an. Pathophysiologie • Flüssigkeit tritt aus den Lungenkapillaren in das Interstitium aus (interstitielles Lungenödem) bzw. gelangt – sobald das Interstitium die Flüssigkeit nicht mehr aufnehmen kann – weiter in die Alveolen (alveoläres Lungenödem: die Lunge „läuft voll“). Diese Prozesse schränken die Dehnbarkeit der Lunge ein und verlängern zudem die Diffusionsstrecke für die Atemgase (S. 74), was zu einer Hypoxämie führt. Ursachen • Kardiales Lungenödem: Die mit Abstand häufigste Ursache für ein Lungenödem ist eine Linksherzinsuffizienz (S. 306). Die Funktion der linken Herzkammer ist beeinträchtigt, dadurch verlangsamt sich der Blutfluss und das Blut staut sich in den Lungenkreislauf zurück. In der Folge steigt der (hydrostatische) Druck in den Lungenkapillaren und Flüssigkeit wird aus den Kapillaren in das Interstitium gepresst. Andere Ursachen für ein Lungenödem sind deutlich seltener: ● Störungen der Nieren- oder der Leberfunktion: Bei einer Niereninsuffizienz (S. 497) gehen Eiweiße (Albumin) über den Harn verloren, bei einer Leberzirrhose (S. 346) wird nicht mehr ausreichend Albumin gebildet. Dadurch sinkt der hauptsächlich durch Albumin bestimmte kolloidosmotische Druck (S. 83) und Flüssigkeit tritt in die Gewebe aus. 268

Höhenlungenödem bei Bergsteigern in großen Höhen: Durch die zunehmende Hypoxie („dünne Luft“) verengen sich die Lungengefäße, der Druck in diesen Gefäßen steigt an und Flüssigkeit tritt in die Alveolen über. allergisches und entzündliches Lungenödem: Eine allergische oder entzündliche Reaktion macht die Lungenkapillaren durchlässiger und es tritt zu viel Flüssigkeit aus. Lungenkontusion (S. 389) toxisches Lungenödem: Toxische Substanzen, insbesondere inhalierte Reiz- und Rauchgase, erhöhen die Durchlässigkeit der Lungenkapillaren und führen zu einem Übertritt von Flüssigkeit ins Interstitium und in die Alveolen. – Bei Wohnungsbränden kann Brandrauch entstehen, der u. a. Zyanide, Säuren, Nitrosegase, Ammoniak, CO2 und Kohlenmonoxid enthält (Mischintoxikation). – Bei Unfällen mit Chemikalien können Reizgase austreten, z. B. Chlorgas (z. B. in Toilettenreinigern, bei Unfällen in Schwimmbädern), Ammoniak (z. B. in Haushaltsreinigern) oder Nitrosegase (z. B. in Düngemitteln).

Differenzialdiagnosen • Die wichtigste Differenzialdiagnose ist ein Asthmaanfall (▶ Tab. 10.4), wegen der Ähnlichkeit der Symptomatik wird auch von Asthma cardiale gesprochen. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): vorrangig SpO2, RR, Puls, Atemfrequenz, EKG ● Beruhigen Sie den Patienten und erläutern Sie, was Sie tun (erhöhter O2-Bedarf bei Angst!). ● Herzbettlagerung (▶ Abb. 11.3): Oberkörper erhöht, Beine nach unten hängen lassen ● frühzeitig ausreichende O2-Gabe, initial 10 l/min, Flow je nach SpO2 anpassen ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikamenten ●

Tab. 10.4 Differenzierung von kardialem Lungenödem und Asthmaanfall. kardiales Lungenödem

Asthmaanfall

Auskultation

feuchte Rasselgeräusche beim Ein- und Ausatmen

trockene Rasselgeräusche (Giemen!) beim Ausatmen

Haut

eher feucht

eher trocken

Blutdruck

meistens zu hoch

meistens normal

Vorerkrankungen

„Herzprobleme“

Asthma bronchiale

Notfälle und Erkrankungen Erweiterte Maßnahmen • Ist Schaum im Mund-Rachen-Raum sichtbar, soll der Patienten diesen ausspucken oder Sie entfernen ihn mit einer Absaugpumpe. Ein unblutiger Aderlass kann die Vorlast des Herzens (S. 57) verringern und so die Situation verbessern: Stauen Sie dafür 3 von 4 Extremitäten mit RR-Manschetten so weit, dass der Puls gerade noch tastbar ist. Wechseln Sie alle 10 Minuten eine RR-Manschette zur jeweils freien Extremität, und zwar gleichmäßig im Uhrzeigersinn. Unter Umständen (z. B. bei Anlage eines i. v.-Zugangs) müssen Sie sich auf 3 Extremitäten beschränken. Nach Anlage eines i. v.-Zugangs werden zurückhaltend VEL gegeben (zusätzliche Herzbelastung!), um den Zugang offenzuhalten. Zur Vorlastsenkung eignen sich Nitrate (z. B. Nitrolingual®) und Schleifendiuretika wie Furosemid. Zur Milderung der oft bestehenden Angst bzw. bei Schmerzen kann der NA z. B. Morphin verabreichen: Die Gefahr einer Atemdepression ist bei fraktionierter Morphin-Gabe nicht relevant erhöht, solange der Patient deutliche Atemnot hat (starker Atemanreiz!). Siehe auch den Abschnitt zur Akutversorgung bei akuter Herzinsuffizienz (S. 307). Verbessert sich der Zustand des Patienten durch die medikamentöse Behandlung nicht, kann eine NIV mit einer CPAP-Maske (S. 219) versucht werden bzw. als Ultima Ratio eine Intubation mit PEEP-Beatmung.

Fallbeispiel Fortsetzung – Brodeln in der Lunge Im Pflegeheim kämpft Frau B. weiter mit zunehmender Atemnot. Sie muss husten, dabei wird fleischwasserfarbener Schaum sichtbar. In der Untersuchung gemäß ABCDE erheben Sie folgende Befunde: ● A: obere Atemwege frei, aber Schwierigkeiten beim Sprechen ● B: Atemfrequenz 20/min (erhöht), Auskultation der Lunge: grobblasige RGs (bereits ohne Stethoskop zu hören) über der gesamten Lunge, SpO2 75 % (deutlich erniedrigt) ● C: RR 185/90 mmHg, Puls 99/min, gut tastbar und rhythmisch, Rekapillarisierungszeit 2 s ● D: Die Patientin reagiert auf Ansprache und ist orientiert, aber durch die Atemnot unruhig; Pupillen isokor, seitengleiche Lichtreaktion ● E: Die Patientin gibt leichte Schmerzen in der Brust an. Ihnen fallen das deutliche B- und C-Problem auf, daher stufen Sie die Patientin als kritisch ein und fordern notärztliche Unterstützung nach. Bis dahin lagern Sie die Patientin in der Herzbettlagerung (▶ Abb. 11.3) und verabreichen 15 l O2/min über eine Maske. Nach der Anlage von EKG und i. v.-Zugang durch den NotSan beginnen Sie mit einem unblutigen Aderlass (mit 3 RR-Manschetten). Der eintreffende NA gibt das Diuretikum Furosemid i. v. und 2 Hub Nitrolingual® zur Vorlastsenkung. Dadurch verbessert sich der Zustand von Frau B. deutlich. Sie verspürt auch keine Brustschmerzen mehr. Das 12-Kanal-EKG ergibt keine weiteren Auffälligkeiten. Sie transportieren die Patientin nach Voranmeldung in eine internistische Notaufnahme.

Toxisches Lungenödem Symptomatik • Folgende Symptome weisen bei entsprechender Anamnese bzw. Auffindesituation auf eine Reiz- oder Rauchgasinhalation hin: ● Atemnot, Husten, Würgereiz ● Brennen und Rötung der Augen

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Angst, Unruhe, Schwindel Reizungen, Rötungen oder Schwellungen der Schleimhäute des Mund- und Rachenraums inspiratorischer Stridor (durch Spasmen des Kehlkopfs oder der Bronchien) feuchte Rasselgeräusche in der Auskultation als Hinweis auf ein Lungenödem (▶ Audio 10.2) Bewusstseinsstörungen bis zur Bewusstlosigkeit

Nach einer Rauchgasintoxikation bestehen oft weitere Symptome, z. B. Aushusten von rußhaltigem Sekret, Verbrennungen an der Haut, Versengung der Kopfhaare. Denken Sie auch an die Möglichkeit eines Inhalationstraumas (S. 398) mit Schädigung der Atemwegsschleimhäute durch heiße Rauchgase sowie an eine mögliche Vergiftung durch CO (S. 276) oder Zyanide (S. 519).

! Merke Tod nach Brand

Brandopfer sterben in den meisten Fällen an den Folgen einer Rauchgasinhalation, nicht an ihren Brandverletzungen. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Rettung des Patienten aus dem Gefahrenbereich unter Beachtung des Eigenschutzes (!) ● Vitalfunktionen nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern: Die Atemwegsinspektion ist wichtig, um Schleimhautschäden oder Hinweise auf ein Inhalationstrauma zu erkennen. ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, Atemfrequenz ● frühzeitig großzügige O2-Gabe: 10–15 l/min ● bei Anzeichen für eine Reizung Augen (▶ Video 19.2), Mund und Haut spülen ● Lagerung: je nach Zustand des Patienten (bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage) ● Rauchgase „hängen“ in der Kleidung: Entfernen Sie daher verräucherte Kleidung und verpacken Sie diese luftdicht in Plastik- oder medizinischen Hygienebeuteln. Achten Sie darauf, dass der Patient nicht auskühlt (S. 249)! ● notärztliche Unterstützung anfordern ● i. v.-Zugang, VEL, Medikation, ggf. Intubation vorbereiten Erweiterte Maßnahmen • Ein i.v-Zugang wird gelegt und mit VEL freigehalten. Der Patient wird möglichst in eine Klinik mit internistischer Intensivstation transportiert. Weitere präklinische Maßnahmen hängen von der individuellen Situation und dem Zustand des Patienten ab: ● deutliche Bronchialobstruktion: Gabe eines β2-Sympathomimetikums (S. 134), z. B. Salbutamol (z. B. SalbuHexal®), per Verneblermaske ● sehr unruhige Patienten: evtl. Sedierung, z. B. mit Midazolam (z. B. Dormicum®) ● Mischintoxikationen mit Brandrauch (Verdacht auf Zyanidintoxikation!): Gabe des Antidots Hydroxycobalamin ● in schweren Fällen als Ultima Ratio: Intubation und Beatmung

ACHTUNG Nach einer Reiz- oder Rauchgasvergiftung kann sich noch bis zu 36 Stunden nach der Exposition ein Lungenödem entwickeln. Zwischenzeitlich können die Patienten weitgehend beschwerdefrei sein, im Verlauf verschlechtert sich der Zustand. Veranlassen Sie daher bei entsprechendem Verdacht immer eine ärztliche Abklärung bzw. eine Klinikeinweisung und erklären Sie dies dem Patienten!

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Respiratorische Notfälle

10.2.7 Hyperventilation RETTEN TO GO Lungenödem Allgemeines ● Definition: pathologisch vermehrte Ansammlung von Flüssigkeit im Gewebszwischenraum zwischen den Lungenbläschen (Interstitium) und später auch in den Lungenbläschen (Alveolen) ● Ursachen: mit Abstand am häufigsten Linksherzinsuffizienz (kardiales Lungenödem), seltener Niereninsuffizienz, Lebererkrankungen, Aufenthalt in großer Höhe (Höhenlungenödem) oder Inhalation von toxischen Substanzen (toxisches Lungenödem) Kardiales Lungenödem ● Symptomatik: anfangs Unruhe, Husten, beginnende Atemnot; im weiteren Verlauf zunehmende Atemnot und Unruhe, Blässe oder Zyanose, kaltschweißige Haut, Aushusten von fleischwasserfarbenem Schaum; feuchte Rasselgeräusche, mitunter auch ohne Stethoskop hörbar ● ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, Af, RR), Herzbettlagerung, Patienten beruhigen und betreuen, O2-Gabe (Flow initial 10 l/min, ZielSpO2 92–96 %), NA anfordern, Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation ● ToDo erweitert: Schaum im Mund-Rachen-Raum absaugen, ggf. unblutiger Aderlass, Anlage eines i. v.-Zugangs und zurückhaltende VEL-Gabe, Medikamente (Nitrate, Diuretika) zur Vorlastsenkung; bei fehlender Besserung NIV mit CPAP-Maske, als Ultima Ratio Intubation mit PEEP-Beatmung Toxisches Lungenödem ● Ursache: Inhalation von Reiz- und Rauchgasen, z. B. bei Chemieunfällen oder Wohnungsbränden ● Symptomatik: Atemnot, Hustenreiz, Unruhe, inspiratorischer Stridor, feuchte Rasselgeräusche (Lungenödem!), gerötete und gereizte Schleimhäute; bei Rauchgasinhalation Rußpartikel oder Auswurf von rußhaltigem Sekret als Hinweise auf ein Inhalationstrauma; begleitend Gefahr einer CO- oder Zyanidintoxikation; mitunter verzögerter Symptombeginn! ● ToDo Basis: Rettung des Patienten aus dem Gefahrenbereich (Eigenschutz!), Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, Af, RR), Patienten beruhigen und betreuen, Lagerung nach Patientenzustand, frühzeitige O2-Gabe (Flow 10–15 l/min), ggf. Augen, Mund und Haut spülen, NA anfordern, Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation; rauchgeschwängerte Kleidung entfernen und verpacken ● ToDo erweitert: i. v.-Zugang legen und mit VEL freihalten, Transport in Klinik mit internistischer Intensivstation; bei Bronchialobstruktion Gabe eines β2-Sympathomimetikums per Verneblermaske, Ultima Ratio Intubation

Definition Hyperventilation Die Patienten atmen unbewusst schneller und tiefer, als es dem aktuellen Bedarf entspricht. Dies führt zu einer stärkeren Abatmung von CO2 und zu einem Absinken des Kohlendioxidpartialdrucks im Blut (Hypokapnie). Pathophysiologie • Durch die beschleunigte und vertiefte Atmung wird verstärkt Kohlendioxid (CO2) abgeatmet, die Folge ist eine Hypokapnie. Dadurch verschiebt sich das Gleichgewicht des Bikarbonat-Puffers (S. 85) und der pH-Wert im Blut steigt an: Es resultiert eine respiratorische Alkalose (S. 505). Dies wiederum hat eine funktionelle Hypokalzämie zur Folge: Kalzium liegt im Blut normalerweise etwa zur Hälfte als freies, ionisiertes Ca2 + vor, also in der für die Zellfunktionen verfügbaren Form. Der Rest ist u. a. an Proteine gebunden. Eine Alkalose verstärkt die Proteinbindung von Kalzium, wodurch dieses nicht mehr für seine biologischen Funktionen zur Verfügung steht. Ursachen • Der Auslöser sind emotionale Belastungssituationen bzw. Angst- oder Panikattacken (S. 443): Aus Angst atmen die Betroffenen schneller und tiefer, die daraus resultierenden körperlichen Symptome verstärken wiederum die Angst und die Hyperventilation steigert sich weiter. Am häufigsten sind Jugendliche und junge Frauen betroffen. Symptomatik • Die Betroffenen sind erregt und verängstigt, sie sind blass, schwitzen und haben eine beschleunigte Herzfrequenz. Sie atmen sehr viel schneller als normal, weil sie ein subjektives Gefühl von Atemnot verspüren (oft Erstickungsgefühl). Auch eine Synkope (S. 419) ist möglich. Die funktionelle Hypokalzämie manifestiert sich als Hyperventilationstetanie mit Gefühlsstörungen (typisch: Kribbeln an Armen und Beinen: „Ameisenlaufen“), „Pfötchenstellung“ der Hände (▶ Abb. 10.8), Schwindel, einem pelzigen Gefühl um den Mund sowie in extremen Fällen mit Bewusstseinsstörungen oder Muskelkrämpfen.

! Merke Keine Lebensgefahr

Eine psychogene Hyperventilation ist kein lebensbedrohliches Krankheitsbild. Wichtig sind jedoch folgende Punkte: ● Schutz des Patienten vor Verletzungen, z. B. durch Sturz ● Abgrenzen von lebensbedrohlichen Ursachen einer Atemnot Differenzialdiagnosen • Die Symptomatik ist i. d. R. recht eindeutig. Eine vertiefte und beschleunigte Atmung findet sich Abb. 10.8 Pfötchenstellung.

10.2.5 Lungenembolie Siehe Kapitel Herz-Kreislauf-Notfälle (S. 303).

10.2.6 Pneumothorax Siehe Kapitel Traumatologie (S. 387).

Die pfotenartige Haltung der Hände ist als typisches Symptom einer akuten Hyperventilation leicht zu erkennen. Foto: © K. Oborny/Thieme

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Notfälle und Erkrankungen auch als kompensatorische Hyperventilation bei metabolischer Azidose (S. 356), z. B. bei diabetischer Ketoazidose. Auch eine Lungenembolie (S. 303) führt zu einer reflektorischen Hyperventilation – denken Sie daran v. a. bei fehlenden psychischen Auslösern der Akutsituation. Eine Zyanose (S. 258) ist ein Warnhinweis auf eine organische Ursache. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Versuchen Sie, den (meist sehr verängstigten) Patienten zu beruhigen (S. 168) und über die Harmlosigkeit der Symptome aufzuklären. Ist der Auslöser für die Akutsituation bekannt, sollten Sie ihn möglichst beseitigen (z. B. Ortswechsel). ● Anamnese mithilfe des SAMPLER-Schemas (S. 193) zur Abklärung organischer Ursachen ● Erklären Sie unbedingt alle Maßnahmen, um weiteren Stress zu vermeiden. ● aufrechte Lagerung ● Versuchen Sie, die Atmung des Patienten langsam zu reduzieren (Ziel: 15 Atemzüge/min), z. B. durch Atemkommandos oder gemeinsames Atmen (▶ Video 10.2). Da die Patienten Angst haben, zu ersticken, kann es schwierig sein, sie davon zu überzeugen, in eine Plastiktüte oder einen medizinischen Hygienebeutel rückzuatmen. Alternativ können Sie in diesen Fällen eine O2-Maske mit Reservoirbeutel oder eine spezielle Hyperventilationsmaske benutzen. Dadurch atmet der Patient die eigene, mit CO2 angereicherte Atemluft wieder ein und die Hypokapnie wird kompensiert. Um eine Hypoxie zu vermeiden, lassen Sie den Patienten in regelmäßigen Abständen auch immer wieder Umgebungsluft einatmen! Erweiterte Maßnahmen • Ist 10–15 min nach Durchführung der Basismaßnahmen keine deutliche Verbesserung feststellbar, sollten Sie notärztliche Unterstützung nachfordern, damit der NA ggf. durch die Gabe eines Beruhigungsmittels (z. B. Midazolam) den „Angstkreislauf“ durchbrechen kann.

RETTEN TO GO Hyperventilation ●







Definition: Die Patienten atmen unbewusst schneller und tiefer, als es dem aktuellen Bedarf entspricht. Dies führt zu einer stärkeren Abatmung von CO2 und einem Absinken des pCO2 im Blut (Hypokapnie). Dadurch steigt der pH-Wert im Blut an (respiratorische Alkalose) und der Anteil des biologisch aktiven Kalziums fällt ab (funktionelle Hypokalzämie). Ursachen: emotionale Belastungssituationen bzw. Angst- oder Panikattacken Symptomatik: Angst, Blässe, Tachykardie, Tachypnoe, Atemnot, Erstickungsgefühl, Kribbeln an Armen und Beinen, Pfötchenstellung der Hände, Schwindel, pelziges Gefühl um den Mund, evtl. Synkope, Muskelkrämpfe, Bewusstseinsstörungen ToDo: Patienten beruhigen, alle Maßnahmen erklären, aufrechte Lagerung, Atemkommandos, Rückatmung mit Hyperventilationsmaske oder Plastiktüte, bei Persistenz der Symptome NA nachfordern (zur medikamentösen Sedierung)

Video 10.2 Atemkommandos bei Hyperventilation.

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

10.2.8 Ertrinkungsunfälle Definition Ertrinkungsunfall Bei einem Ertrinkungsunfall besteht eine Atemstörung, weil der Verunfallte in einer Flüssigkeit untergetaucht ist – und zwar unabhängig von einer Aspiration und dem Outcome (Tod oder Überleben, ggf. auch mit Funktionseinschränkungen). Diese Begrifflichkeit hat die früheren Begriffe des Ertrinkens bzw. Beinaheertrinkens sowie auch des „nassen“ bzw. „trockenen“ Ertrinkens (mit bzw. ohne Aspiration von Flüssigkeit abgelöst). Pathophysiologie • Die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr und die Aspiration von Wasser (für die präklinische Versorgung keine Unterscheidung zwischen Salz- und Süßwasser) oder anderen Flüssigkeiten bewirkt eine Hypoxie: Nach dem Untertauchen des Kopfes kann der Ertrinkende die Luft nur zeitlich begrenzt anhalten. Der steigende pCO2 ist ein starker Atemanreiz und bewirkt letztlich ein Anatmen von Wasser und eine reflektorische Verkrampfung der Kehlkopfmuskulatur (Laryngospasmus). Die zunehmende Hypoxie führt zu Bewusstlosigkeit mit Lösung des schützenden Laryngospasmus: Wasser dringt in die unteren Atemwege ein, wäscht das Surfactant aus und bewirkt einen Kollaps der Lungenbläschen sowie schwere Gewebeschädigungen. Die schwere Hypoxie bedingt in weiterer Folge Gewebeschädigungen (v. a. im Gehirn), einen Atemstillstand und eine Asystolie. Die Aspiration von Wasser in die unteren Atemwege kann nach der Rettung eines Ertrinkenden auch nach Stunden noch zu einer Verschlechterung des Zustands mit Lungenödem und Gefahr eines akuten Lungenversagens führen. Häufigkeit und Ursachen • Nach der Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamts sind 2021 mindestens 392 Menschen in Deutschland ertrunken, davon 33 Kinder unter 15 Jahren. Ertrinken ist bei unter 15-Jährigen eine der häufigsten Todesursachen. Die Zahl der nicht tödlichen Ertrinkungsunfälle dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Insbesondere Kleinkinder können in sehr flachem Wasser (z. B. in einem Plantschbecken) oder in der Badewanne ertrinken. Ursachen bei jungen Männern sind oft Schwimmen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss und/oder Überanstrengung/ Erschöpfung. Schwimmer über 45 Jahre versterben im Wasser oft als Folge anderer Notfälle, z. B. Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen oder Krampfanfall. Weitere mögliche Ursachen sind z. B. Hitzeerschöpfung oder Unterzuckerung.

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Respiratorische Notfälle Symptomatik • Das Spektrum der möglichen Symptome reicht von weitgehender Beschwerdefreiheit nach der Rettung bis hin zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Hinweise auf schwere Schädigungen der Lunge sind Bewusstseinsstörungen, schwere Atemnot, Zyanose und Rasselgeräusche in der Auskultation der Lunge. Häufig besteht eine Hypothermie (S. 402). Achten Sie auch auf mögliche weitere Veränderungen, z. B. Verletzungen oder Symptome von Erkrankungen, die zu der Ertrinkungssituation geführt haben könnten (z. B. akutes Koronarsyndrom). Rettung des Patienten Falls nicht bereits durch die Leitstelle geschehen: Fordern Sie frühzeitig Spezialkräfte (z. B. DLRG, Feuerwehr) an, die über die erforderlichen Kenntnisse und das Equipment verfügen, um Personen aus dem Wasser zu retten. ● Beachten Sie immer den nötigen Eigenschutz! Versuchen Sie nicht, zur hilfsbedürftigen Person hinzuschwimmen, sofern Sie nicht über eine entsprechende Ausbildung verfügen. Falls Sie sich nach Abwägung aller Gefahren und unter Berücksichtigung des Eigenschutzes zu einem Rettungsversuch entschließen, führen Sie dabei immer eine Auftriebshilfe (z. B. Spineboard, ▶ Abb. 10.9) mit, an der sich der Ertrinkende festhalten kann. So vermeiden Sie einen direkten Kontakt mit Gefahr der Umklammerung. ● Ist die Person im Wasser noch handlungsfähig, versuchen Sie, ihr vom sicheren Ufer aus Auftriebshilfen (z. B. Schwimmreifen, belüftete Vakuumschiene) oder eine Rettungsleine zuzuwerfen. ● Beachten Sie je nach Situation weitere Aspekte (▶ Tab. 10.5): Bei Verdacht auf eine Hypothermie soll der Patient möglichst wenig bewegt und horizontal gerettet werden, um einen After Drop (S. 402) zu vermeiden.

Abb. 10.9 Wasserrettung mit dem Spineboard.



Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten • Ist der Patient aus dem Wasser gerettet, wird er gemäß (c)ABCDESchema (S. 183) weiterversorgt: ● frühzeitige O2-Gabe über Maske, initial mindestens 10 l/ min, Flow je nach SpO2 anpassen ● Kontrolle und Sicherstellen der Vitalfunktionen (Atmung, Bewusstsein, Kreislauf): – wacher Patient: Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, Patienten beruhigen – bewusstloser Patient: stabile Seitenlage, Atemwege freimachen und freihalten – Verdacht auf Wirbelsäulentrauma oder Unterkühlung: flache Lagerung und Immobilisierung – unzureichende Atmung bzw. Atemstillstand: Atemwege sichern (z. B. mit Guedel-Tubus) und assistierte bzw. kontrollierte Beatmung (S. 219), möglichst mit 100 % O2 – Herz-Kreislauf-Stillstand: Reanimation (S. 322), dabei 5 initiale Beatmungen! ● Flüssigkeit und/oder Erbrochenes in den oberen Atemwegen: Patienten abhusten lassen; ggf. absaugen ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● Basismonitoring (S. 198): SpO2, RR, Puls, EKG, KKT ● Achten Sie auf einen guten Wärmeerhalt: Ziehen Sie dem Patienten nasse Kleidung aus, trocknen Sie ihn ab und wickeln Sie ihn in eine Rettungsdecke. Siehe auch das Vorgehen bei Hypothermie (S. 402)! ● Suche nach Begleitverletzungen, v. a. nach Sprung ins Wasser → dann HWS-Stützkragen, Spineboard (S. 232)

272

Zur achsengerechten Rettung aus dem Wasser kann ein schwimmfähiges Spineboard eingesetzt werden. Die komplexen Abläufe erfordern ausgebildete Wasserretter. Aus: Magunia H, Steigerwald M. Person im Wasser? Keine Angst vor der Wasserrettung! retten! (2016; 5(04): 292–299); Bildnachweis: Mike Rooming/DLRG

Tab. 10.5 Vorgehen bei der Wasserrettung, abhängig vom Zustand des Patienten.* Zustand des Patienten

Art der Rettung

bewusstlos

sofortige Rettung („Crash-Rettung“)

bewusstseinsklarer Patient, begründeter Verdacht auf Wirbelsäulentrauma

achsengerechte Rettung unter Schutz der HWS mit einem Spineboard

Verdacht auf Hypothermie

achsengerechte Rettung, Patienten möglichst wenig bewegen

bewusstseinsklarer Patient, keine Traumazeichen

normale Rettung

*nach: Magunia H, Steigerwald M: Person im Wasser? Keine Angst vor der Wasserrettung! In: retten! 2016; 5(04): 292–299. Stuttgart: Thieme.

! Merke Frühzeitig O -Gabe und CPR 2

Wesentlich für das Überleben nach einem Ertrinkungsunfall ist die frühzeitige Versorgung mit O2, um der akuten Hypoxie entgegenzuwirken. Die Regel „Niemand ist tot, ehe er nicht warm und tot ist“ gilt auch für unterkühlte und beinahe ertrunkene Personen mit Herz-Kreislauf-Stillstand: Die Reanimation muss bis zur Erwärmung des Patienten fortgesetzt werden. Erweiterte Maßnahmen • Bei allen Patienten wird ein i. v.-Zugang angelegt und mit einer VEL offengehalten. Der NA entscheidet, ob eine Indikation zur Intubation und Beatmung (PEEP) besteht und ob die Anlage einer Magensonde sinnvoll ist (z. B. wenn viel Wasser verschluckt wurde). Der Patient wird zur weiteren Überwachung ins Krankenhaus gebracht (Intensivüberwachung und -therapie, ggf. Maßnahmen zur Wiedererwärmung, z. B. Dialyse).

! Tipp Zusammenarbeit

Für den eigenen Rettungsdienst/Arbeitsbereich ist es sinnvoll, Einrichtungen bzw. Anlaufstellen zu listen, die bei Wassernotfällen zur Hilfe kommen (z. B. DLRG, örtliche Feuerwehr). Durch eine Zusammenarbeit können z. B. auch entsprechende Fortbildungen organisiert werden, die allen Beteiligten weiterhelfen.

Notfälle und Erkrankungen

RETTEN TO GO Ertrinkungsunfälle ●











Definition: Bei einem Ertrinkungsunfall besteht eine Atemstörung, weil der Verunfallte in einer Flüssigkeit untergetaucht ist – und zwar unabhängig von einer Aspiration und dem Outcome (Tod oder Überleben, ggf. auch mit Funktionseinschränkungen). Das Hauptproblem ist eine massive Hypoxie. Ursachen: Ertrinken ist bei Kindern eine der häufigsten Todesursachen. Kleinkinder können auch in sehr flachem Wasser ertrinken. Bei Erwachsenen sind oft Schwimmen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, Überanstrengung, Hitzeerschöpfung oder organisch bedingte Notfälle wie Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Krampfanfall oder Unterzuckerung ursächlich. Symptomatik: Atemnot, Atemstillstand, Zyanose, Bewusstlosigkeit, Herz-Kreislauf-Stillstand, häufig Unterkühlung Rettung des Patienten: Spezialkräfte anfordern, Eigenschutz beachten, schwimmende Rettungsversuche nur bei entsprechender Ausbildung, bei noch handlungsfähigen Personen Auftriebshilfen zuwerfen ToDo Basis: – Basismonitoring: SpO2, RR, Puls, EKG, KKT – frühzeitige O2-Gabe über Maske, initial mind. 10 l/min, Flow je nach SpO2 anpassen – Kontrolle und Sicherstellen der Vitalfunktionen – wacher Patient: Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, Patienten beruhigen – bewusstlose Person: stabile Seitenlage, Atemwege freimachen und freihalten – Verdacht auf Wirbelsäulentrauma oder Unterkühlung: flache Lagerung und Immobilisierung – unzureichende Atmung bzw. Atemstillstand: Atemwege sichern, Beatmung möglichst mit 100 % O2 – Herz-Kreislauf-Stillstand: Reanimation, dabei 5 initiale Beatmungen – Flüssigkeit und/oder Erbrochenes in den oberen Atemwegen: Patienten abhusten lassen; ggf. absaugen – NA nachfordern – Wärmeerhalt: nasse Kleidung ausziehen, Patienten abtrocknen und in Rettungsdecke wickeln – Suche nach Begleitverletzungen ToDo erweitert: i. v.-Zugang legen, mit VEL freihalten; ggf. Intubation und Beatmung, Anlage einer Magensonde; Transport ins Krankenhaus zur Intensivüberwachung und -therapie

10.2.9 Aspiration Definition Aspiration Der Patient atmet versehentlich einen Fremdkörper oder eine Flüssigkeit ein. Die Maximalform ist das Bolusgeschehen, bei dem der Fremdkörper die oberen Atemwege teilweise oder komplett verlegt. Dies kann zu einer vagalen Reizung und zu einem reflektorischen Kreislaufversagen führen (Bolustod). Ursachen • Ein erhöhtes Risiko haben Kleinkinder, ältere, verwirrte oder alkoholisierte Menschen sowie Patienten mit Schluckstörungen (z. B. nach einem Schlaganfall). Bei Erwachsenen werden meistens nicht richtig zerkaute Nah-

rungsbrocken (z. B. Fleisch oder Brotstücke) oder Tabletten aspiriert, bei Kleinkindern oft Erdnusskerne, Erbsen, Weintrauben oder kleine Spielzeugteile. Bewusstlose Personen haben ein hohes Risiko, Erbrochenes zu aspirieren, und werden daher (bis zur Sicherung der Atemwege) in stabiler Seitenlage gelagert. Symptomatik • Die Symptome unterscheiden sich je nach Größe und Konsistenz des Fremdkörpers. Typisch sind plötzlich beginnende Hustenattacken aus vorherigem Wohlbefinden, ggf. mit Würgen und/oder Atemnot und Unruhe bis hin zu Todesangst. Begleitend können ein Stridor und/oder eine Zyanose bestehen. Eine Atemwegsverlegung kann durch eine zunehmende Hypoxie zu Bewusstlosigkeit und einem hypoxischen Kreislaufversagen bzw. bei Reizung des N. vagus auch zu einem reflektorischen Herz-Kreislauf-Stillstand führen (Bolustod). Bei einer kompletten Verlegung der oberen Atemwege oder der Trachea durch einen Fremdkörper kann eine inverse oder Schaukelatmung (S. 187) auffallen.

! Merke Keine Panik

Solange der Patient sprechen kann und Sie keinen Stridor hören, besteht keine schwerwiegende Atemwegsverlegung. Differenzialdiagnosen • Mögliche Differenzialdiagnosen sind eine akute obstruktive Bronchitis (produktiver Husten, Rasselgeräusche), ein Asthmaanfall (eher bei Schulkindern, selten Husten; exspiratorisches Giemen), Epiglottitis (hohes Fieber, inspiratorischer Stridor, Schluckstörungen mit Speichelfluss), Pseudokrupp (bellender Husten, inspiratorischer Stridor) oder eine allergische Reaktion (S. 290).

RETTEN TO GO Aspiration – Ursachen und Symptomatik ●





Definition: versehentliches Einatmen eines Fremdkörpers oder einer Flüssigkeit Ursachen: erhöhtes Risiko bei Kleinkindern, älteren, verwirrten und alkoholisierten Personen sowie bei Schluckstörungen (z. B. nach Schlaganfall) und bei Bewusstseinsstörungen Symptomatik: plötzliche Hustenattacken, Atemnot, Stridor, Unruhe bis Todesangst; bei schwerer Atemnot bzw. Bolusgeschehen Hypoxie mit Bewusstlosigkeit bis hin zum Kreislaufversagen, bei Reizung des N. vagus Gefahr eines reflektorischen Herz-Kreislauf-Stillstands (Bolustod)

Basismaßnahmen zur Versorgung von Erwachsenen Nach Aspiration kleinerer Fremdkörper ohne oder mit geringer Beeinträchtigung der Atmung wird der Patient mit hochgelagertem Oberkörper in die Klinik gebracht (→ Bronchoskopie). ● Entfernen von sichtbaren Fremdkörpern (S. 208): – manuelles Ausräumen des Mundraums: keine blinde Manipulation, zum Eigenschutz immer Handschuhe tragen! – notärztliche Maßnahme: vorsichtiges Entfernen stabiler Fremdkörper mit der Magill-Zange, unter laryngoskopischer Sicht ●

273

10

Respiratorische Notfälle









Entfernen von nicht sichtbaren Fremdkörpern: – Patient bei Bewusstsein, effektiver Hustenreiz: 1. zum Husten auffordern; wenn erfolglos: 2. Oberkörper nach vorne beugen und mit der flachen Hand bis zu 5-mal auf den Rücken zwischen die Schulterblätter schlagen; wenn weiterhin erfolglos: 3. Heimlich-Handgriff (▶ Abb. 10.10) – Patient ist oder wird bewusstlos: Reanimation (S. 318) bei Aspiration von Flüssigkeiten: Kopf auf die Seite drehen, Ausräumen und Absaugen des Mund-Rachen-Raumes in Seitenlage notärztliche Unterstützung anfordern, sobald der erste Versuch, den Fremdkörper zu entfernen, erfolglos war ggf. Intubation vorbereiten

Abb. 10.10 Heimlich-Handgriff.

ACHTUNG Entfernen Sie einen Fremdkörper nur, falls Sie ihn gut sehen und erreichen können (kein „blindes Stochern“). Tiefer einliegende, nicht sichtbare Fremdkörper werden ggf. ärztlicherseits mit einer MagillZange entfernt.

b

Hinweise zum Heimlich-Handgriff • Das Manöver darf nur bei nicht bewusstlosen Patienten angewendet werden und nur, wenn alle anderen Versuche, den Fremdkörper zu entfernen, nicht erfolgreich waren und weiter schwere Atemnot besteht. Die Gefahr von inneren Verletzungen ist hoch, daher müssen Sie diese Maßnahme protokollieren und bei der Übergabe im Krankenhaus erwähnen. Dort wird zeitnah eine Ultraschall- oder CT-Untersuchung des Bauchraums durchgeführt, um Blutungen bzw. Verletzungen auszuschließen. Kontraindikationen: Der Handgriff darf nicht bei Säuglingen, fortgeschrittener Schwangerschaft sowie bei extremer Adipositas durchgeführt werden. In diesen Fällen wird direkt mit Thoraxkompressionen begonnen.

Mit dem Heimlich-Handgriff wird versucht, einen nicht sichtbaren Fremdkörper durch eine Druckerhöhung im Brust- und Bauchraum zu lösen. a Liegender Patient: Der Helfer kniet neben dem Patienten und platziert seine Hände auf dessen Oberbauch, wobei die untere Hand eine Faust bildet. Auch hier werden 5 kräftige Druckstöße in Richtung Zwerchfell ausgeführt. Alternativ kann der Helfer mit gespreizten Beinen über dem Patienten knien. b Stehender oder sitzender Patient: Der Helfer steht hinter dem Patienten und legt seine Arme um dessen Oberbauch. Er positioniert eine Faust zwischen Brustbeinende und Bauchnabel des Patienten, umfasst sie mit der anderen Hand und führt 5 kräftige Druckstöße in Richtung Zwerchfell aus.

Erweiterte Maßnahmen • Bleiben die Basismaßnahmen ohne Erfolg, muss der Patient intubiert und beatmet werden. Bei Verdacht auf eine komplette tracheale Fremdkörperverlegung kann als letzte Möglichkeit versucht werden, den Fremdkörper mit dem Tubus in einen der beiden Hauptbronchien vorzuschieben, damit zumindest eine Lungenseite beatmet werden kann (ärztliche Maßnahme!).

Fotos: © K. Oborny, Thieme

Besonderheiten bei Kindern • Das Vorgehen bei Kindern unterscheidet sich nach deren Alter und nach der Bewusstseinslage (▶ Abb. 10.11): ● Kind bei Bewusstsein: 1. zum Weiterhusten auffordern: Ist dies erfolglos, aber atmet das Kind stabil (keine Zyanose, keine hochgradige Dyspnoe), werden keine weiteren Maßnahmen zur Fremdkörperentfernung ergriffen: Es besteht die Gefahr, dass sich der Fremdkörper loslöst und die Atemwege vollständig verlegt. 2. Ist dies erfolglos und bestehen Dyspnoe und/oder Zyanose: Kind in Bauchlage bringen (Kopftieflage mit Gesicht nach unten; Säuglinge und Kleinkinder auf Ihrem Unterarm) und bis zu 5 Schläge zwischen die Schulterblätter ausführen, erst leicht, dann fester.

274

a



3. falls erfolglos, unterschiedliches Vorgehen je nach Alter: – Säuglinge < 1 Jahr: Kind in Rückenlage bringen (Kopftieflage, Gesicht nach oben), 5 Thoraxkompressionen – Kinder > 1 Jahr: Heimlich-Handgriff (▶ Abb. 10.10) 4. Mund-Rachen-Raum erneut überprüfen und ggf. Fremdkörper entfernen 5. falls kein Erfolg: Schritte 2–4 erneut durchführen bewusstloses Kind: Reanimation beginnen 1. 5 initiale Beatmungen (Effektivität prüfen) 2. wenn ohne Erfolg: 15 Thoraxkompressionen 3. Mund auf Fremdkörper untersuchen 4. wenn erfolglos: 2 Beatmungen, 15 Thoraxkompressionen im Wechsel, s. Reanimation von Kindern (S. 332)

Die Thoraxkompressionen erzeugen einen Gegendruck, der den Bolus bewegen kann. Unter laufender CPR werden die Atemwege mit einem Laryngoskop kontrolliert, ggf. kann der Bolus jetzt entfernt werden.

Notfälle und Erkrankungen Abb. 10.11 Atemwegsverlegung durch einen nicht sichtbaren Fremdkörper bei Kindern.

Verdacht auf Fremdkörperaspiration (Fremdkörper nicht sichtbar)

Patient bei Bewusstsein

Patient bewusstlos

• möglichst Atemweg freimachen • 5 initiale Beatmungen • ggf. CPR starten

1. Patienten zum Weiterhusten auffordern

Husten ohne Erfolg, Zyanose, Atemnot

Husten ohne Erfolg, Patient stabil

keine weiteren Maßnahmen zur Fremdkörperentfernung, Transport in Klinik

Säugling (< 1 Jahr): 2. max. 5 Schläge auf den Rücken

Kind (> 1 Jahr):

falls kein Erfolg: 3. 5 Thoraxkompressionen 5×

2. max. 5 Schläge auf den Rücken

falls kein Erfolg: 3. HeimlichHandgriff

max. 5 ×

max. 5 × 5×

Je nach Größe des Kindes bzw. des Helfenden können auch Kleinkinder noch in Bauchlage mit Kopftiefhaltung auf dem Unterarm gelagert werden. Überprüfen Sie nach Thoraxkompressionen bzw. Heimlich-Handgriff den Mund- und Rachenraum und entfernen Sie ggf. sichtbare Fremdkörper. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

nicht mehr atmendes Kind: 1. 5 initiale Beatmungen 2. wenn erfolglos: 15 Thoraxkompressionen, danach Mund auf Fremdkörper untersuchen 3. wenn erfolglos: 2 Beatmungen und Reanimation starten (Kompression : Ventilation = 15:2). ToDo erweitert: Bleiben die genannten Maßnahmen erfolglos: Intubation und Beatmung



RETTEN TO GO Fremdkörperaspiration – Maßnahmen ToDo Basis: ● Aspiration kleiner Fremdkörper ohne wesentliche Symptomatik: Patienten in Klinik bringen → Bronchoskopie ● Entfernen von sichtbaren Fremdkörpern: manuelles Ausräumen, Fremdkörper mit Magill-Zange entfernen ● Entfernen von nicht sichtbaren Fremdkörpern (bei Erwachsenen): Ist der erste Versuch, den Fremdkörper zu entfernen, erfolglos, grundsätzlich NA anfordern! – Patient bei Bewusstsein + Hustenreiz: 1. zum Husten auffordern 2. wenn nicht erfolgreich: mit der flachen Hand bis zu 5 Mal zwischen die Schulterblätter schlagen 3. wenn weiterhin erfolglos: Heimlich-Handgriff – Patient bewusstlos: Reanimation ● Aspiration/Verlegung durch Flüssigkeiten: Ausräumen/Absaugen des Mund-Rachen-Raumes in Seitenlage ● Kind mit schwerer Atemwegsverlegung und (drohendem) Ersticken, Bewusstsein erhalten: 1. zum Husten auffordern 2. wenn erfolglos: bis zu 5 Schläge zwischen die Schulterblätter 3. wenn erfolglos: – Kinder > 1 Jahr: Heimlich-Handgriff – Säuglinge < 1 Jahr: 5 Thoraxkompressionen 4. Kontrolle des Mundraums, Vorgang ggf. wiederholen

10.2.10 Kohlendioxid-Erstickung Ursachen • Kohlendioxid (CO2) entsteht beim biologischen Abbau von organischen Substanzen, z. B. in Futtersilos, Jauchegruben, Biogasanlagen und Weinkellern. Weitere Gefahrenquellen sind z. B. Brände und Explosionen sowie das Sublimieren von Trockeneis (= festes Kohlendioxid). Pathophysiologie • CO2 ist ein eigentlich ungiftiges, geruchund farbloses Gas, das durch sein höheres spezifisches Gewicht („schwerer als Luft“) den im normalen Luftgemisch enthaltenen Sauerstoff nach oben verdrängt. Dadurch kann sich v. a. in geschlossenen und tief liegenden Räumen (z. B. Kellern) am Boden ein „CO2-See“ bilden. Durch Einatmen von Umgebungsluft mit deutlich erhöhter CO2-Konzentration bei gleichzeitig verringerter O2-Konzentration kann das im Körper entstehende CO2 nicht mehr ausreichend abgeatmet werden und die Aufnahme von O2 nimmt ab (verminderte Diffusion, ▶ Abb. 3.26). Die Folgen sind eine Hyperkapnie und eine Hypoxie. 275

10

Respiratorische Notfälle Symptomatik • Erste Anzeichen sind eine vertiefte Atmung (Hyperkapnie als starker Atemanreiz), eine Tachykardie, Kopfschmerzen, Schwindel und Unruhe. Im weiteren Verlauf werden die Patienten zyanotisch (durch die Hypoxie) und verlieren das Bewusstsein. Letztlich tritt ein Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand ein. Krampfanfälle sind möglich. Bei Inhalation hoher CO2-Konzentrationen tritt schnell und unerwartet Bewusstlosigkeit ein (CO2-Narkose). Differenzialdiagnosen • In Frage kommen alle anderen Ursachen einer Bewusstlosigkeit (S. 416), z. B. eine Hypoglykämie oder ein Krampfanfall. Die Auffindesituation (z. B. in einem Gärkeller) ist meistens der entscheidende Hinweis. Rettung des Patienten Eigenschutz beachten! ● Fordern Sie die Feuerwehr nach: Zur Rettung aus dem Gefahrenbereich ist ein umluftunabhängiger Atemschutz notwendig, sonst setzen sich die Retter selbst der zu hohen CO2-Konzentration aus. ● Bringen Sie anschließend den Patienten umgehend aus dem Gefahrenbereich. ●

Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● schnellstmöglich großzügige O2-Gabe: Im Unterschied zu CO hat CO2 keine hohe Bindungsaffinität zu Hämoglobin und kann schnell abgeatmet werden. Die Maßnahmen orientieren sich an der Bewusstseinslage des Patienten: – Patient bei Bewusstsein: 10–15 l/min O2 über Maske – bewusstloser Patient mit nicht ausreichender Atmung (Atemfrequenz < 10/min oder zu flache Atmung): assistierte Beutel-Masken-Beatmung mit 10–15 l/min O2 (nach Möglichkeit mit Demand-Ventil) und unter Absaugbereitschaft (wegen Aspirationsgefahr) – bewusstloser Patient ohne Atmung (aber mit vorhandenem Puls, der dauerhaft per Monitor überwacht wird): kontrollierte Beutel-Masken-Beatmung mit 10–15 l/min O2 (nach Möglichkeit mit Demand-Ventil) unter Absaugbereitschaft ● Basismonitoring (S. 198) anlegen und regelmäßig kontrollieren: v. a. SpO2, RR, Puls, EKG, ggf. Kapnometrie ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL, ggf. Intubation

ACHTUNG Treffen Sie auf einen bewusstlosen Patienten am Boden eines entsprechenden Raums (z. B. Silo, Gärkeller), müssen Sie sich selbst retten (Eigenschutz)! Versuchen Sie nicht, den Patienten selbst zu bergen, warten Sie immer auf die Feuerwehr! Erweiterte Maßnahmen • Der Patient erhält einen i. v.-Zugang, dieser wird mit einer VEL offengehalten. In schweren Fällen ist eine Intubation und Beatmung mit erhöhter Frequenz (15–20/min) erforderlich, um das Atemminutenvolumen (S. 73) zu erhöhen: Dies beschleunigt die Aufnahme von O2 (Reoxygenierung) und das Abatmen von CO2.

RETTEN TO GO Kohlendioxid-Erstickung ●











Ursachen: Kohlendioxid (CO2) entsteht beim Abbau von organischen Substanzen, z. B. in Futtersilos, Jauchegruben, Biogasanlagen und Weinkellern. Gefahr besteht aber auch z. B. bei Bränden und Explosionen. Pathophysiologie: CO2 ist schwerer als Luft, verdrängt den in der Umgebungsluft enthaltenen O2 nach oben und sammelt sich v. a. in geschlossenen und tief liegenden Räumen (z. B. Kellern) am Boden an. Wird Luft mit erhöhter CO2- und erniedrigter O2-Konzentration eingeatmet, resultieren eine Hyperkapnie und eine Hypoxie. Symptomatik: Kopfschmerzen, Schwindel, Unruhe, vertiefte Atmung, Tachykardie, Zyanose, Bewusstlosigkeit, Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand; bei hoher CO2-Konzentration schnelle Bewusstlosigkeit (CO2-Narkose) Rettung des Patienten: Eigenschutz beachten, Feuerwehr nachfordern (Atemschutz!) ToDo Basis: – NA nachfordern, Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (v. a. SpO2, RR, Puls, EKG, ggf. Kapnometrie), Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL, ggf. Intubation – schnellstmöglich großzügige O2-Gabe: – Patient bei Bewusstsein: 10–15 l/min O2 über Maske – bewusstloser Patient mit nicht ausreichend vorhandener Atmung (Atemfrequenz < 10/min oder zu flache Atmung): assistierte Beutel-Masken-Beatmung mit 10–15 l/min O2 (nach Möglichkeit mit DemandVentil) und unter Absaugbereitschaft – bewusstloser Patient ohne Atmung: kontrollierte Beutel-Masken-Beatmung mit 10–15 l/min O2 (möglichst mit Demand-Ventil) unter Absaugbereitschaft ToDo erweitert: Anlage eines i. v.-Zugangs, mit VEL offenhalten; in schweren Fällen Intubation und Beatmung mit erhöhter Frequenz (15–20/min)

10.2.11 KohlenmonoxidIntoxikation Grundlagen Ursachen • Kohlenmonoxid (CO) entsteht, wenn kohlenstoffhaltige Verbindungen (z. B. Holz, Benzin) bei ungenügender O2-Zufuhr verbrennen. Typische Situationen für diese Vergiftung sind u. a.: ● Verbrennungsvorgänge in geschlossenen Räumen ohne ausreichende O2-Zufuhr, z. B. Wohnungsbrände (als Teil einer Rauchgasvergiftung), Feuer in verstopften Kaminen, Kohlegrills oder laufende Verbrennungsmotoren in geschlossenen Räumen (z. B. Garagen, Gartenlauben), hochfrequentierte, kleinräumige Shisha-Bars ● defekte technische Geräte, z. B. Gasheizungen (meist Kellerräume) und -thermen (häufig im Badezimmer), überdacht stehende Heizpilze Zum Teil wird die Vergiftung absichtlich in suizidaler oder homizidaler Absicht herbeigeführt. Pathophysiologie • CO ist ein farb-, geruch- und geschmackloses, giftiges Gas, das wir nicht wahrnehmen können und das sich gut in der Raumluft verteilt („silent killer“). Es wird über die Lungen aufgenommen, bindet mit sehr hoher Affi-

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Notfälle und Erkrankungen nität an Hämoglobin (bis zu 250-mal stärker als O2) und blockiert so die Bindungsstellen für O2. Dadurch wird weniger O2 zu den Geweben transportiert, zusätzlich wird das verbliebene, an Hämoglobin gebundene O2 in der Peripherie schlechter abgegeben. Bereits bei einer Konzentration von 100 ppm CO in der Luft (ppm: parts per million, engl. für Anteile pro Million) zeigen sich die ersten Vergiftungssymptome. Eine Konzentration ab 5 000 ppm führt innerhalb weniger Minuten zum Tod.

Abb. 10.12 CO-Warngerät.

Symptomatik Der Schweregrad einer akuten CO-Vergiftung ist abhängig von folgenden Faktoren: ● Dauer der Aufnahme von CO ● CO-Konzentration in der Einatemluft ● Belastung des Körpers (Ruhe/Arbeit) ● Lebensalter ● Hämoglobingehalt des Blutes (höheres Risiko bei Anämie) Mit ansteigendem CO-Gehalt im Blut zeigen sich folgende Symptome: ● Kopfschmerzen, Schwindel ● Benommenheit, Herzklopfen, Ohrensausen ● Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Kollapsneigung ● Anstieg von Herz- und Atemfrequenz, Dyspnoe ● Vigilanzstörungen bis Bewusstlosigkeit ● Herzrhythmusstörungen, Angina-pectoris-Symptomatik ● Krampfanfälle ● hypoxisch bedingter Herz-Kreislauf-Stillstand

Gaswarngeräte wie das hier gezeigte CO-Warngerät alarmieren bei definierten Grenzwerten. Die hier sichtbare Anzeige MM 11 CO bedeutet eine CO-Konzentration von 11 ppm und damit keine Gefahr. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme



Rückzugsschwelle (> 200 ppm): – Verlassen Sie unverzüglich den Raum (sofortige Rettung unter Beachten des Eigenschutzes) und streben Sie ein großflächiges Querlüften an. – Kann sich der Patient nicht selbst aus dem Gefahrenbereich retten, lassen Sie ihn von der Feuerwehr retten.

ACHTUNG Trotz des Sauerstoffmangels im Gewebe entwickeln die Vergifteten keine typische Zyanose, sondern (bei hoher COKonzentration im Blut) eine rosige bis kirschrote Hautfärbung. Dies ist allerdings kein sicherer Hinweis, eine normale Hautfärbung schließt eine CO-Intoxikation nicht aus. Nach Abklingen der Akutsymptomatik können sich auch noch nach Wochen neue Symptome entwickeln, z. B. Kopfschmerzen oder neuropsychologische Auffälligkeiten.

! Merke Bewusstseinsstörung → CO-Intoxikation?

Denken Sie bei allen unklaren Bewusstseinsstörungen und/oder allgemeinem Unwohlsein v. a. in Innenräumen auch an die Möglichkeit einer CO-Intoxikation – auch in Hinblick auf den Eigenschutz!

Versorgung des Patienten Rettung des Patienten • Beachten Sie in jedem Fall zunächst den Eigenschutz: Betreten Sie im Zweifelsfall betroffene Räume nicht bzw. verlassen Sie diese zügig! Fordern Sie unverzüglich die Feuerwehr für die Personenrettung (umluftunabhängiger Atemschutz erforderlich!) an sowie für die Kontrolle und Lüftung der angrenzenden Räume (CO geht durch Wände!). In immer mehr Rettungsdienstbereichen stehen heute CO-Warngeräte zur Verfügung (▶ Abb. 10.12), die in der Regel über 3 Warnstufen verfügen: ● Aufmerksamkeitsschwelle (> 30 ppm): – Öffnen Sie die Fenster und Türen des Raumes. – Setzen Sie die Patientenversorgung fort (schonende Rettung). ● Gefährdungsschwelle (> 60 ppm): – Verbessern Sie die Belüftung des Raums. – falls keine effektive Belüftung möglich: Entfernen Sie sich selbst und den Patienten innerhalb der nächsten 15 min aus dem Raum (schnelle Rettung unter Beachten des Eigenschutzes). – Setzen Sie erst danach die Patientenversorgung fort.

Eigenschutz geht vor! Warten Sie ggf. das Eintreffen der Feuerwehr ab. CO ist etwas leichter als Luft, brennbar und explosiv: In geschlossenen Räumen kann daher bei hoher CO-Konzentration zusätzlich Explosionsgefahr bestehen! Gut lüften! Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Lagerung entsprechend der Symptomatik: – bei leichten Symptomen (Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel): sitzende, atemerleichternde Haltung – bei Erbrechen und Kollapsneigung: Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper – bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage ● Entscheidend ist die frühzeitige, hochdosierte O2-Gabe: 10–15 l/min über Maske mit Reservoir, möglichst 100 % O2 – bewusstloser Patient ohne ausreichende Atmung (aber mit vorhandenem Puls, der dauerhaft per Monitor überwacht wird): assistierte/kontrollierte Masken-Beutel-Beatmung unter Absaugbereitschaft, Beutelbeatmung mit leicht erhöhter Frequenz ● Basismonitoring (S. 198) inkl. EKG-Anlage; sofern vorhanden, SpCO-Messgerät (Fingersensor) zur Messung des COAnteils im Blut anlegen ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● i. v.-Zugang, VEL, ggf. Medikation, Intubation vorbereiten

ACHTUNG Die meisten Pulsoxymeter (S. 200) unterscheiden nicht zwischen CO und O2, d. h., die gemessene SpO2 hat keine Aussagekraft! Erweiterte Maßnahmen • Ein i. v.-Zugang wird angelegt und mit einer VEL offengehalten. Nach einer Intubation wird möglichst eine PEEP-Beatmung durchgeführt. Je nach Schweregrad der Vergiftung ist eine Druckkammer mit hyperbarer Oxygenierung (HBO-Therapie) in Betracht zu ziehen, um das Abatmen von CO zu beschleunigen. Besteht 277

10

Respiratorische Notfälle hierzu die Indikation, ist zügig eine entsprechend ausgestattete Klinik anzufahren (Voranmeldung!).

RETTEN TO GO Kohlenmonoxid-Intoxikation ●











Ursachen: Kohlenmonoxid (CO) entsteht, wenn kohlenstoffhaltige Verbindungen (z. B. Holz, Benzin) bei ungenügender O2-Zufuhr verbrennen. Typische Situationen sind Verbrennungsvorgänge in geschlossenen Räumen (z. B. Wohnungsbrände, Kohlegrills oder laufende Verbrennungsmotoren in geschlossenen Räumen, hochfrequentierte, kleinräumige Shisha-Bars) und defekte technische Geräte (z. B. Gasheizungen und -thermen). Zum Teil wird die Vergiftung absichtlich in suizidaler oder homizidaler Absicht herbeigeführt. Pathophysiologie: CO ist ein farb-, geruch- und geschmackloses, giftiges Gas. Es wird über die Lungen aufgenommen, bindet mit hoher Affinität an Hämoglobin und blockiert die Bindungsstellen für O2. Dadurch wird weniger O2 zu den Geweben transportiert. Symptomatik: mit ansteigendem CO-Gehalt im Blut Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit, Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Kollapsneigung, Tachypnoe, Tachykardie, Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle, letztlich hypoxisch bedingter Herz-Kreislauf-Stillstand Rettung des Patienten: Eigenschutz beachten, Feuerwehr nachalarmieren, CO-Warngerät einsetzen, Räume gut belüften ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, symptomorientierte Lagerung, frühzeitige und hochdosierte O2-Gabe (10–15 l/min über Maske mit Reservoir, möglichst 100 % O2), Basismonitoring inkl. EKG und (sofern vorhanden) SpCO-Fingersensor, NA nachfordern, Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation und Intubation ToDo erweitert: i. v.-Zugang und VEL anlegen, je nach Schweregrad Intubation und HBO-Therapie, Transport in geeignete Klinik

Physiologische Besonderheiten ● Die Atemfrequenz ist bei Säuglingen (40–50/min) und Kleinkindern (20–35/min) physiologisch erhöht, ab dem 10. Lebensjahr nähert sie sich der von Erwachsenen an (▶ Tab. 23.1). ● Kinder zeigen überwiegend eine Bauchatmung (S. 72) – nicht eine Brustatmung wie Erwachsene. Achten Sie daher bei der Beurteilung der Atmung besonders auf das Heben und Senken der Bauchdecke. Einschränkungen der Zwerchfellbeweglichkeit, z. B. durch eine Druckerhöhung im Abdomen, beeinträchtigen die Atmung bei ihnen stärker als bei Erwachsenen. ● Neugeborene und Säuglinge atmen primär durch die Nase. Daher kann schon ein „banaler“ Schnupfen die Atmung deutlich beeinträchtigen! ● Muss ein Säugling beatmet werden, darf sein Kopf nicht überstreckt werden, da dies die Atemwege verlegen würde. Der Kopf wird in Neutralstellung, der Schnüffelposition (▶ Abb. 13.15), positioniert. Weitere Informationen finden Sie in den Kapiteln „Besonderheiten pädiatrischer Patienten“ (S. 522) und „Reanimation bei Kindern“ (S. 329).

RETTEN TO GO Respiratorische Notfälle bei Kindern Im Umgang mit Kindern mit Atemnot ist es wichtig, Ruhe auszustrahlen und auf das Kind einzugehen. Beachten Sie die altersabhängigen Normalbereiche für die Atemfrequenz. Hinweise für Atemnot bei Säuglingen sind Nasenflügeln, exspiratorisches Stöhnen und inspiratorische Einziehungen des Thorax. Muss ein Säugling beatmet werden, wird der Kopf in die Schnüffelposition gebracht.

10.3.2 Bronchiolitis Definition Bronchiolitis

10.3 Respiratorische Notfälle bei Kindern 10.3.1 Allgemeines

! Merke Atemnot bei Kindern

Atemnot ist ein sehr häufiges Symptom bei kindlichen Notfällen. Um Atemnot nicht weiter zu verstärken, sind bei Kindern folgende Maßnahmen sinnvoll: ● Strahlen Sie möglichst viel Ruhe aus. ● Belassen Sie das Kind, wenn möglich, auf dem Arm der Bezugsperson. ● Gehen Sie bei allen durchzuführenden Maßnahmen behutsam vor und auf das Kind ein. Typische Hinweise auf Atemnot bei Säuglingen sind Nasenflügeln, Stöhnen beim Ausatmen und Einziehungen des Thorax beim Einatmen (zwischen den Rippen = interkostal oder in der Drosselgrube = Jugulum).

278

Die Bronchiolen, die kleinen Aufzweigungen der Bronchien, sind durch eine virale Infektion entzündet und kritisch verengt. Häufigkeit • Die Bronchiolitis ist die häufigste schwerwiegende Atemwegserkrankung und einer der häufigsten Gründe für eine Krankenhausbehandlung bei Säuglingen in den ersten Lebensmonaten. Frühgeborene haben ein stark erhöhtes Risiko für schwere Verläufe. Die Erkrankung wird v. a. in den Wintermonaten beobachtet. Ursache und Pathophysiologie • Der häufigste Erreger ist das RS-Virus (Respiratory Syncytial Virus), das über Tröpfcheninfektion übertragen wird. Es verursacht eine Entzündung in den Bronchiolen, die die bei Kleinkindern ohnehin engen Atemwege (S. 524) durch eine Schleimhautschwellung und vermehrte Sekretbildung noch weiter verengt. Symptomatik • Der Zustand verschlechtert sich rapide, typischerweise im Rahmen eines bis dahin unkomplizierten Atemwegsinfekts mit mäßigem Fieber, Husten und/oder Schnupfen: Die kritische Verengung der Bronchiolen führt zu Atemnot mit beschleunigter Atemfrequenz, Nasenflügeln, Einziehungen des Thorax und in schweren Fällen Zyanose. Die Ausatmungsphase ist verlängert, bei der Auskultation können Rasselgeräusche und Giemen zu hören sein.

Respiratorische Notfälle bei Kindern Basismaßnahmen zur Versorgung des Kindes ● Versuchen Sie, das Kind und die Eltern zu beruhigen (u. a. Reduktion des Sauerstoffbedarfs). ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): Atemfrequenz, SpO2, Puls, Körpertemperatur ● atemerleichternde Lagerung: – bewusstseinsklares Kind: aufrecht sitzend oder aufrecht auf dem Arm einer Bezugsperson – bewusstseinsgetrübtes Kind: Flachlagerung unter ständiger Kontrolle der Atemwege ● notärztliche Unterstützung anfordern ● O2-Gabe: bei Dyspnoe und/oder Hypoxie (SpO2 < 93 %) 1– 4 l/min über O2-Maske (von Eltern halten lassen) ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten Erweiterte Maßnahmen • In schweren Fällen ist eine assistierte Beatmung erforderlich. Medikamentös wird versucht, die Bronchien zu erweitern, z. B. mit β2-Sympathomimetika oder Adrenalin inhalativ (S. 134). Das Kind wird in notärztlicher Begleitung in eine pädiatrische Klinik mit Intensivkapazität transportiert.

RETTEN TO GO Bronchiolitis ●







Definition und Ursachen: virale Entzündung und kritische Verengung der Bronchiolen, v. a. in den ersten Lebensmonaten; häufigster Erreger: RS-Virus (Respiratory Syncytial Virus) Symptomatik: rapide Zustandsverschlechterung im Rahmen eines bis dahin unkomplizierten Atemwegsinfekts, Atemnot mit beschleunigter Atemfrequenz, Nasenflügeln, Einziehungen des Thorax und in schweren Fällen Zyanose; verlängerte Exspiration, auskultatorisch Rasselgeräusche und Giemen ToDo Basis: Beruhigen von Kind und Eltern, Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (Af, SpO2, Puls, Körpertemperatur), atemerleichternde Lagerung, O2-Gabe bei Dyspnoe und/oder Hypoxie (SpO2 < 93 %) 1–4 l/min über O2Maske (von Eltern halten lassen), NA anfordern, i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ToDo erweitert: in schweren Fällen assistierte Beatmung; β2-Sympathomimetika oder Adrenalin inhalativ zur Bronchienerweiterung; Transport in notärztlicher Begleitung in eine pädiatrische Klinik mit Intensivkapazität

Häufigkeit • Betroffen sind v. a. Kinder zwischen 3 und 7 Jahren. Durch die Impfung gegen Haemophilus influenzae Typ b kommt die Erkrankung nur noch selten vor. Symptomatik • Die Erkrankung beginnt typischerweise plötzlich aus völliger Gesundheit heraus mit hohem Fieber, deutlich beeinträchtigtem Allgemeinbefinden, Halsschmerzen und starken, zunehmenden Schluckbeschwerden (Nahrungsverweigerung!). Da auch der Speichel nicht mehr geschluckt werden kann, fällt ein ausgeprägter Speichelfluss auf (das Kind „sabbert“). Die Sprache klingt „kloßig“. Innerhalb kurzer Zeit schwillt der Kehlkopfdeckel so stark an, dass die Atemwege eingeengt werden und die betroffenen Kinder eine ausgeprägte Luftnot mit „karchelnder“ Atmung (klingt wie Schnarchen) und inspiratorischem Stridor entwickeln. Um die Atemhilfsmuskulatur einzusetzen, nehmen die Kinder typischerweise eine nach vorn gebeugte Haltung mit abgestützten Armen ein (▶ Abb. 10.13). Der Mund ist geöffnet, häufig ist auch die Zunge zu sehen.

ACHTUNG Bei einer Epiglottitis besteht akute Erstickungsgefahr! Differenzialdiagnosen • Der Pseudokrupp betrifft meist kleinere Kinder und beginnt eher schleichend (▶ Tab. 10.6). Ein akutes Kehlkopfödem kann z. B. durch eine allergische Reaktion auf Nahrungsmittel oder Insektenstiche ausgelöst werden. Denken Sie auch an eine Kehlkopfdiphtherie (durch die Impfung heute sehr selten!) und an eine Fremdkörperaspiration (plötzlicher Beginn, i. d. R. Hustenattacken). Basismaßnahmen zur Versorgung des Kindes Versuchen Sie, das Kind und die Eltern (!) zu beruhigen, um den O2-Bedarf nicht durch weiteren Stress oder Angst zu erhöhen. ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● ständige Beobachtung des Kindes, Basismonitoring (S. 198) möglichst auf das Wesentlichste beschränken (weniger ist hier mehr), um zusätzlichen Stress für das Kind zu vermeiden (vorrangig SpO2-Messung) ● Keine Manipulation im Mund-Rachen-Raum (Gefahr der vollständigen Atemwegsverlegung). Keine orale Flüssigkeitsgabe! ● Lagerung: erhöhter, nach vorne gebeugter Oberkörper ● umgehend notärztliche Unterstützung nachfordern – wenn verfügbar, Kindernotarzt/Kindernotärztin ●

Abb. 10.13 Typische Körperhaltung bei Epiglottitis.

10.3.3 Akute Epiglottitis Definition Akute Epiglottitis Eine akute, bakterielle Entzündung des Kehldeckels (Epiglottis) führt zu einer Schleimhautschwellung mit Erstickungsgefahr. Synonym • Laryngitis supraglottica Ursache und Pathophysiologie • Der häufigste Erreger ist das Bakterium Haemophilus influenzae Typ b, seltener andere Bakterien. Die Entzündung führt zu einer Schwellung des Kehldeckels und damit zu einer zunehmenden Einengung des Kehlkopfeingangs. Bei einem vollständigen Verschluss droht der Erstickungstod. Das Kind lehnt sich nach vorn und stützt sich mit den Händen ab (nachgestellte Situation). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Schäfer/Thieme

279

10

Respiratorische Notfälle

Tab. 10.6 Pseudokrupp und akute Epiglottitis.



akute Epiglottitis

Pseudokrupp

Häufigkeit

sehr selten (Schutzimpfung!)

häufig, v. a. in Herbst und Winter

Ursache

Bakterien (v. a. Haemophilus influenzae)

Viren

typisches Alter

3–7 Jahre

6 Monate bis 5 Jahre

Beginn und Verlauf

plötzlich, meist aus voller Gesundheit

meistens allmählich, vorangegangener Atemwegsinfekt, Symptome v. a. nachts

Husten

selten

häufig, bellend

inspiratorischer Stridor

ja

bei schwerem Verlauf

Schluckprobleme, Speichelfluss

ja

nein

Allgemeinbefinden

stark beeinträchtigt mit hohem Fieber

gering bis mäßig beeinträchtigt, evtl. leichtes Fieber

ggf. O2-Gabe: Um Idealfall hält eine Bezugsperson die Maske vor das Gesicht des Kindes. Absaug- und Intubationsbereitschaft herstellen!

ACHTUNG Führen Sie bei Verdacht auf Epiglottitis keinesfalls eine Racheninspektion durch: Dies kann eine weiteres Anschwellen der Schleimhäute mit vollständigem Verschluss der Atemwege auslösen, aber auch einen reflektorischen Atem- und Herzstillstand! Erweiterte Maßnahmen • Haben die Eltern noch kein Prednison-Zäpfchen (S. 136) gegeben, wird dies nachgeholt. Auf die Anlage eines i. v.-Zugangs wird präklinisch möglichst verzichtet. Durch die inhalative Gabe von Adrenalin (Vernebelung) wird versucht, ein Abschwellen der Schleimhäute zu bewirken. Das Kind muss unter NA-Begleitung und Intubationsbereitschaft möglichst schnell in eine Kinderklinik mit Intensivstation gebracht werden (Voranmeldung). Um Stress zu vermeiden, sollte möglichst auf Sondersignale verzichtet werden. Eine Intubation ist wegen der Schwellung der Schleimhäute sehr schwierig und riskant und darf nur von einem erfahrenen (Kinder-)Notarzt durchgeführt werden.

RETTEN TO GO Akute Epiglottitis ●





280

Definition und Ursachen: bakterielle Entzündung des Kehlkopfdeckels, am häufigsten durch das Bakterium Haemophilus influenzae Typ b und bei Kindern zwischen 3 und 7 Jahren; durch die Schutzimpfung gegen Haemophilus influenzae Typ b inzwischen sehr selten Symptomatik: plötzlicher Krankheitsbeginn mit hohem Fieber, deutlich beeinträchtigtem Allgemeinbefinden, Halsschmerzen, Schluckbeschwerden (Nahrungsverweigerung!), Speichelfluss, „kloßiger“ Sprache und ausgeprägter Luftnot mit inspiratorischem Stridor; Erstickungsgefahr! ToDo Basis: – Beruhigen von Kind und Eltern, Vitalfunktionen sichern, ständige Beobachtung des Kindes, minimales Basismonitoring (v. a. SpO2) – Keine Manipulation im Mund-Rachen-Raum, keine orale Flüssigkeitsgabe!



– Lagerung mit erhöhtem, nach vorne gebeugtem Oberkörper, ggf. O2-Gabe, NA nachfordern, möglichst Kindernotarzt ToDo erweitert: evtl. Kortison-Zäpfchen und/oder Adrenalin inhalativ; rascher Transport in Kinderklinik mit Intensivstation in NA-Begleitung; bei schwerer Atemnot Intubation durch erfahrenen (Kinder-)NA

10.3.4 Pseudokrupp Definition Pseudokrupp Eine virale Infektion löst eine Entzündungsreaktion mit einem Anschwellen der Schleimhäute unterhalb der Stimmritze aus, sodass der Atemweg verengt wird. Synonyme • Krupp-Syndrom, Laryngitis subglottica, subglottische Laryngitis, stenosierende Laryngotracheitis Ursachen • Die häufigsten Erreger sind Parainfluenzaviren, die Infektionen kommen v. a. im Herbst und Winter vor. Am häufigsten sind Kleinkinder zwischen 6 Monaten und 5 Jahren betroffen, Häufigkeitsgipfel im 18. Lebensmonat. Symptomatik • In der Regel besteht schon seit einigen Tagen ein Infekt der oberen Atemwege mit leichtem Fieber und nur geringer Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens. Eine Akutsituation (Pseudokruppanfall) entwickelt sich sehr häufig in der Nacht und zeigt sich zunächst als trockener, bellender Husten. Beim Einatmen entsteht an der Engstelle ein pfeifendes Geräusch (inspiratorischer Stridor), das bei starker Ausprägung schon aus der Entfernung zu hören ist. Starke Verengungen können zu Luftnot führen und beim Kind und den Eltern Angst auslösen. In der Regel verläuft die Erkrankung aber leicht und gibt selten Anlass für einen Notruf.

! Merke Bedrohlich, aber selten lebensgefährlich

Ein Pseudokrupp-Anfall ist für die Eltern oft ein bedrohliches Ereignis. Es besteht jedoch nur selten Lebensgefahr. Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen ist v. a. eine akute Epiglottitis (▶ Tab. 10.6), siehe dort auch für weitere Differenzialdiagnosen.

Respiratorische Notfälle bei Kindern Basismaßnahmen zur Versorgung des Kindes ● Versuchen Sie, das Kind und die Bezugsperson (!) zu beruhigen, um den O2-Bedarf nicht durch weiteren Stress oder Angst zu erhöhen. ● Belassen Sie das Kind auf Wunsch auf dem Arm der Bezugsperson. ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Zufuhr von kalter und/oder befeuchteter Luft (z. B. mit dem Kind vor ein offenes Fenster gehen – dabei auf ausreichend warme Kleidung achten!) ● SpO2 erheben (vorerst kein weiteres Monitoring notwendig), ggf. O2-Gabe ● notärztliche Unterstützung anfordern bei inspiratorischem Stridor, Atemnot und/oder Zyanose Erweiterte Maßnahmen • Sofern die Eltern noch kein Prednison-Zäpfchen (S. 136) gegeben haben, wird dies nun verabreicht, ggf. auch Adrenalin (vernebelt). Systemische Glukokortikoide beeinflussen bei schweren Verläufen und frühzeitiger Gabe den Verlauf günstig.

RETTEN TO GO Pseudokrupp ●





Definition: virale Infektion mit Anschwellen der Schleimhäute unterhalb des Kehldeckels und Verengung des Atemwegs; am häufigsten zwischen 6 Monaten und 5 Jahren, v. a. im Herbst und Winter Symptomatik: seit Tagen Infekt der oberen Atemwege mit leichtem Fieber, typischerweise nachts bellender Husten, inspiratorischer Stridor und mitunter Luftnot; häufig starke Angst bei Kind und Eltern ToDo: Kind und Bezugsperson beruhigen, kalte und/ oder befeuchtete Luft zuführen, ggf. O2-Gabe; bei Stridor, Atemnot und/oder Zyanose NA nachfordern

10.3.5 Fremdkörperaspiration Siehe den Abschnitt Aspiration (S. 273).

281

11

Schock

11.1.1 Schock und Schockformen Definition Schock

11.1 Grundlagen Fallbeispiel Wespenschwarm attackiert Schulklasse* An einem Sommertag um 12:13 Uhr lautet das Einsatzstichwort „Allergische Reaktion“. Der Notfallort ist ein Gasthof mit großem Garten. Eine aufgeregte Dame berichtet dem eintreffenden Rettungsteam: Ein Schüler habe versehentlich in ein Erdwespennest gegriffen, danach hätten die Wespen die gesamte Schulklasse attackiert. 10 Kinder und die Lehrerin seien gestochen worden. Der Lehrerin gehe es besonders schlecht, etwa 5 der gestochenen Kinder hätten Schmerzen. Die übrigen 5 Kinder seien den Umständen entsprechend wohlauf. Es herrscht Chaos, einige Kinder weinen. Das Rettungsteam fordert daher bei der Leitstelle umgehend Verstärkung und notärztliche Unterstützung an. Die Lehrerin sitzt mit aufgerichtetem Oberkörper auf der Wiese und bekommt schlecht Luft. Um sie kümmert sich das Rettungsteam daher zuerst. Auf die Frage: „Frau Fischer, haben Sie eine Wespenallergie?“, antwortet sie: „Ja, und ich habe mein Notfallset nicht dabei.“ Auf ihrer rechten Gesichtshälfte sind mehrere Einstichstellen sichtbar, dieser Bereich ist deutlich gerötet und geschwollen. Zudem ist ihre Haut blass und kaltschweißig, ihre Atmung ist beschleunigt und erschwert, der Puls ist flach und kaum tastbar. Alles deutet auf einen anaphylaktischen Schock aufgrund einer allergischen Reaktion hin. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

282

Ein Schock ist ein Kreislaufversagen, das unbehandelt zum Multiorganversagen (= Ausfall aller Organe) führen kann. Eine Störung der Mikrozirkulation, d. h. eine geringere Durchblutung der kleinsten Blutgefäße, führt zu einer O2-Minderversorgung des Gewebes (Hypoxie). Es besteht also ein Missverhältnis zwischen O2-Angebot und O2-Bedarf. Der Körper versucht zu Beginn, die Durchblutung der wichtigsten Organe wie Gehirn, Herz und Lunge sicherzustellen – auf Kosten anderer Organe und der „Peripherie“ (z. B. Arme und Beine). Wird diese Phase der Kreislaufzentralisation nicht rechtzeitig erkannt und gestoppt, kann ein Schock tödlich enden. Schockformen • Nach der Ursache werden verschiedene Schockarten (▶ Tab. 11.1) unterschieden, wobei auch Mischformen vorkommen können.

! Merke Psychischer Schock

Ein Schock ist immer die Folge einer schweren Verletzung, Erkrankung oder allergischen Reaktion und hat nichts mit dem umgangssprachlich verwendeten Begriff „Schock“ bzw. „schockiert sein“ nach seelisch belastenden Ereignissen zu tun. Dieser Zustand lässt sich besser als akute Belastungsreaktion (S. 442) beschreiben.

Schock und Schockformen Grundlagen

▶S. 282

Schockstadien und Schocksymptome Versorgung des Patienten

▶S. 286

▶S. 287

Hypovolämischer Schock Kardialer Schock Besonderheiten der einzelnen Schockformen

▶S. 289

Allergische Reaktion und anaphylaktischer Schock Sepsis und septischer Schock

▶S. 290

▶S. 292

Neurogener Schock

Besonderheiten bei Kindern

▶S. 289

▶S. 293

▶S. 293

Tab. 11.1 Übersicht über die Schockformen. Schockform

Ursache

mögliche Auslöser (Beispiele)

Volumenmangelschock = hypovolämischer Schock

ausgeprägter Flüssigkeits- oder Blutverlust (absoluter Volumenmangel)

starke Blutungen (hämorrhagischer Schock), großflächige Verbrennungen, starker Durchfall, starkes Erbrechen

kardialer Schock

kardiogener Schock

verminderte Pumpleistung des Herzens → relativer Volumenmangel

Herzinfarkt, Herzinsuffizienz

obstruktiver Schock

vermindertes Herzzeitvolumen durch eine mechanische Einengung des Herzens

Herzbeuteltamponade, Spannungspneumothorax

anaphylaktischer Schock

Vasodilatation (Weitstellung der Gefäße) + erhöhte Durchlässigkeit der Gefäße mit Flüssigkeitsverlust in das Gewebe → relativer Volumenmangel

z. B. Wespenstich (Insektengift, s. Fall), Nahrungsmittelallergene

distributiver Schock = Verteilungsschock

septischer Schock neurogener (spinaler) Schock



RETTEN TO GO Schock und Schockformen ●

Ein Schock ist ein Kreislaufversagen, bei dem ein Missverhältnis zwischen O2-Angebot und -Bedarf besteht. Die gestörte Mikrozirkulation führt zur Minderdurchblutung und damit zu einer mangelnden O2-Versorgung (Hypoxie) der Organe und letztlich zu einem Multiorganversagen (= Versagen aller Organe) mit Todesfolge.

schwere Infektionskrankheiten Schädel-Hirn-Trauma, Wirbelsäulentrauma

Schockformen: – Volumenmangelschock: hypovolämischer und hämorrhagischer Schock – kardialer Schock: kardiogener und obstruktiver Schock – distributiver Schock: – anaphylaktischer Schock – septischer Schock – neurogener (spinaler) Schock

283

PATHOPHYSIOLOGIE DES SCHOCKS

Organdurchblutung ausreichend

TYPISCHE SCHOCKSYMPTOMATIK

KARDIOGENER SCHOCK Pumpversagen oder mechanische Einengung des Herzens → zu geringes Auswurfvolumen

kein (fortschreitendes) Schockgeschehen relativer Volumenmangel

Abfall um < 15 %

VOLUMENMANGELSCHOCK ausgeprägter Blut- oder Flüssigkeitsverlust

absoluter Volumenmangel

um 15-30 %

um > 15%

ODER SEPTISCHER SCHOCK Weitstellung der Gefäße durch Toxine von Krankheitserregern

relativer Volumenmangel

HERZZEITVOLUMEN ↓ um 30-40 % Abfall um > 40 %

ANAPHYLAKTISCHER SCHOCK stärkste allergische Reaktion

NEUROGENER SCHOCK Verletzung oder Erkrankung von Gehirn oder Rückenmark

„WARMER SCHOCK“

MULTIORGANVERSAGEN

Lunge (ARDS)

Leber (akutes Leberversagen)

Herz (akutes Herzversagen)

Darm

Nieren (akutes Nierenversagen)

Gerinnungssystem (Verbrauchskoagulopathie)

KOMPENSATIONSPHASE (Phase 1)

Kreislaufzentralisation durch sympathoadrenerge Reaktion

Leitsymptom Tachykardie blasse und kaltschweißige Haut (kann fehlen → „warmer Schock“)

Blutdruck erreicht Soll-Wert bzw. steigt über Soll-Wert (hyperdyname Phase)

kein ausreichender Blutdruckanstieg Blutdruck sinkt wieder

• zentralisationsbedingte Hypoxie nimmt zu • metabolische Azidose mit Zellschädigung Gefäßverengung in der Haut, der Muskulatur und den nicht unmittelbar lebenswichtigen Organen

• Dilatation der Arteriolen → Stase, Thromben, Mikrozirkulationsstörungen • Gefäßpermeabilität nimmt zu (Volumenverlust ins Interstitium) • RR sinkt weiter, Hypoxie verstärkt sich

Leitsymptom Rekap-Zeit ↑ Herzfrequenz ↑

• Mediatorenfreisetzung mit Gefahr von SIRS und DIC

KSPIRA OC

LE

Leitsymptom Hypotonie

Störung der Makro- und Mikrozirkulation (hypodyname Phase):

SCH

Blutdruck↓ pO2↓ pCO2↑

KATECHOLAMINFREISETZUNG

KOMPENSATIONSMECHANISMEN (sympathoadrenerge Reaktion)

DEKOMPENSATIONSPHASE (Phase 2)

Dekompensation verstärkt sich selbst

Leitsymptom Tachykardie (nicht bei neurogenem Schock) Atemfrequenz ↑ Bronchien weiten sich

Leitsymptom Tachypnoe

!

keine therapeutische Intervention (HZV sinkt weiter)

IRREVERSIBLER SCHOCK (Phase 3)

Alarmzustand

Leitsymptom Angst + Unruhe

unumkehrbare hypoxische Gewebsschädigung: • Erythrozyten verklumpen (Sludge) und verlegen Kapillaren (Ischämie). • Verstärkte Bildung von Mikrothromben verbraucht Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren, Blutungsneigung verstärkt sich (Verbrauchskoagulopathie/DIC).

VERSAGEN DER KOMPENSATIONSMECHANISMEN

• Azidose lässt Gefäße dilatieren (Kreislaufversagen).

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

11

Schock

11.1.2 Schockstadien und Schocksymptome



Unbehandelt verlaufen alle Schockformen in 3 Schockstadien (▶ Tab. 11.2).

Kompensationsphase (Phase 1) Symptomatik • Der Patient ist bei Bewusstsein und antwortet gezielt, wenn Sie ihn ansprechen. Er ist unruhig und ängstlich, evtl. ist ihm kalt und er zittert. Die Atemfrequenz ist normal bis erhöht. Die Stresssituation und die schlechter werdende Durchblutung führen zu kaltschweißiger und blasser Haut (Ausnahmen: septischer, anaphylaktischer und neurogener Schock mit anfangs warmer Haut). Der Blutdruck ist noch annähernd normal bis erniedrigt, der Puls beschleunigt (> 100/min), aber gut zu tasten; Ausnahmen: kardialer (S. 289) und neurogener Schock (S. 293). Wie entstehen die Symptome? • Jeder Schock geht, unabhängig von der Ursache, im Verlauf mit einem Volumenmangel einher, also mit einem Mangel an Blut oder Flüssigkeit und einem verminderten Herzzeitvolumen (HZV). Unterschieden werden: ● Ein absoluter Volumenmangel entsteht durch den Verlust von zirkulierendem Volumen nach außen (Verletzung) oder innen (erhöhte Durchlässigkeit der Kapillargefäße in Haut oder Schleimhäuten). ● Ein relativer Volumenmangel entsteht z. B., wenn ein geschwächtes Herz zu wenig Blut durch den Kreislauf pumpt oder das Blut in weit gestellten Blutgefäßen „versackt“, sodass die Organe nicht mehr ausreichend durchblutet werden (Umverteilung von Volumen). Beide Formen des Volumenmangels führen dazu, dass weniger venöses Blut zum Herzen zurückfließt. Dies vermindert das HZV. Der Körper versucht, den Volumenmangel und das gesunkene HZV mithilfe des vegetativen Nervensystems (S. 100) auszugleichen (möglich bis zu einem Volumendefizit von ca. 30 %), und zwar mit folgenden Kompensationsmechanismen:





Druckrezeptoren in der Aorta und den Karotiden (S. 67) registrieren den RR-Abfall und geben diese Information an das Kreislaufregulationszentrum im ZNS weiter: Der Sympathikus wird aktiviert. In der Folge werden vermehrt Katecholamine wie Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin ausgeschüttet (= sympathikoadrenerge Reaktion). Folge: Die Gefäße verengen sich, wodurch der periphere Gefäßwiderstand und in der Folge der Blutdruck ansteigen. Gleichzeitig nimmt die Herzfrequenz zu. Ziel des Mechanismus: Umverteilung des Blutes von der Peripherie (Arme, Beine) in die lebenswichtigen Organe, v. a. in Gehirn, Herz und Lunge (Kreislaufzentralisation), um deren ausreichende Blutversorgung möglichst lange zu gewährleisten.

Dekompensationsphase (Phase 2) Symptomatik • Der Patient ist nicht klar bei Bewusstsein (Bewusstseinstrübung, ggf. Bewusstlosigkeit, Teilnahmslosigkeit, Schläfrigkeit). Seine Haut ist nicht nur kaltschweißig und blass, sondern auch bläulich verfärbt (= Zyanose; gut sichtbar an den Schleimhäuten, ▶ Abb. 10.2). Er atmet schnell und flach, der Puls ist stark beschleunigt (Tachykardie) und schlecht zu tasten, der Blutdruck sinkt weiter (starke Hypotonie). Die schlechte Durchblutung, auch der Nieren, führt zur Abnahme der Harnproduktion (Oligurie; „Schockniere“) mit Gefahr eines akuten Nierenversagens (S. 497). Wie entstehen die Symptome? • Die Kompensationsmechanismen des Körpers reichen nicht mehr aus, um das gesunkene HZV zu erhöhen. Im Kapillargebiet ist die Hypoxie so ausgeprägt, dass der Zellstoffwechsel beeinträchtigt ist. In den Geweben reichern sich saure Stoffwechselprodukte an (Azidose), die zur Erweiterung der präkapillären Gefäße führen. Der Blutzufluss in die Kapillargebiete nimmt damit zu, das Blut kann aber nicht ausreichend abfließen. Dadurch kommt der Blutstrom in der Peripherie nahezu zum Erliegen, es bilden sich kleinste Blutgerinnsel (Mikrozirkulationsstörung) und die Durchlässigkeit der Kapillaren nimmt weiter zu: Vermehrt tritt Flüssigkeit in die Gewebe über und der Blutdruck sinkt weiter ab. Diese Abfolge von Abfall des

Tab. 11.2 Die Phasen des Schocks.** Schockphase

Reduzierung des HZV

Pathophysiologie

Symptome*

Kompensationsphase (Phase 1)

15–30 %

Kompensation des reduzierten HZV durch sympathoadrenerge Reaktion (Kreislaufzentralisation)

● ● ● ● ●

Dekompensationsphase (Phase 2)

30–40 %

unzureichende Kompensation des HZV teilweise anaerober Stoffwechsel

● ● ● ● ●

irreversibler Schock (Phase 3)

> 40 %

Wegfall der sympathoadrenergen Reaktion Flüssigkeitsverlust ins Interstitium Sludge-Phänomen

● ● ● ● ●

Puls > 100/min, kräftig Atemfrequenz 20–30/min Blutdruck annähernd normal Rekapillarisierungszeit > 2 s Patient blass, ängstlich, unruhig, evtl. kaltschweißig Puls > 120/min, fadenförmig Atemfrequenz 30–40/min RRsyst < 90 mmHg Rekapillarisierungszeit > 2 s Patient ängstlich und bewusstseinseingetrübt Puls > 140/min, kaum bis nicht tastbar Atemfrequenz > 35/min RRsyst < 70 mmHg bis nicht mehr messbar Rekapillarisierungszeit > 2 s Patient lethargisch bis bewusstlos

*abhängig von der Schockart ** nach: Kuhnke R, Blickle W: Syndrom Schock – frühzeitig erkennen und behandeln; retten! 3/2012; Stuttgart: Thieme; 2012

286

Grundlagen HZV, Gewebehypoxie, Mikrozirkulationsstörung und weiterem HZV-Abfall wird auch als Schockspirale bezeichnet.



Irreversibler Schock (Phase 3) Symptomatik • Der Patient befindet sich in akuter Lebensgefahr: Er ist lethargisch bis bewusstlos. Die Haut ist grau marmoriert, die Atmung sehr flach und unregelmäßig, der Puls schnell und kaum noch zu tasten, der Blutdruck nicht mehr messbar. Wie entstehen die Symptome? • Durch die erhöhte Durchlässigkeit der Kapillargefäße tritt mehr Flüssigkeit aus den Gefäßen in das Gewebe, als zurückströmt. Das Blut „dickt ein“ (Sludge-Phänomen). Die Erythrozyten ballen sich zusammen und verschließen als kleine Blutgerinnsel (Mikrothromben) die Kapillargefäße. Durch den Verschluss dieser Gefäße sterben Zellen ab. Die lebenswichtigen Organe wie Herz, Gehirn und Lunge werden nicht mehr ausreichend mit O2 versorgt und können ihre Funktion nicht mehr aufrechterhalten. Die Folge ist ein Multiorganversagen und damit der Tod.

Schockindex Definition Schockindex Schockindex = Herzfrequenz : systolischer Blutdruck. Der Schockindex hat an Bedeutung verloren, kann aber eine grobe Orientierung darüber geben, ob ein Schockzustand vorliegt oder nicht: Bei einem Wert > 1 liegt sehr wahrscheinlich ein Schock vor, bei einem Wert > 1,5 ein schwerer Schock. Bei Gesunden liegt der Wert bei ca. 0,5. Beispiel: Herzfrequenz 140 Schläge/min, systolischer Blutdruck 70 mmHg → Schockindex = 2 → schwerer Schock Hinweise zur Interpretation der Ergebnisse ● Der Schockindex darf nicht als alleiniges Diagnosekriterium verwendet werden, da er oft falsch negativ ist, z. B. – in der Anfangsphase des Schocks mit Tachykardie, aber noch annähernd normalem Blutdruck, – wenn bei schlechter werdender Kreislauffunktion der Kompensationsmechanismus der erhöhten Herzfrequenz nicht funktioniert. ● Ist der Schockindex positiv, kann er als Hilfe hinzugenommen werden, um die Verdachtsdiagnose zu erhärten – in die Interpretation der Schwere des Schocks und des Schockstadiums sind jedoch unbedingt alle verfügbaren Untersuchungsergebnisse, Beobachtungen und auch Informationen über die vermutete Ursache einzubeziehen.

! Merke Schockindex ●



Der Schockindex kann die Diagnose eines Schocks unterstützen, darf aber nie allein betrachtet werden: Sonst besteht die Gefahr, in der Anfangsphase wertvolle Zeit zu verlieren. Bei Kindern eignet er sich nicht als Diagnosehilfe (S. 293).

RETTEN TO GO Schockstadien und -zeichen ●

Jeder Schock ist im Verlauf mit einem Volumenmangel (Hypovolämie) und einem verminderten Herzzeitvolumen (HZV) verbunden.







Schockstadien: – Kompensationsphase (Phase 1) – Dekompensationsphase (Phase 2) – irreversibler Schock (Phase 3) Allgemeine Schockzeichen: – blasse und kaltschweißige Haut – deutlich verlängerte Rekapillarisierungszeit (> 2 s) – deutlich erhöhte Herzfrequenz (= Tachykardie; Puls > 100/min) + niedriger und weiter sinkender Blutdruck (= Hypotonie; RRsyst < 100 mmHg) – erhöhte Atemfrequenz (Tachypnoe) – Der Patient ist ängstlich und unruhig, friert und zittert, später ist er teilnahmslos und trübt zunehmend ein. Ausnahmen: – kardialer und neurogener Schock: evtl. niedrige Herzfrequenz – septischer und neurogener (spinaler) Schock: Haut anfangs gerötet und warm Der Schockindex (= Herzfrequenz/systolischer Blutdruck) ist für eine grobe Abschätzung geeignet, ob ein Schockzustand vorliegt (bei einem Wert > 1 sehr wahrscheinlich). Bei Kindern ist er ungeeignet!

11.1.3 Versorgung des Patienten Basismaßnahmen

! Merke Notärztliche Unterstützung

Fordern Sie bei Verdacht auf Schock immer notärztliche Unterstützung an! Beachten Sie bei Patienten im Schock im Rahmen der Notfalluntersuchung nach dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) besonders (keine Besonderheiten bei A und D, deshalb hier nicht gesondert erwähnt): ● c – critical Bleeding: bei traumatisch bedingtem Schock lebensbedrohliche Blutungen stillen (S. 375) ● B – Breathing: Atmung erleichtern, ggf. beengende Kleidung öffnen und für Frischluftzufuhr sorgen, O2 über Inhalationsmaske (8–15 l/min) ● C – Circulation: – ggf. sichtbare Blutung stillen – engmaschiges Monitoring der wichtigsten Vitalfunktionen: Puls, Rekapillarisierungszeit (S. 189), RR, SpO2, EKG (Rhythmuskontrolle, vorbereitende Maßnahme für den NA); Hinweis: Der periphere Puls gibt orientierend Auskunft über den Blutdruck – bei einem gut tastbaren peripheren Puls liegt der RRsyst > 80 mmHg. – ggf. Schocklagerung (▶ Abb. 11.1): Durch das Höherlegen der Beine um 30–60° strömt das Blut aufgrund der Schwerkraft aus den Extremitäten vermehrt in die Körpermitte zurück (Autoinfusionslagerung). Aber Vorsicht, hier gibt es zahlreiche Ausnahmen (s. u.). ● E – Exposure/Environment: – Wärme erhalten mit Alurettungsdecke (auch im Sommer!), im Winter zusätzlich Decke unter den Patienten legen: Ein Auskühlen des Patienten verschlechtert die Prognose deutlich! – Soweit möglich für Ruhe sorgen! Streben Sie einen schnellstmöglichen Transport an, fahren Sie ggf. dem NEF entgegen. Achten Sie trotz der gebotenen Eile auf einen schonenden Transport!

287

11

Schock Abb. 11.1 Klassische Schocklagerung.

Das Hochlagern der Beine um 30–60° lässt vermehrt Blut aus den Extremitäten in die Körpermitte zurückströmen. Dies erhöht bei einem Volumenmangelschock das Herzzeitvolumen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

ACHTUNG

Abb. 11.2 Trendelenburg-Lagerung.

Die Trage wird als Ganzes um 15–30° gekippt, um die Füße hoch und den Kopf tief zu lagern. Dabei bleibt die Körperachse des Patienten gerade. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Abb. 11.3 Lagerung bei Verdacht auf kardialen Schock.

Generell gilt eine Rekapillarisierungszeit > 2 s als erhöht. Ein Wert > 3 s (oder ein Fehlen der Rekapillarisierung) ist ein Hinweis auf eine Durchblutungsstörung. Bei Kälte kann sich die Rekapillarisierungszeit jedoch allein aufgrund der niedrigen Temperaturen verlängern! Aufgrund der Kreislaufzentralisation liefert die Pulsoxymetrie oft keine auswertbaren Ergebnisse. Lagerung • Die klassische Schocklagerung (▶ Abb. 11.1) sollte nur bei hypovolämischem Schock durchgeführt werden, wenn keine relevanten Verletzungen im Bereich der „5 B“ vorliegen: Kopf („Birne“), Brustraum, Bauch, Becken oder Beine. Für alle anderen Schockarten werden die Patienten symptomorientiert gelagert, d. h., Sie müssen auf die vermutete Schockursache mit der entsprechenden Lagerung reagieren: ● Atemnot oder anaphylaktische Reaktion: Lagerung sitzend bzw. mit erhöhtem Oberkörper, um die Atmung durch die Schocklagerung nicht zusätzlich zu erschweren ● Verdacht auf kardialen Schock: Herzbettlagerung (▶ Abb. 11.3) ● Wirbelsäulen- oder Beckenverletzung: Flachlagerung bzw. rückenschonende Lagerung. Prinzipiell ist eine Schocklagerung auf der Trage möglich: Dazu wird die Trage als Ganzes um 15–30° schräg gestellt (Kopftief- oder Trendelenburg-Lagerung), um die Wirbelsäule zu schonen (▶ Abb. 11.2). ● Bewusstlose Patienten werden in stabile Seitenlage (▶ Abb. 9.39) gebracht. Bewusstlosigkeit bei Schock bedeutet höchste Lebensgefahr! Sofortige Reanimationsbereitschaft herstellen (S. 318)!

Erweiterte Maßnahmen Die notärztliche Therapie konzentriert sich auf das Aufrechterhalten der Vitalfunktionen und die medikamentöse Behandlung der Schockursache bzw. des Schockzustandes. Es ist mindestens ein großlumiger Venenzugang erforderlich (ggf. i.o.-Zugang), über den in kurzer Zeit die benötigte Menge an Volumen sowie Medikamente verabreicht werden. Das oberste Ziel ist es, die Blutzirkulation sicherzustellen, damit Gehirn, Herz und Lunge ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden! In der Phase 3 des Schocks sind eine Atemwegssicherung mittels Intubation sowie eine Beatmung wichtige erste Therapieschritte, um eine ausreichende O2-Zufuhr zu ermöglichen und Aspirationen (z. B. Erbrochenes) zu verhindern. 288

Bei der Herzbettlagerung ist das Kopfteil aufgestellt, während die Beine von der Liege herabhängen. Dadurch fließt weniger venöses Blut aus den Beinen zum Herzen zurück und das Herz wird entlastet. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

RETTEN TO GO Versorgung von Schockpatienten Fordern Sie bei Verdacht auf Schock immer notärztliche Unterstützung an! Bis zum Eintreffen der Unterstützung können Sie Folgendes tun: ● Atmung erleichtern, ggf. beengende Kleidung öffnen, für Frischluftzufuhr sorgen ● O2-Gabe über Inhalalationsmaske ● ggf. sichtbare Blutungen stillen; oberstes Ziel: Schockursache beseitigen! ● bei hypovolämischem Schock: Schocklagerung (Autoinfusionslagerung) = Beine hochlagern; bei allen anderen Schockformen symptomorientierte Lagerung (Besonderheiten bei den einzelnen Schockformen beachten)! ● bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage; höchste Lebensgefahr, Reanimationsbereitschaft herstellen! ● Vitalfunktionen engmaschig kontrollieren: Hf, Af, RR, SpO2, EKG ● Wärme erhalten mit Alurettungsdecke (außer bei Schock durch Hitzeschlag) ● für Ruhe sorgen

Besonderheiten der einzelnen Schockformen Volumensubstitution vorbereiten hochdosierte O2-Gabe (10–15 l/min) über Maske (mit Reservoir und Nichtrückatemventil)

11.2 Besonderheiten der einzelnen Schockformen



11.2.1 Hypovolämischer Schock

ACHTUNG

Synonym • Volumenmangelschock

Definition Hypovolämischer Schock Beim hypovolämischen (griechisch „hypo“ für „zu wenig“; „vol“ für Volumen; „ämisch“ für Blut) Schock steht dem Körper zu wenig Blut oder zu wenig Plasma zur Verfügung, um lebenswichtige Organe mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Ursachen und Pathophysiologie • Ein Volumenmangelschock entsteht durch Verlust von Blut (= hämorrhagischer Schock) oder auch nur der flüssigen Bestandteile des Blutes (Plasma mit Wasser und Elektrolyten, z. B. bei Verbrennungen). Erste Schockzeichen sind ab einem Verlust von ca. 15 % des Blutvolumens (ca. 750 ml bei einem Erwachsenen) zu erwarten. Durch den Volumenmangel im Gefäßsystem entwickelt sich im weiteren Verlauf ein Schock. Blutungen können sowohl innerlich (also nicht sichtbar! z. B. Magen-Darm-Trakt, Organrupturen infolge eines Traumas) als auch äußerlich sein (z. B. Schnittverletzungen). Flüssigkeitsverluste sind meist die Folge von heftigem Erbrechen, Durchfall oder Austrocknung bei erhöhter Umgebungstemperatur (starkes Schwitzen bei gleichzeitig zu geringer Flüssigkeitsaufnahme; Hitzschlag) bzw. hohem Fieber.

ACHTUNG Nicht nur bei Organverletzungen, sondern auch bei Knochenbrüchen besteht die Gefahr großer Blutverluste, vgl. ▶ Abb. 15.9! Der hypovolämische Schock kommt besonders häufig bei Kindern und Säuglingen vor (S. 293), da bei diesen bereits ein geringer Blut- oder Flüssigkeitsverlust (z. B. MagenDarm-Infekt) für den Organismus bedrohlich werden kann. Leitsymptome • Neben den allgemeinen Schockzeichen (S. 286) können weitere Symptome auf einen hypovolämischen Schock hindeuten, darunter: ● Desorientiertheit, Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen bei großem Blutverlust ● trockene Schleimhäute (z. B. ausgetrocknete Zunge, trockener Mund), stehende Hautfalten (▶ Abb. 21.7) und tief in den Augenhöhlen liegende Augen („Ringe unter den Augen“), z. B. bei Flüssigkeitsverlust durch Durchfall und/oder Erbrechen.

! Merke Verlust- und Verbrauchskoagulopathie

Bei starkem Blutverlust gehen auch Gerinnungsfaktoren verloren, was zu unstillbaren inneren und äußeren Blutungen führen kann – selbst wenn die ursächliche Blutung bereits gestillt wurde. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 287) Sichtbare Blutung(en) sofort stillen (S. 374). ● Die Schocklagerung (▶ Abb. 11.1) ist die wichtigste Basismaßnahme bei dieser Schockform: Durch den vermehrten Rückfluss von Blut aus den Beinen in die Körpermitte steht innerhalb kurzer Zeit wieder mehr Blut für den Kreislauf zur Verfügung. ● Monitoring etablieren, Vitalparameter regelmäßig kontrollieren ● bei einem hypovolämischen Schock durch einen Hitzschlag (S. 406) kein Wärmeerhalt mit Alurettungsdecke ●



Beachten Sie die Kontraindikationen für die Schocklagerung (S. 288)! Erweiterte Maßnahmen • Bei dieser Schockform ist die Gabe von Volumen in Form von kristalloiden Infusionslösungen (VEL, z. B. Ringer-Lactat®) besonders wichtig. Deshalb werden großlumige Venenzugänge (falls dies nicht möglich ist, ein i.o.-Zugang) gelegt, damit innerhalb kürzester Zeit viel Volumen verabreicht werden kann. Die Infusionen sind natürlich kein echter Ersatz für das verlorene Blut, aber im Rettungsdienst werden keine Bluttransfusionen verabreicht: Zum einen fehlt die notwendige Sicherheit (Testung der Blutgruppe, Testung auf Antikörper), zum anderen ist dies meist nicht notwendig – der Volumenverlust und der damit im Verlauf verbundene Kreislaufstillstand sind wesentlich gefährlicher. Um den Kreislauf zu unterstützen, werden ggf. Katecholamine (Dobutamin, z. B. Dobutrex®) verabreicht. Siehe das Kapitel Traumatologie für das Vorgehen bei Verbrennungen (S. 399) und bei Hitzschlag (S. 406).

RETTEN TO GO Hypovolämischer Schock ●









Definition: Schock aufgrund eines Volumenmangels, d. h. eines Mangels an Blut (= hämorrhagischer Schock) und/oder an Plasma. Ursachen: starker Blutverlust (z. B. durch Trauma) oder Verlust von Elektrolyten, Plasma und/oder Wasser durch Durchfall, Erbrechen, starke Verdunstung bei Hitze oder Verbrennungen Symptomatik: allgemeine Schockzeichen, zusätzlich Mattigkeit, Teilnahmslosigkeit, Desorientiertheit, trockene Schleimhäute, stehende Hautfalten ToDo Basis: besonders wichtig: sichtbare Blutung(en) stillen, Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen, Schocklagerung (Kontraindikation: Verletzungen/Blutungen an Kopf, Bauch, Becken, Brust, Beinen = „5 B“), Wärmeerhalt (außer bei Hitzschlag) ToDo erweitert: Volumensubstitution mit VEL über großlumige venöse Zugänge (ggf. i.o.-Zugang), ggf. Katecholamine zur Kreislaufunterstützung

11.2.2 Kardialer Schock Definition Kardialer Schock Beim kardialen Schock führt eine verminderte Pumpleistung des Herzens zu einer Mangelversorgung des Körpers mit Sauerstoff. Dabei kann die Ursache eine Beeinträchtigung des Herzens sein (kardiogener Schock, z. B. bei Herzinfarkt) oder außerhalb des Herzens liegen (obstruktiver Schock, z. B. bei Spannungspneumothorax). Ursachen ● kardiogener Schock durch Störungen des Herzens, z. B. akutes Koronarsyndrom (S. 300), akute Herzinsuffizienz (S. 306), Herzrhythmusstörungen (S. 307) ● obstruktiver Schock: Störungen außerhalb des Herzens beeinträchtigen die Herzleistung, z. B. Perikardtamponade

289

11

Schock (S. 311), Lungenembolie (S. 303), Spannungspneumothorax (S. 387) Pathophysiologie • Die Auswurfleistung des Herzens und damit das Herzzeitvolumen ist reduziert. Dadurch wird der Körper nicht mehr ausreichend mit Blut und O2 versorgt. Leitsymptome • Hinweise auf einen kardiogenen Schock sind die allgemeinen Schockzeichen (S. 286). Gestaute Halsvenen (▶ Abb. 12.8) und/oder Beinödeme können ein Hinweis auf eine Einflussstauung vor dem Herzen sein, v. a. bei Rechtsherzinsuffizienz oder Lungenembolie. Betroffen sind vorwiegend ältere Menschen.

! Merke Herzfrequenz

Beim kardialen Schock kann die Herzfrequenz sowohl verlangsamt als auch beschleunigt sein. Bei den anderen Schockformen ist sie in der Regel erhöht. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 287) Lagerung bei kardialem Schock • Wenden Sie bei Patienten mit kardialem Schock auf keinen Fall die klassische Schocklagerung an! Die Hochlagerung der Beine mit Rückfluss von venösem Blut aus den Beinen zum Herzen belastet das bereits geschwächte Herz zusätzlich. Lagern Sie die Patienten stattdessen – soweit der Kreislauf dies zulässt – mit erhöhtem Oberkörper (Herzbettlagerung, ▶ Abb. 11.3). Zusätzlich können die Beine seitlich von der Liege herunterhängen oder leicht auf der Trage angewinkelt werden. Diese reduziert den venösen Rückstrom zum Herzen und entlastet das Herz: Die Vorlast des Herzens nimmt ab. Erweiterte Maßnahmen • Im Vordergrund steht die Suche nach der hier oft schwer erkennbaren Ursache, um umgehend die richtigen Maßnahmen einzuleiten (z. B. Ursache Herzinfarkt: sofortiger Transport ins Krankenhaus, dort Diagnose und Eröffnung verschlossener Herzkranzgefäße). Bei nicht erkennbarer Ursache ist die Therapie zunächst symptomatisch: Im Vordergrund steht das Aufrechterhalten der Vitalfunktionen, z. B. durch die i. v.-Gabe von Katecholaminen. Flüssigkeit (VEL, z. B. Ringer-Lactat®) wird nur vorsichtig gegeben, um das Herz nicht zusätzlich zu belasten. Wichtig sind v. a. die herzunterstützenden Medikamente.

RETTEN TO GO Kardialer Schock ●







290

Definition: Schock aufgrund einer verminderten Pumpleistung des Herzens Ursachen: akute Herzinsuffizienz, Herzinfarkt, Herzbeuteltamponade, Lungenembolie, Spannungspneumothorax, Herzrhythmusstörungen Symptomatik: Allgemeine Schockzeichen; Achtung: Im Anfangsstadium nicht nur Tachykardie, sondern auch Bradykardie möglich! Gestaute Halsvenen und Beinödeme weisen auf eine Einflussstauung vor dem Herzen hin. ToDo Basis: Besonders wichtig: O2-Gabe (8–15 l/min), Lagerung mit erhöhtem Oberkörper (Schocklagerung kontraindiziert)! Engmaschige Kontrolle der Vitalfunktionen (RR, HF, EKG, SpO2, AF), für Ruhe sorgen, Wärmeerhalt, Atmung erleichtern, evtl. beengende Kleidung des Patienten öffnen, in geschlossenen Räumen für Frischluftzufuhr sorgen.



ToDo erweitert: Therapie der Ursache (falls bekannt). Bei nicht am Notfallort erkennbarer Ursache: symptomatische Therapie, v. a. i. v.-Gabe von kreislaufwirksamen Medikamenten (z. B. Katecholaminen wie Dobutamin, z. B. Dobutrex®), vorsichtige Flüssigkeitsgabe, Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen.

11.2.3 Allergische Reaktion und anaphylaktischer Schock Definition Allergie und Anaphylaxie Eine allergische Reaktion (Allergie) ist eine fehlgeleitete Immunreaktion des Körpers, bei der nach Kontakt mit Fremdstoffen (Antigene bzw. Allergene) die Bildung von Antikörpern ausgelöst wird (Sensibilisierung). Bei einem erneuten Kontakt mit dem Allergen aktivieren die Antikörper innerhalb kurzer Zeit das Immunsystem, die Folge ist eine allergische Sofortreaktion. Ein anaphylaktischer Schock (Anaphylaxie) ist eine lebensbedrohliche Form einer allergischen Sofortreaktion, d. h., die Symptome entwickeln sich innerhalb kürzester Zeit nach dem Kontakt mit dem Allergen.

Grundlagen Bedeutung für den Rettungsdienst • In den Sommermonaten werden Sie besonders häufig mit der Notfallmeldung „allergische Reaktion“ nach Stichen von Insekten (v. a. Bienen, Wespen, Hornissen) konfrontiert. Meistens verlaufen diese Vorfälle harmlos und erfordern lediglich abschwellende und schmerzlindernde Maßnahmen. Vorsicht ist allerdings geboten, wenn eine Insektengift-Allergie besteht. Dann kann eine allergische Reaktion innerhalb kürzester Zeit zu einem anaphylaktischen Schock und damit zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen. Der anaphylaktische Schock ist eine häufige Schockform im Rettungsdienst. Ursachen • Auslöser sind unterschiedliche Allergene, v. a. Medikamente (z. B. Antibiotika, Kontrastmittel), Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln (z. B. Nüsse) und Insektengifte (z. B. nach Bienen- oder Wespenstich). Pathophysiologie und Symptomatik • Die allergische Reaktion führt zu einer massiven Ausschüttung verschiedener körpereigener Botenstoffe, v. a. von Histamin. Aus den daraus resultierenden Symptomen ergibt sich die Einteilung der Schweregrade (▶ Abb. 11.4): ● Weitstellung der Gefäße mit „Versacken“ des Blutes → relativer Volumenmangel (S. 282) → Verteilungsstörung des Blutvolumens = distributiver Schock mit O2-Mangel ● erhöhte Durchlässigkeit der Kapillaren → absoluter Volumenmangel, stärkere Einlagerung von Flüssigkeit im Gewebe, sichtbar durch Haut- und Schleimhautschwellungen ● Hautveränderungen: rote Flecken, gleichmäßige Rötung der gesamten Haut, Quaddeln (Urtikaria) ● Angioödem (Quincke-Ödem, ▶ Abb. 11.5): Schwellung der Haut und der Schleimhäute im Gesicht, im Mund-RachenRaum (mitunter akute Erstickungsgefahr!), an Armen und Beinen und/oder Genitalien ● Verengung der Bronchien mit Atemnot, Giemen, Brummen und exspiratorischem Stridor, ähnlich wie bei einem Asthmaanfall (S. 261)

Besonderheiten der einzelnen Schockformen Abb. 11.4 Anaphylaktische Reaktion.

1

leichte anaphylaktische Reaktion

• Unruhe • großflächige Rötungen an Hals, Gesicht und Oberkörper (Flush) • Urtikaria (Quaddeln, Nesselsucht) • geschwollene Schleimhäute • Juckreiz

2

ausgeprägte anaphylaktische Reaktion

zusätzlich: • Tachykardie (Hf > 100) • Blutdruckabfall und Atemnot • Übelkeit und Erbrechen

3

bedrohliche anaphylaktische Reaktion

zusätzlich: • asthmaartige Atembeschwerden (Bronchospasmus) • pfeifende Atemgeräusche • Bewusstseinseintrübung • Krampfanfälle

4

Organversagen

zusätzlich: • Atemstillstand • Herz-Kreislauf-Stillstand

Abb. 11.5 Angioödem.

Starke Schwellung der Lippen. Aus: Höger P, Hrsg. Kinderdermatologie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

Abb. 11.6 Intramuskuläre Injektion von Adrenalin.

Schweregrade einer anaphylaktischen Reaktion. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

! Merke Atemnot und warme Haut

Schwere Dyspnoe ist neben den allgemeinen Schockzeichen (S. 286) ein wichtiges Leitsymptom des anaphylaktischen Schocks. Im Unterschied zum Volumenmangelschock ist die Haut der Patienten (anfangs) warm und gerötet. Anamnese • Folgende Fragen sind besonders wichtig: Ist bei Ihnen eine Allergie bekannt? Haben Sie einen Allergiepass? ● Haben Sie Notfallmedikamente bei sich? Haben Sie diese bereits eingenommen? – Viele Patienten mit bekannter schwerer Allergie haben ein Notfall-Set (meist Antihistaminika, Glukokortikoide, Adrenalin-Autoinjektor) bei sich. Ist der Patient nicht mehr in der Lage, sich sein Notfallmedikament selbst zu verabreichen, können Sie dies als RS übernehmen. ● Wissen Sie, was die allergische Reaktion ausgelöst haben könnte? Wurden Sie z. B. von einem Insekt gestochen? Was haben Sie getan, bevor die Symptome begonnen haben? ●

Versorgung des Patienten

! Merke Allergieauslöser entfernen

Neben den Basismaßnahmen (S. 287) sollten Sie unbedingt den Auslöser der Allergie identifizieren und nach Möglichkeit entfernen (z. B. bei Allergie gegen Wespengift den Stachel entfernen). Basismaßnahmen (S. 287) Schocklagerung: nur bei fehlenden Kontraindikationen; ansonsten symptomorientierte Lagerung, bei Atemnot: sitzend bzw. Oberkörper hochlagern ● hochdosierte O2-Gabe (8–15 l/min)

Die i. m.-Gabe von Adrenalin ist die Therapie der Wahl im anaphylaktischen Schock. Injiziert wird an der Außenseite des Oberschenkels rechtwinkelig zur Hautoberfläche. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Erweiterte Maßnahmen • Bei schwerer Atemnot steht zunächst die Atemwegssicherung im Vordergrund. Die notärztliche Therapie (S. 136) orientiert sich am Schweregrad der Anaphylaxie: ● Schweregrad 1: 500–1000 ml VEL, Antihistaminikum, z. B. Dimetinden (z. B. Fenistil®), Glukokortikoid, z. B. Prednisolon (Solu Decortin®) i. v. ● ab Schweregrad 2: Als erste Maßnahme wird 0,5 mg Adrenalin i. m. injiziert (0,5 ml Adrenalin 1:1000, bei Erwachsenen, ▶ Tab. 4.15, ▶ Abb. 11.6), in den mittleren Bereich der Oberschenkelaußenseite (M. vastus lateralis). Wichtig ist vorher eine gründliche Desinfektion und Aspiration, um eine Fehlpunktion in einem Gefäß auszuschließen.



Bei angeschwollenen Schleimhäuten im Mund- und Rachenbereich kann die Verneblung von Adrenalin über eine Aerosolmaske (S. 218) sinnvoll sein.

291

11

Schock Abb. 11.7 Septischer Schock.

RETTEN TO GO Anaphylaktischer Schock ●











Definition: lebensbedrohliche Form einer allergischen Sofortreaktion Ursachen bzw. Allergieauslöser: häufig Nahrungs- oder Arzneimittel, Insektengifte (Bienen- oder Wespenstich) Pathophysiologie: Aktivierung des Immunsystems mit Histaminausschüttung → erhöhte Durchlässigkeit der Gefäße mit absolutem Volumenmangel, Erweiterung der Gefäße mit relativem Volumenmangel, Verengung der Bronchien mit Atemnot Symptomatik: allgemeine Schockzeichen und (schwere) Atemnot sowie weitere Symptome einer allergischen Reaktion (generalisierte Rötung, rote Flecken, Quaddeln, geschwollene Haut und Schleimhäute, Juckreiz), Übelkeit, Erbrechen ToDo Basis: Vitalfunktionen aufrechterhalten; besonders wichtig: Allergieauslöser entfernen, Fragen: Allergie bekannt? Notfall-Set und Allergie-Pass vorhanden? Symptomorientierte Lagerung (bei Atemnot Oberkörper hochlagern bzw. Patienten sitzend lagern), Schocklagerung möglich (wenn keine Kontraindikation besteht), hochdosierte O2-Gabe (8–15 l/min) ToDo erweitert: VEL, Antihistaminika und Glukokortikoide i. v., ab Schweregrad 2 als erste Maßnahme Adrenalin (0,5 mg i. m.) in die Außenseite des Oberschenkels

3. überschießende Produktion von zytotoxischen Substanzen → Kapillarendothel wird geschädigt → Ödeme bilden sich im Interstitium → Sauerstoffversorgung des Gewebes ist beeinträchtigt → Blutgerinnung wird aktiviert → Fibrinolyse ist gehemmt

O2

Eine Sepsis ist eine lebensbedrohliche Organdysfunktion aufgrund einer fehlgeleiteten Immunreaktion auf eine Infektion. Beim septischen Schock sind die Störungen der Organfunktionen und die Kreislaufreaktion so schwer, dass der Kreislauf nur durch Katecholamine (z. B. Adrenalin) stabilisiert werden kann und Laktat im Blut (Indikator für eine ausgeprägte O2-Minderversorgung des Gewebes) trotz ausreichender Flüssigkeitszufuhr auf > 2 mmol/l ansteigt. Ursachen • Am häufigsten wird eine Sepsis durch Bakterien (bzw. deren Giftstoffe) ausgelöst, seltener durch Pilze oder Viren. Die häufigsten Infektionen, die einen septischen Schock nach sich ziehen können, sind Lungenentzündungen (S. 267) und Harnwegsinfektionen, aber auch Bauchfellentzündungen (Peritonitis) oder Infektionen, die von einer Katheterpunktionsstelle ausgehen (z. B. nach Anlage eines Zentralvenenkatheters). Ein erhöhtes Risiko besteht auch im Wochenbett (S. 490). Risikofaktoren • Besonders gefährdet sind Patienten mit eingeschränkter Immunantwort (z. B. alte Menschen, Neu- und Frühgeborene, Menschen mit Diabetes mellitus, chronischer Herz- oder Niereninsuffizienz, Krebserkrankungen oder Suchterkrankungen). Auch eine immunsuppressive Therapie (z. B. Einnahme von Glukokortikoiden), große Operationen und großflächige Verbrennungen erhöhen das Risiko. Pathophysiologie • Die Toxine, die von den Krankheitserregern ausgeschüttet werden, führen zu einer ausgeprägten Entzündungsreaktion mit Weitstellung der Gefäße (Vasodilatation) mit relativem Volumenmangel (▶ Abb. 11.7). Gleichzeitig nimmt die Durchlässigkeit der kleinsten Blutge-

292

O2 NO NO

11.2.4 Sepsis und septischer Schock Definition Sepsis

2. Erreger oder Erregerprodukt (Toxin) tritt in die Blutbahn über

1. Infektionsherd

4. Thromben bilden sich in den Kapillaren, disseminierte Gerinnung

5. Durchblutungsstörungen verstärken den Sauerstoffmangel im Gewebe

7. Minderversorgung der Organe mit Sauerstoff → Organschädigungen → Kreislaufversagen → septischer Schock

6. Blutdruck sinkt durch eine Abnahme des Gefäßwiderstands

Verlauf einer Sepsis und Entstehung eines septischen Schocks. Aus: I care PflegeExamen KOMPAKT. Stuttgart: Thieme; 2018

fäße zu (erhöhte Kapillarpermeabilität), sodass Flüssigkeit in das Gewebe austritt (→ absoluter Volumenmangel). Leitsymptome • Im Anfangsstadium sind die Herzfrequenz und das Herzzeitvolumen als Folge der Entzündungsreaktion erhöht, die Haut ist daher warm und gerötet („warmer Schock“). Im Verlauf sinkt das HZV allmählich ab, so dass die Haut auch bei diesen Patienten letztlich kalt und blass wird (Dekompensationsphase). Zusätzlich bestehen die allgemeinen Schockzeichen (S. 286) und meist hohes Fieber. qSOFA-Score • Eine Sepsis gilt im Rettungsdienst als wahrscheinlich, wenn ≥ 2 der folgenden Kriterien erfüllt sind (▶ Abb. 11.8): ● Atemfrequenz ≥ 22/min ● systolischer Blutdruck ≤ 100 mmHg ● Bewusstseinsstörung (GCS < 15 Punkte) bzw. veränderter mentaler Status Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 287) Wärmeerhalt sicherstellen oder ggf. Fieber senken



Erweiterte Maßnahmen • Bei Bradykardie bzw. Hypotonie werden Katecholamine (wie Noradrenalin, z. B. Arterenol®) und VEL (z. B. Ringer-Lactat®) verabreicht. Zusätzlich kann auch schon präklinisch eine i. v.-Antibiotikatherapie eingeleitet werden (falls Antibiotikum im NEF vorrätig, bei länger

Besonderheiten bei Kindern Abb. 11.8 qSOFA-Score.

AF ≥ 22/min

RRsyst ≤ 100 mmHg

GCS < 15 Punkte

≥ 2 Kriterien erfüllt Sepsisverdacht! Der qSOFA-Score (quick Sepsis-associated Organ Failure Assessment Score) wird präklinisch zum Erkennen einer Sepsis eingesetzt. Von einer Sepsis mit schlechterem Outcome ist auszugehen, wenn ≥ 2 der Kriterien erfüllt sind. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

dauerndem Transportweg ins Krankenhaus und eindeutiger Diagnose, Beispiel: Meningokokkensepsis).

RETTEN TO GO

Leitsymptome • Zusätzlich zu den allgemeinen Schockzeichen (S. 286) bestehen neurologische Ausfälle wie Lähmungserscheinungen und/oder Gefühllosigkeit, ein unkontrollierter Stuhl- und Urinabgang, ein Trauma in der Anamnese (z. B. Sturz, Verkehrsunfall) oder z. B. zusätzlich Nackensteifigkeit (bei Meningitis) oder eine Bewusstseinstrübung (bei Enzephalitis). Die Haut ist im betroffenen Abschnitt, z. B. unterhalb des verletzten Rückenmarksegments, durch die Weitstellung der Gefäße eher trocken und warm – und nicht kaltschweißig wie bei den anderen Schockformen.

ACHTUNG Beim neurogenen Schock kann die Herzfrequenz in der Anfangsphase erniedrigt oder normal sein, da der kompensierende Einfluss des sympathischen Nervensystems fehlt! Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 287) symptomorientierte Lagerung: Sofern die Patienten vollständig immobilisiert sind (S. 233) – mit Zervikalstütze und Vakuummatratze oder Spineboard –, kann eine Schocklagerung als Trendelenburg-Lagerung (▶ Abb. 11.2) durchgeführt werden (außer bei Kontraindikationen wie Schädel-Hirn-Trauma, Gehirnblutung).



Erweiterte Maßnahmen • Die Gabe von Katecholaminen wie Adrenalin (z. B. Suprarenin®) ist besonders wichtig, da die Volumengabe mit VEL sonst großteils wirkungslos bleibt.

Septischer Schock ●









Definition: Schock infolge einer fehlgeleiteten Immunreaktion auf eine Infektion Ursache: Giftstoffe der Erreger lösen eine allgemeine Entzündungsreaktion mit Weitstellung der Gefäße (Vasodilatation) aus; besonders gefährdet: Patienten mit Immunschwäche! Symptomatik: allgemeine Schockzeichen, anfangs warme und gerötete Haut, zusätzlich hohes Fieber ToDo Basis: Basismaßnahmen und Schocklagerung (falls keine Kontraindikation) ToDo erweitert: Katecholamine i. v., VEL, evtl. Antibiotika bereits präklinisch i. v.

11.2.5 Neurogener Schock Definition Neurogener Schock Bei einem neurogenen Schock besteht eine Erkrankung oder Verletzung des zentralen Nervensystems, die dazu führt, dass die Blutgefäße nicht mehr enggestellt werden können. Die Folge ist eine Fehlverteilung des Blutvolumens und damit ein O2-Mangel (distributiver Schock). Ist der Schock die Folge einer Schädigung des Rückenmarks, spricht man von einem spinalen Schock. Ursachen • Die Ursache ist eine Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS), z. B. durch eine Hirnhautentzündung (S. 432), ein Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) oder eine Rückenmarkverletzung bei einem Wirbelsäulentrauma (S. 384). Pathophysiologie • Die Schädigung des ZNS führt zu einer Störung des Sympathikus. In der Folge erhält die glatte Muskulatur der Gefäßwand keine Signale mehr und die Gefäße können sich nicht mehr verengen. Es resultiert eine Beeinträchtigung der Kreislaufregulation mit Weitstellung der Gefäße (Vasodilatation) und relativem Volumenmangel.

RETTEN TO GO Neurogener Schock ●









Definition: Schock aufgrund einer Erkrankung oder Verletzung des ZNS; bei Rückenmarksverletzung (Wirbelsäulentrauma) = spinaler Schock Ursachen: Eine Schädigung des Nervensystems (z. B. durch Schädel-Hirn-Trauma oder Hirnhautentzündung) führt zu einer Störung der sympathischen Innervation der Blutgefäßwand und damit zu einer Gefäßweitstellung (Vasodilatation). Symptomatik: allgemeine Schockzeichen, warme, trockene Haut; Vorsicht: Es sind sowohl Bradykardie als auch Tachykardie möglich. ToDo Basis: Basismaßnahmen und symptomorientierte Lagerung! Schocklagerung möglich (falls keine Kontraindikation) ToDo erweitert: Volumensubstitution mit VEL, Gabe von Katecholaminen

11.3 Besonderheiten bei Kindern Schockformen bei Kindern • Grundsätzlich können alle genannten Schockformen auch bei Kindern vorkommen. Häufige Schockformen bei Kindern im Rettungsdienst sind: ● anaphylaktischer Schock ● hypovolämischer Schock durch: – unzureichend kompensierte Flüssigkeitsverluste bei Erbrechen, Durchfall, hoher Umgebungstemperatur, Fieber – Blutverluste bei Verletzungen – Plasmaverluste bei Verbrennungen

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11

Schock Der kardiale Schock ist bei Kindern selten, weil angeborene Herzerkrankungen meist frühzeitig erkannt und behandelt werden und chronische Herzerkrankungen bei Kindern selten vorkommen.

laufversagen ab. Dadurch gestaltet sich die Therapie bei Säuglingen und Kindern besonders schwierig.

RETTEN TO GO

ACHTUNG Da bei Kindern der Körperwassergehalt höher ist als bei Erwachsenen, kann ein Missverhältnis von Flüssigkeitsaufnahme und -verlust schnell schwerwiegende Folgen haben. Das gesamte Blutvolumen eines Säuglings (70–90 ml/kg KG) entspricht etwa dem Inhalt einer Blutkonserve. Deshalb wird der Blutverlust bei Kindern, z. B. nach einem Trauma, häufig unterschätzt, weil nicht viel Blut zu sehen ist, obwohl bereits ein lebensbedrohlicher Blutverlust vorliegt. Blutdruckverhalten bei Kindern • Während der Blutdruck bei Erwachsenen bei einem Blutverlust eher kontinuierlich abfällt, bleibt er bei Kindern länger stabil (längere Kompensation). Sind die Kompensationsmöglichkeiten dann aber erschöpft, fällt der Blutdruck sehr schnell bis hin zum Kreis-

Besonderheiten bei Kindern Prinzipiell sind alle Schockformen möglich, der hypovolämische Schock ist am häufigsten. Im Rettungsdienst birgt der Schock bei Kindern – im Vergleich zu Erwachsenen – folgende zusätzliche Gefahren: ● Eine Dehydratation wird schnell lebensgefährlich. ● Ein äußerlich gering erscheinender Blutverlust kann bereits lebensbedrohlich sein. ● Der Blutdruck von Kindern bleibt länger stabil als bei Erwachsenen, fällt aber dann schnell ab und es droht sehr schnell ein komplettes Kreislaufversagen.

Fallbeispiel Fortsetzung – Wespenschwarm attackiert Schulklasse Der Rettungssanitäter (RS) verabreicht Frau Fischer zunächst O2 über eine Inhalationsmaske (15 l/min). Während er die O2-Maske anlegt, trifft der Notarzt (NA) ein. Der RS schildert dem NA kurz die Situation. Nun konzentriert sich der NA zunächst auf Frau Fischer, da bei ihr, im Gegensatz zu den Kindern, die gestochen wurden, aufgrund der schweren allergischen Reaktion evtl. ein lebensbedrohlicher Zustand vorliegt. orientierende Untersuchung nach dem (c)ABCDE-Schema: ● A: geringfügige Atemwegsverlegung (Giemen beidseits) ● B: SpO2 86 %, Atemfrequenz 25–30/min, Lippenzyanose; die Patientin gibt an, sie bekomme nicht genügend Luft. ● C: Tachykardie mit 130/min; Blutdruck: 90/60 mmHg; keine Stauungszeichen; Haut kalt, blass und schweißig ● D: Die Patientin ist in allen Qualitäten orientiert, GCS 15 Punkte; Pupillen: beidseits gleich groß, rund und mittelweit, prompte seitengleiche Lichtreaktion; Blutzucker: 126 mg/dl ● E: Anamnese: Wespenallergie, keine Vorerkrankungen, keine Dauermedikation. Frau Fischer berichtet, dass sie bereits einmal von einer Wespe gestochen worden sei und eine leichte allergische Reaktion gehabt habe, woraufhin ihr ein Notfallmedikament verschrieben worden sei. Das habe sie jetzt aber nicht dabei. Der Wespenstich war vor ca. 20 min. Die letzte Nahrungsaufnahme erfolgte am Nachmittag. Die Arbeitsdiagnose des NA lautet „anaphylaktischer Schock“. Die Atemnot von Frau Fischer hat sich durch die Verabreichung von Sauerstoff gebessert. Das Rettungsteam hebt die Patientin auf die Rettungsliege und lagert sie aufgrund der Atemnot mit erhöhtem

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Oberkörper. Der RS zieht für den NA 0,5 mg Adrenalin (0,5 ml Adrenalin 1:1000) auf, der NA injiziert das Adrenalin i. m. in den Oberschenkel der Patientin. Anschließend legt er einen venösen Zugang und verabreicht schnell eine VEL. Zudem fordert er den RS auf, eine Ampulle Prednisolon und ein Antihistaminikum in geeigneten Spritzen aufzuziehen. Nach Verabreichung der Medikamente durch den NA stabilisiert sich der Kreislauf der Patientin schon nach wenigen Minuten. Der NA bittet den RS, bei der Patientin zu bleiben und die Vitalwerte engmaschig zu kontrollieren, er selbst untersucht nun die anderen Patienten. Nach und nach treffen die restlichen 5 Rettungswagen ein. Die Vitalwerte der Lehrerin bleiben stabil. Ein RSKollege weist die eintreffenden Rettungsteams ein und teilt ihnen jeweils einen Patienten zu. Die Leitstelle bekommt die Rückmeldung, dass keine weiteren Rettungsteams nötig sind und die Patienten bald ins Krankenhaus transportiert werden können. Die Lehrerin wird allein in einem RTW in Begleitung des NA transportiert. Die anderen Rettungswagen sind mit jeweils 2 Kindern belegt. Während der Fahrt gibt der NA eine detaillierte Vorinformation über die Zahl der in Kürze eintreffenden Patienten und den Schweregrad ihrer Symptomatik an das Krankenhauspersonal weiter. In der Erstaufnahme des Krankenhauses stehen bereits genügend Mitarbeitende bereit, um die Patienten zu übernehmen. Alle Kinder können noch am selben Tag das Krankenhaus verlassen und werden von ihren Eltern abgeholt. Frau Fischer bleibt eine Nacht stationär zur Überwachung und wird am nächsten Tag ebenfalls nach Hause entlassen.

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

Abb. 12.1 Beinödeme.

12.1 Grundlagen Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die häufigste Todesursache im globalen Norden. Im Rettungsdienst spielen sie täglich eine Rolle, v. a. das akute Koronarsyndrom (S. 300).

12.1.1 Leitsymptome Allgemeines Wichtige Leitsymptome von Herz-Kreislauf-Störungen sind: ● akute Thoraxschmerzen, s. u. ● Dyspnoe (S. 256) und Zyanose (S. 258) als Zeichen akuter Lebensgefahr, z. B. bei akuter Herzinsuffizienz oder Lungenembolie ● Halsvenenstauung (▶ Abb. 12.8), z. B. bei akuter Herzinsuffizienz ● „Herzstolpern“ bzw. Herzrhythmusstörungen (S. 307) bei akuten oder chronischen Herzerkrankungen (z. B. ischämische Schädigungen) oder z. B. bei Intoxikationen oder Elektrolytstörungen ● Herzrasen (Tachykardie), z. B. bei Herzinfarkt oder beginnendem Schock (S. 282) ● Synkope (S. 419): kurze Ohnmachtsanfälle, oft mit harmloser (z. B. langes Stehen, große Hitze, orthostatische Dysregulation), aber mitunter auch schwerwiegender Ursache, z. B. Herzrhythmusstörungen, beginnender Schock ● Wassereinlagerungen (Ödeme, ▶ Abb. 12.1), z. B. in den Beinen bei Herzinsuffizienz oder venöser Thrombose

a

b

Ödeme sind Wassereinlagerungen in das Gewebe. Am häufigsten sind die Unterschenkel betroffen. a Ödeme, die von einer Herzerkrankung herrühren, lassen sich gut eindrücken. b Die Delle, die beim Eindrücken eines Ödems entsteht, bleibt typischerweise auch nach dem Drücken kurz sichtbar. Aus: Arastéh K, Baenkler H, Bieber C, Brandt R, Chatterjee T, Dill T, Ditting T, Duckert M, Eich W et al., Hrsg. Duale Reihe Innere Medizin. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

Akute Thoraxschmerzen Symptomkonstellation • Plötzlich aufgetretene Brustschmerzen sind ein häufiger Grund für die Alarmierung des Rettungsdienstes. Begleitend bestehen häufig Atemnot und Todesangst. Die Schmerzen können durch Atembewegungen zunehmen (atemabhängige Schmerzen) oder unabhängig von der Atmung bestehen. Eine Ausstrahlung der Schmerzen (z. B. in den Unterkiefer, Arm/Schulter) ist nicht selten. Ursachen • Akute Thoraxschmerzen sind häufig Ausdruck einer akut lebensbedrohlichen Situation durch eine Gewebs-

296

Leitsymptome Anamnese Grundlagen

▶S. 296

▶S. 298

Untersuchung

▶S. 299

Basismaßnahmen

▶S. 299

Akutes Koronarsyndrom (ACS) Lungenembolie

▶S. 303

Herzinsuffizienz

▶S. 306

Herzrhythmusstörungen Notfälle und Erkrankungen

Hypertensive Entgleisung Perikardtamponade

▶S. 300

▶S. 307 ▶S. 310

▶S. 311

Akutes Aortensyndrom

▶S. 312

Akuter peripherer arterieller Verschluss Tiefe Venenthrombose Besonderheiten bei Kindern

▶S. 312

▶S. 314

▶S. 315

Abb. 12.2 Häufige Ursachen von Thoraxschmerzen.

intrathorakal atemabhängig ! Lungenembolie • Pleuritis • Pneumothorax • Perikarditis • Tracheitis • Erkrankungen des Bewegungsapparats (z. B. Interkostalneuralgie) • Rippenverletzungen

extrathorakal atemunabhängig ! akutes Koronarsyndrom ! Spannungspneumothorax ! Perikardtamponade ! akutes Aortensyndrom ! Ösophagusruptur • Angina pectoris Thoraxschmerz

Eine Atemabhängigkeit der Schmerzen schließt ein akutes Koronarsyndrom nicht aus!

• Refluxkrankheit • Gallenkolik • akute Pankreatitis • Gastritis, Ulkuskrankheit • Erkrankungen des Bewegungsapparats (z. B. Bandscheibenschäden) • psychische Ursachen (z. B. Panikattacke)

!

akut lebensbedrohlich

Rot markiert sind akut lebensbedrohliche Ursachen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023 schädigung oder eine O2-Unterversorgung des Myokards. Sie müssen daher sofort abgeklärt werden! Folgende Notfalldiagnosen sind bei Patienten mit akuten Thoraxschmerzen unbedingt zu bedenken (▶ Abb. 12.2): ● akutes Koronarsyndrom (S. 300), Angina pectoris: häufig Todesangst, Schmerzausstrahlung in den linken Arm und den Unterkiefer ● hypertensiver Notfall (S. 310): hoher Blutdruck, häufig Kopfschmerzen, Schwindel, Kaltschweißigkeit ● akutes Aortensyndrom (S. 312): oft reißender, wandernder Schmerz ● Lungenembolie (S. 303): anamnestisch häufig tiefe Venenthrombose, vorangegangene OP und/oder Bettlägerigkeit, evtl. Bluthusten





Pneumothorax (S. 387): atemabhängiger, einseitiger Schmerz; bei Spannungspneumothorax gestaute Halsvenen, sehr schnell zunehmende Dyspnoe und Zyanose, Kreislaufinstabilität Thoraxtrauma (S. 386)

Weitere, in der Regel nicht (unmittelbar) lebensbedrohliche Ursachen für akute Thoraxschmerzen sind Entzündungen der Pleura, der Trachea oder des Herzbeutels (Pleuritis, Tracheitis oder Perikarditis), Erkrankungen des Bewegungsapparats (z. B. Interkostalneuralgie) oder eine Refluxkrankheit (S. 343) mit Rückfluss von Magensäure in die Speiseröhre. Auch Erkrankungen des Bauchraums können (zusätzlich) Thoraxschmerzen auslösen, z. B. eine akute Pankreatitis (S. 345), eine Gallenkolik (S. 348), eine Gastritis oder eine Ul297

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

Tab. 12.1 Wichtige Fragen, Befunde und Verdachtsdiagnosen bei akuten Thoraxschmerzen (ACS = akutes Koronarsyndrom). anamnestische Fragen

Befunde

Verdachtsdiagnosen

Wann haben die Schmerzen begonnen?

bei körperlicher Belastung, psychischem Stress

Angina pectoris

in Ruhe

ACS

nach dem ersten Aufstehen nach längerem Liegen

Lungenembolie

Wie haben sich die Schmerzen entwickelt?

Zunahme über Minuten

ACS

sofort maximale Stärke

Lungenembolie, Aortendissektion

Wie fühlen sich die Schmerzen an?

Engegefühl, brennend

Angina pectoris

Vernichtungsschmerz

Aortendissektion, ACS

reißend

Aortendissektion

atemabhängige Schmerzen

Lungenembolie, Pleuritis, Tracheitis, Rippenfraktur, Interkostalneuralgie

atemunabhängige Schmerzen

ACS, Angina pectoris

retrosternaler Schmerz mit Ausstrahlung in den (linken) Oberarm, Schulter, Rücken

ACS (v. a. Männer)

retrosternaler Schmerz mit Ausstrahlung in den Nacken-, Hals-, Kieferbereich, auch Rücken und Bauch möglich

ACS (v. a. Frauen)

Ausstrahlung in Nacken oder Rücken

akutes Aortensyndrom

Atemnot, Husten, Tachypnoe, Tachykardie, Zyanose

Lungenembolie

Atemnot, Übelkeit, Schwindel, Blässe, Schweißausbruch

ACS

Nehmen die Schmerzen beim Atmen zu?

Strahlen die Schmerzen aus?

Bestehen weitere Symptome?

kuskrankheit (S. 343). Thoraxschmerzen können auch rein psychisch bedingt sein, v. a. bei Panikattacken (S. 443).

! Merke Lebensbedrohliche Situation?

Die wichtigste Frage bei Patienten mit Thoraxschmerzen lautet: Besteht akute Lebensgefahr? Wichtige anamnestische Fragen • Die Anamnese hat wegen der zahlreichen möglichen Ursachen von Thoraxschmerzen eine große Bedeutung. Sinnvoll ist ein Vorgehen nach dem OPQRST-Schema (S. 195). ▶ Tab. 12.1 zeigt typische Befunde und Verdachtsdiagnosen. Berücksichtigen Sie, dass die Schmerzwahrnehmung und Schmerzintensität immer subjektiv sind. Ängste verstärken häufig das Schmerzempfinden, weshalb es wichtig ist, die Patienten zu beruhigen.

ACHTUNG Die Atemabhängigkeit der Thoraxschmerzen kann allenfalls einen Hinweis geben, ein Umkehrschluss („Die Schmerzen sind atemunabhängig, dann kann es keine Lungenembolie sein …“) ist unzulässig! EKG • Bei allen Patienten mit akuten Thoraxschmerzen muss zur Abklärung eines akuten Koronarsyndroms ein 12-KanalEKG geschrieben werden. Aber: Auch bei einem unauffälligen EKG ist ein Myokardinfarkt nicht ausgeschlossen!

RETTEN TO GO Leitsymptome bei Herz-Kreislauf-Notfällen ●





● ●





akute Thoraxschmerzen: häufig Hinweis auf eine lebensbedrohliche Notfallsituation, z. B. akutes Koronarsyndrom, akutes Aortensyndrom oder Lungenembolie; sofortige Klärung notwendig (12-Kanal-EKG)! Dyspnoe und Zyanose als Zeichen akuter Lebensgefahr, z. B. bei akuter Herzinsuffizienz oder Lungenembolie „Herzstolpern“ bzw. Herzrhythmusstörungen als Zeichen einer Herzerkrankung oder einer sonstigen Störung, z. B. Intoxikation oder Elektrolytstörung gestaute Halsvenen, z. B. bei akuter Herzinsuffizienz Herzrasen (Tachykardie), z. B. bei Herzinfarkt oder beginnendem Schock Synkope (= kurzer Ohnmachtsanfall), oft harmlos (z. B. langes Stehen, große Hitze), evtl. Hinweis auf Herzrhythmusstörungen oder andere Grunderkrankungen Ödeme (Wassereinlagerungen), z. B. in den Beinen bei Herzinsuffizienz oder venöser Thrombose

12.1.2 Anamnese Für die Entscheidung, ob es sich um einen Notfall handelt oder um eine chronische, schon länger bestehende Erkrankung (die trotzdem plötzlich zum Notfall werden kann!), können Sie sich am SAMPLER-Schema (S. 193) sowie am OPQRST-Schema (S. 195) orientieren. Wichtige Fragen: ● Wann haben die Beschwerden begonnen? Auch wenn der Patient angibt, dass die Beschwerden schon vor langer Zeit begonnen haben, z. B. chronische Schmerzen hinter dem

298

Grundlagen









Brustbein im Sinne einer Angina pectoris (S. 300), ist Vorsicht geboten, da auch solche Beschwerden schnell akut und lebensbedrohlich werden und z. B. in einen Herzinfarkt münden können. Fragen Sie daher immer, ob sich die Schmerzen akut verändert haben (z. B. stärker oder anderer Charakter). Hatten Sie diese Beschwerden schon einmal? Ist z. B. eine Angina-pectoris-Problematik bekannt? Haben Sie Vorerkrankungen, z. B. Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit? Nehmen Sie Medikamente ein? Aus der Medikation können Sie häufig auf die Grunderkrankung schließen, die für die akuten Beschwerden mitverantwortlich sein kann, z. B. β-Blocker als Hinweis auf einen Bluthochdruck. Was hat die aktuelle Störung ausgelöst? Wodurch nehmen die Beschwerden zu oder ab? Haben z. B. die Thoraxschmerzen unter Belastung oder in Ruhe begonnen? Nehmen die Schmerzen durch Atembewegungen zu? Geht es Ihnen im Sitzen oder im Liegen besser?

12.1.3 Untersuchung Gehen Sie prinzipiell (wie bei allen Notfällen) nach dem (c) ABCDE-Schema (S. 183) vor, mit Betonung des C (Circulation). Folgende Untersuchungen helfen bei der Suche nach der möglichen Ursache der Symptome: ● Inspektion: – Gibt es Stauungszeichen (▶ Abb. 12.8) oder Ödeme (▶ Abb. 12.1) als Zeichen z. B. einer Herzinsuffizienz? – Farbe, Beschaffenheit, Temperatur der Haut: allgemein grau marmorierte, kaltschweißige Haut als Hinweis auf ein Schockgeschehen, deutliche Temperaturabweichungen bei peripheren Durchblutungsstörungen ● Auskultation: – Herzfrequenz und -rhythmus: Ist der Herzschlag zu schnell (Tachykardie), zu langsam (Bradykardie) oder unregelmäßig (Rhythmusstörung)? – Rasselgeräusche über der Lunge und Husten als Hinweis auf eine Linksherzinsuffizienz – andere Atemnebengeräusche (▶ Tab. 10.2) eher bei respiratorischen Problemen ● Palpation: Puls tasten (S. 188), Nagelbettprobe, Ödeme? Apparative Untersuchungen: ● Puls, RR, SpO2 und HF: RR ↓ + HF ↑ oder CRT > 2 s → Verdachtsdiagnose: beginnender Schock (S. 286) ● EKG, bei allen Herz-Kreislauf-Notfällen möglichst als 12Kanal-EKG: sinnvoll v. a. zur Abklärung eines akuten Koronarsyndroms und für die Herzfrequenzanalyse ● bei bewusstlosen Patienten: Blutzuckermessung (Hypoglykämie als Ursache der Bewusstlosigkeit?)

RETTEN TO GO Anamnese und Untersuchung bei Herz-Kreislauf-Notfällen ●

Anamnese: SAMPLER-Schema und OPQRST-Schema, wichtige Fragen an den Patienten: – Wann haben die Beschwerden begonnen? – Hatten Sie diese Beschwerden schon einmal? Sind Vorerkrankungen bekannt? Nehmen Sie Medikamente ein? – Was hat die aktuelle Situation ausgelöst? Wodurch nehmen die Beschwerden zu oder ab?



Untersuchung nach dem (c)ABCDE-Schema mit Betonung des C (Circulation): Inspektion (z. B. Stauungszeichen, Ödeme, Farbe, Beschaffenheit und Temperatur der Haut), Auskultation (Herzfrequenz und -rhythmus, Rasselgeräusche) und Palpation (Puls, Ödeme, Nagelbettprobe), Messung von Puls, RR, SpO2, HF und Blutzucker, 12-Kanal-EKG

12.1.4 Basismaßnahmen Lagerung • Die Patienten werden entsprechend der Symptomatik bzw. nach ihrem persönlichen Wunsch gelagert: ● bei Kollaps (Synkope, orthostatische Dysregulation): klassische Schocklagerung (S. 288) ● bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage (S. 248) ● bei akutem Koronarsyndrom, Lungenembolie, Bluthochdruck, Lungenödem und Herzinsuffizienz – sofern der Kreislauf stabil ist: Herzbettlagerung mit erhöhtem Oberkörper (S. 289) ● bei RRsyst < 80 mmHg: nach Möglichkeit Flachlagerung Weitere Maßnahmen Vorbereiten von i. v.-Zugang und (je nach Indikation) VEL – bei Schockzeichen: Anlage von i. v.-Zugang für evtl. nötige, großzügige Volumengabe; Reanimationsbereitschaft (Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten) ● Beruhigen Sie den Patienten durch Zuspruch – häufig haben die Betroffenen Todesangst. ● Lassen Sie den Patienten nicht aufstehen: So vermeiden Sie, dass sich der Zustand durch das Aufstehen und die damit verbundene Umverteilung des Blutes im Körper verschlechtert. ● Lassen Sie den Patienten niemals allein! ● Öffnen Sie ggf. beengende Kleidungsstücke und sorgen Sie in geschlossenen Räumen für Frischluftzufuhr. ● Achten Sie auf den Wärmeerhalt (S. 249). ●

! Merke Schnelles Handeln

Ihre wichtigste Aufgabe bei Herz-Kreislauf-Notfällen ist es, diese als solche zu erkennen, da unter Umständen Lebensgefahr besteht! Haben Sie den Eindruck einer vitalen Gefährdung, z. B. bei Schocksymptomen (S. 286), fordern Sie umgehend notärztliche Unterstützung an! Je nach Anfahrtszeit kann es sinnvoll sein, dem NEF entgegenzufahren, sobald die Basismaßnahmen abgeschlossen sind. Dies spart für den Patienten überlebenswichtige Zeit. Sauerstoffgabe • Nicht alle Patienten mit Herz-Kreislauf-Notfällen erhalten O2 (auch nicht bei akutem Koronarsyndrom), sondern nur bei entsprechender Indikation. Diese ist bei folgenden Symptomen gegeben: ● Atemnot ● Zyanose als Zeichen einer Hypoxie ● Bewusstlosigkeit ● Herzinsuffizienzzeichen, z. B. Dyspnoe, gestaute Halsvenen ● kardialer Schock, Rhythmusstörungen ● SpO2 < 92 % (Ziel-Wert: 92–96 %) Die Dosierung orientiert sich an der SpO2: ● SpO2 < 90 %: 10–15 l O2 pro Minute über Maske (mit Reservoir und Nichtrückatemventil), bis zu einer SpO2 > 90 % ● SpO2 > 90 %: 2–4 l O2 pro Minute über Brille

299

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

Grundlagen RETTEN TO GO Basismaßnahmen bei Herz-Kreislauf-Notfällen ●





Lagerung: symptomorientiert bzw. nach Patientenwunsch, z. B. Schocklagerung bei Kollaps, stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit, Herzbettlagerung bei akutem Koronarsyndrom, Lungenembolie oder Herzinsuffizienz weitere Maßnahmen: i. v.-Zugang und VEL vorbereiten, Wärmeerhalt sicherstellen, Patienten beruhigen, nicht allein lassen, nicht aufstehen lassen; beengende Kleidungsstücke öffnen, in geschlossenen Räumen für Frischluftzufuhr sorgen; bei Schockzeichen Reanimationsbereitschaft herstellen (Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten), NA anfordern O2-Gabe nur bei SpO2 < 92 % und/oder bestimmten Symptomen (z. B. Dyspnoe, Zyanose, Bewusstlosigkeit, Kreislaufinstabilität)

12.2 Notfälle und Erkrankungen 12.2.1 Akutes Koronarsyndrom (ACS) Fallbeispiel Einsatzstichwort „Akutes Koronarsyndrom“*

Definition Koronare Herzkrankheit (KHK) und akutes Koronarsyndrom (ACS) Die KHK ist die Folge einer Arteriosklerose der Koronararterien, die zu einer chronischen und/oder akuten Unterversorgung der Herzmuskulatur mit Sauerstoff geführt hat. Folgende Manifestationen werden unterschieden (▶ Abb. 12.3): ● stabile Angina pectoris (AP, chronisches Koronarsyndrom): Beschwerden nur unter Belastung (erhöhter O2-Bedarf des Herzmuskels), Besserung in Ruhe oder nach der Gabe von Nitroglyzerin, keine dauerhaften Schäden am Herzmuskel ● akutes Koronarsyndrom: Sammelbegriff für Notfallsituationen, die im Rettungsdienst ohne weiterführende Diagnostik nicht eindeutig zu unterscheiden sind: – instabile Angina pectoris: erstmalige Beschwerden, Beschwerden neu mehrmals am Tag oder bereits in Ruhe, keine ausreichende Besserung durch Nitrospray – Myokardinfarkt (Herzinfarkt): Absterben von Herzmuskelzellen durch die Ischämie ● weitere mögliche Folgen einer KHK: Herzrhythmusstörungen, ischämische Herzmuskelschädigung, plötzlicher Herzstillstand

Grunderkrankung Arteriosklerose Folgeerkrankungen • Die Arteriosklerose (Atherosklerose, „Arterienverkalkung“) ist die Hauptursache u. a. für folgende Erkrankungen und damit für einen großen Verlust an Lebensqualität und -jahren: ● koronare Herzkrankheit bzw. akutes Koronarsyndrom ● periphere arterielle Verschlusskrankheit (S. 312) ● ischämischer Hirninfarkt (S. 428) ● intrazerebrale Blutung (S. 428) ● akutes Aortensyndrom (S. 312) ● Bauchaortenaneurysma (S. 352) ● vaskuläre Demenz (S. 444) Pathophysiologie • Die Erkrankung beginnt mit einer Schädigung des Endothels, also der Auskleidungsschicht der Arterien, z. B. durch einen Bluthochdruck. In der Folge lagern sich zunehmend Cholesterin, Kalk und andere Substanzen in die Gefäßwand ein. Diese Plaques führen zu einer zunehAbb. 12.3 KHK und ACS.

© sebra/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by a model

An einem Sommerabend werden Sie und Ihre Kollegen mit dem Einsatzstichwort „Verdacht auf akutes Koronarsyndrom“ alarmiert. Am Notfallort, im 1. Stock eines Mehrfamilienhauses, weist Ihnen eine ältere Dame den Weg in das Wohnzimmer, wo ihr 61 Jahre alter Ehemann auf dem Sofa sitzt und beide Arme in den Hüften aufstützt. Er berichtet mit schmerzverzerrtem Gesicht, dass er seit 15 Minuten massive Brustschmerzen habe, und klagt außerdem über Übelkeit und Atemnot: „Die Schmerzen sind unerträglich, zuerst nur in der Brustgegend, jetzt aber auch im linken Arm. Es sind heftige, stechende Schmerzen. Ich bekomme kaum Luft, es geht mir gar nicht gut.“ Die Haut des Patienten ist kalt, blass und schweißig.

koronare Herzkrankheit (KHK) Atherosklerose der Koronarien mit Minderperfusion des Myokards stabile Angina pectoris • Beschwerden nur bei Belastung • mit Nitrospray behebbar

Herzrhythmusstörungen ischämische Schädigungen plötzlicher Herztod

akutes Koronarsyndrom (ACS) instabile Angina pectoris • Beschwerden erstmals, häufiger, intensiver, länger oder in Ruhe • mit Nitrospray nicht oder nur z. T. behebbar

Myokardinfarkt STEMI mit ST-Hebung

NSTEMI ohne ST-Hebung

*Fallbeispiel fiktiv

Die gemeinsame Problematik ist eine Verengung der Koronararterien durch eine Arteriosklerose und damit eine chronische und/oder akute O2-Unterversorgung der Herzmuskulatur. 300

Notfälle und Erkrankungen menden Einengung und Versteifung der Gefäße. Dadurch ist zum einen die Sauerstoffversorgung der Gewebe chronisch beeinträchtigt, zum anderen besteht die Gefahr eines kompletten Gefäßverschlusses mit akutem Absterben des Gewebes, meistens durch einen Thrombus, also ein lokal entstandenes Blutgerinnsel. Risikofaktoren • Am wichtigsten sind Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen (Hypercholesterinämie) und abdominelle Adipositas (metabolisches Syndrom), Rauchen, familiär erhöhtes Risiko sowie Geschlecht und Lebensalter (♂ > 45. Lebensjahr, ♀ > 55. Lebensjahr). Weitere Risikofaktoren sind fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel und ein niedriger sozioökonomischer Status.

Pathophysiologie und Formen KHK und AP • Die Herzmuskulatur wird ausschließlich über die Koronararterien (S. 59) mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Sind diese durch eine Arteriosklerose (Koronarsklerose) verengt, resultieren eine Minderdurchblutung (Ischämie) und O2-Mangelversorgung (Hypoxie) des Myokards. Man spricht von einer koronaren Herzkrankheit (KHK). Als Angina pectoris (AP, „Brustenge“) werden Brustschmerzen als Folge dieser Ischämie bezeichnet. Myokardinfarkt • Sind eine oder mehrere Koronarie(n) plötzlich hochgradig oder komplett verschlossen (meist durch Ruptur einer instabilen Plaque mit Thrombenbildung), stirbt bereits nach wenigen Minuten Herzmuskelgewebe ab. Dies ist ein akuter Myokardinfarkt (AMI = acute myocardial infarction). Je nach Größe des geschädigten Areals führt dies rasch zu Funktionseinschränkungen des Herzens bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand. Wird der Herzinfarkt überlebt, wird das abgestorbene Herzmuskelgewebe in den folgenden Wochen zu Bindegewebe umgebaut, es resultiert eine Narbe. Im EKG-Befund werden folgende Formen unterschieden: ● STEMI (= ST-elevation myocardial infarction): Das EKG zeigt ST-Strecken-Hebungen als Zeichen des Zelluntergangs (▶ Abb. 12.4). ● NSTEMI (= non ST-elevation myocardial infarction: Im EKG sind keine ST-Strecken-Hebungen zu sehen. Die Diagnose wird gestellt, wenn die Erhöhung bestimmter Herzenzyme (v. a. Troponin und Kreatinkinase) im Blut auf den Untergang von Herzmuskelzellen hinweist.

! Merke Angina pectoris und Myokardinfarkt

Alle Formen der AP sind reversibel, d. h., die Symptome können sich innerhalb kurzer Zeit zurückbilden, ohne dass Herzmuskelzellen absterben (Troponin unauffällig). Beim Myokardinfarkt wird der Herzmuskel hingegen dauerhaft geschädigt, d. h., bereits nach kurzer Zeit sterben Herzmuskelzellen ab (Konzentration von Troponin im Serum ↑). Die stabile AP kann ohne Behandlung in eine instabile AP übergehen, die instabile AP wiederum geht sehr häufig in einen akuten Myokardinfarkt über.

Symptomatik und Differenzialdiagnosen Typische Symptomatik • Das Leitsymptom des ACS sind stechende, brennende oder drückende Schmerzen hinter dem Brustbein (= retrosternale Schmerzen) mit möglicher Ausstrahlung in andere Bereiche, z. B. in Unterkiefer, Bauch, Rücken und linken Arm (▶ Abb. 12.5). Mögliche weitere Symptome sind Atemnot, Todesangst, kaltschweißige Haut, Blässe, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Zyanose.

Abb. 12.4 Akuter Myokardinfarkt (STEMI).

V1

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V5

V6

EKG eines Patienten mit ausgedehntem Vorderwandinfarkt: Zu sehen sind ST-Strecken-Hebungen in den Brustwandableitungen in V1–6. Die Extremitätenableitungen sind nicht dargestellt. Aus: Trappe H, Schuster H, Hrsg. EKG-Kurs für Isabel. 8. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Abb. 12.5 Schmerzausstrahlung bei ACS.

Unterkiefer

linke Schulter

Rücken

rechter Arm

Oberbauch

linker Arm

Oft empfinden die Patienten die stärksten Schmerzen hinter dem Brustbein (retrosternal). Die Schmerzen strahlen häufig in den Unterkiefer, die linke Schulter, den Rücken, den rechten und linken Arm sowie in den Oberbauch aus. Atypische Symptomatik • Insbesondere Frauen, ältere Menschen (> 75 Jahre), Patienten mit länger bestehendem Diabetes mellitus (geringe Schmerzwahrnehmung aufgrund diabetesbedingter Nervenschädigungen) oder mit Demenz verspüren oft nicht die typischen Schmerzen im Brustbereich. Beispielsweise kann sich hinter Symptomen wie allgemeine Schwäche oder Schwindel (v. a. bei Patienten mit Diabetes mellitus – „stummer Myokardinfarkt“) oder Bauch-

301

12

Herz-Kreislauf-Notfälle schmerzen, Übelkeit und Schwindel (v. a. bei Frauen) ein Myokardinfarkt verbergen.

● ● ●

ACHTUNG

Antikoagulans, i. d. R. 5 000 IE Heparin (z. B. Liquemin®) Analgetikum, z. B. Morphin (z. B. Morphin Merck®) bei besonders ängstlichen Patienten: Benzodiazepin, z. B. Midazolam (z. B. Dormicum®) bei Übelkeit: Antiemetikum, z. B. Ondansetron (z. B. Zofran®) bei hämodynamisch stabilen Patienten: NitroglyzerinSpray, β-Blocker (z. B. Metoprolol)

Die nicht klassische Symptomatik bei einigen Patientengruppen kann die Diagnosestellung und damit die Akutbehandlung verzögern. Dies kann für die Betroffenen lebensbedrohlich sein!



Komplikationen • Die häufigste Todesursache in den ersten Stunden nach einem Herzinfarkt sind Herzrhythmusstörungen, v. a. Kammerflimmern (S. 307). Zusätzlich sind die Patienten gefährdet durch eine akute Linksherzinsuffizienz mit Entwicklung eines Lungenödems und eines kardiogenen Schocks (S. 289). Auslöser sind z. B. große Infarktareale, eine Ruptur des Ventrikelseptums oder eine Ruptur der Ventrikelwand mit Herzbeuteltamponade (S. 311).

! Merke Beruhigung und Schmerzlinderung

Differenzialdiagnosen • Differenzialdiagnostisch zu beachten sind alle Ursachen für akute Thoraxschmerzen (S. 296).

Versorgung des Patienten



Gerade bei Herz-Kreislauf-Notfällen sind Maßnahmen zur Beruhigung und Schmerzlinderung wichtig: Angst und Schmerzen bedeuten immer Stress für den Körper und belasten das Herz-Kreislauf-System zusätzlich.

RETTEN TO GO Akutes Koronarsyndrom (ACS) ●

Basismaßnahmen (S. 299) ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● Beruhigen Sie den Patienten und öffnen Sie beengende Kleidungsstücke. ● Lagerung mit erhöhtem Oberkörper (15–35°), zur Entlastung des Herzens ● O2-Gabe bei SpO2 < 90 %, Dyspnoe oder Herzinsuffizienz ● 12-Kanal-EKG: ST-Strecken-Hebung? ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ● Reanimationsbereitschaft (Kammerflimmern!): Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten ● Fragen Sie unbedingt nach Vorerkrankungen (z. B. KHK) und regelmäßig eingenommenen Medikamenten, z. B. Blutdrucksenkern. Erweiterte Maßnahmen • Die Arbeitsdiagnose „ACS“ wird aufgrund der Symptomkonstellation gestellt und ggf. durch die notärztliche EKG-Auswertung gesichert. In dieser Situation müssen die kritisch verengten Gefäße schnellstmöglich wiedereröffnet werden (Revaskularisationstherapie). Hierzu gibt es prinzipiell 2 Möglichkeiten: ● 1. Wahl: Herzkatheterintervention (PTCA = für engl. Percutaneous Transluminal Coronary Angioplasty bzw. PCI für engl. Percutaneous Coronary Intervention): Die Engstelle des Gefäßes wird mit einem über die Leistenarterie eingebrachten Ballonkatheters aufgedehnt und meist ein Stent eingebracht, um das Gefäß dauerhaft offen zu halten. ● 2. Wahl: Lysetherapie: Ist eine PTCA nicht innerhalb von 90–120 Minuten nach Symptombeginn möglich, können bereits am Notfallort Medikamente injiziert werden, um den Thrombus aufzulösen (notärztliche Maßnahme). Diese Fibrinolytika (S. 141) können jedoch schwere Blutungskomplikationen auslösen. Der Patient wird daher nach Voranmeldung und unter Inanspruchnahme von Wegerechten so rasch wie möglich (aber in schonender Fahrweise, um den Kreislauf nicht weiter zu belasten!) in das nächstgelegene kardiologische Zentrum transportiert. Folgende Medikamente können i. v. zusammen mit VEL verabreicht werden (ärztliche Maßnahme): ● Thrombozytenaggregationshemmer, i. d. R. 250 mg Acetylsalicylsäure (z. B. Aspisol®)

302







Definition: Die koronare Herzkrankheit (KHK) ist die Folge einer Arteriosklerose der Koronararterien, die zu einer chronischen und/oder akuten Unterversorgung der Herzmuskulatur mit Sauerstoff geführt hat. Folgende Manifestationen werden unterschieden: – stabile Angina pectoris (AP, chronisches Koronarsyndrom): Beschwerden nur unter Belastung, Besserung in Ruhe oder nach Nitrospray – akutes Koronarsyndrom: Sammelbegriff für Situationen, die am Notfallort ohne weiterführende Diagnostik nicht eindeutig zu unterscheiden sind – instabile AP: erstmalige Beschwerden, Beschwerden neu mehrmals am Tag oder bereits in Ruhe auf, keine ausreichende Besserung durch Nitrospray – Myokardinfarkt (Herzinfarkt): Absterben von Herzmuskelzellen durch die Ischämie ● STEMI: Myokardinfarkt mit Nachweis einer ST-Hebung im EKG ● NSTEMI: Myokardinfarkt ohne Nachweis einer ST-Hebung im EKG – weitere mögliche Folgen einer KHK: Herzrhythmusstörungen, ischämisch bedingte Herzmuskelschädigung, plötzlicher Herzstillstand Symptomatik: stechende, brennende oder drückende Schmerzen hinter dem Brustbein (= retrosternale Schmerzen), die u. a. in Unterkiefer, Bauch, Rücken und linken Arm ausstrahlen können; begleitend u. a. Atemnot, Todesangst, kaltschweißige Haut, Blässe und Übelkeit mit Erbrechen; v. a. bei Frauen, älteren Personen und Patienten mit Diabetes mellitus oft atypische Manifestation, z. B. mit Schwindel, Übelkeit, Bauchschmerzen ToDo Basis: – Vitalfunktionen sichern, NA nachfordern, Basismonitoring: SpO2, Puls, RR, BZ, 12-Kanal-EKG – Beruhigung des Patienten, beengende Kleidungsstücke öffnen, Lagerung mit erhöhtem Oberkörper – O2-Gabe bei SpO2 < 90 %, Dyspnoe, Herzinsuffizienz – i. v.-Zugang und VEL vorbereiten, Reanimationsbereitschaft herstellen ToDo erweitert: – schnellstmöglicher Transport in Zielklinik mit Herzkatheterlabor, als 2. Wahl Thrombolyse durch NA – medikamentöse Therapie durch NA: ASS, Heparin, Morphin, Benzodiazepin, ggf. Nitrospray, β-Blocker

Notfälle und Erkrankungen

Fallbeispiel Fortsetzung – Einsatzstichwort „Akutes Koronarsyndrom“ Die Erstuntersuchung des Patienten nach dem (c)ABCDE-Schema ergibt Folgendes: ● A: Atemwege frei ● B: SpO2 86 %, Auskultation der Lunge: beschleunigte Atmung, Atemfrequenz 15–20/min, keine erkennbare Zyanose ● C: Herzfrequenz: Tachykardie mit HF 110/min; RR 210/ 120 mmHg; keine Stauungszeichen erkennbar ● D: Patient in allen Qualitäten orientiert, GCS 15 Punkte; Pupillen: rund, mittelweit und isokor, prompte, seitengleiche Lichtreaktion; Blutzucker: 158 mg/dl ● E: Anamnese nach dem SAMPLER-Schema: – S (Symptomatik): s. o. – A (Allergie): keine Medikamentenallergien – M (Medikamente): keine Dauermedikation – P (Patientengeschichte): keine Vorerkrankungen bekannt – L (letzte Nahrungsaufnahme): am Nachmittag – E (Ereignisse mit Bezug zum Notfall): keine Angaben – R (Risikofaktoren): Patient raucht seit seiner Jugend. Sie und Ihre Kollegen stellen aufgrund der schlechten Kreislaufverhältnisse und der Schmerzen die Verdachtsdiagnose „akutes Koronarsyndrom“ und fordern bereits während der ersten Unter-

12.2.2 Lungenembolie Fallbeispiel Einsatzstichwort „Bluthusten“* Sie werden zu einem Einfamilienhaus alarmiert. Sie treffen auf eine 34-jährige Frau, die im Schlafzimmer auf dem Bettrand sitzt. Sie wirkt stark beunruhigt, die Lippen sind bläulich verfärbt, am Hals erkennen Sie gestaute Gefäße. Auf dem Boden liegen Taschentücher mit Blutflecken. Die Patientin habe seit mehreren Stunden leichte Schmerzen im Oberkörper und bekomme kaum Luft, auch bei geringer Anstrengung: „Als ich von der Arbeit gekommen bin, habe ich mich sofort ins Bett gelegt, weil mir unwohl war. Dann sind die Schmerzen rasch schlimmer geworden und ich habe immer schlechter Luft bekommen. Ich musste mich aufsetzen und husten. Da habe ich bemerkt, dass Blut dabei war.“ Besonders belastend seien der Druck auf der Brust und das Beklemmungsgefühl. *Fallbeispiel fiktiv

Grundlagen Definition Lungenembolie Ein Embolus, ein abgelöstes Gerinnsel, verlegt eine oder mehrere Lungenarterie(n). Das Gerinnsel stammt meistens aus einer Becken- oder Beinvene, gelangt über die untere Hohlvene und das rechte Herz in den Lungenkreislauf und bleibt in einer Lungenarterie stecken. Die Folgen sind eine plötzliche Druckbelastung für das rechte Herz und eine verminderte Gasaustauschleistung der Lunge. Synonyme • Lungen- oder Pulmonalarterienembolie, Pulmonalembolie Pathophysiologie • Löst sich nach einer tiefen Venenthrombose (S. 314) ein Thrombus aus einer tiefen Bein- oder Beckenvene, gelangt er als Embolus über die untere Hohlvene durch die rechte Herzhälfte in die arterielle Lungenstrombahn (S. 67). Je nach Größe verschließt er dort eine größere

suchungen über die Leitstelle notärztliche Unterstützung nach. Sie lagern den Patienten mit erhöhtem Oberkörper auf die Rettungsliege, er erhält 10 l O2/min über eine O2-Maske. Sie legen ein Kreislaufmonitoring mit Pulsoxymetrie, 12-Kanal-EKG und nicht invasiver RR-Messung an. Ein Kollege etabliert einen i. v.-Zugang. Sie informieren den inzwischen eingetroffenen Notarzt. Dieser analysiert das 12-Kanal-EKG und bestätigt die Verdachtsdiagnose „akuter Myokardinfarkt“ (mit ST-Strecken-Hebung = STEMI). Der Patient erhält i. v. Morphin als Schmerzmittel sowie VEL, Ondansetron als Antiemetikum, Glyceroltrinitrat (z. B. Nitrolingual®), Heparin als Antikoagulans sowie – nach telefonischer Abstimmung mit dem diensthabenden Kardiologen in der Zielklinik – Acetylsalicylsäure i. v. zur Thrombozytenaggregationshemmung. Gemeinsam mit Ihren Kollegen ziehen Sie die Medikamente aus Ampullen in Spritzen auf und bereiten die Infusion vor. Sie transportieren den Patienten in schonender Fahrweise in das nächstgelegene Krankenhaus mit Möglichkeit einer Herzkatheterintervention. Hier öffnet ein Kardiologe das verschlossene Gefäß und sichert es mit einem Stent. Nach 14-tägiger stationärer Behandlung wird der Patient in gutem Allgemeinzustand in eine kardiologische Rehabilitation entlassen. oder kleinere Lungenarterie, also eines der Gefäße, die O2armes Blut vom Herzen zur Lunge führen (▶ Abb. 12.6). Vor diesem Verschluss staut sich das Blut. Das rechte Herz versucht, die ungewohnte Belastung durch eine Steigerung von Schlagvolumen und -frequenz auszugleichen. Ist eine große Lungenarterie verschlossen, gelingt dies jedoch nur für kurze Zeit, das rechte Herz ist akut überlastet (= akute Rechtsherzinsuffizienz, bei ca. 70 % der Betroffenen tödlich). In der Folge gelangt zu wenig Blut zum linken Herzen, das Herzzeitvolumen und der Blutdruck nehmen kritisch ab, es droht ein kardialer Schock (S. 289). Zusätzlich gelangt auch weniger Blut in die Alveolen, d. h., der Gasaustausch in den betroffenen Lungenbereichen ist eingeschränkt und das Blut wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff angereichert. Die Folge ist ein Sauerstoffmangel im arteriellen Blut (arterielle Hypoxämie) bzw. eine Unterversorgung des gesamten Körpers (Hypoxie). Kompensatorisch atmen die Betroffenen schneller (Tachypnoe). Bei einer fulminanten Lungenembolie sind große Lungengefäße verlegt und es besteht die Gefahr des plötzlichen Herztodes („Sekundenherztod“). Bei einem Lungeninfarkt schränkt die Embolie auch die Durchblutung des Lungengewebes über die Bronchialarterien (S. 71) kritisch ein, sodass Lungengewebe abstirbt (ca. 10 % aller Lungenembolien). Prognose • Ob eine Lungenembolie lebensbedrohlich wird, hängt von der Größe und Lage des Embolus ab. Zudem ist entscheidend, ob die Lunge oder das Herz bereits durch andere Erkrankungen, z. B. eine COPD oder eine Herzinsuffizienz, vorgeschädigt sind. Ohne Zeichen eines Schocks, v. a. ohne Blutdruckabfall, ist das Sterberisiko gering.

! Merke Thrombose und Embolie

Eine Thrombose ist ein Gefäßverschluss durch ein Blutgerinnsel (Thrombus). Bei einer Embolie wird ein Gefäß durch Material verschlossen, das mit dem Blutstrom eingeschwemmt wurde (Embolus). Häufig ist der Embolus ein Teil eines Thrombus (Thromboembolie). Auch Luft oder Fett können eine Embolie auslösen.

303

12

Herz-Kreislauf-Notfälle Abb. 12.6 Pathophysiologie der Lungenembolie.

Risikofaktoren v.a.: ! Immobilisation (längere Bettruhe, längere Flug- oder Autoreisen) ! Vorhofflimmern ! Schwangerschaft ! Kontrazeptiva (+ Rauchen)

venöser Thrombus bildet sich

Thrombus wird verschleppt und bleibt als Embolus in Lungenarterie stecken

Thrombus Thrombus

Folgen

SpO2 ↓ (Hypoxämie)

Druck im Lungenkreislauf ↑ (pulmonale Hypertonie)

Symptome • plötzliche Atemnot • Husten

O2

Durchblutung behindert

Hypoxämie

Rechtsherzbelastung ↑ → Kompensation durch HZV ↑ → akute Rechtsherzinsuffizienz

Linksherzinsuffizienz und Kreislaufversagen

gestaute Halsvenen

Ödeme

ggf. vorübergehend RRsyst ↑

Hypotonie Bewusstlosigkeit kardiogener Schock

Die mit Abstand häufigste Ursache einer Lungenembolie ist ein verschleppter Thrombus aus den tiefen Bein- oder Beckenvenen. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Ursachen und Risikofaktoren • In ca. 90 % der Fälle ist die Ursache ein Thrombus aus einer tiefen Bein- oder Beckenvene. Die Risikofaktoren entsprechen daher denen für tiefe Venenthrombosen (S. 314). Seltene Auslöser: ● Fettembolie, z. B. nach einer Oberschenkelfraktur oder Gelenkoperation (z. B. Hüftgelenkendoprothese): Fettgewebe aus dem Knochenmark gelangt in die Blutbahn. ● Luftembolie: Luft gelangt in die zentralen Venen, z. B. über einen zentralen Venenkatheter (unsachgemäße Handhabung oder Produktfehler). ● Fruchtwasserembolie: Bei der Geburt gelangt Fruchtwasser über die Uterusvenen in den mütterlichen Kreislauf.

Symptomatik und Differenzialdiagnosen Symptomatik • Die Symptome und ihre Intensität unterscheiden sich von Patient zu Patient: ● plötzliche Atemnot ● atemabhängige Thoraxschmerzen, v. a. beim Einatmen, evtl. ähnlich wie bei Angina pectoris (S. 300) ● meist typische Risikofaktoren (danach fragen!): z. B. kurz zurückliegende Operation oder Fraktur mit Ruhigstellung einer Extremität, Beinvenenthrombose, längere Flug- oder Autoreise in jüngster Vergangenheit ● Herzrasen und beschleunigte Atmung ● plötzlicher, drastischer RR-Abfall (RRsyst < 90 mmHg oder RR-Abfall > 40 mmHg für mind. 15 min) bis zum Schock 304

● ●

● ●



Unruhe, Angst, Beklemmungsgefühle gestaute Halsvenen als Folge einer akuten Rechtherzinsuffizienz (▶ Abb. 12.8) zentrale Zyanose (▶ Abb. 10.2a) als Folge der Hypoxie Beimengung von Blut beim Husten (Hämoptysen), im Extremfall Aushusten größerer Blutmengen (Hämoptoe): Das Blut stammt aus Gefäßverletzungen in der Lunge, die im Rahmen der Embolie entstehen. plötzliche Bewusstlosigkeit

Komplikationen • Akute Rechtsherzinsuffizienz mit Gefahr des kardialen Schocks; v. a. bei fulminanter Embolie Gefahr des plötzlichen Herz-Kreislauf-Stillstands, Lungeninfarkt.

! Merke Variable Symptomatik

Eine Lungenembolie kann mit sehr massiven oder auch nur wenig eindeutigen Symptomen einhergehen und ist daher im Rettungsdienst schwierig zu erkennen. Das Wichtigste ist, an die Möglichkeit einer Lungenembolie zu denken, weil frühes Handeln bei fulminanten Verläufen oft die einzige Rettung ist. Differenzialdiagnosen • Differenzialdiagnostisch zu beachten sind alle Ursachen für akute Thoraxschmerzen (S. 296). Denken Sie bei Bluthusten daran, dass auch Blutungen aus dem Mund-Rachen-Raum (S. 455) oder dem oberen Verdauungstrakt (S. 343) ursächlich sein können. Die definitive Diagnose

Notfälle und Erkrankungen einer Lungenembolie ist erst im Krankenhaus mittels Computertomografie möglich.

wird – je nach Schwere der Symptomatik – eine Lysetherapie oder eine therapeutische Antikoagulation durchgeführt.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen (S. 299) ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, 12-Kanal-EKG, SpO2 ● bewusstseinsklare Patienten: Oberkörper hochlagern (ca. 30–60°, dem Wunsch des Patienten anpassen), um das Herz zu entlasten, die Atmung zu erleichtern und die Atemhilfsmuskulatur zu aktivieren ● maximale O2-Gabe: 15 l/min über Maske ● notärztliche Unterstützung anfordern bei Lebensgefahr oder Blutdruckabfall (Verdacht auf kardialen Schock) Erweiterte Maßnahmen • Auch die notärztliche Therapie zielt auf den Erhalt der Vitalfunktionen und die Linderung der Symptome ab. Die Patienten werden schnellstmöglich in eine Klinik mit internistischer Intensivstation transportiert. Über einen peripheren Venenzugang werden zusammen mit VEL Medikamente verabreicht: Bei Hypotonie oder Verdacht auf kardialen Schock Katecholamine (Noradrenalin, z. B. Arterenol®), bei starken Schmerzen Opioide (z. B. Morphin – z. B. Morphin Merck®), bei starker Unruhe und Angst Sedativa (Midazolam, z. B. Dormicum®). Bei Aspirationsgefahr kann eine Atemwegssicherung mit einem Endotrachealtubus und eine maschinelle Beatmung notwendig werden. Bei Herz-Kreislauf-Stillstand und Verdacht auf Lungenembolie (reversible Ursache!) kann während der Reanimation ein Fibrinolytikum (S. 141) injiziert werden, um den Embolus aufzulösen (ärztliche Maßnahme). In der Zielklinik

RETTEN TO GO Lungenembolie (Pulmonalembolie) ●







Definition und häufigste Ursache: Verlegung einer oder mehrerer Lungenarterien durch einen Embolus, ein abgelöstes Gerinnsel. Das Gerinnsel stammt meistens aus den Becken- oder Beinvenen (tiefe Venenthrombose), gelangt über die untere Hohlvene und das rechte Herz in den Lungenkreislauf und bleibt in einer Lungenarterie stecken. Die Folgen sind eine plötzliche Druckbelastung für das rechte Herz mit Gefahr einer akuten Rechtsherzinsuffizienz und eines kardialen Schocks sowie eine verminderte Gasaustauschleistung der Lunge mit Hypoxie. Die Risikofaktoren entsprechen denen für tiefe Venenthrombosen (z. B. Immobilisierung). Symptomatik: variabel und oft wenig eindeutig; häufig plötzliche Atemnot, atemabhängige Thoraxschmerzen, Herzrasen, beschleunigte Atmung, Blutdruckabfall, Unruhe, Angst, gestaute Halsvenen, zentrale Zyanose, Bluthusten, plötzliche Bewusstlosigkeit. ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, 12-Kanal-EKG), Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, O2-Gabe 15 l/min über Maske, NA nachfordern bei vitaler Bedrohung oder Schockgefahr ToDo erweitert: schnellstmöglicher Transport in Zielklinik mit Intensivstation, medikamentöse Therapie durch NA, ggf. Intubation und Beatmung, bei Herz-KreislaufStillstand Reanimation + Fibrinolyse durch NA

Fallbeispiel Fortsetzung – Einsatzstichwort „Bluthusten“ Ergebnisse der Erstuntersuchung nach (c)ABCDE-Schema: ● A: Atemwege frei ● B: SpO2 83 %, Auskultation der Lunge: Atemfrequenz beschleunigt auf 20/min, Lippen blau verfärbt ● C: Herzfrequenz: Tachykardie mit HF 120/min; RR 150/ 90 mmHg; gestaute Halsvenen ● D: Patientin in allen Qualitäten orientiert, GCS 15 Punkte; Pupillen: rund, mittelweit und isokor, prompte, seitengleiche Lichtreaktion; Blutzucker: 78 mg/dl ● E: Anamnese nach SAMPLERS-Schema: – S (Symptomatik): s. o. – A (Allergie): keine Medikamentenallergien – M (Medikamente): „Pille“; Analgetika gegen häufige Kopfschmerzen, in den letzten Wochen keine Kopfschmerzen – P (Patientengeschichte): keine Vorerkrankungen bekannt – L (letzte Nahrungsaufnahme): Müsli zum Frühstück – E (Ereignisse mit Bezug zum Notfall): Die Patientin habe heute bereits den ganzen Tag Unwohlsein verspürt und sei daher frühzeitig von der Arbeit nach Hause gefahren. – R (Risikofaktoren): Die Patientin nimmt die „Pille“ und raucht gelegentlich. – S (Schwangerschaft): von der Patientin verneint Aufgrund der schlechten Kreislaufverhältnisse und der Symptome stellen Sie und Ihre Kollegin die Verdachtsdiagnose „Lungenembolie“ und fordern notärztliche Unterstützung an. Aufgrund der schlechten SpO2 verabreichen Sie der Patientin 10–15 l O2/min über eine Maske. Sie etablieren ein kontinuierli-

ches Monitoring mit Pulsoxymetrie und oszillometrischer RR-Messung und lagern die Patientin mit erhöhtem Oberkörper auf die Rettungstrage. Nach Rücksprache mit ihr öffnen Sie die obersten Knöpfe ihrer Bluse, um die Atmung zu erleichtern. Sie kleben die Elektroden für ein 12-Kanal-EKG auf den Oberkörper und decken die Patientin mit einer Rettungsdecke zu. Sie entscheiden gemeinsam mit Ihrer Kollegin, die Patientin zum RTW zu tragen und dem NEF entgegenzufahren, um Zeit zu gewinnen. Der Zustand der Patientin hat sich nicht gebessert, nur das Atmen fällt ihr durch die O2-Gabe etwas leichter. Sobald Sie mit der Notärztin zusammengetroffen sind, machen Sie eine Übergabe in Reihenfolge des (c)ABCDE-Schemas und legen einen Ausdruck des 12-Kanal-EKGs vor. Die Notärztin stellt ebenfalls die Verdachtsdiagnose „Lungenembolie“ und etabliert einen i. v.-Zugang. Sie bereiten eine VEL vor und hängen die Infusion langsam tropfend an. Auf Anordnung der Notärztin zieht Ihre Kollegin jeweils eine Ampulle Morphin und Midazolam in geeigneten Spritzen auf. Nachdem die Notärztin die Medikamente verabreicht hat, ordnet sie an, die Patientin in das nächstgelegene Krankenhaus zu transportieren. In der Zielklinik wird die Verdachtsdiagnose „Lungenembolie“ mittels Computertomografie bestätigt. Die Verlegung der Lungenarterie wird durch eine Fibrinolyse behoben, die Patientin kann nach eintägiger intensivmedizinischer Behandlung auf eine Normalstation verlegt werden.

305

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

12.2.3 Herzinsuffizienz Grundlagen Definition Herzinsuffizienz Die Pumpfunktion der linken und/oder rechten Herzkammer (Linksherz-, Rechtsherz- bzw. Globalinsuffizienz) ist so weit reduziert, dass die körperliche Belastbarkeit eingeschränkt ist. Unterschieden werden über Monate oder Jahre bestehende chronische Verläufe sowie die akute Herzinsuffizienz, die sich innerhalb von Minuten, Stunden oder Tagen entwickelt. Auch eine chronische Herzinsuffizienz kann innerhalb kurzer Zeit akut werden (= akut dekompensierte Herzinsuffizienz).



hormonelle Regulationsmechanismen aktiviert (S. 67), die den Gefäßtonus erhöhen und so den Blutdruck wieder steigern. Hält dieser Zustand länger an, verdickt der Herzmuskel zunehmend und die Kammern erweitern sich. Sind diese Kompensationsmechanismen erschöpft, resultiert eine Dekompensation mit akuter Lebensgefahr. Rückwärtsversagen: Da zu wenig Blut aus den Herzkammern weitergepumpt wird, staut sich das Blut in die zuführenden Venen zurück, bei Linksherzinsuffizienz in den Lungenkreislauf (→ Gefahr eines Lungenödems), bei Rechtsinsuffizienz in die zentralen Körpervenen (→ u. a. Stauung der Halsvenen).

Bei einer akut dekompensierten Herzinsuffizienz gehen die Rechts- und Linksherzinsuffizienz oft ineinander über (Globalinsuffizienz). Dies ist im Rettungsdienst häufig zu sehen.

Synonym • Herzmuskelschwäche Ursachen • Die Herzinsuffizienz ist meistens das Resultat einer schwerwiegenden Herz- oder Lungenerkrankung. Die häufigsten Ursachen einer chronischen Herzinsuffizienz sind die koronare Herzerkrankung und eine arterielle Hypertonie, meist in Kombination. Typische Auslöser einer isolierten Rechtsherzinsuffizienz sind chronische Lungenerkrankungen mit Lungenhochdruck (z. B. COPD, Lungenemphysem). Eine akute Herzinsuffizienz bei vorab symptomlosen Personen ist am häufigsten die Folge eines Herzinfarkts oder einer hypertensiven Krise (Linksherzinsuffizienz) oder einer Lungenembolie (Rechtsherzinsuffizienz). Bei Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz können z. B. Einnahmefehler bei der Dauermedikation, akute Infektionen, Operationen oder starke körperliche Belastungen eine akute Dekompensation auslösen. Pathophysiologie • Der linke (Linksherzinsuffizienz) und/ oder rechte Ventrikel (Rechtsherzinsuffizienz) wirft in der Systole nicht genügend Blut aus. Dies hat folgende Effekte: ● Vorwärtsversagen: Die Auswurfleistung des Herzens, also das Herzzeitvolumen, ist reduziert. Dadurch sind der systolische Blutdruck und damit die Organdurchblutung verringert. Um dies auszugleichen (Kompensation), werden

Symptomatik Allgemeine Symptome • Das Leitsymptom ist eine massive Atemnot, auch in Ruhe (▶ Abb. 12.7). Die Patienten sind häufig allgemein geschwächt, unruhig und ängstlich. Die Herzfrequenz ist kompensatorisch erhöht (Tachykardie). Es besteht eine periphere Zyanose mit bläulicher Verfärbung der Lippen (▶ Abb. 10.2a) durch eine erhöhte periphere Sauerstoffausschöpfung. Akute Rechtsherzinsuffizienz • Symptome des Rückwärtsversagens: ● deutlich hervortretende Halsvenen (▶ Abb. 12.8) ● Ödeme (Wasseransammlungen) im gesamten Körper: Beinödeme (▶ Abb. 12.1), Aszites (▶ Abb. 14.8) Akute Linksherzinsuffizienz ● Symptome des Vorwärtsversagens: – blasse, kalte und marmorierte Haut – u. U. Verwirrtheit durch eine unzureichende Sauerstoffversorgung des Gehirns

Abb. 12.7 Symptome bei akuter Links- und Rechtsherzinsuffizienz.

Rechtsherzinsuffizienz

Linksherzinsuffizienz

periphere Zyanose

Angst, Unruhe, Verwirrtheit mit eingeschränkter geistiger Leistungsfähigkeit

gestaute Halsvenen Dyspnoe

Oberbauchbeschwerden Aszites

periphere Zyanose Husten Ruhedyspnoe mit Orthopnoe thorakale Beschwerden bei Belastung schneller, flacher Puls Einsatz der Atemhilfsmuskulatur blasse, kalte Haut Hypotonie

periphere Ödeme

306

Typisch für eine akute Linksherzinsuffizienz ist ein Lungenödem mit schwerer Atemnot. Bei einer akuten Rechtsherzinsuffizienz fallen oft Ödeme an den Fußknöcheln auf. Bei einer Globalinsuffizienz bestehen sowohl Symptome einer Rechts- als auch einer Linksherzinsuffizienz. Aufgrund der massiven Atemnot können die Patienten nicht flach liegen, sondern nehmen in der Regel von selbst eine sitzende Position ein, um die Atemhilfsmuskulatur optimal einzusetzen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Notfälle und Erkrankungen Abb. 12.8 Halsvenenstauung bei Rechtsherzinsuffizienz.

RETTEN TO GO Herzinsuffizienz ●



Das zum Herzen fließende Blut staut sich in die zentralen Venen zurück, erkennbar an den auch im Sitzen gut sichtbar gefüllten Halsvenen. Aus: Füeßl H, Middeke M, Hrsg. Duale Reihe Anamnese und klinische Untersuchung. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022



Rückwärtsversagen: Das Blut staut sich in die Lungenstrombahn zurück, die Folge ist ein kardiales Lungenödem (S. 268): Flüssigkeit wird aus den Gefäßen in die Alveolen gepresst und erschwert den Gasaustausch massiv. Die Folge ist schwere Atemnot (ohne Hilfsmittel hörbare, feuchte Rasselgeräusche beim Atmen) mit Husten, besonders im Liegen (Orthopnoe), evtl. schaumiger Auswurf.

! Merke Asthma cardiale

Die Konstellation aus extremer Atemnot, ohne Hilfsmittel hörbaren Rasselgeräuschen und asthmaähnlichen Symptomen (z. B. Husten, v. a. im Liegen) bei Patienten mit Herzinsuffizienz wird als Asthma cardiale bezeichnet. Diese Situation ist akut lebensbedrohlich!







Definition: Die Pumpfunktion des linken und/oder rechten Ventrikels ist so weit reduziert, dass die Belastbarkeit eingeschränkt ist. Unterschieden werden chronische Verläufe, die akute Herzinsuffizienz und die akute Dekompensation einer chronischen Herzinsuffizienz. Ursachen der akuten Herzinsuffizienz: u. a. Myokardinfarkt, hypertensive Krise, neu aufgetretenes Vorhofflimmern, Lungenembolie; bei vorbestehender Herzinsuffizienz zusätzlich z. B. Einnahmefehler bei der Dauermedikation, akute Infektionen, Operationen oder starke körperliche Belastungen Symptomatik: massive Atemnot, auch in Ruhe, Besserung im Sitzen; allgemeine Schwäche, Unruhe, Angst, Tachykardie mit flachem Puls, periphere Zyanose – bei Rechtsherzinsuffizienz: gestaute Halsvenen, Beinödeme, Aszites – bei Linksherzinsuffizienz: Verwirrtheit, blasse, kalte Haut, Lungenödem mit schwerer Atemnot und Husten ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), Lagerung sitzend, mit erhöhtem Oberkörper oder Herzbettlagerung, NA nachfordern, ggf. O2-Gabe, Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL, ggf. Reanimationsbereitschaft herstellen ToDo erweitert: medikamentöse Therapie durch NA, ggf. CPAP-Beatmung, ggf. CPR

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen (S. 299) Vitalfunktionen gemäß ABCDE sichern ● Basismonitoring: RR, Puls, EKG, SpO2 ● NA nachfordern bei akuter Herzinsuffizienz ● Patienten beruhigen ● Lagerung: sitzend, mit erhöhtem Oberkörper (15–35°) oder auch Herzbettlagerung (▶ Abb. 11.3) – oft bessern sich bereits dadurch die Beschwerden! ● ggf. O2-Gabe ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● je nach Zustand des Patienten: Reanimationsbereitschaft (Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten) ●

Erweiterte Maßnahmen • Im Vordergrund steht die Erhaltung der Vitalfunktionen. Wichtig ist die Anlage des i. v.-Zugangs, um kreislaufwirksame Medikamente, z. B. Katecholamine, zu verabreichen und so die Herzfunktion zu verbessern. Bei einem Lungenödem können Diuretika wie Furosemid (z. B. Lasix®) zum Einsatz kommen. Die Atmung kann durch eine nicht invasive CPAP-Beatmung (S. 219) unterstützt werden, auch um eine Intubation und kontrollierte Beatmung zu vermeiden. Wegen der Schwere des Zustandsbildes muss das gesamte Rettungsteam während des Einsatzes jederzeit bereit sein, Reanimationsmaßnahmen einzuleiten.

12.2.4 Herzrhythmusstörungen Definition Herzrhythmusstörungen Die Frequenz und/oder der Rhythmus der Herzaktionen weicht von den Normwerten (Erwachsene in Ruhe: 60–100/min) ab: ● Bradykardie: zu niedrige Herzfrequenz (< 60/min) ● Tachykardie: zu hohe Herzfrequenz (> 100/min, in Ruhe!) ● Arrhythmie: unregelmäßige Herzfrequenz – Bradyarrhythmie: unregelmäßige + zu langsame Herzaktionen – Tachyarrhythmie: unregelmäßige + zu schnelle Herzaktionen ● Extrasystolen: „Extraschläge“ außerhalb des normalen Rhythmus Ursachen • Herzrhythmusstörungen sind häufig durch Erkrankungen des Herzens bedingt (z. B. KHK, Myokardinfarkt, Herzmuskelentzündung). Zu beachten sind auch zahlreiche Ursachen außerhalb des Herzens (extrakardiale Ursachen), darunter Lungenembolien (S. 303), Schilddrüsenfunktionsstörungen (S. 359), Elektrolytstörungen (S. 503), Vergiftungen (z. B. durch „Herzmedikamente“ wie β-Blocker oder Digitalis, Atropin-haltige Pflanzen, Drogen oder Alkohol) oder auch extremer Schlafmangel. Physiologische Anpassungen der Herzfrequenz • In vielen Situationen ist ein physiologischer Anstieg der Herzfrequenz zu beobachten, häufig als Folge von körperlicher Belastung (z. B. bei Fieber) und/oder psychischem Stress, z. B. bei starken Schmerzen, Nervosität (z. B. ausgelöst durch Eintreffen des Rettungsteams) oder Angst. Bei Frauen in der Spätschwangerschaft und bei Kindern (S. 525) ist die Herzfrequenz physiologisch höher, damit das Herzzeitvolumen ausreichend hoch ist. Ursachen für eine physiologische Bradykardie sind z. B. regelmäßiger Ausdauersport mit Entwicklung eines Sportlerherzens, eine Aktivierung des N. vagus

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12

Herz-Kreislauf-Notfälle (Vagusreiz) durch starkes Pressen auf der Toilette, Husten oder Erbrechen (erhöhter intrathorakaler Druck) sowie ein Absinken der Herzfrequenz bei Kompression der A. carotis (Karotissinusreflex). Einteilung ● Störung der Erregungsbildung im Sinusknoten (S. 61) oder der Erregungsleitung (Sinusknoten → Herzvorhöfe → AVKnoten → Ventrikel) ● Störung im Bereich der Vorhöfe (supraventrikulär) oder im Bereich der Ventrikel (ventrikulär) ● nach der Herzfrequenz: Bradykardien und Tachykardien

Formen • ▶ Tab. 12.2 zeigt im Rettungsdienst wichtige Rhythmusstörungen und ihre Bedrohlichkeit. Extrasystolen • Nach dem Entstehungsort der „Extraschläge“ werden supraventrikuläre oder Vorhofextrasystolen mit schlankem QRS-Komplex und ventrikuläre oder Kammerextrasystolen mit breitem, deformiertem QRS-Komplex unterschieden (▶ Abb. 12.9). Extrasystolen sind meistens, aber nicht immer (!) unbedenklich. Insbesondere bei Patienten mit Schädigungen des Herzens (z. B. durch einen Myokardinfarkt) besteht bei häufigen ventrikulären Extrasystolen die Gefahr eines Übergangs in ein Kammerflimmern.

Tab. 12.2 Für den Rettungsdienst wichtige Herzrhythmusstörungen (Übersicht). Störung

Kurzbeschreibung

Abbildungen

Einstufung und Maßnahmen

tachykarde Rhythmusstörungen Sinustachykardie



HF > 100/min

● ●

Vorhofflattern und Vorhofflimmern

● ● ●



Kammerflimmern

● ● ● ●

Kammerflattern bzw. pulslose ventrikuläre Tachykardie (pVT)

● ●

Flattern: Vorhoffrequenz > 250/min Flimmern: Vorhoffrequenz > 350/min Pulsfrequenz ist niedriger, da nicht jede Erregung an die Kammern weitergeleitet wird Kammerfüllung ↓ → Herzzeitvolumen ↓ → Herzleistung ↓

Vorhofflattern





Vorhofflimmern

Kammerfrequenz > 320/min unregelmäßige Kontraktionen keine Ventrikelfüllung, dadurch keine Auswurfleistung kein Puls



Kammerflattern: Kammerfrequenz > 250/min pVT: ventrikuläre Tachykardie ohne fühlbaren Puls (Karotis oder Leiste)







nicht lebensbedrohlich endet bei Behebung der Ursachen (z. B. Fieber, Aufregung)

nicht unmittelbar lebensbedrohlich, kann aber in lebensbedrohliche Arrhythmie übergehen Gefahr der Gerinnselbildung im linken Vorhof → Embolien (u. a. peripherer arterieller Gefäßverschluss, Mesenterialinfarkt, Schlaganfall)

lebensbedrohlicher Notfall Defibrillation, sofortige Reanimation

lebensbedrohlicher Notfall Defibrillation, sofortige Reanimation

bradykarde Rhythmusstörungen Sinusbradykardie



HF < 60/min

AV-Block (atrioventrikulärer Block)



verzögerte Überleitung im AV-Knoten zwischen Vorhöfen und Kammern bei Grad III Entkopplung von Vorhöfen und Kammern mit sehr langsamem Ersatzrhythmus der Kammern



Asystolie

● ●

AV-Block Grad III



ungefährlich bei Behebung der Ursache



bei bedrohlicher Bradykardie: externer Schrittmacher bei AV-Block III akute Lebensgefahr



keine elektrische Aktivität des Herzens sichtbar (Nulllinie) kein Puls tastbar

● ●

lebensbedrohlicher Notfall sofortige Reanimation (keine Defibrillation!)

weitere Rhythmusstörungen pulslose elektrische Aktivität (PEA) = elektromechanische Dissoziation (EMD)

308





elektrische Aktivität führt nicht zu ausreichenden Kontraktionen, unzureichendes Herzzeitvolumen kein Puls tastbar

variabel, z. B. Sinusrhythmus

● ●

lebensbedrohlicher Notfall sofortige Reanimation (keine Defibrillation!)

Notfälle und Erkrankungen Abb. 12.9 Supraventrikuläre und ventrikuläre Extrasystolen.

! Merke Kardioversion

Bei der Kardioversion (von griech. kardia = Herz und lat. conversio = Umwendung, Umkehr) wird versucht, den normalen Herzrhythmus wiederherzustellen, mithilfe von elektrischem Strom oder medikamentös.

SVES

a VES

b Je nach dem Ursprungsort der Extrasystolen im Herzen unterscheidet sich der EKG-Befund. a Supraventrikuläre Extrasystolen (SVES) gehen von den Vorhöfen aus. Der QRS-Komplex ist normal breit. b Ventrikuläre Extrasystolen (VES) haben ihren Ursprung in den Herzkammern. Meistens ist der QRS-Komplex verbreitert und verformt. Aus: Trappe H, Schuster H, Hrsg. EKG-Kurs für Isabel. 8. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Symptomatik • Herzrhythmusstörungen können unbemerkt bleiben oder plötzlich lebensgefährlich werden und zu einem kardialen Schock oder einem Herz-Kreislauf-Stillstand führen. Folgende Symptome können zur Alarmierung des Rettungsdienstes führen: ● bei Bradykardie: Schwindel (durch O2-Mangel im Gehirn), Schläfrigkeit, Atemnot bei geringer Anstrengung, blasse, evtl. zyanotische Haut, meistens ruhig sitzender Patient ● bei Tachykardie: Schwindel, Herzrasen ohne besondere körperliche Anstrengung, Unruhe, beschleunigte Atmung ● Extrasystolen werden – falls überhaupt – als „Herzstolpern“ (Palpitationen) wahrgenommen. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 299) ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 – Die EKG-Diagnostik ist wichtig, um die Art der Rhythmusstörung zu bestimmen und gezielt zu therapieren. ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ● bei Bradykardie mit Atemnot: Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, ggf. O2-Gabe ● bei Tachykardie: Lagerung mit erhöhtem Oberkörper; versuchen Sie, den Patienten zu beruhigen. ● bei Instabilität bzw. akuter Lebensgefahr: notärztliche Unterstützung anfordern, Reanimationsbereitschaft herstellen (Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten) Erweiterte Maßnahmen • Nur bei instabilen Patienten wird präklinisch eine medikamentöse oder elektrische Therapie durchgeführt. Nach Anlage eines i. v.-Zugangs können zur Stabilisierung des Herzrhythmus Antiarrhythmika (S. 131) verabreicht werden, die Auswahl der Substanz hängt von der jeweiligen Rhythmusstörung ab. Bei bedrohlichen tachykarden Rhythmusstörungen kann versucht werden, durch eine elektrische Kardioversion mit dem Defibrillator einen normalen Herzrhythmus wiederherzustellen (ärztliche Maßnahme). Manchmal gelingt dies auch durch „vagale Manöver“ (Vagusstimulation: vorsichtiges Massieren der A. carotis) oder die Gabe von Medikamenten (medikamentöse Kardioversion). Bei einer bedrohlichen Bradykardie kann ein externer Schrittmacher zur Stimulation der Herztätigkeit angelegt werden.

RETTEN TO GO Herzrhythmusstörungen Definition: Die Frequenz und/oder der Rhythmus der Herzaktionen weicht von den Normwerten ab: ● Bradykardie: zu niedrige Herzfrequenz (< 60/min) ● Tachykardie: zu hohe Herzfrequenz (> 100/min in Ruhe) ● Arrhythmie: unregelmäßige Herzfrequenz – Bradyarrhythmie: unregelmäßige und zu langsame Herzaktionen – Tachyarrhythmie: unregelmäßige und zu schnelle Herzaktionen ● Extrasystolen: „Extraherzschläge“ außerhalb des normalen Herzrhythmus Ursachen: Erkrankungen des Herzens (z. B. KHK, Myokardinfarkt, Herzmuskelentzündungen), Ursachen außerhalb des Herzens, z. B. Lungenembolie, Schilddrüsenfunktionsoder Elektrolytstörungen, Vergiftungen, extremer Schlafmangel Physiologische Abweichungen der Herzfrequenz: ● erhöhte Herzfrequenz: körperliche Belastung, Fieber, Stress, starke Schmerzen, Angst, Spätschwangerschaft, Kinder ● niedrige Herzfrequenz: regelmäßiger Ausdauersport (Sportlerherz), Vagusreiz, Karotissinusreflex Wichtige Herzrhythmusstörungen: ● tachykard: Sinustachykardie, Vorhofflimmern und -flattern, Kammerflimmern und -flattern ● bradykard: AV-Block, Sinusbradykardie, Asystolie ● pulslose elektrische Aktivität Symptomatik: harmlos und unbemerkt, aber mitunter Gefahr eines kardialen Schocks oder eines Herz-KreislaufStillstands; mögliche Symptome: ● Bradykardien: Schwindel, Schläfrigkeit, Atemnot bei geringer Anstrengung, blasse, evtl. zyanotische Haut, meistens ruhig sitzender Patient ● Tachykardien: Schwindel, Herzrasen ohne besondere körperliche Anstrengung, Unruhe, Tachypnoe ToDo Basis: ● Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG) ● Lagerung: mit erhöhtem Oberkörper ● ggf. O2-Gabe, Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● bei Instabilität bzw. akuter Lebensgefahr: NA anfordern, Reanimationsbereitschaft herstellen (Defibrillator und Beatmungsbeutel griffbereit halten) ToDo erweitert: nur bei instabilen Patienten präklinische Therapie ● Antiarrhythmika, je nach Rhythmusstörung ● Tachykardie: evtl. elektrische Kardioversion, Vagusstimulation, Karotismassage ● Bradykardie: evtl. externer Schrittmacher

309

12

Herz-Kreislauf-Notfälle Abb. 12.10 Arterielle Hypertonie.

Ursachen gesteigertes Herzzeitvolumen und/oder erhöhter peripherer Gefäßwiderstand • primäre Hypertonie (90 %): multifaktorielle Störung der Blutdruckregulation • sekundäre Hypertonie (10 %): Organfunktionsstörung (z.B. Nierenschädigung)

Folgeerscheinungen nach jahrelanger Belastung • Atherosklerose • Herzinsuffizienz Unterversorgung, Ausfallerscheinungen, Funktionseinschränkungen in unterschiedlichen Organen, z. B. KHK, Niereninfarkt, Schlaganfall

!

!

> 180/> 110 mmHg schwer hyperton (Stufe III) 160–167/100–109 mmHg mittel hyperton (Stufe II) 140–159/90–99 mmHg mild hyperton (Stufe I) 130–139/85–89 mmHg hoch/normal

hypertensiver Notfall – Lebensgefahr ! • schwere Funktionseinschränkungen, z.B. Bewusstseinsstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, hochroter Kopf, zerebrale Krämpfe, Sprachstörungen, thorakale Schmerzen • akute Organschäden

hypertensive Dringlichkeit (hypertensive Krise) • keine Symptome • keine schwere Funktionseinschränkung • keine akuten Organschäden

120–129/80–84 mmHg normal < 120/< 80 mmHg optimal

Formen, Folgeerkrankungen und mögliche Komplikationen der arteriellen Hypertonie. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020.

12.2.5 Hypertensive Entgleisung



Definition Arterielle Hypertonie und hypertensive



Entgleisung ●



Die arterielle Hypertonie (Bluthochdruck) bezeichnet eine Erhöhung des arteriellen Blutdrucks in Ruhe über seine normalen Grenzen hinaus (▶ Abb. 12.10). Eine hypertensive Entgleisung (Blutdruckkrise) ist ein Überbegriff für krisenhafte Blutdruckanstiege: – hypertensive Dringlichkeit (hypertensive Krise): akute Blutdruckerhöhung auf über 180 mmHg systolisch und/oder über 120 mmHg diastolisch, ohne Hinweis auf Organschäden oder akute Funktionseinschränkungen – hypertensiver Notfall: zusätzlich lebensbedrohliche Symptome und/oder Organfunktionsstörungen

Ursachen der Hypertonie • Bei > 90 % aller Betroffenen ist keine genaue Ursache des Bluthockdrucks zu ermitteln (primäre oder essenzielle Hypertonie). Die Entstehung ist multifaktoriell, begünstigende Faktoren sind u. a. sind genetische Faktoren, psychischer Stress, Rauchen, fortgeschrittenes Alter, wenig Bewegung, Übergewicht, hohe Kochsalzaufnahme und starker Alkoholkonsum. Sekundäre Formen des Bluthochdrucks sind die Folge von Störungen bestimmter Organsysteme, z. B. der Niere (renale Hypertonie) oder des Hormonsystems, z. B. bei einer Schilddrüsenüberfunktion (S. 359) oder einem Adrenalin-produzierenden Tumor der Nebennieren (sehr selten). Eine spezielle Situation ist die schwangerschaftsinduzierte Hypertonie (S. 481) in der fortgeschrittenen Schwangerschaft. Auslöser von hypertensiven Entgleisungen • Prinzipiell können alle Patienten mit Bluthochdruck eine hypertensive Entgleisung entwickeln. Folgende Situationen sind typische Auslöser einer hypertensiven Entgleisung: 310

● ●

Absetzen oder Vergessen der Einnahme von blutdrucksenkenden Medikamenten Mehreinnahme oder Nebenwirkung von Medikamenten psychischer Stress, Angst Konsum von Alkohol oder Drogen (v. a. Amphetamine, Kokain)

Symptomatik • Das Leitsymptom ist der sehr hohe Blutdruck (▶ Abb. 12.10), häufig ist der Kopf hochrot. Dieser hohe Druck im arteriellen Gefäßsystem löst Funktionsstörungen von Organen aus, die sich durch folgende Symptome äußern können: ● Kopfschmerzen (durch Ausdehnung bzw. Zusammenziehen intrakranieller Gefäße) ● Nasenbluten (durch Schädigung von Gefäßen in der Nase) ● neurologische Symptome (durch Durchblutungsstörungen des Gehirns): z. B. Sehstörungen, Schwindel, Verwirrtheit, Bewusstseinsveränderungen, Krampfanfälle ● Übelkeit und Erbrechen ● Ohrensausen ● Atemnot ● Thoraxschmerzen Komplikationen • Der krisenhafte Blutdruckanstieg kann verschiedene lebensbedrohliche Komplikationen auslösen: ● Hirnblutung (S. 428) ● ischämischer Insult (S. 428) ● Anstieg des Hirndrucks (S. 426) ● akute Linksherzinsuffizienz (S. 306) mit Gefahr eines kardialen Schocks ● akutes Koronarsyndrom (S. 300) ● akutes Aortensyndrom (s. u.) ● Ruptur eines Bauchaortenaneurysmas (S. 352) ● akutes Nierenversagen (S. 497) ● Eklampsie (S. 481)

Notfälle und Erkrankungen Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 299) Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● Herzbettlagerung mit erhöhtem Oberkörper (mind. 30°) und herunterhängenden Beinen (▶ Abb. 11.3), um das Herz zu entlasten und die Atmung zu erleichtern ● beruhigender Zuspruch und Betreuung: Lassen Sie den Patienten nicht allein! ● ggf. O2-Gabe ● bei lebensbedrohlichen Symptomen (z. B. Bewusstseinstrübung, Thoraxschmerzen) oder Hinweisen auf Komplikationen notärztliche Unterstützung anfordern ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ●

Erweiterte Maßnahmen • Der Blutdruck wird medikamentös durch die i. v.-Gabe von Antihypertensiva (S. 130) wie Urapidil, z. B. Ebrantil®, gesenkt, abhängig von der Höhe des Blutdrucks und der Dringlichkeit der Situation. Typisch sind Zielblutdruckwerte von ca. 160/100 mmHg. Die weitere Versorgung orientiert sich an den jeweiligen Komplikationen. Sofern die Blutdruckkrise keine bleibenden Organschäden verursacht hat, bessern sich die Symptome mit dem Absinken des Blutdrucks rasch.

! Merke Langsame Blutdrucksenkung

Der Blutdruck muss dosiert, also nicht zu schnell abgesenkt werden: Ein zu schneller Blutdruckabfall gefährdet die ausreichende Durchblutung von Herz oder Gehirn.

RETTEN TO GO Hypertensive Entgleisung ●





Definitionen: – Hypertonie (Bluthochdruck): Erhöhung des arteriellen Blutdrucks in Ruhe auf > 140/90 mmHg – hypertensive Entgleisung (Blutdruckkrise): Überbegriff für krisenhafte Blutdruckanstiege – hypertensive Dringlichkeit (hypertensive Krise): akuter Druckanstieg auf > 180 mmHg systolisch und/ oder > 120 mmHg diastolisch, ohne Hinweis auf Organschäden oder akute Funktionseinschränkungen – hypertensiver Notfall: zusätzlich lebensbedrohliche Symptome und/oder Organfunktionsstörungen Ursachen: – Hypertonie: – primäre oder essenzielle Hypertonie (> 90 % der Fälle): keine spezifische Ursache bekannt, begünstigende Faktoren: genetische Faktoren, psychischer Stress, Rauchen, fortgeschrittenes Alter, wenig Bewegung, Übergewicht, hohe Kochsalzaufnahme, starker Alkoholkonsum – sekundäre Hypertonie als Folge organischer Störungen, z. B. der Niere oder des Hormonsystems, oder in der Spätschwangerschaft – Auslöser einer hypertensiven Entgleisung: Absetzen oder Vergessen von blutdrucksenkenden Medikamenten, Überdosierung oder Nebenwirkung von Medikamenten, Konsum von Alkohol oder Drogen, psychischer Stress, Angst Symptomatik: stark erhöhter Blutdruck, hochroter Kopf; evtl. Kopfschmerzen, Nasenbluten, Sehstörungen, Schwindel, Verwirrtheit, Bewusstseinsveränderungen, Krampfanfälle, Übelkeit/Erbrechen, Ohrensausen, Atemnot, Thoraxschmerzen







Komplikationen: Hirnblutung, ischämischer Insult, Hirnödem, akute Linksherzinsuffizienz, akutes Koronarsyndrom, akutes Aortensyndrom, Ruptur eines Bauchaortenaneurysmas, akutes Nierenversagen, Eklampsie ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), bei Hinweisen auf Komplikationen NA nachfordern, Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, herabhängende Beine; beruhigender Zuspruch, Betreuung, ggf. O2-Gabe, Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ToDo erweitert: medikamentöse Blutdrucksenkung (nicht zu schnell!), ggf. Behandlung von Komplikationen

12.2.6 Perikardtamponade Synonym • Herzbeuteltamponade

Definition Perikardtamponade Flüssigkeit (Blut oder Erguss) sammelt sich im Herzbeutel an. Dies behindert die mechanische Herzaktion, es entwickelt sich ein kardialer Schock. Ursachen • Die wichtigsten Ursachen sind eine starke Ergussbildung bei einer Entzündung des Herzbeutels (Perikarditis) und Einblutungen bei einem Thoraxtrauma (S. 387) oder einer Ruptur der Ventrikelwand als Folge eines Myokardinfarkts (S. 301). Pathophysiologie • Der Herzbeutel umgibt das Herz als relativ feste Struktur. Füllt er sich mit Flüssigkeit, hat das Herz bereits ab einer Füllung von ca. 200 ml nicht mehr genug Platz, um sich in der Diastole ausreichend zu füllen (S. 60). Das Blut staut sich vor dem Herzen zurück und das Herzzeitvolumen sinkt ab, sodass sich im Verlauf ein obstruktiver Schock (S. 289) entwickelt. Symptomatik • Die Leitsymptome sind ein Blutdruckabfall mit Blässe und Kaltschweißigkeit, gestaute Halsvenen und abgeschwächte Herztöne. Weitere mögliche Symptome sind Tachykardie, dumpfe Thoraxschmerzen, Atemnot, Zyanose und letztlich Schockzeichen. Versorgung des Patienten • Die Notfallversorgung entspricht derjenigen beim kardialen Schock (S. 289) bzw. bei einem Thoraxtrauma (S. 390).

RETTEN TO GO Perikardtamponade (Herzbeuteltamponade) ●







Definition: Flüssigkeit (Blut oder Erguss) im Herzbeutel behindert die mechanische Herzaktion, die Folge ist ein kardialer Schock. Ursachen: Entzündung des Herzbeutels, Thoraxtrauma, Ruptur der Ventrikelwand bei Myokardinfarkt Symptomatik: Blutdruckabfall mit Blässe und Kaltschweißigkeit, gestaute Halsvenen, abgeschwächte Herztöne, Tachykardie, dumpfe Thoraxschmerzen, Atemnot, Zyanose; letztlich Schockzeichen Versorgung des Patienten: wie bei kardialem Schock bzw. Thoraxtrauma

311

12

Herz-Kreislauf-Notfälle

12.2.7 Akutes Aortensyndrom Definition Akutes Aortensyndrom Das akute Aortensyndrom fasst Notfälle der thorakalen Aorta zusammen, die thorakale Vernichtungsschmerzen und mitunter einen hämorrhagischen Schock auslösen. Die wichtigste Ursache ist eine thorakale Aortendissektion (inkl. ihrer Vorstufen), teilweise werden auch Verletzungen der Aorta (S. 389) hinzugezählt. Bei einer Aortendissektion spaltet sich die Wand der Aorta durch eine Einblutung auf, es besteht die Gefahr einer Aortenruptur. Ursachen • Der wichtigste Risikofaktor ist eine Arteriosklerose (S. 300), die bei vielen Betroffenen im Vorfeld zu einer (unbemerkten) krankhaften Erweiterung der thorakalen Aorta (Aneurysma) geführt hat, s. a. den Abschnitt zum Bauchaortenaneurysma (S. 352). Seltenere Ursachen sind angeborene Bindegewebserkrankungen oder Gefäßentzündungen. Am häufigsten sind über 50-jährige Männer betroffen. Pathophysiologie • Die innerste Schicht der Aortenwand reißt ein, Blut dringt in die mittlere Schicht der Aortenwand ein und breitet sich dort aus – begünstigt durch einen typischerweise bestehenden Bluthochdruck („Wühlblutung“, ▶ Abb. 12.11). Dadurch entsteht ein blutgefüllter Kanal zwischen den Gefäßwandschichten („falsches Lumen“). Die Dissektion beginnt am häufigsten in Herznähe, im aufsteigenden Anfangsteil der Aorta, und kann sich bis in den Bauchraum ausbreiten. Folgende Komplikationen sind möglich: ● Verlegung der von der Aorta abzweigenden Arterien (z. B. Koronararterien, A. carotis communis) mit Unterversorgung der von diesen Gefäßen versorgten Organe und entsprechenden Schädigungen (z. B. akutes Koronarsyndrom, ischämischer Hirninfarkt). ● freie oder gedeckte Ruptur der Aorta (S. 352) mit hämorrhagischem Schock, bei Einblutung in die Perikardhöhle Perikardtamponade (s. o.)

Symptomatik • Das Leitsymptom ist ein plötzlich beginnender, thorakaler Vernichtungsschmerz. Der Schmerz strahlt häufig in den Rücken bzw. die Schulterblätter aus und wird von den Patienten oft als „reißend“ beschrieben, mitunter auch als „wandernd“ entlang der Dissektion. Anfangs ist der Blutdruck typischerweise deutlich erhöht, mit einer Blutdruckdifferenz > 20 mmHg zwischen linkem und rechtem Arm. Meistens entwickelt sich schnell (abhängig vom Ausmaß der Blutung) ein hämorrhagischer Schock (S. 289) mit Blutdruckabfall und Tachykardie. Hinzu kommen ggf. Symptome von Organschädigungen, z. B. neurologische Ausfälle bei einem Hirninfarkt. Versorgung des Patienten • Eine präklinische Diagnosestellung ist schwierig! Die Versorgung des Patienten entspricht der Versorgung bei hypovolämischem Schock (S. 289). Fordern Sie notärztliche Unterstützung an. Seien Sie besonders vorsichtig im Umgang mit dem Patienten, um eine Aortenruptur zu vermeiden (Transport „wie ein rohes Ei“). Der Zielwert für den systolischen Blutdruck ist ca. 90 mmHg (wie bei schweren traumatischen Blutungen), um die Blutung nicht zu verstärken. Eine Infusionstherapie mit VEL ist wichtig (präklinisch max. 1000 ml). Der Patient muss schnellstmöglich gefäßchirurgisch versorgt und daher möglichst in ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit Gefäßchirurgie transportiert werden, nicht in ein Krankenhaus der Regelversorgung mit Allgemeinchirurgie.

! Merke Akutes Aortensyndrom: absoluter Notfall

Die Sterblichkeit der Patienten ist sehr hoch, sie müssen daher ohne Zeitverluste in eine Klinik mit Gefäßchirurgie transportiert werden. Eine allgemeinchirurgische Klinik kann nicht helfen! Wird ein solcher Patient trotzdem in ein Regelkrankenhaus gefahren, verliert er wertvolle Zeit und stirbt schlimmstenfalls bei der Verlegung.

RETTEN TO GO

Abb. 12.11 Aortendissektion. Akutes Aortensyndrom

Verlegung der Arterien für die Versorung der oberen Körperhälfte

Dissektionsmembran







Einriss der innersten Wandschicht

Ruptur der Außenwand (Aortenruptur) falsches Lumen



Ursachen: Aufspaltung der Gefäßwandschichten der Aorta (thorakale Aortendissektion), Thoraxtrauma Symptomatik: Blutdruckdifferenz > 20 mmHg zwischen linkem und rechtem Arm, plötzlich beginnende, „reißende“, „wandernde“ Thoraxschmerzen, im Verlauf hypovolämischer Schock mit Blutdruckabfall und Tachykardie Komplikationen: Aortenruptur mit innerlichem Verbluten innerhalb von Minuten, ischämische Organschädigungen (z. B. Myokardinfarkt, Hirninfarkt) ToDo: Versorgung wie bei hypovolämischem Schock, schnellstmöglicher, aber vorsichtiger Transport in eine Klinik mit gefäßchirurgischer Abteilung

12.2.8 Akuter peripherer arterieller Verschluss Definition Akuter peripherer arterieller Verschluss

Die innerste Schicht der Aortenwand reißt ein, wodurch sich eine Blutung zwischen die Wandschichten „wühlt“ und die Aortenwand aufspaltet. Gefürchtete Komplikationen sind die Verlegung großer Arterien durch die Dissektionsmembran und eine Aortenruptur. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von Voll M und Wesker K. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

312

Eine Bein- oder selten Armarterie wird plötzlich vollständig oder so weitgehend verlegt, dass das periphere Gewebe ischämisch wird und (bei fehlender Behandlung) abstirbt. Die Ursache ist ein Embolus (losgelöstes Blutgerinnsel) oder ein lokaler Thrombus (mit der Gefäßwand verbundenes Blutgerinnsel).

Notfälle und Erkrankungen Ursachen ● Embolie (ca. 80 % der Fälle): Im linken Vorhof bildet sich ein Blutgerinnsel, das als Embolus fortgeschwemmt wird und eine der großen Beinarterien verlegt, seltener eine Arm- oder eine kleine Beinarterie. Ein stark erhöhtes Risiko haben v. a. Patienten mit Vorhofflimmern (▶ Tab. 12.2). ● Thrombose: In einem vorgeschädigten Gefäß bildet sich ein Gerinnsel, das das Gefäß verlegt. Meistens ist das Gefäß durch eine Arteriosklerose (S. 300) bereits deutlich verengt, im Sinne einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK). Pathophysiologie • Der Gefäßverschluss führt dazu, dass das periphere Gewebe nicht mehr ausreichend bzw. überhaupt nicht mehr durchblutet wird (inkomplette oder komplette Ischämie). Bei kompletter Ischämie beginnt die betroffene Extremität nach ca. 6 Stunden abzusterben. Symptomatik • Das Leitsymptom sind plötzlich beginnende, sehr starke Schmerzen distal des Verschlusses. Typisch ist die Konstellation aus folgenden Symptomen („6 P nach Pratt“, ▶ Abb. 12.12, ▶ Abb. 12.13), wobei nicht alle Symptome vorhanden bzw. gleich stark ausgeprägt sein müssen: ● Pain: Schmerzen ● Paleness: blasse, kühle Haut ● Paresthesia: Missempfindungen, Taubheitsgefühl ● Pulselessness: periphere Pulse nicht tastbar, verlängerte Rekapillarisierungszeit ● Paralysis: Muskelschwäche, Lähmungserscheinungen ● Prostration: zunehmendes Krankheitsgefühl, Erschöpfung Differenzialdiagnosen • Eine chronisch zunehmende Verengung der peripheren Arterien als Folge einer Arteriosklerose wird als periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) bezeichnet. Typisch dafür ist die Claudicatio intermittens („Schaufensterkrankheit“): Die Verengung bedingt zunächst bei Belastung eine Unterversorgung und damit Schmerzen. Die Betroffenen legen daher beim Umhergehen, z. B. in der Stadt, gerne Pausen ein und bleiben vor Schaufenstern stehen. Im Verlauf bestehen Schmerzen auch in Ruhe und Gewebe kann absterben. In allen Stadien der pAVK besteht ein erhöhtes Risiko für akute Gefäßverschlüsse. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 299) Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● Lagerung: Lagern Sie den Patienten mit erhöhtem Oberkörper (30°) und die betroffene Extremität tief. Auf der Rettungstrage kann die betroffene Extremität seitlich herabhängen, um die Durchblutung zu fördern. Polstern Sie sie mit einem Watteverband ab, um Druckschäden zu vermeiden und den Wärmeverlust zu reduzieren. ● ggf. O2-Gabe ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ● Der Patient darf keinesfalls aufstehen und umhergehen. ● Wärmen Sie die betroffene Gliedmaße nicht aktiv auf (erhöhter O2-Bedarf!). ● bei starken Schmerzen notärztliche Unterstützung anfordern

Abb. 12.12 Symptome bei akutem peripherem arteriellem Gefäßverschluss.

!

fehlende Pulse (pulselessness)

Krankheitsgefühl, Erschöpfung (prostration) eingeschränkte Beweglichkeit (paralysis)

Schmerzen (pain)

!

Gefühlsstörung (paresthesia)

blasse, kühle Haut (paleness)

Die „6 P nach Pratt“ sind typisch für einen akuten peripheren arteriellen Verschluss. Sie sind nicht bei jedem Patienten gleich stark ausgeprägt. Abb. 12.13 Peripherer arterieller Gefäßverschluss.

Die Patientin klagt über Schmerzen und ein Kältegefühl im linken Fuß. Der gesamte Vorfuß ist bläulich verfärbt (scharf begrenzt). Der Fuß fühlt sich kalt an, die Fußpulse auf dieser Seite sind nicht tastbar. Aus: Füeßl H, Middeke M, Hrsg. Duale Reihe Anamnese und klinische Untersuchung. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022



! Merke Notärztliche Unterstützung anfordern?

Bei starken Schmerzen wird i. d. R. notärztliche Unterstützung angefordert. Abhängig vom Anfahrtsweg kann es jedoch sinnvoll sein, den Patienten ohne NA so schnell wie möglich in ein Krankenhaus mit gefäßchirurgischer Abteilung zu bringen, um wertvolle Zeit bis zum Beginn spezifischer Maßnahmen zu gewinnen.

Erweiterte Maßnahmen • Präklinisch erhält der Patient Analgetika (z. B. Morphin), Antikoagulanzien wie Heparin und VEL über einen peripheren Venenzugang, um die Fließeigenschaften des Blutes zu verbessern. Rascher Transport in eine Klinik mit gefäßchirurgischer Abteilung!

RETTEN TO GO Akuter peripherer arterieller Gefäßverschluss ●

Definition und Ursache: Eine Arm- oder (häufiger) Beinarterie wird plötzlich durch einen Embolus (losgelöstes Blutgerinnsel) oder lokalen Thrombus (mit der Gefäßwand verbundenes Blutgerinnsel) vollständig oder so weitgehend verlegt, dass das periphere Gewebe ischämisch wird und (bei fehlender Behandlung) abstirbt. Wichtige Risikofaktoren sind Vorhofflimmern mit Gerinnselbildung im linken Vorhof und eine chronische Schädigung der Arterien durch Arteriosklerose (periphere arterielle Verschlusskrankheit, pAVK).

313

12

Herz-Kreislauf-Notfälle







Symptomatik: plötzlich, einsetzende sehr starke Schmerzen distal des Verschlusses; „6 P nach Pratt“: – Pain: Schmerzen – Paleness: blasse, kühle Haut – Paresthesia: Missempfindungen, Taubheitsgefühl – Pulselessness: periphere Pulse nicht tastbar, verlängerte Rekapillarisierungszeit – Paralysis: Muskelschwäche, Lähmungserscheinungen – Prostration: zunehmendes Krankheitsgefühl, Erschöpfung ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, betroffene Extremität herabhängen lassen und mit Watte abpolstern; ggf. O2-Gabe, Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL; Patienten nicht aufstehen lassen, Extremität nicht aktiv anwärmen; rascher Transport in Klinik mit gefäßchirurgischer Abteilung ToDo erweitert: Analgesie, Antikoagulanzien, VEL

12.2.9 Tiefe Venenthrombose (TVT) Definition Tiefe Venenthrombose Eine Vene wird teilweise oder vollständig durch ein Gerinnsel (Thrombus) verschlossen. Dadurch kann das sauerstoffarme Blut aus diesem Bereich nicht mehr abfließen. Meistens ist eine tiefe Beinoder Beckenvene betroffen. Synonyme • peripherer Venenverschluss, Phlebothrombose Ursachen • Die wichtigsten Risikofaktoren werden als Virchow-Trias zusammengefasst (▶ Abb. 12.14): ● Veränderungen der Innenwand der Gefäße, z. B. durch eine Venenentzündung

Abb. 12.14 Risikofaktoren für venöse Thrombosen. Vorhofflimmern

Immobilität





verlangsamte Strömungsgeschwindigkeit des Blutes durch Ruhigstellung einer Extremität oder Bewegungsmangel (lange Auto- und Flugreisen, langes Sitzen oder Liegen) veränderte Zusammensetzung des Blutes mit erhöhter Viskosität und Gerinnungsneigung, z. B. durch Flüssigkeitsmangel

Weitere Umstände, die diese Faktoren in unterschiedlichem Maß beeinflussen, sind starkes Übergewicht, Rauchen, Tumorerkrankungen, Schwangerschaft, Wochenbett und die Einnahme der „Pille“, also von Ovulationshemmern. Symptomatik • Meistens ist eine tiefe Bein- oder Beckenvene betroffen. Folgende Symptome bestehen bei vielen, aber nicht bei allen Patienten (▶ Abb. 12.15): ● lokales Ödem mit Schwellung ● zunehmendes Schwere- und Spannungsgefühl ● Schmerzen in Wade oder Oberschenkel, die bei Druck zuund bei Hochlagerung abnehmen ● warme, glänzende, rötliche bis bläuliche Haut ● Bewegungseinschränkung Komplikationen • Der Thrombus kann sich ablösen und eine Lungenembolie (S. 303) verursachen. Zudem besteht die Gefahr einer lokalen Gefäßentzündung. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten (S. 299) Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● Lassen Sie den Patienten nicht mehr aufstehen: Gefahr einer Lungenembolie! ● Lagerung: Unterpolstern Sie die betroffene Extremität und lagern Sie sie horizontal, zusätzlich Oberkörper-Hochlagerung um 30°. ● Transportieren Sie den Patienten schonend, vermeiden Sie unnötige Manipulationen und Bewegungen des Beins. ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● bei Anzeichen einer Lungenembolie (z. B. Atemnot, Thoraxschmerzen): notärztliche Unterstützung anfordern! ●

ACHTUNG Herzinsuffizienz Tumorerkrankung verlangsamter Blutfluss

Thrombophilie

!

Virchowerhöhte Trias Blutviskosität und gesteigerte Gerinnungsneigung

Bei einem akuten venösen Verschluss ist größte Vorsicht bei Bewegungen geboten. Löst sich ein Thrombus, kann er über die Venen und das rechte Herz in die Lungenstrombahn verschleppt werden und dort eine Embolie verursachen.

Abb. 12.15 Tiefe Venenthrombose. Schädigung der Gefäßinnenwand

Schwangerschaft

Entzündungen Flüssigkeitsmangel

hormonelle Kontrazeption

Rauchen

Die Virchow-Trias fasst die drei wichtigsten Faktoren für die Entstehung von venösen Thrombosen zusammen: verminderte Strömungsgeschwindigkeit des Blutes, Schädigung der Gefäßinnenwand und erhöhte Viskosität des Blutes mit gesteigerter Gerinnungsneigung. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

314

Typisch sind eine einseitige Schwellung, evtl. mit rötlicher, bläulicher oder gräulicher Verfärbung, und Schmerzen, die beim Herabhängenlassen des Beins zunehmen. Aus: Schmidt G, Görg C, Hrsg. Kursbuch Ultraschall. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015

Besonderheiten bei Kindern Erweiterte Maßnahmen • Über einen i. v.-Zugang können Analgetika wie Morphin und bei Bedarf Antikoagulanzien wie Heparin verabreicht werden.

RETTEN TO GO Tiefe Venenthrombose ●







● ●



Synonyme: peripherer Venenverschluss, Phlebothrombose Definition: vollständiger oder unvollständiger Verschluss einer Vene (meist Bein- oder Beckenvene) durch einen Thrombus → Abflussbehinderung des O2-armen Bluts Risikofaktoren: starkes Übergewicht, Rauchen, zu wenig Bewegung (lange Auto- und Flugreisen, langes Sitzen oder Liegen), Schwangerschaft, Wochenbett, Einnahme der „Pille“, Ruhigstellung einer Extremität, Flüssigkeitsmangel, Tumorerkrankungen, Venenentzündung Symptomatik: lokales Ödem mit Schwellung, zunehmendes Schwere- und Spannungsgefühl, Schmerzen in Wade oder Oberschenkel (Zunahme bei Druck, Abnahme bei Hochlagerung), warme, glänzende, rötliche bis bläuliche Haut, Bewegungseinschränkung Komplikationen: Lungenembolie, lokale Entzündung ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, betroffene Extremität unterpolstern und horizontal lagern; schonender Transport, Manipulationen und Bewegungen der Extremität vermeiden, Patienten nicht aufstehen lassen; NA nachfordern bei Anzeichen einer Lungenembolie (z. B. Atemnot, Thoraxschmerzen) ToDo erweitert: Analgetika, Antikoagulanzien, VEL

12.3 Besonderheiten bei Kindern Physiologische Besonderheiten • Siehe Kapitel 23 (S. 525). Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Kindern • Im Rettungsdienst werden Sie selten auf Kinder mit unbehandelten Herz-Kreislauf-Erkrankungen treffen: Die meisten der insgesamt seltenen Probleme sind durch angeborene Herzfehler bedingt. Diese werden in Europa heute in der Regel durch Untersuchungen unmittelbar nach der Geburt erkannt und ggf. behandelt. Häufige angeborene Herzfehler sind z. B. der Vorhof- (ASD) und der Ventrikelseptumdefekt (VSD). Dabei besteht eine pathologische Öffnung in der Scheidewand zwischen den beiden Vorhöfen (ASD) bzw. den beiden Herzkammern (VSD). Der Blutfluss durch diese zusätzliche Öffnung kann zu unterschiedlichen Veränderungen am Herzen führen, z. B. zu einer Herzinsuffizienz (S. 306). Herzrhythmusstörungen können v. a. bei Jugendlichen Synkopen (S. 419) auslösen. Diese sind meist harmlos.

RETTEN TO GO Herz-Kreislauf-Notfälle bei Kindern Kinder mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind im Rettungsdienst sehr selten, da die meisten angeborenen Störungen bereits frühzeitig in Untersuchungen auffallen. Relevant sind v. a. angeborene Herzfehler und Herzrhythmusstörungen. Letztere können zu Synkopen (Ohnmachtsanfällen) führen, die in der Regel jedoch harmlos sind.

315

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation

13.1 Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS) Definition Herz-Kreislauf-Stillstand Ein Herz-Kreislauf-Stillstand (Kreislauf- oder Herzstillstand) ist der plötzliche Ausfall der Herzfunktion und damit der Blutzirkulation. Pathophysiologie • Die Pumpfunktion des Herzens fällt komplett aus (Herzstillstand) oder sie bleibt wirkungslos (z. B. bei Kammerflimmern, ▶ Tab. 12.2). In beiden Fällen zirkuliert kein Blut mehr im Körper. Dadurch fallen Gehirnaktivität, Kreislauf und Atmung aus, die Körpertemperatur sinkt. Pumpt das Herz kein Blut durch den Körper, ist kein Puls tastbar und kein Blutdruck messbar. Die fehlende Blutversorgung führt zu einem O2-Mangel. Darauf reagiert v. a. das Gehirn sehr sensibel: Bereits nach 10–15 Sekunden werden die Betroffenen bewusstlos, nach ca. 30 s setzt die Atmung aus. Wenige Sekunden später werden die Pupillen weit (Mydriasis) und zunehmend lichtstarr, d. h., sie verengen sich nicht mehr bei Lichteinfall. Bereits nach ca. 3–5 Minuten können unumkehrbare Hirnschäden durch das Absterben von Nervenzellen entstehen, nach ca. 10 min ist die komplette Hirnfunktion (irreversibel) erloschen. Diese Zeitspanne kann bei Hypothermie (S. 402) deutlich verlängert sein!

! Merke Sofort handeln

Ein HKS bedeutet immer höchste Lebensgefahr: Beginnen Sie sofort mit Reanimationsmaßnahmen (S. 318)!

316

Ursachen • Jede schwere Erkrankung oder Verletzung kann zu einem HKS führen. Mögliche Ursachen sind: ● Herz-Kreislauf-Erkrankungen, v. a. Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen ● pulmonale Ursachen, z. B. Ertrinken, Fremdkörperaspiration, Atemwegsverlegung bei Bewusstlosigkeit ● schwere Verletzung: große Blutverluste, Thorax- oder Schädel-Hirn-Trauma ● Elektrolytentgleisungen ● Schock ● Lungenembolie ● Vergiftungen ● Stromunfall

! Merke Erwachsene und Kinder

Bei Erwachsenen sind Störungen des Herzens die häufigste Ursache eines HKS, bei Kindern hingegen Störungen des Atmungssystems. Bei einigen Auslösern eines HKS kann die Ursache potenziell beseitigt und so die Prognose deutlich verbessert werden. Diese potenziell reversiblen Ursachen werden als „4 H“ und „HITS“ zusammengefasst (▶ Tab. 13.1, ▶ Abb. 13.1). Symptomatik Pulslosigkeit ● Atemstillstand oder Schnappatmung (▶ Tab. 8.2) ● Bewusstlosigkeit ● je nach Ursache extrem blasse, gräuliche bis weißliche Haut (z. B. bei Volumenmangelschock) oder bläuliche Haut (z. B. bei Erstickung oder kardialer Problematik) ● kein Muskeltonus (schlaff herunterhängende Gliedmaßen) ● weite, zunehmend lichtstarre Pupillen ● Hypothermie ● EKG-Veränderungen (▶ Tab. 13.3) ●

Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS)

▶S. 316

Grundlagen Basischeck Reanimation

▶S. 318

Herzdruckmassage (HDM) Beatmung

▶S. 320

▶S. 321

▶S. 323

Defibrillation ▶S. 325 Ablauf der Reanimation

Erfolgreiche Reanimation

Beendigung der Reanimation Erweiterte Maßnahmen

▶S. 327

▶S. 326

▶S. 327

Erfolglose Reanimation ▶S. 327

Basischeck

▶S. 329

Notärztliche Unterstützung ▶S. 332 Grundlagen

Besonderheiten bei Kindern

▶S. 329

Beginn der Reanimation ▶S. 332 Beatmung

Feststellen eines HKS Reanimation von Kindern

▶S. 332

Herzdruckmassage (HDM) ▶S. 333 Defibrillation

▶S. 333

Medikamentengabe ▶S. 333 Beendigung einer Reanimation bei Neugeborenen

▶S. 334

Tab. 13.1 Reversible Ursachen eines Herz-Kreislauf-Stillstands. Ursachen 4H

Auslöser (Beispiele) Hypoxie: zu wenig O2 im Blut

● ● ●

Hypovolämie: zu geringes Blutvolumen



Volumenmangelschock (S. 289), z. B. bei schweren Blutungen oder Dehydratation

Hyper- (S. 503) bzw. Hypokaliämie (S. 504): zu hohe bzw. zu geringe Konzentration von Kalium im Blut andere metabolische Ursachen, z. B. Hypokalziämie



Niereninsuffizienz Hypoglykämie (S. 358)

Hypothermie (S. 402): Unterkühlung







HITS

Fremdkörperaspiration (S. 273) Ertrinken (S. 270) schwerer Asthmaanfall (S. 261)

Herzbeuteltamponade (S. 387): Behinderung der mechanischen Herzaktion durch eine Ansammlung von Flüssigkeit bzw. Blut im Herzbeutel



Intoxikationen: Vergiftungen





● ●

Thromboembolie: Verlegung eines Gefäßes, v. a. im Herzen oder in der Lunge

● ● ●

Spannungspneumothorax: Ansammlung von Luft im Brustkorb, rascher Kollaps der Lunge, Ventilmechanismus mit Verlagerung von Herz und Gefäßen

● ●

Unfälle in kalter Jahreszeit Lawinenunfälle Thoraxtrauma Entzündung des Herzbeutels Opioide, Benzodiazepine (S. 512) Kohlenmonoxid (S. 276) Alkohol (S. 515) Herzinfarkt (S. 300) Lungenembolie (S. 303) Schlaganfall (S. 379) Thoraxtrauma (S. 390) Spontanpneumothorax

317

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation Abb. 13.1 Reversible Ursachen eines HKS.

HITS Herzbeuteltamponade

4H 29°C

Hypothermie

Hypoxie

Hypo-/ Hyperkaliämie K+

Hypovolämie

Spannungspneumothorax

HITS und 4 H. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

ACHTUNG Make-up oder eine starke Pigmentierung der Haut kann Betroffene „gesünder“ aussehen lassen und die extrem veränderte Hautfarbe verdecken.

! Merke Schnappatmung

Die Schnappatmung ist eine schwere, lebensgefährliche Atemstörung: Betroffene schnappen nach langen Atempausen nur kurz nach Luft. Der Gasaustausch in der Lunge ist unzureichend, es besteht ein O2-Mangel, die Haut ist oft bläulich verfärbt. Die Schnappatmung geht einem Atemstillstand unmittelbar voraus, ist also keine effektive Atmung mehr. Beginnen Sie sofort eine Reanimation!

RETTEN TO GO Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS) ●







Fallbeispiel Kammerflimmern und plötzliche Bewusstlosigkeit*

Intoxikation

Thrombose

13.2 Reanimation

Definition: plötzlicher Ausfall der Herzfunktion und damit der Blutzirkulation Ursachen: u. a. Herzerkrankungen (v. a. bei Erwachsenen, z. B. Herzinfarkt, Rhythmusstörungen), Schock, Lungenembolie, Hypoxie (v. a. bei Kindern, z. B. bei Aspiration), Hypothermie, schweres Trauma Symptome: extrem blasse, gräuliche bis weißliche (z. B. bei Volumenmangelschock) oder auch bläuliche Haut (z. B. bei Erstickung oder kardialer Ursache), weite, zunehmend lichtstarre Pupillen, Pulslosigkeit, Bewusstlosigkeit, Atemstillstand oder Schnappatmung ToDo: Reanimation

An einem Sommerabend lautet die Einsatzstichwort „Verdacht auf Herzinfarkt“. Da der Notfallort nur wenige Minuten entfernt ist, entscheidet sich die Rettungsleitstelle, nur den RTW mit Sonderrechten zu entsenden, das NEF steht für eine Nachforderung bereit. Die Anfahrt zum Notfallort dauert rund 5 min. Der etwa 55-jährige Patient liegt im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses auf einem Sofa. Er gibt starke Thoraxschmerzen an, die seit ca. 15 min bestünden. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Außerdem sei ihm übel. Die Haut ist kalt, blass und schweißig. Aufgrund der Symptome fordern die Rettungsdienstmitarbeitenden notärztliche Unterstützung nach. Der Rettungssanitäter (RS) kümmert sich um das Monitoring (Pulsoxymetrie, RR, „kleines EKG“, BZ-Messung), der Notfallsanitäter (NotSan) untersucht den Patienten nach dem (c)ABCDE-Schema: ● A: keine Atemwegsverlegung ● B: SpO2 90 %, AF 15–20/min, normale Atmung, keine Zyanose zu erkennen ● C: Tachykardie mit HF 100/min; RR 200/110 mmHg; keine Stauungszeichen zu erkennen ● D: GCS 15 Punkte; Pupillen rund, mittelweit und isokor, prompte seitengleiche Lichtreaktion; BZ 158 mg/dl ● E: Anamnestisch ist keine Medikamentenallergie, Vorerkrankung oder Dauermedikation zu erheben. Die Schmerzen haben vor ca. 15 min begonnen. Der Patient beschreibt die Qualität der Schmerzen als vernichtend und stechend im Oberkörper, mit Ausstrahlung in den linken Oberarm. Die letzte Nahrungsaufnahme erfolgte am Nachmittag. Die Symptome deuten auf ein akutes Koronarsyndrom hin. RS und NotSan entscheiden sich daher für eine Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, eine O2-Gabe mittels Maske (6 l/min) und die Anlage eines 12-Kanal-EKGs als vorbereitende Maßnahme für die Notärztin (NA). Diese und ein weiterer RS treffen kurze Zeit später ein. Der NotSan informiert die NA über die Situation sowie über die bereits erhobenen Befunde und die Anamnese. Die NA installiert sofort eine Venenverweilkanüle und wertet das aufgezeichnete 12-Kanal-EKG aus. Sie teilt den Teammitgliedern mit, dass bei dem Patienten ein ST-Streckenhebungsinfarkt besteht (ST-Hebungen von 0,2 mV in den Brustwandableitungen V2 bis V4). Plötzlich setzt Kammerflimmern ein und der Patient verliert das Bewusstsein. *Fallbeispiel fiktiv

13.2.1 Grundlagen Synonym • Wiederbelebung, CPR (für engl. = cardiopulmonary resuscitation)

Definition Kardiopulmonale Reanimation Bei der kardiopulmonalen Reanimation (▶ Video 13.1) versuchen die Helfer, die ausgefallene Herz- und Lungenfunktion z. B. durch Basismaßnahmen wie Herzdruckmassage und Beatmung zu ersetzen.

! Merke Im Zweifel reanimieren!

Prinzipiell müssen Sie beim Auffinden einer leblosen Person immer – sofern keine sicheren Todeszeichen (S. 251) vorliegen – mit Reanimationsmaßnahmen beginnen und sie fortführen, bis ein Arzt an der Einsatzstelle eintrifft, der über das weitere Vorgehen entscheidet. 318

Reanimation

Basic und Advanced Life Support Basic-Life-Support • Für die Basismaßnahmen, die auch medizinische Laien durchführen können, wird der Begriff Basic Life Support (BLS) verwendet (▶ Abb. 13.2). Dazu zählen u. a.: ● Zustand des Patienten prüfen und ggf. Indikation für die Reanimation stellen ● Notruf absetzen ● Herzdruckmassagen (Thoraxkompressionen) und Beatmungen (Mund zu Mund, Mund zu Nase) ● ggf. Defibrillation mit AED oder halbautomatischen Defi Advanced Life Support (ALS) • Die erweiterten Maßnahmen führen Mitarbeitende des Rettungsdienstes sowie die Notärztin oder der Notarzt durch (▶ Abb. 13.3), z. B.: ● Beutel-Masken-Beatmung ● durchgängige Thoraxkompressionen 30:2 (nur bei Auslösen des Schocks Kompressionen kurz unterbrechen) ● Verwendung eines halbautomatischen bzw. manuellen Defibrillators ● Atemwegssicherung mit Larynx- oder Endotrachealtubus ● Anlage eines i. v.-Zugangs für die Medikamentenapplikation (alternativ i.o.-Zugang, meist bei Säuglingen und Kleinkindern) – nur wenn 3 Helfende vor Ort sind, die Reanimation darf dafür nicht unterbrochen werden! ● Applikation von Notfallmedikamenten ● weiterführende Maßnahmen, z. B. Erkennen und Behandeln reversibler Ursachen ● Postreanimationstherapie (S. 327)

Abb. 13.2 Basic Life Support.

BASISMASSNAHMEN ZUR WIEDERBELEBUNG ERWACHSENER keine Reaktion und keine normale Atmung

Notruf 112

30 Thoraxkompressionen

2 Beatmungen

weiter CPR 30:2

einschalten und den Anweisungen folgen www.grc-org.de; www.erc.edu

publiziert Mai 2021 durch German Resuscitation Council, c/o Universitätsklinikum Ulm, Sektion Notfallmedizin, 89070 Ulm

Copyright: © European Resuscitation Council vzw Referenz: Poster_BLS_Algorithmus_GER_2021 über GRC

Der Algorithmus des GRC für die Durchführung des BLS ist bewusst einfach gehalten, damit auch Laien problemlos nach diesem Schema vorgehen können. © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2021

Abb. 13.3 Advanced Life Support (ALS).

Vorrang hat auch beim ALS die kardiopulmonale Reanimation mit früher Defibrillation. Hinzu kommen u. a. die ggf. schrittweise Optimierung der Beatmung, die Betrachtung und ggf. Behandlung reversibler Ursachen und das Hinzuziehen weiterer Hilfsmittel, z. B. mechanischer Reanimationshilfen. © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2021 319

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation

Ein- und Zwei-Helfer-Methode

Abb. 13.4 Defibrillator.

Ein-Helfer-Methode • Der BLS kann von einem einzigen Helfer durchgeführt werden, z. B. von einem Notfallzeugen. Die fehlenden Erholungsphasen werden schnell problematisch! Zwei-Helfer-Methode • Im Rettungsdienst wird meist die Zwei-Helfer-Methode angewendet, da sie Teamarbeit ermöglicht und der ALS (mindestens!) 2 Helfende erfordert. Der folgende Text beschreibt das Vorgehen im RD.

Vorbereitung Vorbereiten und Positionieren der Geräte • Besteht bereits bei der Anfahrt zum Notfallort der Verdacht auf einen HKS, sollten Sie, um wertvolle Zeit zu sparen, alle für die Reanimation notwendigen Geräte zum Notfallort mitnehmen: ● Defibrillator (▶ Abb. 13.4) ● Absauggerät ● Notfallkoffer oder Notfallrucksack, u. a. mit: – Larynxtuben – Beatmungsbeutel mit Maske, Reservoir, ggf. Beatmungsgerät und O2 – diverse Verband- und Fixiermaterialien, z. B. Dreieckstücher, Fixierbinden und -pflaster – RR- und BZ-Messgerät, Stethoskop – Kleiderschere, Einwegrasierer – Aludecken zum Wärmeerhalt

Gerät zur manuellen Defibrillation mit angezeigter EKG-Ableitung. Foto: © K. Oborny/Thieme Abb. 13.5 Gerätemanagement bei der Reanimation.

Notfallrucksack Helfer 1

Absauggerät

Platzieren Sie die Geräte so, dass die Helfenden optimal auf sie zugreifen können (▶ Abb. 13.5).

RETTEN TO GO

Beatmungsgerät Helfer 2 Patient

Kardiopulmonale Reanimation: Grundlagen ●







Definition: Bei der kardiopulmonalen Wiederbelebung/ Reanimation (= CPR für engl. = cardiopulmonary resuscitation) versuchen die Helfenden, die plötzlich ausgefallene Funktion von Herz und Lunge zu ersetzen, z. B. durch Herzdruckmassagen und Beatmungen. Basic Life Support (BLS), auch durch medizinische Laien: u. a. Zustand des Patienten prüfen, Notruf absetzen, Herzdruckmassagen (HDM), Beatmungen (Mund zu Mund, Mund zu Nase), Einsatz eines automatischen oder halbautomatischen externen Defibrillators; prinzipiell auch durch einen einzelnen Helfer möglich (= Ein-HelferMethode: sehr anstrengend, da keine Pause möglich) Advanced Life Support (ALS) durch Mitarbeitende des Rettungsdienstes und die Notärztin oder den Notarzt (mindestens 2 Helfer): u. a. Beutel-Masken-Beatmung, durchgängige Thoraxkompressionen 30:2 (Unterbrechung nur bei Auslösen des Schocks), Verwendung eines halbautomatischen oder manuellen Defibrillators, Intubation, Erkennen und Behandeln reversibler Ursachen, Anlage eines i. v.- oder i.o.-Zugangs zur Verabreichung von Medikamenten, Postreanimationstherapie Geräte für die Reanimation: Absauggerät, Notfallkoffer oder Notfallrucksack, Defibrillator (AED, HD oder MD = automatischer externer, halbautomatischer oder manueller Defibrillator)

Defibrillator

Platzieren Sie bei der Reanimation die Geräte so, dass beide Helfenden entsprechend ihren Aufgaben optimal auf sie zugreifen können. Der Helfer am Kopf des Patienten kontrolliert die Vitalparameter und führt die Beatmung und Defibrillation durch. Meist ist dies der erfahrenere Mitarbeitende. Der zweite Helfer nimmt u. a. die Herzdruckmassage vor, er befindet sich daher neben dem Patienten.

13.2.2 Basischeck Bevor Sie mit der Untersuchung des Patienten beginnen, müssen Sie (wie immer) zunächst sicherstellen, dass für den Patienten und die Helfenden keine Gefahr besteht – beachten Sie den Eigenschutz (S. 178). Mit dem Basischeck nach dem BAK-Schema (Bewusstsein – Atmung – Kreislauf, ▶ Abb. 13.6) wird der Verdacht auf einen HKS geprüft. B – Bewusstseinskontrolle Sprechen Sie den Patienten laut an („Ist alles in Ordnung?“) und schütteln Sie ihn leicht an den Schultern.



320

Reanimation Abb. 13.6 Basischeck. a Bewusstseinskontrolle: Sprechen Sie den Patienten an und rütteln Sie ihn sanft an den Schultern. b Atemkontrolle: Überstrecken Sie den Kopf des Patienten. Prüfen Sie die Atmung nach dem Prinzip „Sehen – Hören – Fühlen“. Dies darf maximal 10 Sekunden dauern! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

a

b

Tab. 13.2 Ergebnisse der Atemkontrolle und Maßnahmen.





Bewusstseinskontrolle

Atemkontrolle

Maßnahme

normal

unauffällig

weitere Beurteilung nach (c)ABCDE-Schema (S. 183)

keine Reaktion (bewusstlos)

unauffällig

stabile Seitenlagerung, weitere Beurteilung nach (c)ABCDE-Schema, notärztliche Unterstützung anfordern

Reaktion vorhanden

nicht normal

10 Beatmungen, erneuter Basischeck, notärztliche Unterstützung anfordern (assistierte Beatmung bei niedriger Atemfrequenz) oder Freimachen der Atemwege (S. 208)

keine Reaktion (bewusstlos)

nicht normal

notärztliche Unterstützung anfordern, CPR starten

Ergebnis: Reagiert der Patient (z. B. gezielte Bewegungen, Öffnen der Augen, Husten) oder nicht? Bewertung und Maßnahmen: – normale Reaktion: Beurteilung nach (c)ABCDE-Schema – keine Reaktion: Basischeck weiterführen

A – Atemkontrolle • Die Atemüberprüfung darf maximal 10 Sekunden dauern! Bei nicht normaler Atmung muss sofort reanimiert werden, um keine für den Patienten überlebensnotwendige Zeit zu verlieren (No-Flow-Time)! ● Überstrecken Sie vorsichtig den Kopf des Patienten nach hinten (S. 209), und zwar mit dem Kinn-Scheitel-Griff (HTCL-Manöver = head tilt and chin lift: Kopf überstreckt, Kinn angehoben). Prüfen Sie die Atmung durch Sehen, Hören und Fühlen: – Sehen: Hebt und senkt sich der Oberkörper rhythmisch? Ist der Atemweg frei oder verlegt? – Hören: Hören Sie Atemgeräusche? – Fühlen: Spüren Sie die Atemluft (an der Wange, am Ohr, an der Innenseite des Unterarms)? Spüren Sie Bewegungen des Thorax (bei aufgelegter Hand)? ● Ergebnis: Atmung normal oder nicht? Achtung: Schnappatmung (S. 318)! ● Bewertung und Maßnahmen: s. ▶ Tab. 13.2 – Eine Verlegung des Atemwegs sollte nach Möglichkeit sofort behoben werden (S. 210). Als RS sollten Sie Fremdkörper jedoch nur aus dem Mundraum entfernen, nicht tiefer aus den Atemwegen. (K – Kreislaufüberprüfung) • Die früher empfohlene Überprüfung des Karotispulses sollte unterbleiben. Sie ist zum einen fehleranfällig, zum anderen hier bedeutungslos: Stellen Sie beim BAK-Check fest, dass der Patient nicht reagiert und

nicht normal atmet, genügt dies für die Notfalldiagnose „Herz-Kreislauf-Stillstand“. Beginnen Sie sofort mit der CPR! Verlieren Sie keine Zeit: Jede Verzögerung des Beginns der CPR verschlechtert die Prognose des Patienten.

! Merke Keine Pulskontrolle

Wenn der Patient nicht reagiert und nicht normal atmet, beginnen Sie sofort mit der CPR! Verzichten Sie auf das Tasten des Pulses.

RETTEN TO GO Basischeck Stellen Sie sicher, dass keine Gefahr für den Patienten und die Helfenden besteht. Gehen Sie dann nach dem BAKSchema vor: ● B – Bewusstseinskontrolle: Reagiert der Patient auf Ansprache und leichtes Rütteln an der Schulter? Öffnet er z. B. die Augen, hustet er, bewegt er sich gezielt? Falls nicht, weiter mit ... ● A – Atemkontrolle (Dauer: maximal 10 s): Überstrecken Sie den Kopf nach hinten und heben Sie das Kinn an (HTCL-Manöver): Sehen Sie, ob sich der Oberkörper des Patienten rhythmisch hebt und senkt? Sind Atemgeräusche zu hören? Spüren Sie Ausatemluft an der Wange, am Ohr oder an der Innenseite des Ihres Unterarms? Achtung: Schnappatmung ist keine normale Atmung. Reagiert der Patient nicht und atmet er nicht normal, beginnen Sie sofort mit der CPR (Herzdruckmassagen) und fordern Sie notärztliche Unterstützung an. ● (K – Kreislaufüberprüfung: Verzichten Sie auf das früher empfohlene Tasten des Karotispulses.) 321

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation

13.2.3 Ablauf der Reanimation Herzdruckmassage (HDM) Synonym • Thoraxkompressionen Indikation • Bei Bewusstlosigkeit und nicht normaler Atmung müssen Sie sofort mit der Herzdruckmassage (HDM) beginnen (▶ Abb. 13.2). Das Ziel ist es, einen künstlichen Kreislauf zu erzeugen, damit die Organe wenigstens ein Minimum an O2-gesättigtem Blut erhalten. Grundprinzip • Der künstlich hergestellte Kreislauf ist immer nur ein Minimalkreislauf: Selbst bei optimaler Technik sind damit nur ca. 30 % der normalen Auswurfleistung des Herzens zu erreichen. Die Wirkung beruht bei Erwachsenen v. a. auf dem Thoraxpumpmechanismus (▶ Abb. 13.7): Der Druck, den die HDM im Brustkorb erzeugen, komprimiert v. a. die weichen Strukturen (z. B. die großen Venen) und nur sehr geringfügig das muskelstarke Herz selbst. Dies erzeugt einen Blutfluss von den Venen in Richtung Arterien (= normaler Weg des Blutes durch den Gefäßkreislauf), da die Venenklappen (S. 64) verhindern, dass das Blut in die entgegengesetzte Richtung fließt. Auf diese Weise wirkt die HDM selbst dann, wenn der Brustkorb z. B. bei einem Lungenemphysem überbläht ist und keine direkte Kompression des Herzens möglich ist. Auch die Beatmung unterstützt den Minimalkreislauf: Die Luft, die während der Inspiration

in die Lunge gepresst wird, erhöht den Druck im Thorax. Bei der kardiopulmonalen Reanimation erhalten also 3 Mechanismen den künstlichen Kreislauf aufrecht: 1. der Thoraxpumpmechanismus 2. die Drucksteigerung im Thorax durch die Beatmung und 3. die direkte Herzkompression (geringfügig)

! Merke Herzdruckmassage

Die wichtigste Maßnahme bei der Reanimation ist die HDM, gefolgt von Defibrillation und Beatmung! Lagerung des Patienten • Der Patient muss auf einer festen Unterlage liegen bzw. auf diese gelagert werden (z. B. optimal: harter Boden): Ein weiches, federndes Sofa oder Bett bietet nicht den nötigen Gegendruck für die HDM. Bei weichem Untergrund kann als Hilfsmittel ein Reanimationsboard oder -brett verwendet werden. Durchführung der HDM ● Knien Sie sich neben dem Oberkörper des Patienten. ● Machen Sie den Oberkörper des Patienten schnell frei. Verwenden Sie ggf. eine Kleiderschere. ● Legen Sie den Ballen einer Hand in die Mitte des Brustkorbes (untere Hälfte des Brustbeins, ▶ Abb. 13.8a). ● Legen Sie den Ballen der anderen Hand auf die erste Hand (▶ Abb. 13.8b).

Abb. 13.7 Prinzip der Herzdruckmassagen. Drücken Sie die Brustwand um 5–6 cm nach unten, mit einer Frequenz von 100–120/min. Nach jeder Kompression wird der Brustkorb komplett entlastet, damit er sich ausdehnen und das Blut ins Herz einströmen kann. Drücken Sie bei den HDM keinesfalls auf den Oberbauch bzw. den untersten Teil des Brustbeins, da dies die Bauchorgane schädigen kann und zudem diese Kompressionen ineffektiv sind. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Abb. 13.8 Druckpunkt und Armhaltung für die Herzdruckmassage.

a

b

c

Der Druckpunkt befindet sich in der unteren Hälfte des Sternums („mitten auf der Brust“). a Legen Sie den Handballen einer Hand auf den Druckpunkt. b Legen Sie die zweite Hand darüber. c Strecken Sie die Arme durch und belasten Sie den Druckpunkt mit dem Gewicht Ihres Oberkörpers. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

322

Reanimation









Ihre Arme sollen gestreckt und Ihre Schultern senkrecht über dem Oberkörper des Patienten sein (▶ Abb. 13.8c). Drücken Sie das Brustbein um 5 cm (max. 6 cm) nach unten, mit einer Frequenz von 100–120/min. Entlasten Sie zwischen den Kompressionen den Brustkorb des Patienten vollständig, ohne dass dabei der Kontakt zwischen Ihren Händen und der Brustwand verloren geht. Eine vollständige Ausdehnung des Brustkorbs nach jeder Druckbelastung verbessert den Blutrückfluss zum Herzen und damit den Erfolg der Herzdruckmassage. Das Verhältnis von Belastung und Entlastung soll 1:1 sein. Wechseln Sie sich alle 2 Minuten bzw. alle 5 Zyklen ab, da korrekt durchgeführte HDM sehr anstrengend sind und ein Ermüden des Helfenden nachweislich die Qualität der HDM verschlechtert.

! Merke HDM – Drucktiefe

Die ideale Drucktiefe für die HDM sind 5–6 cm. Behalten Sie diese Drucktiefe bei, selbst wenn dabei hörbar Rippen brechen. Mechanische Reanimationshilfen • Diese Geräte können selbstständig eine Herzdruckmassage durchführen. Sie werden am Patienten angebracht und üben mit einer vorgegebenen Frequenz Druck auf seinen Brustkorb aus. Bekannte Vertreter sind „LUCAS“ und „AutoPulse“. Bewährt haben sie sich besonders bei der Reanimation während des Transports und in Herzkatheter-Eingriffsräumen (in denen Herz-Kreislauf-Stillstände oft vorkommen). Obwohl die Geräte während der Reanimation eine große Erleichterung für das Rettungsteam und inzwischen in Deutschland verpflichtend auf jedem NEF vorzuhalten sind, konnte der Nutzen gegenüber der konventionellen HDM noch nicht bewiesen werden.

RETTEN TO GO Herzdruckmassagen (HDM) HDM sind die wichtigste Maßnahme bei der Reanimation von Erwachsenen! ● Indikation: Bewusstlosigkeit + nicht normale Atmung ● Lagerung: optimal: harter Boden; bei weichem Untergrund ggf. Reanimationsboard oder -brett unterlegen ● Technik der Kompressionen: Legen Sie den Ballen einer Hand auf die Mitte des Brustbeins, legen Sie den zweiten Handballen darauf und üben Sie dort dort Druck aus. Drücken Sie den Brustkorb 5–6 cm tief ein, mit einer Frequenz von ca. 100–120/min. Behalten sie die Drucktiefe unbedingt bei, selbst wenn hörbar Rippen brechen. Entlasten Sie zwischen den Kompressionen Brustkorb komplett – der Kontakt zwischen Ihren Händen und dem Brustkorb des Patienten darf dabei nicht verloren gehen! Wechseln Sie sich alle 2 Minuten ab, um Ermüdung zu vermeiden.

Beatmung Indikation • Zusätzlich zur HDM soll bei der Reanimation beatmet werden. Das Verhältnis von HDM zu Beatmungen ist bei Erwachsenen immer 30:2, d. h., nach 30 Kompressionen werden 2 Beatmungshübe abgegeben. Ist während der CPR der Helfende, der die Beatmung übernimmt, kurzzeitig mit anderen Tätigkeiten (z. B. Anbringen der DefibrillatorElektroden) beschäftigt, können die HDM öfter als 30-mal durchgeführt werden. Umgekehrt soll nie öfter als 2-mal beatmet werden, weil die HDM wichtiger ist!

Optionen zur Beatmung • Die Methode der Wahl für Sie als RS ist die Intubation mittels Larynxtubus (S. 215). Bis diese durchgeführt wurde, müssen Sie (je nach Situation) Mundzu-Mund- (▶ Abb. 13.9), Mund-zu-Nase- (▶ Abb. 13.10) und Beutel-Masken-Beatmungen (S. 220) durchführen. Mund-zu-Mund-Beatmung • ▶ Abb. 13.9 Lagern Sie den Patienten in Rückenlage. ● Knien Sie sich seitlich neben den Patienten. ● Überstrecken Sie den Kopf des Patienten (S. 209). ● Legen Sie ein Beatmungstuch auf. ● Lassen Sie eine Hand auf der Stirn des Patienten liegen. Halten Sie mit den Fingern dieser Hand die Nase des Patienten zu, damit die Luft, die in den Mund geblasen wird, nicht durch die Nase ausströmen kann. ● Umschließen Sie mit den Lippen den leicht geöffneten Mund des Patienten und geben Sie 2 kontinuierliche, gleichmäßige Atemspenden ab. ● Lösen Sie nach jeder Atemspende den Mund vom Mund des Beatmeten, damit die Luft wieder ausströmen kann. ●

Die Atemspende soll jeweils nicht länger als 1–2 s dauern. Beobachten Sie, ob sich der Brustkorb des Patienten hebt und senkt (Anzeichen der erfolgreichen Beatmung). Geben Sie bei Erwachsenen ca. 500–600 ml Luft pro Atemzug ab. Die beiden Beatmungshübe sollten maximal 10 s dauern, damit die HDM möglichst kurz unterbrochen wird. Mund-zu-Nase-Beatmung • Diese Form der Atemspende ist indiziert, wenn es im Mundraum des Patienten Verletzungen oder nicht zu beseitigende Hindernisse gibt. Die Lagerung des Patienten und die Position des Helfenden sind wie bei der Mund-zu-Mund-Beatmung (▶ Abb. 13.10). Für die Atemspende verschließen Sie den Mund des Patienten, damit die Luft, die in seine Nase eingebracht wird, nicht durch den Mund ausströmt. Dazu schieben Sie mit der Hand, die am Kinn des Patienten liegt, den Unterkiefer nach oben. Umschließen Sie nun mit dem Mund die Nase des Patienten und geben Sie 2 Atemspenden ab. Lösen Sie nach jeder Atemspende Ihren Mund von der Nase des Beatmeten, damit die Luft wieder ausströmen kann. Beatmung mit Beatmungsbeutel und Maske • Diese Form der Beatmung wird im Rettungsdienst gewählt, wenn ein Larynxtubus nicht vorhanden ist oder nicht funktioniert. Für das Vorgehen siehe das Kapitel Arbeitstechniken (S. 220). Beatmung mit Larynxtubus • Durch den Einsatz eines Larynxtubus (LT) bei der Reanimation können die Unterbrechungen der HDM minimiert werden, da die HDM nicht mehr pausiert werden müssen, um die 2 Atemhübe zu verabreichen. Der LT schützt zudem bis zu einem gewissen Grad davor, dass Luft bei der Beatmung fälschlich in den Magen gelangt und dieser überbläht wird (kein 100 %iger Aspirationsschutz, aber die sicherste der hier aufgeführten Maßnahmen). Das Vorgehen beim Platzieren eines LT wird im Kapitel Arbeitstechniken beschrieben (S. 215). Während der Vorbereitungen muss ein anderer Helfer die HDM ohne Unterbrechung fortsetzen. Sobald der LT platziert ist, übernimmt ein Helfer eine kontinuierliche Beatmung mit einer Frequenz von 10 Atemzügen/min (Tipp: 2 s für das Einatmen, 2 s für das Ausatmen, 2 s Pause), während der andere Helfende die HDM kontinuierlich fortsetzt. Ist eine effektive Beatmung während der kontinuierlichen HDM nicht möglich, aber während einer HDM-Pause, kann die CPR auch mit liegendem LT im Verhältnis 30 HDM zu 2 Beatmungen fort-

323

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation Abb. 13.9 Mund-zu-Mund-Beatmung.

a

c

b

Lagern Sie den Patienten in Rückenlage, Sie knien neben ihm. a Überstrecken Sie den Kopf des Patienten. b Verschließen Sie die Nase des Patienten mit den Fingern der Hand, die auf dessen Stirn liegt, und geben Sie die Atemspende ab. c Kontrollieren Sie den Erfolg der Beatmung: Hebt sich der Brustkorb des Patienten nach jeder Atemspende? Lösen Sie nach der Atemspende den Mund vom Mund des Beatmeten, damit die Luft wieder ausströmen kann. Abb. 13.10 Mund-zu-Nase-Beatmung.

a

b

c

Lagern Sie den Patienten in Rückenlage, Sie knien neben ihm. a Überstrecken Sie den Kopf des Patienten. b Verschließen Sie den Mund des Patienten mit der Hand, die am Kinn des Patienten liegt, indem Sie den Unterkiefer leicht nach oben schieben. Führen Sie anschließend die Atemspenden durch. c Kontrollieren Sie den Erfolg der Beatmung: Hebt sich der Brustkorb des Patienten nach jeder Atemspende? Lösen Sie nach jeder Atemspende Ihren Mund von der Nase des Beatmeten, damit die Luft ausströmen kann. geführt werden. Während der Kontrollbeatmung kann es notwendig sein, die HDM kurz zu unterbrechen, um die Ein- und Ausatembewegungen zu beurteilen. Außerdem kann der Helfende, der die HDM durchführt, seine Hand (kurz!) auf den Oberkörper des Patienten legen, um die Beatmung zu fühlen. Es dürfen max. 2 Versuche unternommen werden, den LT korrekt zu platzieren, weitere Versuche wären Zeitverschwendung. Daher müssen Sie nach dem 2. Fehlversuch oder wenn Sie sich nicht sicher sind, ob die Beatmung erfolgreich ist, den LT entblocken und entfernen, um mit der Beutel-Masken-Beatmung (S. 220) fortzufahren.

! Merke Larynxtubus

RETTEN TO GO Beatmung ●





Der Larynxtubus ist für Rettungssanitäter das Mittel der Wahl für die Beatmung während einer Reanimation. Endotracheale Intubation • Die Intubation ist i. d. R. eine notärztliche Maßnahme (S. 212), da sie sehr viel Training erfordert, um erfolgreich durchgeführt werden zu können.

324



Anzeichen einer erfolgreichen Beatmung: Brustkorb des Patienten hebt und senkt sich wahrnehmbar. Verhältnis von HDM zu Beatmungen bei Erwachsenen 30:2 (= 30 HDM, dann 2 Beatmungshübe), Dauer der beiden Atemspenden insgesamt max. 10 s Larynxtubus: Mittel der Wahl für die Durchführung der Beatmung im Rettungsdienst; Vorteile: durchgängige HDM möglich (keine Unterbrechung der HDM, um zu beatmen), einfachere Platzierung als bei Endotrachealtubus, relativ guter Aspirationsschutz; maximal 2 Platzierungsversuche, sonst unnötige Zeitverschwendung. Nach dem 2. Fehlversuch zu einer Beutel-Masken-Beatmung wechseln. alternative Beatmungsmöglichkeiten, je nach Situation: Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Nase- und Beutel-MaskenBeatmung

Reanimation

Defibrillation

ACHTUNG

Funktionsprinzip • Mit dem Defibrillator (= „Schockgeber“, kurz „Defi“) kann das Herz bei lebensbedrohlichen Rhythmusstörungen (z. B. Kammerflimmern) in einen normalen Schlagrhythmus versetzt werden. Dazu schaltet der Defibrillator den Herzschlag sozusagen kurz ab, indem er die Erregungsleitung komplett blockiert. Das auf diese Weise stillgelegte Herz soll dann wieder von Neuem und im richtigen Rhythmus zu schlagen beginnen. Die Defibrillation bei Erwachsenen erfolgt mit einer Energie von 360 Joule monophasisch bzw. 150–200 J biphasisch (jeder weitere Schock 360 J monophasisch bzw. 150–200 J biphasisch). Neuere Defibrillatoren arbeiten biphasisch (d. h., der elektrische Impuls besteht aus 2 Phasen) und sind damit effektiver als die monophasische Geräte. Sie benötigen deutlich weniger elektrische Energie (150 J statt 360 J) und haben deshalb auch geringere Nebenwirkungen (z. B. Verbrennungen). Typen von Defibrillatoren automatische externe Defibrillatoren (AED):Eine Stimme leitet durch den gesamten Ablauf und gibt alle Tätigkeiten vor („Führen Sie 30 Herzdruckmassagen und 2 Beatmungen durch.“). Das Gerät löst nach Rhythmusanalyse selbstständig den Schock aus. ● halbautomatische Defibrillatoren (HD): Das Prinzip ist gleich wie bei AEDs, allerdings löst der Helfer den Schock mittels Knopfdruck aus. Diese Geräte werden in der Regel im Rettungsdienst eingesetzt. ● manuelle Defibrillatoren (MD, ▶ Abb. 13.4): Bei diesen Geräten müssen die Helfer nach Anlegen der Elektroden eigenständig den Rhythmus analysieren (schockbar oder nicht), die Stromstärke wählen und den Schock auslösen. ●

Indikationen • Eine Defibrillation ist nur bei den hyperdynamen Formen des HKS (Kammerflimmern und -flattern, pulslose ventrikuläre Tachykardie) sinnvoll, also wenn die elektrische Aktivität des Herzens zu schnell und unregelmäßig ist. Schlägt das Herz jedoch zu langsam oder gar nicht mehr (hypodyname Formen des HKS: Asystolie und pulslose elektrische Aktivität), hilft das Defibrillieren nicht (▶ Tab. 13.3).

Das EKG gibt lediglich Aufschluss über elektrische Aktivitäten – die Auswurfleistung des Herzens ist hier nicht zu erkennen, sondern muss z. B. durch eine Pulskontrolle an der Karotis sichergestellt werden! Bei der pulslosen elektrischen Aktivität (PEA, ▶ Tab. 13.3) sind im EKG zwar elektrische Aktionen zu sehen, die mitunter wie ein normaler Sinusrhythmus aussehen, das Herz wirft jedoch zu wenig oder kein Blut in die Körperperipherie aus (erkennbar am fehlenden Puls). Das bedeutet, der Patient hat trotz eines (nahezu) unauffälligen EKGs einen Herz-Kreislauf-Stillstand!

! Merke Keine Defibrillation bei Asystolie

In vielen Filmen oder Serien wird gezeigt, dass das EKG bei einem Patienten plötzlich eine Nulllinie zeigt (= Asystolie), begleitet von einem durchgehenden Piepton. Daraufhin wird der Patient entweder ohne Weiteres für tot erklärt oder es wird defibrilliert, häufig gleich mehrmals. Beides ist falsch: Das korrekte Vorgehen ist der sofortige Beginn von Herzdruckmassagen! Durchführung • Sobald der Defibrillator eingeschaltet ist, gibt die Stimme (bei automatischen und halbautomatischen Geräten) Anweisungen. Der Text ist bei jedem Gerät anders, lautet aber z. B.: „Entnehmen Sie die Elektroden und kleben Sie diese wie abgebildet auf den Brustkorb auf!“ Achten Sie beim Anbringen der Klebeelektroden auf Folgendes: ● Machen Sie den Oberkörper des Patienten frei (Kleidungsstücke öffnen). ● Trocknen Sie den Oberkörper ggf. ab (sonst Gefahr des Stromschlags). ● Entfernen Sie ggf. starke Brustbehaarung mit einem Einwegrasierer. ● Platzieren Sie die Klebeelektroden korrekt (▶ Abb. 13.11): Die Elektroden sind oft mit „Apex“ (links) und „Sternum“ (rechts) gekennzeichnet – es spielt jedoch keine Rolle, welche Elektrode links oder rechts angebracht wird. Wichtig ist: Der Strom muss durch das Herz fließen. ● Der 2. Helfer kümmert sich um die Beatmung (BeutelMaske oder Larynxtubus).

Tab. 13.3 Schockbare und nicht schockbare Herzrhythmen.

schockbare Rhythmen

Defibrillation sinnvoll?

Rhythmusstörung

ja

Kammerflimmern

EKG-Bild (Beispiel)

Kammerflattern

pulslose ventrikuläre Tachykardie (PVT)

nicht schockbare Rhythmen

nein

Asystolie pulslose elektrische Aktivität (PEA)

325

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation Abb. 13.11 Position der Elektroden bei der Defibrillation.

Video 13.1 Reanimation.

Über den Ablauf einer Reanimation mit frühzeitiger Defibrillation unter Einsatz eines AEDs gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/ Die elektrische Energie wird über zwei Klebeelektroden abgegeben. Foto: © K. Oborny, Thieme

Thieme

Die Defibrillation läuft nun folgendermaßen ab: ● Defibrillator: „Analyse läuft – Patienten nicht berühren!“ ● Team: Unterbrechung der Reanimation und Wechsel (Helfer 1 wechselt zum Kopf des Patienten für die Beatmung, Helfer 2 positioniert sich für die HDM). ● Defibrillator: „Schock empfohlen – den Patienten nicht berühren – Gerät lädt.“ ● Team: Beginnen Sie sofort wieder mit der HDM, um die „No-Flow“-Phase so kurz wie möglich zu halten – und zwar so lange, bis der Defibrillator aufgeladen ist. ● Defibrillator: Dauerton oder „Jetzt Schock abgeben“: Das Gerät ist aufgeladen und bereit für die Schockabgabe. ● Team: – HDM unterbrechen – RS: „Patient nicht berühren! Achtung, Schock!“ – Vergewissern Sie sich, dass der Patient nicht berührt wird. – Lösen Sie den Schock aus. – Führen Sie die HDM und Beatmungen im Verhältnis 30:2 sofort weiter (bzw. wenn LT liegt, ununterbrochene HDM und Beatmung 10/min). ● Defibrillator: „Schock abgegeben, führen Sie abwechselnd 30 Herzdruckmassagen und 2 Beatmungen durch!“

barem Material durch den Stromstoß). Unter folgenden Voraussetzungen darf der Defibrillator nicht benutzt werden: ● Ein Helfer hat noch direkten Körperkontakt mit dem Patienten: Gefahr eines Stromschlages für den Helfer! ● Der Patient liegt auf für Strom leitfähigem Untergrund (z. B. Schnee, nasse Wiese, Metall): Gefahr eines Stromschlags für alle, die mit dem leitfähigen Untergrund in Verbindung stehen! ● Der Beatmungsbeutel mit ausströmendem Sauerstoff befindet sich in unmittelbarer Nähe des Patienten: Der Sauerstoff kann sich durch die Schockabgabe entzünden. Bei Maskenbeatmung muss daher bei Schockabgabe immer ein Abstand von 0,5 m eingehalten werden! Diese Gefahr besteht bei einem geschlossenen System wie dem Larynxoder dem Endotrachealtubus nicht. ● Bei Explosionsgefahr in der Umgebung darf kein Schock abgegeben werden.

Die HDM sollten durch die Defibrillation so kurz wie möglich unterbrochen werden. Durch regelmäßige Trainings der Abläufe kann das Rettungsteam die Zusammenarbeit während der Reanimation verbessern. Defibrillation bei implantiertem Herzschrittmacher • Bei einer Defibrillation kann ein implantierter Herzschrittmacher Schaden nehmen, daher sollten die Elektroden nicht direkt auf dem Schrittmacher aufgeklebt, sondern etwas anders positioniert werden, z. B. vorne und hinten am Brustkorb oder die rechte Elektrode seitlich am Brustkorb oder am rechten oberen Rücken (linke Elektrode in Standardposition). Ob bei einem Patienten ein Schrittmacher implantiert wurde, können Sie z. B. an einem entsprechenden Armband oder an einer Narbe im Bereich des rechten oder linken Schlüsselbeins erkennen. Bei sehr schlanken Patienten können Sie den Herzschrittmacher evtl. durch die Haut sehen. Risiken der Defibrillation • Da der Defibrillator Stromimpulse abgibt, sind mit seinem Einsatz bestimmte Gefahren verbunden (z. B. Übertragung des Stroms durch leitfähiges Material → Stromschlag; Entzündung von leicht entflamm326

Fehlerquellen des Defibrillators • Funktioniert das Gerät nicht, müssen Sie nach Fehlerquellen suchen, möglichst ohne Unterbrechung der Reanimation. Gelingt es nicht, die Funktion des Defibrillators wiederherzustellen, werden die Wiederbelebungsmaßnahmen ohne Defibrillator fortgeführt.

! Merke Fehlerquellen von Defibrillatoren ● ● ● ●



Akku nicht aufgeladen Gerät oder Akku defekt Klebeelektroden defekt oder nicht angeschlossen Klebeelektroden haften nicht am nassen oder behaarten Oberkörper des Patienten. Analysefehler (z. B. durch starke elektromagnetische Felder)

Beendigung der Reanimation Die Reanimation wird so lange fortgeführt, bis notärztliche Unterstützung eintrifft und weitere Anweisungen erfolgen oder bis der Patient wieder Lebenszeichen zeigt, z. B. normal atmet, aufwacht, die Augen öffnet oder sich bewegt. Bei Lebenszeichen wird der Patient anhand des BAK-Schemas beurteilt. Atmet er weiterhin normal, setzen Sie die Überprüfung nach dem (c)ABCDE-Schema fort. Ist die Atmung nicht normal, muss die Reanimation weitergeführt werden. Reanimation bei Unterkühlung • Patienten mit HKS, bei denen eine Hypothermie (S. 402) besteht (z. B. Lawinen- oder Ertrinkungsopfer), müssen so lange reanimiert werden, bis

Reanimation die normale Körpertemperatur wieder erreicht ist: Die niedrige Körpertemperatur reduziert den O2-Verbrauch des Hirngewebes, sodass bei diesen Patienten mehr Zeit zur erfolgreichen Wiederbelebung bleibt als bei normaler Körpertemperatur. Erst wenn in der Zielklinik bei normaler Körperkerntemperatur kein Spontankreislauf einsetzt, soll die Reanimation beendet werden. Es gilt: „Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist!“

! Merke Reanimation beenden

Als Rettungssanitäter dürfen Sie eine Reanimation nicht selbstständig beenden, außer ... ● bei Lebenszeichen des Patienten (z. B. normale Atmung) oder ● bei Gefahr im Verzug für das Rettungsdienstpersonal (Eigensicherung). Weitere Entscheidungen über die Fortführung oder den Abbruch der Reanimation sind eine (not)ärztliche Aufgabe.

RETTEN TO GO Defibrillation ●







Grundprinzip: Bei der Defibrillation wird versucht, das Herz durch einen kurzen Stromstoß wieder in normalen Schlagrhythmus zu versetzen. Indikationen: Rhythmusstörungen mit erhöhter Frequenz („schockbare Rhythmen“: Kammerflimmern und -flattern, pulslose ventrikuläre Tachykardie); keine Defibrillation bei „nicht schockbaren Rhythmen“ (Asystolie, pulslose elektrische Aktivität) Vor dem Auslösen eines Schocks unbedingt beachten: – Gefahr des Stromschlags: kein Körperkontakt mit dem Patienten, keine Lagerung auf leitfähigen Untergrund (z. B. Schnee, nasse Wiese, Metall) – Feuergefahr: Halten Sie bei einer Maskenbeatmung bei der Schockabgabe immer einen Abstand von 0,5 m ein, da sich sonst der Sauerstoff aus dem Beatmungsbeutel entzünden kann (keine Gefahr bei Larynx- oder Endotrachealtubus). – Keine Schockabgabe in einer Umgebung, in der Explosionsgefahr besteht! – bei implantiertem Herzschrittmacher: Defibrillationselektrode neben den Herzschrittmacher kleben. Defibrillator funktioniert nicht: Fehlerquellen ausschalten, z. B. defekten oder nicht aufgeladenen Akku wechseln, defekte, nicht angeschlossene oder nicht haftende Klebeelektroden, falsche Analyseergebnisse

Erweiterte Maßnahmen Trifft notärztliche Unterstützung am Notfallort einer Reanimation ein, wird der Notarzt oder die Notärztin zunächst über die Situation informiert. Dann hat er oder sie v. a. folgende Aufgaben: ● Herzrhythmuskontrolle und Überwachung der Reanimation (korrekte HDM, Beatmung und Defibrillation) ● endotracheale Intubation (S. 212), um einen weitgehend sicheren Aspirationsschutz zu erreichen ● Anlage eines i. v.- oder i.o.-Zugangs, um VEL und Medikamente zu verabreichen ● Gabe von Medikamenten: Adrenalin (z. B. Suprarenin®) bei allen Patienten (Wiederholung alle 3–5 min), bei schockbaren Rhythmen zusätzlich Amiodaron (z. B. Cordarex®) ● reversible Ursachen behandeln: z. B. Lysetherapie bei Lungenembolie (S. 305), Entlastungspunktion bei Spannungspneumothorax (S. 387)

13.2.4 Erfolgreiche Reanimation Definition ROSC Der „Return of Spontaneous Ciruclation“ (ROSC) bezeichnet das Wiedereinsetzen eines spontanen und effektiven Herzschlags mit entsprechendem Blutfluss. Zeichen eines ROSC • Hinweise auf ein Wiedereintreten eines Spontankreislaufs sind u. a. „Lebenszeichen“ (z. B. Bewegungen, Spontanatmung), tastbarer Puls und ein mit dem Leben vereinbarer Rhythmus im EKG (z. B. Sinusrhythmus). Maßnahmen bei ROSC • Ein ROSC führt im Rettungsteam verständlicherweise zunächst zu großer Erleichterung – aber Vorsicht: Dies ist nur der erste Schritt zum Ziel einer möglichst vollständigen Erholung des Patienten. Zum einen besteht die Gefahr, dass erneut ein HKS eintritt (v. a., wenn die Ursache nicht behoben wurde), zum anderen kann der anhaltende Sauerstoffmangel die Organe des Patienten stark geschädigt haben: Es besteht die Gefahr eines Postreanimationssyndroms mit Multiorganversagen. Folgende Maßnahmen sind wichtig für die weitere Prognose: ● Pulskontrolle: Sobald am Überwachungsmonitor ein Herzrhythmus angezeigt wird, wird geprüft, ob das Herz tatsächlich Blut in den Kreislauf auswirft oder ob nur eine pulslose elektrische Aktivität (PEA) besteht. Dazu wird versucht, den Puls an den Extremitäten, am Hals oder in der Leiste zu tasten. – kein Puls tastbar: Fortsetzung der Reanimation – Puls tastbar: erneuter Basischeck (S. 320) ● Monitoring: regelmäßige Kontrollen der Vitalfunktionen, Überwachung von EKG, RR und Bewusstseinszustand ● O2-Therapie: Anheben der SpO2 auf 92–96 % ● Wärmemanagement: Anzustreben ist eine Körperkerntemperatur von 32–36 °C, ggf. Maßnahmen zur Erwärmung des Patienten (S. 249). ● medikamentöse Therapie nach notärztlicher Anordnung: z. B. VEL, Katecholamine zur Blutdruckstabilisierung ● Suche nach möglichen Ursachen des HKS: z. B. Inspektion der Umgebung bei Unfällen, Sichten von Patientenunterlagen, Gespräche mit Angehörigen oder Umstehenden; wichtig für die weitere Behandlung, aber auch zur Abschätzung des Rückfallrisikos ● schnellstmöglicher Transport unter notärztlicher Begleitung und Voranmeldung in eine geeignete Zielklinik

13.2.5 Erfolglose Reanimation Bricht der Notarzt oder die Notärztin die Reanimation ab (z. B. bei nicht schockbaren Rhythmen über einen längeren Zeitraum), muss das Rettungsteam unbedingt auf die Personen in der Umgebung achten. Meistens überbringt der Notarzt oder die Notärztin die Todesnachricht. Angehörige reagieren darauf sehr unterschiedlich, z. B. mit Trauer, Weinen oder auch mit Wut auf den Verstorbenen, Verleugnung, Schuldgefühlen oder kompletter Handlungsunfähigkeit („Schockstarre“). Beachten Sie folgende Punkte bei der Kommunikation mit Angehörigen (S. 170) in dieser schwierigen Situation: ● Vor allem bei natürlicher Todesursache im häuslichen Umfeld soll der Verstorbene nach Möglichkeit an einen Platz gebracht werden, an dem die Angehörigen sich in Ruhe verabschieden können (z. B. Lieblingsplatz im Wohnzimmer). Dabei werden Tuben o. ä. komplett entfernt. Der Patient wird so gelagert, dass er einen möglichst friedlichen Eindruck auf die Angehörigen macht. 327

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation





Es ist Aufgabe des Rettungsdienstes, sich darum zu kümmern, dass die Hinterbliebenen nicht allein zurückbleiben. Sind keine Freunde und/oder nahe Verwandte anwesend oder erreichbar oder ist die Trauerreaktion sehr heftig, können Sie über die Leitstelle ein Kriseninterventionsteam (S. 439) anfordern. Auch die Notfallseelsorge kann hilfreich sein. Denken Sie daran, sich nicht nur um Personen zu kümmern, die ihre Gefühle eindrucksvoll durch lautes Weinen oder Schreien zeigen! Besteht notärztlich der Verdacht auf eine unnatürliche oder unklare Todesursache, muss die Polizei hinzugezogen werden. In diesem Fall müssen Zugänge oder Tuben für die Rechtsmedizin so belassen werden. Beschlagt die Polizei den Leichnam, haben die Angehörigen erst später die Möglichkeit, sich zu verabschieden. Hier ist aber selbstverständlich ebenfalls eine intensive Betreuung und Kommunikation mit den Hinterbliebenen erforderlich.

Das Feststellen und Bescheinigen des Todes sind ärztliche Aufgaben (S. 251). Wurde der Tod ärztlich festgestellt und der Leichnam zur Verabschiedung durch die Angehörigen platziert, wird dies von RS, NotSan und NA protokolliert. Nach Ausstellen der Totenbescheinigung wird der Leichnam von einem Bestattungsunternehmen abgeholt.

RETTEN TO GO Erfolgreiche und erfolglose Reanimation ●







Das Wiedereintreten eines Spontankreislaufs (ROSC) ist erkennbar an Lebenszeichen (z. B. Wiedereinsetzen der Atmung), tastbarem Puls und dem EKG-Rhythmus (z. B. Sinusrhythmus). Maßnahmen bei ROSC: – Pulskontrolle – regelmäßige Kontrollen der Vitalfunktionen, Monitoring von EKG, RR und Bewusstseinszustand – Ziel-SpO2: 92–96 % – Körpertemperatur möglichst zwischen 32 °C und 36 °C halten – ggf. medikamentöse Therapie – Suche nach Ursache des HKD – schnellstmöglicher Transport mit NA in ein geeignetes Zielkrankenhaus Der Abbruch einer Reanimation ist eine ärztliche Entscheidung. Als RS dürfen Sie eine Reanimation vor Eintreffen des NA nur bei offensichtlichen Lebenszeichen des Patienten oder bei Eigengefährdung nicht beginnen oder ggf. abbrechen. nach Abbruch der Reanimation: psychische Betreuung der Personen in der Umgebung sicherstellen: durch Kriseninterventionsteam (über die Leitstelle anfordern) oder Nachbarn, Angehörige oder Notfallseelsorge. Todesfeststellung und -bescheinigung: ärztliche Aufgaben

Fallbeispiel Fortsetzung – Kammerflimmern und plötzliche Bewusstlosigkeit Die NA beginnt die kardiopulmonale Reanimation (CPR) ohne Zeitverzögerung mit der Herzdruckmassage (= HDM, Frequenz ca. 100/min) und weist einen RS an, sofort die beiden DefibrillatorKlebeelektroden auf den Thorax des Patienten zu kleben. Der RS klebt die Elektroden auf und lädt den Defibrillator auf Anweisung der NA mit 120 Joule. Die NA löst die 1. Defibrillation aus. Ein RS übernimmt danach umgehend die HDM. Auf Anweisung der NA wird ein Beatmungsbeutel mit Reservoir und O2-Anschluss für die Beatmung vorbereitet (ein RS übernimmt die Beatmung). Der NotSan zieht 2 × 10 ml Adrenalin und 2 Ampullen Amiodaron in Spritzen auf und legt sie bereit. Die NA begibt sich zum Kopf des Patienten und übernimmt die Beatmung mittels Maske und Beatmungsbeutel. Der NotSan bereitet die endotracheale Intubation vor. Noch vor dem Ende der ersten 2 Minuten Reanimation intubiert die NA den Patienten mit einem 8,0 mm starken Endotrachealtubus und weist die dadurch mögliche durchgängige HDM mit einer Frequenz von 100/min an. Der RS, der gerade die HDM ausführt, wechselt sich ab sofort alle 2 Minuten mit einem anderen Mitarbeitenden bei der HDM ab. Die Kapnometrie zeigt einen etCO2 von 15 mmHg an (korrekte Lage des Endotrachealtubus in der Trachea). Damit scheint eine korrekte Beatmung möglich, von einer suffizienten HDM ist auszugehen. Der Patient wird zunächst mit einer Frequenz von ca. 10 Beatmungen/min manuell beatmet. Sobald das Beatmungsgerät aus dem NEF einsatzbereit ist, wird damit die Beatmung weitergeführt. Nach erneuter Rhythmusanalyse wird der 2. Schock abgegeben. Da die NA und die Rettungsdienstmitarbeitenden ein eingespieltes Team sind, können die Reanimationsunterbrechungen unter 3–4 s gehalten werden. Nach dem 3. Schock werden 1 mg Adrenalin und 300 mg Amiodaron verabreicht. Die NA legt einen 328

weiteren i. v.-Zugang und entschließt sich zudem zur präklinischen Fibrinolyse (Lysetherapie). Grund dafür ist das anhaltende Kammerflimmern bei vorliegendem ST-Streckenhebungsinfarkt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Kreislaufstillstand auf eine Ischämie (Minderdurchblutung) des Myokards zurückzuführen ist. Die RS und NotSan wechseln sich alle 2 Minuten bei der HDM ab, um deren Qualität zu gewährleisten. Alle 2 Minuten wird erneut eine Rhythmusanalyse und bei weiterhin bestehendem schockbarem Rhythmus eine Defibrillation durchgeführt. Nach dem 5. Schock wird zusätzlich zu 1 mg Adrenalin nochmals 150 mg Amiodaron verabreicht. In weiterer Folge wird kein Amiodaron mehr benötigt, nach jedem 2. Schock werden weiterhin 1 mg Adrenalin verabreicht. Nach insgesamt 30 Minuten Reanimation ist bei der Rhythmusanalyse erstmals ein Sinusrhythmus mit einer Frequenz von 100/min zu erkennen. Außerdem sind keine ST-Streckenhebungen mehr im EKG zu sehen. Der Puls an den Extremitäten ist palpabel, zeigt also eine Auswurfleistung des Herzens, der systolische Druck liegt bei 80 mmHg. Die HDM wird daher beendet. Da sich das Zielkrankenhaus in unmittelbarer Nähe befindet, entscheidet sich die NA für den raschen Transport dorthin. Der Patient wird auf die Rettungstrage umgelagert und in den RTW gebracht. Nach wenigen Minuten trifft das Rettungsteam (nach Voralarmierung) mit dem Patienten im Schockraum des Krankenhauses ein. Die NA übergibt den Patienten an das Personal im Schockraum, der Patient wird einer Herzkatheteruntersuchung unterzogen. Sie zeigt Stenosen der Herzkranzgefäße, die im Rahmen des Herzkathetereingriffs saniert werden. Bereits nach wenigen Tagen Aufenthalt auf der Intensivstation kann der Patient in die kardiologische Rehabilitation entlassen werden.

Besonderheiten bei Kindern

13.3 Besonderheiten bei Kindern 13.3.1 Grundlagen Die Reanimation eines Kindes oder gar eines Säuglings oder Neugeborenen ist auch für erfahrene Rettungsdienstmitarbeitende eine seltene und belastende Notfallsituation. Die psychische Stresssituation, in der sich die Anwesenden (Eltern, Geschwister, sonstige Angehörige) befinden, stellt zusätzliche große Anforderungen an das fachliche Können und die organisatorischen Fähigkeiten der Helfenden. Pathophysiologie • Kinder können einen Abfall des Herzzeitvolumens schlechter kompensieren als Erwachsene (S. 525): Kann der Körper eines Kindes den RR-Abfall durch Erhöhung des Schlagvolumens oder der Herzfrequenz nicht mehr ausgleichen, entwickelt sich sehr schnelle Hypoxie.



(K – Kreislaufkontrolle): Das Tasten der Pulse wird bei Kindern (wie bei Erwachsenen) nicht mehr standardmäßig empfohlen. Nur bei Neugeborenen spielt die Bestimmung der Herzfrequenz eine wichtige Rolle (s. u.). Das Tasten eines Pulses bei Kindern ist auch für erfahrene Mitarbeitende des Rettungsdienstes sehr schwierig. Achten Sie daher primär auf Lebenszeichen wie Spontanbewegungen, Husten oder normale Atmung. Das Pulstasten kann an folgenden Stellen versucht werden: – Neugeborene: Pulsationen der Nabelschnur, Auskultation des Herzschlags am Oberkörper – Säuglinge: an der Oberarmarterie (A. brachialis) oder der Beinarterie in der Leiste (A. femoralis) – Kinder: am Hals (A. carotis)

! Merke Atemkontrolle

Die Atemkontrolle darf nicht länger als 10 Sekunden dauern. Dies soll verhindern, dass z. B. aus Unsicherheit zu lange mit dem Beginn der Reanimation gewartet wird.

ACHTUNG Eine niedrige Herzfrequenz (Bradykardie) ist bei Kindern immer ein Hinweis auf eine schwerwiegende Funktionsstörung des Kreislaufes mit der Gefahr eines Kreislaufversagens.

Abb. 13.12 Basismaßnahmen zur Reanimation von Kindern.

Wird der O2-Mangel durch O2-Gabe bzw. Beatmung behoben, erhöht sich die Herzfrequenz schnell wieder auf normale Werte. Deswegen (und auch weil dem HKS bei Kindern meist eine Störung der Atmung zugrunde liegt) ist die initiale Beatmung bei Kindern besonders wichtig! Ursachen • Bei Säuglingen und Kleinkindern sind akute respiratorische Funktionsstörungen die häufigste Ursache für einen HKS. Kardiale Ursachen sind deutlich seltener. Folgende Ursachen sind zu bedenken: ● Atemstörungen, z. B. Fremdkörperaspiration ● Herz-Kreislauf-Störungen, bei Kindern am häufigsten angeborene Herzfehler ● schwere Verletzungen ● BRUE/plötzlicher Kindstod (S. 433) ● Vergiftungen ● Ertrinkungsunfälle

13.3.2 Feststellen eines HKS und Reanimation von Kindern Basischeck Um einen HKS festzustellen, wird (wie bei Erwachsenen) ein Basischeck (S. 320) durchgeführt. Beachten Sie folgende Besonderheiten: ● B – Bewusstseinskontrolle: – Gesunde, reife Neugeborene sollten auf taktile Reize (z. B. Abtrocknen mit einem Handtuch, Streicheln der Extremitäten) Reaktionen zeigen. – Bei Säuglingen und Kindern kann die Bewusstseinsprüfung nach der Ansprache durch leichtes Rütteln an den Schultern oder den Extremitäten intensiviert werden. Schmerzreize (in früheren Leitlinien empfohlen) sind nicht erforderlich und werden nicht gesetzt. ● A – Atemkontrolle: Reagiert das Kind nicht, machen Sie die Atemwege frei und überprüfen Sie max. 10 s die Atmung. Säuglinge und Kleinkinder zeigen meistens eine Bauchatmung (S. 72), achten Sie daher besonders auf das Heben und Senken der Bauchdecke.

Basis-Reanimationsmaßnahmen bei Kindern (Pediatric Basic Life Support, PBLS). © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2021

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Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation Abb. 13.13 Erweiterte Maßnahmen zur Reanimation von Kindern.

Erweiterte Reanimationsmaßnahmen bei Kindern (European Pediatric Advanced Life Support, EPALS). © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2021

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Besonderheiten bei Kindern Abb. 13.14 Reanimation von Neugeborenen.

Algorithmus zur Reanimation von Neugeborenen (Newborn Life Support, NLS). © German Resuscitation Council (GRC) und Austrian Resuscitation Council (ARC) 2021.

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Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation

Notärztliche Unterstützung

Abb. 13.15 „Schnüffelposition“ zur Beatmung.

In der Regel schickt die Leitstelle bei Notfällen mit Kindern immer notärztliche Unterstützung mit an den Notfallort. Ist dies nicht der Fall und und Ihr Team trifft allein auf ein regloses Kind, müssen Sie so schnell wie möglich notärztliche Unterstützung nachfordern. „So schnell wie möglich“ bedeutet hier allerdings: Sie rufen die Leitstelle erst an, wenn 1 Minute lang reanimiert wurde. Diese Anweisung soll sicherstellen, dass die Reanimation so schnell wie möglich begonnen wird und der Notruf nicht wertvolle Zeit kostet. Sind weitere Personen vor Ort, können Sie diese anweisen, den Notruf abzusetzen. Dadurch können weitere professionelle Helfende früher am Ort des Geschehens sein und die laufende Reanimation unterstützen.

RETTEN TO GO Herz-Kreislauf-Stillstand bei Kindern ●





Ursachen: am häufigsten Störungen der Atmung, z. B. Fremdkörperaspiration Basischeck (BAK-Schema): – Bewusstsein bei Neugeborenen z. B. durch Streicheln der Extremitäten kontrollieren – Atemkontrolle: max. 10 s, auf Heben und Senken der Bauchdecke achten – Kreislauffunktion nicht standardmäßig testen Bei Notfällen mit Kindern schickt die Leitstelle i. d. R. sofort notärztliche Unterstützung an den Einsatzort. Falls nicht: So schnell wie möglich NA nachfordern, aber vorher 1 Minute lang reanimieren. Falls weitere Personen anwesend sind, Notruf delegieren.

Beginn der Reanimation Neugeborene • Eine Reanimation wird mit 5 Initialbeatmungen begonnen, wenn das Neugeborene in der Erstbeurteilung nach der Geburt (S. 488) ... ● keine ausreichende und regelmäßige Spontanatmung entwickelt hat oder ● die Herzfrequenz < 100/min liegt. Säuglinge und Kinder • Die Reanimation wird mit 5 Initialbeatmungen begonnen, wenn bei der Erstbeurteilung (BAKSchema) keine ausreichende und regelmäßige Spontanatmung festzustellen ist. Ablauf • ▶ Abb. 13.12, ▶ Abb. 13.13, ▶ Abb. 13.14

Beatmung Beginn und Frequenz der Beatmung • Die Reanimation von Neugeborenen, Säuglingen und Kindern beginnt, anders als bei Erwachsenen, mit 5 Beatmungen. Die Frequenz der Atemhübe (bei gesichertem Atemweg und kontinuierlicher Beatmung) ist abhängig vom Alter des Kindes: ● < 1 Jahr: 25/min ● 1–8 Jahre: 20/min ● 8–12 Jahre: 15/min ● > 12 Jahre: 10/min Bei Neugeborenen werden die 5 Beatmungen wiederholt, wenn sich der Brustkorb nach den ersten 5 Beatmungen nicht adäquat hebt und weiterhin keine Lebenszeichen fest332

Bei Neugeborenen und Säuglingen wird der Kopf zur Beatmung in die „Schnüffelposition“ gebracht, d. h. nur so weit gestreckt, dass Kopf, Rachen und Luftröhre eine Achse bilden und die Atemwege damit frei sind für die Beatmung. Um diese Position herzustellen, wird der Kopf um 1–2 cm gegenüber dem Rumpf erhöht (z. B. mit einem Handtuch unter den Schulterblättern).

zustellen sind. Erwägen Sie auch, den Esmarch-Handgriff (S. 209) und Atemwegshilfen anzuwenden. Lagerung Neugeborene und Säuglinge: Bringen Sie den Kopf in Neutralstellung („Schnüffelposition“, ▶ Abb. 13.15). Das Überstrecken des Kopfes würde die Atemwege verschließen: Der Kopf ist relativ größer als bei Erwachsenen und daher in Rückenlage nach vorne gebeugt (Verhältnis Kopf zur Körpergröße bei Kindern: 1 : 4, bei Erwachsenen 1 : 8). Sind keine Materialien für eine Unterpolsterung vorhanden, wird die Schnüffelposition durch den Kinn-ScheitelGriff (S. 209) und eine geringe Überstreckung hergestellt. ● Kinder > 1 Jahr: Überstrecken des Kopfes nach hinten (S. 209), wie bei Erwachsenen ●

Beatmungstechniken ● Neugeborene und Säuglinge: Mund und Nase liegen noch eng beieinander, daher erfolgt die Beatmung gleichzeitig über Mund und Nase. ● Kinder > 1 Jahr: Mund-zu-Mund-Beatmung (S. 323), Mund-zu-Nase-Beatmung (S. 323) oder Beutel-MaskenBeatmung (S. 220) mit C-Griff, wie bei Erwachsenen

ACHTUNG Achten Sie auf eine passende Maskengröße (S. 220) und auf ein passendes Beatmungsvolumen! Nur so können Sie das Kind suffizient beatmen, ohne die Lunge zu überblähen. Manche Beutel sind deshalb mit Überdruckventilen ausgestattet.

RETTEN TO GO Beginn der Reanimation bei Kindern ●



Indikationen zur Reanimation: – Neugeborene: keine ausreichende und regelmäßige Spontanatmung oder Herzfrequenz < 100/min – Säuglinge und Kinder: keine ausreichende und regelmäßige Spontanatmung Die Reanimation beginnt – im Unterschied zu Erwachsenen – mit 5 Beatmungen (Frequenz altersabhängig).

Besonderheiten bei Kindern



Lagerung: – Neugeborene und Säuglinge < 1 Jahr: Kopf in Neutralstellung („Schnüffelposition“) lagern, sonst Verschluss der Atemwege; Beatmung gleichzeitig über Mund und Nase (liegen noch eng beieinander) – Kinder > 1 Jahr: Kopf nach hinten überstrecken, dann Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Nase- oder Beutel-MaskenBeatmung mit C-Griff (wie bei Erwachsenen). Wichtig: Auf passende Maskengröße und Beatmungsvolumen achten, sonst keine effiziente Beatmung und Gefahr der Lungenüberblähung!

Herzdruckmassage (HDM) Grundprinzip • Im Unterschied zu Erwachsenen (S. 322) führt die HDM bei Kindern zu einer direkten Kompression des Herzens (elastischer Brustkorb). Die rhythmische Belastung und Entlastung des Brustkorbes drückt das Herz zwischen Brustbein und Wirbelsäule zusammen, sodass Blut aus dem Herzen ausgeworfen und ein Minimalkreislauf aufrechterhalten wird. Neugeborene • Waren die 5 Initialbeatmungen effektiv, wird die Herzfrequenz erneut gemessen: ● Herzfrequenz < 60/min: zusätzlich HDM; Verhältnis von HDM zu Beatmungen = 3 : 1 (1 oder 2 Helfende) ● Herzfrequenz zwischen 60 und 100/min: Fortführung der Beatmung, alle 30 s Kontrolle nach dem BAK-Schema (S. 329) – und zwar so lange, bis die Herzfrequenz > 100/ min gestiegen ist.

! Merke Verhältnis von HDM zu Beatmungen

Das Verhältnis von HDM zu Beatmungen ist bei Neugeborenen nur unter und unmittelbar nach der Geburt 3:1, danach bei allen Kindern 15:2 bzw. 30:2. Säuglinge und Kinder: • Nach den ersten 5 Beatmungen wird erneut ein Basischeck (S. 320) durchgeführt. Zeigt das Kind keine Reaktion und ist keine ausreichende Atmung vorhanden, wird die Reanimation im Verhältnis 15 HDM : 2 Beatmungen fortgeführt (2-Helfer-Methode) bzw. im Verhältnis 30 HDM : 2 Beatmungen (1-Helfer-Methode).

ACHTUNG Da die Beatmung bei der Reanimation von Säuglingen und Kindern besonders wichtig ist, müssen Sie sicherstellen, dass sie nicht durch die HDM behindert wird. Beatmungen und HDM dürfen nicht gleichzeitig erfolgen! Durchführung • Das Kind sollte für die Reanimation auf einer festen Unterlage liegen. Die HDM erfolgt bei Kindern unabhängig vom Alter über dem unteren Drittel des Brustbeins. Die Frequenz der HDM ist (wie bei Erwachsenen) 100–120/ min. Die Drucktiefe soll mindestens ein Drittel des Oberkörperdurchmessers (vorne bis hinten) betragen. Das Brustbein soll (wie bei Erwachsenen) nach jeder Kompression in seine Ausgangsposition zurückkehren. Bei Neugeborenen oder Säuglingen erfolgt die HDM entweder mit beiden Daumen (Neugeborene, 2-Helfer-Methode bei Säuglingen, ▶ Abb. 13.16a) oder mit Zeige- und Mittelfinger (1-Helfer-Methode bei Säuglingen, ▶ Abb. 13.16b). Bei Kindern > 1 Jahr wird der Thorax mit einem oder beiden Handballen komprimiert (▶ Abb. 13.16c).

Defibrillation Bei Kindern mit HKS bestehen nur sehr selten schockbare Rhythmen wie Kammerflimmern (▶ Tab. 13.3). Meistens ist die Herzfrequenz zu niedrig oder die Herzaktion fehlt vollständig (Asystolie). Daher ist eine Defibrillation bei Kindern sehr selten notwendig. AEDs können ab einem Alter von 8 Jahren eingesetzt werden, für kleinere Kinder können halbautomatische Defibrillatoren (S. 325) verwendet werden. Die Defibrillation bei Kindern wird mit 4 J/kg KG durchgeführt. Die Klebeelektroden sollten für 1- bis 8-Jährige kleiner sein als für Erwachsene. Finden die Klebeelektroden auf den vorgegebenen Körperregionen keinen Platz, werden sie vorne und hinten am Brustkorb auf Herzhöhe platziert.

Medikamentengabe Nur selten müssen bei der Reanimation von Kindern Medikamente gegeben werden. Eine Bradykardie ist meistens durch eine inadäquate Ventilation bzw. eine schwere Hypoxie verursacht. Bleibt die Herzfrequenz eines Neugeborenen trotz effektiver Beatmung (und anschließend HDM und Beatmung) < 60/min, ist die Gabe von Medikamenten zu erwä-

Abb. 13.16 Herzdruckmassage bei Neugeborenen und Kindern.

a

b

c

Die Technik der Thoraxkompressionen hängt vom Alter des Kindes ab und davon, ob 1 oder 2 Helfer verfügbar sind. a 2-Daumen-Technik für Neugeborene und 2-Helfer-Methode bei Säuglingen: Legen Sie beide Daumen flach nebeneinander in die Mitte des Brustbeins, Daumenspitzen in Richtung des Kopfes. Umfassen Sie mit den restlichen geschlossenen Fingern den seitlichen bzw. hinteren Teil des Brustkorbes. Die Fingerspitzen sollen am Rucken des Kindes liegen. b 2-Finger-Technik für die 1-Helfer-Methode bei Säuglingen: Komprimieren Sie den Brustkorb des Kindes mit dem Zeige- und dem Mittelfinger, Druckpunkt im unteren Drittel des Brustbeins. c Bei Kindern ab dem 2. Lebensjahr komprimieren Sie den Brustkorb mit einem oder beiden Handballen, je nach Größe des Kindes und Ihrer Hände. 333

13

Herz-Kreislauf-Stillstand und Reanimation gen. Bei Neugeborenen und Säuglingen ist die Venenpunktion u. U. sehr schwierig. Medikamente werden bei Neugeborenen am besten über einen Nabelvenenkatheter verabreicht, bei älteren Kindern über einen i.o.-Zugang (S. 110).

RETTEN TO GO Fortführen der Reanimation von Kindern

13.3.3 Beendigung einer Reanimation bei Neugeborenen Ob die Reanimation eines Neugeborenen beendet wird, ist eine (not)ärztliche Entscheidung! Die Entscheidung ist immer individuell zu treffen und häufig schwierig, es gibt keine klare Leitlinien. Besonders Umstände, die auf einen frühen Tod bzw. auf eine hohe Sterblichkeit hindeuten, beeinflussen die notärztliche Entscheidung über einen Reanimationsabbruch. Dies sind z. B. eine Geburt vor der 22. SSW, ein Geburtsgewicht < 400 g oder eine Anenzephalie des Kindes (große Teile des Gehirns fehlen). Ist bei einem gerade geborenen Kind keine Herzfrequenz nachweisbar, selbst nach 10 min Reanimation nicht, kann es angemessen sein, die Reanimation zu beenden. Liegt die Herzfrequenz nach der Geburt < 60/min und steigt sie trotz adäquater Reanimationsmaßnahmen nach 10–15 min nicht signifikant an, ist die Entscheidung deutlich schwieriger. Das versorgende Team sollte die Eltern unbedingt über den Zustand des Kindes unterrichten und, wenn möglich, auch dem Wunsch der Eltern nachkommen, bei der Reanimation dabei zu sein.

334







● ●



Die Beatmungen dürfen nicht durch HDM behindert werden, daher nie gleichzeitig HDM und Beatmung! Indikationen für HDM: – Neugeborene: Herzfrequenz nach effizienten 5 Beatmungen weiterhin < 60/min – Säuglinge und Kinder: nach 5 Beatmungen keine Reaktion und keine ausreichende Atmung Durchführung: Kompressionen über dem unteren Sternumdrittel, Frequenz 100–120/min, Drucktiefe mind. 1/3 des Oberkörperdurchmessers – Neugeborene und 2-Helfer-Methode bei Säuglingen: 2-Daumen-Technik – 1-Helfer-Methode bei Säuglingen: 2-Finger-Technik – Kinder > 1 Jahr: Kompressionen mit einem oder beiden Handballen Defibrillation: bei Kindern sehr selten notwendig Medikamente: bei Kindern sehr selten notwendig; Applikation bei Neugeborenen über Nabelvenenkatheter, bei älteren Kindern über i.o.-Zugang (periphere Venenpunktion oft sehr schwierig) Beendigung einer Reanimation bei Neugeborenen: notärztliche, oft schwierige Entscheidung

14

Gastrointestinale, endokrine und Stoffwechselnotfälle

Abb. 14.1 Head-Zonen.

14.1 Akutes Abdomen Definition Akutes Abdomen Das akute Abdomen (umgangssprachlich auch „akuter Bauch“) umfasst verschiedene Krankheitsbilder und Verletzungen, die mit plötzlich einsetzenden Bauchschmerzen einhergehen. Häufig bestehen begleitend eine Abwehrspannung („brettharter“ Bauch) und eine Schocksymptomatik. Ein akutes Abdomen ist oft lebensbedrohlich und erfordert rasches Handeln. In vielen Fällen ist eine operative Therapie in der Klinik nötig. Die Differenzialdiagnosen bei akutem Abdomen sind vielfältig. Aus den Leitsymptomen können Sie möglicherweise auf die zugrunde liegende Erkrankung und die Dringlichkeit einer Behandlung schließen. Die Versorgung erfolgt im Rettungsdienst i. d. R. einheitlich, also ohne Kenntnis der genauen Diagnose.

14.1.1 Leitsymptome Der akute Bauchschmerz Schmerzcharakter Grundsätzlich werden somatische und viszerale sowie neurogene und psychogene Schmerzen (S. 118) unterschieden. Viszerale Schmerzen • Diese Schmerzen stehen bei Patienten mit akutem Abdomen meist im Vordergrund: Sie entstehen dadurch, dass das die Organe umgebende Bauchfell (S. 81) durch eine Entzündung oder Schwellung gereizt wird. Auch 336

Zwerchfell Gallenblase Herz Speiseröhre

Magen Leber, Gallenblase Dünndarm Dickdarm Harnblase Niere und Hoden Viszerale Schmerzen können in bestimmte Hautareale (HeadZonen) ausstrahlen. Ursache dafür ist eine Verschaltung der sensiblen Nerven des Organs bzw. des Peritoneums und des Hautareals auf dieselben Neuronen eines Rückenmarksegments. Aus: Aumüller G, Aust G, Conrad A, Engele J, Kirsch J, Maio G, Mayerhofer A, Mense S, Reißig D et al., Hrsg. Duale Reihe Anatomie. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

starke Kontraktionen glatter Muskulatur führen zu viszeralen Schmerzen. Sie sind häufig schlecht zu lokalisieren (der Patient legt die Hand auf die schmerzende Gegend) und strahlen in die Umgebung aus – manchmal auch in Regionen, die von der Ursache der Schmerzen weiter entfernt sind (Head-Zonen, ▶ Abb. 14.1), z. B. eine Ausstrahlung der

Leitsymptome Akutes Abdomen

▶S. 336

Anamnese und Untersuchung Versorgung des Patienten

▶S. 341

▶S. 342 Gastrointestinale Blutungen

Appendizitis ▶S. 344

▶S. 343

Weitere entzündliche Darmerkrankungen

Entzündliche Erkrankungen Notfälle und Erkrankungen der Leber ▶S. 346

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens

Akute Pankreatitis

▶S. 345

▶S. 345

Gallensteinleiden ▶S. 348 Darmverschluss (Ileus) ▶S. 350 Bauchaortenaneurysma

▶S. 352

Akutes Abdomen bei Kindern

Grundlagen Diabetes mellitus

▶S. 352

Hyperglykämie und diabetisches Koma

▶S. 353

Notfallsituationen bei Diabetes mellitus

Hypoglykämie

▶S. 356

▶S. 358

Schilddrüsenüberfunktion ▶S. 359 Endokrine Erkrankungen und Notfälle

Schilddrüsenunterfunktion

▶S. 360

Unterfunktion der Nebennierenrinde

Schmerzen in die rechte Schulter bei einer Gallenkolik. Typische Ausprägungen viszeraler Schmerzen sind: ● dumpf, drückend: z. B. bei Appendizitis (S. 344), Pankreatitis (S. 345) ● krampfartig, heftig, oft verbunden mit Übelkeit und Erbrechen: z. B. bei Gallen- (S. 348) oder Nierenkolik (S. 495) ● brennend: z. B. bei Entzündungen des Magens oder der Speiseröhre ● stechend, drückend: z. B. bei Herzinfarkt (S. 300) Somatische Schmerzen ● Oberflächenschmerzen entstehen durch eine Reizung von Schmerzrezeptoren. Typisch ist direkt nach der Reizung ein stechender/heller, gut lokalisierbarer Schmerz (der Patient zeigt mit dem Finger auf die schmerzende Stelle). Kurze Zeit später wird daraus ein länger anhaltender, dumpfer Schmerz, der stärker ausstrahlt und nicht mehr genau lokalisierbar ist. Eine typische Ursache sind oberflächliche Entzündungen. ● Tiefenschmerzen werden durch eine Reizung von Schmerzrezeptoren in Muskeln, Gelenken, Knochen oder auch im äußeren Blatt des Bauchfells (S. 81) verursacht. Die Schmerzen werden als dumpf bis scharf und spitz beschrieben. Typische Auslöser sind z. B. das Übergreifen einer Entzündung (z. B. einer Appendizitis) auf die Umgebung oder der Durchbruch eines Hohlorgans mit Bauchfellentzündung (Peritonitis). Typische Tiefenschmerzen sind außerdem Kopf- und Gelenkschmerzen.

Abb. 14.2 Schmerztypen bei abdominellen Erkrankungen.

Diagnose

Schmerztyp Gallenkolik

Harnsteinkolik

mechanischer Ileus

Ulkusperforation

Mesenterialinfarkt

Gallenblasenperforation

Appendizitis

Pankreatitis

Gallenblasenentzündung

Kolik

Perforation

Entzündung

Der Schmerztyp weist auf die Ursache der Schmerzen hin.

Zeitlicher Verlauf der Schmerzen Der zeitliche Verlauf von Bauchschmerzen erlaubt eine Eingrenzung der möglichen Diagnosen (▶ Abb. 14.2): ● Kolikschmerzen nehmen wellenförmig zu und ab und gehen oft mit vegetativen Symptomen wie Kaltschweißigkeit, Übelkeit und Erbrechen einher. Ursache ist meist ein Abflusshindernis in den Gallen- oder den ableitenden

▶S. 361



Harnwegen, siehe Gallen- (S. 348) bzw. Nierenkolik (S. 495). Die glatte Muskulatur zieht sich krampfartig zusammen, um gegen dieses Hindernis anzuarbeiten. Ähnliche Beschwerden kann ein Darmverschluss (S. 350) hervorrufen. Bewegung lindert die Schmerzen häufig: Die Betroffenen winden sich im Liegen oder gehen umher. Entzündungsschmerzen sind anfangs eher gering, nehmen aber stetig zu und werden immer diffuser. Bewegungen verschlimmern den Schmerz: Die Patienten nehmen daher eine Schonhaltung mit gekrümmtem Rücken und angewinkelten Beinen ein. Typische Ursachen sind eine Pankreatitis (S. 345) oder Appendizitis (S. 344).

337

AKUTES ABDOMEN Symptomkomplex aus:

(c)ABCDE-SCHEMA

• akut einsetzenden, starken Bauchschmerzen • Abwehrspannung der Bauchdecke (lokalisiert oder generalisiert) • akuter Kreislaufinstabilität bis hin zum Schock Häufige Begleitsymptome: Übelkeit, Erbrechen, Veränderungen des Stuhlgangs, schlechter Allgemeinzustand

HÄUFIGSTE URSACHEN

• akute Appendizitis • akute Cholezystitis • Ileus

ANAMNESE SAMPLER-SCHEMA WICHTIGE FRAGEN: •Übelkeit? Erbrechen? •Wie sah das Erbrochene aus? •Häufigkeit des Stuhlgangs heute und letzte Woche? •Wie sah der Stuhl aus?

OPQRST-SCHEMA

ALLE QUADRANTEN

MITTELBAUCH

u.a. Abdominaltrauma

u.a. mechanischer Ileus Appendizitis Pankreatitis Mesenterialinfarkt Volvulus/Invagination Stoffwechselerkrankungen (z.B. diabetische Ketoazidose) Aortenaneurysmaruptur

RECHTER OBERBAUCH u.a. Cholezystitis Cholelithiasis Nierenkolik

LINKER OBERBAUCH u.a. Akutes Koronarsyndrom/ Myokardinfarkt Aortenaneurysmaruptur Pankreatitis Nierenkolik perforiertes Magengeschwür

RECHTER UNTERBAUCH

LINKER UNTERBAUCH

u.a. Appendizitis Divertikulitis Eileiterschwangerschaft Ovarialtorsion Hodentorsion Hernieneinklemmung

u.a. Divertikulitis Aortenaneurysmaruptur Eileiterschwangerschaft Ovarialtorsion Hodentorsion Hernieneinklemmung

IPPA(F)-SCHEMA ! ACHTUNG: AUSKULTATION VOR PALPATION

Inspektion •Aufgetriebenes Abdomen? Vorwölbungen? •Hämatome? Hautkolorit?

Auskultation alle 4 Quadranten • Abgeschwächte/fehlende Darmgeräusche (z.B. bei Peritonitis oder paralytischem Ileus)? • Massiv verstärkte Darmgeräusche (z.B. bei mechanischem Ileus)?

Palpation aller 4 Quadranten: • Bruchpforten tastbar? • Druckschmerz (falls vom Patient toleriert)? • Loslassschmerz? • Schmerzausdruck im Gesicht des Patienten beobachten!

bei Appendizitisverdacht: • Druckschmerz am McBurneyund/oder Lanz-Punkt • Loslassschmerz (Blumberg-Zeichen) • Psoas-Zeichen • Rovsing-Zeichen Bei einem positiven Zeichen: Schmerzprovokation beenden!

Perkussion •Hohles Geräusch (bei Gasansammlung im Abdomen)? •Schwappendes Geräusch (z.B. bei Aszites)? •Erschütterungsschmerz (z.B. bei Cholezystitis)?

! POTENZIELL LEBENSBEDROHLICHER ZUSTAND → rasches Handeln erforderlich → in der Regel einheitliche Versorgung ohne Kenntnis der genauen Ursache

regelmäßige Reevaluierung: Zustand kann sich akut verschlechtern!

!

ACHTUNG: •stärkste Schmerzen •bretthartes Abdomen •instabiler Kreislauf •Vigilanzstörung

!

LOAD AND GO! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

14

Gastrointestinale Notfälle



Perforationsschmerzen (Vernichtungs- oder Zerreißungsschmerzen) beginnen plötzlich und sind sehr heftig („messerstichartig“). Dieses Schmerzmaximum entsteht durch den Durchbruch (Perforation) eines Organs, z. B. durch Defekte in der Magen- oder Zwölffingerdarmwand (Ulkusperforation). Anschließend bessern sich die Schmerzen häufig kurzfristig, bis der Magen-/Darminhalt in der Bauchhöhle eine Entzündungsreaktion mit kontinuierlichen Schmerzen auslöst (Peritonitis).

Schmerzlokalisation Das Abdomen wird in 4 Quadranten und den Mittelbauch eingeteilt. Die Lokalisation der Schmerzen hilft bei der Eingrenzung der Differenzialdiagnosen (siehe Infografik).

Übelkeit und Erbrechen Mögliche Ursachen • Übelkeit (Nausea) und Erbrechen (Emesis) sind unspezifische Symptome, die zwar recht häufig bei Patienten mit Bauchschmerzen vorkommen, aber nicht zwingend auf eine Erkrankung im Abdomen hindeuten. Beispielsweise klagen viele Frauen in der Frühschwangerschaft über Übelkeit und Erbrechen (S. 474). Weitere typische Ursachen sind ein erhöhter Hirndruck, z. B. nach einem Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) oder durch einen Hirntumor, eine Migräneattacke (S. 425), eine Meningitis (S. 432), ein Glaukomanfall (S. 472), Schwindelerkrankungen (S. 457) und eine diabetische Ketoazidose (S. 356). Aussehen des Erbrochenen Grünlich-gelbes Erbrochenes, das laut dem Patienten bitter schmeckt, spricht für eine Magen-Darm-Infektion (Galleerbrechen). ● Koterbrechen (Miserere) weist auf einen mechanischen Ileus (S. 350) hin. ● Das Erbrechen von Blut (Hämatemesis) ist immer ein Hinweis auf eine schwere Erkrankung des Magens oder der Speiseröhre. Meist besteht akute Lebensgefahr. Die Farbe des Erbrochenen gibt Hinweise auf die Lokalisation der Blutung (▶ Abb. 14.3): – hellrotes Blut: Blutung aus dem Ösophagus, sehr schwere Magenblutung – „kaffeesatzartiges“ Erbrechen (▶ Abb. 14.4a): Blutung aus dem Magen, da das Blut durch den längeren Kontakt mit Magensäure bräunlich ausflockt ●

Abwehrspannung Normalerweise ist der Bauch beim Abtasten weich. Schmerzen können jedoch zu einer reflektorischen Verkrampfung der Bauchdeckenmuskulatur führen. ● Eine lokalisierte Abwehrspannung im Bereich einer Entzündung ist z. B. bei einer Appendizitis zu beobachten. ● Gelangen Speisereste, Magensäure oder Fäkalien durch eine Hohlorganperforation („Durchbruch“ des erkrankten Organs) in die Bauchhöhle, entsteht eine Peritonitis mit Anspannung der gesamten Bauchdecke, einer generalisierten Abwehrspannung („brettharter Bauch“).

! Merke Hohlorganperforation ●



Bei einer gedeckten Perforation wird der Einriss des Hohlorgans durch benachbarte Organe oder das Bauchfell abgedichtet. Bei freien Perforationen breiten sich ausgetretene Stoffe (Speisebrei, Stuhl, Verdauungsenzyme) ungehindert im Bauchraum aus.

Veränderungen des Stuhlgangs Durchfall (Diarrhö) • Der Patient hat mehr als 3-mal am Tag Stuhlgang, der Wassergehalt des Stuhls ist erhöht. Durchfall kann ein Begleitsymptom bei Bauchschmerzen sein oder das Hauptsymptom einer Gastroenteritis (S. 151) mit Gefahr einer Austrocknung.

Abb. 14.3 Blutungsquellen bei gastrointestinalen Blutungen.

Farbe des Erbrochenen

Quelle der Blutung

Farbe des Blutes im Stuhl

schwarz Magenkörper und Duodenum

schwarz

rot

Dünndarm

Speiseröhre und Magenfundus

dunkelrot

hellrot

Dickdarm

Je nach Lage der Blutungsquelle wird das Blut erbrochen oder über den Stuhl ausgeschieden. Auch die Farbe der Ausscheidung gibt Hinweise auf die Blutungsquelle. 340

Akutes Abdomen Abb. 14.4 Gastrointestinale Blutungen.

a

c

b

Die Farbe und Beschaffenheit der Ausscheidungen kann auf die Blutungsquelle hinweisen. a Kaffeesatzartiges Erbrechen. b Teerstuhl. c Hellrote Blutauflagerungen auf dem Stuhl. Aus: Füeßl H, Middeke M, Hrsg. Duale Reihe Anamnese und klinische Untersuchung. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022

Verstopfung (Obstipation) • Die Patienten haben weniger als 3-mal/Woche Stuhlgang, der Stuhlgang ist erschwert und/ oder schmerzhaft. Eine Obstipation kann im schlimmsten Fall zum Darmverschluss (S. 350) führen. Farbveränderungen des Stuhlgangs Auffallend heller bis lehmfarbener Stuhl weist auf eine Gallenabflussstörung hin, z. B. bei Gallensteinen (S. 348): Der Gallenfarbstoff gelangt nicht in den Stuhl, die Fettverdauung ist durch das Fehlen der Gallensäuren reduziert. ● Hell- bis dunkelrote Auflagerungen auf dem Stuhl weisen auf eine Blutung im Enddarm oder im Analbereich hin. ● Schwarzer Teerstuhl (▶ Abb. 14.4b) ist bei Blutungen im oberen Verdauungstrakt zu sehen: Das Blut ist durch die bakterielle Zersetzung des Hämoglobins bei der Verdauung glänzend schwarz geworden. ●

RETTEN TO GO Leitsymptome bei akutem Abdomen ●







Schmerzen präsentieren sich abhängig von der Ursache sehr unterschiedlich, z. B. dumpf/diffus (z. B. bei Appendizitis), krampfartig (z. B. bei Nieren- oder Gallenkolik), brennend (z. B. bei Magenschleimhautentzündung), stechend (z. B. bei Herzinfarkt) oder messerstichartig (z. B. bei Durchbruch eines Magengeschwürs). Abwehrspannung: Schmerzen führen zu lokalen oder diffusen Verkrampfungen der Bauchdeckenmuskulatur bis zum „brettharten Bauch“. Übelkeit und Erbrechen können auf viele Erkrankungen hinweisen, z. B. abdominelle Erkrankungen, aber auch auf einen erhöhten Hirndruck, einen Glaukomanfall oder eine bakterielle Meningitis. Die Beschaffenheit des Erbrochenen kann Hinweise auf mögliche Ursachen geben (z. B. Koterbrechen bei Darmverschluss). Bluterbrechen ist ein Hinweis auf akute Lebensgefahr! Veränderungen des Stuhlgangs: Durchfall und Verstopfung können sich als Notfälle präsentieren, v. a. bei einer Dehydratation oder einem Darmverschluss. Blutauflagerungen auf dem Stuhl weisen auf Blutungen im Bereich des Enddarms oder des Anus hin, Teerstuhl auf eine Blutung im oberen Verdauungstrakt.

14.1.2 Anamnese und Untersuchung Anamnese • Für eine vollständige Anamnese bieten sich das SAMPLER(S)- (S. 193) und das OPQRST-Schema (S. 195) an. Wichtige Zusatzfragen bei akuten Bauchschmerzen: ● Leiden Sie unter Übelkeit und Erbrechen? Wie hat das Erbrochene ausgesehen? Kaffeesatzartig oder blutig? ● Wie oft hatten Sie heute bzw. in der letzten Woche Stuhlgang? Wie hat der Stuhlgang ausgesehen? Dunkel, unangenehmer Stuhlgeruch (Teerstuhl)? Frisches Blut? ● Denken Sie bei Frauen im gebärfähigen Alter an die Möglichkeit einer Schwangerschaft: Wann war die letzte Regelblutung? Könnten Sie schwanger sein? Untersuchung ● Betrachten (Inspektion): – Erfassen Sie den Gesamtzustand: Ist der Patient unruhig? Wie ist der Allgemeinzustand? Nimmt er eine Schonhaltung ein? – Beurteilen Sie die Haut des Patienten: z. B. kaltschweißig, gelblich (Ikterus), „blaue Flecke“/Hämatome, Vorwölbungen, Narben, aufgetriebenes Abdomen? – Sehen Sie sich ggf. Ausscheidungen an. ● Abhören mit Stethoskop (Auskultation): Sind Darmgeräusche zu hören? – fehlende Darmgeräusche: paralytischer Ileus (S. 350) – verstärkte Darmgeräusche („Plätschern im Bauch“): Magen-Darm-Infekte – massiv verstärkte, z. T. metallisch klingende Darmgeräusche: mechanischer Ileus (S. 350) mit Passagehindernis

ACHTUNG Die Darmauskultation ist schwierig und erfordert viel Übung. Gerade im Rettungsdienst vermindern Hintergrundgeräusche häufig die Aussagekraft. Auskultieren Sie den Bauch immer vor der Palpation, da das Palpieren die Darmgeräusche anregt und somit verfälschen kann. Opioide und Spasmolytika hemmen die glatte Muskulatur und damit die Darmperistaltik und sollten erst nach der Palpation verabreicht werden. ●

Tastuntersuchung (Palpation, ▶ Video 14.1): – Tasten Sie zunächst sanft: Abwehrspannung, reflektorische Muskelspannung, „bretthartes“ Abdomen? Eine tastbar überfüllte Harnblase weist auf einen Harnverhalt (S. 494) hin. 341

14

Gastrointestinale Notfälle Video 14.1 Palpation des Abdomens.

Abb. 14.5 Bauchdeckenentspannte Lagerung.

Zur Palpation des Abdomens gibt es ein Video! Aus: retten – Notfall-

Die Knie des Patienten werden leicht angewinkelt, um die Bauchdecke zu entlasten. Aus: retten - Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme;

sanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

2023; Foto: © K. Oborny/Thieme.

Video 14.2 Perkussion des Abdomens.

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Zur Perkussion des Abdomens gibt es ein Video! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme



– Tasten Sie nun tiefer und beobachten Sie dabei das Gesicht des Patienten (Schmerzausdruck?): Druckschmerzen werden durch Eindrücken der Bauchdecke ausgelöst oder verstärkt, Loslassschmerzen hingegen durch schnelles Loslassen nach Eindrücken der Bauchdecke. Abklopfen (Perkussion, ▶ Video 14.2): – Bei Gasansammlungen (Meteorismus, geblähtes Abdomen) klingt der Bauch beim Beklopfen hohl. – Typisch für einen Aszites (S. 346) sind schwabbernde Geräusche, ein ausladender Bauch und häufig ein vorgewölbter Bauchnabel.

– nicht kritisch eingeschätzte Patienten: O2 bei Bedarf (z. B. bei SpO2 < 92 %) – falls SpO2 nicht messbar, z. B. bei kalten Extremitäten: Ein Sauerstoffmangel ist zu vermuten, es wird mit hohem Flow (10–15 l/min) therapiert. ggf. Intubation vorbereiten und Material anreichen Wärmeerhalt und Patienten beruhigen

Erweiterte Maßnahmen • Bei Kolikschmerzen stehen die Spasmolyse (z. B. mit Butylscopolamin – Buscopan®) und die Analgesie (z. B. mit dem krampflösenden Metamizol – Novalgin®) im Vordergrund, bei starken Schmerzen ggf. auch Opioide. Der Patient sollte durch die Medikation jedoch nicht völlig schmerzfrei sein, sodass er in der Klinik noch Auskunft über die Schmerzlokalisation geben kann. Bei Volumenmangelschock werden großzügig Vollelektrolytlösungen (VEL) gegeben, maximal 1000 ml. Je nach Art des vermuteten Volumenmangels (z. B. Blutung, Sepsis) werden niedrige (RRsyst 90 mmHg) bis normale (RRsyst 120 mmHg) Blutdruckwerte angestrebt. Frühzeitig muss v. a. bei Erbrechen und oberer GI-Blutung an einen Aspirationsschutz (stabile Seitenlage, Absaugbereitschaft) gedacht werden, ggf. Narkose und Intubation. Da die Ursache eines akuten Abdomens meist operativ behandelt werden muss, werden die Patienten sehr zügig und schonend in eine geeignete Klinik mit chirurgischer Abteilung transportiert. Für die Versorgung von Frauen mit akutem Abdomen sollte eine Klinik mit gynäkologischer Abteilung gewählt werden.

14.1.3 Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, Temperatur, BZ (v. a. bei bekanntem Diabetes mellitus); EKG, v. a. bei Oberbauchschmerzen 12-Kanal-EKG zur Abklärung eines Herzinfarkts (S. 300) ● bei Schmerzen Lagerung mit Entlastung der Bauchdecke (Knie anwinkeln, z. B. mit einer Knierolle, ▶ Abb. 14.5), ansonsten je nach Patientenzustand, ggf. Schocklagerung, stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit ● Ess-, Trink- und Rauchverbot (falls Operation nötig!) ● je nach Kreislaufsituation Vorbereiten eines i. v.-Zugangs (evtl. mit Blutentnahme), VEL und Medikation ● O2-Gabe: – potenziell kritisch eingeschätzte Patienten: initial hochdosiert (10–15 l/min), dann je nach Zustand und SpO2 342

RETTEN TO GO Akutes Abdomen ●



Definition: oft lebensbedrohliches Krankheitsbild mit akuten, starken Bauchschmerzen, häufig kombiniert mit Abwehrspannung und Schocksymptomatik ToDo: Sicherstellen der Vitalfunktionen, erste Suche nach möglichen Ursachen, Linderung der Symptome (Schmerztherapie, Volumengabe), rascher Transport in eine Klinik mit chirurgischer Abteilung (bei Frauen zusätzlich mit gynäkologischer Abteilung)

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens

14.2 Notfälle und Erkrankungen des Abdomens

Abb. 14.6 Ösophagusvarizen.

erweiterte Venen in der Ösophaguswand

14.2.1 Gastrointestinale Blutungen

Ösophagus

Fallbeispiel Folgenschweres Abendbrot* Sie werden am frühen Abend zu einem Mann mittleren Alters gerufen. Am Notfallort bietet sich ein dramatisches Bild: Die Tochter, die den Rettungsdienst gerufen hat, sieht hilflos zu, wie ihr Vater wieder und wieder Blut erbricht. Der Mann, Herr M., ist blass und atmet schnell. Während ihr Kollege den Patienten erstversorgt, erfahren Sie von der Tochter, dass ihr Vater schwer alkoholkrank gewesen sei. Nun sei er seit 1 Jahr „trocken“. Allerdings habe der Hausarzt von Leberschäden gesprochen. Gerade eben hätten Vater und Tochter gemeinsam zu Abend gegessen. Dabei habe sich der Vater beschwert, dass das Brot wohl vom Vortag sei – „so eine harte Rinde“. Ein Bissen, und schon habe das Bluterbrechen begonnen … *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

erweiterte Venen in der Magenwand

Magen

a

b

Ein Pfortaderhochdruck führt zur Erweiterung von Venen in der Wand des Ösophagus und des Mageneingangs. Es entstehen Varizen (Krampfadern), die aufgrund ihrer oberflächlichen Lage leicht verletzt werden können. a Schematische Darstellung der erweiterten Venen unter der Schleimhaut. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

b In der Ösophagusspiegelung sind die prall gefüllten Venen als Vorwölbungen zu erkennen. Aus: Neurath M, Lohse A, Hrsg. Checkliste Anamnese und klinische Untersuchung. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

Grundlagen Synonym • Blutungen im Verdauungstrakt

Definition Gastrointestinale Blutung Eine gastrointestinale Blutung (GI-Blutung) ist definiert als ein akuter oder chronischer Blutverlust im Magen-Darm-Trakt: ● obere gastrointestinale Blutung: Blutungsquelle in der Speiseröhre, im Magen oder im Zwölffingerdarm ● untere gastrointestinale Blutung: Blutungsquelle im Dünndarm, Dickdarm oder Enddarm

Ursachen einer oberen GI-Blutung Gastroduodenale Ulkuskrankheit • Ein Ulkus (Geschwür) im Magen oder Duodenum ist ein entzündlich bedingter Defekt in der Schleimhaut- und Muskelschicht, meist als Folge einer chronischen Magenschleimhautentzündung (chronischen Gastritis) durch ein Ungleichgewicht zwischen dem schützenden Magenschleim und der aggressiven Magensäure (S. 78). Die häufigsten Ursachen sind eine Infektion mit dem Bakterium Helicobacter pylori und die längere Einnahme von NSAR (S. 120). Typische Symptome eines Magenulkus sind diffuse Oberbauchschmerzen, v. a. nach dem Essen. Bei einem Duodenalulkus bestehen eher punktförmige Oberbauchschmerzen, v. a. im nüchternen Zustand und nachts. Schädigungen der Blutgefäße in der Nähe des Geschwürs sind die häufigste Ursache oberer GI-Blutungen. Eine weitere Komplikation ist eine Perforation: Das Gewebe wird so tief geschädigt, dass eine Verbindung zwischen Magen oder Zwölffingerdarm und der Bauchhöhle entsteht. Dies führt zu akut einsetzenden Perforationsschmerzen (S. 337), einer Peritonitis und häufig einem Schockzustand. Ösophagusvarizen • Diese erweiterten Venen („Krampfadern“) im Ösophagus oder Mageneingang (▶ Abb. 14.6) entstehen bei einem zu hohem Druck in der Pfortader (Pfortaderhochdruck, portale Hypertension). Die typische Ursache ist eine Leberzirrhose (S. 346): Die Pfortader transportiert das venöse Blut aus dem Magen-Darm-Trakt zur Leber, von dort fließt es weiter zum rechten Herzen. Durch den bindegewebigen Umbau der Leber sind die Blutgefäße

in der Leber verengt und der Druck in der Pfortader steigt an. Das Blut sucht sich nun zusätzlich andere Wege zum Herzen, u. a. über Venen der Speiseröhre. Ösophagusvarizen liegen direkt unter der Schleimhaut und können z. B. beim Schlucken harter Speisen platzen und bluten. Diese Blutungen sind fast immer lebensbedrohlich! Weitere Ursachen • Auch Schleimhautentzündungen im Ösophagus bei chronischem „Sodbrennen“ (Refluxösophagitis), Einrisse der Speiseröhrenschleimhaut nach starkem Erbrechen oder Tumoren können obere GI-Blutungen auslösen.

Ursachen einer unteren GI-Blutung Blutungen aus dem Enddarm (anorektale Blutungen) entstehen meistens durch Hämorrhoiden. Typische Ursachen für Darmblutungen bei älteren Patienten sind Gefäßfehlbildungen, Divertikel (S. 345) und Tumoren, bei jüngeren Patienten chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (S. 345).

Symptomatik Ösophagusvarizenblutungen • Häufig berichten die Betroffenen über einen kurzen, sehr starken Schmerz, wenn die Varize aufreißt. Anschließend erbrechen sie frisches, rotes Blut. Je nach Ausmaß der Blutung entwickelt sich rasch ein hypovolämischer Schock (S. 289). Blutung aus dem Magen oder Duodenum • Bei Blutungen aufgrund eines Ulkus hatten die meisten Betroffenen bereits seit einigen Wochen oder Monaten Beschwerden (s. o.). Bei starken Blutungen erbrechen sie eine kaffeesatzartige Substanz (▶ Abb. 14.4a). Bei leichten Blutungen kann Teerstuhl das einzige Symptom sein (▶ Abb. 14.4b). Auch hier kann sich, je nach Stärke der Blutung und der Entzündungsreaktion, ein Schock entwickeln. Untere GI-Blutung • Viele Patienten berichten über Schmerzen im Unterbauch und beim Stuhlgang. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (S. 345) sind die Blutauf343

14

Gastrointestinale Notfälle lagerungen eher dunkelrot. Frische, rote Auflagerungen auf dem Stuhl sprechen für eine Blutung aus Hämorrhoiden (▶ Abb. 14.3). Untere GI-Blutungen lösen nur selten einen Schockzustand aus.

14.2.2 Entzündliche Erkrankungen Appendizitis Definition Appendizitis

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen • Siehe den allgemeinen Abschnitt (S. 342). Erweiterte Maßnahmen • Der Blutdruck wird, je nach Blutungsstärke, eher niedrignormal (RRsyst 90–120 mmHg) gehalten, um die Blutung nicht zu verstärken. Nach Sicherung der Vitalfunktionen (sofern möglich) werden die Patienten möglichst rasch in eine Klinik transportiert, damit sie endoskopisch oder operativ versorgt werden.

Die Appendizitis (umgangssprachlich, aber nicht korrekt „Blinddarmentzündung“) ist eine Entzündung des (am Blinddarm hängenden) Wurmfortsatzes (Appendix vermiformis). Am häufigsten sind Kinder und Jugendliche betroffen. Ursachen • Eine häufige Ursache ist eine bakterielle Infektion des Darms, die auf den Blinddarm und den Appendix vermiformis (S. 79) übergeht. Aber auch der Verschluss des Wurmfortsatzes, z. B. durch Kotsteine bei Verstopfung, Fremdkörper wie Kirschkerne, Parasiten oder (selten) Tumoren, können zu einer Entzündungsreaktion führen.

ACHTUNG Obere GI-Blutungen können innerhalb kurzer Zeit zu einem ausgeprägten Blutverlust mit lebensbedrohlichem Volumenmangelschock führen. Eine definitive Versorgung ist nur in der Klinik möglich – also „load and go“!

Fallbeispiel Fortsetzung – Folgenschweres Abendbrot Sie überprüfen die Vitalfunktionen von Herrn M. Die Herzfrequenz liegt deutlich über dem systolischen Blutdruck (Hf 120/ min; RR: 100/60 mmHg), es liegt also vermutlich ein Schock vor. Sofort handeln Sie und Ihr Kollege entsprechend: Über eine Maske erhält Herr M. Sauerstoff. Ihr Kollege legt einen großlumigen i. v.-Zugang für eine sofortige großzügige Volumengabe und fordert notärztliche Unterstützung an. Leider trübt Herr M. zunehmend ein. Gerade als Sie einen Wendl-Tubus zum Offenhalten der Atemwege eingelegt und Herrn M. in die Schocklage mit Absaugbereitschaft gebracht haben, trifft der Notarzt ein. Dieser entscheidet, aufgrund der Schwere des Krankheitsbildes und zum Schutz vor einer Aspiration eine Narkose einzuleiten und Herrn M. zu intubieren. Beatmet wird Herr M. in die Klinik gebracht. Die Verdachtsdiagnose Ösophagusvarizenblutung bestätigt sich: Über eine Notfallendoskopie werden die blutenden Gefäße verschlossen. Herr M. erholt sich im weiteren Verlauf gut. So schnell wird er allerdings keine Brotrinde mehr essen …

Komplikationen • Bei einer Perforation („Blinddarmdurchbruch“) ist die Wand des Appendix durch die Entzündung so stark geschädigt, dass sie reißt. Durch diese Öffnung in der Darmwand treten Darminhalt und eitriges Sekret aus, verteilen sich bei einer freien Perforation im Bauchraum und führen zu einer diffusen Entzündung des Bauchfells (Peritonitis). Bei einer gedeckten Perforation wird die Öffnung durch Verwachsungen oder das große Netz abgedeckt und es entwickelt sich eine lokale Peritonitis. Symptomatik • Typische Anfangssymptome sind Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen sowie zunehmende Bauchschmerzen. Die Schmerzen beginnen meist um den Bauchnabel oder im Oberbauch und verlagern sich später in den rechten Unterbauch, wo sie als dumpf bohrend empfunden werden. Stuhlunregelmäßigkeiten (Stuhl- und Windverhalt, Durchfall) sind möglich. Häufig besteht Fieber. Untersuchung • Häufig fällt bei der Palpation des Abdomens eine lokale Abwehrspannung im rechten Unterbauch auf. An charakteristischen Punkten lassen sich Schmerzen provozieren (▶ Abb. 14.7):

Abb. 14.7 Schmerzpunkte bei Appendizitis.

Nabel McBurney

RETTEN TO GO Gastrointestinale Blutungen Ursachen: ● obere GI-Blutungen: am häufigsten Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwüre, Ösophagusvarizen („Krampfadern“ in der unteren Speiseröhre oder am Mageneingang); bei starken Blutungen, v. a. aus Varizen, akute Lebensgefahr ● untere GI-Blutungen: Blutungsquelle meist im Dickdarm (Divertikel, Tumoren, Entzündungen) oder im Enddarm (Hämorrhoiden) ToDo: Sicherung der Vitalfunktionen (sofern möglich), möglichst rascher Transport in eine Klinik, um die Blutung endoskopisch oder operativ zu stoppen

344

Blumberg Spina iliaca anterior superior

Lanz

Spina iliaca anterior superior

An bestimmten Punkten kann bei Appendizitis ein Druck- bzw. ein Loslassschmerz provoziert werden: McBurney-Punkt: am Übergang vom äußeren zum mittleren Drittel einer Linie zwischen rechter Spina iliaca anterior superior und Nabel Lanz-Punkt: am rechten Übergang vom äußeren zum mittleren Drittel einer Linie zwischen beiden Spinae iliacae anteriores superiores Blumberg-Punkt: am Übergang vom äußeren zum mittleren Drittel einer Linie zwischen linker Spina iliaca anterior superior und Nabel Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens









Druckschmerz im rechten Unterbauch am McBurney- oder am Lanz-Punkt Blumberg-Zeichen: Sie drücken langsam den linken Unterbauch ein und lassen dann plötzlich los. Das Loslassen führt zu einem Schmerz im rechten Unterbauch. Psoas-Zeichen: Der Patient hebt sein rechtes Bein gegen einen Widerstand. Bei dieser Bewegung zieht sich der M. psoas (großer Lendenmuskel) zusammen, was Schmerzen im rechten Unterbauch auslöst. Rovsing-Zeichen: Sie bestreichen die Bauchwand über dem Dickdarm gegen den Uhrzeigersinn in Richtung Blinddarm. Dadurch wird der Blinddarm mit Dickdarminhalt gefüllt, bei einer Appendizitis löst dies Schmerzen im rechten Unterbauch aus.

Bei einer Peritonitis besteht eine generalisierte Abwehrspannung („bretthartes Abdomen“). Versorgung des Patienten • Siehe „Versorgung des Patienten bei akutem Abdomen“ (S. 342). In der Zielklinik wird der Appendix meistens operativ entfernt (Appendektomie).

RETTEN TO GO Appendizitis ●





Definition und Ursachen: Entzündung des Wurmfortsatzes des Blinddarms, meist durch eine bakterielle Infektion oder einen mechanischen Verschluss; mitunter Einreißen der Darmwand und Austritt von Darminhalt in die Bauchhöhle mit Gefahr einer Bauchfellentzündung („Blinddarmdurchbruch“) Symptomatik: starke, zunächst lokale Schmerzen, später im rechten Unterbauch, erhöhte Temperatur, positive Appendizitis-Schmerzpunkte ToDo: Sicherung der Vitalfunktionen, möglichst rascher, aber schonender Transport in eine geeignete Klinik

Weitere entzündliche Darmerkrankungen Divertikulitis • Bei chronischer Verstopfung ist der Druck im Darmlumen dauerhaft erhöht. Dadurch entwickeln v. a. ältere Menschen sackartige Auswölbungen der Darmschleimhaut (Divertikel). Entzünden sich diese, spricht man von einer Divertikulitis. Typische Beschwerden sind Schmerzen im linken Unterbauch („Linksappendizitis“), mitunter begleitet von Fieber, Übelkeit und einem verschlechterten Allgemeinzustand. Es besteht die Gefahr einer unteren GI-Blutung (S. 343) und einer Perforation mit Peritonitis. Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen • Bei Patienten mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist die Darmschleimhaut durch fehlgeleitete Immunreaktionen chronisch entzündet. Die Erkrankungen beginnen meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter. Typische Komplikationen, die zur Alarmierung des Rettungsdienstes führen können, sind ein Darmverschluss (S. 350), untere GI-Blutungen (S. 343) und eine Perforation mit Peritonitis und Sepsis (S. 292).

Akute Pankreatitis Definition Akute Pankreatitis Die akute Pankreatitis ist eine plötzlich auftretende Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Ursachen • Die häufigste Ursache ist die Verlegung der ableitenden Gallenwege durch Gallensteine (▶ Abb. 14.11) oder seltener einen Tumor. Auch starker Alkoholkonsum ist eine häufige Ursache. Seltene Ursachen sind Medikamente, virale Infekte oder Verletzungen. Manchmal ist keine Ursache nachweisbar (idiopathische Pankreatitis). Die Entzündungsreaktion führt zu einem starken Flüssigkeitsverlust in das Gewebe und den Bauchraum mit Schockgefahr. Symptomatik und Untersuchung • Typisch sind akute, starke, gürtelförmige Oberbauchschmerzen mit Ausstrahlung in die Flanken und den Rücken. Häufige Begleitsymptome sind Übelkeit, Fieber, ein geblähter Bauch (Meteorismus) und eine Flüssigkeitsansammlung im Bauch (Aszites). Der Meteorismus und die Reizung des Bauchfells führen zu einer prall-elastischen Konsistenz des Bauchs („Gummibauch“). Manche Patienten zeigen eine auffallende Gesichtsrötung (Ursache unklar). Ist der Gallengang verstopft oder drückt der entzündlich geschwollene Pankreaskopf auf die Gallengänge, kann ein Ikterus (S. 346) auffallen. Bei schweren Verläufen sind mitunter bläuliche Flecken (Einblutungen) in der Haut der Flanken zu sehen. Es besteht die Gefahr eines hypovolämischen Schocks!

ACHTUNG Differenzialdiagnostisch müssen Sie bei Oberbauchschmerzen immer auch an einen Herzinfarkt denken! Insbesondere bei Frauen können die Schmerzen bei akutem Koronarsyndrom in den Oberbauch ausstrahlen. Versorgung des Patienten • Siehe den Abschnitt zur Versorgung der Patienten bei akutem Abdomen (S. 342). Sie sollten präklinisch maximal 1000 ml VEL erhalten, eine Normotension ist anzustreben. Die Patienten werden rasch, aber schonend in eine Klinik transportiert.

RETTEN TO GO Akute Pankreatitis ●





Ursachen: am häufigsten verlegte/blockierte Gallenwege (durch Gallensteine, Entzündungen, Tumoren), hoher Alkoholkonsum Symptomatik: starke, typischerweise gürtelförmige Oberbauchschmerzen, häufig prall-elastischer „Gummibauch“, ggf. Gelbfärbung der Skleren oder Haut (Hinweis auf verlegte Gallenwege) ToDo: rascher, aber schonender Transport in eine Klinik

345

14

Gastrointestinale Notfälle

14.2.3 Notfälle und Erkrankungen der Leber

Abb. 14.8 Aszites.

Leitsymptome bei Erkrankungen der Leber Aszites

Definition Aszites Die „Bauchwassersucht“ bezeichnet eine vermehrte Ansammlung von freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Ursachen Rechtsherzinsuffizienz (S. 306): Der venöse Druck vor dem rechten Herzen ist erhöht. Dadurch wird Flüssigkeit in den Bauchraum „abgepresst“. ● Leberzirrhose: Die Leber produziert zu wenig Proteine, dadurch ist der onkotische Druck (S. 84) im Blutplasma, der normalerweise die Flüssigkeit im Gefäß hält, vermindert. Zusätzlich ist auch der Pfortaderdruck erhöht (S. 343), wodurch ebenfalls Flüssigkeit „abgepresst“ wird. ● Entzündungen, z. B. eine Pankreatitis oder Peritonitis ● bösartige Tumoren im Bauchraum ●

Symptome • Der Bauch wirkt geschwollen (▶ Abb. 14.8) und ist beim stehenden Patienten vorgewölbt, der Nabel ist verstrichen oder sogar vorgewölbt. Die Betroffenen haben häufig rasch Gewicht zugenommen. Im Unterschied zu einem „dicken Bauch“ bei Fettleibigkeit sind die Flanken beim liegenden Patienten deutlich ausladend, die Arme und Beine sind aufgrund der Grunderkrankung oft abgemagert. Die Flüssigkeit im Bauchraum behindert die Atembewegungen, viele Betroffene haben daher Atemnot. Bei der Perkussion fällt ein „Schwappen“ auf.

Das Abdomen sieht prall gefüllt aus. Aus: Baenkler H, Bals R, Goldschmidt H, Hahn J, Hinterseer M, Knez A, Möhlig M, Pfeiffer A, Schäfer J et al., Hrsg. Kurzlehrbuch Innere Medizin. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

Abb. 14.9 Ikterus.

Ikterus

Definition Ikterus Als Folge eines erhöhten Bilirubinspiegels im Blut sind die Haut, die Schleimhäute und/oder die Bindehäute gelblich verfärbt. Synonym • Gelbsucht Ursachen • Bilirubin ist das Abbauprodukt des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin. Es fällt beim Abbau von Erythrozyten an, wird in der Leber umgebaut und über die Gallenwege und die Nieren ausgeschieden. Ein erhöhter Bilirubinspiegel kann folgende Ursachen haben: ● Der Abbau von Erythrozyten ist erhöht (Hämolyse), z. B. bei Bluterkrankungen. ● Lebererkrankungen, z. B. eine Leberzirrhose oder Hepatitis, führen dazu, dass die Leber das Bilirubin nicht verarbeiten kann. ● Die Gallenwege sind verlegt, z. B. durch einen Gallenstein (S. 348). Die Gallenflüssigkeit staut sich zurück und tritt schließlich ins Blut über. Symptome • Zunächst verfärben sich die Bindehäute gelblich, bei höheren Konzentrationen auch die Haut und Schleimhäute (▶ Abb. 14.9). Zudem besteht oft quälender Juckreiz.

Wichtige Erkrankungen der Leber Hepatitis • Das Lebergewebe ist akut oder chronisch entzündet, meist als Folge einer viralen Infektion (Hepatitis A–E). Seltenere Ursachen sind körpereigene Antikörper, Medika346

Ausgeprägte Gelbfärbung der Skleren aufgrund eines erhöhten Bilirubinspiegels im Blut. Aus: Battegay E, Hrsg. Differenzialdiagnose Innerer Krankheiten. 21. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017

mente (z. B. Paracetamol) und Alkohol. Akute Verläufe (v. a. Hepatitis A und E) lösen selten ein akutes Leberversagen aus. Chronische Verläufe (v. a. Hepatitis B und C) schädigen die Leber dauerhaft, bis hin zu einer Leberzirrhose.

ACHTUNG Die Erreger der Hepatitis B und C werden u. a. über Blut und Blutprodukte übertragen. Beachten Sie daher das erhöhte Infektionsrisiko im Rettungsdienst, z. B. bei Nadelstichverletzungen (S. 160)! Leberverfettung • Bei einer „Fettleber“ lagern sich vermehrt Fette in das Lebergewebe ein, was die Leberfunktion beeinträchtigen kann. Die häufigsten Ursachen sind eine Alkoholabhängigkeit und das metabolische Syndrom, bestehend aus Fettleibigkeit, Bluthochdruck, erhöhten Blutfettwerten und Diabetes mellitus Typ 2. Die Veränderungen können sich zurückbilden. Bei fehlender Behandlung schreiten sie jedoch voran, letztlich kann sich eine Leberzirrhose entwickeln.

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens Abb. 14.10 Symptome und Folgen der Leberzirrhose.

hepatogener Diabetes mellitus

Nährstoffmangel

Vitamin- und Mineralstoffmangel Störung des Stoffwechsels und des Hormonhaushalts

Leberkarzinom

hepatopulmonales Syndrom

Leberinsuffizienz

Bauchglatze Gynäkomastie Hodenatrophie/ Menstruationsstörungen

hepatische Enzephalopathie

Lackzunge, Lacklippen Spider naevi

gestörter Giftstoffabbau

Leberzirrhose

Leberhautzeichen

Hautatrophie

Palmar- und Plantarerythem gesteigerte Blutungsneigung

Ikterus

Pfortaderhochdruck

Juckreiz Aszites

Caput medusae

Ösophagus- und Fundusvarizen

!

Varizenblutung = Lebensgefahr

Die Leber erfüllt vielfältige Aufgaben im Stoffwechsel, in der Entgiftung und in der Blutgerinnung. Daher sind auch die Symptome bei Funktionsstörungen vielfältig. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 Leberzirrhose • Funktionsfähiges Lebergewebe wird unumkehrbar in nicht funktionales, knotig-narbiges Bindegewebe umgewandelt. Die Leber kann dadurch ihre Funktionen (S. 80) immer schlechter erfüllen. Die Ursachen sind verschiedene chronische Schädigungen der Leber, am häufigsten eine Alkoholabhängigkeit oder eine chronische Virushepatitis. ▶ Abb. 14.10 zeigt die vielfältigen Folgen dieser schwerwiegenden Erkrankung.

RETTEN TO GO Lebererkrankungen und ihre Leitsymptome ●





Leitsymptome bei Lebererkrankungen: – Aszites: Ansammlung von freier Flüssigkeit in der Bauchhöhle, die auf die Lungen drückt und oft zu Atemnot führt; häufig als Folge einer Leberzirrhose, einer Rechtsherzinsuffizienz, einer Entzündung und eines bösartigen Tumors im Bauchraum – Ikterus: gelbliche Verfärbung von Haut und Schleimhäuten als Folge eines erhöhten Bilirubinspiegels im Blut; Ursachen: verstärkter Abbau von Erythrozyten, Funktionsstörungen der Leber, Gallenabflussstörungen Hepatitis: akute oder chronische, meist virale Entzündung der Leberzellen, mögliche Komplikationen: akutes Leberversagen, chronische Schädigung der Leber Fettleber: Fetteinlagerungen im Lebergewebe mit Funktionsstörungen des Organs, häufig als Folge eines metabolischen Syndroms (Diabetes mellitus Typ 2 + Fettleibigkeit + Bluthochdruck + Fettstoffwechselstörungen) oder einer Alkoholabhängigkeit; potenziell umkehrbare Veränderungen, Übergang in eine Leberzirrhose möglich



Leberzirrhose: unumkehrbare Umwandlung des Lebergewebes in narbiges, nicht funktionsfähiges Bindegewebe, am häufigsten bei langjähriger Alkoholabhängigkeit oder chronischer Virushepatitis

Hepatische Enzephalopathie Definition Hepatische Enzephalopathie Ein Leberversagen mit verminderter oder fehlender Entgiftungsfunktion der Leber führt zu schwerwiegenden Funktionsstörungen des Gehirns. Das Leberkoma (Coma hepaticum) ist das Endstadium der hepatischen Enzephalopathie. Ursachen ● Das Leberzerfallskoma entsteht durch einen akuten Untergang von Lebergewebe, also durch ein akutes Leberversagen. Häufige Ursachen sind eine fulminant verlaufende Hepatitis oder Vergiftungen, z. B. mit Knollenblätterpilzen (S. 516), Paracetamol oder Ecstasy. ● Das Leberausfallskoma entwickelt sich bei einer plötzlichen Dekompensation einer Leberzirrhose. Typische Auslöser sind Alkoholkonsum, hohe Eiweißzufuhr („Festmahl“) und fieberhafte Infekte. Pathophysiologie • Zu den Aufgaben der Leber zählt der Abbau von neurotoxischen Stoffen (z. B. Ammoniak), die im Stoffwechsel anfallen. Ist die Entgiftungsfunktion der Leber eingeschränkt, steigt die Konzentration dieser Stoffe im Blut an. Dies beeinträchtigt die Funktionen des Gehirns.

347

14

Gastrointestinale Notfälle Symptomatik • Typische Symptome sind Schläfrigkeit, Konzentrationsstörungen, eine erhöhte Atemfrequenz, Verwirrtheit, verwaschene Sprache, verlangsamte Reaktionen und ein grobschlägiges Zittern. Im Verlauf nehmen die Bewusstseinsstörungen zu, bis zum Coma hepaticum: Die Patienten schlafen tief und sind auch durch Schmerzreize nicht mehr erweckbar. Typisch ist in diesem Stadium ein Foetor hepaticus: Der Atem riecht süßlich-faulig. Es besteht die Gefahr eines zunehmenden Hirnödems mit Tod des Patienten.

14.2.4 Gallensteinleiden Fallbeispiel Nicht auszuhalten!*

ACHTUNG Die Abgrenzung von Bewusstseinsstörungen bei hepatischer Enzephalopathie von einer Alkoholintoxikation oder einem Alkoholentzug ist schwierig und häufig erst in der Klinik möglich. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, O2-Sättigung, Temperatur, BZ (v. a. bei Patienten mit Diabetes mellitus) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Lagerung: – Patient bei Bewusstsein: Oberkörper leicht hochlagern (Prophylaxe eines Hirnödems) – Patient bewusstlos: Atemwege freihalten, ggf. mit Guedel-/Wendl-Tubus; bei Erbrechen oder Aspiration: stabile Seitenlage bzw. Flachlagerung (Absaugbereitschaft) ● falls der Patient gestürzt ist: Suche nach Verletzungen ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. O2-Gabe 2–4 l/min, dann je nach SpO2 (Ziel 92–96 %) Erweiterte Maßnahmen • Die Patienten erhalten VEL und bei starker Unruhe eine Sedierung. Mitunter sind zur Aspirationsprophylaxe eine Intubation und Beatmung notwendig. Der Patient wird zügig und schonend in eine Klinik mit intensivmedizinscher Kapazität transportiert.

RETTEN TO GO Hepatische Enzephalopathie und Leberkoma ●







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Definition und Ursachen: Bei akutem Leberversagen (z. B. bei fulminanter Hepatitis, Vergiftung durch Knollenblätterpilze oder Paracetamol) oder dekompensierter Leberzirrhose (Auslöser: z. B. Alkoholkonsum) ist die Fähigkeit der Leber zur Entgiftung von neurotoxischen Substanzen wie Ammoniak reduziert. Die steigende Ammoniakkonzentration im Blut beeinträchtigt zunehmend die Funktionen des Gehirns. Symptomatik: Schläfrigkeit, Verwirrung, verwaschene Sprache, grobschlägiges Zittern, erhöhte Atemfrequenz, süßlich-fauliger Mundgeruch (Foetor hepaticus), zunehmende Bewusstseinsstörungen, letztlich Koma ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, NA anfordern, Lagerung bewusstseinsklarer Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Bewusstlosigkeit Atemwege freihalten, Suche nach Verletzungen, i. v.-Zugang, VEL und Medikation vorbereiten, O2-Gabe 2–4 l/min ToDo erweitert: VEL, bei starker Unruhe Sedierung, ggf. Intubation und Beatmung; zügiger und schonender Transport in Klinik mit Intensivstation

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Sie werden frühmorgens alarmiert und treffen eine 42-jährige, übergewichtige Patientin in ihrer Wohnung an. Sie krümmt sich vor Schmerzen. „Seit einer halben Stunde …“, hechelt die blasse, schweißgebadete Frau „… geht das so, nicht auszuhalten!“ Sie habe krampfartige Oberbauchschmerzen, die in regelmäßigen Abständen aufwallten, um dann kurzzeitig nachzulassen. Sie habe schon lange „mit Gallensteinen zu tun“ – die sicher gut gemeinten Ratschläge, sich doch bei Wurst und Käse etwas zurückzuhalten, habe sie bislang immer ignoriert. *Fallbeispiel fiktiv

Definition Gallensteinleiden Die Cholelithiasis bezeichnet das Vorhandensein von Gallensteinen, und zwar in der Gallenblase (Cholezystolithiasis) und/oder im großen Gallengang (Choledocholithiasis). Risikofaktoren • Gallensteine entstehen bei einem Ungleichgewicht zwischen den löslichen und den unlöslichen Anteilen der Gallenflüssigkeit: Cholesterin oder Bilirubin fallen aus („verklumpen“) – ein Gallenstein entsteht. Folgende Risikofaktoren sind bekannt (6-F-Regel): ● Female: weibliches Geschlecht ● Fat: Übergewicht ● Forty: Alter über 40 Jahre ● Fertile: fruchtbar (hormonelle Faktoren während der Schwangerschaft, Einnahme von Hormonen) ● Fair: helle Haut ● Family: positive Familienanamnese Komplikationen • Steine können aus der Gallenblase in den Gallengang abgehen. Ein häufiger Auslöser ist eine fettreiche Mahlzeit (gesteigerte Produktion von Gallenflüssigkeit). Dies kann folgende Probleme verursachen (▶ Abb. 14.11): ● Gallenkolik: Gallensteine verlegen die Gallengänge teilweise oder komplett, die glatte Muskulatur arbeitet gegen das Hindernis an. Die Folge sind Kolikschmerzen. ● Entzündung der Gallenblase (Cholezystitis) und/oder der Gallenwege (Cholangitis): Gallensteine erhöhen das Risiko,

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens Abb. 14.11 Komplikationen bei Gallensteinen.

1

Der Gallenstein liegt in der Gallenblase. in der Regel keine Beschwerden

Leber Gallenblasengang

2

Cholezystitis Der Stein hat eine Entzündung ausgelöst. Schmerzen im rechten Oberbauch, evtl. Fieber, Ikterus Komplikation: Perforation der Gallenblase Peritonitis

3

Choledocholithiasis

3 Gallenblase

2 4

1

Pankreasgang

Der Stein befindet sich im Gallengang. Gallenkolik, evtl. Übelkeit, Erbrechen, Fieber kompletter Verschluss des Gallengangs Gallenabflussstörung Ikterus

Hauptgallengang

5

Pankreas

Papilla Vateri

Cholezystolithiasis

Duodenum

4

Cholangitis Der Gallengang ist entzündet. Symptome wie bei Cholezystitis

5

akute Pankreatitis Der Stein verlegt die Papilla Vateri. Rückstau der Verdauungssekrete im Pankreas

Die Symptome und mögliche Komplikationen hängen u. a. davon ab, wo sich die Gallensteine befinden. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020





dass Bakterien die Gallenwege und die Gallenblase besiedeln. Bei schweren Entzündungsreaktionen kann die Gallenblase perforieren, sich in den Bauchraum entleeren und eine gallige Peritonitis auslösen. akute Pankreatitis (S. 345): Gallensteine können den gemeinsamen Ausführungsgang der Gallenwege und des Pankreas verlegen. mechanischer Ileus (S. 350) (selten): Ein in den Darm abgegangener Gallenstein verlegt das Darmlumen.

Symptomatik ● „stationäre“ Gallensteine: Solange Gallensteine in der Gallenblase verbleiben, verursachen sie in der Regel keine Beschwerden. Manchmal werden ihnen uncharakteristische Oberbauchbeschwerden, Blähungen und die Unverträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel zugeschrieben. ● Gallenkolik: Typisch sind starke, krampfartige Schmerzen im rechten und mittleren Oberbauch mit Ausstrahlung in den Rücken und die rechte Schulter – Head-Zone (S. 336)! Häufig bestehen Übelkeit und Erbrechen sowie ein Ikterus (S. 346) durch einen Aufstau von Gallenflüssigkeit. ● Cholezystitis und Cholangitis: starke Schmerzen im rechten Oberbauch, Fieber, häufig Ikterus Versorgung des Patienten • Siehe den Abschnitt zur Versorgung von Patienten mit akutem Abdomen (S. 342). Bei der Schmerztherapie stehen die spasmolytischen Substanzen Butylscopolamin und Metamizol im Vordergrund. Opioide werden (wenn überhaupt) nur zurückhaltend gegeben, da sie die Anspannung der glatten Muskulatur in einigen Bereichen steigern und damit die Kolikschmerzen verstärken können.

Fallbeispiel Fortsetzung – Nicht auszuhalten! Das Hauptproblem nach (c)ABCDE-Schema liegt im Bereich C: Eine Herzfrequenz von 110/min ist ein Hinweis auf starke Schmerzen, die bereits eine Wirkung auf den Kreislauf haben: Die Patientin atmet schnell, sie ist blass und kaltschweißig. Zunächst stehen nun Basismaßnahmen wie ein permanentes Monitoring an. Sie bringen die Patientin dazu von der Wohnung in den RTW. Sie bereiten einen i. v.-Zugang und eine Infusion vor und reichen dem NFS die Materialien für den i. v.-Zugang und eine Blutentnahme an. Außerdem ziehen Sie auf Anweisung der inzwischen eingetroffenen Notärztin Buscopan® und Novalgin® zur i. v.-Injektion auf. Während des Transportes in die Klinik lassen die Beschwerden der Patientin etwas nach. Eine operative Entfernung der Gallenblase in der Klinik wird ihr aber nicht erspart bleiben ...

RETTEN TO GO Gallenkolik Bleiben Gallensteine im Ausführungsgang der Gallenblase oder im Gallengang stecken, versucht die glatte Muskulatur, den Stein weiter zu transportieren. Das führt zu den typischen, anfallsartigen, starken Kolikschmerzen, meist im rechten/mittleren Oberbauch. Opioide sind zur Schmerztherapie nur bedingt geeignet, weil sie den Muskelkrampf und damit die Koliken verstärken können.

349

14

Gastrointestinale Notfälle Abb. 14.12 Verlauf und Gefahren eines Ileus.

u. a. Verwachsungen, Tumoren, Hernien, Invagination, Volvulus

gesteigerte Peristaktik

u. a. Mesenterialinfarkt, Entzündungen, Endstadium des mechanischen Ileus

mechanischer Ileus

paralytischer Ileus

„Totenstille“

Stase des Darminhalts

Vermehrung der Bakterien im Darminhalt

vermehrte Gasbildung

Dehnung der Darmwand

lokale Ischämie

Flüssigkeitseinstrom in die Darmwand

Schädigung der Darmwand hypovolämischer Schock Bakterien durchdringen die Darmwand

Perforation

Peritonitis/Sepsis Der mechanische und der paralytische Ileus haben unterschiedliche Ursachen, der Verlauf ist jedoch letztlich gleich. Aus: retten - Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme; 2023

14.2.5 Darmverschluss (Ileus) Grundlagen Definition Ileus Ein Ileus entspricht einer kompletten Unterbrechung der Darmpassage. Unterschieden werden der mechanische Ileus durch eine Verlegung des Darmlumens und der paralytische Ileus durch eine Lähmung der Darmperistaltik. Eine unvollständige Unterbrechung der Darmpassage ist ein Subileus.

Pathophysiologie Mechanischer Ileus • Ein Hindernis verhindert die normale Darmpassage. Davor staut sich der Darminhalt, die Darmmuskulatur arbeitet erfolglos gegen das Hindernis an – krampfartige Bauchschmerzen sind die Folge. Paralytischer Ileus • Das Problem ist eine Lähmung der Darmperistaltik. Gemeinsame Endstrecke • Im Verlauf des Ileus wird die Darmwand durch den stehenden Darminhalt (Stase) überdehnt (▶ Abb. 14.12). Dadurch verschlechtert sich die Durchblutung der Darmwand. Flüssigkeit strömt zunehmend in den Darm hinein, was zu einem Volumenmangelschock führen kann. Zusätzlich bilden sich vermehrt Gase, die den Darm weiter dehnen. Im schlimmsten Fall wird die Darmwand porös und platzt (Perforation). Darminhalt gelangt in die Bauchhöhle, eine Peritonitis ist die Folge.

! Merke Ileus

Unbehandelt endet ein Ileus tödlich. 350

Ursachen Mechanischer Ileus • ▶ Abb. 14.13 ● Die häufigste Ursache sind Verwachsungen (Briden), z. B. nach einer Operation oder Peritonitis, die die Darmschlingen von außen abschnüren. ● Ein bösartiger Tumor in Kolon oder Rektum (Kolon- bzw. Rektumkarzinom), Fremdkörper oder Gallensteine können das Darmlumen von innen verschließen. ● Eine Hernie (Eingeweidebruch) ist eine Ausstülpung des Bauchfells durch eine angeborene oder erworbene Lücke in der Bauchwand. Dabei kann ein Teil des Darms eingeklemmt werden. ● entzündliche Verengungen des Darmlumens, z. B. bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (S. 345) oder Divertikulitis (S. 345) ● Eine Invagination betrifft v. a. Kleinkinder. Dabei stülpt sich ein Darmabschnitt teleskopartig in den darauf folgenden, am häufigsten der letzte Abschnitt des Dünndarms in den Beginn des Dickdarms. ● Der Volvulus ist ein Krankheitsbild bei Säuglingen: Ein Darmabschnitt verdreht sich um sich selbst. Dadurch wird die Blutversorgung abgeschnürt und der Darminhalt nicht mehr weitertransportiert. Paralytischer Ileus ● schwere Entzündungen im Bauchraum, z. B. Pankreatitis (S. 345) oder Cholezystitis (S. 348) ● Mesenterialinfarkt: Eine darmversorgende Arterie wird durch ein abgelöstes Gerinnsel (Embolus) verlegt. Dieses stammt meist aus dem Herzvorhof und ist die Folge eines Vorhofflatterns oder -flimmerns (▶ Tab. 12.2). Durch den Verschluss der Arterie wird der Darm nicht mehr ausreichend mit Blut versorgt und es entsteht ein O2-Mangel

Notfälle und Erkrankungen des Abdomens Abb. 14.13 Häufige Ursachen eines mechanischen Ileus.

Einklemmung einer Hernie

Strangulation durch Verwachsung

Tumorstenose

Gallenstein

Volvulus (Verschlingung)

Invagination (Einstülpung)

Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020







ACHTUNG Ein Mesenterialinfarkt ist ein tückisches Krankheitsbild mit hoher Sterblichkeit: Präklinisch lässt sich die Diagnose aufgrund der unspezifischen Symptomatik kaum stellen – allerdings hängt das Überleben des Patienten stark von einer frühzeitigen Diagnosestellung und Therapie ab.

Ein mechanischer Ileus entsteht durch ein Hindernis, das die normale Darmpassage teilweise oder vollständig unterbricht.



Mesenterialinfarkt ● Stadium 1 (Initialstadium, Stunde 0–6): starke, kolikartige, schlecht lokalisierbare, „messerstichartige“ Bauchschmerzen bei weicher Bauchdecke (u. U. mit Ausstrahlung in den Rücken), gesteigerte Darmgeräusche, begleitend häufig Übelkeit und Erbrechen, Durchfall (evtl. blutig), Tachykardie und Schweißausbrüche ● Stadium 2 („fauler Frieden“, Stunde 6–12): paralytischer Ileus mit deutlicher Abnahme der Darmperistaltik und damit auch der Schmerzen, zeitgleich zunehmende Verschlechterung des Allgemeinzustands ● Stadium 3 (Endstadium, Stunde 12–24): Absterben des Darmgewebes mit drohender Perforation, fehlende Darmperistaltik (auskultatorisch „Totenstille“), akutes Abdomen mit generalisierter Abwehrspannung, drastische Verschlechterung des Allgemeinzustands, Schocksymptome mit Hypotonie, Tachykardie und Gesichtsblässe. Bei fehlender oder verzögerter Therapie verstirbt der Patient infolge einer Darmperforation, Peritonitis und/oder Sepsis.

(Ischämie). Die Darmwand des betroffenen Abschnitts wird gelähmt und stirbt schließlich ab. Medikamente: z. B. Opioide reflektorische Darmlähmung nach schwerem Trauma oder Operation, bei Kolik systemische Erkrankungen: z. B. schwere Schilddrüsenunterfunktion (S. 360), Hypokaliämie (S. 504), akutes Nierenversagen (S. 497) Endzustand eines mechanischen Ileus

! Merke Fließender Übergang

Wird ein mechanischer Ileus nicht behandelt, erschöpft sich die Darmmuskulatur und es resultiert ein paralytischer Ileus.

Symptomatik

Versorgung des Patienten Siehe den Abschnitt zur Versorgung von Patienten mit akutem Abdomen (S. 342). Bei einem Ileus besteht durch den Flüssigkeitseinstrom in den Darm und ggf. das Erbrechen immer Schockgefahr. Daher ist die Volumensubstitution besonders wichtig (präklinisch bis zu 1000 ml), das Ziel sind normale Blutdruckwerte. Die Patienten werden zügig und schonend in eine Klinik mit chirurgischer Abteilung transportiert. In vielen Fällen ist eine umgehende operative Versorgung erforderlich.

RETTEN TO GO Ileus („Darmverschluss“) ●



Mechanischer Ileus • Die Leitsymptome sind ein fehlender Wind- und Stuhlabgang (Obstipation), ein aufgeblähtes Abdomen und kolikartige, oft schwer lokalisierbare Bauchschmerzen. Begleitend bestehen häufig Übelkeit und Erbrechen (bis zum Koterbrechen). In der Auskultation sind verstärkte, z. T. metallisch klingende Darmgeräusche vor dem Verschluss zu hören: Der Darm arbeitet mit aller Kraft gegen das Hindernis an. ●

Paralytischer Ileus • Im Vordergrund stehen Übelkeit (selten Erbrechen) und Stuhlverhalt. Häufig ist der Bauch stark aufgebläht („Trommelbauch“) und druckemfindlich, es besteht Schluckauf. Durch die Darmlähmung sind keine oder nur minimale Darmgeräusche zu hören („Totenstille“). ●

Definition: komplette Unterbrechung der Darmpassage mit Schockgefahr und Gefahr einer Darmperforation mit nachfolgender Peritonitis und Sepsis mechanischer Ileus: Das Darmlumen ist verlegt. – Ursachen: z. B. Verwachsungen im Bauchraum, bösartiger Darmtumor, Gallenstein, Hernie, entzündliche Verengung; bei Kleinkindern Volvulus („Darmverdrehung“), Invagination (Einstülpung von Darmanteilen) – Symptomatik: kolikartige Bauchschmerzen, aufgeblähter Bauch, kein Abgang von Winden oder Stuhl, häufig Übelkeit und Erbrechen, mitunter Koterbrechen; vor dem Verschluss verstärkte, z. T. metallisch klingende Darmgeräusche paralytischer Ileus: Die Darmperistaltik ist gelähmt. – Ursachen: z. B. schwere Entzündung im Bauchraum, Einnahme von Opioiden, Erschöpfung der Darmmuskulatur bei mechanischem Ileus – Symptomatik: Übelkeit, starke Blähungen, druckempfindlicher Bauch, kein Abgang von Stuhl, kaum oder gar keine Darmgeräusche hörbar („Totenstille“) ToDo: großzügige Volumengabe (maximal 1000 ml), zügiger Transport in eine Klinik mit chirurgischer Abteilung

351

14

Gastrointestinale Notfälle

14.2.6 Nieren-/Harnleiterkolik Siehe das Kapitel Urologische Notfälle (S. 495).

14.2.7 Bauchaortenaneurysma Definition Bauchaortenaneurysma Ein Bauchaortenaneurysma ist eine krankhafte Erweiterung (Aneurysma = Aussackung) der Bauchaorta. Ursachen und Pathophysiologie • Prinzipiell können Aneurysmen an jeder Arterie des Körpers entstehen. Zugrunde liegt meist eine Arteriosklerose (S. 300): Die verkalkte Gefäßwand wird weniger elastisch und das Gefäß weitet sich auf, bis schließlich eine umschriebene „Ausbeulung“ entsteht (▶ Abb. 14.14) – das Aneurysma. Mit zunehmendem Alter und Fortschreiten der Arteriosklerose wird das Aneurysma größer und die Gefäßwand dünner. Im schlimmsten Fall reißt die Gefäßwand ein (Aneurysmaruptur). Betroffen sind v. a. Männer > 50 Jahre. Gedeckte Ruptur • Die meisten Menschen mit einem Bauchaortenaneurysma haben keine Symptome. Manchmal verspüren sie ein Druckgefühl oder einen dumpfen Schmerz im Rücken, in den Flanken oder im Unterbauch. Dies kann ein Hinweis auf eine gedeckte Ruptur sein: Das Aneurysma ist zwar eingerissen, aber umliegende Strukturen begrenzen („deckeln“) die Blutung noch.

niger Minuten in die Bauchhöhle verbluten. Der Auslöser der Ruptur ist eine Dehnung des Aneurysmas, z. B. durch einen plötzlichen Blutdruckanstieg bei körperlicher Anstrengung oder einen erhöhten Druck im Bauchraum bei Bauchpresse oder Bauchtrauma. Versorgung des Patienten • Die Versorgung der Patienten entspricht der Versorgung bei einem akuten Abdomen (S. 342). Seien Sie besonders vorsichtig im Umgang mit den Patienten: Eine gedeckte kann jederzeit in eine offene Ruptur übergehen. Führen Sie daher keine Manipulationen am Bauch aus und transportieren Sie den Patienten „wie ein rohes Ei“. Der systolische Blutdruck wird bei ca. 90 mmHg gehalten (wie bei schweren traumatischen Blutungen), um die Blutung nicht zu verstärken. Eine Infusionstherapie mit VEL ist wichtig (präklinisch max. 1000 ml). Als Zielkrankenhaus muss ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit Gefäßchirurgie gewählt werden, kein Krankenhaus der Regelversorgung mit Allgemeinchirurgie.

! Merke Absoluter Notfall

Bei jedem Verdacht auf eine gedeckte oder offene Ruptur eines Bauchaortenaneurysmas muss der Patient ohne jeden Zeitverlust in eine Klinik mit Gefäßchirurgie transportiert werden. Eine allgemeinchirurgische Klinik kann nicht helfen! Wird ein solcher Patient in ein Regelkrankenhaus gefahren, verliert er wertvolle Zeit und schlimmstenfalls sein Leben.

RETTEN TO GO

ACHTUNG Diese diffusen Schmerzen werden häufig als Rücken- oder Nierenleiden „abgetan“. Bei Patienten (v. a. bei über 50-jährigen Männern) mit Risikofaktoren für eine Arteriosklerose oder sogar bekanntem Bauchaortenaneurysma sollten Sie bei solchen Beschwerden jedoch immer an die Möglichkeit einer (gedeckten) Ruptur denken! Eine gedeckte Ruptur ist präklinisch schwierig zu diagnostizieren (ggf. mit einem mobilen Ultraschallgerät). Mögliche Hinweise sind schwache oder fehlende Pulse in den Leisten oder kühle Beine im Vergleich zu einem normal warmen Oberkörper: Durch die Blutung kommt weniger Blut in den Beinen an. Offene oder freie Ruptur • Typisch ist ein schlagartig einsetzender Zerreißungsschmerz, einhergehend mit einem schweren Schock (Kaltschweißigkeit, Blässe, Herzrasen). Es besteht akute Lebensgefahr: Der Patient kann innerhalb weAbb. 14.14 Bauchaortenaneurysma.

linke Niere

Bauchaortenaneurysma ●





Definition: krankhafte Erweiterung der Bauchaorta, die zerreißen kann (Ruptur) – gedeckte Ruptur: Die Blutung ist durch umliegende Strukturen abgedeckt. Die Patienten verspüren Schmerzen oder ein dumpfes Drücken im Rücken oder in den Flanken. – freie oder offene Ruptur: potenziell innerhalb weniger Minuten tödlich durch ein inneres Verbluten der Patienten Wichtig ist es, schnell an diesen Notfall zu denken, v. a. bei Patienten mit Gefäßrisikofaktoren (älter, männlich, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Raucher)! ToDo: Volumengabe (bis 1000 ml), Transport in eine Klinik mit Gefäßchirurgie; eine gedeckte Ruptur kann durch Erschütterungen oder abrupte Bewegungen jederzeit zu einer offenen Ruptur werden – behandeln Sie den Patienten mit äußerster Vorsicht.

14.2.8 Akutes Abdomen bei Kindern Bauchschmerzen bei Kindern sind immer vorsichtig zu interpretieren: Kinder projizieren Schmerzen sehr oft in den Bauch, obwohl die Schmerzursache eigentlich z. B. in einem Ohr liegt. Führen Sie bei Kindern daher möglichst immer eine komplette körperliche Untersuchung durch.

Aorta untere Hohlvene

Aussackung der Aorta (Aneurysma)

Ein Aneurysma ist eine krankhafte Erweiterung einer Arterie. 352

Ursachen • Häufige Auslöser eines akuten Abdomens bei Kindern sind eine Appendizitis (S. 344), schwere MagenDarm-Infekte, eine eingeklemmte Hernie (S. 350) oder ein Bauchtrauma. Bei Kleinkindern kann eine Invagination einen mechanischen Ileus auslösen, bei Säuglingen ein Volvulus (S. 350). Denken Sie auch an die Möglichkeit einer Vergiftung und bei Jungen an ein akutes Skrotum (S. 499)!

Diabetes mellitus Risiken • Beachten Sie, dass bei Kindern Flüssigkeitsverluste v. a. bei abdominellen Erkrankungen mit Fieber, Erbrechen oder Durchfall schnell lebensbedrohlich werden können (S. 526). Achten Sie daher immer besonders genau auf Hinweise auf eine Dehydratation (S. 502)!

14.3 Diabetes mellitus 14.3.1 Grundlagen Definition Diabetes mellitus Der Diabetes mellitus, umgangssprachlich auch „Zuckerkrankheit“ oder schlicht „Zucker“, ist eine Stoffwechselstörung, die mit erhöhten Glukosespiegeln im Blut und im Urin einhergeht. Der Begriff Diabetes mellitus bedeutet wörtlich übersetzt „honigsüßer Durchfluss“, weil die Erkrankung im Altertum am süßen Geschmack des Urins der Erkrankten erkannt wurde.

Pathophysiologie und Ursachen Bei Patienten mit Diabetes mellitus ist der Plasmaspiegel des für die Blutzuckersenkung verantwortlichen Hormons Insulin (S. 80) zu gering. Der Typ-1- und der Typ-2-Diabetes spielen im rettungsdienstlichen Alltag die größte Rolle. Typ-1-Diabetes • Die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse wurden durch körpereigene Antikörper zerstört (Autoimmunreaktion). Durch die fehlende Insulinproduktion resultiert ein absoluter Insulinmangel. Die Patienten sind auf eine Insulingabe von außen angewiesen („insulinabhängiger Diabetes“), entweder manuell per Spritze oder mithilfe einer Insulinpumpe (▶ Abb. 14.17). Die Erkrankung manifestiert sich meistens bei Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Typ-2-Diabetes • Mit einem Anteil von ca. 90 % ist dies die weitaus häufigste Form. Das zentrale Problem ist, dass die Körperzellen gegen Insulin resistent sind. Das bedeutet, dass (das reichlich vorhandene) Insulin an den Zellen nicht mehr ausreichend wirkt und zu wenig Glukose aus dem Blut aufgenommen wird. Es besteht damit ein relativer Insulinmangel. Der steigende Blutzuckerspiegel regt in einer Art Teufelskreis den Pankreas zu einer stärkeren Insulinausschüttung an. Im Krankheitsverlauf kann eine vollständige Erschöpfung der insulinproduzierenden Zellen mit Insulinmangel resultieren. Die wichtigsten Risikofaktoren sind genetische Faktoren im Zusammenspiel mit dem metabolischen Syndrom (Adipositas + arterielle Hypertonie + Fettstoffwechselstörungen + Typ-2-Diabetes) und Bewegungsmangel. Die Erkrankung manifestiert sich meist schleichend nach dem 40. Lebensjahr („Altersdiabetes“), zunehmend sind aber auch übergewichtige Kinder und Jugendliche betroffen. Die Behandlung umfasst zunächst eine Änderung des Lebensstils mit Bewegung und Gewichtsabnahme. Bei Erfolglosigkeit wird mit Tabletten (orale Antidiabetika) behandelt. Eine Insulintherapie kann im späteren Verlauf der Krankheit notwendig werden. Weitere Diabetesformen • Deutlich seltener lösen spezielle genetische Defekte, eine längerfristige Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Glukokortikoide) oder bestimmte Hormonstörungen einen Diabetes mellitus aus. In der Spätschwangerschaft ist der Glukosehaushalt verändert, sodass sich ein Gestations- oder Schwangerschaftsdiabetes manifestieren kann.

! Merke Diabetes mellitus – eine Volkskrankheit

Die Zahl der Menschen mit Diabetes mellitus steigt ständig – mittlerweile leben in Deutschland etwa 8 Millionen behandelte Patienten (fast 10 % der Bevölkerung). Entsprechend häufig werden Sie im Rettungsdienst mit dieser Erkrankung und ihren Folgen konfrontiert.

Diagnosestellung Bei einem Nüchternblutzuckerwert > 126 mg/dl (> 7 mmol/l, im Kapillarblut) gilt die Diagnose als gesichert. Ebenfalls von Bedeutung ist der „Langzeitzuckerwert“ HbA1c, der Auskunft über den Glukosehaushalt in den letzten 3 Monaten gibt: Bei einem Wert ≥ 6,5 % ist die Diagnose ebenfalls gesichert. Wichtig nach der Diagnosestellung sind die Abklärung von Folgeerkrankungen sowie regelmäßige Kontrollen.

Folgeerkrankungen Übersicht • Die erhöhte Blutzuckerkonzentration schädigt die kleinen und großen Arterien. Die Schäden sind umso ausgeprägter, je länger die Erkrankung besteht und je schlechter sie „eingestellt“ ist, also je höher die durchschnittlichen BZ-Werte sind. Schädigungen der kleinen Arterien ● Schädigung der Netzhaut (diabetische Retinopathie) mit Schleier- und Verschwommensehen bis zur Erblindung ● Schädigung des Nierengewebes (diabetische Nephropathie) mit Verschlechterung der Nierenfunktion bis zur dialysepflichtigen Niereninsuffizienz ● Schädigung von Nervenzellen (diabetische Neuropathie), u. a. mit Gefühlsstörungen in Händen und Füßen (periphere Polyneuropathie) und verminderter Schmerzempfindlichkeit in den inneren Organen Ein häufiges Problem ist das diabetische Fußsyndrom mit chronischen, sehr schlecht heilenden, „offenen“ Stellen an den Füßen (Geschwüre oder Ulzera, ▶ Abb. 14.15).

ACHTUNG Bei Patienten mit diabetischer Neuropathie kann ein Herzinfarkt unter Umständen „stumm“, also fast ohne Schmerzen verlaufen: Die Betroffenen nehmen die Schmerzen des Infarkts aufgrund einer Schädigung der Nerven am Herzen kaum wahr. Abb. 14.15 Diabetisches Fußsyndrom.

Chronische Ulzera der Fußsohle. Durch die diabetische Polyneuropathie spürt der Patient Druckstellen an der Fußsohle nicht mehr und belastet den Fuß weiter. Aus: Baenkler H, Bals R, Goldschmidt H, Hahn J, Hinterseer M, Knez A, Möhlig M, Pfeiffer A, Schäfer J et al., Hrsg. Kurzlehrbuch Innere Medizin. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

353

DIABETES MELLITUS 1

Glukose wird mit der Nahrung aufgenommen und gelangt ins Blut.

< 10 % aller Diabetesfälle AUTOIMMUNERKRANKUNG

2

Die β-Zellen des Pankreas bilden vermehrt Insulin, das ins Blut abgegeben wird.

Erstmanifestation meist bei Kindern und Jugendlichen

ca. 90 % aller Diabetesfälle Insulin

Glukose Blut

Zellmembran

Glukose Insulin- transporter rezeptor

Erstmanifestation in jeder Altersgruppe möglich (Risikofaktoren v.a. Übergewicht und Bewegungsmangel)

INSULINRESISTENZ

TYP 2

Symptome unspezifisch, metabolisches Syndrom (Hypertonie, Adipositas, Fettstoffwechselstörung)

Symptome Polydipsie und Polyurie (Insulinmangelsyndrom), Gewichtsverlust

!

Zellinneres

3 Insulin bindet an die Insulinrezeptoren der Zielzellen, was dazu führt, dass vermehrt Glukosetransporter in die Membran eingebaut werden. Glukose wird aus dem Blut in die Zellen aufgenommen.

TYP 1

AKUTE KOMPLIKAT • akute Hypoglykämie • akute Hyperglykämie • diabetisches Koma

X X

Empfindlichkeit der Insulinrezeptoren nimmt ab (bei normaler bzw. gesteigerter Insulinproduktion)

RELATIVER INSULINMANGEL

STUFENTHERAPIE HbA1c ≥ 7,5% HbA1c ≥ 7,5% HbA1c ≥ 7,5% 1. Änderung der Lebensgewohnheiten

• Ernährungsumstellung • Bewegung • Übergewicht reduzieren Langzeitblutzucker HbA1c überprüfen

2. Therapie mit Antidiabetika

3. Therapie mit Antidiabetika + Insulin

LEBENSLANGE INSULINTHERAPIE z. B. als intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) mit Insulininjektionen vor dem Essen und einem Basalinsulin

mehrmals täglich kurzwirksames Insulin (Bolusinsulin) deckt plötzliche Blutzuckeranstiege ab

morgens und abends langwirksames Insulin (Basalinsulin) deckt den Grundbedarf des Körpers ab

Autoantikörper zerstören die insulinbildenden β-Zellen des Pankreas

ABSOLUTER INSULINMANGEL

~ 8 Mio. Diabetesfälle in Deutschland

TIONEN > 500 000 Neudiagnosen jährlich

erhöhter Blutzucker Nüchternwert > 126 mg/dl bzw. 7 mmol/l

FOLGEERKRANKUNGEN Chronisch erhöhter Blutzucker schädigt die großen und kleinen Arterien (Mikro- und Makroangiopathie) und die Nerven (Neuropathie).

diabetische Makroangiopathie

Atherosklerose Schlaganfall

4. intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT)

diabetische Mikroangiopathie

koronare Herzkrankheit (KHK)

diabetische Retinopathie

periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK)

diabetische Nephropathie diabetische Neuropathie

diabetisches Fußsyndrom

!

„stiller“ Herzinfakt

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

14

Gastrointestinale Notfälle Schädigungen der großen Arterien • Das Risiko für die Entwicklung einer Arteriosklerose ist stark erhöht und damit das Risiko für Schlaganfall (S. 421), koronare Herzkrankheit (S. 300), die periphere arterielle Verschlusskrankheit (S. 311) und periphere arterielle Verschlüsse (S. 312).

14.3.2 Notfallsituationen bei Diabetes mellitus Hyperglykämie und diabetisches Koma Definition Hyperglykämie und diabetisches Koma

RETTEN TO GO Diabetes mellitus ●



Der Diabetes mellitus („Zuckerkrankheit“) ist eine sehr häufige Erkrankung. – Der seltenere Typ-1-Diabetes beginnt meist im jungen Alter. Er ist die Folge einer Autoimmunreaktion gegen die insulinproduzierenden Zellen des Pankreas (absoluter Insulinmangel). Die Betroffenen sind auf die Substitution von Insulin angewiesen. – Der Typ-2-Diabetes betrifft eher ältere, übergewichtige Patienten, deren Körperzellen gegen Insulin resistent geworden sind (relativer Insulinmangel). Die Therapie besteht aus Gewichtsreduktion, Bewegung, oralen Antidiabetika und/oder Insulin. Folgeerkrankungen: – Schädigung der großen Gefäße: Arteriosklerose mit stark erhöhtem Risiko für KHK, Herzinfarkt, Schlaganfall und pAVK – Schädigung der kleinen Gefäße mit Gefahr der Erblindung, Entwicklung einer chronischen Niereninsuffizienz, Schädigungen der peripheren Nerven mit Gefühlsstörungen, diabetisches Fußsyndrom mit chronischen Geschwüren

Eine Hyperglykämie („Überzuckerung“) ist definiert als Erhöhung des Blutzuckerspiegels über 100 mg/dl (5,5 mmol/l) nüchtern bzw. über 140 mg/dl (7,8 mmol/l) nach dem Essen. Diese besteht meist schon längere Zeit und wird anfangs gut toleriert. Kann die Hyperglykämie nicht mehr kompensiert werden, wird sie zum Notfall und führt unbehandelt ins diabetische Koma (Coma diabeticum). Auslöser • Der häufigste Auslöser sind Therapiefehler: Die Dosierung der blutzuckersenkenden Medikamente ist zu gering und/oder die Ernährung ist zu reich an Kohlehydraten. In bestimmten Situationen, z. B. bei Infekten, nach Operationen oder bei Stress, kann der Insulinbedarf erhöht sein. Wird die Dosierung nicht angepasst, kann sich eine Hyperglykämie entwickeln. Mitunter wird eine länger bestehende Hyperglykämie nicht entdeckt, wenn der Patient ärztliche Kontrollen auslässt. Insbesondere bei Typ-1-Diabetes kann eine kritische Hyperglykämie die Erstmanifestation der Erkrankung sein, d. h., der Betroffene wusste vorher nichts von seiner Erkrankung. Pathophysiologie • ▶ Abb. 14.16 ● Das ketoazidotische Koma betrifft v. a. Patienten mit Typ1-Diabetes: Der absolute Insulinmangel führt dazu, dass die Körperzellen keine Glukose aufnehmen können. Zur Energiegewinnung bauen sie stattdessen Fettsäuren ab – dabei entstehen als Abfallprodukt Ketonkörper. Diese führen zu einer Übersäuerung des Körpers, einer metabolischen Azidose (S. 505).

Abb. 14.16 Entstehung und Symptome des diabetischen Komas.

Infekte

Therapiefehler

Stress

Hyperglykämie BZ > 600 mg/dl

BZ > 250 mg/dl Glukose kann nicht in die Zellen aufgenommen werden Energiemangel Fett- und Proteinabbau Bildung von Ketonkörpern (Urintest +++) mit metabolischer Azidose

Präkoma Schwäche, Durst, Abgeschlagenheit Polyurie Energiemangel im Gehirn Bewusstseinsstörungen

schleichender Beginn mit akuter Verschlechterung ca. 25 % als Manifestationskoma (v.a. bei Kindern) Bei Patienten mit diffusem Bauchschmerz immer BZ messen! Hyperglykämie mit Pseudoperitonitis diabetica?

eher langsame Entwicklung

ketoazidotisches Koma Typ-1-Diabetes

Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen

geringe körpereigene Insulinproduktion keine Ketonkörperbildung, keine metabolische Azidose Wasserverlust mit Exsikkose steht im Vordergrund

hyperosmolares Koma Typ-2-Diabetes

KußmaulAtmung Foetor ex ore

Symptome einer Exsikkose bis zur Schocksymptomatik

Atmung normal, kein Foetor ex ore

präklinisch kein Insulin Gefahr der Hypokaliämie mit Rhythmusstörungen und Herz-Kreislauf-Stillstand!

356

Beim ketoazidotischen Koma ist die Atmung aufgrund der metabolischen Azidose stark vertieft (Kußmaul-Atmung). Beim hyperosmolaren Koma ist sie weitgehend unverändert. Aus: retten - Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme; 2023

Diabetes mellitus

Tab. 14.1 Ketoazidotisches und hyperosmolares Koma.



ketoazidotisches Koma

hyperosmolares Koma

Diabetesform

v. a. Typ-1-Diabetes

v. a. Typ-2-Diabetes

Pathophysiologie

keine Insulinproduktion → gesteigerter Fettsäureabbau → Bildung von Ketonkörpern

Insulinproduktion funktioniert noch → Insulin hemmt den Fettabbau → keine Ketonkörper

Hauptsymptome

„Obstgeruch“ (Azetongeruch) in der Ausatemluft (durch Ketonkörper)

kein Azetongeruch

Kußmaul-Atmung: sehr tiefe Atmung, mit der überschüssige Säuren abgeatmet werden

keine Kußmaul-Atmung

häufig Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen (DD akutes Abdomen)

Zeichen einer Exsikkose: warme und trockene Haut, Herzrasen, niedriger Blutdruck, Kollapsneigung

Glukosespiegel

deutlich erhöht (z. B. > 350 mg/dl oder 19,4 mmol/l)

extrem erhöht (z. B. > 600 mg/dl oder 33,3 mmol/l)

Osmolarität im Blut

normal

erhöht

Das hyperosmolare Koma betrifft v. a. Patienten mit Typ-2Diabetes: Bei ihnen ist noch Insulin im Blut vorhanden, das die Bildung von Ketonkörpern hemmt. Dadurch entwickelt sich keine Azidose. Stattdessen steht der Verlust von Wasser und Elektrolyten im Vordergrund: Der Glukosegehalt im Blut ist so hoch, dass Glukose über die Nieren ausgeschieden wird und in beträchtlichem Ausmaß Wasser und Elektrolyte mit sich „zieht“.

Symptomatik • Beide Formen entwickeln sich zunächst schleichend über Tage: In der Anfangsphase (Präkoma) sind die Patienten zunehmend schwach und appetitlos. Die überschüssige Glukose geht z. T. über den Urin verloren, wodurch die Ausscheidung von Wasser und Elektrolyten steigt. Die Harnmenge ist erhöht (Polyurie). Die Patienten sind durstig und trinken viel, dies kann den Volumenmangel meist nicht ausgleichen. Sie entwickeln eine Exsikkose (S. 501) mit Kollapsneigung, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma und Gefahr eines akuten Nierenversagens (S. 497). Eine begleitende Hyperkaliämie (S. 503) kann zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen. Bei einer Ketoazidose versucht der Körper, die Azidose respiratorisch zu kompensieren: Die Atmung wird stark vertieft (Kußmaul-Atmung), die Atemluft riecht nach Azeton (ähnlich wie Nagellackentferner). Viele Patienten haben starke Bauchschmerzen, die Differenzierung von einem akuten Abdomen kann schwierig sein. ▶ Tab. 14.1 zeigt Kriterien, um das ketoazidotische und das hyperosmolare Koma zu unterscheiden.

! Merke Ketoazidose

Hinweise auf eine Ketoazidose sind ein süßlicher Geruch der Atemluft nach Obst oder Nagellack, eine regelmäßige, stark vertiefte Atmung (Kußmaul-Atmung) und Bauchschmerzen.

● ●

i. v.-Zugang, Laborblutentnahme und VEL vorbereiten ggf. O2-Gabe von 2–4 l/min, je nach SpO2 (Ziel 92–96 %); bei kritischen Patienten großzügigere O2-Zufuhr

Erweiterte Maßnahmen • Entscheidend ist eine großzügige Volumengabe (VEL), um die hohe Blutzuckerkonzentration zu verdünnen und die Volumenverluste auszugleichen (präklinisch maximal 1000 ml). Medikamente wie Insulin werden präklinisch wegen der Gefahr einer bedrohlichen Hypokaliämie nicht verabreicht. Je nach Bewusstseinszustand ist eine Intubation als Aspirationsprophylaxe erforderlich.

RETTEN TO GO Hyperglykämie ●







Definition: Blutzucker > 100 mg/dl (5,5 mmol/l) nüchtern bzw. > 140 mg/dl (7,8 mmol/l) nach dem Essen Symptomatik: meist schleichender Beginn über Tage mit Schwäche und Appetitlosigkeit, im Verlauf Bewusstseinsstörungen bis zum diabetischen Koma – ketoazidotisches Koma bei Typ-1-Diabetes: Bauchschmerzen, vertiefte Kußmaul-Atmung, obstartiger Geruch der ausgeatmeten Luft – hyperosmolares Koma bei Typ-2-Diabetes: Exsikkose, Kollapsneigung ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring, i. v.-Zugang, VEL, Aspirationsprophylaxe ToDo erweitert: Volumengabe (VEL, max. 1000 ml); präklinisch kein Insulin

Basismaßnahmen zur Versorgung der Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): Atemfrequenz, RR, Puls, EKG, SpO2, Temperatur und BZ messen (S. 204) ● Lagerung: – Patient bei Bewusstsein: Oberkörper erhöht – Patient bewusstlos: Atemwege freihalten, ggf. mit Guedel-/Wendl-Tubus; bei Erbrechen oder Aspiration: stabile Seitenlage bzw. Flachlagerung (ggf. Absaugbereitschaft); ggf. Schutzintubation vorbereiten ●

357

14

Gastrointestinale Notfälle

Hypoglykämie Fallbeispiel Emmas Zucker* Um die Mittagszeit bekommen Sie die Meldung: „Bewusstlose Patientin.“ In einer Reihenhaussiedlung treffen Sie auf eine 76jährige Frau, die in der Küche auf dem Boden liegt. Sie beugt immer wieder ungezielt Arme und Beine, ist insgesamt unruhig. Durch Ansprechen und auch Schmerzreize ist sie nicht erweckbar. Die Vitalparameter Puls, RR und SpO2 sind stabil. Das Hauptproblem ist nach dem (c)ABCDE-Schema also zunächst dem Bereich „D“ zuzuordnen. Der Ehemann, der den Notruf gewählt hatte, ist total aufgelöst. „Die Emma, die Emma, was ist nur mit ihr? Was soll ich denn jetzt machen ...?“ Nachdem Sie den Mann beiseitegenommen haben und ihn etwas beruhigen konnten, fragen Sie ihn entsprechend dem SAMPLERSchema u. a., ob seine Frau an einem Diabetes leide – der Ehemann verneint dies. In der Zwischenzeit haben die Kollegen den Blutzucker gemessen: 41 mg/dl (2,3 mmol/l). Das ist ein schwerer Unterzucker! Erneut fragen Sie den Ehemann, diesmal nach der „Zuckerkrankheit“, und tatsächlich: „Ja, Zucker, das hat die Emma, das schon ... Aber dieses Diabitidingsda, nein ...“ *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Definition Hypoglykämie Der Blutzuckerspiegel liegt unter 50 mg/dl (< 2,8 mmol/l). Je nach Ausgangssituation können aber auch höhere BZ-Werte (z. B. 60– 80 mg/dl) entsprechende Symptome verursachen. Die Hypoglykämie ist der häufigste durch eine Stoffwechselerkrankung verursachte Notfall im Rettungsdienst. Synonym • Unterzuckerung Pathophysiologie • Meistens sind Patienten mit Diabetes mellitus betroffen. Der häufigste Auslöser ist eine (relative) Überdosierung von blutzuckersenkenden Medikamenten (Insulin, orale Antidiabetika), z. B. wenn der Patient eine Mahlzeit auslässt, ohne die Dosis zu reduzieren. Auch ein fehlerhafter Gebrauch von Insulinpen oder -pumpe oder eine Verwechslung der Präparate sind zu beachten. Weitere Ursachen sind Alkoholkonsum, starke körperliche Belastung oder eine Nebennierenrindeninsuffizienz (S. 361).

! Merke Glukose braucht das Hirn!

Da Gehirnzellen praktisch nur Glukose als „Brennstoff“ verwerten können, können bei jeder Hypoglykämie Gehirnzellen absterben. Symptomatik • Zunächst löst der Körper eine über Adrenalin vermittelte Stressreaktion aus, um Reserven zu mobilisieren. Typische Symptome sind Heißhunger, Herzrasen, Herzstolpern, Schweißausbrüche („kaltschweißig“), blasse Haut, Unruhe, Zittern und Übelkeit. Ergreift der Patient keine Gegenmaßnahmen (z. B. Zufuhr von Traubenzucker), schreitet die Hypoglykämie fort und es zeigen sich zunehmende neurologische Ausfälle wie Sprachstörungen und Lähmungen, psychische Veränderungen (Angst, Aggression, Unruhe) sowie letztlich eine Bewusstseinstrübung und ein Bewusstseinsverlust bis zum Koma. Die Schwere der Symptome hängt weniger vom absoluten BZ-Wert ab als vom Tempo des Blutzuckerabfalls und der Dauer der Hypoglykämie.

ACHTUNG Hinter vielen neurologischen und psychischen Symptomen kann sich eine Hypoglykämie verbergen: Denken Sie bei entsprechenden Symptomen immer an diese Möglichkeit und bestimmen Sie den BZ! Basismaßnahmen zur Versorgung der Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema sichern (S. 183) ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, O2-Sättigung, Temperatur, BZ messen! ● Insulinzufuhr beenden! Verwendet der Patient eine Insulinpumpe, Gerät abstellen oder ggf. entfernen. Im Zweifelsfall müssen Sie danach suchen. Die Pumpen sind z. T. nur 2 × 3 cm groß und befinden sich am Oberarm, Bauch oder Oberschenkel (▶ Abb. 14.17). ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Patient bei Bewusstsein: Oberkörper hochlagern; Saft trinken, essen lassen (z. B. Traubenzucker, Marmeladenbrot) ● bewusstloser Patient: Atemwege freihalten, ggf. mit Guedel-/Wendl-Tubus – bei Erbrechen oder Aspiration: stabile Seitenlage bzw. Flachlagerung (ggf. Absaugbereitschaft) ● bei Sturz auf Verletzungen untersuchen; Verletzungen sind eher unüblich, da die Patienten ihre Hypoglykämie meist bemerken und sich rechtzeitig hinsetzen. ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. O2-Gabe, initial 2–4 l/min, weiter nach SpO2 (Ziel 92– 96 %) Erweiterte Maßnahmen • Bei einer durch Nahrungsaufnahme nicht beherrschbaren Hypoglykämie oder bei Bewusstseinsstörungen werden 5–10 g Glukose i. v. injiziert (ggf. wiederholt): ● vorzugsweise 25–50 ml Glukose 20 % als Kurzinfusion, parallel VEL anhängen (Glukose ist stark venenreizend) ● Glukose 40 % muss vor der Injektion verdünnt werden, z. B. 10 ml Glukose 40 % + 10 ml/NaCl 0,9 %/Aqua auf eine 20ml-Spritze.

ACHTUNG Glukose darf nur über einen korrekt liegenden i. v.-Zugang injiziert werden. Gelangt hochprozentige Glukose als Paravasat ins Gewebe, drohen Nekrosen. Ist der Patient wieder bei Bewusstsein, soll er Kohlenhydrate zu sich nehmen, da die i. v.-Glukose nur kurz wirksam ist. Einige Patienten haben Glukagon-Fertigspritzen (z. B. GlucaGen®, Hypokit®), die sie sich im Notfall s. c. oder i. m. injizieren können, um die körpereigene Glukoseproduktion an-

Abb. 14.17 Insulinpumpe.

Über einen Katheter (meist an Bauch, Oberschenkel oder Oberarm) wird kontinuierlich Insulin abgegeben. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

358

Endokrine Erkrankungen und Notfälle zuregen. Auch entsprechende Nasensprays sind verfügbar. Diese Präparate werden zunehmend auch im Rettungsdienst eingesetzt, wenn bei einem Patienten kein i. v.-Zugang gelegt werden kann (Dosierung für Erwachsene und Kinder > 25 kg KG: 1 mg i. m.).

! Merke Im Zweifel für den Unterzucker

Ist bei einer Bewusstseinsstörung bei einem Patienten mit Diabetes mellitus unklar, ob ein Über- oder Unterzucker besteht, und können Sie den Blutzucker nicht messen, ist im Zweifel vom (gefährlicheren) Unterzucker auszugehen. Der Patient erhält Glukose.

Fallbeispiel Fortsetzung – Emmas Zucker „Emma“ (Frau Schneider) bekommt einen i. v.-Zugang und erhält darüber Glukose. Nach wenigen Momenten entspannt sich ihre Muskulatur. Als sie langsam wieder zu Bewusstsein kommt, wundert sie sich sehr über die vielen Menschen in ihrer Küche ... In der Zwischenzeit bereitet der nun auch ruhiger werdende Ehemann seiner Emma zwei Marmeladenbrote zu. Im Gespräch mit der Patientin erfahren Sie, dass sie sich heute Morgen unwohl gefühlt habe. „Auch ein bisschen fiebrig und das Wasserlassen hat gebrannt.“ Sie habe keinen Appetit gehabt und daher nichts gegessen. Die Medikamente, auch das Mittel für ihren Zucker, habe sie allerdings genommen – „man macht ja, was der Doktor sagt, oder?“ Bei Frau Schneider war also die Medikamenteneinnahme trotz einer weggelassenen Mahlzeit die Ursache für ihre deutliche Hypoglykämie.

RETTEN TO GO



ToDo erweitert: bei Bewusstlosigkeit Glukosezufuhr über sicheren i. v.-Zugang (bevorzugt Glukose 20 %, niemals Glukose 5 %), nach Wiederlangen des Bewusstseins orale Zufuhr von Kohlehydraten (z. B. Marmeladenbrot)

14.4 Endokrine Erkrankungen und Notfälle Bei endokrinen Erkrankungen ist die Produktion von Hormonen (S. 89) gestört. Endokrine Notfälle kommen im Rettungsdienst selten vor, da die Erkrankungen meistens in der haus- oder fachärztlichen Versorgung erkannt und behandelt werden. Dennoch sollten Sie entsprechende Symptome und Erkrankungen kennen, um die Patienten zügig einer Notfallversorgung zuzuführen.

14.4.1 Schilddrüsenüberfunktion Grundlagen Definition Schilddrüsenüberfunktion Die Schilddrüse produziert zuviel Hormone, der Körper läuft „auf Hochtouren“. Synonym • Hyperthyreose Ursachen • Die häufigste Ursache ist ein gutartiger Tumor, ein Schilddrüsenadenom, der unkontrolliert, unabhängig von physiologischen Steuermechanismen (S. 90), Hormone bildet. Eine weitere häufige Ursache ist die Autoimmunerkrankung Morbus Basedow: Die Patienten bilden Antikörper gegen das Schilddrüsengewebe, die die Produktion und Ausschüttung der Schilddrüsenhormone stimulieren.

Hypoglykämie ● ●





Definition: Abfall des BZ auf < 50 mg/dl (< 2,8 mmol/l) Symptomatik: im frühen Stadium Heißhunger, Herzrasen, Unruhe, später Sprachstörungen, Lähmungen und Bewusstseinsstörungen Bestimmen Sie bei jeder Bewusstseinsstörung oder auch psychischen Veränderung den BZ, um eine Hypoglykämie als Ursache abzuklären! ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, VEL, Basismonitoring, i. v.-Zugang, Aspirationsprophylaxe, Atemwegssicherung, orale Glukosezufuhr (sofern Patient bei Bewusstsein), ggf. Insulinzufuhr beenden (Suche nach Insulinpumpe!)

Symptomatik • Schilddrüsenhormone stimulieren die Stoffwechselaktivität des Körpers. Dadurch läuft der Körper bei einer Hyperthyreose „auf Hochtouren“ (▶ Abb. 14.18): Die Herzfrequenz ist erhöht, die Patienten sind nervös und unruhig, sie ertragen Wärme schlecht, schwitzen leicht, verlieren ungewollt Gewicht und berichten über Durchfälle. Die Haut ist warm und feucht, das Risiko für eine arterielle Hypertonie und Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern ist erhöht. Die Schilddrüse kann vergrößert sein (Struma).

Abb. 14.18 Symptome bei Hyper- und Hypothyreose im Vergleich.

Hyperthyreose Körper läuft auf Hochtouren

Hypothyreose

! Gefahr der thyreotoxischen Krise

Körper läuft auf Sparflamme

Durchfall Unruhe, Nervosität, Schlaflosigkeit Tachykardie

Gewichtsverlust

Müdigkeit, Frieren, Konzentrationsschwäche

Gewichtszunahme

! Gefahr eines Myxödem-Komas

chronische Verstopfung

Bradykardie

Bei Patienten mit Hyperthyreose ist der Stoffwechsel gesteigert, bei Patienten mit Hypothyreose vermindert. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

359

14

Gastrointestinale Notfälle Therapie • Die Schilddrüsenfunktion wird durch Medikamente (Thyreostatika) gehemmt. Mitunter muss Schilddrüsengewebe operativ entfernt oder durch eine Radiojodtherapie zerstört werden.

RETTEN TO GO Schilddrüsenüberfunktion und thyreotoxische Krise

Komplikation: Thyreotoxische Krise Definition Thyreotoxische Krise Die thyreotoxische Krise ist ein akut lebensbedrohlicher, plötzlicher, starker Anstieg der Schilddrüsenhormone, meist bei vorbestehender Hyperthyreose. Auslöser • Typische Auslöser sind das plötzliche Absetzen von Thyreostatika, Stressereignisse (z. B. Infektion, Hypoglykämie, größere Operation, Trauma), das Verabreichen jodhaltiger Medikamente (z. B. Röntgen-Kontrastmittel) oder eine Exsikkose, meistens bei vorbestehender Hyperthyreose. Symptomatik • Die Symptome sind die Folge einer stark gesteigerten Hormonwirkung und entwickeln sich relativ schnell (▶ Tab. 14.2). Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, 12-Kanal-EKG (DD akutes Koronarsyndrom), Körpertemperatur und BZ messen (v. a. bei bekanntem Diabetes mellitus) ● Sauerstoffgabe: bei potenziell kritisch eingeschätzten Patienten initial hochdosiert (10–15 l/min), dann anpassen je nach Zustand und SpO2; bei nicht als kritisch eingeschätzten Patienten O2 bei Bedarf ● Lagerung: nach Kreislaufzustand und Wunsch des Patienten; stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. Freimachen und Freihalten der Atemwege; bei verlangsamter Atmung assistierte Beutel-Masken-Beatmung; ggf. Intubation vorbereiten ● Wärmeerhalt und psychische Betreuung ● notärztliche Unterstützung anfordern ●

Erweiterte Maßnahmen • Die Patienten erhalten präklinisch bis zu 1000 ml VEL zum Ausgleich von Flüssigkeitsverlusten. Eine Blutentnahme (nach lokalen Standards) ermöglicht in der Zielklinik eine schnelle und exakte Diagnostik, ohne Verfälschung der Ergebnisse durch Medikamente oder VEL. Zur Absenkung der Körpertemperatur wird, je nach lokalem Protokoll, eine Kurzinfusion mit Paracetamol oder Ibuprofen verabreicht. Eine notärztliche Maßnahme ist die Absenkung der Herzfrequenz mit einem β-Blocker. Der Patient wird zügig in eine Klinik mit Intensivstation transportiert.

Tab. 14.2 Stadien der thyreotoxischen Krise. Stadium

Symptome

Stadium I

● ● ● ● ●

Stadium II:



Halluzinationen Desorientiertheit Bewusstseinsstörungen



Koma

● ●

Stadium III

360

Tachykardie > 150/min, Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern, Extrasystolen) Fieber > 41 °C schwere Durchfälle, Dehydratation verstärkter Tremor psychomotorische Unruhe, Agitiertheit

Hyperthyreose ● Definition: erhöhte Konzentration der Schilddrüsenhormone im Blut, dadurch Beschleunigung aller Stoffwechselvorgänge (Körper „auf Hochtouren“) ● Ursachen: am häufigsten gutartige Schilddrüsentumoren, Autoimmunerkrankung Morbus Basedow ● Symptomatik: Schlaflosigkeit, Zittern, innere Unruhe, Gewichtsverlust, Durchfall, Herzstolpern, Herzrasen ● Therapie: Thyreostatika zur Normalisierung der Konzentration der Schilddrüsenhormone Thyreotoxische Krise ● Definition: lebensbedrohliche Komplikation einer Hyperthyreose mit plötzlichem Anstieg der Schilddrüsenhormone ● Symptomatik: zunächst Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, hohes Fieber, Durchfälle, Dehydratation und Unruhe; im Verlauf Bewusstseinsstörungen bis zum Koma ● ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring inkl. 12-Kanal-EKG, i. v.-Zugang, VEL, Aspirationsprophylaxe, Sicherung der Atemwege, NA nachfordern ● ToDo erweitert: VEL bis 1000 ml; evtl. medikamentöse Senkung der Körpertemperatur; β-Blocker zur Senkung der Herzfrequenz; zügiger Transport in Klinik mit Intensivstation

14.4.2 Schilddrüsenunterfunktion Grundlagen Definition Schilddrüsenunterfunktion Die Schilddrüse produziert zu wenig Schilddrüsenhormone, der Körper läuft „auf Sparflamme“. Synonym • Hypothyreose Ursachen • Die häufigste Ursache ist die Hashimoto-Thyreoiditis, bei der die Schilddrüsenzellen durch eine Autoimmunreaktion zerstört werden. Symptomatik • Der Körper läuft „auf Sparflamme“: Typische Symptome sind Müdigkeit, Leistungsabfall, Konzentrationsschwäche, Gewichtszunahme, häufiges Frieren und chronische Verstopfung (▶ Abb. 14.18). Die Differenzierung von einer Depression oder einer beginnenden Demenz mit Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit kann schwierig sein. Eine unbehandelte Hypothyreose in der Kindheit führt zu schweren Störungen des Wachstums und der psychomotorischen Entwicklung. Therapie • Die Behandlung besteht in einem Ersatz der fehlenden Schilddrüsenhormone durch Tabletten (L-Thyroxin).

Komplikation: Myxödem-Koma Synonym • Hypothyreote Krise Auslöser • Typische Auslöser dieser sehr seltenen Komplikation sind Infektionen, Operationen, Verletzungen, ein Myokardinfarkt, die Einnahme bestimmter Medikamente oder eine lang andauernde Kälteexposition, mitunter in Kombination mit einer fehlenden Einnahme von L-Thyroxin.

Endokrine Erkrankungen und Notfälle Symptomatik • Das Leitsymptom ist eine langsam zunehmende Bewusstseinsstörung bis zum Koma. Die Körpertemperatur, der Blutdruck und die Herz- und Atemfrequenz sind erniedrigt. Es bestehen eine Hypoxie und Hyperkapnie. Die Haut ist kühl, trocken und rau. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, 12-Kanal-EKG (DD akutes Koronarsyndrom), Körpertemperatur und BZ messen (v. a. bei bekanntem Diabetes mellitus) ● Sauerstoffgabe: bei potenziell kritisch eingeschätzten Patienten initial hochdosiert (10–15 l/min), dann anpassen je nach Zustand und SpO2; bei nicht kritisch eingeschätzten Patienten O2 bei Bedarf ● Lagerung: nach Kreislaufzustand und Wunsch des Patienten; stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. Freimachen und Freihalten der Atemwege; bei verlangsamter Atmung assistierte Beutel-Masken-Beatmung; ggf. Intubation vorbereiten ● Wärmeerhalt und psychische Betreuung ● notärztliche Unterstützung anfordern Erweiterte Maßnahmen • Die Patienten sind durch eine Ateminsuffizienz gefährdet, ein erweitertes Atemwegsmanagement kann erforderlich sein. Die Infusion einer erwärmten VEL kann sinnvoll sein, um die Temperatur leicht anzuheben und die Regulation des Elektrolyt- und Wasserhaushalts zu unterstützen. Weitere Optionen sind die Infusion von Hydrokortison oder Glukose. Die Patienten werden zügig in eine Klinik mit Intensivstation transportiert.

14.4.3 Unterfunktion der Nebennierenrinde Grundlagen Definition Nebennierenrindeninsuffizienz (NNRI) Die Nebennierenrinde produziert nicht ausreichend Hormone. Problematisch sind ein zu niedriger Spiegel an Glukokortikoiden (Kortisol) und Mineralokortikoiden (Aldosteron). Ursachen • Die häufigste Ursache ist eine länger dauernde, hochdosierte Therapie mit Glukokortikoiden (z. B. bei rheumatischen Erkrankungen), die die körpereigene Hormonproduktion unterdrückt. Wird dies plötzlich beendet, kann die Nebennierenrinde nicht mehr ausreichend Glukokortikoide bilden. Daher muss eine solche Therapie immer ausschleichend beendet werden, damit sich die Nebennierenrinde erholen kann. Seltenere Ursachen sind Entzündungen und Tumoren der Nebennierenrinde (Morbus Addison). Symptomatik • Die Patienten klagen über Allgemeinsymptome wie Übelkeit und Appetitlosigkeit, Schwächegefühle, Gewichtsverlust, niedrigen Blutdruck und Müdigkeit. Das Risiko für Hypoglykämien (S. 358) ist erhöht. Bei Morbus Addison kann die Haut auffällig dunkel pigmentiert sein, v. a. an den Handflächen. Therapie • Die fehlenden Glukokortikoide sowie ggf. Mineralokortikoide werden ersetzt. Bei Stressreaktionen (z. B. Infektionen, größere Operationen) wird die Dosierung bedarfsgerecht erhöht, um eine Addison-Krise zu vermeiden. Viele Betroffene tragen eine Notfallkarte mit Anweisungen für den Notfall bei sich (▶ Abb. 14.19).

RETTEN TO GO Abb. 14.19 Notfallkarte für Patienten mit Morbus Addison. Schilddrüsenunterfunktion und Myxödem-Koma Hypothyreose ● Definition: verminderte Konzentration der Schilddrüsenhormone, dadurch allgemeine Verlangsamung des Stoffwechsels (Körper „auf Sparflamme“) ● Ursache: am häufigsten Hashimoto-Thyreoiditis ● Symptomatik: Müdigkeit, ständiges Frieren, chronische Verstopfung, Gewichtszunahme, niedriger Puls und Blutdruck, evtl. vergrößerte Schilddrüse (Struma) ● Therapie: Einnahme von Thyroxin Myxödem-Koma ● Definition: lebensbedrohliche Komplikation bei unerkannter oder unzureichend behandelter Hypothyreose ● Auslöser: z. B. Infektionen, Operationen, lange Kälteeinwirkung, Einnahme bestimmter Substanzen ● Symptomatik: Hypothermie, Hypotonie, Bradykardie, flache, langsame Atmung, verringerte SpO2, zunehmende Bewusstseinsstörungen bis zum Koma ● ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring inkl. 12-Kanal-EKG, i. v.-Zugang, VEL, Aspirationsprophylaxe, Sicherung der Atemwege, NA nachfordern ● ToDo erweitert: ggf. erweitertes Atemwegsmanagement; evtl. Infusion erwärmter VEL, Gabe von Hydrokortison oder Glukose i. v.; zügiger Transport in eine Klinik mit Intensivstation

Die europäische Notfallkarte steht (genauso wie der Notfallausweis) für Patienten mit Morbus Addison zum kostenlosen Download zur Verfügung. Quelle: Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie 361

14

Gastrointestinale Notfälle

Komplikation: Addison-Krise Auslöser • Bei Patienten mit NNRI können z. B. Operationen, körperliche Anstrengungen, akuter Brechdurchfall, Infektionen oder bestimmte Medikamente einen krisenhaften Abfall der Hormonkonzentration auslösen. Ein weiterer wichtiger Auslöser ist das abrupte Absetzen einer länger dauernden, hochdosierten Therapie mit Glukokortikoiden. Symptomatik • Typische Symptome sind Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall, im weiteren Verlauf entwickeln sich Elektrolytstörungen und eine Hypoglykämie, die Patienten werden bewusstlos. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, 12-Kanal-EKG (DD akutes Koronarsyndrom), Körpertemperatur und BZ messen (v. a. bei bekanntem Diabetes mellitus) ● Sauerstoff: bei potenziell kritisch eingeschätzten Patienten initial hochdosiert (10–15 l/min), dann anpassen je nach Zustand und SpO2; bei nicht kritisch eingeschätzten Patienten O2 bei Bedarf ● Lagerung: nach Kreislaufzustand und Wunsch des Patienten; stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. Freimachen und Freihalten der Atemwege; bei verlangsamter Atmung assistierte Beutel-Masken-Beatmung; ggf. Intubation vorbereiten ● Wärmeerhalt und psychische Betreuung ● notärztliche Unterstützung anfordern Erweiterte Maßnahmen • Eine frühzeitige Blutentnahme (Serumröhrchen zur Bestimmung des Kortisol- und ACTH-Spiegels) ermöglicht in der Zielklinik eine schnelle und exakte Diagnostik, ohne Verfälschung der Ergebnisse durch Medikamente oder VEL. Eine Hypoglykämie wird ggf. durch Glukose ausgeglichen (S. 358). Bei gesicherter Diagnose (Notfallkarte, ▶ Abb. 14.19!) kann als notärztliche Therapie bereits präklinisch ein Glukokortikoid (S. 136) gegeben werden, zusätzlich VEL zum Ausgleich der Dehydratation. Die Patienten werden zügig in eine Klinik mit Intensivstation transportiert.

362

RETTEN TO GO Nebennierenrindeninsuffizienz und Addison-Krise Nebennierenrindeninsuffizienz (NNRI) ● Definition: zu geringe Produktion von Glukokortikoiden (Kortisol) und Mineralokortikoiden (Aldosteron) in der Nebennierenrinde ● Ursachen: Langzeitbehandlung mit Glukokortikoiden, Fehlfunktion der Nebennieren (Morbus Addison) ● Symptomatik: Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schwächegefühle, Gewichtsverlust, niedriger Blutdruck, Müdigkeit, erhöhtes Risiko für Hypoglykämien, bei Morbus Addison evtl. auffällig dunkle Pigmentierung der Haut ● Therapie: lebenslange Substitution der fehlenden Hormone, v. a. in Stresssituationen Dosiserhöhung, um eine Addison-Krise zu vermeiden Addison-Krise ● Auslöser: z. B. Operationen, körperliche Anstrengung, Infektionen, Einnahme bestimmter Medikamente, Stress ● Symptomatik: Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, im weiteren Verlauf Elektrolytstörungen, Hypoglykämie, Bewusstlosigkeit ● ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring, i. v.-Zugang, VEL, Aspirationsprophylaxe, Sicherung der Atemwege, NA nachfordern ● ToDo erweitert: Blutabnahme (Kortisol, ACTH); Infusion von VEL; durch NA Glukokortikoid und ggf. Glukose i. v.; zügiger Transport in eine Klinik mit Intensivstation

15

Traumatologische Notfälle

Abb. 15.1 STUVW-Schema.

15.1 Einführung 15.1.1 Grundlagen Unfallsituationen • Die Bandbreite traumatologischer Notfälle reicht von häuslichen Unfällen über Arbeits- und Verkehrsunfälle bis zu Großschadensereignissen und Katastrophen. Die meisten Unfälle ereignen sich in der Freizeit und im Haushalt, gefolgt von Verkehrsunfällen. Schwere Arbeitsunfälle sind aufgrund von umfassenden Sicherheitsvorschriften und Vorsorgeprogrammen seltener geworden. Unfallmechanismen • Eine genaue Anamnese über den Hergang des Traumas gibt entscheidende Hinweise auf die Schwere der Verletzungen: Ein Fußtritt ist meist gefährlicher als ein Faustschlag, ein Anprall mit 50 km/h schwerwiegender als mit 30 km/h. Auch das Ausmaß der Zerstörung, z. B. von Fahrzeugteilen, kann ein Anhaltspunkt sein. Evtl. können Sie diese Fakten für die spätere Demonstration in der Klinik fotografieren – aber auch nur zu diesem Zweck. Beurteilung der Einsatzstelle • Unfallorte können auch für die Einsatzkräfte gefährlich sein (z. B. im Straßenverkehr), beachten Sie daher die Tipps zum Verhalten an der Einsatzstelle (S. 175). Den Fokus auf Unfallsituationen legt z. B. das STUVW-Schema (▶ Abb. 15.1).

ACHTUNG Achten Sie insbesondere an unübersichtlichen Unfallstellen auf einen ausreichenden Eigenschutz!

364

W

Wen müssen wir noch alarmieren?

S

Sicherheit gewährleistet?

T

V

Tragen wir alles bei uns?

Verletztenzahl

U

(Schutzausrüstung, Material ...)

Unfallmechanismus

In Unfallsituationen ist es wichtig, sich eine schnelle und umfassende Übersicht über den Einsatzort zu verschaffen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Einführung

▶S. 364

Verletzungen der Gelenke, Sehnen und Bänder

▶S. 366

Verletzungen der Extremitäten Frakturen

▶S. 368 Wunden

Wunden, Blutungen, Amputationen

▶S. 372

Blutungen und Blutstillung ▶S. 374 Amputationen

Schädel-Hirn-Trauma S

▶S. 378

▶S. 379 Verletzungen des Halses

Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule Thoraxtrauma

Wirbelsäulenverletzungen ▶S. 384

▶S. 386

Bauchtrauma Beckentrauma

Polytrauma

▶S. 383

▶S. 391

▶S. 395

▶S. 397

Verbrennungen und Verbrühungen

Thermische Verletzungen ▶S. 398 Verätzungen ▶S. 401

Kälteschäden Umweltbedingte Notfälle

▶S. 402

Hitzenotfälle ▶S. 405 Strom- und Blitzunfälle Tauchnotfälle

▶S. 409

▶S. 411

Vorgehen bei der Versorgung von Traumapatienten • Verletzte werden grundsätzlich nach dem cABCDE-Schema beurteilt, allerdings sind einige Besonderheiten zu beachten: ● Als erste Maßnahme werden ggf. lebensbedrohliche Blutungen gestillt – Punkt c des cABCDE-Schemas (S. 186). ● Bei Punkt A wird beurteilt, ob die Halswirbelsäule des Verletzten stabilisiert werden muss (S. 183). ● Nach dem Punkt C folgt eine schnelle Traumauntersuchung (S. 190). Hilfreich für eine strukturierte Versorgung sind Trauma-Algorithmen, z. B. ITLS (International Trauma Life Support) und der Algorithmus „Entscheidungsfindung bei Traumapatienten“ des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst e. V. (DBRD).

! Merke Bewusstlosigkeit nach Unfall

Ist ein Verletzter bewusstlos, müssen Sie alle Erkrankungen oder Störungen beachten, die zu einem Bewusstseinsverlust (S. 416) führen können, z. B. ein Krampfanfall, eine Blutzuckerentgleisung oder eine Intoxikation. Nur so können Sie unterscheiden, ob die Bewusstlosigkeit eine Folge oder die Ursache des Unfalls ist – möglicherweise ist der Unfall passiert, weil der Patient aufgrund einer Erkrankung das Bewusstsein verloren hat!

15.1.2 Rettung eingeklemmter Personen Generelles Vorgehen Die Rettung eingeklemmter Personen aus Kraftfahrzeugen oder Maschinen erfordert ein abgestimmtes Vorgehen von Rettungsdienst und Feuerwehr.

ACHTUNG Beachten Sie immer die Eigensicherung! Ist das Fahrzeug gegen Wegrollen oder Umkippen gesichert? Ist die Feuerwehr alarmiert? Unternehmen Sie keine Rettungsversuche, bevor dies geklärt ist!

! Merke Eingeklemmte Person

Gehen Sie bei eingeklemmten Personen bis zum Beweis des Gegenteils von einem Polytrauma mit Wirbelsäulenverletzung aus. Zunächst muss der Zustand des Patienten eingeschätzt und die Vitalfunktionen geprüft und gesichert werden. Hierfür wird bei einem Kfz ein Erstzugang benötigt, z. B. über ein Seiten- oder Heckfenster. Bei allen weiteren Maßnahmen sollte der Verletzte durch eine schwer entflammbare Decke und (falls möglich) einen Helm vor herabfallenden Teilen geschützt werden. Die Einklemmungssituation und der gesamte Rettungsvorgang mit der begleitenden Geräuschkulisse bedeuten für den Patienten enormen Stress. Die psychische Betreuung ist daher von entscheidender Bedeutung: Vermitteln Sie dem Patienten das Gefühl, nicht allein zu sein und erklären Sie die einzelnen Schritte angemessen. Der Zustand des Patienten entscheidet über das weitere Vorgehen und das notwendige Tempo der Rettung.

Schnelle (schonende) Rettung Bei stabilen Patienten findet die Erstversorgung (Oxygenierung, Stabilisierung der HWS, Blutstillung, evtl. Infusionstherapie und Analgesie), soweit möglich und nötig, im Fahrzeugwrack statt. Gleichzeitig schafft die Feuerwehr Stück für Stück eine Rettungsöffnung. Im Idealfall wird das Fahrzeugdach komplett entfernt oder der Fahrgastraum seitlich vollständig geöffnet (▶ Abb. 15.2). Dafür ist eine enge Abstimmung zwischen Rettungspersonal und Feuerwehr notwendig: Sind medizinische Maßnahmen nötig, müssen tech365

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.2 Schonende Rettung.





Die Säulen wurden durchtrennt, das Dach abgenommen und der Patient befreit. Eine notfallmedizinische Versorgung war während der gesamten technischen Rettung möglich. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; © Berufsfeuerwehr Duisburg

nische Rettungsmaßnahmen evtl. kurz unterbrochen werden. Außerdem kann z. B. ein zu rasches Wegziehen von Wrackteilen dazu führen, dass Blutvolumen plötzlich umverteilt wird oder „versackt“. Dies kann schwere Kreislaufprobleme verursachen. Über die Rettungsöffnung erfolgt eine achsengerechte Rettung des Verletzten unter Zuhilfenahme von Immobilisationshilfen wie einem Spineboard (S. 232) oder nach Anlage eines Rettungskorsetts (S. 235) zur Immobilisierung der Wirbelsäule.

! Merke Überwachung

Während der gesamten Rettung muss der Zustand des Patienten immer wieder kritisch überprüft werden, um bei einer Verschlechterung zu einer Crashrettung (s. u.) wechseln zu können.

Sofortrettung Synonyme • Crashrettung, Notrettung Vorgehen • Der Patient wird unter erheblichem Zeitdruck und absoluter Lebensgefahr gerettet, z. B. bei in der Einklemmungssituation nicht beherrschbaren, innerhalb von Minuten tödlichen Verletzungen oder bei Gefahrenquellen von außen (z. B. Brand-, Explosions- oder Einsturzgefahr). Bei diesem Vorgehen werden, um das Leben des Patienten zu erhalten, evtl. weitere Verletzungen durch die Rettung in Kauf genommen. Dennoch sollte (wenn möglich) eine HWSImmobilisation mittels Stützkragen oder manuell durchgeführt werden (▶ Abb. 9.39). Mit dem Rautek-Rettungsgriff (S. 230) wird der Patient so achsengerecht wie möglich aus der Einklemmungssituation befreit und weiter versorgt.

schnelle (schonende) Rettung: Bei stabilen Patienten legt die Feuerwehr parallel zur weiteren Versorgung des Patienten eine Rettungsöffnung an. Über diese erfolgt eine achsengerechte Rettung des Verletzten unter Zuhilfenahme von Immobilisationshilfen wie Spineboard oder nach Anlage eines Rettungskorsetts zur Immobilisierung der Wirbelsäule. Sofort- oder Crashrettung: Rettung unter erheblichem Zeitdruck und absoluter Lebensgefahr bei nicht beherrschbaren Verletzungen oder äußeren Gefahrenquellen; u. U. Inkaufnahme weiterer Verletzungen; trotzdem möglichst HWS-Immobilisation und achsengerechte Rettung

15.2 Verletzungen der Extremitäten 15.2.1 Einführung Verletzungen an Armen und/oder Beinen kommen im Rettungsdienst häufig vor. Sie müssen immer sachgerecht behandelt werden, auch wenn sie sich oft eher unscheinbar präsentieren: Beispielsweise können zu spät erkannte oder unsachgemäß behandelte Frakturen zu erheblichen Funktionseinschränkungen führen. Das Spektrum der Verletzungen reicht von einfachen Verstauchungen bis zu lebensbedrohlichen (offenen) Frakturen oder Amputationen. pDMS-Kontrolle • Kontrollieren Sie bei Verdacht auf eine Extremitätenverletzung die periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität, um festzustellen, ob die für den Erhalt der Gliedmaße notwendigen Strukturen (Blutgefäße, Nerven, Sehnen) noch intakt sind. Wiederholen Sie die Kontrolle nach dem Anlegen eines Verbands oder einer Schienung. ● Durchblutung (pD, ▶ Abb. 15.3a): Sind die Färbung, Temperatur und Pulse distal (= weiter vom Körperstamm entfernt) der Verletzung seitengleich? Machen Sie eine Nagelbettprobe (S. 189). ● Motorik (M, ▶ Abb. 15.3b): Fordern Sie den Verletzten auf, die Finger bzw. Zehen zu bewegen. ● Sensibilität (S, ▶ Abb. 15.3c): Berühren Sie den Patienten distal der Verletzung und fragen Sie: „Wo habe ich Sie gerade berührt?“

15.2.2 Verletzungen der Gelenke, Sehnen und Bänder Distorsionen Definition Distorsion (Verstauchung)

RETTEN TO GO Rettung eingeklemmter Personen ●





366

Wichtig: abgestimmtes Vorgehen von Rettungsdienst und Feuerwehr, immer Eigensicherung beachten, psychische Betreuung des Verletzten während der Rettung Gehen Sie bei eingeklemmten Personen immer von einem Polytrauma mit Wirbelsäulenverletzung aus. Für die Prüfung und Sicherung der Vitalfunktionen legt die Feuerwehr einen Erstzugang an.

Ein Gelenk wird kurzzeitig über das normale Maß hinaus gedehnt. Muskeln, Sehnen und Bänder können geschädigt werden. Ursachen • Distorsionen sind die Folge einer indirekten Gewalteinwirkung, oft bei Sportverletzungen. Am häufigsten ist das Sprunggelenk betroffen („Umknicktrauma“). Symptomatik • Das Gelenk ist geschwollen, schmerzhaft und nur noch eingeschränkt beweglich. Eine Blaufärbung ist ein Hinweis auf eine Einblutung in das Gelenk oder das umgebende Gewebe.

Verletzungen der Extremitäten Abb. 15.3 pDMS-Schema.

a

b

c

Bei Verletzungen an einer Extremität müssen Sie die distale Durchblutung, Motorik und Sensibilität im Seitenvergleich überprüfen. a periphere Durchblutung (pD): Beurteilen Sie die Farbe und Temperatur der Haut, tasten Sie die peripheren Pulse und führen Sie die Nagelbettprobe durch. b Motorik (M): Prüfen Sie, ob der Verletzte die Finger bzw. Zehen bewegen kann. c Sensibilität (S): Prüfen Sie, ob der Verletzte leichte Berührungen wahrnimmt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

! Merke Verstaucht oder doch gebrochen?

Abb. 15.4 PECH-Regel.

Im Rettungsdienst helfen die sicheren Frakturzeichen (S. 370) bei der Unterscheidung zwischen einer Distorsion und einer Fraktur. Eine definitive Unterscheidung ist in der Regel jedoch erst in der Klinik durch eine Röntgenaufnahme möglich.

Luxationen Definition Luxation (Verrenkung)

Pause machen

Eis auflegen

Der normale Kontakt von zwei oder mehr Knochen in einem Gelenk geht verloren. Das Gelenk zeigt eine Fehlstellung. Bei einer Luxationsfraktur besteht zusätzlich ein Knochenbruch. Ursachen • Am häufigsten sind das Schulter- (ca. 45 % d.F.) oder das Ellenbogengelenk betroffen, seltener das Sprungoder das Hüftgelenk (v. a. bei älteren Patienten nach einem Gelenksersatz). Meistens sind Luxationen die Folge eines Traumas. Bei vorbestehender Instabilität des Gelenks kann jedoch bereits eine geringe Krafteinwirkung (z. B. beim Sport) zu einer Luxation führen. Eine solche habituelle (gewohnheitsmäßige) Luxation wird am häufigsten am Schultergelenk beobachtet. Symptomatik • Ein sicheres Zeichen einer Luxation ist eine federnde (also nicht ganz feste), aber sehr schmerzhafte Bewegungsunfähigkeit des Gelenks. Manchmal ist die leere Gelenkpfanne oder der Gelenkkopf außerhalb der Gelenkpfanne tastbar. Unsichere Zeichen sind Schmerzen, eine Schonhaltung, eine Schwellung oder ein Hämatom. Oft kann die Extremität nicht mehr bewegt werden.

Versorgung des Patienten ACHTUNG Gehen Sie auch bei diesen scheinbar banalen Verletzungen nach dem cABCDE-Schema vor: Beispielsweise besteht bei winterlichen Verhältnissen die Gefahr einer Unterkühlung (E-Problem).

Compression

Hochlagern

Die PECH-Regel ist eine Merkhilfe für Erstmaßnahmen bei leichten Gelenkverletzungen. Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● pDMS-Kontrolle (S. 366) ● Wärmeerhalt (S. 249) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● PECH-Regel anwenden (▶ Abb. 15.4): – P (Pause): keine weitere Belastung des Gelenks – E (Eis): Eine kurzfristige Kühlung (< 20–30 min) ist bei allen Gewebetraumata sinnvoll. Achten Sie jedoch darauf, dass das Kühlmittel (z. B. Cool-Pack®) keinen direkten Hautkontakt hat: Schützen Sie die Haut z. B. durch lockeres Umwickeln des Gelenks mit einer Mullbinde. Nehmen die Schmerzen zu, beenden Sie die Kühlung. – C (Compression): Stellen Sie das Gelenk mit einem stabilisierenden Verband (S. 237) ruhig. – H (Hochlagerung): Lagern Sie die betroffene Extremität hoch, um die lokale Schwellung zu reduzieren. ● ggf. notärztliche Unterstützung für Analgesie und Reposition anfordern 367

15

Traumatologische Notfälle Erweiterte Maßnahmen • Luxationen werden so schnell wie möglich durch dosierten Zug reponiert („eingerenkt“) oder zumindest achsengerecht gelagert – abhängig von der Art der Luxation und der Transportzeit. Dies soll dauerhafte Schädigungen der Nerven, Gefäße und des umliegenden Gewebes vermeiden (▶ Abb. 15.5). Die Reposition ist eine (not) ärztliche Aufgabe und muss immer unter adäquater Analgesie durchgeführt werden. Wegen der Gefahr sekundärer Schädigungen sollte sie nicht erzwungen werden. Bestehen bereits pDMS-Störungen, ist Eile geboten.

RETTEN TO GO

Abb. 15.5 Sprunggelenksluxation.

a

Verletzungen der Gelenke, Sehnen und Bänder ●







Distorsion (Verstauchung): Ein Gelenk, am häufigsten das Sprunggelenk, wird über sein normales Maß hinaus gedehnt, oft als Sportverletzung. Das Gelenk ist geschwollen, schmerzhaft, nur eingeschränkt beweglich und evtl. blau verfärbt (Hinweis auf Einblutung). Luxation (Verrenkung): Der normale Kontakt von zwei oder mehr Knochen in einem Gelenk geht verloren (am häufigsten: Schulter- oder Ellenbogengelenk). Das Gelenk ist schmerzhaft und federnd in einer Fehlstellung fixiert, häufig auch geschwollen. Der Verletzte nimmt eine Schonhaltung ein. ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, pDMS-Kontrolle, Anwendung der PECH-Regel (Pause, Eis, Compression [stabilisierender Verband], Hochlagern), Wärmeerhalt, Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL, ggf. NA für Analgesie und Reposition anfordern ToDo erweitert: Analgesie, bei Luxation Reposition oder achsengerechte Lagerung des Gelenks

b

Die Reposition eines luxierten Gelenks ist wichtig, um dauerhafte Schädigungen der Nerven, der Gefäße und des umliegenden Gewebes zu vermeiden. a Die Luxation vor der Reposition: Das Gelenk zeigt eine deutliche Fehlstellung. Einige Hautbereiche sind schlecht durchblutet (blass), es besteht die Gefahr von Nekrosen. b Die Luxation nach der Reposition: Die Gelenkfehlstellung ist behoben. Die Weichteile sind entlastet und wieder rosig. Aus: Tiesmeier J, Wille H, Holtz L et al.: Reposition und achsengerechte Immobilisation Sprunggelenk – Schritt für Schritt. In: retten! 2018; 7(05): 373–379. Stuttgart: Thieme

15.2.3 Frakturen Fallbeispiel „Häuslicher Sturz“* Sie werden mit dem Einsatzstichwort „häuslicher Sturz“ zu Familie Fischer in eine Reihenhaussiedlung am Stadtrand alarmiert. Der völlig aufgelöste, ca. 80-jährige Ehemann der Patientin empfängt Sie an der Tür mit den Worten: „Ich habe ihr schon immer gesagt, sie soll diese Scheiß-Teppiche wegschmeißen! Aber sie hört ja nicht.“ Ihre Kollegin, eine Notfallsanitäterin, nickt, stellt das Team vor und sagt: „Also gut, Herr Fischer, wo ist denn Ihre Frau?“ Herr Fischer führt Sie unter weiteren Verfluchungen der häuslichen Auslegwaren in den Flur, wo eine ebenfalls ca. 80-jährige Frau rücklings auf dem Boden liegt, offenbar schmerzgeplagt. „Hallo“, sagt sie zur Begrüßung, „Gott sei Dank sind Sie da! Ich bin gestolpert, kann nicht mehr aufstehen und mein Mann raubt mir den letzten Nerv!“ Ihre Kollegin nickt wieder kommentarlos und bittet den Ehemann, doch mal den Medikamentenplan und die Versichertenkar-

Grundlagen Definition Fraktur Die Kontinuität eines Knochens ist unterbrochen. Es entstehen zwei oder mehr Bruchstücke (Fragmente), der Knochen verliert seine Stabilität, umliegendes Gewebe kann geschädigt werden.

368

te zu suchen, während sie sich gemeinsam mit Ihnen um Frau Fischer kümmert. Diese kann sprechen und hat offenbar keine Probleme in den Bereichen A und B. Die Hände sind ein wenig kalt, die Nagelbettprobe ist nicht verwertbar (am ehesten durch eine stressbedingte Kapillarverengung). Der Puls ist gut tastbar. Das linke Bein ist offensichtlich weiter nach außen gedreht und kürzer als das rechte. Sanfter Druck auf die linke Hüfte ist schmerzhaft. Die Verdachtsdiagnose lautet „Schenkelhalsfraktur“. Sonst stellen Sie keine Verletzungen fest. Nach Angaben der Patientin und ihres Mannes war sie beim Sturz nicht bewusstlos. Anmerkung: Damit ist eine internistische Ursache des Sturzes (z. B. Synkope) nicht ausgeschlossen! *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Ursachen • Die meisten Frakturen entstehen traumatisch. Dabei bricht der Knochen durch einen Schlag von außen (direkte Fraktur) oder indirekt als Folge einer Stauchung, Drehung oder Biegung an anderer Stelle (indirekte Fraktur). Ist die Knochenstruktur krankhaft verändert (z. B. bei Osteoporose oder bösartigen Absiedlungen im Knochen), kommen Frakturen auch spontan oder bei nur leichter Gewalteinwirkung vor (pathologische Frakturen).

Verletzungen der Extremitäten Abb. 15.6 Frakturformen.

Abrissfraktur

Biegungsfraktur

Stauchungsfraktur

Drehfraktur

Abscherfraktur

Trümmerfraktur

Der in Röntgenaufnahmen sichtbare Verlauf der Frakturlinien gibt oft Aufschluss über den wahrscheinlichen Verletzungsmechanismus. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 Einteilung nach der Bruchform • Insbesondere bei geschlossenen Frakturen ist die genaue Art des Bruchs erst in einer Röntgenaufnahme eindeutig bestimmbar. Der Verlauf der Frakturlinien hängt vom Verletzungsmechanismus ab (z. B. Biegungs- vs. Drehfraktur, ▶ Abb. 15.6). ● inkomplette Frakturen: Knochen teilweise noch intakt – Fissur: Riss in der Oberfläche des Knochens – Grünholzfraktur bei Kindern: Die innere Knochenstruktur reißt ein, ohne dass die bei Kindern noch leicht biegsame Knochenhaut verletzt wird. ● komplette Frakturen: Unterschieden werden dislozierte (deutliche Verschiebung der Fragmente gegeneinander) und nicht dislozierte Frakturen (regelrechte Stellung der Fragmente). Einteilung nach dem Zustand des Weichteilmantels ● geschlossene Frakturen: Die Haut ist unverletzt, bei der Untersuchung ist kein Knochen sichtbar. Dennoch sind schwere Weichteilverletzungen möglich! ● offene Frakturen: Knochenteile haben die Haut durchstoßen (▶ Abb. 15.7, ▶ Abb. 15.8).

! Merke Fraktur: #

Abb. 15.7 Gradeinteilung offener Frakturen.

Grad I Mindestens ein Teil eines Knochens ist durch die Haut gestoßen, keine größere Weichteilschädigung.

Grad II größerer Haut-, aber eher geringer Weichteilschaden (z.B. Quetschung durch großes Gewicht)

Grad III massive Verletzung wichtiger Begleitstrukturen (Muskeln, Gefäße, Sehnen, Nerven)

Grad IV vollständige oder teilweise Amputation bei schwerer Gewalteinwirkung

Nach Tscherne/Oestern werden 4 Grade unterschieden.

Zur schnellen Dokumentation wird statt „Fraktur“ häufig nur # geschrieben, z. B. Unterschenkel-#. Unbemerkter Blutverlust bei Frakturen • Blutverluste sind nicht immer von außen sichtbar: Auch geschlossene Frakturen können mitunter lebensbedrohliche Blutungen nach sich ziehen. Je nach frakturiertem Knochen können zwischen 500 und 5 000 ml Blut unbemerkt in Körperhöhlen übertreten (▶ Abb. 15.9)!

369

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.8 Offene Fraktur. ●

– sichtbare freie Knochenteile Unsichere Frakturzeichen lassen eine Fraktur vermuten, beweisen sie aber nicht: – Schmerzen, v. a. bei Kompression – Schwellung/Hämatom – Funktionsstörung bzw. Funktionsausfall – Schonhaltung

! Merke Frakturzeichen

Fehlende Frakturzeichen schließen eine Fraktur nicht aus (das ist nur mit bildgebender Diagnostik möglich). Offene Unterschenkelfraktur Grad IIIa. Aus: Niethard F, Pfeil J, Biberthaler P, Hrsg. Duale Reihe Orthopädie und Unfallchirurgie. 9. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022 Abb. 15.9 Potenzieller Blutverlust bei geschlossenen Frakturen.

Oberarmfraktur 100–800 ml

Unterarmfraktur 50–500 ml Beckenfraktur 500–5000 ml Oberschenkelfraktur 300–2000 ml

Unterschenkelfraktur 100–1000 ml

Je nach Ort und Ausmaß der Fraktur können die Blutverluste auch bei geschlossenen Frakturen beträchtlich sein. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Symptomatik Frakturen sind meistens sehr schmerzhaft. Um im Rettungsdienst abzuschätzen, ob tatsächlich eine Fraktur besteht, sind die sicheren und unsicheren Frakturzeichen hilfreich. Sie können allerdings trotz Fraktur fehlen! ● Sichere Frakturzeichen lassen eindeutig auf einen Bruch schließen: – abnorme Beweglichkeit – Fehlstellung oder Stufenbildung – Krepitation: knirschendes Geräusch durch das Aneinanderreiben der Knochenfragmente bei Bewegungen (niemals aktiv auslösen!) 370

Versorgung des Patienten Grundsätzlich wird die Kleidung und möglichst auch der Schmuck des Patienten sowohl zur Diagnostik als auch für die Reposition und Fixation entfernt. Gehen Sie dabei möglichst schonend vor, verwenden Sie eine Kleiderschere. Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Untersuchung: Tasten Sie die Extremitäten vorsichtig ab und achten Sie dabei besonders auf Blutungen, Schwellungen und Stufenbildungen. ● Schockprophylaxe (beträchtlicher Blutverlust möglich!) ● regelmäßige pDMS-Kontrollen (S. 366), Dokumentation der Befunde (immer vor und nach jeder Manipulation) ● Basismonitoring: RR, Puls, EKG, O2-Sättigung ● Wärmeerhalt (S. 249) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● ggf. O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● bei starken Schmerzen und/oder Schockzeichen notärztliche Unterstützung anfordern ● bei offenen Frakturen: Wegen der hohen Infektionsgefahr müssen Sie die Wunde steril abdecken (keine Spülung oder Reinigung). Dieser Verband bleibt möglichst bis zur definitiven Versorgung in der Klinik verschlossen. Eine Bilddokumentation des Befundes kann sinnvoll sein. Erweiterte Maßnahmen • Die meisten Verletzten mit Frakturen benötigen eine Analgosedierung (S. 119), z. B. mit Esketamin (z. B. Ketanest S®) und Midazolam (z. B. Dormicum®). Anschließend wird jede Fraktur am Unfallort achsengerecht reponiert, um komprimierte, gedehnte oder schlecht durchblutete Strukturen zügig zu entlasten. Danach wird die Extremität durch eine Schienung achsengerecht ruhiggestellt (Retention, ▶ Abb. 15.10). Siehe das Kapitel Arbeitstechniken für die geeigneten Materialien (S. 237). Eine Ganzkörperimmobilisation kann (z. B. bei Verdacht auf ein Wirbelsäulentrauma) mit einer Vakuummatratze (S. 236) oder einem Spineboard (S. 232) erfolgen. Beachten Sie Folgendes: ● Für eine effektive Ruhigstellung müssen bei der Retention immer die benachbarten Gelenke einbezogen werden. ● Nach der Reposition und Retention muss eine pDMS-Kontrolle durchgeführt werden. ● Vakuumschienen verkürzen sich, wenn die Luft abgesaugt wird. Dadurch können Knochenfragmente wieder aufeinandergedrückt werden. Falten, die beim Absaugen der Luft entstehen, können den Weichteilschaden verschlimmern. Bei offenen Frakturen sind Vakuumsysteme daher relativ kontraindiziert. ● Für eine Ganzkörperimmobilisation ist die Vakuummatratze zu bevorzugen: Beim Festziehen der Gurte eines Spineboards können sich die Frakturfragmente verschieben.

Verletzungen der Extremitäten Abb. 15.10 Notfallversorgung einer offenen distalen Radiusfraktur.

a

b

Nach der Reposition der Fraktur wird die Wunde versorgt und anschließend eine achsengerechte Schienung angelegt, ggf. wird eine Schonhaltung unterstützt. a Reposition der Fraktur durch leichten axialen Zug. b Abdecken der offenen Wunde mit sterilen Kompressen. c Fixieren der Kompressen mit einer Mullbinde. d Anmodellieren einer Sam-Splint®Schiene an den Unterarm. e Fixieren der Unterarmschiene mit einer Mullbinde. f Zusätzliche Fixierung mit einem Dreiecktuch. g pDMS-Kontrolle an den Fingern. h Zur Schmerzlinderung wird eine Kühlung aufgebracht. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

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15

Traumatologische Notfälle

Fallbeispiel Fortsetzung – „Häuslicher Sturz“ „Frau Fischer“, fragt Ihre Kollegin, „können Sie sich daran erinnern, wie Sie hingefallen sind?“ – „Ja, das kann ich. Ich hab‘ ja noch versucht, mich hier am Schrank festzuhalten, aber es hat nicht geklappt.“ – „Und Sie sind auch nicht mit dem Kopf aufgekommen, oder?“, bohrt die Kollegin weiter. „Nein, da tut mir auch nichts weh.“ – „Sind Sie denn an der Hüfte schon mal operiert worden?“ „Nein“, antwortet die Patientin, „ich bin noch nie im Krankenhaus gewesen – und mein Mann ist so aufgeregt, weil er jetzt eigentlich zum Urologen müsste, wegen seiner Vorsorge. Ach, ich weiß auch nicht, was ich machen soll! Ich wollte doch eigentlich mit ihm gehen.“ „Jetzt sind erst mal Sie dran“, sagt die Kollegin. „Sie haben sich evtl. die Hüfte gebrochen und wir müssen Sie ins Krankenhaus mitnehmen. Mein Kollege macht Ihnen einen Sauerstoffsensor an den Finger, misst den Blutdruck und klebt Ihnen danach noch ein EKG auf. Ich werde einen Venenzugang legen, damit wir nötigenfalls Medikamente spritzen können. Ist das okay für Sie?“ – „Ja, machen Sie nur. Aber was ist denn mit meinem Mann? Können Sie den noch zum Urologen bringen?“ Frau Fischer macht sich deswegen anscheinend große Sorgen. „Wie wäre es, wenn wir jemanden anrufen, der das übernehmen könnte? Haben Sie Kinder oder Bekannte, die dafür in Frage kommen?“ – „Ach ja, das ist eine gute Idee. Die Johanna wollte doch sowieso in die Stadt.“

RETTEN TO GO Frakturen ●











372

Definition: teilweise oder vollständige Unterbrechung eines Knochens Ursachen: meist als Folge eines Traumas (Schläge, Verdrehungen, Stauchungen), bei Schädigungen der Knochengrundsubstanz (z. B. bei Osteoporose) auch spontan oder nach sehr geringer Gewalteinwirkung Einteilung: geschlossene und offene Frakturen (Verbindung des Knochens nach außen, hohes Infektionsrisiko) Symptome: starke Schmerzen; sichere Frakturzeichen: abnorme Beweglichkeit, Fehlstellung, Krepitation, sichtbare Knochenteile; unsichere Frakturzeichen: Schmerzen, Rötung, Schwellung, Funktionsstörung, Schonhaltung; Risiko einer gefährlichen und (v. a. bei geschlossenen Frakturen) unbemerkten Blutung ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, wiederholte pDMSKontrollen, Schockprophylaxe, bei offenen Frakturen sorgfältige Wundversorgung ToDo erweitert: Analgosedierung (z. B. Esketamin + Midazolam), achsengerechte Reposition, Ruhigstellung der Extremität

In diesem Moment kommt Herr Fischer mit dem Medikamentenplan und der Versichertenkarte zurück. Er ist sofort einverstanden, die gemeinsame Tochter Johanna anzurufen, und verschwindet mit dem Telefon in der Hand. Eine wichtige Basismaßnahme ist, wie bei jeder Fraktur, die Ruhigstellung. Sie und Ihre Kollegin legen Frau Fischer dazu mit einer Schaufeltrage auf eine Vakuummatratze. Der Medikamentenplan ergibt 2 Präparate gegen hohen Blutdruck und ein Präparat zur Blutverdünnung (Marcumar®). Die Sättigung ist mit 97 % in Ordnung, ebenso der Blutdruck (110/ 70 mmHg). Das EKG zeigt ein Vorhofflimmern mit unregelmäßiger Überleitung, das wohl schon länger besteht – sonst bekäme die Patienten wahrscheinlich kein Marcumar. Ihre Kollegin geht auf Nummer sicher: „Warum und wie lange nehmen Sie denn das Marcumar ein, Frau Fischer?“ – „Ach“, antwortet diese, „bestimmt schon seit 10 Jahren. Das ist gut eingespielt – ich geh‘ nur noch einmal im Quartal zur Kontrolle beim Hausarzt. Das hab‘ ich gekriegt, weil ich was mit den Vorhöfen vom Herzen hab … Die sind, glaub ich flatterig.“ Ihre Kollegin muss schmunzeln. „Ihren Blutzucker habe ich beim Anlegen des Zuganges mitbestimmt, der ist mit 107 (mg/dl) völlig in Ordnung“, sagt sie zu Frau Fischer. Diese antwortet: „Ja, mit dem Zucker hab‘ ich zum Glück nix zu schaffen.“

15.3 Wunden, Blutungen und Amputationen 15.3.1 Wunden Wundarten Definition Wunde Die Oberfläche der Haut oder von Schleimhäuten ist beschädigt oder durchtrennt. Dadurch entfällt ihre Schutzfunktion und Keime gelangen leichter in den Körper. Schürfwunden (Exkoriationen) • Durch ein Rutschen oder Scheuern über eine Fläche wird die oberste Hautschicht verletzt (▶ Abb. 15.11a). Die Wunde blutet meist wenig und ist schnell von einem glasigen Film aus Gewebewasser bedeckt. Zusätzlich sind thermische Schäden (Verbrennungen) möglich, da das Rutschen über eine Fläche (z. B. Turnhallenboden) große Wärme an der Hautoberfläche erzeugen kann. In diesen Fällen rötet sich die Haut an der Schürfwunde stark, schwillt an und bildet evtl. Blasen. Stich- und Schnittwunden • Die Wundränder sind meistens glatt (▶ Abb. 15.11b). Auch oberflächliche Schnittwunden an exponierten Stellen (z. B. Hals oder Handgelenke) können lebensbedrohlich sein. Die Verletzungstiefe und damit die Schädigung innerer Organe wird v. a. am Körperstamm häufig unterschätzt. Daher sollten Verletzte mit Stichwunden grundsätzlich in eine Klinik gebracht werden. Manche Schnittwunden entstehen in suizidaler Absicht. Eine Sonderform der Stichwunde ist die Pfählungsverletzung, bei der der Fremdkörper das Gewebe durchspießt (unabhängig davon, ob sich der Fremdkörper noch im Körper des Verletzten befindet oder nicht). Bei solchen Verletzungen ist es schwierig, das Verletzungsausmaß richtig einzuschätzen. Befindet sich der Fremdkörper noch in der Wunde, darf er präklinisch unter keinen Umständen aus der Wunde entfernt werden:

Wunden, Blutungen und Amputationen Abb. 15.11 Wundarten.

Schusswunden Prellschuss: Das Geschoss quetscht das Gewebe, dringt aber nicht in die Haut ein. ● Streifschuss: Das Geschoss streift den Körper des Verletzten, die Haut ist rinnenartig aufgerissen. ● Steckschuss: Das Geschoss dringt in den Körper ein, tritt aber nicht aus. ● Durchschuss: Das Geschoss dringt in den Körper ein und wieder aus. An der Einschussstelle zeigen sich (je nach Schussdistanz) verbrannte Wundränder, Pulver- und Schmauchspuren (▶ Abb. 15.11f). Die Ausschusswunde ist meist größer (abhängig von der Art des Projektils) und hat zerklüftete Wundränder. ●

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e

Bei Schussverletzungen ist die Verletzung durch „Aufpilzen“ (Verformung des Geschosses im Körper zu einem pilzartigen Gebilde) oder „Taumeln“ des Projektils im Körper oft wesentlich schwerer, als die Einschusswunde zunächst vermuten lässt. Daher gilt hier die Load-and-go-Strategie (S. 176) mit zügiger Erstversorgung und schnellstmöglichem Transport nach Stoppen der Blutung.

ACHTUNG

c

f

a Schürfwunde. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

b Schnittverletzung am Handgelenk in suizidaler Absicht. Aus: Ahne T, Ahne S, Bohnert M, Hrsg. Rechtsmedizinische Aspekte der Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2010

c Riss-Quetsch-Wunde. Aus: Walensi M. Riss-Quetsch-Wunden – Umgang mit Nadel, Faden und Pflaster. Lege artis – Das Magazin zur ärztlichen Weiterbildung (2015; 5(04): 265–271), Bildnachweis: Mikolay Walensi

Beachten Sie v. a. bei den Stichworten „Stichwunde“ und „Schusswunde“ den Eigenschutz (S. 178)! Betreten Sie bei Verdacht auf ein Gewaltverbrechen niemals eine nicht sichere, d. h. von der Polizei noch nicht freigegebene Einsatzstelle. Ablederung (Décollement) • Die Haut, das Unterhautfettgewebe und die Gefäße werden durch das Trauma großflächig von der darunterliegenden Faszie abgelöst, z. B. beim Überrollen durch ein Fahrzeug. Es besteht die Gefahr hoher Blutverluste und im weiteren Verlauf ausgedehnter Nekrosen des Haut-Weichteil-Lappens. Ablederungen am Kopf werden als Skalpierung bezeichnet (▶ Abb. 15.20).

d Ausgedehnte Quetschverletzung. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

e Hundebiss am Ellenbogen. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

f Einschusswunde mit typischen Schmauchspuren bei aufgesetztem Schuss. Aus: Ahne T, Ahne S, Bohnert M, Hrsg. Rechtsmedizinische Aspekte der Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2010

Verletzte Gefäße werden möglicherweise durch den Gegenstand noch „verschlossen“. Ein Herausziehen kann eine starke Blutung aus der Tiefe auslösen, die an der Unfallstelle oft nicht zu beherrschen ist und mitunter tödlich enden kann. Außerdem kann ein Verhaken/Verkanten beim Herausziehen weitere Verletzungen verursachen. Riss-Quetsch-Wunden („Platzwunden“) • Durch stumpfe oder halbstumpfe Gewalt sind die Wundränder ausgefranst, mitunter sogar zerfetzt. Liegt nur wenig Haut auf einem Knochen, z. B. am Schädel, klafft die Wunde oft auffällig und blutet stark (▶ Abb. 15.11c, ▶ Abb. 15.11d). Bisswunden • Meistens hat ein Tier (v. a. Hunde, Katzen, Kleinnager, ▶ Abb. 15.11e) gebissen, seltener ein Mensch. Wegen der Kontamination der Wunde mit der Mundflora des Beißenden ist die Infektionsgefahr sehr hoch, jede Bisswunde ist ärztlich zu begutachten. Bisswunden von Tieren, die unter Tollwutverdacht stehen, werden im Krankenhaus mit Wasser und (medizinischer!) Seifenlauge ausgewaschen. Zusätzlich erhalten die Verletzten (je nach Art der Verletzung und bisherigem Impfstatus) aktive Impfungen und/ oder Tollwut-Immunglobulin (passive Immunisierung).

Verbände zur Wundversorgung Verbände schützen mechanisch vor weiteren Verletzungen, aber auch vor einer (weiteren) Kontamination der Wunde mit Krankheitserregern oder groben Verschmutzungen. Sie saugen Wundsekrete auf und können durch eine gewisse Ruhigstellung Schmerzen mindern. Auch zur Blutstillung (S. 375) sind Verbände unerlässlich und u. U. lebensrettend. Verbandmittel ● Wundschnellverband für sehr kleine Wunden („Pflaster“) ● sterile Kompressen in verschiedenen Größen ● Verbandtücher (bis 80 × 120 cm Größe) ● Verbandspäckchen (sterile Wundauflage mit Mullbinde) ● Fixierbinden (selbstklebend, elastisch und nicht elastisch) Für die Fixierung kommen auch Dreieckstücher, Mullbinden oder Pflasterstreifen infrage. Durchführung • Für einen einfachen Verband legen Sie eine trockene, keimfreie Wundauflage möglichst steril auf die Wunde. Befestigen Sie die Auflage rutschfest, z. B. mit Pflasterstreifen. In behaarten Körperregionen müssen Sie die Auflage dazu mit einer Mullbinde umwickeln, z. B. bei Anlage eines Kopfverbandes (▶ Abb. 15.22). Rutscht der Verband, fixieren Sie die primäre Wundabdeckung erneut mit Pflasterstreifen (nicht entfernen!). Der sterile Erstverband bleibt bis zur endgültigen Versorgung auf der Wunde. Überprüfen Sie nach Anlage des Verbands regelmäßig, ob es eine Nachblutung gibt. 373

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.12 Fixierung eines Fremdkörpers. Stichrichtung und Eindringtiefe sind bei dieser Stichverletzung im Bereich des Abdomens unklar. Achten Sie wegen des Infektionsrisikos darauf, dass alles, was direkt mit der Wunde in Kontakt kommt, steril ist. a Der Fremdkörper wird durch aufgerollte Mullbinden fixiert. b Die Fixierung wird durch Mullbinden und Pflasterstreifen stabilisiert. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

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b

Bei starken Blutungen wird ein Druckverband oder ein Tourniquet angelegt (S. 375). Bei einem penetrierenden Bauchtrauma (S. 391) werden ausgetretene Abdominalorgane mit steril angefeuchteten Wundauflagen bedeckt. Verbrennungswunden (S. 400) werden mit metallbeschichteten Verbandfolien oder feiner Wundgaze abgedeckt. Zirkuläre Verbände dürfen die Durchblutung nicht behindern: Führen Sie nach Anlage des Verbands immer eine pDMS-Kontrolle (S. 366) durch! Ist die Durchblutung beeinträchtigt, müssen Sie den Verband sofort lockern. Dazu müssen Sie nicht unbedingt den gesamten Verband lösen: Bei einem Druckverband kann es z. B. ausreichen, die Seiten einzuschneiden. Alle Patienten mit behandlungsbedürftigen Wunden sollten sich innerhalb von 6 h in einer Klinik oder ärztlichen Praxis vorstellen. Bei jeder Wunde muss der Impfschutz gegen Tetanus überprüft werden.

ACHTUNG Dont’s bei der Wundversorgung am Einsatzort: ● Wunden berühren ● Desinfektionsmittel, Puder, Salben oder Sprays verwenden ● Wunden auswaschen ● Fremdkörper entfernen Ausnahme: Spülung von Verätzungen mit Wasser (S. 402) Fremdkörper in Wunden • Entfernen Sie keinesfalls Fremdkörper vor der endgültigen Versorgung in der Klinik – egal, ob kleine Verunreinigungen oder große Gegenstände im Rahmen einer Pfählungsverletzung. Unterpolstern Sie größere Fremdkörper, z. B. mit Mullbinden und Pflasterstreifen, um Druckschädigungen des umgebenden Gewebes und Verschiebungen des Fremdkörpers zu vermeiden (▶ Abb. 15.12). Der Verband sollte den Fremdkörper umschließen und sicher befestigt werden. Längere Gegenstände werden vor Ort unter Zuhilfenahme von technischer Rettung (z. B. Feuerwehr) so weit gekürzt, dass der Patient transportiert werden kann.

RETTEN TO GO





Verbände schützen vor mechanischen Einflüssen, Keimen und Verschmutzungen. Sie stillen Blutungen, saugen Wundsekrete auf und können Schmerzen reduzieren. Im RD werden verwendet: Wundschnellverband, sterile Kompressen, Verbandstücher und -päckchen, metallbeschichtete Verbandfolien; zur Fixierung Dreieckstücher, Mullbinden oder Pflasterstreifen; zirkuläre Verbände dürfen nicht zu fest sitzen (pDMS-Kontrolle). Fremdkörper in der Wunden belassen, ggf. für den Transport fixieren, verunreinigte Wunden steril abdecken (keine Wundreinigung)

15.3.2 Blutungen und Blutstillung Fallbeispiel Blutungsschock* An einem Samstagvormittag werden Sie mit dem Einsatzstichwort „Hand in Kreissäge“ zu einem häuslichen Unfall gerufen – dies löst bei Ihnen und Ihrem Kollegen eine gewisse Nervosität aus. Nach dem Eintreffen an der angegeben Adresse führt Sie ein älterer Mann zu einer hinter dem Haus befindlichen Scheune. Mitten im umherliegenden Kleinholz sitzt ein ca. 40-jähriger Mann, der seine bereits mit einem durchgebluteten Handtuch umwickelte rechte Hand mit der linken Hand stützt und hochhält. „Wir haben Scheitholz für den Winter gesägt und ich habe ihm noch gesagt, er soll den Sicherheitsschalter nicht festklemmen!“, gibt der ältere Mann an. Ihr Kollege versichert sich, dass keine gefährlichen Gegenstände umherliegen und die Säge sicher vom Strom getrennt ist (Eigensicherung!). Dann beginnen Sie gemeinsam mit der Versorgung nach dem cABCDE-Schema: Die Atemwege sind frei (A) und der Patient – Herr Müller – atmet mit einer Frequenz von ca. 24 Atemzügen pro Minute (B). Er ist schweißgebadet. Der Puls beträgt 120/min, der systolische Blutdruck 110 mmHg, die SpO2 99 %. Den Unfallhergang kann Herr Müller klar schildern: Er sei zur „überbrückten“ Kreissäge hingetreten und dabei über einen bereits gesägten Scheit in die Säge gestolpert. Er fühlt sich schummrig, ihm ist flau im Magen.

Wunden und Wundversorgung ●

374

Wundarten: Schürf- und Riss-Quetsch-Wunden („Platzwunden“), Schnitt-, Stich- und Pfählungsverletzungen (Durchspießung von Gewebe), Schuss- und Bisswunden, Ablederungen (Décollement; am Kopf: Skalpierung)

*Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Wunden, Blutungen und Amputationen

Grundlagen

! Merke Blood on the floor and four more

Das Stillen lebensbedrohlicher Blutungen ist eine der wichtigsten Maßnahmen im Rettungsdienst. Um einen hämorrhagischen Schock (S. 289) zu vermeiden, muss das Blutvolumen möglichst erhalten und der Blutverlust minimiert werden. Potenziell lebensbedrohlich sind äußere Blutungen („blood on the floor“) sowie innere Blutungen in folgende Kompartimente: Thorax, Abdomen, Becken, Oberschenkel. Diese Bereiche und die Blutung nach außen werden auch als die 5 großen Blutungsräume zusammengefasst. Leicht blutende Wunden sistieren in den meisten Fällen ohne Hilfe. Um die Fahrt ins Krankenhaus zu überbrücken, genügt die Abdeckung mit einer sterilen Kompresse und die Anlage eines Verbands, s. o. In etwa 90 % der Fälle lassen sich starke Blutungen durch folgende Maßnahmen stillen: Hochlagern der Extremität, manuelle Kompression, anschließend Anlage eines Druckverbands.

kel der Halsarterie (Arteria carotis) komprimieren, da hier über einen Umgehungskreislauf, den Circulus arteriosus Willisii (S. 98), auch der abführende Teil des Gefäßes stark durchblutet wird (▶ Abb. 15.13d). Ist eine Kompression des verletzten Gefäßes nicht möglich (z. B. Bauchschlagader), sind der schnellstmögliche Transport in eine Klinik und eine Notoperation die einzige Überlebenschance.

Anlage eines Druckverbands Decken Sie das Wundgebiet mit einer sterilen Wundauflage ab. Fixieren Sie diese mit einigen Umwicklungen einer Binde (▶ Video 15.1). Legen Sie nun ein elastisches Druckpolster (z. B. Verbandpäckchen) auf und fixieren es mit weiteren Bindengängen unter etwas stärker werdendem Zug. Dies komprimiert das verletzte Gefäß (▶ Abb. 15.14). Achten Sie Video 15.1 Anlegen eines Druckverbands.

ACHTUNG Die Kleidung des Verletzten (z. B. Motorradkombi, wasserdichte Kleidung) kann mitunter starke Blutungen verdecken oder viel Blut aufsaugen und somit den tatsächlichen Blutverlust verschleiern.

Manuelle Kompression Der Helfende drückt mit den Händen („hands on red“) direkt auf die Wunde (am Kopf oder am Rumpf) oder auf die zuführende Arterie, z. B. die A. brachialis am hochgelagerten Arm (▶ Abb. 15.13a) oder die A. femoralis im Leistenbereich (▶ Abb. 15.13b, ▶ Abb. 15.13c). Bei Blutungen am Hals müssen Sie sowohl den proximalen als auch den distalen Schen-

Über das Anlegen eines Druckverbands gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Abb. 15.13 Manuelle Kompression von Gefäßen.

a

b

Zur Kompression des zuführenden Gefäßes drücken Sie mit den Händen fest auf die Arterie. a Kompression der A. brachialis gegen den Oberarmknochen mit Anlage eines Druckverbands. b Kompression der A. femoralis mit den Daumen: Wegen des mächtigeren Weichteilmantels ist deutlich mehr Kraft erforderlich als bei der A. brachialis. c Alternativ ist bei Erfolglosigkeit eine Kompression der A. femoralis mit dem Knie möglich. d Kompression der A. carotis (proximaler und distaler Schenkel des Gefäßes). Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

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15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.14 Druckverband.

Druckpolster Wunde

Wundbedeckung

Arterie Binde Knochen Muskulatur

nicht behindern. Bei Zeichen einer venösen Stauung (bläuliche Verfärbung der Extremität, hervortretende Venen) müssen Sie den Verband etwas lockern.

ACHTUNG Der Druckverband sollte in jedem Fall erst in der Klinik geöffnet werden. Bei korrekt angelegtem Druckverband ist der Puls distal der Verletzung mitunter nicht mehr tastbar. Dies kann für den Zeitraum des Transports toleriert werden.

Abbinden einer Extremität

(Oberarm)

Indikationen • Mitunter lässt sich eine starke Blutung an einer Extremität mit den bisher geschilderten Maßnahmen nicht kontrollieren, v. a. bei großflächig zerfetzten Wunden, stark blutenden, offenen Frakturen oder Fremdkörpern in der Wunde, die die Anlage eines Druckverbands verhindern. In diesen Fällen kann ein Abbinden der Gliedmaße das Leben des Patienten retten – auch wenn diese durch das Abbinden möglicherweise dauerhaft geschädigt wird (Prinzip: „life before limb“ – „Leben vor Gliedmaße“).

Der Druckverband soll das verletzte Gefäß komprimieren. darauf, die Wunde möglichst weiterhin über Herzniveau zu halten, bis der Verband vollständig angelegt ist. Hält die Blutung an oder beginnt sie erneut, legen Sie einen zweiten, festeren und besser gepolsterten Druckverband über dem ersten an (ersten Druckverband nicht entfernen!). Lassen sich Blutungen an Kopf und Rumpf trotz mehrerer Druckpolster nicht ausreichend stillen, müssen Sie hier zusätzlich dauerhaft manuell komprimieren. Ein Druckverband darf den venösen Rückfluss aus dem verletzten Bereich

Praktisches Vorgehen • Abgebunden wird am besten mit einem speziell für diesen Zweck konzipierten, breiten Stauband, einem Tourniquet (Aderpresse, ▶ Abb. 15.15), alternativ mit einem breiten Dreieckstuch oder einer RR-Manschette, die etwa 40 mmHg über den systolischen Blutdruck aufgepumpt wird. Die Abbindung ist fest genug, wenn der Puls an der Extremität nicht mehr zu tasten ist. Wird zu locker abgebunden, entwickelt sich eine venöse Stauung bei gleichzeitig erhaltener arterieller Durchblutung: Die Blutung verstärkt sich! Der Zeitpunkt der Abbindung muss dokumentiert werden.

Abb. 15.15 Anlegen eines Tourniquets.

a

b

Die Anlage eines Tourniquets kann bei schweren Blutungen an den Extremitäten lebensrettend sein. a Zunächst wird das Band straff angelegt, und zwar ungefähr eine Handbreit proximal der Wunde, keinesfalls über Gelenken oder direkt über einer Fraktur. b Das Band wird durch Rotation des Knebels festgezurrt. c Weitere Rotation bis zur Blutstillung. Die lokalen Strukturen werden dabei sehr schmerzhaft komprimiert! d Schließlich wird das Tourniquet fixiert, z. B. mittels Klemmhaken. Dokumentieren Sie unbedingt die Uhrzeit der Abbindung: Eine exakter Toleranzzeitraum für die Abbindung lässt sich derzeit noch nicht angeben. Insgesamt ist die Ischämiezeit jedoch beim Öffnen des Tourniquets von Bedeutung. Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

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d

Wunden, Blutungen und Amputationen Abb. 15.16 Wound Packing.

a

b

c

Starke Blutungen aus einer großen Wundhöhle können durch eine Wundtamponade zum Stillstand gebracht werden. a Die Wunde wird mit blutstillender Gaze ausgestopft. b Anschließend wird die Wunde für 3–5 Minuten manuell komprimiert. c Abschließend wird ein Druckverband angelegt. Aus: Kuhnke R, Ahne T. Critical Bleeding – Das sollten Sie wissen für die Ergänzungsprüfung. retten! 2018; 7(05): 326–332

Schmerzen • Das Abbinden bewirkt einen Sauerstoffmangel im Gewebe. Der Patient hat daher starke Schmerzen und benötigt möglichst sofort eine analgetische Therapie. Das Tourniquet darf auch bei Schmerzen keinesfalls gelockert oder entfernt werden, sondern muss so lange angelegt bleiben, bis eine chirurgische Versorgung gewährleistet ist.

Abb. 15.17 Wundklammer.

! Merke Tourniquet

Das Abbinden führt zu einem Sauerstoffmangel in der Extremität und ist daher immer mit dem möglichen Verlust der Extremität verbunden. Es ist daher nur die Ultima Ratio (letzte Möglichkeit). Ein zügiger Transport in die Klinik ist unerlässlich.

Hämostyptika Eine Option bei nicht kontrollierbaren Blutungen trotz korrekter Abbindung oder massiven Blutungen am oder in der Nähe des Körperstamms, bei denen ein Tourniquet nicht angelegt werden kann, sind blutstillende Granulate oder Gaze, die direkt auf die Wunde aufgebracht werden, sog. Hämostyptika. Beispielsweise bewirkt Chitosan eine lokale Verengung der Gefäße und ein Verkleben der Blutzellen im Bereich der Wunde, und zwar unabhängig vom Vorhandensein körpereigener Gerinnungsfaktoren. Nach dem Aufbringen müssen Sie für einige Minuten direkt auf die Wunde drücken und einen Druckverband anlegen.

Wundtamponade Große Wundhöhlen können Sie mit einer Wundtamponade („Wound Packing“) versorgen: Tamponieren Sie die Wundhöhle möglichst vollständig mit sterilen, saugfähigen Materialien („ausstopfen“), z. B. mit Kompressen (▶ Abb. 15.16). Anschließend komprimieren Sie die Wunde für 3–5 Minuten manuell. Kontrollieren Sie, ob die Blutung steht. Legen Sie ggf. noch einen Druckverband an.

Wundklammern Lassen sich bei einer starken Blutung die Wundränder nahezu glatt zusammenführen, können eine oder bei längeren Wunden auch mehrere Wundklammern eingesetzt werden, z. B. iTClamp® (▶ Abb. 15.17). Dies bewirkt eine physiologische Tamponade und somit eine Blutstillung. Häufig werden

Mit der iTClamp® können Wunden bei kritischen Blutungen verschlossen werden. Der Druck wird gleichmäßig über die Klammerenden der Klemme verteilt. Voraussetzung ist, dass die Wundränder nahezu glatt sind und sich die Wundränder schließen lassen. Aus: Hess T, Inden P, Seekamp A et al. Invasive Notfalltechniken – Notamputation. AINS - Anästhesiologie · Intensivmedizin · Notfallmedizin · Schmerztherapie 2015; 50(03): 186–195; Foto: Thorsten Hess

Wundklammern am Kopf oder am Hals eingesetzt, wenn kein Druckverband oder Tourniquet angelegt werden kann. Die Wundklammer bleibt bis zur weiteren Versorgung in der Klinik an der Wunde fixiert. Über die Klammer kann locker ein Verbandtuch gelegt werden. Kontrollieren Sie unbedingt regelmäßig, ob die Blutung tatsächlich zum Stillstand gekommen ist.

Volumenersatztherapie Parallel zur Blutstillung muss das verlorene Blutvolumen ersetzt werden. Dazu werden zwei großlumige Zugänge (mind. 18 G, besser 16 G) gelegt und großzügig Vollelektrolytlösung infundiert, vgl. das Vorgehen bei hämorrhagischem Schock (S. 289).

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15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.18 Subtotale Amputation.

Fallbeispiel Fortsetzung – Blutungsschock Die erhöhte Herzfrequenz in Verbindung mit einem für einen gesunden Mann, der gerade noch schwer gearbeitet hat, relativ erniedrigten Blutdruck ist ein Hinweis auf einen möglichen Schock – in diesem Fall wohl einen Volumenmangelschock. Sie helfen Herrn Müller dabei, sich hinzulegen, und lagern seine Beine auf einen Hocker (klassische Schocklagerung). Den verletzten Arm platzieren Sie vorsichtig erhöht außerhalb seines Gesichtsfelds. Ihr Kollege inspiziert die Wunde: Die Säge ist offenbar beim Versuch, sich abzustützen, auf Höhe des Handgelenks in der Nähe der Arteria radialis längs tief in den Unterarm eingedrungen. Beim Entfernen des Handtuchs ist eine deutlich pulsierende Blutung zu erkennen. Währenddessen machen Sie am anderen Arm die Nagelbettprobe und berichten: „Rekapillarisierungszeit ca. 4 Sekunden“ – das ist zu lange und spricht wie der niedrige Blutdruck für eine schlechte Kreislauffunktion (C). Ihr Kollege legt am unverletzten Arm einen großlumigen i. v.-Zugang an. „Herr Müller senior!“, wenden Sie sich an den älteren Mann, der Sie zum Unfallort geführt hat. „Bitte rufen Sie noch einmal die 112 an und sagen Sie, dass wir hier notärztliche Unterstützung benötigen.“ Ihr Kollege sagt zu dem Verletzten: „Ich kann erkennen, dass eine Blutung vorliegt, die wir jetzt als Erstes versorgen. Geht es Ihnen im Liegen besser?“ – „Na ja … mir ist nicht mehr so flau … aber das Herz schlägt mir bis zum Hals.“ „Mein Kollege wird Ihnen jetzt eine Infusion anhängen, während ich mich um Ihre Wunde kümmere.“ Herr Müller nickt zögerlich. Sie bereiten 500 ml Ringer-Lactat vor und verabreichen diese „im Schuss“. Ihr Kollege komprimiert die Wunde mit einem sterilen Tupfer, was für Herrn Müller schmerzhaft ist. Leider kann Ihr Kollege nicht genug Druck ausüben, um die Blutung zu stoppen. Daher sucht er an der Innenseite des Oberarms nach der Stelle zwischen Bizeps und Trizeps und drückt fest zu. „Das gibt jetzt ein kribbelndes, vielleicht auch unangenehmes Gefühl im Arm, aber ich habe sonst keine Möglichkeit, die Blutung zu stoppen“, erklärt er dem Verletzten. Durch diese Maßnahme kommt die Blutung zum Stillstand. Sie legen einen Druckverband an.

RETTEN TO GO Blutungen und Blutstillung Das Stillen lebensbedrohlicher Blutungen ist eine der wichtigsten Maßnahmen im Rettungsdienst. ● manuelle Kompression: Druck direkt auf die Wunde oder auf die zuführende Arterie ● Druckverband: sterile Wundauflage, elastischer Druckpolster, Umwicklung mit einer Binde unter etwas stärker werdendem Zug ● Anlage eines Tourniquets (Abbinden): vollständige Blutsperre distal des Tourniquets, die peripheren Pulse dürfen nicht mehr tastbar sein. ● Hämostyptika: blutstillende Verbandsstoffe ● Wundtamponade (Wound Packing): Austamponieren großer Wundhöhlen mit saugfähigem Material ● Wundklammer (z. B. iTClamp®) zum Zusammenführen der Wundränder ● großzügige Volumentherapie zur Kompensation des Volumenverlusts

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Der Knochen und ein Großteil des Weichteilmantels wurden durchtrennt, im palmaren Anteil des Fingers ist jedoch noch eine Weichteilbrücke erhalten. Aus: Barzen K, Koch D A, Schweigkofler U et al. Management schwerer Weichteil- und Amputationsverletzungen. Notfallmedizin up2date 2021; 16(02): 199–217

15.3.3 Amputationen Definition Amputation Eine Extremität wird teilweise (subtotale Amputation, ▶ Abb. 15.18) oder vollständig (totale Amputation) vom Körper abgetrennt. Am häufigsten betreffen Amputationen die Finger, oft im Rahmen von Arbeits- und häuslichen Unfällen.

Versorgung des Patienten Alle Amputationen können zu massiven Blutungen führen, im Vordergrund steht daher eine möglichst unmittelbare Stillung der Blutung mit Hochlagern der verletzten Extremität, Kompression der Wunde oder des zuführenden Gefäßes und Anlage eines Druckverbands. Ein Tourniquet wird nur bei akuter Lebensgefahr angewendet, da dies die Sauerstoffversorgung des Stumpfgewebes beeinträchtigt und damit die Erfolgschancen einer späteren Replantation deutlich reduziert. Die Blutung kann auch erst Minuten nach dem Ereignis beginnen, da die Gefäße zunächst eng gestellt sind. Nach der Untersuchung und Versorgung des Verletzten gemäß cABCDE-Schema (S. 183) und Durchführung der Basismaßnahmen wird die Wunde und bei totalen Amputationen auch das Amputat versorgt. Sehr wichtig ist eine frühzeitige Schockprophylaxe (S. 289) mit entsprechender Lagerung und Anlage mehrerer großlumiger i. v.-Zugänge.

Versorgung des Amputats Subtotale Amputation • Durchtrennen Sie keinesfalls eine vorhandene Hautbrücke, so klein sie auch sein mag: Über sie wird das Amputat möglicherweise noch durchblutet. Totale Amputation • Verpacken Sie das Amputat ohne Wasch- oder Reinigungsversuche in sterile Kompressen und transportieren Sie es kühl in einem Replantations-Set (▶ Abb. 15.19): Legen Sie das Amputat trocken in den inneren Beutel und verschließen Sie den Beutel fest. Füllen Sie den äußeren Beutel mit kaltem Wasser oder Eis und verschließen Sie ihn ebenfalls. So hat das Amputat im besten Fall eine Temperatur von 4 °C. Dies steigert die Chance auf eine erfolgreiche Replantation (Wiederverpflanzung).

Schädel-Hirn-Trauma Abb. 15.19 Replantations-Set.

a

b

c

a Das Replantations-Set beinhaltet einen doppelwandigen wasserdichten Beutel, Kühlmittel (Sofort-Kälte-Kompresse), sterile Kompressen und einen Wärmeschutz (z. B. Rettungsfolie). b Das Amputat wird in den Innenbeutel gelegt, möglichst in sterile Kompressen verpackt. c Abschließend werden die Kältekompressen aktiviert und in den Außenbeutel gelegt. Dieser wird in den Wärmeschutz gehüllt. Fotos: © K. Oborny/Thieme

Auswahl der Zielklinik • Sofern das Leben des Patienten nicht akut durch eine Blutung oder eine andere Verletzung gefährdet ist, sollte eine Zielklinik mit spezialisierten Möglichkeiten der Replantation ausgewählt werden. Treffen Sie präklinisch keine vorschnellen Aussagen über die Chancen einer Replantation, dies entscheidet sich erst während der Operation. Amputate, die erst gefunden werden, wenn der Patient bereits in der Klinik ist, werden hinterhergebracht – egal, in welchem Zustand sie sich befinden.

! Merke Fehler im Umgang mit Amputaten

Falsche Maßnahmen bei der Versorgung von Amputaten: ● direkter Kontakt zwischen Amputat und Eis: Kälteschäden verschlechtern die Chancen einer Replantation. ● Einlegen des Amputats in Flüssigkeiten (Ausnahme: Zahntrauma) ● Desinfektion von Amputat und/oder Stumpf ● Einfrieren des Amputats ● undichter Verschluss des Innenbeutels

Sonderfall Zahntrauma Versorgung des Amputats • Abgebrochene oder ausgeschlagene Zähne gelten als Amputate und werden entsprechend versorgt: Sie werden in sterile, mit NaCl angefeuchtete Kompressen eingepackt und in einem Replantations-Set, einer speziellen Zahnbox oder einem mit NaCl 0,9 % gefüllten Spritzenkolben gesichert. Sie dürfen keinesfalls desinfiziert oder abgetrocknet werden. Versorgung des Patienten • Lockere oder ganz ausgebrochene Zähne können angeatmet (aspiriert) werden. Verletzungen des Zahnapparats bluten häufig stark: Drücken Sie eine sterile Kompresse auf die Wunde. Sind die Schmerzen nicht beherrschbar, muss eine adäquate Analgesie erfolgen. Bei Kollapsneigung oder drohendem Schock wird eine VEL infundiert. Sofern die sonstigen Verletzungen nicht eine andere Priorisierung erfordern, wird ein Zielkrankenhaus mit zahnmedizinischen Versorgungsmöglichkeiten angefahren, ggf. unter Inkaufnahme eines längeren Transportweges.

RETTEN TO GO Amputation ●





Eine Extremität wird teilweise (subtotale A.) oder vollständig (totale A.) abgetrennt. Dabei sind massive Blutungen möglich. ToDo: Blutstillung (Hochlagern der Extremität, manuelle Kompression, Druckverband, bei Lebensgefahr Tourniquet), Amputat in sterile Kompressen wickeln, für den Transport in ein Replantations-Set verpacken; bei subtotaler Amputation keinesfalls Verbindung zwischen Amputat und Körper durchtrennen Abgebrochene oder ausgeschlagene Zähne werden wie Amputate behandelt und in einem Replantations-Set versorgt. Es besteht die Gefahr einer starken Blutung.

15.4 Schädel-Hirn-Trauma 15.4.1 Grundlagen Definition Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Ein SHT ist eine Verletzung durch spitze oder stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf. Auch indirekte Gewalt, z. B. beim abrupten Abbremsen bei einem Auffahrunfall, kann ein SHT verursachen. ● geschlossenes SHT: Die harte Hirnhaut (Dura mater) ist intakt. ● offenes SHT: Die Dura mater ist eröffnet, das Gehirn hat eine Verbindung nach außen, das Infektionsrisiko ist hoch. Hinweis • In diesem Abschnitt geht es v. a. um das SHT. Weichteilverletzungen und leichte Frakturformen können aber auch isoliert und ohne Schädigung des Gehirns vorkommen. Eine Kopfverletzung ohne Funktionsstörung oder Verletzung des Gehirns ist eine Schädelprellung.

ACHTUNG Verlieren Sie bei vermeintlich leichten Kopfverletzungen nicht das Gesamtbild aus den Augen: Eine Wunde am Kopf bedeutet, dass eine nicht unerhebliche Kraft eingewirkt hat und ein schweres SHT bestehen kann.

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15

Traumatologische Notfälle Ursachen • Die häufigste Ursache sind Stürze im häuslichen Umfeld, v. a. bei Kleinkindern und alten Menschen. Die zweithäufigste Ursache sind Verkehrsunfälle, gefolgt von Sportunfällen und Stürzen aus größerer Höhe. Seltenere Ursachen sind selbstverletzendes Verhalten und Gewaltdelikte, v. a. Schläge auf den Kopf und körperliche Misshandlungen von Säuglingen (Schütteltrauma). In Europa sind Unfälle mit SHT die häufigste Todesursache bei jungen Erwachsenen sowie die häufigste Ursache für dauerhafte körperliche Einschränkungen. Unfallmechanismen mit hohem Risiko für ein SHT ● Hochrasanz-Auffahrunfall ● Fußgänger, der von einem Fahrzeug angefahren wurde ● Zweiradfahrer ohne oder mit beschädigtem Schutzhelm ● Sturz aus großer Höhe (über Körpergröße des Patienten) ● Sportverletzungen (z. B. Eishockey, Reiten, Winter- und Wassersport) Pathophysiologie • Zunächst werden die Strukturen im Schädel direkt verletzt (primäre Schädigung). Diese Schädigung ist i. d. R. therapeutisch nicht beeinflussbar. Als Folge der primären Schädigung schwillt das Hirngewebe an und Blut tritt aus verletzten Gefäßen aus (sekundäre Schädigung nach Minuten, Stunden oder längerer Zeit). Diese Prozesse sind raumfordernd, d. h., sie verdrängen das (bisher nicht geschädigte) Hirngewebe. Dieses kann innerhalb der festen Begrenzung der knöchernen Schädelhöhle nicht ausweichen und wird zusammengequetscht. Die Folgen sind ein Anstieg des Hirndrucks (S. 426), eine zu geringe Durchblutung des Hirngewebes und in der Konsequenz dauerhafte Schädigungen des Gehirns. Bei einem starken Hirndruckanstieg besteht die Gefahr, dass das Hirngewebe z. B. im Foramen magnum (S. 93) eingeklemmt und lebenswichtige Strukturen wie das Atemzentrum geschädigt werden.

! Merke Sekundäre Schädigung reduzieren

Die primäre Schädigung lässt sich nicht rückgängig machen. Das Hauptziel bei der Versorgung ist daher (neben der Sicherung der Vitalparameter) das Vermeiden sekundärer Schädigungen.

15.4.2 Symptomatik und Verletzungsformen Allgemeine Symptome Folgende Symptome weisen (bei entsprechendem Unfallmechanismus) auf ein Schädel-Hirn-Trauma hin: ● Bewusstseinsstörungen bis zur Bewusstlosigkeit, evtl. erneute Eintrübung nach freiem Intervall ● Erinnerungslücke für das Geschehen kurz vor dem Unfall (retrograde Amnesie) ● akute Merkfähigkeitsstörung (anterograde Amnesie): Die Verletzen stellen immer wieder die gleichen Fragen, oft sogar mit exakt dem gleichen Wortlaut. ● Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen ● neurologische Ausfälle: Sprach-, Seh- oder Gefühlsstörungen, Lähmungen, Krampfanfälle ● Pupillendifferenz ● tast- oder sichtbare Stufenbildung am Schädel, evtl. Austritt von Hirnmasse ● Ausfluss von Liquor aus Ohr oder Nase ● sichtbare Wunden im Kopfbereich; Hämatome als Zeichen einer Schädelbasisfraktur (▶ Abb. 15.21) ● Symptome eines Hirndruckanstiegs bzw. einer akuten Einklemmung (▶ Abb. 16.7): einseitig oder beidseitig weite, 380

lichtstarre Pupille (die Pupille „blendet auf“), erhöhter (Streck- oder Beugekrämpfe) oder stark reduzierter Muskeltonus (schlaffe Lähmungen), vegetative Überfunktion (z. B. schwallartiges Erbrechen), Ausfall der Hirnstammreflexe (Korneal-, Pupillen-, Würge- und Hustenreflex), letztlich Versagen der Atmungs- und Kreislaufregulation mit Atemstörung bis zum völligen Ausfall der Atmung, Hypotonie und Bradykardie

Intrakranielle Blutungen Übersicht • Eine häufige primäre oder sekundäre Folge eines Schädel-Hirn-Traumas sind intrakranielle Blutungen, die anhand der Lokalisation der Blutung eingeteilt werden (▶ Abb. 16.8). Besonders häufig und schwerwiegend sind solche Blutungen bei Patienten, die gerinnungshemmende Medikamente (z. B. ASS, Marcumar®, Xarelto®, Eliquis®) einnehmen. Um das Risiko abzuschätzen, fragen Sie möglichst vor Ort gezielt nach einer solchen Medikation! Epidurales Hämatom (EDH) • Es besteht eine Blutung zwischen Dura mater und Schädelknochen, meist durch eine Zerreißung der mittleren Hirnhautarterie im Rahmen einer Schädelfraktur. Das Leitsymptom sind Bewusstseinsstörungen bis zur Bewusstlosigkeit. Die Verletzten sind bereits initial bewusstlos oder trüben erst im Verlauf ein. Etwa 30 % der Verletzten sind anfangs bewusstlos, erlangen danach kurzzeitig das Bewusstsein wieder („freies Intervall“) und trüben dann durch den steigenden Hirndruck wieder ein. Subdurales Hämatom (SDH) • Die Blutung befindet sich zwischen Dura mater und Arachnoidea, meistens als Folge einer Zerreißung von im Subduralraum verlaufenden Venen. Je nach Ausmaß der Verletzung entwickeln sich die Symptome unterschiedlich schnell: ● Ein akutes SDH ist die Folge einer schweren Schädelverletzung und führt früh zu Bewusstseinsstörungen, ggf. einer einseitig erweiterten und lichtstarren Pupille und einer kontralateralen Halbseitenlähmung (z. B. links bei Blutung in der rechten Schädelhälfte). ● Bei einem subakut-chronischen SDH vergehen zwischen der Schädigung und dem Symptombeginn mindestens 2 Wochen. Das auslösende Trauma kann geringfügig sein und ist u. U. bei Manifestation der Symptome nicht mehr erinnerlich. Typische Symptome sind Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen und zunehmende Verwirrtheit. Wegweisend ist hier oft eine genaue Anamnese (Stürze in den letzten Wochen?). Intrazerebrale Blutung (ICB) • Bei einer ICB reißen hirnversorgende Arterien und verursachen eine Einblutung direkt in das Hirngewebe. Typische Symptome sind – wie auch bei einer nicht traumatischen ICB (S. 428) – halbseitige Lähmungen und schnell zunehmende Hirndruckzeichen. Die Prognose ist besonders ungünstig, v. a. bei einem Einbruch der Blutung in das Ventrikelsystem.

! Merke Zügige Versorgung

Präklinisch spielt die Unterscheidung der verschiedenen Blutungsarten keine wesentliche Rolle. Entscheidend ist es, die Hinweise zu erkennen und den Patienten zügig in eine Klinik mit neurochirurgischer Abteilung zu transportieren (RTH-Transport erwägen).

Schädel-Hirn-Trauma

Misshandlungsbedingtes Schädel-Hirn-Trauma

Abb. 15.20 Skalpierungsverletzung.

Synonyme • Schütteltrauma, Shaken-Baby-Syndrom, nicht akzidentelles SHT Verletzungsmechanismus • Bei Säuglingen kann ein SHT durch einen Unfall (z. B. Sturz vom Wickeltisch) verursacht sein, zu bedenken ist aber immer auch eine Kindesmisshandlung: Der meist schreiende Säugling (Altersgipfel: 2–6 Monate) wird an den Armen, Beinen oder am Brustkorb gepackt und geschüttelt. Der Kopf, den der Säugling noch nicht halten kann, wird nach vorne und zurück geschleudert, wobei das Gehirn im Schädel etwas verzögert der Bewegung folgt. Typische Folgen sind ein Abreißen von Venen mit meistens subakut-chronischem SDH, aber auch Abrisse von Nervenverbindungen und damit ein diffuser Hirngewebsschaden mit Gefahr eines Hirnödems. Weitere Gefahren sind Minderdurchblutungen des Gehirns, Schädigungen der Augen sowie Verletzungen an den Gliedmaßen oder am Thorax durch das harte Zupacken. Wird das Kind nach dem Schütteln auf eine harte Oberfläche geworfen, können zusätzlich Schädelfrakturen resultieren (Shaken-Impact-Syndrom).

Skalpierungsverletzung mit Abriss der Kopfschwarte nach einem Verkehrsunfall als Mopedfahrer. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

Abb. 15.21 Anzeichen für eine Schädelbasisfraktur. Symptome • Hinweise sind auffällige Schreckhaftigkeit oder Schläfrigkeit des Säuglings, Trinkschwäche, Krampfanfälle, Erbrechen, Atemstörungen, Quengeligkeit oder auch Apathie sowie Atemstörungen. Mögliche Spätfolgen bei überlebenden Kinder sind psychomotorische Entwicklungsverzögerungen, Gedeihstörungen, bleibende Sehstörungen und wiederholte Krampfanfälle.

Weichteil- und Schädelverletzungen Weichteilverletzungen • Weichteilverletzungen des Kopfes umfassen neben Prellungen, Riss-, Quetsch- und Platzwunden auch Skalpierungsverletzungen, bei denen die Kopfschwarte vom knöchernen Schädel abgerissen wird (▶ Abb. 15.20). Da die Kopfhaut sehr gut durchblutet ist, besteht die Gefahr schwerer Blutverluste. Ein typischer Verletzungsmechanismus ist das Hängenbleiben langer Haare in rotierenden Maschinenteilen. Verletzungen der Augen werden bei den Augennotfällen besprochen (S. 467). Kalottenfrakturen • Frakturen des Schädeldachs (Kalotte) können einerseits zu einem starken Blutverlust über die gut durchblutete Kopfhaut mit Gefahr eines Volumenmangelschocks führen, andererseits können Fraktursplitter intrakranielle Blutgefäße verletzen und so eine intrakranielle Blutung auslösen, am häufigsten ein Epiduralhämatom. Schädelbasisfrakturen • Bei einer Fraktur im Bereich der Schädelbasis (S. 93) ist häufig die Dura mater mitverletzt (offenes SHT!), dennoch sind von außen oft nur geringe Verletzungszeichen sichtbar (▶ Abb. 15.21), sodass die schwerwiegende Verletzung leicht übersehen werden kann. Ein wichtiger Hinweis ist der Ausfluss von Liquor (evtl. mit Blutbeimischung) aus der Nase (Rhinoliquorrhö) oder dem Ohr (Otoliquorrhö). Präklinisch lässt sich eine solche Liquorrhö nicht eindeutig abklären, daher wird zunächst von einem offenen SHT ausgegangen und entsprechend behandelt. Gesichtsschädelfrakturen • Typisch für diese Frakturen sind ausgeprägte Schwellungen im Gesicht und ein Monokeloder Brillenhämatom (▶ Abb. 15.21b). Die Frakturen können zu starken Blutungen aus Mund und Nase mit Gefahr eines Volumenmangelschocks oder einer Aspiration führen. Häufig besteht zusätzlich eine Verletzung der HWS (S. 383).

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Äußerlich sichtbare Veränderungen können wichtige Hinweise auf die Lokalisation einer Schädelbasisfraktur geben. a Battle-Zeichen als Hinweis auf eine Felsenbeinfraktur mit Gefäßbeteiligung: Hämatom hinter dem Ohr ohne Hautverletzung. Aus: Marx G, Zacharowski K, Kluge S, Hrsg. Referenz Intensivmedizin. Stuttgart: Thieme; 2020

b Monokelhämatom als Hinweis auf eine Schädelbasisfraktur mit Beteiligung der Orbita. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020; Foto: © K. Oborny/Thieme

ACHTUNG Blutverluste aus Mund und Nase werden häufig unterschätzt, da das meiste Blut den Rachen hinunterläuft und verschluckt wird.

15.4.3 Schweregrade Zur Ersteinschätzung des Bewusstseinszustandes von Patienten mit SHT ist das AVPU-Schema (S. 182) geeignet. Ist die Basisversorgung des Patienten abgeschlossen, wird zeitnah der Glasgow-Coma-Score (S. 191) erhoben. Dieser Score ist ein „feineres“ Tool zur Beurteilung von Ausmaß und Schweregrad der Schädigung (▶ Tab. 15.1) und sollte immer wieder kontrolliert werden, um eine Verschlechterung des Zustands des Patienten früh zu erkennen.

381

15

Traumatologische Notfälle

Tab. 15.1 Einteilung des SHT nach der Schwere der dabei entstehenden Gehirnverletzung. Schweregrad

veraltete Bezeichnungen

Punkte nach GCS*

Beschreibung

Symptome

leichtes SHT

SHT Grad I, Commotio cerebri, Gehirnerschütterung

13–15

reversible Funktionsstörung des Gehirns ohne nachweisbare organische Schädigungen

● ●

● ●

mittelschweres SHT

SHT Grad II, Contusio cerebri, Gehirnprellung

9–12

schweres SHT

SHT Grad III, Compressio cerebri, Gehirnquetschung

30 min evtl. Blutungen

länger andauernde neurologische Symptomatik, oft über Wochen

tiefe, länger anhaltende Bewusstlosigkeit

irreversible Schädigungen des Gehirns mit bleibenden Ausfällen

* GCS: Glasgow Coma Scale

15.4.4 Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern: Umfassen Sie bei der Untersuchung den Kopf mit beiden Händen, um Blutungen am Hinterkopf zu erkennen. ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Basismonitoring (S. 198), inkl. Bestimmung des BZ (obligatorisch bei jedem Patienten mit Bewusstseinsstörung!), wiederholte Erhebung des GCS (S. 191) ● großzügige O2-Gabe (10–15 l/min), ständige Absaugbereitschaft (erhöhte Aspirationsgefahr!) ● Ruhigstellung der HWS (S. 385), die bei Patienten mit SHT oft mitverletzt ist ● Lagerung: – um 15–30° erhöhter Oberkörper → verbesserter venöser Abfluss aus dem Kopf (Prophylaxe eines Hirnödems) – bei RRsyst < 80 mmHg: Flachlagerung, da sonst der Druck für die Hirndurchblutung (zerebraler Perfusionsdruck) zu gering wird ● Wärmeerhalt (S. 249) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation



● ● ●



Wundversorgung: Decken Sie Wunden steril ab, legen Sie ggf. einen Kopfverband (▶ Abb. 15.22) bzw. bei stark blutenden Wunden einen Druckverband (S. 375) an. Decken Sie ausgetretene Hirnmasse vorsichtig steril ab, drücken Sie sie nicht in den Schädel zurück. ggf. Intubation vorbereiten ggf. Versorgung von Zahnverletzungen (S. 379) Transport mit Spineboard (S. 232) bzw. Vakuummatratze (S. 236) – auf jeden Fall immobilisiert HWS-Immobilisation mit Hilfsmitteln (z. B. Stiffneck®) sehr zurückhaltend einsetzen, besser manuelle Inline-Stabilisierung (S. 233)

Erweiterte Maßnahmen • Bei einem GCS < 9 Punkte ist das Bewusstsein so stark eingeschränkt, dass die Schutzreflexe nicht mehr ausreichen und der Patient intubiert werden muss. Wegen der erhöhten Aspirationsgefahr und generell bei Blutungen im Nasen-Rachen-Raum wird die Indikation großzügig gestellt. Der Kreislauf wird möglichst stabilisiert (VEL, ggf. kreislaufunterstützende Medikamente), das Ziel ist ein RRsyst > 120 mmHg, um den zerebralen Perfusionsdruck aufrechtzuerhalten. Der Verletzte wird möglichst zügig in eine Klinik mit Neurochirurgie transportiert, fordern Sie für längere Wegstrecken einen RTH an.

Abb. 15.22 Anlage eines Kopfverbands.

a

b

c

Die korrekte Verbandstechnik verhindert das Verrutschen des Kopfverbands. a Decken Sie die Wunde mit einer sterilen Kompresse ab. Führen Sie eine Binde einmal rund um den Kopf. b Führen Sie die Binde hinter dem Ohr über den seitlichen Hals unter dem Kinn durch. c Wickeln Sie die Binde vom Kinn hoch in Richtung Schläfe und von dort über den Hinterkopf zum anderen Ohr. Wiederholen Sie die Wickelgänge um Kopf und Stirn mehrmals, um den Verband zu stabilisieren. Fotos: © K. Oborny/Thieme

382

Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule

ACHTUNG Bei alkoholisierten oder unter Drogen stehenden Patienten mit einem SHT werden Symptome häufig fehlgedeutet oder sind maskiert. Veranlassen Sie im Zweifelsfall eine klinische Überwachung. Zusätzlich sind Patienten mit einem SHT oft als nicht einwilligungsfähig anzusehen, weswegen eine Mitfahrtverweigerung nicht ohne Weiteres akzeptiert werden kann.

Symptome • Meistens entwickeln sich die Beschwerden erst Stunden bis Tage nach dem Unfall (wichtiger Unterschied zu HWS-Verletzungen!). Typisch sind Nackenschmerzen und Bewegungseinschränkungen („steifer Hals“), evtl. auch Kopfschmerzen, Schwindel, Schluck- und Schlafstörungen, Tinnitus und lokale Taubheitsgefühle.

Strangulationsverletzungen RETTEN TO GO Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ●











Definition: Ein Schädel-Hirn-Trauma ist eine Verletzung durch spitze oder stumpfe Gewalteinwirkung (direkt oder indirekt) auf den Kopf. Unterschieden werden geschlossene SHT (Dura mater intakt) und offene SHT mit Eröffnung der Dura mater und hoher Infektionsgefahr. Symptome: Bewusstseinsstörungen, Erinnerungslücken, Übelkeit, Erbrechen, Sprach- und Sehstörungen, Lähmungen, Pupillendifferenz; Warnhinweise für einen akut steigenden Hirndruck: weite, lichtstarre Pupille, auffälliger Muskeltonus, Ausfall der Hirnstammreflexe, letztlich Versagen der Atmungs- und Kreislaufregulation Verletzungsformen: – intrakranielle Blutungen: Epidural-, Subdural- und intrazerebrale Hämatome, erhöhtes Risiko bei Patienten, die gerinnungshemmende Medikamente einnehmen – Weichteilverletzungen und Schädelfrakturen (Kalotte, Schädelbasis, Gesichtsschädel): Gefahr großer Blutverluste, z. T. unbemerkt in den Rachen – spezielle Situation: misshandlungsbedingtes SHT bei Säuglingen Beurteilung: AVPU-Schema und Glasgow-Coma-Score, Schweregradeinteilung entsprechend GCS-Punkten (leichtes SHT: 13–15 Punkte, mittelschweres SHT: 9–12 Punkte, schweres SHT < 9 Punkte) ToDo Basis: NA nachfordern, Vitalfunktionen sicherstellen, großzügige O2-Gabe, Absaugbereitschaft, Immobilisation der HWS, Oberkörperhochlagerung (15–30°) zur Hirnödemprophylaxe (Ausnahme: Flachlagerung bei RRsyst < 80 mmHg), Wärmeerhalt, Wundversorgung, Transport auf Spineboard bzw. Vakuummatratze ToDo erweitert: Intubation bei GCS < 9 Punkte, Kreislaufstabilisierung mit VEL und ggf. kreislaufunterstützenden Medikamente (Ziel-RRsyst > 120 mmHg); zügiger Transport in Klinik mit Neurochirurgie, ggf. mit RTH

Definition Strangulation Die Halsweichteile und -gefäße werden komprimiert, was zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und letztlich zum Tod des Betroffenen führt. Die wichtigsten Formen der Strangulation sind das Erhängen, das Drosseln und das Würgen. Würgen • Beim Würgen komprimiert der Angreifende die Halsweichteile mit den Händen (ohne Hilfsmittel). Am Hals sind meistens Abdrücke der Finger(nägel) des Würgenden zu erkennen (Würgemale, ▶ Abb. 15.23a). Der venöse Abfluss aus dem Kopf ist behindert, der arterielle Zustrom jedoch weitgehend erhalten. Dadurch staut sich das Blut in den Kopf zurück. Die Folge sind kleine, punktförmige Blutungen (Petechien) im Kopfbereich, v. a. im Gesicht, hinter den Ohren, in den Bindehäuten und/oder der Mundschleimhaut, sowie eine Zyanose des Kopfes. Drosseln • Beim typischen Erdrosseln wird ein Strangwerkzeug (z. B. Schal, Seil) zirkulär um den Hals gelegt und durch Muskelkraft zugezogen. Zu erkennen sind eine horizontal verlaufende Drosselmarke am Hals (▶ Abb. 15.23b) und eine ausgeprägte Dunsung und Zyanose mit Petechien in den Konjunktiven, der Mundschleimhaut und im Gesicht. Erhängen • Ein Strangwerkzeug (meistens Seil oder Strick) wird um den Hals gelegt, die Strangulation tritt durch das Körpergewicht ein. Beim typischen Erhängen liegt der Aufhängepunkt des Stranges im Nacken, der Körper hängt frei in der Schlinge und die Venen und Arterien des Halses werden gleichzeitig komprimiert. Durch die akute Unterbrechung der Blutzufuhr verliert der Betroffene innerhalb von Sekunden das Bewusstsein. Alle anderen Formen des Erhän-

Abb. 15.23 Gewalt gegen den Hals.

15.5 Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule 15.5.1 Verletzungen des Halses Schleudertrauma Synonyme • Peitschenschlagsyndrom, HWS-Distorsion Verletzungsmechanismus • Das Schleudertrauma ist eine sehr häufige Verletzung bei Verkehrsunfällen (v. a. Auffahrunfälle): Der Kopf wird zunächst stark nach vorne und dann wieder nach hinten geschleudert. Die Folge können Zerrungen der Hals- und Nackenmuskulatur sowie der lokalen Bandstrukturen sein, in schweren Fällen auch Schädigungen der Gefäße, Nerven oder Wirbelkörper.

a

b

Je nach Art der Gewalteinwirkung unterscheiden sich die Verletzungsmuster. a Würgeverletzung: Am Hals des Patienten sind deutliche Würgemale zu erkennen, oberhalb davon einige Petechien. Wird z. B. mit dem Unterarm gewürgt, können die Würgemale diskreter ausfallen. b Verletzung durch Drosseln: Am Hals zeigt sich eine typische zirkuläre Drosselmarke, oberhalb davon petechiale Stauungsblutungen. Aus: Ahne T, Ahne S, Bohnert M, Hrsg. Rechtsmedizinische Aspekte der Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2010

383

15

Traumatologische Notfälle gens werden als atypisches Erhängen bezeichnet (deutlich häufiger!). Hier führt oft eine Kompression der Atemwege zum Tod. Eine Fraktur der Halswirbelsäule („Hanged-manfracture“) mit Schädigung des Halsmarks und/oder des Atemzentrums kommt selten vor, v. a. bei einem Sprung oder Sturz aus der Höhe in die Schlinge. Symptomatik • Typische Probleme Überlebender sind Schluckbeschwerden und Schmerzen im Hals, die Stimme klingt heiser. Während der Strangulation werden die Verletzten häufig bewusstlos. Als Folge der zerebralen Hypoxie sind ein unwillkürlicher Abgang von Urin und/oder Kot und Krampfanfälle möglich.

! Merke Selbst- oder Fremdverschulden?

Erhängen ist die Suizidmethode, die am häufigsten zum Tode führt. Würgeverletzungen entstehen praktisch immer durch Fremdeinwirkung, da der Muskeltonus beim Versuch des Selbsterwürgens bei Eintreten der Bewusstlosigkeit nachlässt und die würgenden Hände erschlaffen. Drosselverletzungen sind sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdschädigungen möglich. Selbstschädigungen kommen nicht nur in suizidaler Absicht, sondern auch als Mutproben (z. B. „Ohnmachtsspiel“) oder im autoerotischen Kontext vor (sexuelle Erregung durch zerebrale Hypoxie). Versorgung des Patienten • Strangulationen führen u. a. häufig zu Einblutungen in die Halsmuskulatur sowie zu Frakturen des Schildknorpels und/oder des Zungenbeins. Wegen der Gefahr zunehmender Schwellungen müssen die Patienten auch bei initial leichter Symptomatik unverzüglich in eine Klinik transportiert werden. Ein erhängter Patient sollte, sofern keine sicheren Todeszeichen (S. 251) erkennbar sind, sofort aus dieser Lage befreit werden. Achten Sie dabei darauf, dass der Patient nicht fällt und sich weitere Verletzungen zuzieht. Neben den Basismaßnahmen ist immer eine HWS-Immobilisation erforderlich. Bei Vorliegen sicherer Todeszeichen sollten Sie versuchen, möglichst wenig Spuren zu verwischen.

RETTEN TO GO Verletzungen des Halses ●



384

Das Schleudertrauma (HWS-Distorsion) ist eine sehr häufige Verletzung bei Auffahrunfällen. Typische Symptome sind Nackenschmerzen und Bewegungseinschränkungen („steifer Hals“), meist erst nach Stunden bis Tagen (Unterschied zu HWS-Verletzungen!). Bei Strangulationen durch Erhängen, Drosseln oder Würgen werden die hirnversorgenden Gefäße, die Luftröhre, der Kehlkopf und die Halsvenen komprimiert. Typische Probleme sind Schluckbeschwerden und Schmerzen im Hals. Ein Bewusstseinsverlust kommt häufig vor. Denken Sie immer an eine HWS-Immobilisation!

15.5.2 Wirbelsäulenverletzungen Definition Wirbelsäulentrauma Durch Gewalteinwirkung von außen können Frakturen oder Luxationen von Wirbelkörpern und/oder Verletzungen des Rückenmarks entstehen.

! Merke Gefahr Querschnitt

Bei jeder Wirbelkörperfraktur können abgescherte Knochenteile das Rückenmark verletzen. Daraus kann eine Querschnittslähmung mit lebenslanger Beeinträchtigung der Patienten resultieren. Daher haben die fachgerechte Rettung und der achtsame Umgang mit den Verletzten oberste Priorität!

Pathophysiologie Wirbelkörperfrakturen • Die Art der Fraktur hängt von der Art und der Richtung der Gewalteinwirkung ab: ● Kompressionsfraktur: Die Wirbelsäule wird gestaucht und ein Wirbelkörper zusammengedrückt (komprimiert). ● Luxationsfraktur: Die Wirbelsäule wird rotiert und flektiert (gebeugt). Rückenmarksverletzungen • Das Rückenmark kann durch abgesprengte oder verlagerte Knochenteile bei Frakturen oder Luxationen der Wirbelkörper verletzt werden, aber auch durch direkte Erschütterungen, Quetschungen oder Prellungen. Das Risiko ist bei Verletzungen der HWS am höchsten. Blutungen in den Spinalkanal können das Rückenmark weiter schädigen. Eine Verletzung oder Durchtrennung des Rückenmarks führt zu den Symptomen einer inkompletten (Sensibilität oder Motorik teilweise erhalten) oder kompletten Querschnittslähmung (vollständiger Verlust von Sensibilität und Motorik unterhalb der Läsion). Welche Körperregion von den Lähmungen betroffen ist, hängt von der Lokalisation der Verletzung ab (▶ Tab. 15.2).

Tab. 15.2 Neurologische Ausfälle je nach Lokalisation einer Querschnittsverletzung (Orientierungshilfe). Bereich der Läsion

Funktionsverluste

S 1–S 5

Einschränkungen der Beine und der Darm- und Blasenkontrolle; Gehen meist möglich

L 1–L 5

Lähmung beider Beine (Paraparese), keine Darmund Blasenkontrolle, freies Sitzen meist möglich

Th 1–Th 12

zusätzlich Lähmung der Bauchmuskulatur, häufig vegetative Störungen, Sitzen nur mit Rückenlehne

C 6–C 8

zusätzlich Lähmung der Arme und Hände (Tetraparese), Schwierigkeiten beim Atmen durch Lähmung der Rumpfmuskulatur

C 3–C 5

Gefahr einer Zwerchfellparese mit Ausfall der Atmung

C 1, C 2

Gefahr einer Schädigung Atemzentrums mit sofortigem Versterben

Verletzungen des Halses und der Wirbelsäule

Ursachen Bei Schädigungen der Knochenstruktur, z. B. durch eine Osteoporose, kann bereits ein leichtes Trauma zu einer Wirbelkörperfraktur führen. Ansonsten kann jedes Unfallgeschehen, das mit starken Scher- oder Stauchungskräften einhergeht, die Wirbelsäule verletzen. Typische Unfälle bzw. Unfallmechanismen sind: ● Stürze oder Sprünge aus großer Höhe (häufig in suizidaler Absicht), Kopfsprung in flaches Wasser, Reitunfall ● Polytrauma, Überrolltrauma, Einklemmung nach einem Verkehrsunfall ● Schädel-Hirn-Trauma (häufig HWS-Verletzungen) ● Auffahrunfall mit Dezelerationstrauma (v. a. bei fehlender Kopfstütze): Der Kopf wird peitschenschlagartig nach vorne und hinten geschleudert. ● (versuchtes) Erhängen oder Erwürgen

! Merke Bewusstseinsstörung als Warnhinweis

Gehen Sie bei jedem Verletzten mit einer Bewusstseinstrübung von einer Wirbelsäulenverletzung aus!

Symptomatik Schädigungen der Wirbelsäule • Allgemeine Hinweise auf ein Wirbelsäulentrauma sind Rückenschmerzen (können aber auch fehlen!), Gefühlsstörungen im Bereich der Wirbelsäule und der Extremitäten (z. B. Taubheit, Kribbeln, Gefühllosigkeit), tastbare knöcherne Fehlstellungen (Stufenbildung) oder muskuläre Verspannungen (Hartspann), Verformungen, Prellmarken oder Wunden im Bereich der Wirbelsäule sowie ein Kraftverlust bis hin zu Lähmungen. Schädigungen des Rückenmarks • Rückenmarksverletzungen führen zu einem mehr oder weniger vollständigen Querschnittssyndrom. Die nervale Versorgung der unterhalb der Läsion liegenden Körperabschnitte ist eingeschränkt oder fällt ganz aus. Betroffen sind die motorischen, sensiblen und autonomen Fasern, entsprechend resultieren Lähmungen, Sensibilitäts- und vegetative Störungen. Mitunter sind auch halbseitige Effekte zu beobachten. Im akuten Stadium einer Rückenmarksverletzung sind die Lähmungen schlaff, der Muskeltonus ist herabgesetzt und die Muskeleigenreflexe sind abgeschwächt oder fehlen. Einige Wochen nach der Verletzung nimmt der Muskeltonus zu, die Lähmungen werden spastisch und die Muskeleigenreflexe nehmen zu. Spinaler Schock • Verletzungen des Hals- oder Brustmarks können einen spinalen Schock (S. 293) auslösen: Die Reize des Sympathikus werden nicht mehr in die Peripherie geleitet, die Gefäße sind weit gestellt (relative Hypovolämie trotz ausreichenden Intravasalvolumens) und der Blutdruck sinkt. Im Unterschied zur klassischen Schocksymptomatik ist die Haut rosig und warm, die Herzfrequenz ist langsam.

Versorgung des Patienten

Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern – Vorsicht: Hals zur Atemkontrolle nicht überstrecken, stattdessen Esmarch-Handgriff (S. 209) durchführen ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● pDMS-Kontrolle (S. 366) ● Immobilisation: – Fordern Sie ansprechbare Patienten auf, sich nicht zu bewegen. – Nehmen Sie ggf. einen Motorradhelm ab (S. 229). – Führen Sie eine manuelle Inline-Stabilisierung durch (S. 233). Ist dies nicht möglich, legen Sie einen HWSStützkragen an (S. 233). – kreislaufstabiler, nicht kritischer Verletzter sitzt in einem Kfz: Retten Sie ihn mit einem Rettungskorsett (S. 235). Beachte: Nicht bei instabilen, kritischen Patienten, da Zeitverlust! – Lagern Sie den Verletzten mit einer Schaufeltrage für eine Ganzkörperimmobilisation auf eine Vakuummatratze (S. 236) oder ein Spineboard (S. 232) um. Sofern der Verletzte wach ist: Erklären Sie ihm das Vorgehen und beruhigen Sie ihn somit. – bei Gelegenheit (z. B. während der Umlagerung): Inspizieren Sie den Rücken auf Blutungen, Hämatome, Schwellungen, Stufenbildungen und Verletzungen. ● notärztliche Unterstützung anfordern ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. Intubation und/oder Narkose vorbereiten ● Wärmeerhalt (S. 249)

ACHTUNG Auch bei einem zunächst harmlos erscheinenden Schleudertrauma (S. 383) nach einem Auffahrunfall können Sie präklinisch eine Fraktur nicht ausschließen. Stellen Sie die HWS auf jeden Fall ruhig. Bewertung der HWS-Stützkragen • Stützkragen (z. B. Stiffneck®) waren jahrelang State of the Art bei der Immobilisierung der Halswirbelsäule. Aktuelle Studien belegen jedoch, dass die korrekte Anlage schwierig ist und Stützkragen selbst bei korrekter Anlage nur eine ca. nur 60 %ige Immobilisation der HWS gewährleisten. Zugleich schaffen sie Probleme, z. B. einen venösen Rückstau im Kopfbereich oder eine stark erschwerte Mundöffnung (sehr nachteilig bei Erbrechen oder bei der Intubation). Bevorzugt wird aktuell die manuelle Stabilisierung der HWS und, so bald wie möglich, die Ganzkörperimmobilisation, z. B. mittels Vakuummatratze. Erweiterte Maßnahmen • An Medikamenten kommen Analgetika und Sedativa (S. 123) zum Einsatz. Ist eine Intubation erforderlich, wird ggf. der HWS-Stützkragen geöffnet und während der Intubation eine MILS durchgeführt. Der Verletzte muss möglichst schonend in ein Zentrum mit Wirbelsäulenchirurgie transportiert werden (möglichst auch nachts mit RTH).

Zielsetzung • Die obersten Ziele (nach der Sicherung der Vitalfunktionen) bei Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung sind die Immobilisation und eine sachgerechte Rettung des Verletzten, um weitere Schädigungen abzuwenden. Jede unnötige Bewegung ist zu vermeiden!

385

15

Traumatologische Notfälle

15.6 Thoraxtrauma

RETTEN TO GO

15.6.1 Grundlagen

Wirbelsäulentrauma ●





Definition Thoraxtrauma Als Thoraxtrauma bezeichnet man eine Verletzung des Brustkorbs (Rippen, Sternum) und/oder der darin befindlichen Strukturen (Herz, Lunge, große Gefäße, Pleura).

Pathomechanismus: Verletzungen der Wirbelsäule entstehen häufig bei Verkehrsunfällen, Stürzen aus größerer Höhe oder Sport- und Freizeitunfällen. Die Krafteinwirkung kann Frakturen, aber auch Schäden an Muskeln und Bändern verursachen. Das Rückenmark wird am häufigsten bei HWS-Verletzungen geschädigt. Bei jedem Verletzten mit Bewusstseinstrübung ist von einer Wirbelsäulenverletzung auszugehen! Symptomatik: Rückenschmerzen, Gefühlsstörungen, Verformungen, Wunden, Kraftverlust; bei Rückenmarksverletzungen zusätzlich partielles oder komplettes Querschnittssyndrom (Lähmungen, Sensibilitäts- und vegetative Störungen unterhalb der Verletzung), mitunter neurogener Schock (Blutdruckabfall mit langsamer Herzfrequenz, rosige und warme Haut) ToDo: Vitalfunktionen sichern, pDMS-Kontrolle, Immobilisation der gesamten Wirbelsäule mittels Vakuummatratze oder Spineboard; möglichst schonender Transport (RTH) in ein Zentrum mit Wirbelsäulenchirurgie

Verletzungen des Thorax gehen mit einer hohen Sterblichkeit einher. Sie kommen meist im Rahmen eines Polytraumas (S. 397) vor und dabei mitunter nicht erkannt oder unterschätzt. Stumpfes vs. penetrierendes Trauma • In Deutschland kommen vorwiegend (> 90 %) stumpfe Traumata vor. Penetrierende, spitze Traumata sind häufig die Folge von Schussund Stichverletzungen und kommen aufgrund der niedrigen Zahl von Gewaltverbrechen hierzulande eher selten vor. Das Ausmaß der inneren Verletzungen wird bei Stichverletzungen häufig unterschätzt.

ACHTUNG Besonders bei Jugendlichen und Kindern ist der Thorax so elastisch, dass die inneren Organe stark geschädigt sein können, ohne dass von außen deutliche Verletzungszeichen sichtbar sind. „The Deadly Dozen“ • Das „tödliche Dutzend“ umfasst eine Gruppe lebensbedrohlicher Verletzungen im Rahmen eines Thoraxtraumas (▶ Abb. 15.24). Die „tödlichen Sechs“ („lethal six“) sind unmittelbar lebensbedrohlich und sollten im Rah-

Abb. 15.24 The Deadly Dozen: Lebensbedrohliche Thoraxverletzungen.

Lethal Six

instabiler Thorax

Hämatothorax

Hidden Six

Myokardkontusion

Aortenruptur

Thoraxverletzungen können mit erheblichen Blutverlusten einhergehen und lebenswichtige Organe beeinträchtigen. Letztlich besteht immer die Gefahr einer Minderversorgung des Körpers mit Sauerstoff (Hypoxie). Die Gruppe der unmittelbar lebensbedrohlichen „tödlichen Sechs“ („lethal six“) sollte im Rahmen des Primary Survey erkannt und ggf. bereits präklinisch behandelt werde. Die Behandlung vor Ort darf den schnellen Transport in eine geeignete Zielklink jedoch möglichst wenig verzögern! Die Gruppe der ebenfalls lebensbedrohlichen „versteckten Sechs“ („hidden six“) kann erst in der Zielklinik behandelt werden. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

386

Spannungspneumothorax

Atemwegsverlegung

Perikardtamponade

offener Pneumothorax

Lungenkontusion

Zwerchfellruptur

Verletzung von Ösophagusruptur Trachea oder Bronchien

Thoraxtrauma men der Erstuntersuchung erkannt und ggf. bereits präklinisch behandelt werden: ● Atemwegsverlegung ● instabiler Thorax ● offener Pneumothorax ● Spannungspneumothorax ● massiver Hämatothorax ● Perikardtamponade Die „versteckten Sechs“ („hidden six“) sind ebenfalls lebensbedrohlich, jedoch anfangs eher „versteckt“, d. h., sie fallen, wenn überhaupt, im Rettungsdienst erst im Rahmen des Secondary Survey auf und können präklinisch nicht behandelt werden. Hier steht ein schneller Transport in eine geeignete Zielklinik im Vordergrund: ● Myokardkontusion ● Aortenruptur ● Lungenkontusion ● Zwerchfellruptur ● Ösophagusruptur ● tracheobronchiale Verletzungen

Abb. 15.25 Instabiler Thorax.

lose Thoraxwandfragmente

Funktionsstörung bei der Atmung

15.6.2 Die „tödlichen Sechs“ Atemwegsverlegung Der Atemweg ist verlegt, z. B. durch ein Erschlaffen der Weichteile bei Bewusstlosigkeit (am häufigsten), durch Verletzungen der Trachea oder der Bronchien (S. 390) oder durch die Aspiration von Flüssigkeiten (z. B. Blut, Erbrochenes). Die Versorgung dieses A-Problems (Airway) folgt dem cABCDE-Schema (S. 183).

Einatmung

Ausatmung

Bei der Einatmung wird die betroffene Stelle eingezogen, bei der Ausatmung wölbt sie sich nach außen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Perikardtamponade

Instabiler Thorax

Synonym • Herzbeuteltamponade

Synonyme • „Flatterthorax“, flail chest

Pathophysiologie • Durch einen starken Aufprall wird das Herz auf der Innenseite des Thorax geprellt. Dadurch können Gefäße einreißen. Das Blut sickert in den sehr festen Herzbeutel, der das Herz umgibt (S. 59). Bei zunehmender Blutfüllung (bereits ab etwa 100–200 ml Blut!) hat das Herz nicht mehr genügend Platz, um sich in der Diastole ausreichend zu füllen (S. 60). Diese Herzbeuteltamponade kann zu einem Pumpversagen mit obstruktivem Schock (S. 289) und letztlich zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand führen.

Verletzungsmechanismen und Komplikationen • Die häufigsten Verletzungen des Brustkorbs sind Rippenfrakturen, meist durch ein stumpfes Trauma, z. B. bei Lenkradaufprall oder Sturz. Unterschieden werden isolierte Rippenfrakturen und Rippenserienfrakturen, bei denen mindestens 3 nebeneinanderliegende Rippen gebrochen sind. Brechen mehrere benachbarte Rippen an 2 oder mehr Stellen oder besteht begleitend eine Fraktur des Brustbeins, kann ein Fragment der Thoraxwand die knöcherne Verbindung zum Rest des Brustkorbs verlieren (loses Thoraxwandfragment). Begleitend besteht häufig eine Lungenkontusion (S. 389) mit Gefahr einer Hypoxie. Rippenfrakturen können (unabhängig von einem instabilen Thorax) zu Verletzungen der Pleura und der Lungen und damit zu einem Hämatothorax (S. 388) und einem Pneumothorax mit Gefahr eines Spannungspneumothorax (S. 387) führen, aber auch zu Verletzungen der Leber oder Milz mit schweren Blutungen in den Bauchraum (S. 392). Symptomatik • Rippenfrakturen führen zu starken, atemabhängigen Schmerzen, die die Atmung und somit die O2Versorgung des Verletzten beeinträchtigen. Außerdem besteht die Gefahr eines erheblichen Blutverlusts (auch in den Brustkorb). Ein loses Thoraxwandfragment stört häufig die Atemmechanik (S. 72): Der für die Einatmung nötige Unterdruck im Brustkorb kann nicht mehr erzeugt werden. Es resultiert eine paradoxe Atmung (▶ Abb. 15.25): Die Thoraxwand bewegt sich bei der Einatmung physiologisch nach außen, das lose Thoraxwandfragment wird hingegen eingezogen. Umgekehrt wölbt sich dieser Bereich bei der Ausatmung nach außen.

Symptomatik • Hinweise auf eine Perikardtamponade bei einem Verletzten sind eine rasch einsetzende Hypotonie mit Tachykardie, Dyspnoe, gestaute Halsvenen (▶ Abb. 12.8) und abgeschwächte Herztöne in der Auskultation.

Pneumothorax Definition Pneumothorax Luft dringt in den Pleuraspalt ein. Dadurch kollabiert die Lunge der betroffenen Seite teilweise oder vollständig. Pathophysiologie • Zwischen den beiden Blättern der Pleura (S. 72), im Pleuraspalt, herrscht normalerweise ein Unterdruck. Dieser sorgt dafür, dass die Lunge im Thorax „aufgespannt“ ist und belüftet wird. Dringt durch eine Verletzung Luft in diesen Spalt ein, wird der Unterdruck aufgehoben, das Lungengewebe fällt zusammen (kollabiert) und steht für den Gasaustauch nicht mehr zur Verfügung. Dadurch nimmt die O2-Konzentration im Blut ab (Hypoxämie). Da sich die Lungengefäße im kollabierten Anteil der Lunge verengen, nimmt der Durchblutungswiderstand in der Lunge und damit die Belastung des rechten Herzens zu. 387

15

Traumatologische Notfälle Traumatischer Pneumothorax • Eine wichtige Ursache sind Rippenfrakturen (auch im Rahmen einer Reanimation), bei denen spitze Knochenstücke die Pleura visceralis verletzen. Auch durch thorakale Stich- bzw. Schussverletzungen sowie durch massive stumpfe Gewalt mit Druckerhöhung im Thorax und Verletzung von Lungengewebe kann sich ein Pneumothorax entwickeln. Spontanpneumothorax • Ein Pneumothorax kann auch ohne Trauma scheinbar aus dem Nichts auftreten, und zwar bei lungengesunden Personen (Risikogruppe: junge, schlanke, rauchende Männer) oder bei vorbestehender Lungenerkrankung, z. B. bei COPD (S. 264). Die Symptome sind plötzliche, einseitige Thoraxschmerzen im Brustkorb und evtl. Luftnot. Offener und geschlossener Pneumothorax ● offener Pneumothorax: Über eine Verletzung der Thoraxwand besteht eine direkte Verbindung des Pleuraspalts mit der Außenluft. ● geschlossener Pneumothorax: Luft aus dem Bronchialsystem dringt in den Pleuraspalt ein (v. a. bei Spontanpneumothorax), es besteht keine Verbindung zur Außenluft. Einfacher Pneumothorax und Spannungspneumothorax • Bei einem einfachen Pneumothorax dringt bei der Einatmung über den Pleuradefekt Luft in den Pleuraspalt ein, bei der Ausatmung strömt sie aus (▶ Abb. 15.26a). Verschließt sich der Defekt jedoch bei der Ausatmung (z. B. durch ein kleines loses Stück Thoraxwand), kann die Luft durch diesen Ventilmechanismus nicht wieder entweichen und der Druck im Pleuraraum nimmt mit jedem Atemzug zu (Spannungspneumothorax, ▶ Abb. 15.26b). Mit zunehmendem Druck im Thoraxraum wird das Mediastinum mit Herz und (venösen)

Abb. 15.26 Pathophysiologie des Pneumothorax.

Einatmung

a

Luft strömt über den Pleuradefekt ein

„leere“ Pleurahöhle kollabierte Lunge Luft strömt über den Pleuradefekt ein

b

Verschiebung des Mediastinums

Ausatmung

Luft strömt über den Pleuradefekt aus

kollabierte Lunge Ventilmechanismus: Luft kann beim Ausatmen nicht entweichen

zunehmender Überdruck in der Pleurahöhle

a Einfacher Pneumothorax: Bei der Ausatmung entweicht die Luft aus dem Pleuraraum. b Spannungspneumothorax: Durch einen Ventilmechanismus kann die Luft bei der Ausatmung nicht ausströmen und der Druck im Pleuraraum erhöht sich bei jeder Einatmung. Der dadurch ansteigende Druck im Thoraxraum verdrängt das Mediastinum zur Gegenseite. 388

Gefäßen immer weiter zur gesunden Seite hin verschoben und komprimiert, ebenso die unverletzte Lunge. Die Folgen sind eine starke Hypoxie, ein verminderter venöser Rückstrom und eine geringere Auswurfleistung des Herzens mit Gefahr eines obstruktiven Schocks (S. 289). Symptomatik • Der Leitbefund ist ein abgeschwächtes Atemgeräusch auf der betroffenen Thoraxhälfte. Hören Sie die Lunge daher immer im Seitenvergleich ab. Die Atembeweglichkeit des Thorax kann auf der erkrankten Seite vermindert sein, die Atemfrequenz ist erhöht. Die Patienten haben atemabhängige Thoraxschmerzen. Je nach Größe des Pneumothorax und Zustand der „Restlunge“ bestehen meist eine Dyspnoe und mitunter eine Zyanose. Bei einem offenen Pneumothorax kann bei jedem Atemzug ein saugendes und/ oder schmatzendes Geräusch zu hören sein. Patienten mit Spannungspneumothorax leiden unter massiver Dyspnoe (Patient schnappt nach Luft) und sind zyanotisch. In der Untersuchung fallen gestaute Halsvenen (▶ Abb. 12.8) und eine Hypotonie durch die verminderte kardiale Auswurfleistung auf. Im Verlauf können sich Herzrhythmusstörungen, ein obstruktiver Schock (S. 289) und letztlich ein Herz-Kreislauf-Stillstand entwickeln. Aufgrund des hohen Drucks im Thoraxraum kann Luft aus dem Pleuraraum in die Thorax- und Halsweichteile gedrückt werden und sich dort sammeln (Hautemphysem). Die Weichteile schwellen an und knistern beim Betasten, der Patient sieht „wie aufgeblasen“ aus.

! Merke Spannungspneumothorax

Ein Spannungspneumothorax ist ein lebensbedrohlicher Notfall. Er kann sich aus jeder anderen Form des Pneumothorax entwickeln. Bei beatmeten Patienten ist ein plötzlich ansteigender Beatmungsdruck ein Warnhinweis. Es muss sofort eine Entlastungspunktion durchgeführt werden.

Hämatothorax Definition Hämatothorax Es bestehen Einblutungen in den Pleuraspalt, z. B. bei Rippenfrakturen mit Verletzung der Interkostal- oder Lungengefäße. Pathophysiologie • Pro Thoraxhälfte können sich bis zu 3 000 ml Blut im Pleuraraum ansammeln. Es droht die Gefahr eines hämorrhagischen Schocks (S. 289) bis zum HerzKreislauf-Stillstand. Zusätzlich wird die Lunge auf der betroffenen Seite bzw. in weiterer Folge auch die Lunge der unverletzten Seite komprimiert und es droht eine Hypoxämie bzw. eine Ateminsuffizienz. Mitunter komprimiert die Blutansammlung auch die Hohlvenen und das Herz: Die Pumpleistung nimmt ab und es besteht die Gefahr eines obstruktiven Schocks (S. 289). Symptome • Anzeichen eines massiven Hämatothorax sind Zyanose, Ateminsuffizienz, fehlende oder abgeschwächte Atemgeräusche auf der verletzten Seite und Schockzeichen (S. 286). Bei beatmeten Patienten kann der Beatmungsdruck ansteigen (durch Anstieg des intrathorakalen Drucks).

Thoraxtrauma

15.6.3 Die „versteckten Sechs“

Abb. 15.27 Gurtprellmarke.

Herzkontusion Synonyme • Herzprellung, Myokardkontusion Pathophysiologie • Durch einen starken Aufprall wird das Herz auf der Innenseite des Thorax geprellt (Herzkontusion). Die Kontusion kann die Herzmuskelzellen schädigen, damit die Pumpleistung des Herzens reduzieren und zu einem kardiogenen Schock (S. 289) führen. Weitere mögliche Komplikationen sind Herzrhythmusstörungen, Schädigungen der Herzkranzgefäße mit myokardialer Ischämie und Herzinfarkt oder Perikardtamponade (S. 387). Symptome • Hinweise auf eine Myokardkontusion sind eine rasch einsetzende Hypotonie mit Tachykardie, die in einen kardiogenen Schock übergeht. Im EKG können Rhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern nachweisbar sein.

Aortenruptur Ursachen • Ein stumpfes Thoraxtrauma mit Rippenfrakturen ist die häufigste Ursache: Starke Beschleunigungen oder Bremskräfte führen zu Scherbelastungen zwischen dem relativ freien Herzen und der eher fixierten Aorta (z. B. bei direktem Aufprall auf das Lenkrad). Offene vs. gedeckte Aortenruptur • Eine offene Aortenruptur mit Zerreißung aller Wandschichten verläuft meistens fulminant tödlich: Die Verletzten versterben innerhalb weniger Minuten am Einsatzort an einem hämorrhagischen Schock. Sind die Verletzten bei Eintreffen des Rettungsdienstes noch am Leben, ist von einer gedeckten Aortenruptur auszugehen: Die äußere Gefäßwand ist noch unbeschädigt, der Blutfluss bleibt damit aufrechterhalten. Es resultiert eine Sickerblutung in den Thoraxraum mit Hämatothorax. Gedeckte Rupturen können in der rettungsdienstlichen Untersuchung und auch in der aufnehmenden Klinik zunächst übersehen werden, aber im weiteren Verlauf offen rupturieren und damit schnell zu einem hämorrhagischen Schock führen. Symptome • Ein trotz Volumenzufuhr nicht beherrschbarer Schock in Verbindung mit einem typischen Verletzungsmechanismus deutet auf eine Verletzung der Aorta (oder anderer großer Gefäße) hin.

Lungenkontusion Synonyme • Lungenquetschung oder -prellung Ursachen • Lungenkontusionen sind eine häufige Folge eines stumpfen Thoraxtraumas, v. a. bei Abbremsungen aus hoher Geschwindigkeit, z. B. beim Aufprall auf das Lenkrad. Pathophysiologie • Das Lungengewebe reißt ein, die Folgen sind Einblutungen in die Alveolen und ein Lungenödem (S. 268). Dies behindert den Gasaustausch und das Blut wird unzureichend oxygeniert. Symptome • Der Verletzte ist hypoxisch und hat Luftnot. Oft entwickelt er eine Zyanose und hustet Blut oder blutiges Sekret ab. Von außen ist oft nur eine Prellmarke sichtbar, z. B. durch den Sicherheitsgurt („Seat-Belt-Sign“, ▶ Abb. 15.27).

Die von außen sichtbare Prellmarke nach einer Frontalkollision wirkt unscheinbar – das Verletzungsausmaß kann dennoch beträchtlich sein. Aus: Niethard F, Pfeil J, Biberthaler P, Hrsg. Duale Reihe Orthopädie und Unfallchirurgie. 9. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022

Perthes-Syndrom (traumatische Asphyxie) • Diese Maximalform der Quetschung des Brustkorbs entsteht durch eine massive Druckerhöhung im Thorax, z. B. bei Verschüttung oder Überrolltwerden. Blut wird schlagartig aus dem Thorax in Kopf und Hals gepresst. Mögliche Folgen sind Sehstörungen (bis zur Erblindung) und intrakranielle Blutungen. Typische Symptome sind punktförmige Einblutungen in die Augenbindehaut und in die Haut (Petechien) sowie eine Zyanose im Kopf-Hals-Bereich. Begleitverletzungen von Thorax und Abdomen sind sehr häufig.

Zwerchfellruptur Ursachen • Die häufigste Ursache ist eine starke, stumpfe Gewalteinwirkung auf den Bauch (z. B. durch Schläge, Tritte, Anprall an das Lenkrad oder den Sicherheitsgurt), meistens im Rahmen eines Polytraumas. Kinder sind häufiger betroffen als Erwachsene. Bei großen Rupturen können Organe aus dem Bauch- in den Brustraum verschoben und eingeklemmt werden. Symptome • Das Zwerchfell ist der wichtigste Atemmuskel. Eine Schädigung führt daher zu einer Ateminsuffizienz mit Dyspnoe. Verstärkt wird dies durch die Verlagerung von Bauchorganen in den Brustraum.

Ösophagusruptur Ursachen • Am häufigsten kommt diese eher seltene, aber lebensbedrohliche Verletzung bei penetrierenden Verletzungen des Halses vor. Mitunter bewirkt eine starke Gewalteinwirkung gegen den Oberbauch einen so starken Druckanstieg im Magen, dass der hochgedrückte Mageninhalt zur Ruptur des unteren Anteils der Speiseröhre führt. Symptome • Der Verletzte entwickelt einen hämorrhagischen Schock (S. 289) oder einen Hämatothorax (S. 388) mit entsprechenden Symptomen. Im Bereich der Wunde kann ein Hautemphysem (Luftansammlung unter Haut) als Knistern tastbar sein.

389

15

Traumatologische Notfälle

Tracheobronchiale Verletzungen Ursachen • Am häufigsten wird die Luftröhre im Halsbereich verletzt, durch penetrierende Verletzungen (z. B. durch ein Messer) oder ein massives stumpfes Trauma (z. B. starke Abbremsbewegungen mit Abreißen der Trachea oder der Bronchien). Begleitend bestehen meistens weitere schwere Verletzungen der Weichteile und Gefäße. Symptome • Eine komplette Ruptur führt zu einer Atemwegsverlegung (S. 387). Inkomplette Rupturen äußern sich durch Tachypnoe, Tachykardie, Blässe und Zyanose. Dringt Luft aus der Verletzung in den Pleuraraum ein, entsteht ein Pneumothorax.

15.6.4 Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Monitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2, CRF, um einen Schock frühzeitig zu erkennen ● vergleichende Auskultation beider Lungen, um einen Pneumothorax frühzeitig zu erkennen ● frühzeitige O2-Gabe: bei SpO2 < 96 % zügig 8–15 l/min ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation ● Lagerung: – wache Patienten mit erhöhtem Oberkörper, möglichst auf die verletzte Thoraxseite, um die Belüftung der gesunden Lunge zu verbessern – bei Verdacht auf eine Wirbelsäulenverletzung: Immobilisation der gesamten Wirbelsäule in Rückenlage ● Wärmeerhalt (S. 249) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● bei Ateminsuffizienz: Intubation und Narkose vorbereiten Wundversorgung ● Fremdkörper (z. B. Messer) nicht entfernen, sondern locker unterpolstern und fixieren (▶ Abb. 15.12) ● Große, möglicherweise luftsaugende Wunden können mit einem speziellen Thoraxverband mit Ventilmechanismus (z. B. Chest Seal®) oder alternativ mit einer sterilen Plastikfolie (z. B. von der Umverpackung des Infusionssystems) versorgt werden. Diese wird an 3 Seiten um die Wunde

geklebt, an der vierten Seite bleibt sie offen. So kann ggf. Luft aus dem Pleuraraum entweichen, aber es wird keine Luft angesaugt (▶ Abb. 15.28).

ACHTUNG Der Verband von Thoraxwunden darf nicht luftdicht sein. Sonst besteht die Gefahr, dass bei einem Pneumothorax die Luft nicht entweichen kann und ein Spannungspneumothorax entsteht. Erweiterte Maßnahmen • Der Verletzte muss schnellstmöglich in eine geeignete Zielklinik transportiert werden: In vielen Fällen ist nur eine sofortige chirurgische Versorgung potenziell lebensrettend. Zur Schockprophylaxe bzw. -therapie werden möglichst mehrere großlumige i. v.-Zugänge gelegt und kristalloide Infusionslösungen verabreicht. Da die Verletzungen häufig sehr schmerzhaft sind und die Schmerzen die Atmung zusätzlich beeinträchtigen, ist eine ausreichende Analgesie z. B. mit Esketamin (Ketanest S®) und evtl. eine Sedierung mit Midazolam (z. B. Dormicum®) wichtig. Bei folgenden Notfällen sind spezielle Maßnahmen erforderlich: ● Spannungspneumothorax: sofortige Entlastungspunktion oder Thoraxdrainage ● Hämatothorax: Thoraxdrainage ● Perikardtamponade mit drohendem oder eingetretenem Herz-Kreislauf-Stillstand (sofern Team dazu in der Lage): Eröffnung des Brustkorbs mit offener Entlastung des Herzbeutels (Thorakotomie) Entlastungspunktion (Nadeldekompression) • Über eine möglichst großlumige Kanüle wird die Luft aus dem Pleuraspalt abgelassen und bei einem Spannungspneumothorax die Ventilfunktion aufgehoben. So lässt sich der gefährliche Überdruck im Thorax entlasten – eine Wiederentfaltung der Lunge wird aber nicht erreicht. Daher ist die Entlastungspunktion immer nur eine lebensnotwendige Überbrückungsmaßnahme, in der Zielklinik muss eine Thoraxdrainage angelegt werden (▶ Abb. 15.29). Nach Desinfektion der Einstichstelle wird im 2. Interkostalraum (ICR) in der Medioklavikularlinie punktiert, also in einer gedachten Linie von der Mitte des Schlüsselbeins nach unten. Die Einstichstelle sollte am Oberrand der 3. Rippe liegen, um die am Unterrand der Rippen verlaufenden Nerven und Gefäße zu schonen. Die Kanüle muss anschließend gut fixiert werden.

Abb. 15.28 Verschluss eines offenen Pneumothorax.

a

b

c

Damit keine weitere Luft in den Pleuraspalt eindringen kann, muss eine offene Wunde möglichst schnell verschlossen werden. a Offene Wunde im Thoraxbereich. Bei jedem Atemzug sind schmatzende Geräusche zu hören. b Auf die Wunde wird eine sterile Kompresse aufgebracht. Damit keine Luft mehr eindringen kann, wird die Folienumverpackung eines Infusionsbeutels an 3 Seiten mit Pflasterstreifen aufgeklebt. Die vierte Seite bleibt offen. c Zum Verschließen der Wunde kann auch ein Thoraxverschlusspflaster mit Ventil (Chest Seal) verwendet werden. Das Einwegventil lässt Luft entweichen und verhindert gleichzeitig das Eindringen weiterer Luft in den Pleuraspalt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny/Thieme

390

Bauchtrauma Abb. 15.29 Nadeldekompression bei Spannungspneumothorax.

a

Eine zügige Nadeldekompression kann Patienten mit Spannungspneumothorax das Leben retten. a Punktionsort ist die Monaldi-Position (2. ICR in Medioklavikularlinie). b Palpation der 3. Rippe und senkrechtes Einstechen der Kanüle mit der anderen Hand am Oberrand der Rippe (90°-Winkel zum Rücken). c Die Kanüle wird in ihrer gesamten Länge eingeführt. d Die Kanüle wird möglichst sicher fixiert.

b

Aus: Höch A, Hammer N, Brandmaier P et al. Nadeldekompression des Thorax. Notfallmedizin up2date 2015; 10(01): 4–8

c

d

Thoraxdrainage • Ein Kunststoffkatheter wird über einen kleinen Hautschnitt im 3.–4. ICR in der vorderen Axillarlinie in den Pleuraspalt eingelegt (notärztliche Maßnahme). Durch einen kontinuierlichen Sog wird die Luft oder das Blut aus der Pleurahöhle entfernt. Dies führt zu einer Wiederentfaltung der Lunge und ist somit die wirksamere Therapie eines Pneumothorax.

RETTEN TO GO Thoraxtrauma ●





Verletzungen des Thorax sind häufig bei polytraumatisierten Patienten anzutreffen und oft lebensbedrohlich. Unterschieden werden penetrierende (z. B. durch Schuss- und Stichverletzungen) und stumpfe Traumata. ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, NA nachfordern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG, CRF), Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, möglichst auf die verletzte Thoraxseite, ggf. Immobilisierung; frühzeitige O2Gabe (bei SpO2 < 96 % 8–15 l/min), i. v.-Zugang und VEL vorbereiten, Wärmeerhalt, Wundversorgung (Fremdkörper nicht entfernen, Thoraxwunden nicht luftdicht verbinden), schnellstmöglicher Transport Unmittelbar lebensbedrohliche Verletzungen (die „tödlichen Sechs“) sollten im Rahmen des Primary Survey erkannt und ggf. bereits präklinisch behandelt werden: – Atemwegsverlegung (allgemeines Atemwegsmanagement, Absaugbereitschaft herstellen) – instabiler Thorax (Analgesie, ggf. Notfallnarkose mit endotrachealer Intubation) – offener Pneumothorax (Verschluss durch Thoraxverband mit Ventilmechanismus) – Spannungspneumothorax (sofortige Nadeldekompression oder Thoraxdrainage) – massiver Hämatothorax (ggf. Thoraxdrainage) – Perikardtamponade (Schockbehandlung, evtl. Notfallthorakotomie → offene Entlastung des Herzbeutels)



Die „versteckten Sechs“ sind auch lebensbedrohlich, fallen aber erst im Rahmen des Secondary Survey auf. Sie sind präklinisch nicht behandelbar und erfordern einen schnellen Transport in die Klinik: Myokardkontusion, Aortenruptur, Lungenkontusion, Zwerchfellruptur, Ösophagusruptur, tracheobronchiale Verletzungen.

15.7 Bauchtrauma 15.7.1 Grundlagen Fallbeispiel Voll auf die Leber* Am späten Samstagabend werden Sie mit dem RTW zu einem Jahrmarkt alarmiert. Es ist Herbst, die Temperatur ist schon auf ca. 5 °C gesunken. An der Einsatzstelle steht eine Menschentraube um einen gekrümmt auf dem Boden liegenden jungen Mann. Auf Ansprache öffnet er die Augen und deutet schmerzerfüllt auf seinen Bauch: „Ich hab‘ voll eine auf die Leber gekriegt! Dieser Assi … oh, ich glaub, mir wird schlecht …“. Geräuschvoll erbricht der junge Mann im Strahl. Sie und Ihr Kollege achten darauf, dass das Erbrochene nicht die Atemwege behindert. Währenddessen erkundigen Sie sich bei den Umstehenden, was passiert ist. Niemand will etwas gesehen haben. Es geht das Gerücht um, der junge Mann sei aufmüpfig gewesen und von einigen anderen hinter dem Zelt „zur Ordnung“ gerufen worden. Diese Personen seien jetzt aber im Trubel des Volksfestes verschwunden. Wegen der sehr kühlen Außentemperatur entscheidet Ihr Kollege, den Patienten zur weiteren Versorgung in den RTW zu bringen. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

391

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.30 Organe des Bauchraums.

V. cava inferior Zwerchfell Leber Bauchspeicheldrüse Niere Harnleiter

ACHTUNG

Aorta Magen Milz Nierenarterie Dünndarm

Dickdarm Appendix vermiformis

Rektum Harnblase

Die Bauch- und Beckenhöhle enthält den Magen, den Dünnund den Dickdarm inkl. Rektum, die Leber und das Pankreas, die Milz, die Nieren und die ableitenden Harnwege, große Gefäße sowie die inneren Genitalorgane (hier nicht dargestellt). Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Definition Bauchtrauma Ein Bauchtrauma bezeichnet eine Gewalteinwirkung auf den Bauch, die Verletzungen der inneren Organe (v. a. Leber, Milz, Darm, ▶ Abb. 15.30) nach sich ziehen kann. ● stumpfes Bauchtrauma: Die Bauchdecke ist (mit Ausnahme oberflächlicher Verletzungen) intakt. ● offenes (perforierendes, penetrierendes, spitzes) Bauchtrauma: Die Verletzung durchdringt die Bauchdecke inkl. Peritoneum. Synonym • Abdominaltrauma Ursachen • Typische Ursachen für ein stumpfes Bauchtrauma sind Anprallverletzungen (Lenkrad, Airbag), Tritt- und Schlagverletzungen, Einklemmungen, Verschüttungen oder Stürze auf den Motorrad- oder Fahrradlenker oder einen Skistock. Auch Dezelerationsverletzungen sind möglich: Durch das schnelle Abbremsen des Körpers beim Aufprall schlagen die Abdominalorgane an der Bauchwand an oder reißen von ihren Haltestrukturen ab. Perforierende Bauchtraumata sind am häufigsten die Folge von Stich-, Schussoder Pfählungsverletzungen, oft im Rahmen von Arbeitsoder Verkehrsunfällen. Allgemeine Symptome ● starke Bauchschmerzen: Die Verletzten ziehen oft reflektorisch die Beine an, um die Bauchdecke zu entlasten und die Schmerzen zu mindern. Schmerzen im linken Oberbauch können auf eine Milzruptur hinweisen, Schmerzen im rechten Oberbauch auf eine Leberverletzung. ● stumpfes Bauchtrauma: Achten Sie auf Prellmarken (▶ Abb. 15.27), Schürfwunden und Hämatome. ● offenes Bauchtrauma: offene Wunde, evtl. mit Austritt von Bauchorganen (meist Darm, ▶ Abb. 15.31); auch bei scheinbar geringfügigen Stichverletzungen sind oft Bauchorgane verletzt, v. a. Magen und Darm. ● Schocksymptome: RR ↓, HF ↑, Kaltschweißigkeit, CRF ↑ ● Palpation: Bauchdecke bretthart (Abwehrspannung) ● Auskultation: evtl. abgeschwächte Darmgeräusche (direkte Verletzung oder Darmlähmung durch das Trauma)

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Stumpfe Bauchtraumata sind v. a. bei Bewusstlosen häufig schwierig zu erkennen: Die Patienten können keine Schmerzen angeben, Prellmarken und Blutergüsse sind nur in ca. 20 % der Fälle zu sehen. Eine unversehrte Bauchdecke sagt also nichts über den Zustand im Bauch aus! Denken Sie daher bei einem entsprechenden Unfallmechanismus unbedingt an die Möglichkeit eines Bauchtraumas!

15.7.2 Häufige Verletzungen Milzruptur • Ein Milzriss ist die häufigste Verletzung bei einem stumpfen Bauchtrauma. Die Milz kann dabei direkt durch den akuten Druckanstieg im Bauch bersten oder sie wird (begünstigt durch ihre Lage im linken Oberbauch) bei Rippenfrakturen durch spitze, häufig auch verlagerte Knochenteile verletzt. Sie ist von einer festen Kapsel aus Bindegewebe umgeben. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt diese reißt, werden folgende Formen unterschieden: ● einzeitiger Milzriss: Die Verletzung führt zu einem direkten Zerreißen des Milzgewebes und der Milzkapsel und einer sofortigen Blutung in den Bauchraum. Bei entsprechendem Blutverlust entwickelt sich rasch ein hämorrhagischer Schock (S. 289). ● zweizeitiger Milzriss: Reißt zunächst nur das Milzgewebe ein (Kapsel bleibt intakt), bildet sich ein Bluterguss innerhalb der Milzkapsel (subkapsuläres Hämatom). Bei zunehmendem Druck reißt die Kapsel dann Stunden, Tage oder – im Extremfall – auch nach mehreren Wochen ein, mit der Folge einer oft massiven Blutung in den Bauchraum. Leberverletzungen (Leberruptur) • Verletzungen des Lebergewebes und/oder der Leberkapsel sind bei stumpfen Bauchtraumata ebenfalls häufig, meist in Verbindung mit Verletzungen der unteren rechten Thoraxhälfte. Auch bei Stichverletzungen ist die Leber durch ihre oberflächliche Lage oft betroffen. Das Spektrum der möglichen Schädigungen reicht von einem kleinen Hämatom innerhalb der Kapsel bis zur Zerstörung ganzer Leberlappen. Da die Leber sehr gut durchblutet ist, führen Verletzungen des Organs (auch schon bei kleinen Einrissen!) schnell zu lebensbedrohlichen Blutverlusten. Werden Gallenwege verletzt, kann der Austritt der Gallenflüssigkeit im Verlauf zu einer Bauchfellentzündung (Peritonitis) führen.

ACHTUNG Im Abdomen kann sich sehr viel Blut befinden, ohne dass der Bauchumfang zunimmt. Lassen Sie sich also nicht täuschen! Magen-Darm-Verletzungen • Magen und/oder Darm sind recht häufig bei offenen Bauchtraumata verletzt, da sie mittig und weitgehend ungeschützt im Bauchraum liegen. Diese Verletzungen sind anfangs häufig eher symptomarm und werden von den Verletzten oft bagatellisiert. Allerdings können auch durch kleine Einrisse Verdauungssäfte, Nahrungsbrei bzw. Stuhl in den Bauchraum austreten, was im weiteren Verlauf zu einer Peritonitis führen kann. Diese schwerwiegende Infektion mündet häufig in einen septischen Schock (S. 292) und verläuft in ca. 40 % der Fälle tödlich. Verletzungen des Pankreas • Die Bauchspeicheldrüse liegt recht gut geschützt in der Tiefe des Abdomens (S. 80). Sie kann allerdings bei einem stumpfen Bauchtrauma gegen die Wirbelsäule gedrückt werden und teilweise oder komplett reißen. Solche Verletzungen verursachen anfangs oft keine Symptome. Im weiteren Verlauf entwickelt sich durch den Austritt von Verdauungsenzymen eine Entzündung (Pankreatitis) und im schlimmsten Fall ein septischer Schock.

Bauchtrauma

15.7.3 Versorgung des Patienten

! Merke Bauchtrauma – keine Zeit verlieren!

Verletzungen der Bauchorgane können präklinisch nicht versorgt werden. Die Maßnahmen am Unfallort sollten sich daher auf das Nötigste beschränken. Der Verletzte muss schnellstmöglich in eine geeignete Klinik transportiert werden: Nur dort können lebensbedrohliche Blutungen sicher erkannt und operativ versorgt werden („Golden Hour of Trauma“). Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● Lagerung: – Immobilisation bei Verdacht auf begleitendes Wirbelsäulentrauma: Eine Lagerung auf einem Spineboard (S. 232) oder einer Vakuummatratze (S. 236) minimiert zudem die Erschütterungen und lindert die Schmerzen. – ansonsten Oberkörper leicht erhöht (20°), Beine angezogen, Knierolle (nicht bei Extremitätenverletzungen oder Verdacht auf Beckenfraktur) – ggf. Schocklagerung, bei Bewusstlosigkeit angepasste stabile Seitenlage (S. 210) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL, ggf. Medikation ● Wundversorgung: – Wunden steril abdecken, Fremdkörper belassen und abpolstern – vorgefallene Bauchorgane (meist Darm oder Mesenterium, ▶ Abb. 15.31) mit sterilen Kompressen bedecken und ggf. mit steriler Infusionslösung befeuchten; drücken Sie keinesfalls Teile des Abdominalinhalts zurück in den Bauchraum! – bei starken Blutungen Wunde komprimieren, wenn möglich Druckverband ● Wärmeerhalt (S. 249) ● ggf. Intubation und/oder Narkose vorbereiten Erweiterte Maßnahmen • Über mehrere großlumige i. v.-Zugänge werden 1000–1500 ml VEL verabreicht, ggf. auch Katecholamine (S. 128), z. B. Noradrenalin (z. B. Arterenol®) oder Akrinor®. Achtung: Insbesondere bei nicht beherrschbaren Blutungen darf nicht zu viel Volumen gegeben werden! Ein systolischer Blutdruck von 80–90 mmHg reicht aus, um das Gehirn ausreichend mit Blut zu versorgen (permissive Hypotonie). Steigt der Blutdruck übermäßig, besteht die Gefahr, dass sich die Blutungen verschlimmern. Zudem verschlechtern VEL die Blutgerinnung (Verdünnungseffekte). Zur Analgosedierung erhalten die Patienten häufig Esketamin (z. B. Ketanest S®) und Midazolam (z. B. Dormicum®). Verschlechtert sich die Bewusstseinslage durch den starken Blutverlust, wird der Patient zum Schutz vor einer Aspiration intubiert. Dies darf den Transport in die Klinik aber keinesfalls relevant verzögern! Eine Voranmeldung an die aufnehmende Klinik ist wichtig. Mitunter werden mobile Ultraschallgeräte eingesetzt, um intraabdominelle Blutungen bereits präklinisch zu erkennen (Vorteil v. a. bei Verletzten mit geringen Symptomen).

Fallbeispiel Fortsetzung – Voll auf die Leber Im RTW messen Sie die SpO2 und legen das EKG an, während Ihr Kollege nochmals die Atemwege und die Atmung überprüft. Die Sättigung liegt bei 98 %, die Herzfrequenz bei 110/min. Ihr Kollege erwägt kurz, dem Patienten einen HWS-Stützkragen anzulegen. Da er aber keine Schmerzen am Hals angibt und auch beim Abtasten und bei genauer Inspektion des Kopfes kein Trauma feststellbar ist, verzichtet er auf diese Maßnahme: Es ist wahrscheinlich, dass der Patient noch einmal erbricht, die Orthese könnte eine Aspiration begünstigen. Sie messen den Blutdruck (100/60 mmHg) und bereiten einen großlumigen i. v.-Zugang mit VEL vor, während Ihr Kollege den Patienten vorsichtig am ganzen Körper untersucht. Im rechten Oberbauch findet er eine deutliche Prellmarke, die beim Betasten starke Schmerzen auslöst – dies erhärtet den Verdacht auf eine Leberblutung. Sie fordern notärztliche Unterstützung nach, während Ihr Kollege 2 i. v.-Zugänge legt. Als die Zugänge liegen und die Infusion im Schuss läuft, ist der Notarzt noch nicht da. Sie fahren ihm mit dem RTW entgegen. Sie kontrollieren die Vitalparameter des Patienten engmaschig, er bleibt während der Fahrt stabil.

RETTEN TO GO Bauchtrauma ●







Gewalteinwirkungen auf den Bauch können oft lebensbedrohliche Verletzungen der inneren Organe (v. a. Milz, Leber, Magen, Darm) verursachen. Ein stumpfes Bauchtrauma (Bauchdecke intakt) entsteht oft bei Verkehrsunfällen, Stürzen aus großer Höhe, Tritt- und Schlagverletzungen sowie bei Sportunfällen. Ein offenes, perforierendes Trauma (Bauchdecke inkl. Peritoneum eröffnet) wird z. B. durch Stich-, Schuss- oder Pfählungsverletzungen verursacht. Symptome: Schmerzen, Abwehrspannung, bei stumpfem Trauma evtl. Prellmarken und Hämatome; auch schwere innere Blutungen von außen oft kaum sichtbar, Gefahr eines hämorrhagischen Schocks ToDo Basis: schnellstmöglicher Transport in Zielklinik zur chirurgischen Versorgung! – Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG, CRF), NA nachfordern – Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper, Beine angezogen (nicht bei Verletzungen der Extremitäten oder des Beckens), ggf. Immobilisierung – O2-Gabe, i. v.-Zugang und VEL vorbereiten – Wärmeerhalt – Wundversorgung: Wunden steril abdecken, Fremdkörper nicht entfernen, vorgefallene Bauchorgane mit sterilen Kompressen bedecken und ggf. mit steriler Infusionslösung befeuchten; keinesfalls „zurückdrücken“ ToDo erweitert: Analgesie, Volumentherapie (Ziel RRsyst 80–90 mmHg), ggf. kreislaufunterstützende Medikation, Intubation

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15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.31 Erstversorgung eines offenen Bauchtraumas.

a

b

Drücken Sie ausgetretene Darmschlingen keinesfalls zurück in den Bauchraum (Situation nachgestellt). Der Verletzte muss schnellstmöglich in eine geeignete Klinik transportiert werden! a Auffindesituation. b Entfernen der Kleidung. c Abdecken der Wunde mit steriler Saugkompresse zum Schutz vor Austrocknung und Verunreinigung. d Abgedeckte Wunde. e Sterile Kompressen werden angefeuchtet. f Abdecken der ausgetretenen Darmschlingen mit sterilen, angefeuchteten Kompressen. g Weiteres Abdecken der Verletzung mit einer Folie und Fixierung mit Pflasterstreifen. h Fertiger Wundverband. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Fotos: © K. Oborny / Thieme

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Beckentrauma

15.8 Beckentrauma 15.8.1 Grundlagen Ursachen • Der knöcherne Beckenring ist sehr stabil, kann aber bei starker Gewalteinwirkung brechen. Typische Unfallmechanismen sind Überrollen, Verschüttung oder ein Sturz aus großer Höhe. Pathophysiologie • Beckenfrakturen gehören zu den schwerwiegendsten Verletzungen und sind sehr schwierig zu beherrschen: Das Knochenmark des Beckenrings ist sehr gut durchblutet, daher kann nahezu das gesamte Blutvolumen des Patienten verloren gehen. Zudem befindet sich direkt am hinteren Beckenring das tiefe Beckenvenengeflecht mit großen Venen. Zusätzlich (selten direkt) können im Rahmen eines Beckentraumas auch die Organe des kleinen Beckens wie Harnleiter, Harnröhre und Uterus verletzt werden. Eine volle Harnblase kann rupturieren.

15.8.2 Symptomatik Bewusstseinsklare Patienten berichten meist primär über Schmerzen im Becken oder in der Hüfte. Bei Nervenschäden sind „Ameisenlaufen“ (Parästhesien) oder Lähmungen der Beine möglich. Bei Verdacht auf eine Beckenfraktur ist eine pDMS-Kontrolle (S. 366) daher sehr wichtig – die Motorik ist allerdings aufgrund der Schmerzen oft eingeschränkt. Im Verlauf entwickelt sich aufgrund der starken Blutung ein hämorrhagischer Schock (S. 289). Bei der schnellen Traumauntersuchung (S. 190) kann eine Rotationsinstabilität auffallen: Dabei müssen Sie das Becken immer zuerst „zusammendrücken“ (seitliche Kompression in Richtung Körpermitte). Ist dieser Untersuchungsschritt auffällig, muss sofort eine Beckenschlinge zu Kompression und Stabilisation angelegt werden (▶ Abb. 15.33). Drücken Sie zuerst von oben, kann dies im schlimmsten Fall eine Beckenfraktur verschlimmern (das Becken klappt vorne auf → „open book“Fraktur).

ACHTUNG Gibt der Patient bereits spontan (d. h. ohne Manipulation) Schmerzen an, müssen Sie sofort eine Beckenschlinge angelegen und alle Manipulationsversuche unterlassen.

Verletzungen der ableitenden Harnwege (Ureter, Blase, Harnröhre) können durch eine Hämaturie (S. 493) auffallen. Ein starker Harndrang ohne Abgang von Urin, Schmerzen und evtl. eine Vorwölbung im Unterbauch sind Hinweise auf eine Blasenruptur. Eine Blutung aus dem Anus lässt auf eine Verletzung des Enddarms schließen.

15.8.3 Versorgung des Patienten KISS-Schema • Das Schema hilft bei der Beurteilung bei Verdacht auf ein Beckentrauma (▶ Abb. 15.32): ● K: Kinematik: Ist eine Beckenverletzung aufgrund des Unfallhergangs möglich oder wahrscheinlich? ● I: Inspektion: Sind bei der Inspektion Veränderungen zu erkennen, die auf eine Beckenverletzung hinweisen, z. B. deutliche Fehlstellung, Asymmetrie, Hämatome, Blutungen im Bereich des Beckens, Durchspießungen der Haut, blutiger Urin? ● S: Schmerzen: Bestehen starke Schmerzen im Beckenbereich bzw. beim Bewegen der Beine oder des Rumpfes? ● S: Stabilisierung: Ist auch nur eine dieser Bedingungen erfüllt, muss das Becken präklinisch stabilisiert werden, z. B. mit einer Beckenschlinge. Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation ● KISS-Schema erfüllt: manuelle Kompression und Anlage einer Beckenschlinge (▶ Abb. 15.33) – Verschiedene kommerziell gefertigte Beckenschlingen sind verfügbar, informieren Sie sich über die Handhabung des in Ihrem Rettungsdienstbereich gebräuchlichen Modells. – Bei der Anlage einer Beckenschlinge werden die Beine in leichter Innenrotation und leicht angewinkelt zusammengebunden, so dass eine gewisse Immobilisation resultiert. Ohne diese Fixierung der Beine ist die Beckenschlinge nicht effektiv! – Entscheidend für den blutstillenden Effekt ist die korrekte Positionierung (▶ Abb. 15.34), eine zu hohe Anlage kann die Blutung weiter verschlimmern!

Abb. 15.32 KISS-Schema.

Inspektion: Auffälligkeiten im Beckenbereich, z.B.:

Kinetik: Beckenverletzung aufgrund des Unfallmechanismus wahrscheinlich, z.B.: • Hochrasanztrauma • Sturz aus großer Höhe • Verschüttung • Explosionsverletzung

K

und/oder

I

S

• Fehlstellung • Beinlängendifferenz • Prellmarken • Asymmetrie • Blutungen (z.B. urethral) • Haut-, Weichteil- und/oder Amputationsverletzungen

Das KISS-Schema hilft dabei, zu entscheiden, ob das Becken präklinisch stabilisiert werden muss. Unterlassen Sie jedes „Auseinanderdrücken“ oder „Verdrehen“ des Beckens durch Druck auf beide Beckenschaufeln oder andere händische Untersuchungen, da dies bei einer Beckenfraktur eine möglicherweise vorhandene Blutung verschlimmern kann! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Schmerzen im Bereich von Becken, Hüfte oder Gesäß

S

Stabilisierung mit Beckenschlinge

ja

nein

keine Stabilisierung

395

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.33 Anlegen einer Beckenschlinge.

a

a Fixieren Sie die Füße des Patienten in leichter Innenrotation. Schieben Sie die Beckenschlinge unter die Kniekehlen. b Üben Sie beidseits seitlichen Druck auf das Becken auf Höhe des Trochanter major aus und positionieren Sie die Beckenschlinge korrekt. c Führen Sie die schwarze Griffschlaufe durch die Schnalle. Ziehen Sie die schwarze und die orange Griffschlaufe so lange in entgegengesetzte Richtungen, bis es „Klick“ macht. d Fixieren Sie den Gurt bei gehaltener Spannung mit dem Klettverschluss.

b

Fotos: © K. Oborny/Thieme

c

d

Abb. 15.34 Korrekte Positionierung einer Beckenschlinge.

RETTEN TO GO Beckentrauma ●





Um das Becken zu stabilisieren, ist es entscheidend, dass die Beckenschlinge beidseits über den Trochanter major verläuft. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Erweiterte Maßnahmen • Über mindestens 2 großlumige i. v.-Zugänge werden VEL verabreicht. Eine ausreichende Analgesie mit Opioiden, z. B. Sufentanyl (z. B. Sufenta®) ist wichtig (RR-Abfall möglich!). Auch eine Sedierung, ggf. Narkose mit Intubation, die Gabe von Tranexamsäure (S. 142) und von kreislaufunterstützenden Substanzen kann erforderlich sein. Der Verletzte muss schnellstmöglich (ggf. mit RTH) in eine geeignete Klinik transportiert werden – am besten in ein überregionales Traumazentrum: Eine definitive Versorgung ist nur operativ möglich.

396





Eine Beckenfraktur ist eine schwerwiegende Verletzung, die häufig mit starken Blutungen einhergeht. Auch die Weichteile (Gefäße, Nerven, Muskeln, Haut) und die Beckenorgane (v. a. Blase, Harnröhre und Rektum) können verletzt sein. Typische Unfallmechanismen sind Überrollen, Verschüttung oder Sturz aus großer Höhe. Symptome: Schmerzen, eingeschränkte Beweglichkeit in den Hüftgelenken, Beckenschiefstand, Sensibilitätsstörungen, Lähmungen, Prellmarken, Hämatome, ggf. Blutungen aus Harnröhre oder Anus, rasche Entwicklung eines hämorrhagischen Schocks Das KISS-Schema hilft bei der Frage, ob das Becken präklinisch stabilisiert werden muss: – K – Kinematik → relevanter Unfallmechanismus? – I – Inspektion → typische Verletzungszeichen? – S – Schmerzen im Bereich des Beckens? – S – eine der Bedingungen erfüllt: Stabilisierung mit Beckenschlinge indiziert ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (RR, Puls, EKG, SpO2), O2-Gabe, NA anfordern, Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation; falls KISSSchema erfüllt: Anlage einer Beckenschlinge + Fixierung der Beine in Innenrotation! ToDo erweitert: schnellstmöglicher Transport in ein überregionales Traumazentrum, Volumengabe bei Anzeichen für ein Schockgeschehen

Polytrauma

15.9 Polytrauma 15.9.1 Grundlagen Definition Polytrauma (Mehrfachverletzung) Mehrere Körperregionen oder Organsysteme werden gleichzeitig verletzt, wobei eine Verletzung allein oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist. Polytraumata kommen im rettungsdienstlichen Alltag zwar eher selten vor (max. 5 % der Einsätze), dennoch – oder auch gerade deshalb – sind sie immer eine enorme Herausforderung für das Rettungsfachpersonal: Um dem Verletzten bestmöglich zu helfen, muss sehr strukturiert, gut koordiniert und zielgerichtet gearbeitet werden. Dabei gilt: „Treat first what kills first“ – behandle zuerst, was den Patienten als Erstes umbringt. Auch ohne Kenntnis der Anamnese und/oder eine genaue Verdachtsdiagnose müssen Sie die Vitalfunktionen priorisiert stabilisieren, um das Leben des Patienten zu retten. Ursachen • Ein Polytrauma ist am häufigsten die Folge eines Verkehrsunfalls, seltener eines Arbeits- oder häuslichen Unfalls oder eines Tötungs- bzw. Suizidversuchs. Folgende Unfallmerkmale weisen auf möglicherweise schwere Verletzungen hin: ● Kfz-Frontalaufprall mit erheblicher Fahrzeugdeformierung ● Ein Insasse wurde aus dem Fahrzeug geschleudert. ● Ein anderer Fahrzeuginsasse wurde getötet. ● Unfall mit Fußgänger oder Zweiradfahrer, v. a. bei einer Kollisionsgeschwindigkeit > 30 km/h ● Sturz aus großer Höhe (> 3 m) und/oder auf harten Untergrund Verletzungsmechanismen • Häufige Verletzungen sind Frakturen, ein Schädel-Hirn-Trauma, ein Bauch- oder ein Thoraxtrauma und Verletzungen der Wirbelsäule.

15.9.2 Versorgung des Patienten

! Merke Zeit als wesentlicher Faktor

Für die Versorgung von polytraumatisierten Patienten gilt die „Golden Hour of Trauma“: Vom Zeitpunkt der Verletzung bis zur Übergabe in der Klinik darf höchstens 1 Stunde vergehen. Die Transportfähigkeit sollte innerhalb von 10–15 min hergestellt sein. Der Verletzte wird am besten per RTH in ein Traumazentrum transportiert.

möglichst innerhalb von 20 min ab, da die Versorgungszeit ein erfolgskritischer Faktor ist: ● Stoppen aller kritischen Blutungen (S. 374) zur Vermeidung bzw. Bekämpfung eines Blutungsschocks (S. 289) ● Sicherstellen einer ausreichenden Oxygenierung und ggf. Beatmung (Intubation nur bei schwerer Ateminsuffizienz), ggf. Entlasten eines Spannungspneumothorax (S. 390) ● Sicherstellen eines suffizienten Kreislaufs, ggf. Volumenoder weitere Medikamentengabe ● Analgesie, ggf. Einleitung einer Notfallnarkose ● Immobilisation (S. 233) Achten Sie außerdem (wie bei jedem Verletzten) auf den Wärmeerhalt (S. 249): Eine Hypothermie kann den Schock verstärken und die Blutgerinnung verschlechtern.

! Merke Nachbereitung

Schwerstverletzte Personen können bereits an der Unfallstelle versterben, ohne dass von rettungsdienstlicher Seite Fehler gemacht wurden. Eine Nachbereitung und Besprechung solcher Vorfälle ist für alle Beteiligten sinnvoll und sollte außerhalb der Dienstzeiten („in geschütztem Rahmen“) erfolgen.

RETTEN TO GO Polytrauma ●





Definition: gleichzeitige Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei eine Verletzung alleine oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist häufige Verletzungen: Frakturen, SHT, Bauch- und Thoraxtrauma, Wirbelsäulenverletzungen ToDo: „Treat first what kills first“ – Untersuchung und Behandlung nach cABCDE-Schema – Abarbeiten der 5 Säulen der Polytrauma-Versorgung innerhalb von 20 min: – Stoppen aller kritischen Blutung – ausreichende Oxygenierung und ggf. Beatmung, ggf. Entlastung eines Spannungspneumothorax – Kreislaufstabilisierung, ggf. Volumensubstitution – Analgesie, ggf. Einleiten einer Notfallnarkose – Immobilisation – Vom Zeitpunkt der Verletzung bis zur Übergabe des Verletzten in der Klinik (Traumazentrum) sollte höchstens 1 Stunde vergehen („Golden Hour of Trauma“).

Polytraumatisierte Patienten werden strikt nach dem cABCDE-Schema (S. 183) behandelt. Arbeiten Sie die folgenden 5 Säulen der Polytrauma-Versorgung (▶ Abb. 15.35)

Abb. 15.35 Die 5 Säulen der Polytrauma-Versorgung. Die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten mit Polytrauma steigt, wenn die 5 Säulen der Polytrauma-Versorgung innerhalb von 20 Minuten umgesetzt werden. Aus: retten – Notfallsanitäter.

TREAT FIRST, WHAT KILLS FIRST!

20

Thieme: Stuttgart; 2023

kritische Blutungen stoppen

ausreichende suffizienten Immobilisation Oxygenierung Kreislauf sicherstellen sicherstellen

Analgesie

397

15

Traumatologische Notfälle

15.10 Verbrennungen und Verbrühungen 15.10.1 Thermische Verletzungen Grundlagen Definition Verbrennungen und Verbrühungen Bei einer Verbrennung wird Gewebe durch lokale Hitzeeinwirkung geschädigt. Verbrühungen entstehen durch Kontakt mit heißen Flüssigkeiten oder Dämpfen (am häufigsten Wasser). Je nach Ausmaß der Schädigung kann eine lokale Verbrennung zu einer systemischen Verbrennungskrankheit führen. Ursachen offene Flammen, Grillverletzungen, Stichflammen ● Explosionen (Feuerwerkskörper, Industrieunfälle) ● Kontakt mit heißen Gegenständen (z. B. Herdplatte) ● mechanische Reibung (z. B. Rutschen über Oberflächen) ● starker elektrischer Strom (S. 409), z. B. Hochspannung, Blitzschlag ● Strahlung (UV-, radioaktive oder Röntgenstrahlung) ● Verätzungen (S. 401): chemische Verbrennungen durch Säuren oder Laugen ●

Die Schwere der Verbrennung ist abhängig von der Dauer und Intensität der einwirkenden Hitze sowie der Tiefe der Verbrennung und ihrer Ausdehnung, bezogen auf die Körperoberfläche (KOF): Erwachsene haben bei bis zu 5 % verbrannter KOF meist eine gute Prognose. Bei größeren Verbrennungen (Grad II–III) ist mit schweren Komplikationen (z. B. Infektionen) zu rechnen.

Pathophysiologie • Verbrennungen führen zu zahlreichen Veränderungen an der Hautoberfläche und im Körper: ● Die Funktion der Haut als Schutzbarriere ist vermindert oder aufgehoben: – Krankheitserreger können leichter eindringen, die Verletzten sind durch Infektionen gefährdet. – Insbesondere bei großflächigen Verbrennungen geht schnell Körperwärme verloren und die Verletzten entwickeln eine Hypothermie (S. 402). ● Das zerstörte Gewebe gibt Flüssigkeit und Eiweiße ab (sichtbarer Flüssigkeitsfilm über den verbrannten Hautbereichen). Als Reaktion schüttet der Körper Gewebehormone wie Prostaglandin und Histamin aus, die Gefäße werden weitgestellt und durchlässiger, Volumen geht verloren: Dies kann zu einem Volumenmangelschock mit gestörter Mikrozirkulation (S. 289) führen. ● In den folgenden Tagen und Wochen kann sich als Folge der initialen Mikrozirkulationsstörung eine Verbrennungskrankheit mit Funktionsstörungen verschiedener Organe und Gefahr eines Multiorganversagens entwickeln.

! Merke Erstversorgung von Verbrennungen

Die Ziele innerhalb der ersten Stunden nach einer Verbrennung sind eine Eingrenzung des Verletzungsausmaßes und das Vermeiden eines Verbrennungsschocks. Dies verbessert die Prognose des Patienten entscheidend.

Symptome und Beurteilung Verbrennungstiefe • Die Tiefe der Verbrennung wird in Grade eingeteilt (▶ Tab. 15.3, ▶ Abb. 15.36).

! Merke Schmerzen bei Verbrennungen

Bei großflächigen Verbrennungen gilt: Je geringer die Schmerzen, umso tiefer die Verbrennung und umso schlechter die Prognose.

Tab. 15.3 Verbrennungsgrade, Symptome und Prognose.

398

Verbrennungsgrad

geschädigter Hautabschnitt

Symptome

Abheilung

I

Oberhaut

Hautrötung, Schmerzen keine Blasen

spontane, narbenfreie Abheilung nach ca. 1 Woche

IIa

Oberhaut und obere Anteile der Lederhaut

Hautrötung, Schwellung, Blasenbildung, feuchter, gut durchbluteter Wundgrund, starke Schmerzen, die bei Berührung zunehmen (Sensibilität erhalten)

spontane narbenfreie Abheilung nach ca. 2 Wochen wahrscheinlich

IIb

Ober- und Lederhaut weitgehend zerstört

Hautrötung, Schwellung, aufgeplatzte Blasen mit weißem, trockenem Wundgrund Schmerzen, die bei Berührung nicht zunehmen (Sensibilität verloren)

langsame Heilung, Narbenbildung

III

Ober- und Lederhaut vollständig zerstört, inkl. Schmerzrezeptoren

Haut meist gräulich bis schwarz, keine Schmerzen

langsame Heilung, Narbenbildung

IV

Zerstörung von Muskeln, Sehnen und/oder Knochen

keine Schmerzen, Verkohlung

keine Heilung möglich

Verbrennungen und Verbrühungen Abb. 15.36 Verbrennungsverletzungen. Die Gradeinteilung richtet sich nach der Tiefe der Verletzung. Oft bestehen bei einem Patienten Verbrennungen unterschiedlicher Grade. Insbesondere stark schmerzhafte Verbrennungen gehen häufig mit ausgeprägten vegetativen Symptomen (z. B. Übelkeit, Schwindel) einher. a Verbrennung Grad I. Aus: Scholz J, Gräsa

b

ner J, Bohn A, Hrsg. Referenz Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2019

b Verbrennung Grad IIa mit Blasenbildung. Aus: Scholz J, Gräsner J, Bohn A, Hrsg. Referenz Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2019

c Verbrennung Grad IIb. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

d Verbrennung Grad III.

Aus: Scholz J, Gräsner J, Bohn A, Hrsg. Referenz Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2019

c

d

Bestimmung der verbrannten Körperoberfläche (KOF) • Für die Behandlung von Verbrennungspatienten wird der prozentuale Anteil der KOF abgeschätzt. Bei Erwachsenen wird dazu meist die Neuner-Regel nach Wallace (▶ Abb. 15.37) verwendet. Diese Regel wurde zwar für Kinder adaptiert, das Fehlerpotenzial ist hier jedoch höher. Für Kinder sowie für kleinere verbrannte Flächen ist die Handflächen- oder 1%-Regel besser geeignet: Die Handfläche des Patienten (inkl. der Finger) entspricht etwa 1 % seiner Körperoberfläche. Inhalationstrauma und Rauchgasintoxikation • Oft besteht bei Verbrennungen ein Inhalationstrauma durch das Einatmen von heißer Luft oder Brandrauch: Die Hitze schädigt die Schleimhaut der Atemwege bis in die Alveolen. Die Folge ist eine Störung des Atemgasaustauschs mit Hypoxie und Atemnot. Hinweise auf ein Inhalationstrauma sind Rußpartikel im Mund-Rachen-Raum und Verbrennungen im Gesicht. Oft wird ein Inhalationstrauma erst erkannt, wenn die Patienten bereits schwere Atemnot haben und/oder blutigen Schleim abhusten. Denken Sie bei Verdacht auf eine Inhalation von Rauchgasen immer auch an die Möglichkeit einer Rauchgasintoxikation (S. 269)!

Abb. 15.37 Abschätzung der verbrannten Körperoberfläche.

Kopf 9%

Rumpf je 18% vorne und hinten

Arme je 9%

Genitale 1%

! Merke Rauchgasintoxikationen

Rauchgasvergiftungen sind für 80 % der Todesfälle bei Verbrennungen verantwortlich.

Beine je 18%

Augenverbrennungen • Bei Verbrennungen im Gesichtsbereich können auch die Lider und die Augen betroffen sein (S. 470), achten Sie darauf!

Versorgung des Patienten Rettung • Finden Sie eine brennende Person oder eine Person mit brennender Kleidung vor, muss der Brand sofort gelöscht werden (Überwerfen einer Decke, Rollen der Person auf dem Boden, Feuerlöscher oder Wasser einsetzen).

Handfläche 1% Die Neuner-Regel nach Wallace eignet sich primär für die Abschätzung der verbrannten Körperoberfläche (KOF) bei Erwachsenen (> 15. Lebensjahr). Für Kinder sowie für kleine verbrannte Flächen ist die Handflächenregel besser geeignet: Eine Handfläche des Patienten (!) entspricht etwa 1 % seiner KOF.

ACHTUNG Beachten Sie immer den Eigenschutz!

399

15

Traumatologische Notfälle Basismaßnahmen ● Sicherstellen der Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183): Die Inspektion der Atemwege (A) ist bei diesen Patienten besonders wichtig, um ein Inhalationstrauma frühzeitig zu erkennen. ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● Entkleiden Sie den Patienten vollständig (zügig, aber vorsichtig). Belassen Sie ggf. festgebrannte Kleidungsstücke oder festgebranntes Brandmaterial. Beachten Sie den Wärmeerhalt (S. 249): Hüllen Sie den Patienten nach der Wundversorgung in eine Wärmeschutzfolie ein. ● frühzeitige O2-Gabe (8–10 l/min), v. a. bei Verdacht auf ein Inhalationstrauma ● Lagerung: erhöhter Oberkörper bei bewusstseinsklaren Patienten, stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit, Schocklage bei RR-Abfall ● Wundversorgung: Decken Sie Brandwunden steril mit trockenen, metallbedampften Verbandmitteln ab und schützen Sie sie vor weiterer Kontamination. ● mehrere großlumige i. v.-Zugänge, großzügig VEL und ggf. Medikation vorbereiten ● ggf. Intubation vorbereiten, v. a. bei Verdacht auf ein Inhalationstrauma Dont’s bei Brandverletzungen ● Verwenden Sie keine feuchten oder nassen Verbände oder spezielle Brandwundentücher, da diese zur Unterkühlung beitragen können. ● Reinigen Sie die Wunden nicht. Belassen Sie festgebrannte oder verklebte Fremdkörper in der Wunde. ● Professionelle Helfer sollen Brandwunden generell nicht kühlen: Das Kühlen von Brandwunden ist nur durch die Ersthelfer in den ersten 2–3 min nach Hitzeeinwirkung sinnvoll. Danach kann sich die Gewebedurchblutung verschlechtern. Außerdem besteht die Gefahr der Unterkühlung, v. a. bei großflächigen Verbrennungen und Verbrennungen am Stamm. ● Wenden Sie keine „Brandsalben“ o. Ä. an.

! Merke Typische Fehler von Laienhelfern

Folgende Maßnahmen werden von Laienhelfern bei Brandverletzungen in bester Absicht häufig durchgeführt und sollten durch den Rettungsdienst umgehend beendet werden: ● großflächige, langdauernde Kühlung ● Kühlung mit sehr kaltem Wasser oder Eis ● Aufbringen von Brandsalben oder Hausmitteln (z. B. rohe Kartoffeln, Backpulver, Honig) auf die Brandwunde Erweiterte Maßnahmen • Sind mehr als 10 % der KOF mindestens zweitgradig verbrannt, besteht akute Schockgefahr durch Übertritt von Volumen aus den Gefäßen in die verbrannten Areale. Daher benötigen die Patienten eine großzügige Gabe von kristalloiden Infusionslösungen. Für das Ausmaß der Volumengabe gibt es Faustregeln (z. B. Rule of 10). Eine gute Analgesie mit Opioiden wie Piritramid (z. B. Dipidolor® i. v.) oder eine Analgosedierung (S. 119) mit Esketamin und einem Benzodiazepin (z. B. Ketanest S® + Dormicum®) sind wichtig. Bei Bedarf wird der Patient narkotisiert und intubiert. Versorgung in einem Brandverletztenzentrum • Bei schweren Verbrennungen sollte der Patient in einem spezialisierten Brandverletztenzentrum versorgt werden. Betten für Brandverletzte werden über eine zentrale Anlaufstelle in Hamburg koordiniert (Kontakt über die Rettungsleitstelle). Je nach Strecke und Verfügbarkeit ist dabei ein Transport mit einem 400

RTH in Erwägung zu ziehen. Je nach Versorgungskapazität, Transportstrecke und Begleitverletzungen kann es sinnvoll sein, dass der Patient zunächst in einem regionalen Traumazentrum stabilisiert und erst im weiteren Verlauf in ein Brandverletztenzentrum weiterverlegt wird. Kriterien für die Entscheidung, welche Patienten in einem Brandverletztenzentrum behandelt werden sollten (deutsche Gesellschaft für Verbrennungsmedizin): ● Verbrennungen 2. Grades ≥ 10 % Körperoberfläche ● jede Verbrennung 3. Grades ● Verbrennungen an Händen, Füßen, Gesicht, Genitalien ● Verbrennungen durch Elektrizität (inkl. Blitzschlag) ● Verätzungen durch Chemikalien ● hohe Wahrscheinlichkeit für ein Inhalationstrauma ● schwere Begleiterkrankungen oder -verletzungen, die die Behandlung erschweren (z. B. Niereninsuffizienz) ● Verbrennungspatienten, die eine spezielle psychologische, psychiatrische oder physische Betreuung benötigen (z. B. Verletzung im Zusammenhang mit Terrorakten)

Verbrennungen und Verbrühungen bei Kindern Häufigkeit und Entstehung der Verletzungen • Bei Kindern kommen thermische Verletzungen, v. a. Verbrühungen, im Vergleich zu Erwachsenen deutlich häufiger vor. Meistens entstehen sie durch ein Unfallgeschehen (z. B. Herunterziehen eines Topfs mit heißer Flüssigkeit in der Küche). Achten Sie jedoch immer auch auf Hinweise für eine Misshandlung: Mitunter werden Hände, Füße oder Po des Säuglings oder Kleinkindes absichtlich in heißes Wasser getaucht. Typisch dafür sind gleichmäßige, symmetrische, scharf begrenzte („Wasserspiegelmarken“) Verletzungen ähnlicher Tiefe. Besonderheiten in der Pathogenese • Die Haut von Kindern ist dünner (und damit verletzlicher) als die Haut Erwachsener, daher sind die Verletzungen häufig schwerwiegender. Die Körperoberfläche ist im Verhältnis zum Körpergewicht größer, wodurch Kinder schneller auskühlen. Zudem haben sie geringere Kompensationsmechanismen zum Erhalt der Körpertemperatur (S. 526). Besonderheiten in der Notfallversorgung • Die Behandlung folgt denselben Prinzipien wie bei Erwachsenen, ist aber umso schwieriger, je kleiner das Kind ist. Im Vordergrund steht oft die analgetische Behandlung. Häufig ermöglicht nur eine Analgosedierung mit Esketamin und Midazolam intranasal eine weitere Behandlung. Auch die Anlage eines peripher-venösen Zugangs ist oft schwierig. Abhängig von der Transportdauer kann die Anlage eines intraossären Zugangs (S. 110) notwendig sein. Bei der Volumentherapie von Kindern muss eine Volumenüberladung vermieden werden. Lassen Sie eine Infusion nicht einfach „laufen“ und dosieren Sie bei Säuglingen ggf. mit einer Perfusor-Spritze. Da Kinder bereits ab Verbrennungen von 5–10 % der Körperoberfläche schockgefährdet sind, sollten sie nach Möglichkeit immer in einer spezialisierten Klinik für brandverletzte Kinder behandelt werden.

Verbrennungen und Verbrühungen

RETTEN TO GO Verbrennungen und Verbrühungen ●









Eine Verbrennung oder Verbrühung ist eine Schädigung von Gewebe durch lokale Hitzeeinwirkung. Je nach Ausmaß der Schädigung können sie zu einer systemischen Verbrennungskrankheit führen. Einteilung nach der Tiefe in 5 Grade (I, IIa, IIb, III und IV); bei großflächigen Verbrennungen gilt: Je geringer die Schmerzen, umso tiefer ist die Verbrennung und umso schlechter die Prognose. Berechnung des Anteils verbrannter Körperoberfläche (KOF) in Prozent mit der „Neuner-Regel“ nach Wallace, bei kleinen Verbrennungen und Kindern besser mit der Handflächenregel (1 Handfläche des Patienten: ca. 1 % seiner KOF) ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern (bei A auf Hinweise auf ein Inhalationstrauma achten), Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), Patient zügig und vollständig entkleiden, frühzeitige, großzügige O2-Gabe, Brandwunden steril mit trockenen, metallbedampften Verbandmitteln abdecken; keine Kühlung! Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, i. v.-Zugänge und VEL vorbereiten ToDo Erweitert: großzügige Volumentherapie mit VEL, Analgesie, Transport je nach Ausmaß der Verbrennung und Begleitumständen in regionales Traumazentrum oder spezialisiertes Brandverletztenzentrum

15.10.2 Verätzungen Grundlagen Definition Verätzungen Verätzungen entstehen durch den Kontakt von Gewebe mit Säuren (pH-Wert < 6) oder Laugen (pH-Wert > 8). Am häufigsten sind die Haut und die Schleimhäute der Augen, des Magen-Darm-Trakts oder (bei Inhalation) der Atemwege betroffen.

Ursachen ● Arbeitsunfälle und Unfälle im Heimwerkerbereich: z. B. ungelöschter Kalk oder (nasser) Zement (starke Laugen!) auf Baustellen oder in der Landwirtschaft, Fluss-, Salpeter-, Schwefel- oder Salzsäure in der Industrie, häufig auch mit Verätzungen der Augen (S. 470) ● unsachgemäßer Umgang mit Lösungs- und Reinigungsmitteln im Haushalt: Durch den Zusatz von Bitterstoffen zu Haushaltsreinigern und eine Sensibilisierung der Eltern sind die früher häufigen Unfälle, bei denen Kleinkinder fruchtig riechende Haushaltsreiniger getrunken hatten, deutlich seltener geworden. Meist wird nur eine geringe Menge aufgenommen.

Symptome Die Patienten können Schocksymptome wie Blässe, Kaltschweißigkeit, Tachykardie und RR-Abfall entwickeln. Verätzungen der Haut • Typische Symptome sind brennende Schmerzen und sichtbare Verätzungen (▶ Abb. 15.38). Diese werden (ähnlich wie Verbrennungen) anhand der Verletzungstiefe in drei Schweregrade unterteilt. Verätzungen des oberen Verdauungstrakts • Die Patienten leiden unter Speichelfluss, Heiserkeit, Übelkeit, Bauchschmerzen, blutigem Erbrechen und blutigen Durchfällen. Im schlimmsten Fall können die ätzenden Flüssigkeiten in die Körperhöhlen „durchbrechen“, also z. B. durch die Magenwand in das Abdomen oder durch die Wand der Speiseröhre in das benachbarte Perikard oder sogar das Herz. Verätzungen der Atemwege • Ein Einatmen von ätzenden Gasen führt zu Husten oder Erbrechen mit Gefahr der Aspiration (v. a. bei Bewusstseinsstörungen). Die Schleimhäute der Atemwege können innerhalb kurzer Zeit anschwellen, die Folge ist ein Lungenödem (S. 269) mit Atemnot.

ACHTUNG Auch bei einem unauffälligen Befund im Mund-Rachen-Raum können die Speiseröhre, der Magen oder die Atemwege verätzt sein.

Synonym • Chemische Verbrennungen Abb. 15.38 Laugenverätzung. Pathophysiologie ● Säuren entziehen den Zellen schnell Wasser. Es bildet sich eine abgestorbene, geschlossene Schicht, die Koagulationsnekrose (von lat. coagulatio = Gerinnung, „Ätzschorf“). Diese verhindert ein Eindringen der Säure in tiefere Schichten und verlangsamt so die weitere Verätzung. ● Laugen hingegen bilden Kolliquationsnekrosen (von lat. colliquatio = Verflüssigung), bei denen die geschädigten Hautzellen aufgeweicht werden. Dadurch dringen Laugen wesentlich tiefer ein: Die Hautbarriere wird mit zunehmendem Eindringen der Lauge immer schwächer.

! Merke Säuren und Laugen

Verletzungen durch Laugen sind durch das tiefere Eindringen in das Gewebe gefährlicher als Säureverätzungen.

Ursache der Verätzung am Sprunggelenk war Industriereiniger. Aus: Lippert H, Hrsg. Wundatlas. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

Zusätzlich lösen manche Substanzen Vergiftungserscheinungen an den Organen (meist Lunge, Leber oder Niere) aus. Einige Säuren sind brennbar und leicht entzündlich.

401

15

Traumatologische Notfälle

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Beachten Sie unbedingt den Eigenschutz: Vermeiden Sie jeden Hautkontakt mit der Säure oder Lauge. ● Sichern Sie die Umgebung ab, ggf. auch durch Fachpersonal (z. B. Chemiker, Laborant, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Feuerwehr): Manche Säuren verdunsten bei Raumtemperatur und verätzen die Atemwege. ● Entfernen Sie kontaminierte Kleidung (inkl. Schmuck). ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2 ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Wundversorgung bei äußerlichen Verätzungen: – Tupfen Sie die ätzende Substanz mit Tupfern, Tüchern oder Verbandmaterial ab. – Entfernen Sie ggf. grobe Partikel. – Spülen Sie die betroffenen Stellen möglichst kontinuierlich mit lauwarmem, klarem Wasser (alternativ: VEL), ohne dabei weitere Hautareale zu benetzen und dadurch zu verletzen. – Decken Sie die Wunden anschließend steril ab. ● Verschlucken von ätzenden Substanzen: – Kooperative, bewusstseinsklare Patienten können mit Wasser gurgeln und kleine Mengen Wasser zur Verdünnung trinken (Kinder 10–15 ml/kg KG, Erwachsene max. 250 ml). Wenden Sie keine Hausmittel wie Milch o. Ä. an. Ist der Patient eingetrübt, darf er nicht mehr trinken oder gurgeln (hohe Aspirationsgefahr!). – Lösen Sie kein Erbrechen aus: Dabei können die Speiseröhre oder der Mundraum erneut verätzt werden. ● i. v.-Zugänge und VEL vorbereiten ● ggf. Intubation vorbereiten

ACHTUNG Bei Verätzungen durch ungelöschten Kalk (häufig in der Bauindustrie verwendet) dürfen Sie nicht mit Wasser spülen: Der Kalk wird durch Wasser aktiviert, dabei können Temperaturen von bis zu 100 °C entstehen. Entfernen Sie stattdessen den Kalk mechanisch mit einem Tuch oder Wattestäbchen. Erweiterte Maßnahmen • Die Verletzten erhalten reichlich Volumen über 1 oder 2 möglichst großlumige i. v.-Zugänge sowie eine ausreichende Analgesie, z. B. mit Piritramid (z. B. Dipidolor®). Bei sehr aufgeregten Patienten kann eine Sedierung, z. B. mit Midazolam (z. B. Dormicum®) notwendig sein, bei Bewusstseinstrübung eine Schutzintubation. Bei Unsicherheit über das weitere Vorgehen helfen die telefonisch erreichbaren Giftnotrufzentralen (S. 511) weiter.

RETTEN TO GO Verätzungen (chemische Verbrennungen) ●



402

Verätzungen entstehen durch den Kontakt mit Säuren oder Laugen. Sie kommen im Haushalt, aber auch im gewerblich-industriellen Bereich vor. Symptomatik: – Verätzungen der Haut: ähnlich wie bei thermischen Verbrennungen – Verätzungen des Magen-Darm-Trakts: Speichelfluss, Übelkeit, blutiges Erbrechen, blutige Durchfälle – Inhalation ätzender Substanzen: Husten, mitunter schwere Atemnot





ToDo Basis: Eigenschutz beachten! Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, EKG), kontaminierte Kleidung entfernen, Haut mit klarem, lauwarmem Wasser spülen (Ausnahme: Verätzung mit ungelöschtem Kalk!), nach Verschlucken evtl. mit Wasser gurgeln oder geringe Mengen Wasser trinken (nicht bei Bewusstseinsstörungen!), kein Erbrechen auslösen; i. v.-Zugänge und VEL vorbereiten ToDo Erweitert: Volumengabe, Analgesie, ggf. Schutzintubation, weiterführende Maßnahmen auch entsprechend der Beratung durch Giftnotrufzentrale

15.11 Umweltbedingte Notfälle 15.11.1 Kälteschäden Unterkühlung Fallbeispiel Hilflose Person* Mitte Februar werden Sie mit Ihrer Kollegin von der Leitstelle zu einer „hilflosen Person“ alarmiert: Ein Passant hatte einen offenbar obdachlosen, nicht ansprechbaren Mann gefunden. Die Außentemperatur beträgt 2 °C. Ihre Kollegin stellt sich und Sie zunächst mit Namen vor – auch wenn sie nicht glaubt, dass der Obdachlose sie hört. Sein Alter lässt sich schwer schätzen, sein Allgemeinzustand ist schlecht. Sie gehen nach dem cABCDE-Schema vor: Auf Ansprache antwortet der Mann nur verwaschen, reagiert auf Schmerzreiz aber sehr gezielt und versucht, die Hand Ihrer Kollegin abzuwehren. Bei der Inspektion des Mundraums ist er noch weniger kooperativ und Ihnen schlägt übelriechender Atem mit Alkoholfahne entgegen. Die Atmung ist regelmäßig und flach, ca. 12/ min, der Puls mit ca. 60/min langsam, rhythmisch und kräftig. Die Pulsoxymetrie liefert aufgrund der kalten Finger und der unzureichenden Kooperation des Patienten keinen zuverlässigen Wert. Ihre Kollegin entscheidet, dass eine weitere Versorgung, insbesondere der notwendige Bodycheck, nur im RTW sinnvoll ist, wo sich eine vermutlich bestehende Unterkühlung nicht weiter verschlimmert. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Definition Unterkühlung Durch ein Absinken der Körperkerntemperatur < 35 °C werden die Organfunktionen beeinträchtigt. Der Zusatz „akzidentell“ bedeutet, dass die Hypothermie unbeabsichtigt durch den Einfluss von Kälte entstanden ist – im Unterschied zu einer therapeutischen Hypothermie in der Intensivmedizin. Synonym • Hypothermie Ursachen • Eine Unterkühlung entwickelt sich, wenn ein Mensch mehr Wärme verliert, als er produzieren kann. Besonders gefährdet sind: ● alte und/oder sehr dünne Menschen, Menschen mit schlechtem Allgemeinzustand: Die Muskelmasse ist gering, daher ist ein Ausgleich der Wärmeverluste durch Muskelzittern schlecht möglich. ● Personen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss: Alkohol reduziert das Kälteempfinden und bewirkt eine Erweiterung der peripheren Gefäße mit erhöhtem Wärmeverlust. ● obdachlose Personen

Umweltbedingte Notfälle





● ●

Säuglinge und Kleinkinder (S. 526): Ihre Körperoberfläche ist im Vergleich zur Körpermasse relativ groß, daher verlieren sie schnell Körperwärme. alle Unfallopfer (auch bei gemäßigter Jahreszeit): v. a. bei Schock, Verbrennungen oder Polytrauma (reduzierte Kompensationsmöglichkeiten durch die schwere Verletzung) Personen, die in kaltes Wasser gestürzt sind bewusstlose/bewusstseinsgestörte Patienten (z. B. in der Nachschlafphase nach einem Krampfanfall), auch während einer längeren rettungsdienstlichen Behandlung im Freien oder in einer schlecht beheizten Wohnung bzw. während des Transports in einem unzureichend geheiztem RTW; es gilt: Die Temperatur im RTW sollte für den Patienten angenehm sein – nicht primär für das Personal!





vor: Die Sympathikusaktivierung und damit die Zentralisierung lassen nach, dadurch gelangt warmes Blut aus dem Körperkern in die Peripherie. Die Betroffenen haben die Empfindung von Wärme und entkleiden sich trotz einer fortgeschrittenen Unterkühlung. Lähmungsstadium: Spätestens jetzt besteht akute Lebensgefahr: Der Patient wird bewusstlos, die Herz-KreislaufFunktion verschlechtert sich massiv. Scheintod (Vita minima): Bei einer KKT < 24 °C sind die Lebensvorgänge maximal reduziert. Schließlich tritt der Herz-Kreislauf-Stillstand ein.

Bei bewusstseinsgetrübten Personen mit Alkoholintoxikation ist oft nicht direkt ersichtlich, ob die Bewusstseinsstörung nur die Folge des Alkoholkonsums ist – Unterkühlungen oder auch Verletzungen werden leicht übersehen, wenn man die (mitunter unangenehme) Situation schnell hinter sich bringen will.

Gefahr bei der Rettung des Patienten • Werden unterkühlte Personen ab Stadium II unvorsichtig bewegt, gelangt sehr kaltes Blut aus den Extremitäten in den Körperkern, was die KKT weiter absenken kann (After-Drop). Das Risiko für Herzrhythmusstörungen und einen Herz-Kreislauf-Stillstand steigt (Berge- oder Rettungstod). Ab dem Stadium II sollten Unterkühlte daher möglichst wenig bewegt und horizontal gelagert werden. Patienten in den Stadien III und IV werden immobilisiert (z. B. mit einer Vakuummatratze).

Symptomatik • Abhängig von der Körperkerntemperatur (KKT) werden verschiedene Stadien der Unterkühlung unterschieden (▶ Abb. 15.39): ● Abwehrstadium: Typisch für eine leichte Unterkühlung ist Muskelzittern. Der Körper produziert über eine Steigerung des Muskelstoffwechsels vermehrt Wärme. Die Durchblutung der Extremitäten und der Haut wird über eine Aktivierung des Sympathikus vermindert (Zentralisierung des Kreislaufs). Die Atemfrequenz und -tiefe sind erhöht, um das aus dem Muskelstoffwechsel vermehrt anfallende CO2 abzuatmen. Der O2-Verbrauch des Körpers ist stark erhöht. ● Erschöpfungsstadium: Das Zittern lässt nach, die Atmung wird flacher. Mitunter kommt ein „paradoxes Entkleiden“

Basismaßnahmen zur Versorung des Patienten ● siehe auch den Abschnitt zum Wärmeerhalt (S. 249) ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): Körpertemperatur (Ohrthermometer), RR, Puls, EKG (wichtig wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen!), SpO2, Blutzucker ● Lagerung: – Stadium I: nach Patientenwunsch; ist der Patient klar bei Bewusstsein, soll er sich aktiv bewegen und darf ein warmes, gezuckertes Getränk trinken (keinen Alkohol!). – Stadium II: flache Lagerung, kalte Arme vom Oberkörper abspreizen und möglichst nicht bewegen, bei Bewusstseinsstörung stabile Seitenlage

ACHTUNG

Abb. 15.39 Stadien der Unterkühlung.

GCS

Stadium I: milde Hypothermie Abwehrstadium

Stadium II: moderate Hypothermie Erschöpfungsstadium

Stadium III: schwere Hypothermie Lähmungsstadium

Stadium IV: Scheintod oder Tod

32–35 °C

28–32 °C

24–28 °C

< 24 °C

Kältezittern, Schmerzen in den Extremitäten

Muskelstarre, Nachlassen der Schmerzen

Muskelschwäche

schlaffe Lähmung

Tachykardie

Bradykardie, evtl. Arrhythmien

Arrhythmien

kein Puls tastbar, PEA, Asystolie

Atmung schnell und tief

Atmung langsam, flach und unregelmäßig

Atmung sehr langsam

Atmung sehr langsam oder Apnoe

Blutdruck erhöht

Blutdruck erniedrigt

Blutdruck stark erniedrigt

Herz-KreislaufStillstand

wach, erregt, unruhig

schläfrig, verwirrt, teilnahmslos

bewusstlos, weite Pupillen, keine Reaktion auf Schmerzreize

komatös, weite, lichtstarre Pupillen

15 Punkte

12–10 Punkte

9–4 Punkte

3 Punkte

Die Stadien gehen fließend ineinander über.

403

15

Traumatologische Notfälle





● ●

● ●

– Stadium III und IV: Immobilisation (z. B. mit Vakuummatratze) Bringen Sie den Patienten möglichst in eine warme, windstille Umgebung (idealerweise ca. 25 °C warmer RTW: Türen schließen, Innenraumheizung anschalten). Entfernen Sie ggf. nasse Kleidung und hüllen Sie den Patienten danach sofort in Decken ein. Schützen Sie auch den Kopf vor einer weiteren Auskühlung, z. B. mit einer Decke. Bei weiterem Aufenthalt in einer kalten Umgebung hüllen Sie den Patienten in eine Rettungsdecke ein. Unterlassen Sie es, die Extremitäten abzureiben oder aktiv zu erwärmen! O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % psychische Betreuung und Beruhigung des Patienten (unterstützt die wichtige körperliche Ruhe und die Kooperation des Patienten) i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ab Stadium 2 notärztliche Unterstützung anfordern

RETTEN TO GO Unterkühlung (Hypothermie) ●







ACHTUNG Rettungsdecken erhalten die Körperwärme des Patienten durch Reflexion und schützen vor einem Wärmeverlust durch Verdunstung. Sie sind daher nur bei niedrigen Außentemperaturen sinnvoll – im warmen RTW verhindern sie eher das Erwärmen des Körpers! Erweiterte Maßnahmen • Die Infusion einer auf 37 °C vorgewärmten VEL ist sinnvoll. Vorgewärmte Infusionsflaschen können am Patienten gelagert werden, um eine sanfte Erwärmung zu erreichen. Ist bei einem unterkühlten Patienten eine Reanimation erforderlich, muss diese fortgeführt werden, bis die normale Körpertemperatur erreicht ist und darf präklinisch nicht abgebrochen werden – auch wenn die Betroffenen leblos erscheinen: Bei einer KKT < 32 °C ist der Sauerstoffverbrauch des Gehirns deutlich reduziert. Dies schützt das Gehirn, sodass bei unterkühlten Menschen mehr Zeit zur erfolgreichen Wiederbelebung bleibt als bei normaler Körpertemperatur. Erst wenn der Patient (in der Klinik) wiedererwärmt wurde und kein Spontankreislauf einsetzt, dürfen die Reanimationsbemühungen eingestellt werden.

! Merke Reanimation bei Unterkühlung Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist.



Definition: Störungen der Organfunktionen durch ein Absinken der Körpertemperatur (KKT) < 35 °C Ursachen und Risikofaktoren: Die Patienten verlieren mehr Wärme, als sie produzieren können. Gefährdet sind z. B. alte, sehr dünne und/oder schwer kranke Menschen, alkoholisierte und/oder unter Drogeneinfluss stehende Personen, Säuglinge, Kleinkinder, Unfallopfer oder sedierte/bewusstlose Patienten. Symptomatik: Einteilung anhand der KKT in 4 Grade, zunehmende Einschränkungen des Bewusstseins, der Atmung und der Herz-Kreislauf-Situation, letztlich HerzKreislauf-Stillstand; ab Stadium II Gefahr eines AfterDrops mit Bergetod ToDo Basis: – Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (KKT, SpO2, Puls, RR, EKG, BZ) – Lagerung je nach Stadium und Bewusstseinslage: – Stadium I: nach Patientenwunsch, aktive Bewegungen erlaubt – Stadium II: flache Lagerung, möglichst wenig bewegen, bei Bewusstseinsstörung stabile Seitenlage – Stadium III und IV: Immobilisation (z. B. mit Vakuummatratze) – Patienten in warme, windstille Umgebung verbringen, ggf. nasse Kleidung entfernen, in Decken und ggf. Wärmedecken einhüllen – O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Flow je nach SpO2 ggf. anpassen (Ziel 92–96 %) – psychische Betreuung, i. v.-Zugang und VEL vorbereiten, ab Stadium NA anfordern ToDo Erweitert: Infusion vorgewärmter VEL. Reanimation keinesfalls vor Erreichen der Zielklinik abbrechen („Niemand ist tot, solange er nicht warm und tot ist.“).

Erfrierungen Definition Erfrierungen

Fallbeispiel Fortsetzung – Hilflose Person Nach einiger Überzeugungsarbeit und Erklärung des folgenden Geschehens wird der Patient ein wenig kooperativer: Sie können ihn vorsichtig auf die Trage legen und in den RTW bringen. Dort leiten Sie zunächst ein EKG ab, da bei einer Unterkühlung Rhythmusstörungen häufig sind. Bei diesem Patienten ist das EKG unauffällig. Beim anschließenden Bodycheck finden Sie keine Hinweise auf Verletzungen. Der BZ ist mit 107 mg/dl ebenfalls unauffällig, die Pupillen isokor und lichtreagibel. Die mit Ohrthermometer gemessene Temperatur beträgt 31,8 °C. Es besteht damit eine Hypothermie Grad II vor – die Symptome des Patienten passen ebenfalls dazu. Der durch die Verbringung in den RTW nun etwas wachere Patient öffnet spontan die Augen und beginnt zu zittern. Nun gelingt auch die Messung der SpO2 (99 %) und der HF 72/min. Einigermaßen freiwillig lässt sich der Patient in eine flache Seitenlage bringen. Sie decken ihn mit einer Wolldecke zu und legen zusätzlich eine Wärmedecke auf den Körperstamm. Mit einer weiteren Decke schützen Sie auch den Kopf vor Auskühlung (wichtig!). Bei stabilen Vitalparametern transportieren Sie den Patienten schonend in das nächstgelegene Krankenhaus. 404

Exponierte Körperstellen (Finger, Zehen, Nase, Ohren) werden durch Kälte geschädigt, ohne dass die Körperkerntemperatur absinkt. Zusätzlich besteht häufig eine Hypothermie, die vorrangig behandelt werden muss. Pathophysiologie • Erfrierungen betreffen in der Regel exponierte Körperstellen, die Akren (Finger, Zehen, Ohren, Nase). Um ein Auskühlen des Körperkerns zu verhindern, wird die periphere Durchblutung bei längerer Kälteeinwirkung stark reduziert (Zentralisierung des Kreislaufs). Dies führt in den Akren zu einem O2-Mangel mit sehr langsamem Blutfluss und Gefahr der Bildung von Blutgerinnseln. Symptomatik • Erfrierungen werden anhand der Symptome in vier Grade eingeteilt (▶ Tab. 15.4). Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): Körpertemperatur, RR, Puls, EKG, BZ, SpO2 ● O2-Gabe, initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● Lagerung: je nach Bewusstseinslage; erfrorene Extremitäten sollen nicht bewegt werden. ●

Umweltbedingte Notfälle Abb. 15.40 Erfrierung.

Tab. 15.4 Erfrierungsgrade. Grad

Symptome

Symptome nach dem Wiedererwärmen

I

blasse Haut, dann zunehmende Rötung und Schmerzen

Rötung, Juckreiz, wiedereinsetzende Sensibilität, Schmerzen, vollständige Abheilung

II

bläulich-rötliche Haut, Schmerzen, später Gefühllosigkeit, Blasenbildung (▶ Abb. 15.40), Schwellung

schmerzhafte Frostbeulen

III

bläulich-weiße Haut mit schwärzlichen Nekrosen, Einblutungen, keine oder nur geringe Schmerzen

keine sichtbare Veränderung, chirurgische Entfernung der Nekrosen erforderlich

Totalvereisung des Gewebes mit Kristallbildung

keine Reaktion oder Zerfall des Gewebes, letztlich Fäulnis

IV





● ●

Wiedererwärmen: Bringen Sie den Patienten in eine warme Umgebung (z. B. vorgeheizter RTW) und entfernen Sie ggf. nasse Kleidung. Packen Sie erfrorene Körperteile warm ein (Woll- oder Rettungsdecke). psychische Betreuung mit Beruhigung des Patienten (Situation wird oft als bedrohlich empfunden) Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation Wundversorgung: Legen Sie einen sterilen Wundverband an und polstern Sie die erfrorenen Bereiche ab. Wärmen Sie erfrorene Bereich nicht aktiv an (z. B. durch Reiben), da dies das bereits geschwächte Gewebe weiter schädigt.

! Merke Unterkühlung vor Erfrierung

Eine Hypothermie ist akut lebensgefährlich und muss vorrangig behandelt werden! Die Behandlung der Erfrierung steht an zweiter Stelle. Erweiterte Maßnahmen • Die Patienten erhalten vorgewärmte VEL (37 °C, aus dem Wärmefach) sowie eine ausreichende Analgesie durch Opioide (Piritramid, z. B. Dipidolor®): Insbesondere beim Wiedererwärmen können Erfrierungen sehr schmerzhaft sein.

RETTEN TO GO Erfrierungen ●







Definition: Schädigung exponierter Körperregionen (Finger, Zehen, Nase, Ohren) durch Kälte Symptomatik: Einteilung in 4 Schweregrade, Nekrosen und fehlende Schmerzen als Hinweise auf tiefe Erfrierungen, oft gleichzeitig Hypothermie ToDo Basis: vorrangige Behandlung einer Hypothermie! – Vitalfunktionen sichern – Basismonitoring (KKT, SpO2, Puls, RR, EKG, BZ) – Patienten in warme, windstille Umgebung bringen, ggf. nasse Kleidung entfernen, erfrorene Bereiche warm einpacken, Wunden steril verbinden – Lagerung je nach Bewusstseinslage, psychische Betreuung, i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ToDo Erweitert: Infusion von vorgewärmten VEL, Analgesie

Oberflächliche Erfrierung mit Blasenbildung hauptsächlich der Großzehe am 2. Tag nach Kälteexposition (Grad II). Die Blase an der Großzehe ist mit klarer Flüssigkeit gefüllt. Ausheilung nach mehrwöchiger konservativer Behandlung. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © Dr. Raimund Lechner

15.11.2 Hitzenotfälle Hitzenotfälle (▶ Tab. 15.5) treten vermehrt auf, wenn die Umgebungstemperatur über einen längeren Zeitraum erhöht ist, also v. a. im Sommer. Ein erhöhtes Risiko haben ältere, chronisch kranke und demente Menschen, Säuglinge, Kleinkinder, Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, Menschen, die schwer körperlich und/oder im Freien arbeiten bzw. Sport machen. Als Folge der globalen Erwärmung werden Sie in den nächsten Jahrzehnten mit einer stark steigenden Zahl von Hitzenotfällen zu tun haben!

Hitzekollaps Synonyme • Hitzeohnmacht, Hitzesynkope Pathogenese • Der Hitzekollaps entspricht einer orthostatischen Synkope (S. 419). Der typische Auslöser ist längeres Stehen bei hoher Umgebungstemperatur. Die peripheren Gefäße sind erweitert, Blut „versackt“ in den Beinen (relative Hypovolämie) und das Herzzeitvolumen sinkt ab. Daraus resultiert eine zu geringe O2-Versorgung des Gehirns und in der Folge ein kurzzeitiger Bewusstseinsverlust. Die Temperaturregulation ist unauffällig. Symptomatik • Typische Warnsymptome sind Schwindel, Übelkeit, Zittern, Schweißausbrüche und Herzrasen. Die Betroffenen werden kurzzeitig bewusstlos und stürzen hin. In der Regel erholen sie sich innerhalb kurzer Zeit und sind rasch wieder orientiert. Versorgung des Patienten Patienten in eine kühle, schattige Umgebung bringen, beengende oder zu warme Kleidung öffnen bzw. entfernen ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, Körpertemperatur, EKG ● kompletter Bodycheck (Sturzverletzungen?) ● bedarfsadaptierte Lagerung: bewusstseinsklare, unverletzte Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Hypotonie Schocklagerung, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage ● sofern der Patient wach ist: Zufuhr kühler oder lauwarmer, isotoner Getränke (z. B. Sportdrinks) ● i. v.-Zugang und VEL vorbereiten ● notärztliche Unterstützung anfordern bei anhaltenden Bewusstseinsstörungen oder Kreislaufinstabilität ●

405

15

Traumatologische Notfälle

Tab. 15.5 Übersicht über Hitzenotfälle (KKT: Körperkerntemperatur). Ursache

Hauptsymptome

KKT

Risiken

Hitzekollaps

Versacken des Blutes in den weitgestellten Beingefäßen → orthostatische Synkope

Schwindel, Zittern, Übelkeit, Synkope

normal

i. d. R. harmlos

Hitzekrämpfe

starkes Schwitzen + Trinken elektrolytarmer Getränke → hypotone Dehydratation

schmerzhafte Muskelkrämpfe, starkes Schwitzen

normal

i. d. R. harmlos

Hitzeerschöpfung

Wasser- und Elektrolytverlust + unzureichendes Trinken → Dehydratation

Schwindel, Schwäche, Durstgefühl, Hypotonie, Tachykardie, Haut zunächst warm, später blass und kaltschweißig

normal oder mäßig erhöht (< 40 °C)

Gefahren: hypovolämischer Schock, Übergang in Hitzschlag

Hitzschlag

erhöhte Wärmezufuhr bzw. -produktion bei gleichzeitig unzureichender Wärmeabgabe → gestörte Thermoregulation

Tachykardie, ggf. Schocksymptomatik, Hirnödem, Bewusstseinstrübung bis Bewusstlosigkeit, ggf. Multiorganversagen

> 40,5 °C

lebensbedrohlich

Sonnenstich

direkte Sonneneinstrahlung auf den Kopf → isolierte Überwärmung von Gehirn und Hirnhäuten → Reizung der Hirnhäute

hochroter, heißer Kopf, Kopfschmerzen, Übelkeit, evtl. Nackensteifigkeit

normal

oft zeitlich verzögerter Beginn, bei schweren Verläufen lebensbedrohlich

Zum Ausschluss anderer Ursachen für die Bewusstlosigkeit (z. B. Rhythmusstörungen durch Elektrolytentgleisung) wird allen Betroffenen dringend ein Transport in ein Krankenhaus empfohlen.

Hitzekrämpfe Pathogenese • Hitzekrämpfe entstehen bei starkem Schwitzen, also einem Flüssigkeitsverlust in Verbindung mit deutlichen Elektrolytverlusten (v. a. Na+), wenn nur elektrolytarme Getränke (z. B. Wasser ohne Elektrolytzusatz) getrunken werden. Es besteht eine hypotone Dehydratation (S. 502). Symptomatik • Die typische Konstellation sind schmerzhafte Muskelkrämpfe (keine zerebralen Krämpfe!) und -faszikulationen (Zuckungen) bei schwerer körperlicher Anstrengung und hoher Umgebungstemperatur. Mögliche Begleitsymptome sind Schwäche, Übelkeit und Kopfschmerzen. Die Körperkerntemperatur ist normal. Versorgung des Patienten • Bringen Sie den Patienten an einen kühlen, schattigen Ort, entfernen Sie beengende Kleidung. Meist ist das Trinken elektrolythaltiger Flüssigkeiten ausreichend (bei wachen Patienten). Nur selten ist eine Infusionstherapie mit VEL erforderlich (dann NA nachfordern).

Hitzeerschöpfung Pathogenese • Wird bei hoher Umgebungstemperatur weniger Flüssigkeit aufgenommen, als der Körper z. B. durch Schwitzen verbraucht, resultieren Wasser- und Elektrolytverluste und damit eine Dehydratation (S. 502), also eine Abnahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumens. Ursachen • Typische Auslöser sind sportliche Aktivitäten und körperliche Arbeit im Sommer mit vermehrtem Schwitzen bei gleichzeitig unzureichender Flüssigkeitszufuhr. Symptomatik • Die Symptome reichen von Kopfschmerzen, Schwindel, Schwäche, Tachykardie und Hypotonie, flacher, schneller Atmung über Desorientiertheit bis zu Bewusst406

losigkeit und einem hypovolämischen Schock (S. 289). Die Patienten sind oft durstig. Die initial warme, rote Haut wird später blass, feucht und kühl. Die Körperkerntemperatur ist normal bis leicht erhöht. Bei Versagen der Thermoregulation (z. B. weil die Betroffenen wegen der Dehydratation zu wenig schwitzen) bzw. bei nicht adäquater Therapie ist ein Übergang in einen Hitzschlag (s. u.) möglich. Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, BZ, EKG, Körpertemperatur ● Bringen Sie den Patienten möglichst in eine kühle, schattige Umgebung und öffnen bzw. entfernen Sie beengende Kleidung. ● bedarfsadaptierte Lagerung: bewusstseinsklare, unverletzte Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Hypotonie Schocklagerung, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage ● sofern der Patient wach ist: Zufuhr kühler oder lauwarmer, isotoner Getränke (z. B. Sportdrinks) ● bei Bewusstseinsstörungen oder Kreislaufinstabilität: O2Gabe, notärztliche Unterstützung anfordern ● je nach Schweregrad Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikamenten ●

Ist eine orale Flüssigkeitszufuhr nicht ausreichend oder möglich, wird ein i.v-Zugang gelegt und Flüssigkeit und Elektrolyte mittels VEL ersetzt. Bei Schocksymptomatik wird eine Schocktherapie eingeleitet (S. 287). Je nach Schweregrad sollte sich der Patient zeitnah hausärztlich vorstellen oder wird in eine Klinik transportiert.

Hitzschlag Pathogenese • Durch eine erhöhte Wärmezufuhr bzw. -produktion bei gleichzeitig unzureichender Wärmeabgabe ist die Thermoregulation des Körpers gestört und die Körperkerntemperatur (KKT) steigt auf > 40,5 °C an. Klassischer Hitzschlag • Diese Form des Hitzschlags entwickelt sich häufig über einen längeren Zeitraum als Folge

Umweltbedingte Notfälle einer Hitzeerschöpfung: Die Patienten sind stark dehydriert und können daher nicht mehr ausreichend schwitzen. Betroffen sind häufig ältere Menschen, die sich z. B. in warmer, feuchter Umgebung aufhalten und wenig trinken. Erhöht ist das Risiko bei Personen, die Diuretika (S. 137) einnehmen, oder nicht eigenständig trinken können (z. B. Säuglinge, stark eingeschränkte Menschen). Anstrengungsinduzierter Hitzschlag • Der Auslöser ist starke körperliche Aktivität (z. B. Sport, im Straßenbau). Die dabei entstehende Wärme kann wegen hoher Umgebungstemperatur und Luftfeuchtigkeit und/oder undurchlässiger Kleidung nicht an die Umgebung abgegeben werden. Die Symptome entwickeln sich innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden, betroffen sind meist gesunde, kräftige Personen. Symptomatik • Die Haut ist zunächst rot, warm und trocken (oft keine Schweißbildung), später eher blass und grau (▶ Abb. 15.42). Die KKT steigt auf > 40,5 °C an. Die Patienten sind dehydriert und haben oft starken Durst. Die Atmung ist schnell und flach, es besteht eine Hypotonie mit Tachykardie und Gefahr tachykarder Herzrhythmusstörungen. Im Verlauf entwickelt sich ein hypovolämischer Schock (S. 289). Hinzu kommen neurologische Symptome wie Verwirrtheit, Sprachstörungen, Unruhe, Krampfanfälle und Bewusstseinsstörungen bis zum Koma. Als Zeichen eines ansteigenden Hirndrucks (S. 426) können sich ein Meningismus und/oder Übelkeit und Erbrechen entwickeln.

! Merke Lebensgefahr bei Hitzschlag

Bei Patienten mit Hitzschlag besteht akute Lebensgefahr: Bis zu 50 % der Betroffenen versterben an den Folgen eines Hitzschlags! Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, EKG, BZ, KKT ● entscheidend: schnelle Senkung der KKT < 39 °C! – Patienten an einen kühlen, schattigen Ort bringen – Kleidung öffnen, Körperoberfläche mit feuchten Tüchern oder ggf. Eispackungen kühlen (▶ Abb. 15.41) – engmaschige Überwachung der KKT ● bedarfsadaptierte Lagerung: bewusstseinsklare, unverletzte Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Hypotonie Schocklagerung, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage

Abb. 15.41 Kühlung eines Patienten mit Hitzschlag.



● ●

bei Bewusstseinsstörungen oder Kreislaufinstabilität frühzeitige O2-Gabe, initial mind. 10 l/min notärztliche Unterstützung anfordern i. v.-Zugang, VEL, Medikamente, Intubation vorbereiten

Erweiterte Maßnahmen • Ein oder mehrere i. v.-Zugänge werden gelegt und VEL je nach Kreislaufsituation zügig oder als Druckinfusion verabreicht. Fiebersenkende Medikamente sind unwirksam! Die weitere Behandlung orientiert sich am Zustand des Patienten, z. B. antikonvulsive Therapie bei Krampfanfällen (S. 419). Der Patient wird unter Intubationsbereitschaft und engmaschiger Kontrolle der Vitalparameter zügig in eine Klinik mit Intensivstation transportiert.

Sonnenstich Synonym • Insolation Pathogenese • Eine länger andauernde, starke Sonneneinstrahlung auf den unbedeckten bzw. wenig behaarten Kopf führt zu einer Reizung der Hirnhäute und zu Störungen der Blut-Hirn-Schranke mit Gefahr der Entwicklung eines Hirnödems. Gefährdet sind v. a. Säuglinge, Kleinkinder und ältere Menschen mit spärlicher Kopfbehaarung. Symptomatik • Die Symptome entwickeln sich oft zeitlich verzögert nach der Sonnenexposition (z. B. am späten Abend oder nachts). Der Kopf ist hochrot und heiß (▶ Abb. 15.42) die Körperkerntemperatur jedoch normal und der restliche Körper eher kühl und kaltschweißig. Weitere häufige Symptome sind Übelkeit und Erbrechen, Schwindel, starke Kopfund Nackenschmerzen, eine Tachykardie und mitunter ein Meningismus (S. 424). Krampfanfälle, Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen sind Hinweise auf ein Hirnödem mit Anstieg des Hirndrucks (S. 426). Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, Af, SpO2, BZ, KKT ● Patient an einen kühlen und schattigen Ort bringen, Kopf mit kalten Tüchern kühlen ● bedarfsadaptierte Lagerung: bewusstseinsklare, unverletzte Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage ● bei Bewusstseinsstörungen, Kreislaufinstabilität oder neurologischen Symptomen: O2-Gabe, notärztliche Unterstützung anfordern ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikamente vorbereiten ●

Erweiterte Maßnahmen • Je nach Schweregrad wird ein i. v.Zugang gelegt und VEL gegeben. Bei Übelkeit und Erbrechen können Antiemetika verabreicht werden, s. a. das Vorgehen bei Krampfanfällen (S. 419) und Bewusstlosigkeit (S. 416). Je nach Zustand sollte sich der Patient hausärztlich vorstellen oder wird in eine Klinik transportiert.

Die kühlenden Materialien werden nach Möglichkeit (wie hier) in der Leisten- oder Achselgegend platziert. Eispackungen dürfen nicht auf der bloßen Haut liegen! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

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15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.42 Hitzschlag und Sonnenstich.

HITZSCHLAG SONNENSTICH 42 41 40 39 38 37 36

anfangs rote, heiße Haut (später eher blassgrau)

niedriger Tachykardie Blutdruck

erhöhte Wärmezufuhr bzw. -produktion, unzureichende Wärmeabgabe

Bewusstseinsstörung bis Bewusstlosigkeit

zerebrale Krampfanfälle

isolierte Überwärmung von Gehirn + Hirnhäuten

Nackensteife Übelkeit, (Meningismus) Erbrechen

typisch für Hitzschlag

gemeinsame Symptome

roter Kopfschmerzen Kopf

42 41 40 39 38 37 36

typisch für Sonnenstich

Bei Patienten mit Hitzschlag ist die KKT auf > 40,5 °C erhöht, während sie beim Sonnenstich in der Regel normal ist. Typisch für den Hitzschlag ist eine mehr oder minder am gesamten Körper zunächst heiße und rote Haut. Bei einem Sonnenstich ist in erster Linie die Gesichts- und Kopfhaut gerötet. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023



RETTEN TO GO Hitzenotfälle ●





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Hitzekollaps: – Pathogenese: Längeres Stehen bei hoher Umgebungstemperatur führt zu einer Weitstellung der peripheren Gefäße, Blut „versackt“ in den Beinen, das Herzzeitvolumen sinkt ab. Die O2-Versorgung des Gehirns ist verringert. – Symptomatik: kurzzeitiger Bewusstseinsverlust (Synkope) mit Hinstürzen; Warnsymptome: Schwindel, Übelkeit, Zittern, Schweißausbrüche, Herzrasen; meistens schnelle Erholung Hitzekrämpfe: – Pathogenese: starkes Schwitzen und Trinken von elektrolytarmen Getränken bei körperlicher Anstrengung und hoher Umgebungstemperatur – Symptomatik: hypotone Dehydratation mit schmerzhaften Muskelkrämpfe und -faszikulationen, begleitend oft Schwäche, Übelkeit und Kopfschmerzen Hitzeerschöpfung: – Pathogenese: zu geringe Trinkmenge bei hoher Umgebungstemperatur und körperlicher Aktivität – Symptomatik: Dehydratation mit Schwindel, Schwäche, Kopfschmerzen, Tachykardie, Hypotonie, flacher, schneller Atmung, Desorientierung bis Bewusstlosigkeit und hypovolämischem Schock; Haut initial warm und rot, später blass, feucht und kühl; KKT normal bis leicht erhöht; evtl. Übergang in einen Hitzschlag



Hitzschlag: – Pathogenese: erhöhte Wärmezufuhr bzw. -produktion bei gleichzeitig unzureichender Wärmeabgabe mit massiver Störung der Thermoregulation und lebensbedrohlichem Anstieg der Körperkerntemperatur auf > 40,5 °C – Auslöser: Dehydratation mit Ausfall des Schwitzens (klassischer Hitzschlag, v. a. ältere Menschen), starke körperliche Aktivität bei hoher Luftfeuchtigkeit und/ oder mit undurchlässiger Kleidung (anstrengungsinduzierter Hitzschlag, v. a. junge Menschen) – Symptomatik: Haut initial rot, warm, trocken, später blass und grau, Dehydratation, Hypotonie, schnelle, flache Atmung, hypovolämischer Schock, neurologische Ausfälle (Verwirrtheit, Unruhe, Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma), evtl. Anstieg des Hirndrucks (Meningismus, Übelkeit, Erbrechen) Sonnenstich: – Pathogenese: länger andauernde, starke Sonneneinstrahlung auf den unbedeckten bzw. wenig behaarten Kopf mit Reizung der Hirnhäute und Störungen der Blut-Hirn-Schranke, Gefahr der Entwicklung eines Hirnödems; v. a. bei Säuglingen, Kleinkindern und älteren Menschen mit spärlicher Kopfbehaarung – Symptomatik: oft zeitlich verzögerter Beginn; hochroter und heißer Kopf, KKT normal, restlicher Körper eher kühl und kaltschweißig; begleitend oft Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, starke Kopf- und Nackenschmerzen, Tachykardie, evtl. Meningismus; Warnhinweise auf Hirnödem: Krampfanfälle, Orientierungsund Bewusstseinsstörungen

Umweltbedingte Notfälle





ToDo Basis: – Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring (KKT, SpO2, Puls, RR, EKG, Blutzucker) – Patient in kühle, schattige Umgebung bringen, beengende oder zu warme Kleidung entfernen – kompletter Bodycheck (Sturzverletzungen?) – bedarfsadaptierte Lagerung: bewusstseinsklare, unverletzte Patienten mit erhöhtem Oberkörper, bei Hypotonie Schocklagerung, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage – bei wachen Patienten Zufuhr kühler oder lauwarmer, isotoner Getränke (z. B. Sportdrinks) – i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikamente vorbereiten, NA anfordern bei Verdacht auf Hitzschlag, Bewusstseinsstörungen oder Kreislaufinstabilität – bei Verdacht auf Hitzschlag: Kleidung öffnen, Körperoberfläche mit feuchten Tüchern oder ggf. Eispackungen kühlen ToDo Erweitert: je nach Schweregrad Anlage eines i. v.Zugangs, Gabe von VEL, ggf. symptomatische Behandlung von Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit; je nach Zustand des Patienten hausärztliche Vorstellung oder Transport in eine Klinik

15.11.3 Strom- und Blitzunfälle Grundlagen Definition Stromunfälle Fließt Strom durch den Körper, wird dieser als Leiter Teil des Stromkreises, was ihn auf unterschiedliche Weise schädigen kann. Unterschieden werden Niederspannungsunfälle (Spannung < 1000 Volt Wechselspannung, > 90 % aller Elektrounfälle) und Hochspannungsunfälle (Spannung > 1000 Volt Wechselspannung).

Abb. 15.43 Schrittspannung.

Schrittspannung

Spannung

Bei einem Blitzeinschlag entsteht im Boden ein elektrisches Potenzial, das im Zentrum am höchsten ist und mit wachsendem Abstand zur Einschlagstelle sinkt (Spannungs- oder Potenzialtrichter). Befinden sich in diesem Bereich zwei miteinander verbundene Punkte (z. B. die Füße einer Person), entsteht zwischen ihnen eine elektrische Spannung (Schrittspannung). Sie ist umso höher, je dichter sich die Person am Ort des Blitzeinschlags befindet und je weiter die Füße auseinanderstehen. ●



Stromunfälle sind im Rettungsdienst nicht alltäglich. Gerade deshalb und weil sie sowohl das Opfer als auch helfende Personen erheblich gefährden können, sind sie eine besondere Herausforderung.



Lichtbogen • Bei Hochspannungsunfällen und Blitzeinschlägen können gefährliche Lichtbögen (Spannungsüberschläge) vorkommen: Dabei wird elektrischer Strom über die Luft als Funkenentladung auf den Körper übertragen, ohne dass das Opfer die Stromquelle berührt hat.



! Merke Mindestabstand

Wegen der Gefahr von Lichtbögen werden folgende Mindestabstände von Hochspannungsleitungen empfohlen: ● 1,5 m von Bahnoberleitungen mit 15 000 V ● 3 m von Überlandleitungen mit 110 000 V ● 20 m bei einer abgerissenen Hochspannungs-/Freileitung, z. B. bei Bahnanlagen





Schrittspannung • Bei Blitzeinschlägen, z. B. aber auch bei auf dem Boden liegenden Teilen einer Hochspannungsleitung, kann der Körper durch die Schrittspannung geschädigt werden: Dies ist die elektrische Spannung zwischen zwei Punkten (z. B. den Beinen), die sich auf einem von starkem Strom durchflossenen Bodenbereich befinden (▶ Abb. 15.43). Pathophysiologie • Die Auswirkungen von Strom auf den Körper sind vielfältig, betreffen aber v. a. das Nervensystem, die Muskulatur und das Herz. Zudem kann die strombedingte Wärmewirkung zu Verbrennungen führen. Die Schwere der Verletzung ist abhängig von folgenden Faktoren:

Potenzialtrichter



Stromstärke (in Ampere = A): Wie viele Ladungsträger fließen pro Zeiteinheit durch die Leitung? Je höher die Stromstärke, umso schwerwiegender sind die Störungen. Stromspannung (in Volt = V), im Haushalt derzeit 230 V, Eisenbahnoberleitung 15 000 V: Wie sehr unterscheiden sich die elektrischen Ladungen an 2 Punkten? Je höher die Spannung, umso schwerwiegender sind die Störungen. Frequenz (in Hertz = Hz bei Wechselstrom), im Haushalt derzeit 50 Hz: Wie häufig wechselt die Polarität der elektrischen Spannung? Wechselstrom (Strom mit wechselnder Polarität) hat ein größeres Schädigungspotenzial als Gleichstrom, weil er u. a. Herzrhythmusstörungen auslösen kann. Größe der Berührungsfläche (in m²) Weg, den der Strom durch den Körper nimmt: Die Gefahr von Rhythmusstörungen ist größer, wenn der Strom durch das Herz fließt (z. B. Stromfluss von Arm zu Arm). elektrischer Widerstand der Körpergewebe (in Ohm = Ω), abhängig u. a. vom Flüssigkeits- und Elektrolytgehalt der Gewebe: Knochen und trockene Haut haben einen hohen elektrischen Widerstand, der Widerstand von Muskeln, Nervengewebe und Blutgefäßen ist hingegen sehr niedrig (→ häufig neurologische Symptome bei Stromunfällen). Auch bei feuchten oder verschmutzten Händen oder Elektrounfällen im Wasser ist der Widerstand gering und der Strom kann ungehindert durch den Körper fließen. Bei hohem Hautwiderstand ist die Hitzeeinwirkung und damit die Gefahr von Verbrennungen höher, bei niedrigem Hautwiderstand hingegen die Gefahr von Schädigungen des Nervensystems, der Muskulatur und des Herzens. Dauer der Stromeinwirkung: Je länger der Strom auf den Körper einwirkt, umso größer ist das Schädigungsrisiko. In den meisten Haushalten gibt es Fehlerstromschutzschalter (FI-Schutzschalter), die den Strom bei einem Stromunfall nach wenigen Millisekunden unterbrechen. 409

15

Traumatologische Notfälle Abb. 15.44 Stromverletzungen. a Strommarke mit Blasenbildung nach einem Elektrounfall: Der Patient berührte mit dem Handgelenk, an dem er eine Uhr trug, den stromführenden Teil einer Fahrzeugbatterie. Aus: Scholz J, Gräsner J, Bohn A (Hrsg.): Referenz Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2019

b Strommarke nach einem Blitzunfall. Typisch ist das verästelte Muster der Verletzung. Aus: Scholz J, Sefrin P, Böttinger BW, Dörges V, Wenzel V (Hrsg.): Notfallmedizin. Stuttgart: Thieme; 2013 (Quelle: A. Reiter, Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin, Landesklinikum Mostviertel, Amstetten)

a

b

Niederspannungsunfälle

Blitzschläge

Ursachen • Die meisten Niederspannungsunfälle ereignen sich zu Hause, an häufigsten durch unsachgemäßes Hantieren an elektrischen Geräten und technische Defekte. Für Kleinkinder sind auch ungesicherte Steckdosen und nicht isolierte Elektrokabel gefährlich.

Ein Blitzschlag ist eine besondere Form des Hochspannungsunfalls: Nach elektrostatischer Aufladung der Atmosphäre entsteht ein kurzzeitiger Lichtbogen zwischen der geladenen Luftschicht und der Erde mit einer Spannung von bis zu 100 Megavolt (100 000 000 V), hoher Stromstärke und Temperaturen um 30 000 °C. An der Haut sind mitunter farnkrautähnliche Muster zu sehen (▶ Abb. 15.44b). Weitere Gefahren sind die begleitende Druckwelle (bis in 100 m Entfernung!) mit Gefahr eines akustischen Traumas (S. 458) und die fotoelektrische Wirkung (Gefahr von Hornhaut- und Netzhautschäden bis zur Erblindung). Direkte Blitzeinschläge in einen Menschen enden oft tödlich, die Gefahr von Schädigungen besteht jedoch auch durch Einschläge in der Nähe (Spannungsbogen, Schrittspannung, s.o).

Symptomatik • Die Betroffenen können vollständig symptomfrei sein oder folgende Symptome zeigen: ● Verwirrtheit, Erregung, Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle ● Muskelkrämpfe mit „Festhängen“ an der Steckdose und dadurch verlängerter Stromeinwirkung ● Tachykardie, Rhythmusstörungen (Extrasystolen, Kammerflimmern) mit Gefahr eines Herz-Kreislauf-Stillstands ● Angst, Panik, Übelkeit, Atemnot ● Strommarken (▶ Abb. 15.44a): Verbrennungen an den Einund Austrittsstellen des Stroms sind umso ausgeprägter, je größer der Hautwiderstand der Haut ist – im Wasser fehlen sie daher häufig.

Hochspannungsunfälle Ursachen • Diese seltenen Unfälle kommen v. a. an Hochspannungsleitungen der Eisenbahn, Überlandleitungen oder in Elektrizitätswerken vor. Meist entstehen sie im Rahmen von Arbeits- oder Freizeitunfällen (z. B. Drachenflieger) oder in suizidaler Absicht (Sprung von Eisenbahnbrücke). Distanz-Elektroimpulswaffen (Elektroschockwaffen, „Taser“) geben mit Pfeilelektroden einen elektrischen Hochspannungsimpuls ab: Dieser ist selten tödlich, kann aber starke Schmerzen und Bewusstseinsstörungen auslösen. Zudem stürzen die Getroffenen unkontrolliert zu Boden und können sich dabei schwer verletzen. Auch die Elektroden der Taser können durch ihre Widerhaken schwerwiegende Gewebeschäden verursachen, v. a. in Regionen mit wenig Weichteilgewebe (z. B. am Hals oder im Gesicht). Diese werden wie ein spitzes Penetrationstrauma (S. 372) behandelt. Symptomatik • Meistens stehen Verbrennungen im Vordergrund: Dabei sind mitunter von außen nur geringe Schäden sichtbar, der Großteil der Schäden kann im Körperinneren versteckt sein, da der Strom das Gewebe auf seinem Weg durch den Körper schädigt. Zusätzlich besteht die Gefahr schwerer Rhythmusstörungen bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand sowie von mechanischen Verletzungen, wenn die Verletzten durch den Stromschlag gestürzt sind.

410

Versorgung des Patienten Maßnahmen zum Eigenschutz • Vor der Versorgung des Patienten müssen Sie Maßnahmen zum Eigenschutz ergreifen. ● Eigenschutz bei Niederspannungsunfällen – Sicherung entfernen, FI-Schutzschalter auf 0 stellen – auslösendes Gerät abschalten, Netzstecker ziehen – Vor allem bei häuslichen Unfällen müssen Sie die Sicherungen gegen ein irrtümliches Wiedereinschalten durch Dritte absichern („Es war so dunkel in der Garage, ich wollte das Licht wieder einschalten!“). Postieren Sie jemanden vor dem Sicherungskasten, der das verhindert. ● Eigenschutz bei Hochspannungsunfällen – Der Patient darf erst gerettet und geborgen werden, wenn die Spannungsfreiheit von Fachpersonal (z. B. Mitarbeitende der Bahn oder des E-Werks) sichergestellt ist. – Bis dahin müssen Sie warten! Halten Sie einen Sicherheitsabstand von mind. 4 m zur Stromquelle ein und beachten Sie Warnschilder. Basismaßnahmen • Erst wenn keine Gefahr mehr von der Unfallstelle ausgeht, beginnt die Patientenversorgung: ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG (wichtig wegen der Gefahr von Herzrhythmusstörungen), SpO2 ● O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage ● Verbrennungsverletzungen (S. 399) und ggf. weitere Verletzungen versorgen, ggf. Immobilisation (z. B. bei Sturz von Leiter)

Umweltbedingte Notfälle

● ●

notärztliche Unterstützung anfordern i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation, Intubation/Narkose vorbereiten

Erweiterte Maßnahmen • Die Verletzten erhalten i. v. VEL und ggf. Analgetika (z. B. Piritramid – Dipidolor®). Für die Behandlung von Rhythmusstörungen s. das Kapitel HerzKreislauf-Notfälle (S. 307). Bei Kammerflimmern wird umgehend eine kardiopulmonale Reanimation mit Defibrillation (S. 322) eingeleitet. Je nach Zustand des Patienten kann eine Narkose und Intubation notwendig sein. Bei schweren Verbrennungen wird der Patient möglichst schnell in ein Brandverletztenzentrum transportiert, ggf. mit einem RTH.

! Merke Überwachung nach Stromunfall

Jeder Patient mit einem Stromunfall sollte in eine Klinik gebracht werden – auch wenn er keine oder nur geringe Beschwerden hat. Gefährliche Herzrhythmusstörungen wie ein Kammerflimmern können sich noch bis zu 24 h nach dem Unfall entwickeln.

RETTEN TO GO Strom- und Blitzunfälle ●







Unfalle mit elektrischem Strom sind selten, haben aber ein enormes Schädigungspotenzial (z. B. bedrohliche Herzrhythmusstörungen, Verbrennungen, Frakturen). Formen von Stromunfällen: – Niederspannungsunfälle (≤ 1000 V, > 90 % aller Unfälle): v. a. im Haushalt: Gefahr von Krampfanfällen, Rhythmusstörungen und Verbrennungen – Hochspannungsunfälle (> 1000 V): Gefahr schwerer Verbrennungen, kardialer Schädigungen und mechanischer Verletzungen – Blitzunfälle: Hochspannungsunfälle mit sehr hohen Energien (bis zu 100 MV), häufig tödlich; bei Blitzeinschlag in Umgebung zusätzlich Gefahr eines akustischen Traumas und von Augenschädigungen ToDo Basis: Eigenschutz strikt einhalten: erst Strom abschalten, dann retten – Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (RR, Puls, EKG, SpO2) – O2-Gabe: initial 2–4 l/min, SpO2-Ziel: 92–96 % – Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage – Verbrennungsverletzungen und ggf. weitere Verletzungen versorgen, ggf. Immobilisation (z. B. bei Sturz von Leiter) – NA anfordern, i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation, Intubation/Narkose vorbereiten ToDo Erweitert: i. v.-Zugang anlegen, VEL und ggf. Analgesie i. v., Behandlung von Herzrhythmusstörungen, bei Kammerflimmern CPR mit Defibrillation, immer in Klinik transportieren (auch bei fehlenden Beschwerden), bei schweren Verbrennungen Transport in Brandverletztenzentrum

15.11.4 Tauchnotfälle Die zunehmende Popularität des Tauchsports führt vermehrt zu Tauchunfällen unerfahrener Freizeittaucher in Badegewässern. Die Risiken des Tauchens hängen von der Tauchtechnik ab.

Apnoetauchen Definition • Beim Apnoetauchen hält der Tauchende die Luft an und verwendet keine Tauchgeräte. Risiken • Atmet der Tauchende vor dem Tauchgang sehr schnell, um länger tauchen zu können, sinkt der pCO2 im Blut. Damit fällt der wichtigste Atemantrieb (S. 75) weg. In der Folge wird so lange getaucht, bis die O2-Versorgung des Gehirns beeinträchtigt ist. Die Folgen sind Bewusstlosigkeit und Ertrinken (S. 271). Bei einem Apnoetauchen in die Tiefe besteht die Gefahr eines Barotraumas der Lunge, s. u.

Schnorcheln Definition • Der Tauchende atmet über einen Schnorchel an der Wasseroberfläche Umgebungsluft ein. Risiken • Die maximale Schnorchellänge für Erwachsene beträgt 35 cm (für Kinder weniger!). Wird ein zu langer Schnorchel verwendet, um eine größere Tauchtiefe zu erreichen, atmet der Tauchende immer wieder die Luft aus dem Schnorchel ein (Pendelatmung) und der CO2-Gehalt der eingeatmeten Luft steigt. Die Folge ist eine O2-Unterversorgung mit Bewusstlosigkeit und Ertrinken.

Gerätetauchen Definition • Der Tauchende führt ein mit einem Gasgemisch gefülltes Tauchgerät mit sich. Dies ermöglicht mehrstündige Tauchgänge, auch in großen Tiefen. Physiologie und Pathophysiologie des Gerätetauchens • Tauchgänge werden in 3 Phasen unterteilt: ● Abtauchen (Kompression): Mit zunehmender Tauchtiefe steigt der Umgebungsdruck. Das Volumen der eingeatmeten Gase und der luftgefüllten Räume im Körper nimmt entsprechend ab (Boyle-Mariotte-Gesetz: Das Produkt aus Druck und Volumen ist konstant). Eine Druckdifferenz zwischen der Umgebung und luftgefüllten Organen wird normalerweise über die Lunge oder die eustachische Röhre (S. 102) ausgeglichen. Fehlt dieser Druckausgleich, kann ein Barotrauma (s. u.) mit Verletzungen der Lunge, des Trommelfells oder der Nasennebenhöhlen resultieren. ● Aufenthalt in der Tiefe (Isopression): Die Druckbedingungen sind mehr oder weniger konstant. Gefährlich kann eine Anreicherung des Atemgases Stickstoff (N2) im Körper sein: Es wird (anders als O2) nicht verstoffwechselt und kann durch Anreicherung im Gehirn zu einem Tiefenrausch führen. Dieser schränkt das Urteils- und Entscheidungsvermögen des Tauchenden stark ein, was zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen führen kann. ● Auftauchen (Dekompression): Beim Auftauchen sinkt der Umgebungsdruck. Dadurch wird weniger Gas gelöst (Henry-Dalton-Gesetz). Das im Körpergewebe angereicherte Gas (v. a. N2) wird frei und nach und nach über die Lungen abgeatmet. Dafür sind regelmäßige Dekompressionspausen erforderlich, also ein langsames, stückweises Auftauchen. Taucht ein Anfänger oder ein in Panik geratener Tauchender zu schnell auf (und hält dabei die Luft an), wird der Stickstoff nicht ausreichend abgeatmet und die Lunge überbläht. Im Blut und im Gewebe bilden sich Gasblasen, der Stickstoff „perlt aus“. Die Folge ist die Dekompressionskrankheit (s. u.). Anschaulich wird das Henry-DaltonGesetz übrigens beim Aufschrauben einer CO2-haltigen Sprudelflasche: Öffnen Sie die Flasche, sinkt der Druck, die CO2-Blasen lösen sich und der Sprudel „blubbert“. 411

15

Traumatologische Notfälle Barotrauma • Die Symptome hängen davon ab, welches Organsystem verletzt wird: ● Lunge: Hämoptoe (Bluthusten, oft schaumig), Atemnot, Brustschmerzen, Pneumothorax (S. 387) durch Zerreißung der Lunge mit Gefahr eines Spannungspneumothorax ● Ohr: Trommelfellriss mit Blutung aus dem Ohr, Hörverlust, Schwindel, Übelkeit, Gleichgewichtsstörungen bei Schädigung des Gleichgewichtorgans ● Nasennebenhöhen: Schmerzen in Gesicht und Kopf, Blutung aus der Nase ● Magen-Darm-Trakt: kolikartige Bauchschmerzen, Blähungen Dekompressionskrankheit (Caisson-Krankheit) • Die Symptome bei zu schnellem Auftauchen sind vielfältig, lassen sich jedoch alle durch die ausperlenden Gase und dadurch ausgelöste Durchblutungsstörungen, Schmerz- und Entzündungsreaktionen erklären: ● Ohrschmerzen, Ohrensausen, Hörverlust ● Atemnot mit atemabhängigen Schmerzen und Hustenreiz, Erstickungsangst ● „Taucherflöhe“: juckende, gerötete Flecken auf der Haut ● Knochen-, Muskel- und Gelenkschmerzen ● Apathie, Bewusstlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Verwirrtheit, Müdigkeit ● vegetative Symptome: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen ● Luftblasenembolie im Gehirn mit Symptomen ähnlich einem Schlaganfall, z. B. Sprach- und Sehstörungen

ACHTUNG Meistens manifestieren sich die Symptome einer Dekompressionskrankheit bereits kurz nach dem Auftauchen, mitunter aber auch erst nach Stunden oder sogar Tagen. Eine genaue Anamnese hilft auf die richtige Spur!

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Rettung des Patienten analog zum Vorgehen bei Ertrinkungsunfällen (S. 271) ● Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, EKG, SpO2, Temperatur – Gefahr einer zusätzlichen Hypothermie (S. 402)! ● sofort 100 % O2, Flow 15 l/min, möglichst über spezielles Demand-Ventil, damit die überschüssigen Gase etwas schneller abgeatmet werden ● Lagerung: je nach Bewusstseinszustand, Flachlagerung bei bewusstseinsklaren Patienten ● Wärmeerhalt: Taucheranzug öffnen, Patienten mit Wolloder Rettungsdecke warm zudecken ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation ● notärztliche Unterstützung anfordern ● ggf. Narkose und/oder Intubation vorbereiten Erweiterte Maßnahmen • Der Verletzte erhält VEL über einen i. v.-Zugang, bei Schmerzen zusätzlich Morphin i. v. (zusätzlich beruhigende Wirkung). Die Indikation zur Intubation und PEEP-Beatmung (S. 221) sollte großzügig gestellt werden. Ein symptomatischer Pneumothorax (S. 387) oder Spannungspneumothorax wird schnellstmöglich entlastet. Die einzige effektive Therapie der Dekompressionskrankheit ist eine Überdruckbehandlung (Rekompression, hyperbare Oxygenierung, HBO) in einer Druckkammer: Der Patient wird in einer Kammer mit hohem Umgebungsdruck mit 100 % O2 beatmet, um im Gewebe und Blut eine möglichst hohe O2-Anreicherung zu erzielen. Keinesfalls sollen 412

Tauchende nochmals abtauchen, um die Caisson-Krankheit zu beheben: Es droht ein Bewusstseinsverlust unter Wasser!

ACHTUNG Ist präklinisch keine klare Unterscheidung zwischen einem Barotrauma und einer Dekompressionskrankheit möglich, ist von letzterer auszugehen und eine Überdruckbehandlung anzustreben. Der Patient sollte möglichst nicht mit einem RTH transportiert werde, da der niedrige Luftdruck in großer Flughöhe die Dekompressionskrankheit verschlimmert. Ist ein Transport mit RTH (z. B. in eine weiter entfernte Druckkammer) dennoch notwendig, sollte die Flughöhe < 300 m bleiben. Erschütterungen sind zu vermeiden, da sonst Gasblasen verschleppt werden könnten. Der Tauchcomputer und das übrige Tauchgerät sollten sichergestellt werden, da sich daraus wichtige Hinweise auf den Unfallhergang ergeben können. Neben dem offensichtlich Betroffenen sind auch alle weiteren Tauchende als potenziell verletzt einzustufen, die mit gleicher Geschwindigkeit aufgetaucht sind – auch wenn sie keine Symptome haben. Das Divers Alert Network (DAN) informiert telefonisch rund um die Uhr über Tauchnotfälle und Druckkammereinrichtungen: Tel. + 39 064 211 5 685 (über die zuständige Rettungsleitstelle erreichbar).

RETTEN TO GO Tauchnotfälle ●







Barotrauma: unzureichender Druckausgleich zwischen dem in großen Tiefen höheren Umgebungsdruck und den luftgefüllten Hohlräumen im Körper; Symptome: Atemnot, Bluthusten, Schmerzen im Bauch und in den Nasennebenhöhlen, Gleichgewichtsstörungen Dekompressionskrankheit (Caisson-Krankheit) bei zu schnellem Auftauchen, vielfältige Symptome, z. B. juckende, rötliche Hautflecken, Muskel-/Gelenkschmerzen, neurologische und kardiopulmonale Beschwerden ToDo Basis: Rettung wie bei Ertrinkungsunfällen – Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring: RR, Puls, EKG, SpO2, KKT (Hypothermiegefahr!) – sofort 100 % O2, Flow 15 l/min, möglichst über Demand-Ventil – Lagerung: je nach Bewusstseinszustand, Flachlagerung bei bewusstseinsklaren Patienten – Wärmeerhalt: Taucheranzug öffnen, Patienten mit Woll- oder Rettungsdecke warm zudecken – Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikation, NA anfordern, ggf. Narkose/Intubation vorbereiten ToDo Erweitert: i. v.-Zugang anlegen, VEL und ggf. Analgesie i. v., großzügige Indikation für Intubation und PEEP-Beatmung, ggf. Pneumothorax entlasten; bei Verdacht auf Dekompressionskrankheit Überdruckbehandlung anstreben; Transport möglichst ohne RTH, falls erforderlich Flughöhe < 300 m, Erschütterungen beim Transport vermeiden

15.11.5 Ertrinkungsunfälle Siehe Kapitel Respiratorische Notfälle (S. 271).

16

Neurologische Notfälle

Abb. 16.1 Kreuzgriff zur Kraftüberprüfung.

16.1 Grundlagen Die Häufigkeit und Bedeutung neurologischer Notfälle wird häufig unterschätzt: Beispielsweise sind Schlaganfälle in Europa eine der häufigsten Todesursachen und der häufigste Auslöser für dauerhafte neurologische Einschränkungen. Neurologische Notfälle betreffen häufig ältere Menschen, allerdings nicht ausschließlich: Insbesondere Krampfanfälle, Blutungen als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas oder eine Meningitis betreffen oft junge und sehr junge Menschen. Neurologische Notfälle bei Kindern, z. B. Fieberkrämpfe, schwere Infektionen und der plötzliche Kindstod, können für Sie im Rettungsdienst psychisch sehr belastend sein. Anamnese • Folgen Sie bei der Anamnese – wie auch bei anderen Notfällen – dem SAMPLER-Schema (S. 193). So erfassen Sie schnellstmöglich und strukturiert alle entscheidenden Informationen. Untersuchung – Überblick • Die wesentlichen Hinweise auf neurologische Notfälle ergeben sich aus dem Punkt D des (c)ABCDE-Schemas (S. 191). Eine grob orientierende neurologische Untersuchung umfasst folgende Punkte: ● Überprüfung des Bewusstseins: AVPU-Schema (▶ Tab. 8.1) und Glasgow-Coma-Score (▶ Tab. 8.4) ● Überprüfung der Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person) ● Einschätzung des Sprach- und Sprechvermögens: Ein erster Eindruck ergibt sich bereits aus der Kommunikation mit dem Betroffenen. Bei Verdacht auf eine Störung lassen Sie den Patienten einen einfachen Satz nachsprechen. 414

Sie überkreuzen Ihre Arme und greifen die Hände des Patienten. Dieser soll Ihre Hände nun so stark wie möglich drücken. Eine einseitige Kraftminderung weist z. B. auf einen Schlaganfall hin. Foto: © K. Oborny/Thieme

● ●

Prüfung der Pupillenreaktion (S. 465) Prüfung der Sensibilität und Motorik: einseitige Kraftminderung z. B. bei einem Schlaganfall (S. 421) – pDMS-Kontrolle (S. 366), v. a. bei Taumapatienten – Kreuzgriff (▶ Abb. 16.1) – Arm-Vorhalte-Versuch: Der Patient schließt die Augen und streckt die Arme nach vorne (Handflächen nach oben). Bei einer einseitigen Schädigung des ZNS dreht sich eine Hand nach innen unten und der Arm sinkt ab. – Überprüfung der Beinmotorik: Der Patient befindet sich für die Untersuchungen in Rückenlage.

Bewusstseinsstörungen Grundlagen

▶S. 416

▶S. 414 Krampfanfälle Synkope Leitsymptome

▶S. 417

▶S. 419

Schlaganfall

Meningismus ▶S. 424

▶S. 421

Kopfschmerzen ▶S. 425 Rückenschmerzen ▶S. 426

Weitere Leitsymptome

Lähmungen ▶S. 426 Störungen der Sensibilität und Wahrnehmung ▶S. 426 Hirndruck- und Einklemmungszeichen ▶S. 426

Hirnischämie und Hirninfarkt

Hirnblutungen

▶S. 428

Intrazerebrale Blutungen (ICB)

▶S. 428

Subarachnoidalblutung (SAB)

▶S. 430

Sinus- und Hirnvenenthrombose Notfälle und Erkrankungen

Bandscheibenvorfall

▶S. 430

▶S. 430

Meningitis und Enzephalitis

▶S. 432 Fieberkrampf

Neurologische Notfälle bei Kindern

– Der Patient soll ein Bein anziehen. Pressen Sie dabei Ihre Hand leicht oberhalb des Knies gegen dieses Bein, um Widerstand zu erzeugen. – Der Patient soll seine Zehenspitzen beidseits anziehen. – Der Patient soll Ihre Hand mit dem Fuß wie beim Gasgeben wegdrücken (zuerst mit dem Fuß der gesunden, dann mit dem der vermutlich betroffenen Seite).

▶S. 433

Plötzlicher Kindstod und BRUE ▶S. 433

BE-FAST-Test • Dieser Test ist v. a. bei Verdacht auf einen Schlaganfall hilfreich (▶ Abb. 16.2): ● B (Balance): Besteht bei dem Patienten eine Gleichgewichtsstörung? Schwankt er beim Gehen oder neigt er sich immer zu einer Seite? ● E (Eyes): Hat der Patient Sehstörungen oder Doppelbilder? ● F (face): Bitten Sie den Patienten, zu lächeln oder die Stirn zu runzeln: Verzieht sich sein Gesicht dabei einseitig? ● A (arm): Ist der Arm-Vorhalte-Versuch (s. o.) auffällig? ● S (speech): Der Patient soll einen einfachen Satz nachsprechen: Ist die Sprache verwaschen? Benutzt der Patient falsche Wörter? Kann er gar nicht mehr sprechen? ● T (time): Jede Minute zählt: Ist einer dieser Punkte auffällig, besteht ein hochgradiger Verdacht auf einen Schlaganfall. Leiten Sie unverzüglich den Transport ein (Stroke Unit!) und fordern Sie notärztliche Unterstützung an!

Abb. 16.2 BE-FAST-Test.

B E Balance Gleichgewichtsstörung?

Eyes Sehstörungen? Doppelbilder?

F A Face Gesicht einseitig gelähmt?

Arms Armbewegungen eingeschränkt?

S

T

Speech Sprache verwaschen?

Time Keine Zeit verlieren!

Dieser Test ist hilfreich, um Patienten mit Schlaganfall frühzeitig zu erkennen. 415

16

Neurologische Notfälle

RETTEN TO GO

lage). Beides erhöht die Gefahr einer Aspiration. Erschlaffen in Rückenlage die Muskeln der Zunge und des Rachens, können die Atemwege verlegt werden. ▶ Abb. 16.3 zeigt häufige Ursachen für Bewusstseinsstörungen.

Grundlagen ● ●



Anamnese: SAMPLER-Schema Untersuchung: v. a. Überprüfung von Punkt D des (c)ABCDE-Schemas: – Bewusstsein (AVPU-Schema, Glasgow-Coma-Score) – Orientierung (zeitlich, örtlich, situativ, zur Person) – Sprach- und Sprechvermögen – Pupillenreaktion – Sensibilität und Motorik: pDMS-Kontrolle, Kreuzgriff, Arm-Vorhalte-Versuch, Überprüfung der Beinmotorik Der BE-FAST-Test ist hilfreich für die Früherkennung von Patienten mit Schlaganfall.

16.2 Leitsymptome 16.2.1 Bewusstseinsstörungen Fallbeispiel Eingetrübt* An einem Sonntagnachmittag werden Sie unter dem Einsatzstichwort „unklarer Bewusstseinszustand“ mit Ihrem Kollegen, einem Notfallsanitäter, zum Wohnhaus eines älteren Ehepaares alarmiert. Beim Eintreffen an der Einsatzstelle nimmt ein älterer Herr Sie in Empfang und führt Sie aufgeregt ins Haus: „Wie gut, dass Sie da sind. Frieda geht es gar nicht gut, sie ist gerade so zusammengesunken. Oje, ich mache mir solche Sorgen.“ Im Wohnzimmer finden Sie die 75-jährige, leicht adipöse Frieda M. auf dem Boden liegend vor. Sie wirkt benommen, ist blass und kaltschweißig und trübt zusehends ein. Sie reagiert nicht auf Ansprache, auf einen Schmerzreiz nur ungezielt. Sie überprüfen Atmung und Puls: Nach dem Überstrecken des Kopfes stellen Sie eine ausreichende Atemfrequenz und Atemzugtiefe fest. Der Karotispuls ist tastbar, tachykard mit einer Frequenz von 110/min. Sie bringen Frau M. in die stabile Seitenlage und überprüfen erneut Atmung und Puls. Beim anschließenden Bodycheck fallen Ihnen Einstichstellen auf, Sie fragen den Ehemann nach Vorerkrankungen. Herr M. antwortet: „Frieda hat diese Zuckerkrankheit und muss seit Kurzem Insulin spritzen. Heute hatte sie aber wenig Appetit und hat fast nichts gegessen.“ Auf Nachfrage gibt er an, dass sie dennoch ihr Insulin gespritzt habe. Sie messen sofort den Blutzucker und stellen einen Wert von 25 mg/dl fest. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Definition Bewusstseinsstörungen Die Klarheit des Bewusstseins ist eingeschränkt, d. h. der Betroffene ist nicht vollständig wach (Einschränkung der Vigilanz) und kann auf seine Umgebung nicht adäquat reagieren (Einschränkung des reflektierenden Bewusstseins). Bewusstlosigkeit ist eine maximale quantitative Bewusstseinsstörung. Pathophysiologie und Ursachen • Bewusstseinsstörungen sind oft ein Hinweis auf eine lebensbedrohliche, akute Funktionsstörung des Gehirns. Die Betroffenen können auf äußere und innere Reize nicht adäquat reagieren, die Schutzreflexe, z. B. der Würge- und der Hustenreflex, können ausfallen und Mageninhalt kann bis in den Rachen fließen (v. a. in Rücken416

Einteilung Bei quantitativen Bewusstseinsstörungen ist die Wachheit (Vigilanz) reduziert: – Benommenheit: Der Patient ist wach, reagiert aber stark verlangsamt. Er kann Informationen nur eingeschränkt aufnehmen und verarbeiten. – Somnolenz: Der Patient ist schläfrig, aber leicht weckbar und kann einfache Aufgaben durchführen (z. B. Öffnen der Augen). – Sopor: Der Patient schläft tief und ist nur durch starke (Schmerz-)Reize kurzfristig weckbar. – Koma: Der Patient ist bewusstlos und nicht weckbar. Die Reflexe fallen zunehmend aus. ● Bei qualitativen Bewusstseinsstörungen ist die Fähigkeit gestört, verschiedene Aspekte der eigenen Person und der Umwelt zu verstehen, sie sinnvoll miteinander zu verbinden sowie sich entsprechend mitzuteilen und zu handeln: – Bewusstseinstrübung: Die Betroffenen sind verwirrt und nehmen weder ihre Umwelt noch sich selbst klar und geordnet wahr (z. B. im Delir). – Bewusstseinseinengung: Die Denkinhalte sind eingeengt, die Reaktionen auf Außenreize sind reduziert. Die Handlungsfähigkeit ist aber weitgehend erhalten (z. B. bei akuter Belastungsreaktion). – Bewusstseinsverschiebung/-erweiterung: Die Wahrnehmung ist gesteigert und intensiviert, der Bewusstseinsraum erweitert (z. B. im Halluzinogenrausch). ●

Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Inspektion des Umfeldes, um mögliche Gefahrenquellen zu erfassen → an Eigenschutz denken! ● Vitalfunktionen prüfen: 1. Basischeck (S. 320), um ggf. einen Herz-Kreislauf-Stillstand zu erkennen 2. bei möglicher Bewusstlosigkeit, aber normaler Atmung: Bewusstseinskontrolle mit AVPU-Schema (S. 182), genauere Kontrolle mit Glasgow-Coma-Score (S. 191) 3. weiteres Vorgehen nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) ● bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlagerung (▶ Abb. 9.57, solange die Atemwege noch nicht gesichert sind) ● Basismonitoring (RR, Puls, SpO2), inkl. BZ-Bestimmung (obligat bei Patienten mit Bewusstseinsstörung!), und kontinuierliche Überwachung ● zügige O2-Gabe je nach SpO2, Flow im Verlauf ggf. anpassen (Ziel-SpO2 92–96 %) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● engmaschige Beobachtung und Dokumentation des GCS ● bei GCS < 9 Punkten Intubation vorbereiten ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikamenten ●

Nach der Sicherung der Vitalfunktionen, wenn möglich, Eigen- bzw. Fremdanamnese nach SAMPLER-Schema (S. 193): ● Seit wann besteht die Bewusstseinsstörung? ● Wurde der Patient allmählich oder plötzlich bewusstlos? ● Was ist (unmittelbar) vor der Bewusstlosigkeit passiert? Hat der Patient gekrampft, gab es Beschwerden (z. B. Brustschmerzen) oder ein Unfallgeschehen? ● Sind Vorerkrankungen bekannt? ● Gibt es Hinweise auf eine Intoxikation? ● Welche Maßnahmen hat der Ersthelfende getroffen?

Leitsymptome Abb. 16.3 Häufige Ursachen für eine Bewusstseinsstörung.

sekundäre Läsionen

primäre Läsionen

exogene Ursachen

endogene Ursachen

• Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

• Hirnblutung • Schlaganfall • Entzündung des ZNS (z.B. Meningitis) • Hirntumor • sonstige Ursachen: z.B. hypertensive Krise, Krampfanfall, psychische Ausnahmezustände • Atemstörung (z.B. nach Lungenembolie, schwerem Asthmaanfall) • Kreislaufstörung (z.B. Herzinfarkt, Rhythmusstörung) • Austrocknung • Störung des Wärmehaushalts (z.B. hohes Fieber) • Stoffwechselstörungen (z.B. Hypo-, Hyperglykämie) • sonstige Ursachen: z.B. Allergien, Sepsis, Nierenversagen, Leberversagen

• Trauma (Volumenmangelschock) • Vergiftungen (z.B. Alkohol, Drogen, Kohlenmonoxid) • sonstige Ursachen: z.B. Hitzschlag, Sonnenstich, Unterkühlung, Stromschlag

Eine Bewusstseinsstörung kann sowohl durch Erkrankungen (endogene Ursachen) als auch durch das Einwirken äußerer Faktoren (exogene Ursachen) bedingt sein. Die Ursachen können direkt im Gehirn (primäre Ursachen) oder in anderen Organen oder Körperregionen liegen (sekundäre Ursachen). Erweiterte Maßnahmen • Die weiteren Maßnahmen ergeben sich aus der vermuteten Ursache der Bewusstseinsstörung bzw. den Untersuchungsbefunden. Der Patient wird unter ständiger Kontrolle der Vitalparameter und unter ständiger Absaugbereitschaft (Aspirationsgefahr!) zur weiteren Abklärung in eine Klinik transportiert.

Fallbeispiel Fortsetzung – Eingetrübt Gemäß (c)ABCDE-Schema besteht bei Frau M. vorrangig ein DProblem als Folge einer deutlichen Hypoglykämie. Sie fordern bei der Leitstelle notärztliche Unterstützung nach, die Notärztin kann aber voraussichtlich erst in ca. 10 Minuten vor Ort sein. Ihr Kollege entscheidet daher, von der Notkompetenz Gebrauch zu machen. Unter Monitoring und wiederholter Kontrolle von Atmung und Puls legen Sie gemeinsam einen i. v.-Zugang und sichern ihn. Der Notfallsanitäter trägt Ihnen auf, 2 Ampullen G40 (Glukose 40 % = 4 g) und 2 Ampullen NaCl 0,9 % in 2 Spritzen (à 20 ml) aufzuziehen, die er dann appliziert. Im Anschluss wird mit NaCl 0,9 % nachgespült, da Glukose sehr venenreizend ist. Nach wenigen Minuten klart die Patientin auf. Um eine weitere Glukosezufuhr zu gewährleisten, hängt Ihr Kollege eine Kurzinfusion Glukose 20 % an. Auf dem Weg in die Klinik kontrollieren Sie erneut den BZ. Die Patientin wird während der kompletten Fahrt am Monitor überwacht, ist kreislaufstabil und ansprechbar, sodass aktuell keine weitere Glukose zugeführt werden muss. Frau M. wird in der Klinik aufgenommen, um ihren Diabetes mellitus besser einzustellen.

RETTEN TO GO Bewusstseinsstörung und Bewusstlosigkeit ●







Definition: Bei Bewusstseinsstörungen ist die Klarheit des Bewusstseins eingeschränkt. Sie weisen auf eine akute Störung im Bereich des Gehirns hin und sind oft lebensbedrohlich (z. B. durch Ausfall der Schutzreflexe). Ursachen: u. a. Schädel-Hirn-Trauma, Intoxikationen, Blutungen und Entzündungen des ZNS, Schlagfanfall, hypertensive Krise, Sonnenstich, Kreislauf- und Stoffwechselstörungen ToDo Basis: Eigenschutz beachten (Gefahrenquellen im Umfeld?), Prüfung der Vitalfunktionen (Basischeck), Prüfung der Bewusstseinslage (AVPU-Schema, GCS), Basismonitoring inkl. BZ-Bestimmung (obligat bei Patienten mit Bewusstseinsstörung!), NA nachfordern, engmaschige Verlaufsbeobachtung, bei GCS < 9 Punkte Intubation vorbereiten ToDo erweitert: je nach vermuteter Ursache bzw. Untersuchungsbefunden

16.2.2 Krampfanfälle Grundlagen Definition Epileptische Anfälle und Epilepsie Ein epileptischer Anfall ist eine vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns, bei der entweder im gesamten Gehirn oder nur in bestimmten Bereichen überschießende oder ungewöhnlich stark synchronisierte elektrische Aktivitäten bestehen, die zu motorischen, sensiblen und/oder vegetativen Auffälligkeiten führen. Epilepsien sind Erkrankungen mit wiederholten epileptischen Anfällen infolge einer dauerhaft erhöhten Erregungsbereitschaft des Gehirns.

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Neurologische Notfälle Häufigkeit • Etwa 2–10 % aller Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens einen einmaligen epileptischen Anfall. Von einer Epilepsie sind ca. 0,5–1 % der Bevölkerung betroffen. Ein häufiges Notfallbild sind Fieberkrämpfe (S. 433) bei Säuglingen und Kleinkindern mit einem hoch fieberhaften Infekt.

Abb. 16.4 Zungenbiss nach Grand-mal-Anfall.

Pathophysiologie • Während eines Krampfanfalls sind die Neurone im Gehirn hochsynchron aktiv. Diese elektrischen Entladungen lassen sich im EEG (Elektroenzephalogramm) als epilepsietypische Potenziale darstellen. Die Schwelle für die Auslösung von Krampfanfällen wird als Krampfschwelle bezeichnet: Jedes Gehirn kann mit epileptischen Anfällen reagieren, wenn die Krampfschwelle überschritten wird. Ist die Krampfschwelle niedrig (Auslöser, s. u.), steigt das Anfallsrisiko. Wird sie (z. B. durch die Gabe von Medikamenten gegen eine Epilepsie) angehoben, sinkt es. Auslöser • Typische Umstände, die die Krampfschwelle absenken und damit Anfälle auslösen können, sind u. a.: ● Fieberkrampf (S. 433), v. a. bei Kleinkindern: hohes Fieber bzw. schneller Fieberanstieg ● Schlafmangel ● Hypoglykämie (S. 358) ● diabetisches Koma (S. 356) ● Einnahme bestimmter Medikamente, unregelmäßige Einnahme von Medikamenten gegen Epilepsie ● exzessiver Konsum von Alkohol oder Drogen ● Entzug von Alkohol oder Benzodiazepinen (S. 446) ● schwere körperliche oder emotionale Belastungen ● flackernde Lichtquellen ● Meningitis oder Enzephalitis (S. 432) ● Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) ● Hirntumor ● Schädigung des Gehirns durch Sauerstoffmangel, z. B. bei Kohlenmonoxid-Intoxikation (S. 276) ● Elektrolytstörungen ● Sonnenstich (S. 407) ● Schlaganfall (S. 421) ● Eklampsie (S. 481) in der Spätschwangerschaft

Symptomatik Die Symptome hängen davon ab, welche Hirnregionen von der überschießenden Aktivität betroffen sind und welche elektrischen Veränderungen bestehen. Es werden fokale (partielle) und generalisierte Anfälle unterschieden. Fokale Anfälle • Nur ein Teil des Gehirns ist betroffen. Der Anfall kann sich durch motorische (z. B. Krampfanfall einer Extremität), sensible (z. B. Kribbeln), sensorische (z. B. Geruchseindrücke) und/oder vegetative Symptome äußern und mit oder ohne Bewusstseinsstörung einhergehen. Eine Ausbreitung der Erregungen über das gesamte Gehirn ist möglich (sekundäre Generalisierung). Generalisierte Anfälle • Das gesamte Gehirn ist betroffen. Grand-mal-Anfälle sind die häufigste Anfallsform. Sie gehen mit einem vollständigen Bewusstseinsverlust einher. Die Betroffenen schreien kurz (Initialschrei), stürzen plötzlich hin und der gesamte Körper krampft. Dabei beugen sich zunächst der Kopf, der Rumpf und die Extremitäten (tonische Phase), anschließend geht dies in Streckungen und Zuckungen über (klonische Phase). Typische Begleiterscheinungen sind starker Speichelfluss sowie ein Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck. Während des Anfalls besteht ein Atemstillstand, mitunter mit Zyanose. Häufig nässen die Be-

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Viele Patienten beißen sich während eines Grand-mal-Anfalls in die Zunge. Versuchen Sie keinesfalls, dies durch Einlegen eines Beißkeils oder eines anderen Gegenstands zu verhindern. Aus: Mattle H, Fischer U, Hrsg. Kurzlehrbuch Neurologie. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

troffenen ein und beißen sich in die Zunge (▶ Abb. 16.4). Nach dem Anfall sind sie verwirrt und schläfrig (postiktale Phase), mitunter geht der Anfall in eine längere Schlafphase über (Terminalschlaf). Für die Anfallsphase besteht Amnesie. Neben Grand-mal-Anfällen gibt es eine Vielzahl anderer generalisierter Anfallsformen. Aura • Manche Patienten verspüren unmittelbar vor dem epileptischen Anfall eine Aura. Bei der häufigsten Form, der epigastrischen Aura, steigen merkwürdige, schwer zu beschreibende Gefühle vom Bauch her zur Brust und zum Kopf auf. Möglich sind z. B. auch Kribbelempfindungen, Déjà-vuErlebnisse (Eindruck, etwas bereits erlebt zu haben) sowie Seh-, Geruchs- oder Geschmacksveränderungen. Dauer der Anfälle • Epileptische Anfälle treten plötzlich auf und dauern in der Regel < 2 min. Beim Eintreffen des Rettungsdienstes sind die meisten Anfälle daher bereits vorüber. Hält ein Anfall > 5 min an, spricht man von einem Status epilepticus. Diese Situation ist sehr gefährlich, weil das Gehirn strukturell geschädigt werden kann und zudem die Gefahr einer bedrohlichen Hypoxie durch den Atemstillstand während des Anfalls besteht.

Differenzialdiagnosen ●







Synkope (S. 419): Die Betroffenen sind kurzzeitig bewusstlos und stürzen zu Boden. Mitunter bestehen nach dem Hinstürzen kurzzeitig krampfartige Muskelzuckungen (konvulsive Synkope). Nach dem Sturz sind die Betroffenen im Gegensatz zu einem epileptischen Anfall in der Regel sofort wieder bei Bewusstsein. Pseudosynkope (psychogene Synkope): Es bestehen Symptome einer Synkope, allerdings ohne Minderdurchblutung des Gehirns (z. B. bei starker emotionaler Belastung). Drop Attack (Sturzattacke): Die Betroffenen stürzen plötzlich hin, weil die Beine „nachgeben“. Es besteht kein Bewusstseinsverlust. Die Ursache sind wahrscheinlich fokale Minderdurchblutungen im Hirnstamm. transitorische ischämische Attacke (S. 428): Eine Durchblutungsstörung des Gehirns führt zu neurologischen Ausfallserscheinungen, die sich typischerweise innerhalb weniger Minuten zurückbilden.

Leitsymptome





Dissoziative Krampfanfälle entstehen rein psychogen (ohne organische Veränderungen). Die Symptomatik erinnert an einen Grand-mal-Anfall, allerdings ohne Bewusstseinsverlust oder Einnässen, die Lichtreaktion der Pupillen ist intakt. Die Anfälle dauern tendenziell länger. Affektkrämpfe bei Kleinkindern: Als psychogene Reaktion z. B. auf Schmerzen hört das Kind zu atmen auf, wird zyanotisch und kurzzeitig bewusstlos. Auch kurze Krampfanfälle sind möglich. Nach einigen Sekunden atmet das Kind weiter, das Bewusstsein kehrt zurück und die Zyanose verschwindet. Die Symptomatik wird als sehr bedrohlich wahrgenommen, ist aber letztlich ungefährlich.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen bei nicht mehr krampfenden Patienten • Die meisten Patienten krampfen beim Eintreffen des Rettungsdienstes bereits nicht mehr. Auch diese Patienten sollten (v. a. bei einem erstmaligen Krampf) umgehend diagnostisch abgeklärt werden. Befindet sich der Patient noch in einem postiktalen Dämmerzustand, lagern Sie ihn zur Aspirationsprophylaxe in stabiler Seitenlage. Wichtig ist eine schnelle Traumauntersuchung (S. 190), um Verletzungen (z. B. Schädel-Hirn-Trauma) durch das Krampfgeschehen nicht zu übersehen. Basismaßnahmen bei anhaltendem Krampfgeschehen • Eine Untersuchung nach dem (c)ABCDE-Schema und das Etablieren des Basismonitorings sind meist nicht durchführbar. Der Schutz des Patienten steht im Vordergrund: ● Lagerung und Schutz: – Bringen Sie den Patienten aus dem Gefahrenbereich von Maschinen und anderen Gegenständen. – Schützen Sie den Patienten vor überschießendem Aktivismus anderer. ● i. v.-Zugang, VEL und Medikation vorbereiten ● O2-Gabe: während des Anfalls nicht sinnvoll, da die Atemmuskultur ebenfalls krampft ● Wärmeerhalt sicherstellen ● ggf. Intubation vorbereiten und Material anreichen ● notärztliche Unterstützung anfordern

! Merke Schutz des krampfenden Patienten

Entscheidend ist es, den Patienten ggf. aus einem Gefahrenbereich zu entfernen. Versuchen Sie auf keinen Fall, ihn am Krampfen zu hindern, indem Sie ihn festhalten oder versuchen, den krampfenden Mund offen zu halten bzw. einen „Beißkeil“ oder Ähnliches zur Verhinderung eines Zungenbisses in den Mund einzuführen. Dies führt zu einem erhöhten Aspirationsrisiko und zu unnötigen Verletzungen – sowohl beim Krampfenden als auch bei Ihnen. Erweiterte Maßnahmen • Hält der Krampfanfall beim Eintreffen des Rettungsdienstes an oder beginnt ein neuer Anfall, wird versucht, ihn medikamentös zu durchbrechen. Die Mittel der Wahl sind Benzodiazepine (S. 123), z. B. Midazolam (z. B. Dormicum®). Sofern ein i. v.-Zugang angelegt werden konnte, wird die Substanz i. v. gegeben. Alternativ ist auch eine intranasale, intramuskuläre oder rektale Gabe möglich. Hält der Krampfanfall weiterhin an, werden als notärztliche Maßnahme weitere Substanzen i. v. gegeben. Bei therapieresistentem Status epilepticus wird eine Intubationsnarkose eingeleitet. Zur weiteren Behandlung wird der Patient unter kontinuierlicher Monitorüberwachung in eine Klinik mit neurologischer Abteilung, ggf. auch mit intensivmedizinischen Möglichkeiten, transportiert.

RETTEN TO GO Krampfanfälle ●













Definition: Während eines epileptischen Anfalls sind die elektrischen Aktivitäten im Gehirn überschießend oder ungewöhnlich stark synchronisiert. Bei einer Epilepsie bestehen wiederholte epileptische Anfälle. Auslöser: u. a. hohes Fieber, Schlafmangel, Hypoglykämie, bestimmte Medikamente, Einnahme oder Entzug von Alkohol oder Drogen, Flackerlicht, Verletzungen oder Entzündungen des Gehirns, Schlaganfall Symptomatik: Krampfanfälle können nur einen Teil (fokal) oder das gesamte Gehirn (generalisiert) betreffen. Sie äußern sich häufig durch motorische Störungen (z. B. Zuckungen einzelner Muskelgruppen), möglich sind aber auch sensible, sensorische oder vegetative Symptome. Bei generalisierten Anfällen besteht immer eine Bewusstseinsstörung, bei fokalen Anfällen nur bei einem Teil der Betroffenen. Dauer: meist < 2 min, bei einer Dauer > 5 min: Status epilepticus Die häufigste Anfallsform ist der generalisierte tonischklonische Anfall („Grand mal“), bei dem der Betroffene plötzlich bewusstlos wird (Sturz!). Der Anfall beginnt mit Muskelanspannungen (tonische Phase), die in Muskelzuckungen übergehen (klonische Phase). Während des Anfalls steigen Herzfrequenz und Blutdruck an, es besteht ein Atemstillstand (Hypoxiegefahr!). Häufig fallen im Anschluss ein Zungenbiss und Einnässen auf. Nach dem Anfall sind die Betroffenen verwirrt und schläfrig (postiktale Phase). ToDo Basis bei nicht mehr krampfenden Patienten: Sicherung der Vitalfunktionen, Basismonitoring inkl. BZMessung, schnelle Traumauntersuchung (Verletzungen während des Krampfgeschehens?), O2-Gabe (nach SpO2), symptomorientierte Lagerung ToDo Basis bei anhaltendem Krampfgeschehen: Schutz des Patienten (aus Gefahrenbereich bringen!), keine weiteren Manipulationen, NA nachalarmieren ToDo erweitert: bei anhaltendem Krampfgeschehen medikamentöse Therapie (Benzodiazepine als 1. Wahl), Transport in Klinik mit neurologischer Abteilung

16.2.3 Synkope Definition Synkope Eine Synkope ist ein plötzlicher, kurzzeitiger, spontan reversibler Bewusstseinsverlust durch eine Minderdurchblutung des Gehirns. Sie geht mit einem Tonusverlust der Skelettmuskulatur einher. Synonym • Ohnmacht Risikofaktoren • Generelle Risikofaktoren sind Hitze, ein Volumenmangel (z. B. durch eine zu geringe Trinkmenge), die Einnahme kreislaufwirksamer Medikamente (z. B. Blutdrucksenker, Diuretika) und neurologische Erkrankungen, die die vegetative Gegenregulation beeinträchtigen (z. B. Diabetes mellitus, Multiple Sklerose, Morbus Parkinson). Reflexsynkope • Diese häufigste Form der Synkope (auch vasovagale, neurogene oder reflexvermittelte Synkope) betrifft v. a. junge Menschen. Die Ursache ist wahrscheinlich eine fehlerhafte Reflexantwort, die zu einer Aktivierung des Pa-

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Neurologische Notfälle rasympathikus mit Erweiterung der Blutgefäße und Abfall der Herzfrequenz führt. Die Folge ist ein Blutdruckabfall mit kurzzeitiger Minderdurchblutung des Gehirns. Folgende Gruppen von Auslösern lassen sich differenzieren: ● emotionale Auslöser: z. B. Angst, Erschrecken, Ekel, Anblick von Blut, Schmerzen ● erhöhter Druck im Brust- oder Bauchraum: z. B. Niesen, Pressen beim Stuhlgang oder bei der Miktion, starkes Husten, übermäßige Nahrungsaufnahme, heftiges Lachen ● langes, unbewegtes Stehen, v. a. bei Hitze und/oder schlechter Luft ● Karotissinussyndrom: Eine mechanische Reizung der bei diesen Menschen überempfindlichen Drucksensoren im Sinus caroticus (S. 67), z. B. durch lokalen Druck oder beim Kopfdrehen, wird als Blutdruckanstieg interpretiert und löst eine Aktivierung des Parasympathikus aus. Orthostatische Synkope • Diese zweithäufigste Form der Synkope wird durch einen raschen Wechsel von einer liegenden, sitzenden oder knienden in eine aufrechte Position (Orthostase) ausgelöst. Der Hitzekollaps (S. 405) zählt zu dieser Gruppe. Ein großer Anteil des Blutvolumens verlagert sich in die Beinvenen, der venöse Rückstrom und damit das Herzzeitvolumen nehmen ab und die Durchblutung des Gehirns ist unzureichend. Im Normalfall wird dieser Mechanismus durch eine Aktivierung des Sympathikus und eine Hemmung des Parasympathikus verhindert. Kardiogene Synkope • Die Ursache ist eine Funktionsstörung des Herzens: ● rhythmogene Synkopen: Eine Herzrhythmusstörung (z. B. höhergradiger AV-Block, kurzzeitige Asystolie, kurzzeitiges Kammerflimmern) führt zu einem Abfall des Herzzeitvolumens und damit zu einer zerebralen Minderdurchblutung. Eine Synkope als Folge einer kurzzeitigen Asystolie oder eines kurzzeitigen Kammerflimmerns wird als Adams-Stokes-Anfall bezeichnet. ● ischämisch bedingte Synkopen bei Angina pectoris oder Myokardinfarkt ● mechanisch bedingte Synkopen, z. B. bei Aortenklappenstenose, Perikardtamponade, Spannungspneumothorax

! Merke Harmlos oder nicht?

Reflexsynkopen und orthostatische Synkopen sind (bis auf die Gefahr von sturzbedingten Verletzungen) weitgehend harmlos. Patienten mit kardiogenen Synkopen haben jedoch ein stark erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod.

hätten, ihnen sei „schwarz vor Augen“ oder schwindelig geworden oder alles sei „weit weg“ gewesen. Kurze Muskelzuckungen während der Phase der Bewusstlosigkeit sind nicht selten (konvulsive Synkope). Nach einer Synkope fallen oft eine blasse, kaltschweißige Haut und eine Tachykardie auf (während der Synkope besteht eher eine Bradykardie), die Betroffenen erholen sich jedoch rasch. Für die Zeit des Bewusstseinsverlustes besteht eine Gedächtnislücke (Amnesie). Siehe ▶ Tab. 16.1 für Warnhinweise auf eine potenziell lebensgefährliche kardiogene Synkope. Begleitverletzungen • Der Tonusverlust der Muskulatur führt häufig zu einem Stutz des Betroffenen. Suchen Sie daher gezielt nach Verletzungen, v. a. nach Hinweisen auf ein Schädel-Hirn-Trauma. Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen sind Krampfanfälle, siehe dort auch für weitere Differenzialdiagnosen (S. 418). Blasse, kaltschweißige Haut und eine Tachykardie können auf einen Schock hinweisen: In diesem Fall bessert sich die Symptomatik jedoch nicht spontan innerhalb weniger Minuten. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Vitalfunktionen sichern nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) ● Lagerung je nach Bewusstseinslage: – wacher Patient: Beine hochlagern, klassische Schocklagerung (▶ Abb. 11.1); der Patient soll sich zunächst erholen und dann mit Hilfe langsam aufstehen (Gefahr einer erneuten Synkope bei zu schnellem Aufstehen). – bei Bewusstseinstrübung: stabile Seitenlage ● Basismonitoring (S. 198): Puls, RR, SpO2, EKG; Blutzuckermessung zur Abklärung einer Hypoglykämie ● bei Bewusstlosigkeit oder instabilem Kreislauf notärztliche Unterstützung anfordern Erweiterte Maßnahmen • Hält die Hypotonie an, erhält der Patient einen i. v.-Zugang, eine VEL sowie Sauerstoff (initial 2–4 l/min, Flow je nach SpO2 ggf. anpassen). Für die Versorgung bei anhaltenden Herzrhythmusstörungen siehe das Kapitel Herz-Kreislauf-Notfälle (S. 307). Zur Abklärung sollte der Patient in ein Krankenhaus transportiert werden.

! Merke Krankenhauseinlieferung bei Synkope

Zur Abklärung der Ursache sollten Patienten nach einer Synkope immer in ein Krankenhaus gebracht werden: Nach einer kardiogenen Synkope ist das Sterblichkeitsrisiko (ohne entsprechende therapeutische Maßnahmen) stark erhöht.

Symptomatik • In der Regel sind die Patienten wieder bei Bewusstsein und reagieren vollständig orientiert auf Ansprache, wenn der Rettungsdienst eintrifft. Sie können die Verdachtsdiagnose daher nur aus der Schilderung der Symptome stellen. Häufig berichten die Betroffenen, dass sie vor dem Hinstürzen Ohrensausen oder „weiche Knie“ gehabt

Tab. 16.1 Differenzierung zwischen eher harmlosen und potenziell gefährlichen Synkopen.

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eher orthostatische oder Reflexsynkope

eher kardiale Synkope

Symptome vor der Synkope

Ohrensausen, Schwindel, Schwächegefühl, Übelkeit, Blässe, „schwarz vor den Augen“

Angina-pectoris-Beschwerden, Palpitationen, Atemnot

auslösende Situation

schnelles Aufstehen, langes Stehen, Hitze

körperliche Belastung, Synkope im Liegen oder Sitzen

Vorerkrankungen des Herzens bekannt?

nein

ja

Leitsymptome



RETTEN TO GO Synkope (Ohnmacht) ●









Definition: plötzlicher, kurzzeitiger, spontan reversibler Bewusstseinsverlust, der auf einer Minderdurchblutung des Gehirns beruht und mit einem Tonusverlust der Skelettmuskulatur einhergeht Ursachen: – Reflexsynkope (vasovagale, neurogene, reflexvermittelte Synkope): z. B. durch Erschrecken, Ekel, Schmerzen, langes Stehen, erhöhten Druck im Brust- oder Bauchraum (z. B. Niesen, Pressen beim Stuhlgang), Druck auf den Sinus caroticus – orthostatische Synkope bei raschem Aufstehen – kardiogene (kardial bedingte) Synkope: z. B. durch Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris, Myokardinfarkt oder Herzklappenfehler; Gefahr des plötzlichen Herztodes! Symptomatik: – vor der Synkope: häufig Schwindel, Schwächegefühl, „schwarz vor Augen“; Warnhinweise auf eine potenziell lebensbedrohliche kardiogene Synkope: Anginapectoris-Beschwerden, Palpitationen, Atemnot – während der Synkope: Verletzungsgefahr durch das Hinstürzen, nicht selten kurze Muskelzuckungen – nach der Synkope: in der Regel schnell wieder vollständig orientiert, aber zunächst noch blass, kaltschweißig und tachykard; Amnesie für den Zeitraum der Bewusstlosigkeit ToDo Basis: Sichern der Vitalfunktionen, Lagerung je nach Bewusstseinslage, Basismonitoring (Puls, RR, SpO2, EKG, Blutzuckermessung); bei Bewusstlosigkeit oder instabilem Kreislauf: NA anfordern ToDo erweitert: bei anhaltender Hypotonie i. v.-Zugang, VEL und Sauerstoff (initial 2–4 l/min), Transport in ein Krankenhaus zur weiteren Abklärung

16.2.4 Schlaganfall Grundlagen



hämorrhagischer Insult, 10–15 % aller Schlaganfälle: Nervenzellen werden durch eine arterielle Blutung geschädigt. Bei der intrazerebralen Blutung (S. 428) besteht eine Einblutung direkt in das Hirngewebe, bei der Subarachnoidalblutung (S. 430) eine Blutung in den Zwischenraum zwischen Pia mater und Arachnoidea. Sinus- und Hirnvenenthrombose (S. 430), 1–5 % aller Schlaganfälle: Ein Blutgerinnsel verlegt eine abführende Vene des Gehirns, wodurch sich Blut in das Gehirn zurückstaut und die arterielle Durchblutung eingeschränkt wird.

! Merke Ischämisch oder hämorrhagisch?

Präklinisch ist es nicht möglich, sicher zwischen einem ischämischen oder hämorrhagischen Insult zu unterscheiden. Dies ist nur durch eine zerebrale Bildgebung (CCT oder cMRT) möglich.

Symptomatik Typische Symptomatik • Die Symptome beginnen plötzlich oder nehmen innerhalb von Minuten zu. Die neurologischen Ausfälle hängen davon ab, welches Gefäß bzw. welche Bereiche des Gehirns betroffen sind. Sehr häufige Probleme sind: ● halbseitige Lähmungen, häufig mit Betonung eines Arms und einer Gesichtshälfte ● halbseitige Sensibilitätsstörungen ● Sprachstörungen ● Sehstörungen bzw. Erblindung ● Bewusstseinsstörungen ● Krampfanfälle

! Merke Lähmungen bei Schlaganfall

Bei einem „frischen“ Schlaganfall bestehen schlaffe Lähmungen auf der Seite, die der Läsion gegenüberliegt (kontralateral). Nach einigen Wochen werden die Lähmungen zunehmend spastisch, d. h., die Muskulatur wird zunehmend steif. Geschlechtsspezifische Unterschiede • Frauen präsentieren sich bei einem Schlaganfall häufiger mit eher unspezifischen Beschwerden, z. B. plötzlich einsetzenden Kopf- und Gliederschmerzen, Übelkeit, Verwirrtheit, Harninkontinenz oder Schluckbeschwerden. Dies führt dazu, dass oft nicht an einen Schlaganfall als Ursache gedacht und die Akutversorgung verschleppt wird – mit entsprechend ungünstigen Folgen für die Prognose.

Definition Schlaganfall Als Schlaganfall werden akut („schlagartig“) beginnende neurologische Ausfälle als Folge einer Minderversorgung von Hirnzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen (v. a. Glukose) bezeichnet. Der Begriff „Hirninfarkt“ bedeutet, dass Neurone im Gehirn so stark geschädigt wurden, dass sie absterben.

Versorgung des Patienten

Synonyme • Apoplex, zerebraler Insult, Hirninfarkt, Stroke (englisch)

Grundprinzipien ● Die vorrangigen Ziele des Rettungsdienstes sind das schnelle Erkennen eines Schlaganfalls bei entsprechenden Warnsymptomen, die Stabilisierung der Vitalfunktionen und ein zügiger Transport in die Zielklinik, im Optimalfall eine Stroke-Unit. Die Zielsetzung ist eine Versorgungszeit < 25 min und ein Eintreffen in der Zielklinik nach < 60 min. ● Wesentlich für die klinische Versorgung sind bei der Übergabe des Patienten an die Zielklinik u. a. der Zeitpunkt des Symptombeginns und die Frage, ob der Patient gerinnungshemmende Medikamente einnimmt.

Häufigkeit • Schlaganfälle sind eine der häufigsten Todesursachen und der häufigste Auslöser dauerhafter neurologischer Einschränkungen. Am häufigsten sind über 70-Jährige betroffen, allerdings kommen v. a. hämorrhagische Insulte auch bei jungen Menschen vor, z. B. als Folge von Kokainkonsum. Ursachen ischämischer Insult (S. 428), 80–85 % aller Schlaganfälle: Eine hirnversorgende Arterie wird durch ein Blutgerinnsel verschlossen, die arterielle Versorgung ist unterbrochen.



! Merke „Time is brain“

Entscheidend für die Prognose ist ein früher Therapiebeginn, da dann im betroffenen Hirnareal noch Nervenzellen zu retten sind.

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SCHLAGANFALL

1–5 %

VENÖSE THROMBOSEN Der Begriff „Schlaganfall“ beschreibt plötzlich beginnende neurologische Ausfälle und damit eine bestimmte Symptomatik. Sie wird hervorgerufen durch eine Minderversorgung von Hirnzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen (v.a. Glukose) bzw. ihrer direkten Schädigung durch eine Blutung (Hämorrhagie). Ob eine Blutung oder eine Ischämie die Symptome ausgelöst hat, kann erst in der Klinik mithilfe bildgebender Verfahren festgestellt werden.

BLUTUNG

ISCHÄMIE

INTRAZEREBRALE BLUTUNG

10–15 %

BLUTUNGEN

80–85 % ISCHÄMIE

VENÖSE THROMBOSE E

Atherosklerose der Hirnarterien ri in Verbindung mit Hypertonus bzw.. einer hypertensiven Entgleisung, is Schädel-Hirn-Trauma, de el Hirn-Tra Drogenkonsum

Ruptur eines Aneurysmas einer Arterie im Subarachnoidalraum, Schädel-Hirn-Trauma

Einblutung direkt ins Hirngewebe

SUBARACHNOIDALBLUTUNG Pia mater Arachnoidea Dura mater Schädelknochen

Einblutung in den Zwischenraum zwischen Pia mater und Arachnoidea

SINUS-/HIRNVENENTHROMBOSE gestörter venöser Abfluss → Anstieg des Gewebedrucks → Abnahme des arteriellen Blutflusses → lokale Ischämie evtl. Hirnödem mit Stauungsblutung

BLUTUNG (HÄMORRHAGISCHER INSULT)

MINDERDURCHBLUTUNG (ISCHÄMISCHER INSULT)

TRANSITORISCHE ISCHÄMISCHE ATTACKE (TIA) Symptome bilden sich innerhalb von 1 h zurück → hohe Gefahr einer erneuten Ischämie

SYMPTOME, DIAGNOSTIK UND THERAPIE HIRNINFARKT

Die Symptome beginnen plötzlich oder nehmen innerhalb von Minuten bis Stunden zu. Ihre Ausprägung hängt davon ab, welches Gefäß bzw. welcher Bereich des Gehirns betroffen ist. Häufig sind:

schlaffe Halbseitenlähmung, besonders Arme oder Gesicht betroffen

Gefäßverschluss

halbseitige Sensibilitätsstörung

Atherosklerose hirnversorgender Arterien Sprachstörung

Sehstörung

Embolie

(Vernichtungs-) Kopfschmerz, Krampfanfall, Apraxie

Bewusstseinsstörungen, unspezifische Beschwerden

THERAPIEPRINZIP: ZEIT IST HIRN! Lagerung, Zugänge und Monitoring auf nicht betroffener Seite! Beginn der Symptomatik dokumentieren!

Karotisstenose (Ablösung einer atherosklerotischen Plaque)

Möglichst früher Therapiebeginn: → Schlaganfall erkennen! → Vitalfunktionen sichern! Wichtig: GCS, BE-FAST-Test, Pupillenstatus, BZ, Prüfen auf Meningismus, Hinweise auf Krampfanfall → zügiger Transport! Load and go! Golden-Hour-Disease!

STROKE-UNIT Thrombenbildung im Herzen (z.B. bei Vorhofflimmern)

Bei Übergabe Beginn der Symptomatik mitteilen!

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

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Neurologische Notfälle Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring: 12-Kanal-EKG, RR, Puls, Temperatur, Atemfrequenz, Blutzucker-Messung, SpO2 ● Atemwege freihalten ● Lagerung: Oberkörperhochlagerung (30°), Kopf in Mittelposition ● i. v.-Zugang, VEL und Medikation vorbereiten ● O2-Gabe bei SpO2 < 95 % ● Wärmeerhalt sicherstellen ● Patienten betreuen und beruhigen ● bei vitaler Bedrohung notärztliche Unterstützung anfordern, v. a. bei stark erhöhtem Blutdruck, lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen oder deutlicher Vigilanzminderung

ACHTUNG Lagern Sie den Patienten auf die nicht betroffene Seite und legen Sie auch das Monitoring und den i. v.-Zugang auf dieser Seite an. Wichtig ist die Dokumentation des Beginns der Symptomatik, u. a. für die Versorgung in der Zielklinik. Der BE-FASTTest (S. 414) hilft bei der schnellen Einschätzung eines Verdachts auf einen Schlaganfall. Erweiterte Maßnahmen • Bei stark erhöhtem Blutdruck wird der Blutdruck langsam (!) abgesenkt. Nach der Stabilisierung der Vitalparameter wird der Patient möglichst zügig, mit Sonder- und Wegerechten, in die Zielklinik transportiert, möglichst zu einer Stroke-Unit (Voranmeldung): Diese Abteilungen sind auf die Akutversorgung von Schlaganfällen spezialisiert, was eine optimale, interdisziplinäre Versorgung (z. B. neurologisch, internistisch, radiologisch) ermöglicht. Auch Fachkräfte für die frühe Mobilisation und Rehabilitation stehen zur Verfügung. In manchen Städten sind Mobile Stroke-Units verfügbar, speziell ausgestattete RTWs mit mobilem CCT, Möglichkeiten zur Labordiagnostik und zur Übermittlung der Befunde an die Zielklinik sowie mit der medikamentösen Ausstattung zur präklinischen Thrombolyse (S. 141). Dies kann den Zeitraum bis zum Therapiebeginn deutlich verkürzen und damit das neurologische Outcome verbessern.

RETTEN TO GO





ToDo Basis: Oberkörperhochlagerung (30°), Kopf in Mittelposition; Monitoring, i. v.-Zugang und Lagerung auf nicht betroffener Seite, O2-Gabe bei SpO2 < 95 %, bei vitaler Bedrohung NA nachfordern, Dokumentation des Symptombeginns ToDo erweitert: bei stark erhöhtem Blutdruck langsame medikamentöse Absenkung; zügiger Transport in Klinik, möglichst mit Stroke-Unit

16.2.5 Weitere Leitsymptome Meningismus Definition Meningismus Die Hirnhäute sind gereizt, was bei einer Dehnung zu einer schmerzhaften Nackensteifigkeit führt. Versuchen Sie, den Kopf des liegenden Patienten in Richtung Brustbein zu beugen, löst dies Schmerzen und Widerstand aus oder ist gar nicht möglich. Ursachen und Begleitsymptome ● Meningitis (S. 432): schlechter Allgemeinzustand, hohes Fieber, Kopf- und Nackenschmerzen, Verwirrtheit, zunehmende Bewusstseinsstörungen, Übelkeit, Erbrechen ● Subarachnoidalblutung (S. 430): plötzlicher Beginn mit „Vernichtungskopfschmerz“ im Hinterkopf, Erbrechen, evtl. Bewusstseinsstörungen, neurologische Ausfälle ● Sonnenstich (S. 407): längere direkte Sonneneinstrahlung auf den Kopf, roter und heißer Kopf, Sonnenbrand, Kopfund Nackenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, evtl. Bewusstseinsstörungen und Krampfanfälle Anamnese ● Hat der Patient (hohes) Fieber? ● Haben die Beschwerden schlagartig (SAB) oder allmählich (Meningitis) begonnen? ● Bestehen neurologische Ausfälle oder eine Bewusstseinstrübung? ● War der Patient starker Sonneneinstrahlung ausgesetzt? Untersuchung • Der Patient liegt mit gestreckten Beinen auf dem Rücken, Sie beugen seinen Kopf in Richtung Brustbein (▶ Abb. 16.5). Bei Gesunden ist dies problemlos möglich, bei Meningismus hingegen gar nicht oder nur unter Schmerzen. Mitunter ziehen die Patienten reflektorisch die Beine an.

Schlaganfall (zerebraler Insult, Hirninfarkt) ●







424

Definition: akut beginnende neurologische Ausfälle als Folge einer Minderversorgung von Hirnzellen Ursachen: am häufigsten ischämischer Insult durch ein Gerinnsel in einer hirnversorgenden Arterie; seltener Hirnblutungen (hämorrhagischer Insult) sowie Sinusoder Hirnvenenthrombosen Symptomatik: plötzlich beginnende neurologische Ausfälle, abhängig von der betroffenen Hirnregion; häufig halbseitige Lähmungen (v. a. Arme und Gesicht) und Sensibilitätsstörungen, Sprach-, Seh- oder Bewusstseinsstörungen, Krampfanfälle Time ist brain: Folgende Punkte sind entscheidend für die Prognose der Patienten: – schnelles Erkennen eines Schlaganfalls – frühes Einleiten von Therapiemaßnahmen – zügiger Transport in die Klinik, möglichst mit StrokeUnit (Voranmeldung!)

Abb. 16.5 Prüfung auf Meningismus.

Schmerzen oder ein Widerstand bei passiver Beugung des Kopfes in Richtung Brustbein weisen auf eine Hirnhautreizung hin. Foto: © K. Oborny/Thieme

Leitsymptome Differenzialdiagnosen • Auch ein Bandscheibenvorfall (S. 430) oder eine Verletzung der Halswirbelsäule (S. 384) kann zu Schmerzen bei der Beugung der Halswirbelsäule führen. Ein leichtes Ziehen oder „unangenehmes Gefühl“ bei der Beugung des Kopfes ist ein Hinweis auf muskuläre Verspannungen oder degenerative Prozesse.

Abb. 16.6 Primäre Kopfschmerzerkrankungen. Migräneattacken

Migräneintervall

Schmerzphase Prodromalphase

Kopfschmerzen

Rückbildungsphase

Aura Übelkeit

Lichtscheu

Kopfschmerzen sind ein sehr häufiges und meistens harmloses Problem mit vielfältigen organischen und psychischen Ursachen – allerdings können sie auch auf bedrohliche körperliche Erkrankungen hinweisen (z. B. Hirnblutung, Hirntumor). Eine sorgfältige Abklärung ist daher wichtig! Einteilung und Ursachen • Bei primären Kopfschmerzerkrankungen bestehen keine organischen bzw. strukturellen Veränderungen. ● Migräne (▶ Abb. 16.6a): starke bis sehr starke, pochendpulsierende, halbseitige Kopfschmerzen, häufig begleitet von Übelkeit und Erbrechen sowie einer Überempfindlichkeit gegen Licht und Geräusche. Die Schmerzepisoden dauern 4–72 Stunden, die Schmerzen nehmen bei körperlicher Belastung zu; z. T. Aura mit vorübergehenden neurologischen Ausfällen vor Beginn der Kopfschmerzen ● Spannungskopfschmerzen (▶ Abb. 16.6b): dumpfe, drückende, leichte bis mittelstarke Schmerzen, die bei Entspannung, Ablenkung oder Bewegung abnehmen; keine Übelkeit oder neurologischen Ausfälle ● Cluster-Kopfschmerzen (▶ Abb. 16.6c): streng einseitige, sehr starke Schmerzen im Bereich eines Auges, begleitend vegetative Symptome, z. B. Rötung des Auges, starker Tränenfluss, Miosis und/oder starkes Schwitzen; die Attacken beginnen meistens nachts und dauern 15–180 Minuten. Sekundäre Kopfschmerzen sind die Folge organischer Erkrankungen. ● Hirntumoren: v. a. morgendliches Erbrechen, Persönlichkeitsveränderungen, neurologische Ausfälle ● Meningitis (S. 432): Fieber, schlechter Allgemeinzustand, Meningismus, zunehmende Bewusstseinsstörungen, Lichtscheu, Übelkeit/Erbrechen ● Subarachnoidalblutung (S. 430): plötzlicher Beginn mit „Vernichtungskopfschmerz“ im Bereich des Hinterkopfs, Erbrechen, Meningismus, evtl. Bewusstseinsstörungen, neurologische Ausfälle ● Glaukomanfall (S. 472): plötzliche, einseitige Sehminderung, Übelkeit, rotes Auge, tastbar steinharter Bulbus, Eintrübung der Hornhaut ● chronisches Subduralhämatom (S. 380): zunehmende Verwirrtheit Tage bis Wochen nach einer Kopfverletzung ● hypertensive Entgleisung (S. 310): erhöhter Blutdruck, Schwindel, Sehstörungen, geröteter Kopf, Nasenbluten, Bewusstseinsstörungen, ggf. weitere körperliche Symptome ● Sonnenstich (S. 407): längere direkte Sonneneinstrahlung auf den Kopf, roter und heißer Kopf, Sonnenbrand, Meningismus, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, evtl. Bewusstseinsstörungen und Krampfanfälle Auch Störungen im Bereich der Zähne, der Nasennebenhöhlen, des Kiefers und der Hals- und Nackenmuskulatur sowie Allgemeininfektionen (z. B. grippaler Infekt) oder Impfungen können Kopfschmerzen auslösen.

a

anhaltend mit wechselnder Intensität, tagsüber Auslösefaktoren • Depression • Angst • Stress • Lärm • Alkohol • Medikamente

b

Cluster

Auslösefaktoren möglich

Ptosis, Miosis, Augenrötung Augentränen Nasenlaufen

c Bei primären Kopfschmerzerkrankungen sind keine organischen Veränderungen nachweisbar. a Migräne-Kopfschmerzen b Spannungskopfschmerzen c Cluster-Kopfschmerzen Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

ACHTUNG Insbesondere für den Patienten „neue“ oder andersartige Kopfschmerzen sind ein ernstzunehmendes Symptom, das auf lebensbedrohliche Erkrankungen hinweisen kann! Wichtige Fragen ● Wie ist der Schmerzcharakter? ● Wo sind die Schmerzen (z. B. ein- oder beidseitig)? ● Wie stark sind die Schmerzen (z. B. vernichtender Schmerz → Verdacht auf SAB)? ● Sind Vorerkrankungen bekannt (z. B. Migräne, Bluthochdruck, Tumorerkrankung)? ● Was hat der Patient vor Beginn der Kopfschmerzen gemacht (z. B. körperliche Belastung, Sturz)? 425

16

Neurologische Notfälle







Hat sich der Patient in den letzten Tagen oder Wochen am Kopf verletzt (→ Subduralhämatom)? Bestehen weitere Symptome (z. B. Übelkeit, Fieber, neurologische Ausfälle)? Besteht eine Bewusstseinstrübung?

Rückenschmerzen Einteilung und Ursachen • Rückenschmerzen sind ein sehr häufiges Symptom mit vielfältigen Ursachen. Neben der Einteilung in akute und chronische Rückenschmerzen ist zu unterscheiden, ob die Schmerzen tatsächlich durch Erkrankungen an der Wirbelsäule hervorgerufen werden, z. B. durch einen Bandscheibenvorfall (S. 430), oder ob deren Ursache woanders liegt, der Schmerz aber in den Rücken projiziert wird, z. B. bei einem Herzinfarkt oder einer Aortendissektion. Wichtige Fragen Ist der Symptomatik ein besonderes Ereignis (z. B. Heben schwerer Lasten, „falsche“ Bewegung?) oder ein Trauma vorausgegangen? ● Wo ist der Schmerz (z. B. oberer oder unterer Rücken)? ● Strahlt der Schmerz aus (z. B. bei Bandscheibenvorfall)? ● Wie stark sind die Schmerzen? ● Wie ist der Schmerzcharakter? ● Ist der Schmerz bewegungsabhängig? ● Bestehen Lähmungen, Sensibilitätsstörungen und/oder Blasen- und Mastdarmstörungen (z. B. Kaudasyndrom)? ● Sind Vorerkrankungen bekannt? ●

! Tipp Rückenschmerzen vermeiden

Durch das Tragen und Heben schwerer Lasten haben Sie als Mitarbeitender im Rettungsdienst ein erhöhtes Risiko, selbst Rückenschmerzen zu entwickeln. Wichtig sind hier prophylaktische Maßnahmen, z. B. rückenschonendes Heben und Tragen (S. 237) und Methoden der Kinästhetik (S. 240).

Lähmungen Definition Lähmungen Der Patient kann einzelne Muskeln oder ganze Muskelgruppen kaum oder gar nicht willkürlich bewegen. Unterschieden werden verschiedene Grade einer unvollständigen Lähmung (Parese) sowie vollständige Lähmungen (Plegien oder Paralysen). Zentrale Lähmungen • Eine Schädigung im Gehirn, z. B. durch einen Schlaganfall (S. 421), führt aufgrund der Kreuzung der motorischen Bahnen zu einer Lähmung auf der gegenüberliegenden Körperseite (z. B. Schädigung links → Lähmung rechts). Schädigungen im Hirnstamm oder Rückenmark (z. B. durch ein Wirbelsäulentrauma) bedingen Lähmungen auf der gleichen Körperseite. Im Akutstadium sind die Lähmungen schlaff, nach etwa 6 Wochen werden sie allmählich spastisch (Steifheit durch erhöhten Muskeltonus). Die Muskeleigenreflexe fehlen zu Beginn, im weiteren Verlauf sind sie gesteigert. Periphere Lähmungen • Verletzungen oder Erkrankungen der peripheren Nerven führen zu schlaffen Lähmungen mit abgeschwächten Muskeleigenreflexen. Typische Ursachen sind Bandscheibenvorfälle oder Verletzungen peripherer Nerven. Anamnese ● Hat sich die Lähmung akut (z. B. Schlaganfall) oder allmählich (z. B. Hirntumor) entwickelt? ● Bestehen begleitend sensible Störungen? 426

● ●

Sind die Lähmungen schlaff oder spastisch? Ist ein Trauma bekannt?

Störungen der Sensibilität und Wahrnehmung Störungen der Sinnesorgane • Relevant für den Rettungsdienst sind insbesondere Schwindel (S. 452), ein akuter Sehverlust (S. 460) und ein akuter Hörverlust (S. 452). Sensibilitätsstörungen • Die Gefühlsqualitäten sind beeinträchtigt, z. B. Berührung oder Schmerz. Schädigungen im Gehirn, z. B. durch einen Schlaganfall, führen zu einem Sensibilitätsausfall auf der gegenüberliegenden Körperseite. Bei einem kompletten Querschnitt des Rückenmarks sind alle sensiblen Qualitäten unterhalb der Läsion gestört. Sensibilitätsstörungen aufgrund einer zentralen Schädigung gehen oft mit Lähmungen einher. Bei Nervenwurzelschädigungen, z. B. durch einen Bandscheibenvorfall, sind die Sensibilitätsstörungen auf ein Dermatom beschränkt, also auf das sensible Versorgungsgebiet der betroffenen Nervenwurzel.

Hirndruck- und Einklemmungszeichen Definition Hirndruck Der Hirndruck oder intrakranielle Druck ist der Druck innerhalb des Schädels. Er steigt bei Blutungen in die Schädelhöhle oder bei einem Anschwellen des Hirngewebes (Hirnödem) an, da sich das Gewebe nicht ausdehnen kann. Ursachen Hirnblutungen (S. 428) ● Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) ● Sinusvenenthrombose (S. 430) ● fortgeschrittene Hirntumoren ● Meningitis und Enzephalitis (S. 432) ● akutes Nierenversagen (S. 497) mit Überwässerung ● ausgeprägte Hyponatriämie (S. 501) ● Hitzschlag (S. 406), Sonnenstich (S. 407) ●

Symptomatik • Je nachdem, wie schnell der Hirndruck ansteigt, entwickelt sich die Symptomatik eher schleichend (z. B. bei Hirntumoren) oder akut (z. B. bei schwerem Schädel-Hirn-Trauma). Hinweise auf einen Hirndruckanstieg sind die Hirndruckzeichen (▶ Abb. 16.7): ● frühmorgendliches, schwallartiges Nüchternerbrechen (v. a. bei Kindern) ● Übelkeit, Appetitlosigkeit ● Kopfschmerzen, Schwindel und Sehstörungen (z. B. Doppelbilder) ● Anstieg der Körpertemperatur (zentrales Fieber) ● erweiterte, lichtstarre Pupille auf der Seite der Schädigung Möglich sind auch psychische Veränderungen(z. B. Aggressivität) und Bewusstseinsstörungen. Bei stark erhöhtem Hirndruck werden Teile des Gehirns im Hinterhauptsloch eingeklemmt. Dadurch wird der Hirnstamm, und damit u. a. das Atem- und das Kreislaufzentrum, unzureichend durchblutet. Alarmzeichen für eine solche Einklemmung sind (▶ Abb. 16.7): ● Cushing-Triade: systolischer Blutdruckanstieg, Bradykardie und Atemstörungen bis zum Atemstillstand ● schwallartiges Erbrechen ● mittelweite oder weite, entrundete, lichtstarre Pupillen ● Divergenzstellung der Bulbi: Die Augen schielen nach außen.

Notfälle und Erkrankungen Abb. 16.7 Hirndruck- und Einklemmungszeichen.

Kopfschmerzen, Schwindel, Bewusstseinsstörungen, Koma Sehstörungen Übelkeit, Nüchternerbrechen, Appetitlosigkeit

mittelweite oder entrundete Pupillen, Divergenzstellung der Bulbi

RETTEN TO GO Weitere neurologische Leitsymptome ●

Krampfanfälle ●

fehlende Reaktion auf Schmerzreize ●

Hypertonie Bradykardie Störung der Atemfunktion



Druckpuls

3 5 3 6 3 7 3 8 3 9 4 0 4 1 °C

4 2

Anstieg der KörpertemEinklemmungszeichen peratur (zentrales Fieber) Cushing-Triade



Ein starker Anstieg des Hirndrucks führt zur Einklemmung des Kleinhirns und zur Kompression des Hirnstamms. Dies manifestiert sich durch Einklemmungszeichen, z. B. die Cushing-Triade. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 ● ●





Ausfall der Hirnstammreflexe (Korneal-, Pupillen-, Würgeund Hustenreflex) Koma, Strecksynergismen oder fehlende Reaktionen auf Schmerzreize Versagen der Atmungs- und Kreislaufreaktion

Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Anamnese nach SAMPLER-Schema ● Lagerung: – bewusstseinsklare Patienten: Oberkörperhochlagerung – bewusstlose Patienten (Atemwege noch nicht gesichert): stabile Seitenlage ● Basismonitoring: RR, Puls, SpO2 ● O2-Gabe: zügig je nach SpO2, Flow im Verlauf ggf. anpassen (Ziel-SpO2: 92–96 %) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Wärmeerhalt, psychische Betreuung ● engmaschige Verlaufsbeobachtung anhand des GCS und Dokumentation, bei GCS < 9 Punkte Intubation vorbereiten ● i. v.-Zugang, VEL und ggf. Medikamente vorbereiten ● zügig den Transport vorbereiten

Meningismus: schmerzhafte „Nackensteifigkeit“, z. B. bei Meningitis, Subarachnoidalblutung oder Sonnenstich Kopfschmerzen: sehr häufiges und meist harmloses Problem mit vielfältigen Ursachen; Unterscheidung zwischen primären Kopfschmerzerkrankungen (z. B. Spannungskopfschmerzen, Migräne) und sekundären Kopfschmerzen als Folge einer (lebensbedrohlichen) organischen Erkrankung (z. B. Hirntumor, Meningitis, Hirnblutung, hypertensive Entgleisung) Rückenschmerzen: Wichtig ist die Unterscheidung, ob die Schmerzen die Folge einer Erkrankungen an der Wirbelsäule sind (z. B. Bandscheibenvorfall) oder ob der Schmerz von einem inneren Organ ausgeht und in den Rücken projiziert wird (z. B. Herzinfarkt, Aortenruptur). Lähmungen: Je nach Schädigungsort werden zentrale und periphere Lähmungen unterschieden. Bei einer Schädigung im Gehirn resultiert eine Lähmung auf der gegenüberliegenden Körperhälfte (anfangs schlaff, im Verlauf spastisch). Sensibilitäts- und Wahrnehmungsstörungen: Störungen der Sinnesorgane sind z. B. Schwindel, akuter Sehoder Hörverlust. Bei Sensibilitätsstörungen sind die Gefühlsqualitäten beeinträchtigt (z. B. Berührung, Schmerz, Vibration). Typische Ursachen sind Verletzungen, Schlaganfälle und Bandscheibenvorfälle. Hirndruck- und Einklemmungszeichen: Ein erhöhter Hirndruck entsteht durch eine Volumenzunahme im Gehirn. Bei stark erhöhtem Hirndruck werden Teile des Gehirns eingeklemmt. – Ursachen: u. a. Hirnblutung, Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumor, Meningitis oder Enzephalitis, Überwässerung des Körpers – Symptomatik: Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen; Alarmzeichen einer Einklemmung: Blutdruckanstieg, Atemstörungen, Bradykardie, weite, lichtstarre Pupillen, Streck- oder Beugesynergismen, schwallartiges Erbrechen, Bewusstseinsstörungen – ToDo: engmaschige Kontrolle der Vitalparameter, Atemwegsmanagement, Transport in eine Klinik mit neurochirurgischer Abteilung

16.3 Notfälle und Erkrankungen 16.3.1 Neurogener Schock Siehe das Kapitel Schock (S. 293).

Erweiterte Maßnahmen • Die Maßnahmen ergeben sich aus der vermuteten Ursache der Hirndruckerhöhung. Im Fokus steht das Atemwegsmanagement. Der Patient wird zügig undunter ständiger Überwachung in eine geeignete Klinik mit cCT, Intensivstation und Neurochirurgie transportiert.

16.3.2 Verletzungen von Gehirn und Rückenmark Siehe die Kapitel Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) und Wirbelsäulentrauma (S. 383).

427

16

Neurologische Notfälle

16.3.3 Hirnischämie und Hirninfarkt Definitionen Hirnischämie und -infarkt Bei einer Hirnischämie (Ischämie = Minderdurchblutung) besteht eine akute Durchblutungsstörung und in der Folge ein Sauerstoffmangel der Nervenzellen. Dadurch werden diese schnell geschädigt bzw. sterben im weiteren Verlauf ab (Hirninfarkt). Die Folge sind akut beginnende neurologische Defizite. Synonyme • zerebrale Ischämie, ischämischer Hirninfarkt, ischämischer Insult Häufigkeit, Ursachen und Risikofaktoren • Ischämische Infarkte sind die mit Abstand häufigste Ursache eines Schlaganfalls und generell eine der häufigsten Todesursachen im globalen Norden. Bei der Mehrzahl der Betroffenen entwickelt sich der Insult als Folge einer fortgeschrittenen Arteriosklerose (S. 300) mit den entsprechenden Risikofaktoren. Davon unabhängige Risikofaktoren sind u. a. der Konsum von Kokain, eine erhöhte Thromboseneigung (S. 314) und Vorhofflimmern. Folgende Ursachen für eine Minderdurchblutung von Gehirnarealen sind zu unterscheiden: ● embolischer Infarkt: Ein Blutgerinnsel oder ein Teil einer arteriosklerotischen Plaque löst sich ab und verlegt ein hirnversorgendes Gefäß. Die Gerinnsel stammen häufig aus dem linken Vorhof, wenn dieser aufgrund eines Vorhofflimmerns nicht mehr effektiv kontrahiert. ● lokaler Arterienverschluss (mikroangiopathischer Infarkt): Eine hirnversorgende Arterie wird kritisch eingeengt, z. B. durch eine fortgeschrittene Arteriosklerose. ● makroangiopathischer Infarkt: Ein großes hirnversorgendes Gefäß (v. a. A. carotis interna) ist durch eine Arteriosklerose so stark eingeengt, dass die Durchblutung von Gehirnarealen kritisch abnimmt. ● zerebrale Hypoperfusion: Die gesamte Durchblutung des Gehirns ist kritisch reduziert, z. B. durch einen schweren Schock oder einen Herz-Kreislauf-Stillstand. ● kryptogene Infarkte: Die Ursache ist nicht feststellbar. Symptomatik des Hirninfarkts • Die Betroffenen zeigen die Symptomatik eines Schlaganfalls (S. 421) mit akut aufgetretenen neurologischen Ausfällen. Die Verteilung der Ausfälle hängt davon ab, welches Gefäß verlegt ist. Am häufigsten sind die A. carotis und die A. cerebri media (Mediainfarkt) betroffen, die typischen Folgen sind arm- und gesichtsbetonte Lähmungen und Sensibilitätsstörungen. Insbesondere wiederholte ischämische Hirninfarkte führen häufig zu einer Einschränkung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit und damit zu einer vaskulären Demenz (S. 444). Verlauf der Symptomatik transitorische ischämische Attacke (TIA): Die Durchblutungsstörung ist vorübergehend, die neurologischen Defizite bilden sich ohne weitere Maßnahmen vollständig zurück, meist innerhalb einiger Minuten. Eine TIA ist ein Warnhinweis auf einen Hirninfarkt: Etwa 30 % aller Patienten mit TIA entwickeln in den nächsten Tagen oder Wochen bleibende neurologische Ausfälle. ● Hirninfarkt: Die neurologischen Ausfälle bilden sich nicht oder nur unvollständig zurück. ●

Zentralarterienverschluss • Funktionell ist die Netzhaut des Auges ein Teil des Gehirns. Sie wird arteriell über die A. centralis retinae (Zentralarterie) versorgt. Ein Verschluss dieser Arterie führt zum Absterben der lichtempfindlichen Photorezeptoren und damit zur Erblindung des betroffenen Auges. 428

Eine TIA der Retina, also eine vorübergehende Erblindung, wird als Amaurosis fugax bezeichnet und ist ebenfalls ein Warnsignal für bleibende Ausfälle.

ACHTUNG Auch wenn sich neurologische Ausfälle bei einer TIA innerhalb weniger Minuten wieder vollständig zurückbilden, sollte sich der Betroffene umgehend in einem Krankenhaus vorstellen bzw. zu einer Stroke-Unit transportiert werden. Eine solche Konstellation muss umgehend abgeklärt werden, um bleibende Schäden zu verhindern. Versorgung des Patienten • Siehe Versorgung bei Schlaganfall (S. 421). Innerhalb bestimmter Zeitfenster nach Symptombeginn wird in der Zielklinik versucht, die Durchblutung der geschädigten Areale wiederherzustellen, z. B. durch eine medikamentöse Thrombolyse (S. 141) innerhalb der ersten 4,5 Stunden. Für die Prognose ist daher ein zügiger Transport in eine geeignete Klinik entscheidend („Time is brain“)!

RETTEN TO GO Hirnischämie und Hirninfarkt ●







Definition: akute Durchblutungsstörung mit O2-Mangel und zunehmender Schädigung der Nervenzellen des Gehirns; sobald Nervengewebe abgestorben ist, spricht man von einem Hirninfarkt. wichtigste Ursache: Arteriosklerose der hirnversorgenden Arterien Symptomatik: Die Betroffenen zeigen die Symptome eines Schlaganfalls mit akut aufgetretenen neurologischen Ausfällen. Bei einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) bilden sich die Symptome innerhalb weniger Minuten wieder zurück. Bei unvollständiger oder fehlender Rückbildung der Ausfälle handelt es sich um einen Hirninfarkt. ToDo: zügiger Transport in eine Klinik mit Stroke-Unit, um möglichst innerhalb bestimmter Zeitfenster die Durchblutung wiederherzustellen

16.3.4 Hirnblutungen Definition Hirnblutungen Eine Hirnblutung ist eine Blutung innerhalb des knöchernen Schädels durch die Zerreißung von Gefäßen innerhalb des Schädels. Synonym • Intrakranielle Blutungen Formen • Je nach Lokalisation der Blutung in Bezug auf das Gehirn und seine Hüllen werden verschiedene Formen von Hirnblutungen unterschieden (▶ Abb. 16.8).

! Merke Nicht stillbare Blutung

Hirnblutungen lassen sich grundsätzlich nicht durch Verbände oder andere blutstillende Maßnahmen stoppen, sondern kommen nur spontan aufgrund der einsetzenden Gerinnung zum Stillstand.

Intrazerebrale Blutungen (ICB) Definition Intrazerebrale Blutung Bei einer ICB reißen hirnversorgende Arterien und verursachen eine Einblutung (Hämorrhagie) direkt in das Hirngewebe (▶ Abb. 16.8a). Synonym • Intraparenchymatöse Blutungen

Notfälle und Erkrankungen Abb. 16.8 Intrakranielle Blutungen.

rupturiertes Aneurysma einer Hirnbasisarterie

A. cerebri media

a

Sinus sphenoidalis

Subarachnoidalraum Dura mater b

Brückenvene Dura mater

Kalotte

Sinus sagittalis superior

Ruptur der A. meningea media Fraktur

subdurales Hämatom

Arachnoidea Dura mater

Sinus sagittalis inferior

epidurales Hämatom

Subarachnoidalraum c

d

a Intrazerebrale Blutung (ICB): Blut dringt direkt in das Hirngewebe ein. b Subarachnoidalblutung (SAB): Blut tritt in den Subarachnoidalraum zwischen Arachnoidea und Pia mater über. Ursache ist meist die Ruptur eines Aneurysmas. c Subdurales Hämatom (SDH): Blut sammelt sich zwischen Dura mater und Arachnoidea an, meist als Folge eines Schädel-HirnTraumas. d Epidurales Hämatom (EDH): Blut sammelt sich zwischen dem Schädelknochen und der Dura mater an, auch hier meist als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas. Aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie. Illustrationen von Voll M und Wesker K. 6. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022

Ursachen und Risikofaktoren • Die häufigste Ursache ist eine Arteriosklerose (S. 300) der Hirnarterien in Verbindung mit einer arteriellen Hypertonie. Der typische Auslöser ist eine hypertensive Entgleisung (S. 310), oft in Verbindung mit körperlicher Belastung (z. B. starkes Pressen beim Stuhlgang, Geschlechtsverkehr, starkes Niesen oder Husten). Weitere Ursachen sind Veränderungen der hirnversorgenden Arterien (z. B. durch Gefäßentzündungen), Gerinnungsstörungen (auch durch gerinnungshemmende Medikamente!), ein Schädel-Hirn-Trauma, der Konsum von Drogen (v. a. Kokain, Amphetamine) oder ein Hirntumor. Symptomatik • Die Blutungen schädigen das Hirngewebe im betroffenen Bereich und verursachen in Abhängigkeit von ihrer Lokalisation neurologische Ausfälle. Die Symptomatik nimmt (im Unterschied zu ischämischen Insulten) typischerweise über Minuten bis Stunden zu. Häufig sind vegetative Symptome und Bewusstseinsstörungen zu beobachten, auch Krampfanfälle sind möglich. Das Ausmaß der Blutung reicht von kleinsten Blutungen bis zu Massenblutungen, die das Hirngewebe massiv verdrängen und zu einem Anstieg des Hirndrucks mit Einklemmungsgefahr (S. 426) führen: Hypertensive Massenblutungen präsentieren sich

häufig als akut lebensbedrohliche Situation mit Bewusstlosigkeit und Bedrohung der Vitalfunktionen. Versorgung des Patienten • Siehe Schlaganfall (S. 421).

RETTEN TO GO Intrazerebrale Blutungen (ICB) ●







Definition: Einblutung in das Hirngewebe durch das Einreißen hirnversorgender Arterien Ursachen: am häufigsten Arteriosklerose der Hirnarterien bei Patienten mit arterieller Hypertonie; typische Auslöser: hypertensive Entgleisung, oft bei körperlicher Belastung Symptomatik: je nach Lokalisation unterschiedliche neurologische Ausfälle, Zunahme der Symptomatik über Minuten bis Stunden; bei großen Blutungen Verdrängung des Hirngewebes mit Anstieg des Hirndrucks und akuter Lebensgefahr ToDo: zügiger Transport in eine Klinik mit Stroke-Unit

429

16

Neurologische Notfälle

Definition Subarachnoidalblutung

16.3.5 Sinus- und Hirnvenenthrombose

Eine SAB (▶ Abb. 16.8b) ist eine akute arterielle Einblutung in den äußeren Liquorraum zwischen Arachnoidea und Pia mater (S. 100).

Definition Sinus- und Hirnvenenthrombose

Ursachen • Die häufigste Ursache ist die Ruptur eines Aneurysmas, also einer lokalen Aussackung, einer Arterie im Subarachnoidalraum. Manche Aneurysmen sind angeboren, die meisten entwickeln sich jedoch im Laufe des Lebens und werden im Verlauf größer. Die Hauptrisikofaktoren sind Bluthochdruck, Alkoholabhängigkeit und Rauchen. Eine seltenere Ursache für eine SAB ist ein schweres Schädel-HirnTrauma.

Ursachen • Der wichtigste Risikofaktor ist eine erhöhte Thromboseneigung (S. 314), z. B. während Schwangerschaft und Wochenbett oder durch die Einnahme oraler Kontrazeptiva. Auch lokale Infektionen, v. a. im HNO-Bereich, können eine Hirnvenenthrombose auslösen (septische Thrombose mit ungünstiger Prognose).

Subarachnoidalblutung (SAB)

Symptomatik • Eine SAB kann sowohl bei körperlicher Anstrengung (z. B. beim Heben, Pressen, Geschlechtsverkehr) als auch in Ruhe oder im Schlaf auftreten. Das Leitsymptom ist ein plötzlicher, nie dagewesener Vernichtungskopfschmerz mit Ausbreitung über den gesamten Kopf und Ausstrahlung in Nacken und Rücken (Maximum innerhalb von Sekunden), oft verbunden mit Angst und vegetativen Symptomen (z. B. Übelkeit, Erbrechen). Kopfschmerzen sind oft über Stunden das einzige Symptom. Je nach Schweregrad kommen weitere Symptome hinzu, z. B. ein Meningismus (S. 424) durch eine Reizung der Hirnhäute, neurologische Ausfälle, Krampfanfälle und Sprachstörungen. Zunehmende Bewusstseinsstörungen bis zum Koma sind ein Hinweis auf ausgedehnte Blutungen.

! Merke Vernichtungskopfschmerz

Wegweisend für eine SAB ist ein noch nie so erlebter Vernichtungskopfschmerz, der sein Maximum binnen Sekunden erreicht. Dieses Symptom erfordert eine umgehende zerebrale Bildgebung, am besten in einer Klinik mit Stroke-Unit. Versorgung des Patienten • Siehe Schlaganfall (S. 421).

Eine Thrombose im Bereich eines venösen Sinus oder einer kleineren Hirnvene beeinträchtigt den venösen Abfluss aus dem Gehirn.

Pathophysiologie • Die Thrombose behindert den venösen Abfluss aus dem Gehirn und führt damit zu einem lokalen Anstieg des Gewebedrucks. Dadurch nimmt die arterielle Durchblutung ab, die Folge ist eine lokale Ischämie mit Absterben von Hirngewebe. Zusätzlich können sich ein Hirnödem mit Anstieg des Hirndrucks und Einblutungen durch die venöse Stauung entwickeln. Symptomatik • Die Symptome beginnen meistens unspezifisch mit Kopfschmerzen. Im Verlauf treten oft Lähmungen, Sehstörungen und Krampfanfälle hinzu. Möglich sind auch neuropsychologische Auffälligkeiten, Bewusstseins- und Sprachstörungen sowie Übelkeit/Erbrechen. Fieber weist auf eine septische Thrombose hin. Die neurologischen Ausfälle hängen vom betroffenen Hirnareal ab. Versorgung des Patienten • Siehe Schlaganfall (S. 421).

RETTEN TO GO Sinus- und Hirnvenenthrombose ●

RETTEN TO GO Subarachnoidalblutung (SAB) ●







Definition: Einblutung in den Subarachnoidalraum, also in den äußeren Liquorraum zwischen Arachnoidea und Pia mater Ursachen: am häufigsten Ruptur eines Aneurysmas (Aussackung einer Arterie), seltener schweres SchädelHirn-Trauma Symptomatik: plötzlicher Vernichtungskopfschmerz, oft verbunden mit Übelkeit und Erbrechen, Meningismus und neurologischen Ausfällen ToDo: zügiger Transport in eine Klinik mit Stroke-Unit

Subdurales und epidurales Hämatom Diese Blutungen sind in der Regel die Folge von Verletzungen und werden daher im Kapitel Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) besprochen.







Definition: Thrombosen in den Hirnsinus und/oder Hirnvenen reduzieren den venösen Abfluss aus dem Gehirn. Mögliche Folgen sind eine lokale Ischämie mit Infarkt, ein Anstieg des Hirndrucks und ggf. Stauungsblutungen. Risikofaktoren: erhöhte Thromboseneigung (z. B. Schwangerschaft, Wochenbett, Einnahme von Kontrazeptiva), lokale Infektionen (v. a. im HNO-Bereich) Symptomatik: anfangs Kopfschmerzen, im Verlauf zusätzlich Lähmungen, Sehstörungen, Krampfanfälle und neurologische Ausfälle ToDo: zügiger Transport in eine Klinik mit Stroke-Unit

16.3.6 Bandscheibenvorfall Grundlagen Definition Bandscheibenvorfall Teile des Bandscheibengewebes treten in den Wirbelkanal ein und drücken auf eine Nervenwurzel oder das Rückenmark selbst. Die Gesamtheit der sensiblen und motorischen Ausfälle durch die Kompression einer Nervenwurzel wird als radikuläres Syndrom bezeichnet. Synonyme • Diskusprolaps, Bandscheibenprolaps Ursachen und Pathophysiologie • In den meisten Fällen ist ein Bandscheibenvorfall die Folge einer Degeneration der Bandscheiben (S. 93): Ab dem 20. Lebensjahr wird deren Faser-

430

Notfälle und Erkrankungen Abb. 16.9 Bandscheibenvorfall.

Spinalnerv

a

Abb. 16.10 Schmerzausstrahlung bei lumbalen Bandscheibenvorfällen.

Wirbel

Gallertkern Faserring

b

a Bei einer Protrusion wölbt sich der Gallertkern in den Faserring vor (Pfeil). b Bei einem mediolateralen (Pfeil) und einem medialen (gestrichelter Pfeil) Bandscheibenprolaps tritt Material des Gallertkerns aus dem Faserring aus. ring anfälliger für winzige Verletzungen. In der Folge dringt der Gallertkern in Risse des Faserrings ein und kann ihn vorwölben (Diskusprotrusion, ▶ Abb. 16.9a). Tritt im weiteren Verlauf Gallertmaterial aus dem Faserring aus, spricht man von einem Diskusprolaps (▶ Abb. 16.9b). Meistens schiebt sich das Bandscheibenmaterial seitlich am Rückenmark vorbei und drückt auf die dort austretende Nervenwurzel (mediolateraler Vorfall): Die Folge sind Sensibilitätsstörungen und Schmerzen im Versorgungsbereich dieser Nervenwurzel sowie evtl. auch motorische Ausfälle. Seltener fällt das Bandscheibenmaterial mittig vor und drückt direkt auf das Rückenmark (medialer Vorfall).

! Merke Projizierte Schmerzen

L4

L5

S1

Kaudasyndrom

Je nachdem, welches Segment von dem Bandscheibenvorfall betroffen ist, strahlen die Schmerzen in unterschiedliche Bereiche aus. Bei Patienten mit Kaudasyndrom besteht u. a. eine „Reithosenanästhesie“. einem Vorfall im HWS-Bereich hingegen in den Arm. Die Muskeleigenreflexe des betroffenen Segments sind abgeschwächt oder fallen komplett aus. Die starken Schmerzen können auch zu vegetativen Symptomen wie Übelkeit/Erbrechen sowie zu einem Blutdruckabfall bis zum Kreislaufkollaps führen. Lähmungen der von der betroffenen Nervenwurzel versorgten Muskulatur sind ein Alarmzeichen für eine sehr weitgehende Schädigung des Spinalnervs.

Die Schmerzen bei einem Bandscheibenvorfall sind ein typisches Beispiel für projizierte Schmerzen: Geschädigt wird der schmerzleitende Nerv (hier: Spinalnervenwurzel). Das Gehirn nimmt die Schmerzen jedoch in dem Gebiet wahr, für das dieser Nerv zuständig ist. Die Patienten leiden daher z. B. unter starken Schmerzen im Bein, obwohl dort lokal keine Schädigung besteht.

Kaudasyndrom • Bei diesem Notfall besteht ein medialer Bandscheibenvorfall mit Kompression aller Nervenwurzeln unterhalb von L 1 (Cauda equina). Die Ausfälle entsprechen einer tiefen Querschnittsläsion mit Reithosenanästhesie (Taubheitsgefühl in der Genitalregion und an der Oberschenkelinnenseite, ▶ Abb. 16.10), Stuhl- und Urininkontinenz sowie Lähmung der Beine.

Lokalisation • Aufgrund der anatomischen Gegebenheiten kommen Bandscheibenvorfälle am häufigsten im LWS-Bereich vor, seltener im HWS- und sehr selten BWS-Bereich.

Versorgung des Patienten

Häufigkeit und Risikofaktoren • Der Häufigkeitsgipfel liegt im 30.–50. Lebensjahr, Männer sind etwa doppelt so oft betroffen wie Frauen. Bekannte Risikofaktoren sind Übergewicht, eine erhöhte Belastung durch rückenschädigendes Arbeiten, allgemeiner Bewegungsmangel mit Atrophie der Rückenmuskulatur und ein Hohlkreuz.

Symptomatik Vorbotensymptome • Viele Patienten hatten schon seit längerer Zeit Rückenschmerzen (häufig im LWS-Bereich: Lumbalgie), die dann akut nach Belastungen (z. B. Gartenarbeit) zugenommen haben. Mediolateraler Vorfall • Die Patienten haben Sensibilitätsstörungen (v. a. Kribbeln, Taubheitsgefühle) und einseitige, meist einschießende, ziehende Schmerzen im betroffenen Bereich. Aus der Lokalisation der Schmerzen kann man auf das betroffene Segment schließen (▶ Abb. 16.10): Bei einem Vorfall im LWS-Bereich ziehen die Schmerzen ins Bein, bei

Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Anamnese nach SAMPLER-Schema ● Kraft- und Sensibilitätsprüfung ● Umlagerung mittels Schaufeltrage und Lagerung für den Transport auf einer Vakuummatratze zur Immobilisation der Wirbelsäule (S. 236), bei Verdacht auf einen zervikalen Bandscheibenvorfall evtl. HWS-Stützkragen ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2 ● ggf. i. v.-Zugang, VEL und Medikamente vorbereiten ● notärztliche Unterstützung anfordern bei neurologischen Ausfällen oder Notwendigkeit einer Analgesie Erweiterte Maßnahmen • Zur Schmerzlinderung kann eine Stufenlagerung hilfreich sein: Der Patient befindet sich in Rückenlage. Die Unterschenkel werden mithilfe von Kissen oder Decken hochgelagert, bis Hüfte und Knie jeweils um ca. 90° gebeugt sind. Den Kopf stützt ein kleines Kissen oder eine Nackenrolle. Bei starken Schmerzen erhält der Patient Analgetika (v. a. Opioide, z. B. Fentanyl®). Er wird so schonend wie möglich und unter Immobilisation in eine Klinik

431

16

Neurologische Notfälle transportiert, idealerweise mit orthopädisch-neurochirurgischer Abteilung.

Abb. 16.11 Symptome bei Meningitis.

RETTEN TO GO Bandscheibenvorfall ●







Definition: Teile des Bandscheibengewebes treten in den Wirbelkanal vor. Dabei wird die Nervenwurzel (mediolateraler Vorfall) oder das Rückenmark (medialer Vorfall) komprimiert, am häufigsten im LWS-Bereich. Risikofaktoren: Übergewicht, rückenschädigendes Arbeiten, Bewegungsmangel, Hohlkreuz Symptomatik: – mediolateraler Vorfall: Rückenschmerzen, Sensibilitätsstörungen, einseitige Schmerzen, die in Arme oder Beine ausstrahlen, evtl. Lähmungen – Kaudasyndrom (medialer Vorfall unterhalb von L 1; Notfall!): Reithosenanästhesie, Stuhl- und Urininkontinenz, Lähmung der Beine ToDo Basis: – Umlagerung mittels Schaufeltrage – Lagerung auf einer Vakuummatratze (zur Immobilisierung der Wirbelsäule) oder in Stufenlagerung zur Schmerzlinderung, evtl. HWS-Stützkragen bei Verdacht auf zervikalen Bandscheibenvorfall – möglichst schonender Transport in die Klinik

16.3.7 Meningitis und Enzephalitis Grundlagen Definition Meningitis, Meningoenzephalitis und Enzephalitis Eine Meningitis (Hirnhautentzündung) ist eine Entzündung der Hirn- und Rückenmarkshäute (Meningen). Bei einer Enzephalitis ist das Gehirn selbst entzündet. Bei einer Meningoenzephalitis betrifft die Entzündung sowohl die Meningen als auch das Gehirn. Ursachen • In den meisten Fällen sind Viren (z. B. FSME- oder Herpes-simplex-Viren) oder Bakterien (z. B. Meningokokken, Pneumokokken) die Auslöser der Entzündung. Am häufigsten sind Kleinkinder und Jugendliche betroffen. Die Erreger gelangen über Tröpfcheninfektion, über die Blutbahn oder lokal fortgeleitet aus einer Verletzung oder lokalen Entzündung an den Ort der Entzündung.

! Merke Meningitis als vermeidbare Infektion

Gegen die wichtigsten Erreger einer bakteriellen Meningitis sind hochwirksame, gut verträgliche Impfstoffe verfügbar (Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus influenzae Typ B), ebenso gegen FSME- und Varizella-Zoster-Viren.

ACHTUNG Je nach Erreger besteht für Mitarbeitende im Rettungsdienst Ansteckungsgefahr, achten Sie daher immer auf den Eigenschutz.

Symptomatik Symptome bei bakterieller Meningitis • Die bakterielle Meningitis ist eine hochgefährliche, schwerwiegende Infektion: Der Allgemeinzustand ist deutlich reduziert, die Patienten haben starke Kopf- und Nackenschmerzen und hohes Fieber, begleitet von Verwirrtheit und Benommenheit bzw. zuneh432

steifer Nacken

(hohes) Fieber

(starke) Kopfschmerzen

Lichtempfindlichkeit

Übelkeit und Erbrechen

Zu Beginn sind die Symptome einer Meningitis eher unspezifisch, deutliche Hinweise sind Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

menden Bewusstseinsstörungen (▶ Abb. 16.11). Typisch ist auch ein Meningismus mit Nackensteifigkeit (S. 424). Die Infizierten nehmen häufig eine Schonhaltung mit Überstreckung des Kopfes und angewinkelten Beinen ein. Weitere häufige Symptome sind Übelkeit, Erbrechen und Lichtscheu, auch Krampfanfälle sind möglich. Bei Säuglingen sind Trinkschwäche und Schlaffheit mögliche Alarmzeichen. Eine gefürchtete Komplikation ist ein septischer Schock (S. 292) mit sehr ungünstiger Prognose. Symptome bei viraler Meningitis • Die Symptome sind meist weniger ausgeprägt als bei einer bakteriellen Meningitis. Es bestehen v. a. Kopfschmerzen, Fieber, ein leichter Meningismus, Allgemeinsymptome und Muskelschmerzen. Nicht selten präsentiert sich die Infektion als grippaler Infekt. Symptome bei Enzephalitis • Typische Symptome sind Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Sprachstörungen, sensible oder motorische Ausfälle, Verwirrtheit, Krampfanfälle und Bewusstseinsstörungen.

Versorgung des Patienten Die Maßnahmen orientieren sich an der aktuellen Symptomatik. Patienten mit Verdacht auf Meningitis werden als infektiös eingestuft, beachten Sie daher die Vorgehensweise bei Infektionstransporten (S. 161). Bei gesicherter Meningokokkeninfektion kann eine Postexpositionsprophylaxe (S. 153) notwendig sein.

Notfälle und Erkrankungen

RETTEN TO GO Meningitis und Enzephalitis ●







Definition: Bei einer Meningitis sind die Hirn- und Rückenmarkshäute (Meningen) entzündet, bei einer Enzephalitis das Gehirn selbst. Beide Strukturen können auch gleichzeitig betroffen sein (Meningoenzephalitis). Ursache: meistens virale oder bakterielle Infektion (z. B. Meningo- oder Pneumokokken, FSME-Viren) Symptomatik: – bakterielle Meningitis: Kopfschmerzen, hohes Fieber, Bewusstseinsstörungen, Nackensteifigkeit (Meningismus), Übelkeit, Erbrechen, Lichtscheu; mitunter septischer Verlauf mit schlechter Prognose – virale Meningitis: leichtere Symptomatik, eher ähnlich einem grippalen Infekt – Enzephalitis: Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Sprachstörungen, sensible oder motorische Ausfälle, Verwirrtheit, Krampfanfälle, Bewusstseinsstörungen ToDo: Transport als Infektionstransport!

16.3.8 Neurologische Notfälle bei Kindern Fieberkrampf

Erfragen Sie die Dauer und Art des Krampfanfalls (generalisiert oder fokal) und ob es sich um einen erstmaligen oder wiederholten Anfall handelt. Bei einem Anfallsrezidiv sind die Eltern i. d. R. gut informiert und verfügen meist auch über entsprechende Notfallmedikamente. Erweiterte Maßnahmen • Bei anhaltendem Krampfanfall erhält das Kind ein Benzodiazepin (S. 123), um den Krampf zu durchbrechen, entweder Diazepam rektal (z. B. Diazepam Desitin® rectal tube) oder Midazolam intranasal (z. B. Dormicum®), ggf. wiederholt. Das Fieber wird durch Entfernen von Kleidung, physikalische Maßnahmen (z. B. kühlende Wickel) und die rektale Gabe von Paracetamol (z. B. ben-uron®) oder Ibuprofen gesenkt. Das Kind wird zur weiteren Abklärung in eine Kinderklinik gebracht.

RETTEN TO GO Fieberkrampf ●





Häufigkeit • Hohes Fieber und ein schneller Temperaturanstieg reduzieren die Krampfschwelle (S. 417). Dadurch können bei sonst anfallsfreien, unauffällig entwickelten Kindern Krampfanfälle vorkommen. Der Häufigkeitsgipfel liegt im 18. Lebensmonat.

! Merke Häufiger Notfall

Fieberkrämpfe zählen zu den häufigsten Notfällen bei Kindern! Symptomatik • Typisch ist ein generalisierter, tonisch-klonischer Anfall mit Bewusstlosigkeit, der meistens ca. 2– 5 min anhält. Im Anschluss besteht oft eine kurze Benommenheit (Nachschlafphase), in der das Kind erweckbar ist. Weitere neurologische Auffälligkeiten fehlen. Für die meisten Eltern ist insbesondere der erste Fieberkrampf ein beängstigendes Ereignis. Typische Situation: Die aufgeregten Eltern drücken Ihnen bereits an der Wohnungstür ein schläfriges und/oder zyanotisches Kind in die Arme, das sich sehr warm anfühlt. Differenzialdiagnosen • Siehe Krampfanfälle (S. 418). Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● falls das Kind noch krampft: – Fordern Sie notärztliche Unterstützung an. – Schützen Sie das Kind vor Verletzungen, dabei nicht fixieren oder festhalten, kein „Beißschutz“. – Fragen Sie die Eltern, seit wann das Kind krampft. ● bei Bewusstlosigkeit (nach dem Krampfanfall): – stabile Seitenlage und Atemwege freihalten – Fordern Sie notärztliche Unterstützung an. – bei SpO2 < 92 % frühzeitige O2-Gabe, Flow je nach SpO2 ggf. anpassen (Ziel-SpO2: 92–96 %) ● Basismonitoring (S. 198): SpO2, BZ-Kontrolle (bei Säuglingen Blutentnahme aus der Ferse), Körperkerntemperatur ● Untersuchung auf anfallsbedingte Verletzungen ●



Häufigkeit und Ursachen: Bei hohem Fieber oder raschem Anstieg der Körpertemperatur können auch sonst anfallsfreie Kinder einen Krampfanfall erleiden, Häufigkeitsgipfel im 18. Lebensmonat. Symptomatik: meistens generalisierter, tonisch-klonischer Anfall mit Bewusstlosigkeit, der nach wenigen Minuten spontan endet ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, bei anhaltendem Krampf NA nachfordern und Schutz des Kindes vor Verletzungen, Basismonitoring (SpO2, Temperatur, BZ-Kontrolle, bei Säuglingen Blutentnahme aus der Ferse), bei SpO2 < 92 % frühzeitige O2-Gabe (Flow je nach SpO2 ggf. anpassen, Ziel-SpO2: 92–96 %), Anamnese (Anfallsdauer und -art, erster oder wiederholter Anfall?), Untersuchung auf anfallsbedingte Verletzungen ToDo erweitert: Durchbrechung eines Krampfanfalls mit einem Benzodiazepin (rektal oder intranasal), Fiebersenkung (mit Paracetamol oder Ibuprofen, kühlenden Wickeln), Transport in eine Kinderklinik

Plötzlicher Kindstod und BRUE Grundlagen

Definition Plötzlicher Kindstod und BRUE Als plötzlicher Kindstod ist der plötzliche Tod eines Säuglings definiert, bei dem die Ursache trotz Obduktion ungeklärt bleibt. Ein BRUE (Brief Resolved Unexplained Event) ist ein lebensbedrohlicher Atemstillstand eines Säuglings, bei dem die Lebenszeichen nur durch Beatmung oder heftige Stimulation zurückkehren. Synonyme • Plötzlicher Säuglingstod, Mors subita infantium, Sudden Infant Death Syndrome (SIDS) Ursachen und Risikofaktoren • SIDS ist im globalen Norden die häufigste Todesursache bei Säuglingen > 4 Wochen (in Deutschland jährlich ca. 130 Fälle). Die genaue Ursache ist unbekannt. Entscheidend ist wahrscheinlich eine Störung der Atem- und Kreislaufregulation im Gehirn aufgrund von Unreife, die in Kombination mit anderen Risikofaktoren (▶ Abb. 16.12) zum Tod führen kann. In den letzten Jahrzehnten haben Kampagnen zur Aufklärung über diese Risikofaktoren sowie Präventionsmaßnahmen (z. B. Schlafposition in Rückenlage im 1. Lebensjahr, rauchfreie Umgebung) zu einem starken Rückgang der Fälle geführt. 433

16

Neurologische Notfälle Abb. 16.12 Risikofaktoren für den plötzlichen Kindstod.

• Schlafen in Bauchlage

• Überwärmung (Raumtemperatur, Kleidung)

Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen sind absichtliche und unabsichtliche Erstickungen des Kindes (z. B. durch Überliegen im Elternbett), Misshandlungen wie ein Schütteltrauma (S. 381), aber auch organische Notfälle, z. B. ein Krampfanfall, eine Hirnblutung, eine Meningitis, ein Pseudokruppanfall oder Herzrhythmusstörungen. Eine genaue Abklärung ist oft nur rechtsmedizinisch möglich.

Versorgung des Patienten bzw. der Familie • Frühgeburtlichkeit, niedriges Geburtsgewicht

!

• Gedeihstörungen

• männliches Geschlecht des Kindes

• familiäre SIDS-Anamnese

Fordern Sie notärztliche Unterstützung an. Sind keine sicheren Todeszeichen erkennbar, beginnen Sie unverzüglich eine kardiopulmonale Reanimation des Kindes (S. 332). Ist diese erfolgreich, wird das Kind zur Abklärung stationär aufgenommen und überwacht. Bei sicheren Todeszeichen werden keine Reanimationsversuche unternommen. Wichtig ist eine genaue Dokumentation der Auffindesituation. In der Folge wird eine kriminalpolizeiliche/staatsanwaltliche Untersuchung (Vorbereitung der Eltern!) und eine Obduktion zur Abklärung der Todesursache eingeleitet. Eine psychologische Betreuung der Familie mit Krisenintervention (S. 439) ist sehr wichtig!

RETTEN TO GO

• sehr junges Alter oder Mangelernährung der Mutter

Plötzlicher Kindstod und BRUE

• Alkohol- und Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft



• Rauchen während der Schwangerschaft und nach der Geburt ●

Durch Aufklärungsmaßnahmen und das Vermeiden bekannter Risikofaktoren ist der plötzliche Kindstod in den letzten Jahrzehnten deutlich seltener geworden. ●

Symptomatik und Differenzialdiagnosen BRUE • Die Kinder sind zyanotisch oder blass, der Muskeltonus ist meistens reduziert. Sie reagieren nicht auf Ansprache, die Lebenszeichen kehren nur nach Beatmung oder heftiger Stimulation zurück. Plötzlicher Kindstod • Die Verdachtsdiagnose ist zu stellen, wenn sichere Todeszeichen (S. 251) bestehen, ohne Hinweis auf eine krankheitsbedingte oder äußere Ursache. Häufig werden die Kinder schweißgebadet und in Bauchlage angetroffen. Meistens versterben sie in den Nachtstunden. Psychische Belastung • Der Tod eines Kindes ist für eine Familie eine extreme Belastung. Behalten Sie die Angehörigen im Auge, achten Sie auf Anzeichen für eine akute Belastungsreaktion (S. 442). Das Auffinden eines toten Kindes ist auch für die Rettungskräfte sehr belastend: Eine gute Nachbereitung des Einsatzes ist wichtig!

434

Definition: Der plötzliche Kindstod (SIDS) ist der plötzliche Tod eines Säuglings, dessen Ursache trotz Obduktion ungeklärt bleibt. Ein BRUE (Brief Resolved Unexplained Event) ist ein lebensbedrohlicher Atemstillstand eines Säuglings, bei dem die Lebenszeichen nur durch Beatmung oder heftige Stimulation zurückkehren. Risikofaktoren: u. a. männliches Geschlecht, Frühgeburtlichkeit, Gedeihstörungen, weitere Fälle in der Familie, mütterliche Faktoren (Alkohol- und Drogenkonsum, Rauchen, junges Alter), Schlafen in Bauchlage oder im Bett der Eltern ToDo: – keine sicheren Todeszeichen: NA nachfordern, unverzügliche kardiopulmonale Reanimation – sichere Todeszeichen: NA nachfordern, keine Reanimationsversuche, genaue Dokumentation der Auffindesituation, Hinzuziehen der Polizei, Initiieren einer psychologischen Betreuung der Familie

17

Psychische Notfälle

17.1 Einführung Definition Psychischer Notfall Das akute Auftreten oder die Verschlechterung einer bestehenden psychischen Störung gefährdet unmittelbar das Leben und die Gesundheit des Betroffenen und/oder seiner Umgebung und macht eine sofortige Diagnostik und Therapie notwendig. Bedeutung für den Rettungsdienst • Psychische Erkrankungen sind wichtige Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre und verringern signifikant die Lebenserwartung der Betroffenen. Die häufigsten Diagnosen sind Angststörungen (S. 450), Depressionen (S. 445), Abhängigkeitserkrankungen (S. 445) und Demenzen (S. 444). Etwa jeder 10. Rettungsdiensteinsatz in Deutschland ergibt sich aus einer psychischen Ausnahmesituation, Tendenz steigend. Häufige Alarmierungsgründe sind Intoxikationen durch Alkohol (S. 515) und/oder illegale Drogen (S. 512), akute Erregungszustände (S. 442), Angstattacken (S. 443), Suizidalität (S. 441) und ein Delir (S. 439). Traumatisierende Ereignisse können eine akute Belastungsreaktion (S. 442) auslösen. Zudem werden Sie auf Patienten treffen, die zwar an einer psychischen Erkrankung leiden, aber den Rettungsdienst aus einem anderen Grund alarmiert haben. Damit Sie auf die Besonderheiten dieser Menschen angemessen reagieren können, sollten Sie Grundkenntnisse über wichtige psychische Störungen haben. Stigmatisierung • In der allgemeinen Wahrnehmung „passieren“ z. B. Herzinfarkte „einfach so“, Menschen mit Depression hingegen sollen „sich einfach zusammenreißen“ und 436

„sich nicht so anstellen“ – psychische Störungen werden als selbstverschuldet dargestellt. Im Zusammenspiel mit einer nicht ausreichenden psychotherapeutischen Versorgung für GKV-Versicherte ergibt sich daraus, dass viele Betroffene professionelle Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen oder erst nach langer Wartezeit erhalten. Auch im Kollegenkreis können Ihnen Menschen begegnen, die psychisch Erkrankte vorverurteilen, ihnen wenig Empathie entgegenbringen und psychische Notfallsituationen bagatellisieren. Während viele von uns bereits selbst Phasen von Traurigkeit und geringem Antrieb erlebt haben und sich daher zumindest ansatzweise in die Welt depressiver Menschen hineinversetzen können, fällt es uns in der Regel schwer, das Erleben von Menschen mit Schizophrenie mit ihren Wahnideen oder Halluzinationen nachzuvollziehen. Hier können sich auch erfahrene Rettungskräfte überfordert fühlen und sich unangemessen verhalten.

! Merke Gewaltpotenzial

Bei psychischen Notfällen besteht ein besonders hohes Risiko für aggressives oder gewalttätiges Verhalten – und zwar sowohl seitens des Patienten als auch des Rettungsdienstpersonals!

17.2 Grundlagen 17.2.1 Leitsymptome In Notfallsituationen verhalten sich viele Patienten anders als im Alltag. Für Sie als Rettungssanitäter kann es u. a. deshalb oft schwierig sein, ein Verhalten klar als pathologisch einzustufen. Erschwert wird dies auch durch die meist sehr knappe Zeit für das Erheben der Notfallanamnese. Insbesondere Bewusstseins- und Orientierungsstörungen haben oft organische Ursachen, die differenzialdiagnostisch abgeklärt werden müssen.

Einführung

▶S. 436 Leitsymptome ▶S. 436 Grundlagen

Anamnese und Untersuchung Krisenintervention

▶S. 438

▶S. 439

Delir

▶S. 439

Suizidalität

▶S. 441

Akute Erregungszustände ▶S. 442

Psychische Notfälle

Akute Belastungsreaktion

▶S. 442

Akute Angst und Pankattacken

Demenz

▶S. 444

Depression

▶S. 445

Sucht und Abhängigkeit Wichtige psychische Grunderkrankungen

Orientierungsstörungen • Die Orientierung ist das Wissen über Zeit, Ort, Situation und die eigene Person. Störungen sind oft durch organische Erkrankungen bedingt (z. B. Delir, Demenz). Meist ist zunächst die zeitliche Orientierung (welcher Tag ist heute?) beeinträchtigt, im weiteren Verlauf die Orientierung zu Ort und Situation (wo bin ich?) und zuletzt die Orientierung zur eigenen Person (wer bin ich?).

Schizophrenie

▶S. 449

Angststörungen

▶S. 450

Formale Denkstörungen • Die Geschwindigkeit, die Ausdrucksfähigkeit, der logische Zusammenhang oder die Schlüssigkeit der Gedanken sind gestört (wie denkt der Patient?). Beispielsweise kann das Denken bei einer Depression objektiv verlangsamt bzw. bei Manie beschleunigt sein. Inhaltliche Denkstörungen • Der Inhalt der Gedanken sowie häufig auch die Realitätskontrolle sind gestört (was denkt der Patient?). Die wichtigste inhaltliche Denkstörung ist der Wahn: Charakteristisch sind falsche und mittels vernünftiger Gegenargumente unkorrigierbare Überzeugungen, Ge-

▶S. 448

▶S. 449

Abb. 17.1 Ich-Störungen.

Fremdbeeinflussung

Gedankenausbreitung

Gedankenentzug

Psychotische Ich-Störungen • Betroffene erleben seelische Zustände und Vorgänge als von außen gemacht, beeinflusst und nicht zum eigenen Ich gehörig (▶ Abb. 17.1). Die Betroffenen sind z. B. davon überzeugt, dass ihnen ihre Gedanken „von außen“ entzogen oder auch eingegeben werden oder dass ihr Willen „von außen“ gesteuert wird. Diese Phänomene kommen v. a. bei Schizophrenie (S. 449) vor. Entfremdungserlebnisse • Betroffene nehmen das eigene Ich, ihren Körper oder die Umwelt als unwirklich und entfremdet wahr. Die Ursachen sind vielfältig, auch psychisch Gesunde können betroffen sein, z. B. bei akuter Belastungsreaktion (S. 442) oder Übermüdung.

▶S. 445

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Bipolare affektive Störung

Bewusstseinsstörungen • Siehe Kapitel Neurologie (S. 416).

▶S. 443

Gedankeneingebung

Die Abgrenzung der eigenen Person von der Umgebung (IchUmwelt-Grenze) ist gestört. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

danken und Vorstellungen, die mit der Realität unvereinbar sind. Die Betroffenen können die Realität nicht mehr korrekt beurteilen. Ein typisches Beispiel ist der bei Schizophrenie häufige Verfolgungswahn: Die Betroffenen sind davon überzeugt, dass „fremde Mächte“ sie ausspionieren, verfolgen und bedrohen, und können nicht vom Gegenteil überzeugt werden. Reale Sinneswahrnehmungen werden wahnhaft umgedeutet: Der Betroffene sieht z. B. einen Leichenwagen und ist davon überzeugt, dass dies bedeutet, dass er bald ermordet und darin abtransportieren wird. Auch bei schweren Depressionen oder Manien besteht häufig ein Wahnerleben, das meist der Grundstimmung entspricht (z. B. Größenwahn bei Manie).

437

17

Psychische Notfälle Halluzinationen • Die Betroffenen haben Sinneswahrnehmungen ohne entsprechenden äußeren Reiz und halten sie für real. Häufige Ursachen sind Schizophrenie, die Einnahme von Halluzinogenen und die akute Manie, aber auch organische Ursachen (z. B. Hirntumoren). Halluzinationen können alle Sinnesgebiete betreffen, am häufigsten sind optische (z. B. Wahrnehmung von Farben oder Personen) und akustische Sinneseindrücke (z. B. Rauschen, Knallen, Stimmen). Pseudohalluzinationen • Es bestehen Sinneswahrnehmungen ohne entsprechenden äußeren Reiz, die Betroffenen erkennen aber ihre Unwirklichkeit (z. B.: „Plötzlich saß ein Mann auf meinem Sofa, aber ich wusste, er konnte dort nicht sitzen, denn die Tür war zu.“). Typische Ursachen sind z. B. Fieber oder starke Erschöpfung. Illusionen (illusionäre Verkennungen) • Reale Sinneseindrücke werden fehlinterpretiert, d. h. für etwas anderes gehalten (z. B.: „Den Ast habe ich im Dunkeln für eine Schlange gehalten.“). Häufige Ursachen sind Delir, emotionale Ausnahmezustände oder hohes Fieber. Antriebsstörungen • Der Antrieb ist die weitgehend willensunabhängige Kraft, die das Tempo, die Intensität und die Ausdauer der psychischen und motorischen Bewegungen steuert. Menschen mit vermindertem Antrieb fühlen sich träge und energielos (z. B. bei Depression). Menschen mit gesteigertem Antrieb fühlen sich sehr aktiv, tatkräftig und „lebendig“ (z. B. bei Manie). Störung der Affektivität • Die Affektivität bezeichnet das Zusammenspiel von Stimmungslage (mittelfristiger Gemütszustand), Affekten (kurz dauernde Gefühlsausbrüche) und Gefühlsleben (einzelne Emotionen). Typische Veränderungen sind eine allgemeine Interessens-, Freud- und Lustlosigkeit bei Depression, eine überschießende Steigerung des Wohlbefindens und der Vitalgefühle bei Manie und eine allgemeine Verarmung und Verflachung der Affekte mit Teilnahmslosigkeit im Spätstadium der Schizophrenie. Amnesie (Erinnerungslosigkeit) • Es besteht eine zeitlich und inhaltlich begrenzte Erinnerungslücke, meist in Zusammenhang mit einem schädigenden Ereignis, z. B. einem SchädelHirn-Trauma oder einer schweren psychosozialen Traumatisierung. Bei einer retrograden Amnesie betrifft die Erinnerungslücke den Zeitraum vor der Schädigung, bei einer anterograden Amnesie den Zeitraum danach. Psychomotorische Störungen (katatone Störungen) • Die durch psychische Vorgänge gesteuerten Bewegungen sind gesteigert oder reduziert. Die wichtigste Ursache ist die Schizophrenie, ähnliche Symptome kommen aber auch bei schwerer Depression vor. Die Betroffenen sprechen oder bewegen sich z. B. automatenhaft, wiederholen über einen längeren Zeitraum gleichförmig bestimmte Bewegungen oder schweigen hartnäckig.

438

RETTEN TO GO Leitsymptome ●











● ●

Orientierungsstörungen: zeitlich, örtlich, situativ oder zur eigenen Person Ich-Störungen: Betroffene sind überzeugt, dass Zustände und Vorgänge „von außen“ gemacht, gesteuert und beeinflusst werden (z. B.: Gedanken werden von außen eingegeben). Denkstörungen: Gestört ist, wie der Patient denkt (formale Denkstörung, z. B. Denkverlangsamung), oder was der Patient denkt (inhaltliche Denkstörung, z. B. Wahn). Wahrnehmungsstörungen: u. a. Halluzinationen, d. h. Sinneswahrnehmungen ohne entsprechende Außenreize, die die Betroffenen für real halten (z. B. Sehen von Farben oder Personen) Störungen des Antriebs: verminderter (Gefühl der Trägheit und Energielosigkeit) oder gesteigerter Antrieb (Gefühl hoher Aktivität, Tatkräftigkeit und „Lebendigkeit“) Störungen der Affektivität: Veränderungen von Stimmungslage, Affekten (kurz dauernde Gefühlsausbrüche) und Gefühlsleben, z. B. Interessens- und Lustlosigkeit bei Depression, Euphorie bei Manie Amnesie: zeitlich begrenzte Erinnerungslücke psychomotorische Störungen (katatone Störungen): Die durch psychische Vorgänge gesteuerten Bewegungen sind gesteigert oder reduziert.

17.2.2 Anamnese und Untersuchung Erster Patientenkontakt • Bei psychischen Notfällen ist es besonders wichtig, dass die Leitstelle genaue Informationen zur Einsatzsituation erfragt und diese an das Einsatzteam weitergibt (z. B. Einzelperson in suizidaler Krise, potenzielle Gefährdungen für die Retter). Meistens werden Sie mit Ihren Kollegen als erstes Team an der Einsatzstelle eintreffen, noch ohne notärztliche Unterstützung oder anderweitige Kräfte. Damit haben Sie eine Schlüsselfunktion in der problemlosen Abarbeitung des Einsatzes. Folgende Faktoren können den Einsatzablauf negativ beeinflussen: ● zu wenige Informationen über die Einsatzsituation (von Seiten der Leitstelle oder der Hilfesuchenden) ● Bagatellisierung des Einsatzes durch das Rettungsdienstpersonal (Unterschätzung der eigentlichen Situation) ● abwertende Vorurteile gegenüber den Hilfesuchenden (z. B. „Säufer“, „Junkies“, „Psychos“) ● genervtes oder unhöfliches Auftreten des Rettungsdienstpersonals an der Einsatzstelle Lagebeurteilung • Bei psychischen Notfällen besteht ein besonders hohes Risiko für Aggressionen und Gewalt (z. B. bei Patienten unter Alkohol- oder Drogeneinfluss). Achten Sie daher besonders sorgfältig auf den Eigenschutz: ● Halten Sie einen Sicherheitsabstand ein. ● Achten Sie auf gefährliche Gegenstände im Umfeld des Patienten. ● Fordern Sie ggf. frühzeitig notärztliche und polizeiliche Unterstützung nach. ● Halten Sie sich die Möglichkeit eines geordneten Rückzugs offen, für den Fall, dass die Situation eskaliert. ● Führen Sie Gespräche immer auf Augenhöhe und betrachten Sie die Situation vorurteilsfrei und ohne sie zu bagatellisieren.

Psychische Notfälle

ACHTUNG Bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen besteht immer die Gefahr, dass sie sich schlagartig aggressiv verhalten und die Situation eskaliert. Bleiben Sie nie allein mit Patienten, bei denen Sie das Potenzial zu aggressivem Verhalten vermuten. Vermeiden Sie Provokationen (z. B. Vorwürfe oder Anschuldigungen) und gehen Sie nicht auf Provokationen Ihres Gegenübers ein. Kommunikationsstrategien • Das erste Gespräch mit dem Patienten und übrigen Anwesenden ist entscheidend für den Einsatzverlauf. Versuchen Sie, den Patienten durch einen fördernden Dialog in eine zugängliche, führbare Stimmungslage zu versetzen und so den Ausbruch von Aggressionen und Gewalt zu vermeiden. Beachten Sie dafür die allgemeinen Regeln zur Kommunikation mit Patienten (S. 168). Bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen kann die Technik des Talk-Down hilfreich sein, d. h. eine Beruhigung mit verbalen Mitteln. Wichtige Grundsätze sind: ● Strahlen Sie Sicherheit aus. ● Treten Sie niemals autoritär auf. ● Üben Sie keine Kritik am Gegenüber. ● Lassen Sie sich auf keine Diskussionen ein. ● Wählen Sie einen beruhigenden, freundlichen Tonfall. ● Sprechen Sie gleichmäßig und in kurzen Sätzen. ● Halten Sie das Gespräch in Gang, auch wenn der Gesprächspartner schweigt oder schwierig zu führen ist. ● Halten Sie den Blickkontakt aufrecht.

! Merke Aufgabe im Blick behalten!

Ihre Aufgabe besteht darin, die Akutsituation zu klären und – falls erforderlich – den Hilfesuchenden sicher zu einer weiterführenden Therapie zu transportieren. Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Lebensprobleme des Patienten zu lösen oder eine Psychotherapie zu beginnen! Vorgehen bei Anamnese und Untersuchung • Auch bei psychischen Notfällen gehen Sie nach dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) und dem SAMPLER-Schema (S. 193) vor, um lebensbedrohliche Ursachen oder Folgen des Notfalls (z. B. vegetative Entgleisung bei Delir, Verletzungen bei aggressivem Verhalten, Atem- und Bewusstseinsstörungen bei Drogenkonsum) schnellstmöglich zu erkennen und zu versorgen. Achten Sie möglichst die Privatsphäre des Patienten. Bei verwirrten oder anderweitig schwer beeinträchtigten Patienten müssen Sie auf eine Fremdanamnese zurückgreifen. Verweigert der Patient bestimmte Untersuchungen oder Maßnahmen, müssen Sie dies dokumentieren (S. 555).

RETTEN TO GO Anamnese und Untersuchung ●



Beachten Sie immer den Eigenschutz: Bei psychischen Notfällen besteht immer die Gefahr, dass die Stimmung kippt und die Situation eskaliert. Das Vorgehen folgt grundsätzlich dem (c)ABCDESchema und dem SAMPLER-Schema. Entscheidend ist das erste Gespräch mit dem Patienten. Hilfreiche Verhaltensweisen sind verständnisvolles und empathisches Kommunizieren, aktives Zuhören, Sicherheit ausstrahlen, Provokationen vermeiden, „Talk-Down“ (Patienten verbal beruhigen), Privatsphäre schaffen und wahren (reizabgeschirmter Bereich).

17.2.3 Krisenintervention Definition Krisenintervention Kriseninterventionsteams (KIT) stehen Menschen in akuten Notlagen und Krisensituationen bei. In der Regel sind Mitarbeitende eines KIT erfahrene Kräfte aus dem Rettungsdienst. Ihre Arbeit wird als präventive Maßnahme insbesondere bezüglich posttraumatischer Belastungsstörungen (S. 448) gesehen. In folgenden Situationen ist es oft sinnvoll, über die Leitstelle ein KIT anzufordern: ● Todesfälle, z. B. vergebliche Reanimation, Tod eines Kindes, Suizid ● akute Belastungsreaktion (z. B. bei schweren Unfällen) ● Sterbende bei Unglücksfällen ● Gewalttätigkeiten, Vergewaltigungen und Familientragödien ● Überbringen von Todesnachrichten durch die Polizei

17.2.4 Unterbringung psychisch Erkrankter gegen ihren Willen Die Zwangseinweisung wird im Kapitel Rechtliche Rahmenbedingungen (S. 555) besprochen.

17.3 Psychische Notfälle 17.3.1 Delir Fallbeispiel Ich muss sofort nach Hause!* Sie machen Ihr 4-wöchiges Klinikpraktikum und haben heute Spätdienst auf der Intensivstation. Ihnen fällt auf, dass sich Frau Müller, die Sie schon von den letzten beiden Tagen kennen, auf einmal anders verhält … Sie wurde vor 2 Tagen an der Hüfte operiert. Bis gestern war sie freundlich und gut gelaunt. Heute Abend kommt sie Ihnen verändert vor: Sie nestelt an der Bettdecke herum, wirkt abwesend, zieht immer wieder an den Kathetern und ist leicht aggressiv. Im Verlauf des Abends versucht sie mehrfach, das Bett zu verlassen, und entfernt sich das EKG und die RR-Manschette. Sie weisen sie darauf hin, dass sie sich besser wieder ins Bett legen sollte. Da schreit sie: „Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe, ich muss jetzt sofort nach Hause gehen.“ Sie informieren sofort die zuständige Pflegefachkraft und den diensthabenden Arzt. Dieser meint: „Oh, Frau Müller hat bestimmt ein postoperatives Delir.“ Gemeinsam gehen Sie an ihr Bett. Auf genauere Nachfrage ist Frau Müller nicht orientiert: Sie weiß nicht, wo sie ist, welchen Monat wir haben und warum sie im Krankenhaus ist. Sie ist weiterhin aggressiv und möchte in Ruhe gelassen werden. Mit sehr viel Geduld und beruhigendem Zureden gelingt es, dass sie sich wieder in ihr Bett legt. Der Arzt verabreicht ihr ein Neuroleptikum, das sie etwas zur Ruhe kommen und schlafen lässt. Sie wird per Monitoring engmaschig überwacht, die anfänglich leichte Tachykardie und Hypertonie normalisieren sich bald. Die weiteren Vitalparameter bleiben unauffällig. Am nächsten Morgen kann sich Frau Müller an nichts erinnern, sie ist freundlich wie zuvor. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

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17

Psychische Notfälle Abb. 17.2 Ursachen eines Delirs.

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stark erhöhtes Risiko bei älteren Menschen!

Ein Delir hat immer eine organische Ursache, z. B. schwere Allgemeinerkrankungen mit Fieber, Schädigungen des Gehirns oder eine Exsikkose. Aber auch Operationen, die Einnahme von Medikamenten und der Entzug von Alkohol oder Benzodiazepinen können ein Delir auslösen. Alte Menschen haben ein stark erhöhtes Risiko, die Abgrenzung von einer Demenz kann schwierig sein.

„Stress“ • Verbrennungen • Operationen (z. B. Hüft-OP)

Hirnerkrankungen

Substanzentzug

• Schlaganfall • Schädel-Hirn-Trauma • Meningitis, Enzephalitis

• Alkoholentzug • Benzodiazepinentzug Delir

Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Allgemeinerkrankungen • Infektionen (z. B. Pneumonie) • Stoffwechselentgleisungen (z. B. Diabetes mellitus) • Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Herzinsuffizienz)

Vergiftungen • Medikamente (z. B. Antidepressiva) • Pflanzen (z. B. Tollkirsche) • Drogen (z. B. Kokain)

Grundlagen

Abb. 17.3 Symptomkomplex bei Delir.

Synonyme • akutes organisches Psychosyndrom, akute organische Psychose, Verwirrtheitszustand, delirantes Syndrom

Orientierungsstörungen

Definition Delir Charakteristisch ist ein plötzlich auftretender Verwirrtheitszustand mit vorübergehenden Störungen der psychischen und körperlichen Funktionen.

Wer bin ic h?

Abends? Störungen der g? a t n Konzentration und Mo Wo bin ic h? Auffassungsgabe Wie? Hä?

Bewusstseinseintrübung

Ursachen • Ein Delir kann zahlreiche organische Ursachen haben (▶ Abb. 17.2).

Symptomatik Psychische Symptome • Die Symptome entwickeln sich innerhalb weniger Stunden bis Tage, oft im Zuge einer schweren körperlichen Erkrankung. Typisch ist eine Bewusstseinstrübung: Die Patienten sind zwar wach, aber verwirrt und nicht in der Lage, ihre Umwelt und sich selbst klar und geordnet wahrzunehmen. Sie können neue Informationen nicht aufnehmen. Die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, die Orientierung, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis sind schwer beeinträchtigt. Hinzu können weitere psychische Auffälligkeiten kommen (▶ Abb. 17.3): ● rascher Wechsel zwischen übermäßig und wenig aktiven Phasen, Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus: Häufig wandern die Patienten nachts umher und sind leicht erregbar. Tagsüber sind sie schläfrig. ● Veränderungen der Wahrnehmung, mitunter optische Halluzinationen (z. B. Sehen „weißer Mäuse“) ● Wahngedanken, Ängstlichkeit, gereizte Grundstimmung mit erhöhter Aggressivität Vegetative Symptome • Häufig und potenziell lebensbedrohlich sind vegetative Veränderungen wie Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Blutdruckanstieg, Schwitzen und Übelkeit/Erbrechen.

ACHTUNG Das Delir ist ein lebensbedrohlicher Notfall!

440

DELIR Wahrnehmungsstörungen: illusionäre Verkennungen und Halluzinationen

Psychomotorik und Antrieb gesteigert oder reduziert

Verlauf: akut, fluktuierend, prinzipiell reversibel

vegetative Störungen Wahn, Angst, Aggressionen, Reizbarkeit

Störungen des Schlaf-WachRhythmus

Typisch für ein Delir ist eine Bewusstseinstrübung, die sich innerhalb weniger Stunden bis Tage entwickelt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Entzugsdelir • Charakteristisch für das Delirium tremens bei Alkoholentzug ist (zusätzlich zu den oben genannten Symptomen) ein grobschlägiges Händezittern (Tremor). Die Patienten sind durch generalisierte Krampfanfälle und ein akutes Nierenversagen gefährdet. Auch ein Benzodiazepinentzug kann ein Delir mit Krampfanfällen auslösen.

Psychische Notfälle

Versorgung des Patienten ACHTUNG Die Patienten können aggressiv werden, beachten Sie unbedingt den Eigenschutz! Fordern Sie bei Eigen- oder Fremdgefährdung polizeiliche und/oder notärztliche Unterstützung an. Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, inkl. BZ-Bestimmung (obligat bei Patienten mit Bewusstseinsstörung!), Körpertemperatur, EKG ● Beruhigung des Patienten (soweit möglich) ● Oberkörperhochlage bzw. Lagerung nach Wunsch des Patienten (sofern möglich) ● bei Hyperthermie Haut kühlen (feuchte Tücher) ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation Erweiterte Maßnahmen • Anlage eines i. v.-Zugangs, mit VEL offenhalten. Bei psychomotorischer Unruhe oder Erregungszuständen werden Neuroleptika (z. B. Haloperidol) oder Benzodiazepine wie Midazolam (S. 123) gegeben. Zur weiteren Behandlung wird der Patient in eine Klinik mit psychiatrischer oder internistischer Abteilung transportiert (ggf. mittels Zwangseinweisung), oft ist eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich. Achten Sie beim Transport auf eine gute Sicherung des Patienten! Versuchen Sie, empathisch auf ihn einzuwirken, um Ängste zu abzumildern.

RETTEN TO GO Delir ●







Definition: plötzlich auftretender, reversibler Verwirrtheitszustand als Folge organischer Störungen, z. B. schwere Allgemeinerkrankungen, Drogen, Exsikkose, Alkoholentzug Symptome: Entwicklung innerhalb weniger Stunden bis Tage; Bewusstseinstrübung (Patient wach, aber verwirrt) und Desorientiertheit (zeitlich, örtlich), Störungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis, vegetative Störungen, im Wechsel hyperaktive und hypoaktive Phasen, bei Alkohol- und Benzodiazepinentzug Gefahr von Krampfanfällen ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, BZ, Temperatur, EKG), Beruhigung des Patienten, Oberkörperhochlagerung bzw. Lagerung nach Wunsch des Patienten, bei Hyperthermie Haut kühlen, i. v.-Zugang vorbereiten, NA nachfordern ToDo erweitert: Neuroleptika oder Benzodiazepine bei psychomotorischer Unruhe oder Erregungszuständen

17.3.2 Suizidalität Definition Suizidalität Suizidalität bezeichnet die latente oder akute Absicht zur Selbsttötung, die meistens über einen längeren Zeitraum heranreift. Ein Suizid (Selbstmord) ist eine absichtliche Selbstschädigung mit Todesfolge. Bei einem Suizidversuch hat der Betroffene zwar die Absicht einer tödlichen Selbstschädigung, bricht das Vorhaben aber rechtzeitig ab oder wird gerettet.

Bedeutung für den Rettungsdienst • Suizide gehören zu den 10 häufigsten Todesursachen: Im Jahr 2021 verübten 9 215 Menschen in Deutschland Selbstmord, 75 % davon waren Männer. Dies sind deutlich mehr Menschen, als z. B. durch illegale Drogen oder Verkehrsunfälle sterben. Einsätze bei suizidalen Krisen setzen immer ein hohes Maß an Empathie und Belastbarkeit beim Einsatzpersonal voraus. Ursachen • Meistens ist Suizidalität als Symptom einer psychischen Erkrankung anzusehen oder die Folge einer psychosozialen Krisensituation. Ein erhöhtes Risiko besteht generell: ● bei alleinstehenden Menschen, v. a. bei älteren Männern mit geringen sozialen und religiösen Bindungen ● bei Menschen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen, v. a. bei Depressionen, Suchterkrankungen, Schizophrenie, Angst- und Persönlichkeitsstörungen ● bei Menschen, die bereits früher Suizidversuche unternommen haben ● in bestimmten Lebenssituationen: z. B. Reifungskrisen in der Jugend, Trennungen, Verlust des Arbeitsplatzes, Tod naher Bezugspersonen, Mitteilung der Diagnose einer schwerwiegenden Erkrankung (z. B. Krebserkrankung), Vertreibung und Flucht Symptomatik • In der Regel geht einem Suizid eine längere Entscheidungs- und Planungsphase voraus, während der sich das Denken und Handeln auf das Thema Suizid einengt (▶ Abb. 17.4). Unterschieden werden „weiche“ Methoden (häufiger bei Frauen und bei Suizidversuchen, z. B. Überoder Unterdosierung von Medikamenten, z. B. Schlafmittel, Insulin) und „harte“ Methoden wie Erschießen oder Erhängen (häufiger bei Männern und bei „erfolgreichen“ Suiziden).

ACHTUNG Jede Erwähnung von Suizidgedanken, jede Suizidankündigung und jeder Suizidversuch muss ernst genommen werden! Die Betroffenen benötigen unbedingt professionelle Hilfe. Versorgung des Patienten • Treffen Sie während eines Suizidversuchs ein, ist ein behutsames und vorausschauendes Vorgehen das oberste Gebot. Schalten Sie bereits vor dem Eintreffen an der Einsatzstelle das Sondersignal aus, um Stress zu vermeiden und nicht unnötig auf die Situation aufmerksam zu machen. Nähern Sie sich dem Patienten vorsichtig und reagieren Sie auf seine Forderungen, z. B. Abstand zu halten. Eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik (S. 555) ist ganz klar anzustreben, da bei suizidalen Absichten der Schutz des Patienten vor sich selbst im Vordergrund steht und je nach Art des geplanten Suizides auch eine Fremdgefährdung nicht auszuschließen ist. Ist der Suizidversuch fehlgeschlagen, gehen Sie nach (c)ABCDE- und SAMPLER-Schema vor. Suchen Sie nach lebensbedrohlichen Verletzungen und ggf. nach Hinweisen auf eine Intoxikation. Ist der Betroffene kommunikativ, gehen Sie empathisch vor (z. B. keine Vorwürfe machen). Bei einem erfolgten Suizid müssen Sie sich im Umfeld des Betroffenen vorsichtig bewegen, um keine Spuren zu verwischen. Eine kriminaltechnische Untersuchung soll Aufschluss darüber geben, ob Fremdeinwirkung vorliegt oder nicht. Erhängte Suizidenten werden nicht abgenommen. Hat der Suizident Hilfsmittel verwendet, müssen Sie diese so belassen, wie Sie sie vorgefunden haben. Angehörige benötigen besonders viel Aufmerksamkeit. Meistens ist der Schritt 441

17

Psychische Notfälle Abb. 17.4 Stadien der suizidalen Entwicklung.

Erwägung

?

Ambivalenz

sozialer Rückzug

direkte Suizidankündigungen

passive Todesfantasien Auseinandersetzung mit Suiziden in den Medien, im Umfeld usw. Hinweise

Entschluss

Hilferuf als Ventilfunktion

Hilferufe, direkte Ankündigungen

fallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

trügerische Ruhe, indirekte Ankündigungen

RETTEN TO GO Suizidalität







Suizidhandlung

Vorbereitungshandlungen, z.B. Testament, spontane Reisepläne

der Betroffenen in den Suizid für sie völlig verstörend, unerwartet und überraschend. Oft ist es hilfreich, über die Leitstelle ein Kriseninterventionsteam (S. 439) anzufordern.



!

Nur selten entscheiden Menschen spontan, Selbstmord zu begehen. Die suizidale Entwicklung folgt (nach Pöldinger, 1968) mehreren Stadien. Die meisten Betroffenen sprechen mehr oder weniger offen über ihre Selbstmordgedanken – allerdings werden diese Ankündigungen oft nicht ausreichend ernst genommen. Aus: retten – Not-

Definitionen: – Suizid (Selbstmord): absichtliche Selbstschädigung mit Todesfolge – Suizidalität: Absicht zur Selbsttötung Risikofaktoren: schwere körperliche oder psychische Erkrankungen (z. B. Depressionen), frühere Suizidversuche, schwierige Lebenssituationen Jede Suizidankündigung und jeder Suizidversuch muss ernst genommen werden! Treffen Sie während eines Suizidversuchs ein, sollten Sie auf die Forderungen und Äußerungen des Patienten möglichst eingehen. Bleibt der Suizidversuch erfolglos, ist eine Unterbringung des Patienten anzustreben. Wird ein Patient nach Suizid tot aufgefunden oder verstirbt, darf am Auffindeort wegen der nachfolgenden kriminaltechnischen Untersuchung nichts verändert werden. Für Angehörige kann der Einsatz eines Kriseninterventionsteams hilfreich sein.

ACHTUNG Beachten Sie unbedingt den Eigenschutz! Fordern Sie bei Verdacht auf Eigen- oder Fremdgefährdung unbedingt notärztliche und/oder polizeiliche Unterstützung an. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring: SpO2, Puls, RR, BZ, 12-Kanal-EKG ● möglichst Beruhigung des Patienten: Talk-Down (S. 438) ● Fremdanamnese nach SAMPLER-Schema, Eigenanamnese i. d. R. nicht zielführend ● i. v.-Zugang, VEL und Medikation vorbereiten ● NA nachfordern, falls Sedierung des Patienten notwendig Erweiterte Maßnahmen • Je nach Ursache und Schweregrad kann z. B. eine Sedierung mit einem Benzodiazepin (S. 123) erforderlich sein. Der Patient wird in eine internistische oder psychiatrische Klinik transportiert.

RETTEN TO GO Akute Erregungszustände ●



17.3.3 Akute Erregungszustände Ursachen • Viele psychische Störungen können akute Erregungszustände auslösen, darunter akute Manien (S. 445), akute Schübe einer Schizophrenie (S. 449), ein Delir (S. 439) und Persönlichkeitsstörungen. In Frage kommen aber auch akute Belastungsreaktionen, organische Störungen wie eine Hypoglykämie (S. 358), eine Pneumonie (S. 267) oder eine Demenzerkrankung (S. 444), die Einnahme von Drogen sowie Vergiftungen. Symptomatik • Die Psychomotorik ist gesteigert (z. B. ständiges Hin-und-Herlaufen), die Betroffenen sind enthemmt bis zum Kontrollverlust, sie sprechen viel oder schreien. Oft sind sie auch gereizt und latent aggressiv, was schnell in offene Gewalttätigkeit umschlagen kann.





Ursachen: psychische (z. B. Manie, Schizophrenie, akute Belastungsreaktion) oder organische Störungen (z. B. Hypoglykämie, Einnahme von Drogen, Vergiftungen) Symptomatik: gesteigerte Psychomotorik, psychische Enthemmung, oft Gereiztheit und Aggressivität ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (SpO2, Puls, RR, BZ, 12-Kanal-EKG), Beruhigung des Patienten (Talk-Down), i. v.-Zugang vorbereiten, ggf. NA nachfordern (bei notwendiger Sedierung) ToDo erweitert: ggf. Sedierung (z. B. Midazolam)

17.3.4 Akute Belastungsreaktion Definition Akute Belastungsreaktion Die akute Belastungsreaktion ist eine vorübergehende Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung. Typisch sind eine rasch wechselnde Symptomatik und eine Unfähigkeit zu geordnetem Verhalten. Die Reaktion klingt im Allgemeinen innerhalb von einigen Stunden ab. Synonyme • akute Krisenreaktion, umgangssprachlich auch „Nervenzusammenbruch“ oder „psychischer Schock“

442

Psychische Notfälle Ursachen • Der Auslöser ist ein plötzliches und unerwartetes Ereignis, das in diesem Moment die Verarbeitungskapazität des Individuums übersteigt. Es bedroht die Sicherheit bzw. die körperliche Integrität des Betroffenen oder nahestehender Personen oder auch die Integrität des Umfeldes. Beispiele sind Unfälle, Naturkatastrophen, Überfälle, Krieg, der Verlust eines nahen Angehörigen, das Beobachten eines Mordes oder ein Wohnungsbrand. Belastungsreaktion im Rettungsdienst • Belastende Einsätze können auch bei Ihnen oder Ihren Kollegen eine akute Belastungsreaktion auslösen, siehe auch das Kapitel zu Stressreaktionen (S. 20). Symptomatik • Meist beginnt innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis eine Art emotionale Betäubung, oft begleitet von einem Gefühl von Unwirklichkeit. Die Betroffenen ziehen sich aus der Situation zurück („Totstellreflex“) oder entwickeln einen Unruhezustand mit Verzweiflung, Wut, Auffassungs- und Konzentrationsstörungen sowie Fehlhandlungen (z. B. Fluchtreaktion). Häufig bestehen vegetative Angstsymptome (z. B. Tachykardie, Schwitzen, Erröten). Die Erinnerung an die Episode kann teilweise oder komplett fehlen (Amnesie).

! Merke Reaktion vs. Störung

Die akute Belastungsreaktion ist eine normale Reaktion auf ein anomales Ereignis. Die posttraumatische Belastungsstörung ist dagegen die Folge einer Fehlverarbeitung solcher Ereignisse. Akutmaßnahmen • Achten Sie auf ein sicheres Umfeld. Versuchen Sie, die Situation so überschaubar wie möglich zu halten: Bitten Sie z. B. alle Anwesenden, die in keinem engeren Kontakt mit dem Patienten stehen, sich zu entfernen. Streben Sie einen konstruktiven Dialog mit dem Patienten und einer nahestehenden Person an. Wichtig in der Akutversorgung sind v. a. eine Untersuchung auf körperliche Verletzungen sowie ein Gesprächsangebot. Es ist ausreichend, wenn Sie sich einen groben Überblick über die Situation des Patienten verschaffen. Ein (dosiertes!) Durchsprechen des Ereignisses soll dem Betroffenen Sicherheit vermitteln. Zudem werden die aktuelle psychische Befindlichkeit und das soziale Netzwerk abgeklärt. Es ist sinnvoll ist, Angebote zur späteren Versorgung zu vermitteln (z. B. spezielle Notrufnummern, Kontakt von Selbsthilfegruppen).

ACHTUNG Sedierende Medikamente werden möglichst vermieden, da sie die psychische Aufarbeitung des Ereignisses unterdrücken. Weiterführende Versorgung • Eine stationäre Aufnahme ist nur bei besonderen Problemlagen erforderlich (z. B. schwere Traumatisierung, fehlende soziale Unterstützung, Suizidgedanken). Meistens klingen die Symptome innerhalb von Stunden folgenlos ab – allerdings kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung (S. 444) mit chronischen Beschwerden und erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität entwickeln.

RETTEN TO GO Akute Belastungsreaktion ●





Definition: vorübergehende Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung (z. B. Unfall, Naturkatastrophe, Verlust eines Angehörigen) Symptome: anfangs emotionale Betäubung, später evtl. Verzweiflung, Ärger, Wut, Auffassungsstörungen und Zeichen panischer Angst (z. B. Tachykardie, Schwitzen); Abklingen der Reaktion i. d. R. innerhalb von Stunden ToDo: Suche nach körperlichen Verletzungen, Gesprächsangebot, möglichst keine sedierenden Medikamente; vermitteln Sie den Betroffenen Sicherheit sowie Angebote zur späteren Versorgung (z. B. spezielle Notrufnummern).

17.3.5 Akute Hyperventilation Siehe das Kapitel Respiratorische Notfälle (S. 270).

17.3.6 Akute Angst und Panikattacken Definition Panikattacken Panikattacken sind extreme Angstanfälle mit psychischen (z. B. Todesangst) und körperlichen Symptomen (z. B. Herzrasen, Brustschmerzen, Hyperventilation). Bedeutung für den Rettungsdienst • Vereinzelte Panikattacken betreffen im Lebensverlauf bis zu 20 % aller Menschen mindestens einmal. Ursachen • Furcht und Angst sind lebenswichtige Grundemotionen, die uns vor realen Gefahren schützen. Die Angst kann sich aber verselbständigen und immer weiter steigern. Eine wichtige Rolle spielt die Selbstbeobachtung der körperlichen Angstreaktionen (z. B. Herzklopfen): Die Betroffenen bemerken, dass ihre Herzfrequenz steigt, bekommen dadurch noch mehr Angst, die wiederum die körperlichen Reaktionen verstärkt usw. (Teufelskreis der Angst, ▶ Abb. 17.5). Panikattacken kommen häufig im Rahmen von Angststörungen (S. 450) vor, aber auch bei anderen psychischen Grunderkrankungen, z. B. bei posttraumatischer Belastungsstörung (S. 444), oder bei psychisch gesunden Menschen. Symptomatik • Die Attacken beginnen plötzlich („aus heiterem Himmel“) und sind gekennzeichnet durch intensive Angst sowie bedrohliche Gedanken (z. B. Befürchtung zu kollabieren, die Kontrolle zu verlieren, zu ersticken, einen Herzinfarkt zu erleiden). Häufig haben die Betroffenen ein Gefühl der Unwirklichkeit („nicht wirklich hier“). Die Symptome erreichen innerhalb weniger Minuten ihren Höhepunkt und dauern üblicherweise 10–30 min an. Nach Ende der Akutphase haben die Betroffenen meistens Angst vor weiteren Attacken. Häufige körperliche Symptome sind z. B. Herzrasen, Brust- und Magenschmerzen, Zittern, Schwindel, Übelkeit, Durchfall, Mundtrockenheit, Atemnot mit Hyperventilationssyndrom (S. 273) und Schweißausbrüche.

443

17

Psychische Notfälle Abb. 17.5 Teufelskreis der Angst.

RETTEN TO GO

äußere Reize

Akute Angst und Panikattacken ●

Selbstbeobachtung (Wahrnehmung der körperlichen Reaktion) Zunahme der körperlichen Reaktion (z.B. Herzklopfen, Schwindel)





Gedanke „Gefahr“

Angst ●

Das Beobachten der eigenen körperlichen Reaktionen führt dazu, dass sich die Angst immer weiter verstärkt. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

! Merke Psychisch oder organisch?

Durch die Vielzahl körperlicher Symptome ist die Abgrenzung von organischen Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt, Hypoglykämie) mitunter schwierig. Die Verdachtsdiagnose „Panikattacke“ dürfen Sie erst stellen, wenn mit dem (c)ABCDE-Schema und einem Basismonitoring bedrohliche körperliche Störungen ausgeschlossen sind! Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten • Wirken Sie beruhigend und verständnisvoll auf den Patienten ein und nehmen Sie die Ängste ernst, auch wenn sie objektiv nicht begründet sind. Erklären Sie alle Ihre Maßnahmen, um keine weiteren Ängste auszulösen. ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring: Atemfrequenz, SpO2, Rekapillarisierungszeit, Puls, RR, EKG, Körpertemperatur ● Lagerung nach Patientenwunsch ● O2-Gabe: sättigungsabhängig, ggf. Behandlung einer Hyperventilation (S. 270) ● i. v.-Zugang und Medikation vorbereiten ● bei schwerer Attacke notärztliche Unterstützung zur Sedierung anfordern Lassen Sie den Patienten nach Abklingen der Angstattacke nicht allein zurück! Ziehen Sie Angehörige, enge Freunde oder den Hausarzt hinzu oder transportieren Sie den Patienten in eine Klinik. Erweiterte Maßnahmen • In schweren Fällen kann der NA zur medikamentösen Sedierung ein Benzodiazepin (S. 123) verabreichen. Oft werden lebensbedrohliche organische Ursachen (z. B. Herzinfarkt) bereits in der Notaufnahme ausgeschlossen und der Patient wieder nach Hause entlassen.

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Definition: extreme Angstanfälle, häufig im Rahmen einer Angststörung, aber auch bei psychisch Gesunden Symptomatik: plötzlicher Beginn, Dauer üblicherweise 10–30 min, Mischung aus psychischen (z. B. intensive Angst, bedrohliche Gedanken) und körperlichen Symptomen (z. B. Herzrasen, Hyperventilation) ToDo Basis: beruhigend und verständnisvoll auf den Patienten einwirken, Ängste ernst nehmen, Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring (Af, SpO2, Rekapillarisierungszeit, Puls, RR, EKG, Körpertemperatur), Lagerung nach Patientenwunsch, O2-Gabe (sättigungsabhängig) bzw. Hyperventilation behandeln, i. v.-Zugang vorbereiten, bei schwerer Attacke NA nachfordern ToDo erweitert: in schweren Fällen medikamentöse Sedierung durch NA

17.4 Wichtige psychische Grunderkrankungen 17.4.1 Demenz Definition Demenz Demenz ist ein Überbegriff für organische Störungen des Gehirns mit fortschreitender Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen. Synonym • Demenzielles Syndrom Bedeutung für den Rettungsdienst • In Deutschland sind heute ca. 1,6 Millionen Menschen von Demenzen betroffen. Mit der Zahl Hochbetagter wird auch die Zahl der Menschen mit Demenz in Zukunft stark steigen. Sie werden daher bei Ihren Einsätzen häufig mit solchen Patienten zu tun haben. Begegnen Sie ihnen trotz der kognitiven Einschränkungen immer mit Achtung und Respekt und kommunizieren Sie adäquat! Ursachen • Demenzen kommen v. a. (aber nicht nur!) bei älteren Menschen vor. Die häufigsten Formen sind die durch degenerative Prozesse bedingte Alzheimer-Krankheit, die vaskuläre Demenz als Spätfolge der Arteriosklerose (S. 300) mit Durchblutungsstörungen des Gehirns und Mischformen. Daneben gibt es noch eine Reihe seltenerer Ursachen. Symptomatik • Im Vordergrund stehen fortschreitende kognitive Störungen. Diese betreffen v. a. das Gedächtnis und das Lernen, aber auch das Denken, die Sprache, die Auffassungsgabe sowie die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit. Zu Beginn der Erkrankung überspielen die Betroffenen häufig ihre Defizite, indem sie z. B. das Gesprächsthema wechseln. Meist sind zunächst die Merkfähigkeit und das Kurzzeitgedächtnis betroffen („Vergesslichkeit“), erst im weiteren Verlauf auch das Altgedächtnis (z. B. Erinnerungen an die eigene Jugend). Es folgen Orientierungsstörungen sowie nicht kognitive Symptome, z. B. Stimmungsschwankungen, eine Umkehr des Tag-Nacht-Rhythmus, sozialer Rückzug, eine Neigung zu Verwahrlosung und Sprachstörungen. Bei der Alzheimer-Demenz nimmt die Gedächtnisleistung nimmt allmählich, aber unaufhaltsam ab. Die vaskuläre De-

Wichtige psychische Grunderkrankungen menz verläuft schubförmig, mit eher plötzlichen Verschlechterungen bei wiederholten Schlaganfällen.

! Merke Nur vergesslich oder dement?

Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen „noch normal“ und einer Demenz ist die Fähigkeit der Betroffenen, ihren Alltag selbstständig und ohne größere Einschränkungen zu meistern. Therapie und Prognose • Der Krankheitsverlauf der Alzheimer-Demenz kann durch Medikamente verlangsamt werden, eine Heilung ist heute jedoch nicht möglich. Bei vaskulärer Demenz werden primär die Herz-Kreislauf-Risikofaktoren behandelt (z. B. Blutdrucksenkung, Rauch-Stopp). Wichtig sind ein aktivierend-beschäftigendes, geordnetes Umfeld sowie eine angemessene Beratung der Angehörigen. Demente Menschen werden dabei unterstützt, noch vorhandene Fähigkeiten anzuwenden und dadurch Selbstständigkeit und Selbstwert zu erhalten. Die Lebenserwartung ist gegenüber Gesunden deutlich verkürzt.

RETTEN TO GO Demenz ●







Definition: fortschreitende kognitive Störungen, die v. a. das Gedächtnis und das Lernen, aber auch das Denken, die Sprache, die Orientierung, das Urteilsvermögen, die emotionale Kontrolle und das Sozialverhalten betreffen Ursachen: am häufigsten Alzheimer-Demenz, gefolgt von vaskulärer Demenz und Mischformen Symptome: über mindestens 6 Monate fortschreitender Verlauf mit Verlust des Kurzzeitgedächtnisses („Vergesslichkeit“), Orientierungs-, Denk- und Sprachstörungen Therapie: Verzögerung des Verlaufs durch Medikamente bei Alzheimer-Demenz, ansonsten aktivierend-beschäftigendes, geordnetes Umfeld, Behandlung von kardiovaskulären Risikofaktoren

Stimmung morgens am schlechtesten und bessert sich im Tagesverlauf. Das Denken ist verlangsamt, es besteht eine starke Neigung zum Grübeln. Diese Symptome können v. a. bei älteren Menschen die Abgrenzung von einer Demenz schwierig machen. Die Eigeninitiative ist vermindert, die Bewegungen sind verlangsamt. Der Gesichtsausdruck ist traurig und maskenhaft erstarrt. Umgekehrt ist auch eine deutliche psychomotorische Unruhe möglich (agitierte Depression). Mitunter kommen psychotische Symptome wie Wahn (z. B. wahnhafte Überzeugung, Schuld auf sich geladen zu haben) und Halluzinationen (z. B. Stimmenhören) vor. Das Suizidrisiko ist stark erhöht! Körperliche Symptomatik • Viele Menschen mit Depressionen leiden unter vegetativen Symptomen, z. B. Schlafstörungen mit frühmorgendlichem Erwachen und allgemeiner Erschöpfung, Appetit- und Libidoverlust und Rücken- oder Kopfschmerzen. Mitunter verschleiern diese Beschwerden die zugrundeliegende psychische Problematik. Therapie und Prognose • Meistens wird eine Kombination aus Medikamenten (Antidepressiva) und einer Psychotherapie empfohlen. Einzelne depressive Phasen lassen sich heute relativ gut behandeln. Rückfälle sind allerdings sehr häufig und können im Langzeitverlauf zu erheblichen psychosozialen Einschränkungen führen (z. B. Arbeitsplatzverlust als Folge langer Fehlzeiten, familiäre Probleme).

RETTEN TO GO Depression ●





17.4.2 Depression Definition Depression Charakteristische Symptome sind gedrückte Stimmung, Interessensverlust, Freudlosigkeit, eine Verminderung des Antriebs und rasche Ermüdbarkeit, die über mindestens 2 Wochen anhalten. Bedeutung für den Rettungsdienst • Im Lebensverlauf sind bis zu 20 % aller Menschen von einer Depression betroffen, Frauen häufiger als Männer. Sie werden daher immer wieder auf Menschen mit den geschilderten Symptome treffen. Das Suizidrisiko ist stark erhöht! Auch Sie und Ihre Kollegen sind nicht vor Depressionen geschützt – sprechen Sie Ihre Kollegen ggf. darauf an und denken Sie daran, dass es professionelle Hilfsangebote gibt. Ursachen • Als Ursache wird ein Zusammenwirken von genetischen, neurobiologischen, kognitiven und psychosozialen Faktoren (z. B. kritische Lebensereignisse, negative Denkschemata) angesehen. Eine Sonderform ist die Wochenbettdepression (S. 490). Psychische Symptomatik • Typisch sind Niedergeschlagenheit, Freud- und Interessenlosigkeit, Reizbarkeit, Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld, vermindertes Selbstbewusstsein, Zukunftsängste und Hoffnungslosigkeit. Häufig ist die

Definition: negative Veränderung von Stimmung und Affektivität über einen längeren Zeitraum Symptomatik: gedrückte Stimmung, Interessensverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs, rasche Ermüdbarkeit, stark erhöhtes Suizidrisiko, vegetative Symptome (z. B. Schlafstörungen, Appetitverlust) Therapie: meist Kombination aus Medikamenten (Antidepressiva) und Psychotherapie

17.4.3 Sucht und Abhängigkeit Grundlagen Hier wird auf allgemeine Aspekte und die Langzeitfolgen eines chronischen Konsums bzw. auf die Abhängigkeit von wichtigen Drogengruppen eingegangen. Für die Akuteffekte bzw. Vergiftungssymptome siehe das Kapitel Intoxikationen (S. 512).

Definition Sucht, Abhängigkeit und Missbrauch Bei Suchterkrankungen besteht eine Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, also von Stoffen mit Wirkung auf die Psyche. Die Abhängigkeit hat immer psychische, häufig zusätzlich auch körperliche Aspekte. Folgende Kriterien sind für die Diagnosestellung entscheidend, nicht alle müssen erfüllt sein: ● Suchtdruck (Craving): starker Wunsch bzw. gefühlter Zwang, die Substanz zu konsumieren ● eingeengtes Verhaltensmuster: Vernachlässigung anderer Interessen wegen des Konsums oder der Beschaffung der Substanz ● verminderte Kontrollfähigkeit: vergebliche Versuche, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren ● körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums 445

17

Psychische Notfälle Toleranzentwicklung: Zufuhr zunehmend höherer Dosierungen, um den gewünschten Effekt zu erreichen ● anhaltender Konsum trotz eindeutiger körperlicher oder psychischer Folgeschäden Als Missbrauch psychotroper Substanzen wird jeder Konsum bezeichnet, der innerhalb der letzten 12 Monate zu körperlichen und/ oder psychischen Schädigungen geführt hat. ●

Bedeutung für den Rettungsdienst • In Ihrem Berufsalltag werden Ihnen häufig Menschen mit Suchterkrankungen begegnen. Häufige Alarmierungsgründe sind akute Intoxikationen (S. 512), akute Erregungszustände (S. 442), akute Entzugssymptome, v. a. ein Entzugsdelir (S. 439) bei Abhängigkeit von Alkohol oder Benzodiazepinen, und Suizidversuche (S. 441). Zudem können Sie in Ihrem beruflichen Umfeld mit Abhängigkeiten konfrontiert werden, da diese bei Gesundheitsberufen relativ weit verbreitet sind. Ursachen • Bei der Entstehung spielen genetische, psychologische (z. B. Lernen am Modell, Missbrauchserfahrungen) und soziale Faktoren (z. B. Verfügbarkeit von und Umgang mit Substanzen in einer Gesellschaft) zusammen.

Suchtmittel Am weitaus häufigsten sind Abhängigkeiten von den legalen Suchtmitteln Tabak und Alkohol sowie von Medikamenten. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen geben ca. 25 % aller Erwachsenen an, zumindest einmal im Leben eine illegale Droge konsumiert zu haben, am häufigsten Cannabis, seltener Amphetamine, Kokain sowie Halluzinogene wie Pilze oder LSD. Ein häufiges Problem ist der Mischkonsum mehrerer Substanzen (z. B. Alkohol + Tabak).

! Merke Mischkonsum

Werden unterschiedliche psychoaktive Substanzen gleichzeitig oder mit kurzem Abstand konsumiert, potenziert sich das Risiko für körperliche und psychische Schädigungen („Ein Rausch ist des anderen Feind“). Die Wechselwirkungen der Substanzen sind für die Notfallversorgung von Vergiftungen schlecht vorhersehbar. Illegal erworbene Drogen sind häufig mit anderen Substanzen verschnitten. Dadurch können Konsumierende die Dosierung schwierig abschätzen, zudem können die zugesetzten Substanzen zusätzlich schädigend wirken. Tabak • Die Lebenserwartung von Rauchern ist gegenüber Nichtrauchern um etwa 10 Jahre verkürzt. Die wichtigsten Probleme sind Krebserkrankungen (v. a. Lunge, Kehlkopf, Mundhöhle, Speiseröhre, Pankreas, Harnblase und Nieren) und eine verstärkte Arteriosklerose mit ihren Folgeerkrankungen (S. 300). Das Lungengewebe wird geschädigt, viele Raucher entwickeln eine COPD (S. 264). Rauchen in der Schwangerschaft erhöht das Risiko für Fehl- und Frühgeburten und Wachstumsstörungen des Kindes. Auch Passivrauchen begünstigt Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, Kinder rauchender Eltern haben ein erhöhtes Risiko für Lungenschädigungen und für den plötzlichen Kindstod (S. 433). Alkohol • Trinkalkohol (Ethanol) ist ein starkes Zellgift: Bei intensivem Konsum schädigt es die Zellen fast aller Organe und führt zu vielen Folgeerkrankungen (▶ Abb. 17.6). Alkoholabhängige haben ein stark erhöhtes Unfallrisiko. Begleitend (oder auch auslösend) bestehen häufig weitere psychische Störungen, z. B. Depressionen oder Angststörungen. Bei Abhängigen beginnen ca. 10 Stunden nach dem letzten Konsum Entzugssymptome (Maximum nach 1–2 Tagen). Typische Symptome sind ein starkes Zittern der Hände, Schwitzen, Schlafstörungen, starke Unruhe, generalisierte Krampfanfälle und u. U. ein lebensbedrohliches Delir (S. 439).

Abb. 17.6 Folgen einer Alkoholabhängigkeit. Stoffwechsel • Hypoglykämie • Hypertriglyzeridämie • Vitaminmangel • Vitamin B1 • Vitamin B12 • Folsäure

Schädigung des Kindes (Alkoholembryopathie) • geistige Behinderung • Wachstumsstörung • kleiner Kopf • flaches Gesicht

Herz-Kreislauf-System • arterielle Hypertonie • Kardiomyopathie • KHK • Herzrhythmusstörungen • pAVK

• ZNS • Hirnatrophie • Demenz • Wernicke-Enzephalopathie • hepatische Enzephalopathie (durch Leberzirrhose) • PNS • Polyneuropathie

körperliche Folgen von Alkoholismus

Knochen • Osteoporose

Nervensystem

Hormonsystem Mund, Rachen, Speiseröhre • Karzinome

• Frau • ausbleibende Regelblutung Immunsystem • Immunschwäche und Infekte

Magen • Gastritis • Ulkus

Haut Leberhautzeichen (bei Leberzirrhose) • Spider naevi • Caput medusae • Lackzunge • Rhinophym

Leber • alkoholische Fettleber • Fettleberhepatitis • Leberzirrhose • Leberkarzinom

• Mann • Gynäkomastie • Impotenz Pankreas • Pankreatitis

Ein anhaltender Alkoholabusus schädigt zahlreiche Organsysteme. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

446

Wichtige psychische Grunderkrankungen Cannabis • Häufiger Konsum kann zu Lust- und Interessenlosigkeit führen, die sich nach Ende der Konsumphasen meistens zurückbilden. Langzeiteffekte sind Gegenstand der Diskussion. Der sehr häufige Mischkonsum mit Tabak kann entsprechende Schädigungen und eine Abhängigkeit auslösen. Cannabiskonsum kann eine bisher symptomfreie Schizophrenie zum Ausbruch bringen. Nach intensiven Konsumphasen kommen Entzugssymptome vor.

onsfähigkeit, Persönlichkeitsveränderungen, Apathie, depressiven Verstimmungen und Erinnerungslücken. Das Unfall- und Sturzrisiko, aber auch das Suizidrisiko sind erhöht. Wird die Einnahme abrupt unterbrochen, entwickelt sich eine Entzugssymptomatik mit Händezittern, Schlaflosigkeit, Angst, aggressivem Verhalten und vegetativen Symptomen (z. B. Schwitzen, Tachykardie, Blutdruckanstieg). Auch ein Entzugsdelir (S. 439) mit Krampfanfällen ist möglich.

Amphetamine, Ecstasy und verwandte Substanzen • Meistens werden diese Substanzen nur anlassbezogen (z. B. bei Partys) eingenommen, eine tatsächliche Abhängigkeit entsteht selten. Bei intensivem Konsum in kurzen Abständen setzen nach einigen Tagen Reizbarkeit, Ängste und Halluzinationen ein, gefolgt von Müdigkeit und Erschöpfung.

Therapie und Prognose

Kokain • Das Abhängigkeitspotenzial ist hoch, als Folge von Gewöhnungseffekten wird die Dosierung im Verlauf oft gesteigert. Typische Folgen eines chronischen Konsums sind psychische Veränderungen wie Ruhelosigkeit, Gereiztheit, Ängste, wirre Gedanken, Konzentrationsstörungen sowie mitunter Persönlichkeitsveränderungen, Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Körperliche Folgeerscheinungen umfassen u. a. Gewichtsverlust und ein erhöhtes Risiko für Krampfanfälle, Schlaganfälle, Herzinfarkte und Rhythmusstörungen. Der hohe Straßenpreis der Droge kann Abhängige in schwere finanzielle Krisen stürzen. Stunden bis Tage nach dem letzten Konsum beginnt ein Entzugssyndrom mit depressiver Verstimmung bis zu Suizidgedanken, Müdigkeit und Schlafstörungen. Opioide • Das Abhängigkeitspotenzial ist sehr hoch! Opioide (S. 121) verursachen kaum Organschäden, die Abhängigkeit hat jedoch weitreichende psychische und soziale Folgen, z. B. soziale Isolation, Arbeitsplatzverlust und finanzielle Probleme mit daraus folgender Beschaffungskriminalität. Abhängige sind durch Mangelernährung und Infektionen gefährdet (Hepatitis B und C, HIV, v. a. bei i. v.-Konsum). Schwangere Abhängige haben ein erhöhtes Komplikationsrisiko. Gefährlich für das Ungeborgene sind zudem der sehr häufige Beikonsum von Nikotin und/oder Alkohol. Etwa 6–10 Stunden nach dem letzten Konsum zeigen sich erste Entzugssymptome mit starkem Craving, Angst, Schmerzen, Unruhe, Schwitzen, Durchfall, Erbrechen, Händezittern, Gänsehaut, Tachykardie und erhöhtem Blutdruck.

Therapiephasen • Für die Behandlung von Abhängigkeiten hat sich ein mehrphasiges Vorgehen bewährt (▶ Abb. 17.7). Substitutionsbehandlung bei Opioidabhängigkeit • Die Abhängigen erhalten orale Opioide in ausreichender Dosierung, um Entzugssymptome zu vermeiden. Das primäre Ziel ist das Unterlassen des Konsums illegal erlangter Substanzen und damit eine Distanzierung von der Drogenszene und eine Entkriminalisierung. Die Abhängigkeit bleibt bestehen, die sozialen und gesundheitlichen Verhältnisse sollen jedoch stabilisiert werden. In Deutschland wird z. B. Methadon für die orale Einnahme eingesetzt. Prognose • Entscheidend für eine dauerhafte Abstinenz ist eine gute therapeutische Begleitung und Einbindung über die Phase des körperlichen Entzugs hinaus. Ohne weiterführende Therapie werden die meisten Abhängigen rückfällig.

RETTEN TO GO Sucht und Abhängigkeit Bei Suchterkrankungen besteht eine Abhängigkeit von psychotropen Substanzen (= Stoffe mit Wirkung auf die Psyche). Kennzeichnend sind u. a. der starke Wunsch oder Zwang, die Substanz zu konsumieren, eine zunehmend höhere Dosierung sowie körperliche Entzugserscheinungen bei Beendigung oder Reduktion des Konsums. Am häufigsten sind Abhängigkeiten von Tabak, Alkohol und Medikamenten (v. a. Benzodiazepine). Abhängigkeiten von illegalen Drogen (z. B. Opioide, Cannabis, Kokain) sind seltener.

Schlaf- und Beruhigungsmittel • Das Abhängigkeitspotenzial von Benzodiazepinen (S. 123) und verwandten Substanzen ist hoch. Die chronische Einnahme führt zu Konzentrationsund Schlafstörungen mit Müdigkeit, verminderter Reakti-

Abb. 17.7 Therapiekette bei Suchterkrankungen.

Kontaktphase

Entgiftung

• Motivation zur Therapie • körperlicher Entzug • Information • Motivation zur Abstinenz • Vermittlung an Entzugsklinik Hausarzt, Alkohol- und Drogenberatungsstelle

Entzugsklinik

Entwöhnung • Unterbrechung der Sucht • Stärkung, Motivation

Fachklinik

Nachsorge und Rehabilitation • dauerhafte Abstinenz • soziale Wiedereingliederung

Beratungsstelle, Selbsthilfegruppe

Die Behandlung von Suchterkrankungen gliedert sich in mehrere Phasen. Aus: Leucht S, Förstl H, Hrsg. Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

447

17

Psychische Notfälle

17.4.4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Definition Posttraumatische Belastungsstörung Die PTBS ist eine verzögerte Reaktion auf ein außergewöhnlich belastendes Ereignis oder eine Situation schwerer Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes, das bei fast jedem Verzweiflung hervorrufen würde. Bedeutung für den Rettungsdienst • Typische Alarmierungsgründe bei Menschen mit PTBS sind Panikattacken (S. 443) und Suizidversuche (S. 441). Beachten Sie, dass Sie als Mitarbeitender im Rettungsdienst ein erhöhtes Risiko haben, selbst traumatisierende Situationen zu erleben und in der Folge eine PTBS zu entwickeln! Ursachen • Das auslösende Ereignis tritt plötzlich und unerwartet auf, belastet den Betroffenen erheblich und übersteigt aufgrund des außergewöhnlichen Charakters seine Verarbeitungskapazität. Typische Auslöser sind das Erleben schwerer körperlicher Gewalt (z. B. Vergewaltigung), Naturkatastrophen, Krieg oder ein schwerer Unfall.

Erinnerungen an das Trauma, oft auch in Albträumen. Die Betroffenen schildern dies häufig als „Filme“, die vor dem inneren Auge ablaufen und die gleichen Emotionen, gepaart mit Hilflosigkeit und Verzweiflung hervorrufen, wie sie sie während des Traumas erlebt hatten. Für weitere Symptome siehe ▶ Abb. 17.8. Das Suizidrisiko ist erhöht. Als Folge einer fehlgeschlagenen Selbsttherapie entwickeln sich relativ häufig Abhängigkeitserkrankungen. Therapie und Prognose • Mit speziellen psychotherapeutischen Methoden werden die Betroffenen in einem geschützten Rahmen mit ihrem Trauma konfrontiert, um es neu zu bewerten und sinnhaft in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Zusätzlich erhalten viele Patienten eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva. Bei frühzeitigem Therapiebeginn sind die Heilungschancen günstig, ohne Therapie sind schwere Folgeerscheinungen möglich.

RETTEN TO GO Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ●

! Merke Prophylaxe der PTBS

Als Rettungssanitäter können Sie einen wichtigen Beitrag leisten: Eine frühe Krisenintervention mit geduldiger Zuwendung und stützender Gesprächsführung direkt nach einem Trauma ist die wichtigste Maßnahme, um die Entstehung einer PTBS zu vermeiden. Symptomatik • Die Symptome können sich unmittelbar nach dem Trauma entwickeln, häufig beginnen sie aber erst nach einer Latenzzeit von einigen Wochen bis zu 6 Monaten. Typische Beschwerden sind Flashbacks (Nachhallerinnerungen), d. h. wiederkehrende, belastende, sich aufdrängende



Definition: verzögerte Reaktion auf ein außergewöhnlich belastendes Ereignis von katastrophalem Ausmaß (z. B. Krieg, Unfall, Vergewaltigung) Symptomatik: – Beginn sofort nach dem Trauma oder mit einer Latenz von Wochen bis Monaten nach dem Trauma – sich aufdrängendes, wiederholtes Nacherleben des Traumas, emotionale Stumpfheit, psychovegetative Übererregtheit, Vermeiden von Erinnerungen an das Trauma, Angst, depressive Reaktionen, erhöhtes Suizidrisiko Therapie: Psychotherapie, zusätzlich oft Antidepressiva

Abb. 17.8 Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung.

Aktivitäten, die Erinnerungen an das Trauma wecken Gedanken an das Trauma

Vermeidungsverhalten

Orte, die Erinnerungen an das Trauma wecken

erhöhte Schreckhaftigkeit

!

Gespräche über das Trauma

Konzentrationsschwierigkeiten

Posttraumatische Belastungsstörung

Schuld- oder Schamgefühle

aggressives Verhalten

Albträume

negative Grundstimmung

Flashbacks

überhöhte Wachsamkeit

Interessensverlust

Suchtverhalten negative Gedanken

erhöhtes Suizidrisiko

Typisch für eine PTBS sind Flashbacks, viele Betroffene ziehen sich sozial zurück. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023 448

Wichtige psychische Grunderkrankungen Abb. 17.9 Symptomatik der bipolaren affektiven Störung.

manische Phase unangemessen gehobene oder gereizte Stimmung verringertes Schlafbedürfnis

Logorrhö

überhöhtes Selbstvertrauen

Hyperaktivität psychotische Symptome Ideenflucht

Schwanken zwischen Manie und Depression

Interessensverlust

Suizidgedanken Gewichtsverlust

Gefühle von Hoffnungslosigkeit

depressive Phase niedergeschlagene und hoffnungslose Stimmung Charakteristisch ist die Abfolge von (hypo)manischen und depressiven Episoden. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

17.4.5 Bipolare affektive Störung RETTEN TO GO

Definition Bipolare affektive Störung Charakteristisch sind wiederholte Episoden, in denen die Stimmung und das Aktivitätsniveau der Erkrankten deutlich gestört sind, im Sinne von depressiven und manischen bzw. hypomanischen Episoden („manisch-depressive Störung“, ▶ Abb. 17.9). Bedeutung für den Rettungsdienst • Menschen mit akuter Manie zeigen keine Krankheitseinsicht. Typischerweise alarmieren Angehörige oder Passanten den Rettungsdienst, wenn sich ein akuter Erregungszustand (S. 442) bzw. eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung entwickelt. Häufig ist eine Zwangseinweisung (S. 555) erforderlich. Symptomatik • Die Symptome während depressiver Episoden entsprechen denen einer Depression (S. 444). Während einer akuten Manie ist die Stimmung unangemessen euphorisch oder gereizt-aggressiv, soziale Hemmungen fallen weg. Hinzu kommen u. a. Rededrang, fehlendes Schlafbedürfnis, gesteigerte sexuelle Aktivität und Selbstüberschätzung. Größenideen, religiöse Wahnvorstellungen (z. B.: „Ich bin der Messias“) oder Verfolgungswahn sind häufig. Es besteht keine Krankheitseinsicht. Die einzelnen Phasen dauern Wochen bis Monate, dazwischen sind die Betroffenen symptomfrei. Therapie • Während akuter Phasen werden die Symptome medikamentös behandelt. In vielen Fällen ist eine langfristige medikamentöse Rückfallprophylaxe sinnvoll, um die Häufigkeit erneuter Schübe zu reduzieren. Eine psychotherapeutische Begleitung verbessert die Gesamtprognose deutlich.

Bipolare affektive Störung ●





Definition: Wechsel zwischen depressiven und (hypo) manischen Episoden, die jeweils über Wochen bis Monate anhalten Symptomatik: während depressiver Episoden Symptome wie bei Depression, während manischer Episoden euphorische oder gereizt-aggressive Stimmung, Rededrang, vermindertes Schlafbedürfnis, Selbstüberschätzung, Größenideen, keine Krankheitseinsicht Therapie: Medikamente, Psychotherapie

17.4.6 Schizophrenie Definition Schizophrenie Charakteristisch sind grundlegende Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affektivität. Die Patienten zeigen oft eine Mischung aus Denk-, Ich- und Wahrnehmungsstörungen, begleitet von affektiven und psychomotorischen Störungen. Bedeutung für den Rettungsdienst • Berührungspunkte mit dem Rettungsdienst sind v. a. akute Erregungszustände (S. 442) in akut-psychotischen Phasen und akute Suizidalität (S. 441). Ursachen • Als Auslöser werden genetische Faktoren, strukturelle Auffälligkeiten und biochemische Veränderungen des Gehirns, psychosoziale Faktoren (z. B. Lebensereignisse als Auslöser akuter Schübe) und Drogenkonsum angesehen. Symptomatik • Die Symptome beginnen meist im frühen Erwachsenenalter. Viele Betroffene leiden unter „PositivSymptomen“ wie Beeinflussungs- und Wahnerleben (z. B. Verfolgungswahn), akustischen oder anderen Halluzinationen (u. a. Stimmenhören) und auch Ich-Störungen (▶ Abb. 17.1). Möglich sind aber auch „Negativ-Symptome“ wie Sprach- und Gefühlsverarmung.

449

17

Psychische Notfälle Therapie • Die Patienten erhalten über längere Zeit Medikamente, um die Symptome zu unterdrücken (Antipsychotika oder Neuroleptika). Nach Abklingen der Akutsymptomatik wird z. B. durch Arbeits-, Beschäftigungs- oder Psychotherapie versucht, die Alltagskompetenzen der Betroffenen zu verbessern.

Abb. 17.10 Angstbesetzte Themen bei Phobien.

soziale Phobie Angst vor sozialen Situationen, z. B. vor Partys oder Vorträgen

Prognose • Bei einem Teil der Betroffenen heilt die Störung mehr oder weniger folgenlos aus. Bei vielen anderen entwickeln sich im Verlauf jedoch Apathie, Sprachverarmung, sozialer Rückzug und mangelnder psychischer Antrieb. Die Lebenserwartung ist reduziert, v. a. durch ein erhöhtes Suizidrisiko und einen häufig ungesunden Lebensstil.

Klaustrophobie

Hämatophobie

Angst vor engen Räumen, z. B. MRT-Gerät

Angst vor Blut

RETTEN TO GO Zoophobie





Definition: psychische Störung mit Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und der Affektivität Symptomatik: am häufigsten Wahnerleben (z. B. Verfolgungswahn), Halluzinationen (z. B. Stimmenhören), IchStörungen Therapie: Antipsychotika, nach Abklingen der Akutsymptomatik z. B. Beschäftigungs-, Psycho- und Soziotherapie

17.4.7 Angststörungen

Bedeutung für den Rettungsdienst • Bis zu 10 % der Bevölkerung leiden im Lauf des Lebens unter einer behandlungsbedürftigen Angststörung, bei den meisten Formen sind Frauen häufiger betroffen. Der wichtigste Notfall sind Panikattacken (S. 443). Im Rahmen der Akutversorgung von Patienten können Sie z. B. mit einer Spritzenphobie konfrontiert werden. Um damit professionell umzugehen, halten Sie sich vor Augen, dass der Betroffene sich nicht absichtlich „hysterisch anstellt“, sondern tatsächlich starke Angst hat. Bleiben Sie ruhig und gelassen, holen Sie ggf. Unterstützung und versuchen Sie, den Betroffenen während einer unangenehmen Maßnahme abzulenken (z. B., indem Sie ihn etwas erzählen lassen). Ursachen • Angststörungen entstehen durch ein Zusammenwirken von genetischen und sozialen Faktoren, Veränderungen im Gehirn, Persönlichkeitsfaktoren und Lernprozessen. Symptomatik • Die Angst, die Menschen mit Angststörungen empfinden, entspricht prinzipiell der physiologischen Angstreaktion und ist von einer Aktivierung des Sympathikus begleitet (z. B. Zunahme von Atem- und Herzfrequenz). Die Angst kann sich zu einer Panikattacke (S. 443) steigern. Entsprechend dem Auslöser der übersteigerten Angst werden folgende spezifische Angststörungen unterschieden, Mischformen sind häufig: ● Phobien: Bestimmte Objekte oder Situationen lösen die Angst aus (▶ Abb. 17.10). Die Folge ist ein ausgeprägtes 450

Flugangst

Agoraphobie Akrophobie Angst vor Höhen, z. B. Hochhäuser, Aussichtstürme

Angst vor Menschenmengen oder großen Plätzen (ohne Fluchtoder Hilfsmöglichkeit)

Das Meiden des angstbesetzten Objekts kann zu sozialen Einschränkungen führen. Die Betroffenen sind sich dessen bewusst, dass ihre Angst übertrieben ist, können sie aber nicht beherrschen. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Definition Angststörungen Charakteristisch ist ein (im Vergleich zu Gesunden) übersteigertes Angstempfinden. Die Angst wird durch bestimmte Situationen und/oder Objekte ausgelöst (objekt- oder situationsbezogene Angst bei Phobien) oder sie entsteht ohne spezifische Auslöser (objektlose Angst bei Panikstörung und generalisierter Angststörung).

Aviophobie

Angst vor Tieren, z. B. Spinnen

Schizophrenie ●

Phobie Angst vor konkreten Situationen oder Objekten





Vermeidungsverhalten, das je nach Angstobjekt zu mehr oder weniger starken sozialen Einschränkungen führt. Die Betroffenen erkennen, dass ihre Ängste übertrieben sind, können sie aber nicht dauerhaft unterdrücken. generalisierte Angststörung: Die Betroffenen machen sich andauernd und unbegründet schwere Sorgen wegen mehrerer voneinander unabhängiger Sachverhalte (z. B. Gesundheit von Angehörigen, Finanzen). Die Angst wird z. B. von ständiger Nervosität, Zittern, Schwitzen und Oberbauchbeschwerden begleitet. Panikstörung: wiederholte, unvorhersehbare Panikattacken (S. 443) ohne spezifische Auslöser

Therapie und Prognose • Im Rahmen einer Verhaltenstherapie werden die Betroffenen mit ihren Ängsten und deren Auslösern konfrontiert, um ihre Angst zu „verlernen“. Wird die Therapie zügig nach Beginn der Symptomatik eingeleitet, ist die Prognose günstig. Ohne Therapie verlaufen die Störungen meistens chronisch, im Verlauf entwickeln sich häufig Depressionen und/oder Abhängigkeitserkrankungen als Folge von Selbsttherapieversuchen („Angst wegtrinken“).

ACHTUNG Menschen mit Angststörungen sollten allenfalls in der Akutsituation einer Panikattacke mit Beruhigungsmitteln behandelt werden – bei einer länger dauernden Einnahme ist das Abhängigkeitsrisiko hoch!

Wichtige psychische Grunderkrankungen

RETTEN TO GO Angststörungen ●



Definition und Symptomatik: Das Angstempfinden ist (im Vergleich zu Gesunden) übersteigert. – Phobien: Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen (z. B. Tiere, Höhen, Menschenmengen) – generalisierte Angststörung: anhaltende, ohne spezifische Auslöser auftretende Angst mit variablen Symptomen (z. B. ständige Nervosität, Zittern, Schwitzen, Oberbauchbeschwerden) – Panikstörung: wiederholte, unvorhersehbare Panikattacken ohne spezifische Auslöser Therapie: Verhaltenstherapie

451

18

HNO-Notfälle

(S. 379). Bei schwerwiegenden Ursachen bestehen meistens auch weitere Symptome.

18.1 Grundlagen Die meisten Notfälle im Hals-Nasen-Ohren-Bereich (HNOBereich) sind nicht unmittelbar vital bedrohlich. Jedoch können einige Notfallsituationen lebensbedrohlich werden, z. B. schwere Blutungen im HNO-Bereich oder eine akute Verlegung der oberen Atemwege.

18.1.1 Leitsymptome Blutungen aus dem HNO-Bereich • Die Gefährlichkeit von Blutungen aus Mund, Nase und/oder Ohr(en) hängt von der Stärke der Blutung und/oder deren Ursache ab (Notfallanamnese!). Das Spektrum reicht von einem leichten, infektbedingten Nasenbluten bis zu lebensgefährlichen Blutungen durch einen Tumor. Die Blutungsstärke ist abhängig von der Art (Arterien oder Venen), Anzahl und Größe der verletzten Gefäße. Ab einem Blutverlust von ca. 15–30 % des Gesamtvolumens ist bei Erwachsenen von einer lebensbedrohlichen Blutung auszugehen. Bei Kindern können schon deutlich geringere Blutverluste hämodynamisch relevant sein (S. 525)! Zu Details siehe Blutungen aus Nase (S. 454), Ohr (S. 456) und Mund (S. 455). Schwindel • Dieses sehr häufige Symptom hat vielfältige Ursachen (▶ Tab. 18.1), sowohl inner- als auch außerhalb des Gleichgewichtsorgans (z. B. im Herz-Kreislauf-System). Schwindel kann das Zeichen einer eher harmlosen Störung sein (z. B. Höhenschwindel), aber auch auf eine akute, ggf. lebensbedrohliche Ursache hinweisen, z. B. einen Insult

452

Atemnot bei Verlegung der oberen Atemwege • Mechanische Verlegungen (z. B. durch Fremdkörper, Tumoren, Verletzungen) und Entzündungen (z. B. Epiglottitis) der oberen Atemwege, Schleimhautirritationen durch Schadstoffe (z. B. Ozon, Lösungsmittel) und allergische Reaktionen sind die häufigsten Ursachen für akute Atemnot im HNO-Bereich. Für Ursachen außerhalb dieses Bereichs siehe das Kapitel Respiratorische Notfälle (S. 256). Liquorrhö • Die Liquorrhö bezeichnet den Austritt von Liquor cerebrospinalis (S. 100), eines wasserklaren Sekrets, aus der Nase oder einem Ohr. Sie weist auf eine Verletzung der harten Hirnhaut (Dura mater) hin, die ein „Leck“ verursacht hat. Die häufigste Ursache ist eine Schädelbasisfraktur, oft ist das Siebbeindach oder das Felsenbein gebrochen. Aber auch bei Nasennebenhöhlen- oder neurochirurgischen Operationen ist eine Verletzung der Dura mater möglich. Anamnestische Hinweise sind daher ein zurückliegendes Schädel-HirnTrauma (S. 379) oder eine vorangegangene Schädel-OP.

! Merke Liquorrhö – Gefahr im Verzug

Der Austritt von Liquor aus Nase oder Ohr bedeutet, dass die Dura mater verletzt ist. Damit besteht eine offene Verbindung aus der Nase oder dem Ohr ins Gehirn: Die Infektionsgefahr ist hoch! Akute Hörminderung/Hörverlust • Wesentlich ist insbesondere die Frage, ob der Hörverlust akut aufgetreten ist. Durch eine genaue Anamnese lassen sich die Differenzialdiagnosen eingrenzen:

Leitsymptome

▶S. 452

Anamnese und Untersuchung

Grundlagen n

Basismaßnahmen

▶S. 453

▶S. 453

Nasenbluten (Epistaxis) Blutungen aus dem Mund Blutungen aus dem Ohr Notfälle

Schwindel









Eine Entzündung der Ohrtrompete (Tubenkatarrh) und/ oder des Mittelohrs (Otitis media) geht mit Ohrenschmerzen und ggf. eitrigem Ohrausfluss einher. Verletzungen mit Trommelfellperforation, z. B. ein Barotrauma (= plötzliche Änderung des Umgebungsdrucks, z. B. beim Landeanflug, bei einem Tauchunfall oder durch einen Schlag auf das Ohr) oder eine direkte Gewalteinwirkung bzw. Manipulationen (z. B. mit Wattestäbchen) Typisch für ein Knall- oder Explosionstrauma (S. 458) ist eine akute Hörminderung mit Ohrensausen. Ein Hörsturz (S. 459) ist oft von Tinnitus (s. u.) und evtl. Schwindel begleitet, der Gehörgang und das Trommelfell sind unauffällig. Denken Sie insbesondere bei Kindern auch an einen Fremdkörper im Ohr (S. 459)!

Ohrgeräusch (Tinnitus) • Bei einem Tinnitus (lat. „Klingeln“) nehmen die Betroffenen ständig oder immer wieder mit Abständen Geräusche in einem oder in beiden Ohren wahr (oft Pfeifen, Piepsen, Zischen oder Rauschen). Dem Geräusch kann keine äußere Schallquelle zugeordnet werden (= subjektiver, nur vom Betroffenen hörbarer Tinnitus). Beim sehr viel selteneren objektiven Tinnitus sind die Störgeräusche objektiv messbar. ● subjektiver Tinnitus, z. B. nach Knalltrauma, Hörsturz, Barotrauma oder Mittelohrentzündung: Unter Stress oder bei psychisch schlechtem Befinden werden die Ohrgeräusche verstärkt wahrgenommen. ● objektiver Tinnitus, z. B. bei Bluthochdruck, Gefäßfehlbildungen Ein Tinnitus kann akut (< 3 Monate, verschwindet spontan) oder chronisch (> 3 Monate) verlaufen. In der Folge können sich psychische Begleitsymptome entwickeln (z. B. Schlafstörungen). Ein Tinnitus bedarf i. d. R. keines rettungsdienst-

▶S. 456

▶S. 458

▶S. 459

HNO-Notfälle bei Kindern



▶S. 455

▶S. 457

Akustisches Trauma Hörsturz

▶S. 454

▶S. 459

lichen Eingreifens. Die Patienten werden beruhigt. Sie sollen sich zur weiterführenden Diagnostik zeitnah in einer HNOPraxis vorstellen.

18.1.2 Anamnese und Untersuchung Die Anamnese nach dem SAMPLER-Schema (S. 193) umfasst zusätzlich die möglichst exakte Evaluation der Leitsymptome: ● Blutungen aus dem HNO-Bereich oder Liquorrhö: Ist eine Schädelverletzung oder -operation vorangegangen? ● Verletzungen bzw. Erkrankungen des Ohrs: – Haben Sie Ohrenschmerzen (Entzündung? Verletzung?)? – Ist Ihnen ein Ausfluss aus dem Ohr aufgefallen (blutig, eitrig, klar)? – Hören Sie schlechter als sonst (akut/chronisch)? – Leiden Sie an Tinnitus und/oder Schwindel? ● Schwindel (S. 457): Ein gerichteter Schwindel, v. a. ein Drehschwindel („wie in einem Karussell“), weist auf eine Beteiligung des Gleichgewichtsorgans hin, ein ungerichteter Schwindel auf andere Ursachen. Eine vitale Bedrohung wird mit dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) abgeklärt. Die definitive Diagnostik mit bildgebenden Verfahren und spezifischen Untersuchungstechniken ist einer HNO-Praxis oder -Klinik vorbehalten.

18.1.3 Basismaßnahmen Die Vitalfunktionen werden gemäß dem (c)ABCDE-Schema (S. 183) gesichert und aufrechterhalten: Potenziell lebensbedrohliche Symptome, z. B. starke Blutungen aus dem Mund-Nasen-Rachen-Raum, haben bei den Erstmaßnahmen 453

18

HNO-Notfälle Vorrang. Eine O2-Gabe ist v. a. bei Dyspnoe, Bewusstlosigkeit oder Schocksymptomen indiziert. Bei unstillbaren Blutungen, Zeichen des Volumenmangels oder Verschlechterung des Bewusstseinszustandes/Bewusstlosigkeit muss sofort notärztliche Untersützung angefordert werden.



ACHTUNG Der Blutverlust durch Blutungen aus Mund oder Nase kann unterschätzt werden, da das Blut nach hinten in den Rachen abläuft (und geschluckt wird).

RETTEN TO GO Grundlagen zu HNO-Notfällen ●





Leitsymptome: – Blutungen aus Mund, Nase und/oder Ohr: Die Stärke der Blutung und deren Ursache sind entscheidend für die Gefährlichkeit der Blutung. – Schwindel: vielfältige Ursachen, inner- und außerhalb des Gleichgewichtsorgans (z. B. Schlaganfall) – akute Atemnot: durch mechanische Verlegungen (z. B. Fremdkörper), Entzündungen der oberen Atemwege (z. B. Epiglottitis), Schleimhautirritationen durch Schadstoffe (z. B. Ozon) oder allergische Reaktionen – Liquorrhö: Austritt von wasserklarem Sekret aus Nase oder Ohr, meist als Folge einer Schädelbasisfraktur – akute Hörminderung bzw. akuter Hörverlust: z. B. durch eine Mittelohrentzündung, ein Knalltrauma oder einen Hörsturz Die Anamnese nach SAMPLER ist oft wegweisend (z. B. Liquorrhö nach Unfall mit SHT). Basismaßnahmen: Es geht vorrangig um die Sicherung und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE. Bei unstillbaren Blutungen, Zeichen des Volumenmangels bzw. Verschlechterung des Bewusstseinszustandes sofort NA hinzuzuziehen. Bei Blutungen im HNO-Bereich werden Blutverluste oft unterschätzt, weil Blut in den Rachen abfließt!

18.2 Notfälle 18.2.1 Nasenbluten (Epistaxis) Fallbeispiel Nasenbluten durch „Ellenbogencheck“* Sie werden gegen 16:00 Uhr zu einem 25-jährigen Mann mit starker Blutung aus der Nase gerufen. Er habe beim Fußballspiel den Ellenbogen eines Mitspielers ins Gesicht bekommen. Der Nasenrücken ist stark angeschwollen, der Patient drückt sich ein Taschentuch an die Nase. Sie bitten ihn, es zu entfernen, und stellen eine fließende Blutung aus dem rechten Nasenloch fest. *Fallbeispiel fiktiv

Ursachen ● lokale Ursachen: trockene Nasenschleimhäute (Heizung, Klimaanlage), Fremdkörper oder Verletzungen in der Nase, (gefäßreiche) Nasentumoren

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systemische Ursachen, d. h. Nasenbluten als Symptom einer Allgemeinerkrankung: – Häufige Ursachen sind virale Infektionen (oft bei Kindern) und Allergien (z. B. „Heuschnupfen“), u. a. durch die Reizung der Nasenschleimhaut bei häufigem Niesen oder Schnäuzen. – Eine Hypertonie bzw. eine hypertensive Entgleisung (S. 310) kann durch das Einreißen der kleinen Gefäße in der Nasenschleimhaut zu Nasenbluten führen – denken Sie v. a. bei älteren Patienten daran! – Gerinnungsstörungen, die Einnahme gerinnungshemmender Medikamente (z. B. ASS®, Marcumar®) oder bösartige Erkrankungen (z. B. Leukämie) erhöhen das Risiko für (wiederkehrendes) Nasenbluten.

Symptomatik • Die Patienten können Blut verschlucken und auch wieder erbrechen (Bluterbrechen). Sie sind mitunter unruhig, ängstlich und tachykard. Je nach Menge des Blutverlustes können sich Schwindel, Schwäche und auch Schocksymptome entwickeln. Eine behinderte Nasenatmung kann auf einen Fremdkörper oder einen Tumor hinweisen. Differenzialdiagnosen • Bei „Pseudo-Nasenbluten“ tritt Blut aus der Nase aus, obwohl die Blutungsquelle woanders liegt. Dieses Symptom kommt u. a. bei Ösophagusvarizenblutungen (S. 343), Tumorblutungen aus dem Rachen oder nach einer Schädelbasisfraktur vor. Hier sind die Anamnese (z. B. Unfall, Vorerkrankungen) und die Begleitsymptome oft wegweisend. Anamnese und Untersuchung • Nasenbluten erscheint meistens dramatischer, als es ist. In Ausnahmefällen sind aber schwere Blutverluste bis hin zu einem hämorrhagischen Schock (S. 282) möglich! Die Anamnese kann zur Ursachenklärung bereits zielführend sein (z. B. Verletzung? Vorangegangene Operationen? Hat die Blutung bis zum Eintreffen des RD aufgehört oder ist sie seit Alarmierung des RD gleich stark?). Der Blutverlust sollte möglichst quantifiziert werden. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): frühestmögliche RR-Messung, um eine Hypertonie oder eine bedrohliche Blutung mit beginnendem Volumenmangelschock zu erkennen ● Patienten beruhigen: Die Blutung wird oft als bedrohlich empfunden. ● Lagern Sie den Patienten sitzend, am besten mit nach vorne gebeugtem Kopf, damit das Blut nicht in den Rachen fließt (▶ Abb. 18.1). Dies soll eine Verlegung der Atemwege und eine Aspiration verhindern. ● Die Nasenflügel werden mit Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt, um die Blutung schneller zum Stillstand zu bringen. Dies kann der Patient i. d. R. selbst tun. Zwischendurch sollte das Blut ungehindert abfließen können, d. h., der Druck auf die Nasenflügel soll pausiert werden. ● Weisen Sie den Patienten an, dass er das Blut ausspucken und nicht hinunterschlucken soll: Verschlucktes Blut löst starken Brechreiz aus (Aspirationsgefahr!). ● Das Anlegen einer Eiskrawatte im Nacken bewirkt eine lokale Verengung der kleinen Arterien und mindert damit die Blutung. ● Wärmeerhalt mit Rettungsdecke ● bei stärkerer Blutung: i. v.-Zugang, Infusion (VEL) und Medikamente sowie ggf. Nasentamponade vorbereiten ●

Notfälle Abb. 18.1 Maßnahmen bei Nasenbluten.

Fallbeispiel Fortsetzung – Nasenbluten durch „Ellenbogencheck“

Sie bringen den Patienten in eine sitzende Position mit leicht vorgebeugtem Kopf und fordern ihn auf, die Nasenflügel zusammenzudrücken und zwischendurch im Wechsel den Druck zu lockern, damit das Blut abfließen kann. Zusätzlich legen Sie ihm eine Eiskrawatte an. Da die Vitalparameter (RR, Puls) stabil sind, der Patient bei vollem Bewusstsein ist und die Blutung im Verlauf nachlässt, entscheidet Ihr Team, dass kein NA hinzugezogen werden muss. Da die Blutung aber nicht vollständig sistiert, bringen Sie den Patienten unter ständiger Kontrolle der Vitalparameter in das nächstgelegene Krankenhaus, wo auch mögliche Begleitverletzungen abgeklärt werden sollen.

Der Patient sitzt mit leicht nach vorn gebeugtem Kopf. Zur Vasokonstriktion wird eine Eiskrawatte angelegt. Der Patient drückt selbst die Nasenflügel gegen das Nasenseptum, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Foto: © K. Oborny/Thieme

RETTEN TO GO Nasenbluten ●







Bringen Sie bewusstlose Patienten in die stabile Seitenlage und achten Sie darauf, dass das Blut abfließt. bei Verdacht auf eine Verlegung der Atemwege durch das Blut: Saugen Sie vorsichtig den Mundraum ab. bei starker bis unstillbarer Blutung, Zeichen des Volumenmangels oder bei Bewusstseinstrübung/Bewusstseinsverlust: notärztliche Unterstützung anfordern, Schocktherapie (S. 287)

! Merke Blutungsquelle oft therapieentscheidend

Blutungen aus Gefäßen im Bereich der vorderen Nasenscheidewand sind oft weniger stark und hören bei einer Kompression der Nasenflügel meist schnell auf. Lässt sich die Blutung auf diese Weise nicht stillen, liegt die Blutungsquelle oft weiter hinten in der Nasenhöhle und weitere Maßnahmen sind erforderlich. Erweiterte Maßnahmen • Lässt sich das Nasenbluten durch o. g. Maßnahmen nicht stillen, wird ein i. v.-Zugang gelegt und eine VEL verabreicht. Ein erhöhter Blutdruck wird medikamentös mit Urapidil (z. B. Ebrantil®, ▶ Tab. 4.17) gesenkt. Die Gabe gefäßverengender Nasentropfen ist in Betracht zu ziehen (z. B. Xylametazolin, Otriven®). Bei hartnäckigen Blutungen kann eine Nasentamponade (Fingerlingstamponade) bzw. bei schweren, unstillbaren Blutungen ein Ballonkatheter eingeführt und geblockt werden. Die Patienten werden je nach Erfolg der Maßnahmen und der auslösenden Ursache in einer HNO-ärztlichen oder internistischen Praxis (z. B. zur RR-Einstellung) vorgestellt bzw. in eine Klinik transportiert.







Ursachen: lokal (z. B. trockene Schleimhäute, Fremdkörper, Verletzung) oder systemisch (z. B. Hypertonie, Infektionskrankheiten) Symptomatik: je nach Stärke und Ursache begleitend Schwindel, Schwäche, Unruhe, Schocksymptomatik und/ oder Bluterbrechen ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Patienten beruhigen, sitzend lagern, Kopf nach vorne, Nasenflügel zusammendrücken und Blut ausspucken lassen, Eiskrawatte anlegen, RR-Messung, Kontrolle der Vitalparameter, NA bei unstillbarer Blutung und/oder Schocksymptomatik hinzuziehen ToDo erweitert: ggf. VEL, RR-senkende Medikamente, Nasentamponade

18.2.2 Blutungen aus dem Mund Ursachen • Die häufigsten Ursachen sind Nachblutungen nach Operationen im Mund- und/oder Rachenbereich, z. B. nach einer Tonsillektomie (Entfernung der Gaumenmandeln) oder Zahnextraktion (v. a. bei Einnahme gerinnungshemmender Medikamente und/oder Bluthochdruck). Zu einer Nachblutung nach Tonsillektomie kommt es meist direkt am OP-Tag oder 6–8 Tage nach der Operation, wenn die Wundbeläge (Fibrinbeläge) abgestoßen werden. Auch ein Zungenbiss im Rahmen eines epileptischen Anfalls (▶ Abb. 16.4) sowie Gefäßverletzungen durch Tumoren oder Unfälle, z. B. bei einer Mittelgesichtsfraktur (S. 381), können starke Blutungen aus dem Mund auslösen. Die Anamnese ist oft wegweisend! Symptomatik und Differenzialdiagnosen • Neben dem Leitsymptom Blutung aus dem Mund kann es zu Bluterbrechen durch verschlucktes Blut kommen. Der Patient kann unruhig, ängstlich und tachykard sein. Je nach Menge des Blutverlustes können sich Schwindel, Schwäche und ein hypovolämischer Schock (S. 286) entwickeln. Differenzialdiagnostisch ist an eine Blutung aus dem oberen Gastrointestinaltrakt (S. 343) zu denken.

455

18

HNO-Notfälle Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten • Sie gehen wie bei Nasenbluten (S. 454) vor, allerdings natürlich ohne die Kompression der Nasenflügel. Zusätzlich sollten Sie ggf. Kompressen (Stiltupfer) vorbereiten. Erweiterte Maßnahmen • Vorrangig und fortlaufend ist auf die Freihaltung und Sicherung der Atemwege zu achten. Bei stärkeren Blutungen wird ein Absaugkatheter mit leichtem Sog in den Mund eingelegt. Zudem wird ein i. v.-Zugang gelegt und eine Infusionstherapie (VEL) begonnen. Bei Schocksymptomen wird eine Schocktherapie (S. 287) eingeleitet. Bei hypertoniebedingten Blutungen sind RR-senkende Medikamente (S. 130), z. B. Ebrantil®, sowie eine zurückhaltende Volumengabe indiziert. Liegt die Blutungsquelle eindeutig vorne im Mund und ist sie gut einsehbar (keinesfalls „blindes Stochern!“), kann eine Kompression mit einem Tupfer versucht werden (Aspirationsgefahr beachten, ggf. Schutzintubation). Je nach Ursache und Blutungsstärke werden die Patienten in einer HNO-Praxis vorgestellt bzw. (z. B. bei Verdacht auf eine Tumorblutung oder Mittelgesichtsfraktur) schnellstmöglich in eine Klinik mit chirurgischer Abteilung transportiert (bei postoperativer Nachblutung idealerweise in die Klinik, die operiert hat).

RETTEN TO GO Blutungen aus dem Mund ●







Ursachen: z. B. Nachblutungen nach einer OP im Mundund/oder Rachenbereich (z. B. nach Tonsillektomie, Zahnextraktion), Zungenbiss im Rahmen eines epileptischen Anfalls, Gefäßverletzungen durch einen Unfall Begleitsymptomatik je nach Ursache und Blutungsintensität: z. B. Schwindel, Schwäche, Schocksymptomatik, evtl. Bluterbrechen durch verschlucktes Blut ToDo Basis: Sicherstellen der Vitalfunktionen, Patienten beruhigen, sitzend lagern, Kopf nach vorne, Blut ausspucken lassen, RR-Messung, Kontrolle der Vitalparameter, ggf. Vorbereitung von Stiltupfer zur Kompression, NA bei unstillbarer Blutung und/oder Schocksymptomatik hinzuziehen ToDo erweitert: ggf. Blut absaugen, VEL, ggf. RR-Senkung, Schocktherapie

18.2.3 Blutungen aus dem Ohr Ursachen • Blutungen aus dem Ohr sind oft die Folge einer Schädelbasisfraktur (S. 379). Aber auch eher harmlose Ursachen, z. B. eine Verletzung des Trommelfells (▶ Abb. 18.2) bei der Reinigung des Ohrs mit einem Wattestäbchen, Fremdkörper im Gehörgang (S. 459) oder ein Explosionstrauma (▶ Abb. 18.3), können ursächlich sein. Gelegentlich verursachen Mittelohrentzündungen mit Perforation des Trommelfells Blutungen. Wegweisend ist die (Unfall-)Anamnese!

! Merke An Schädelbasisfraktur denken

Das Mittelohr ist nur durch einen dünnen Knochen der Schädelbasis und die Hirnhäute vom Gehirn getrennt. Eine Blutung aus dem Ohr im Rahmen eines SHT ist ein starker Hinweis auf eine Schädelbasisfraktur. Fremdkörper im Ohr dürfen nicht entfernt werden! Symptomatik • Neben der oft eher geringen Blutung aus dem Ohr können je nach Ursache begleitend Schwindel (bei Innenohrbeteiligung), Schwerhörigkeit (bei Verletzung des Trommelfells), Ohrschmerzen oder ein Tinnitus (z. B. nach Explosi456

Abb. 18.2 Verletzung des Trommelfells.

Fraktur durch das Felsenbein Hammer

äußerer Gehörgang

Steigbügel

Trommelfell

Zu sehen ist eine blutende Verletzung des Trommelfells durch eine Verletzung mit dem Wattestäbchen. onstrauma) vorhanden sein. Nach einem SHT bestehen z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Krämpfe und/oder eine Liquorrhö (S. 452), auch Schädelverletzungen können sichtbar sein. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Sicherstellen der Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) – Schocksymptomatik beachten! ● Notfallanamnese zur Klärung der Unfallursache ● Patienten beruhigen und sitzend lagern (prophylaktische Druckentlastung des Gehirns), bei Bewusstseinstrübung stabile Seitenlage mit leicht erhöhtem Kopf ● Wärmeerhalt mit Rettungsdecke ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, EKG, BZ messen; bei Verdacht auf SHT Bewertung nach GCS (S. 191) ● lockeres Abdecken des Ohrs mit einer sterilen Kompresse ● bei Verdacht auf ein SHT, Zeichen des Volumenmangels oder Bewusstseinstrübung/Bewusstlosigkeit großzügige O2-Gabe (Ziel: SpO2 92–96 %) und sofort notärztliche Unterstützung anfordern ● ggf. Vorbereiten von i. v.-Zugang, Infusion und Medikation Erweiterte Maßnahmen • Der Patient erhält einen i. v.-Zugang und VEL zur Kreislaufstabilisierung (S. 287). Bei Verdacht auf SHT ist ein zügiger Transport, möglichst mit dem RTH, in eine Klinik mit neurochirurgischer Abteilung erforderlich. Je nach sonstiger Ursache werden die Patienten HNO-ärztlich in einer Praxis oder Klinik vorgestellt.

RETTEN TO GO Blutungen aus dem Ohr ●







Ursachen: z. B. Schädelbasisfraktur, Knalltrauma, Verletzung des Trommelfells bei Manipulationen im äußeren Gehörgang Begleitsymptome je nach Ursache: z. B. Schwindel bei Innenohrbeteiligung, Liquorrhö nach SHT, ggf. sichtbare Schädelverletzungen ToDo Basis: Sicherstellen der Vitalfunktionen, Patienten beruhigen, sitzend lagern, Basismonitoring; bei Verdacht auf SHT Bewertung nach GCS und NA hinzuziehen (NA auch bei unstillbarer Blutung und/oder Zeichen des Volumenmangels), Ohr steril abdecken To Do erweitert: ggf. VEL zur Kreislaufstabilisierung; Kliniktransport bei Verdacht auf SHT möglichst mit RTH, sonst je nach Ursache HNO-ärztliche Vorstellung

Notfälle

18.2.4 Schwindel



Fallbeispiel Plötzlicher Schwindel* ●

Sie werden gegen 06:30 Uhr in eine Bäckerei gerufen: Dort befinde sich eine Person, die nicht mehr in der Lage sei, selbstständig zu gehen. Es handelt sich um Frau L., 52 Jahre alt und Angestellte der Bäckerei. Sie berichtet: „Wenn ich den Kopf bewege, verschwindet der Fußboden unter meinen Füßen. Alles dreht sich.“ Ihre Haut ist fahl und kaltschweißig, sie hat bereits mehrfach erbrochen. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Definition Schwindel Schwindel ist definiert als subjektiv empfundene, unangenehme Scheinbewegungen des eigenen Körpers gegenüber der Umwelt, verbunden mit einer Unsicherheit im Raum. Ein richtungsbestimmter Schwindel wird auch als gerichteter oder systematischer Schwindel (Vertigo) bezeichnet. Davon zu unterscheiden ist ein ungerichteter oder unsystematischer Schwindel. Ursachen und Symptomatik • ▶ Tab. 18.1 peripher-vestibulärer Schwindel: Das Problem liegt im Bereich des Innenohrs oder des Hörnervs. Typisch ist ein richtungsbestimmter Drehschwindel („wie im Karussell“) oder seltener Schwank- („wie auf einem Schiff“) bzw. Liftschwindel („wie in einem Aufzug“). Begleitet bestehen vegetative Symptome wie Übelkeit, Erbrechen oder Schwitzen, oft auch Hörstörungen und/oder ein Nystagmus (Augenzucken).



zentral-vestibulärer Schwindel: Die Weiterverarbeitung der Sinnesreize aus dem Gleichgewichtsorgan im Hirnstamm oder weiter zentral ist gestört. Schwindelgefühl und vegetative Symptome sind meist schwächer ausgeprägt, begleitend bestehen oft weitere neurologische Symptome. nicht vestibulärer Schwindel: Die Ursachen sind vielfältig (z. B. Herz-Kreislauf- oder psychische Störungen), die Symptome sind oft uncharakteristisch (Taumeln, Schwarzwerden vor den Augen, geringe vegetative Beschwerden).

Basismaßnahmen zur Versorung des Patienten • Eine Abklärung der Ursache und damit auch eine zielgerichtete Therapie ist oft erst in der Klinik möglich. Im Rettungsdienst wird v. a. symptomatisch behandelt. ● Vitalparameter nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Notfallanamnese zur Klärung der möglichen Ursache: – Welche Art von Schwindel liegt vor (systematisch/unsystematisch)? – Ist der Schwindel auslösbar (z. B. durch eine bestimmte Lagerung)? – Bestehen Begleitsymptome (z. B. Erbrechen, Schwitzen)? – Sind Vorerkrankungen bekannt (z. B. Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Morbus Menière)? ● Patienten beruhigen und ggf. psychisch betreuen (z. B. wegen Angst, Orientierungsproblemen) ● nach Wunsch lagern, bei Erbrechen mit erhöhtem Oberkörper und ggf. Unterstützung (Aspirationsgefahr beachten); bei Bewusstseinstrübung stabile Seitenlage ● Basismonitoring (S. 198): v. a. BZ- und RR-Messung ● ggf. Vorbereiten von i. v.-Zugang, Infusion und Medikation ● notärztliche Unterstützung anfordern, da die Ursache des Schwindels akut bedrohlich werden bzw. sein kann (z. B. durch Herzrhythmusstörungen)

Tab. 18.1 Schwindelformen und ihre Ursachen (Auswahl) Schwindelart

mögliche Erkrankung

peripher-vestibulärer Schwindel



Morbus Menière

plötzliche Attacken mit Drehschwindel, Schwerhörigkeit und Tinnitus, begleitend Nystagmus, Übelkeit und Erbrechen über einige Minuten bis Stunden, Anfallshäufigkeit zwischen mehrmals wöchentlich und 2-mal jährlich



gutartiger anfallsartiger Lagerungsschwindel

akuter Drehschwindel mit Übelkeit, ausgelöst durch Kopfbewegungen, Hinlegen, Umdrehen, Bücken



akuter Vestibularisausfall

tagelanger Drehschwindel, Fallneigung zur betroffenen Seite, Nystagmus, vegetative Symptome



Infektionen des Innenohrs

Ohrenschmerzen, Übelkeit, Nystagmus, weitere Symptome einer Infektion



Verletzungen des Ohrlabyrinths

anamnestisch Trauma, Drehschwindel, Übelkeit, Ohrenschmerzen



toxisch (z. B. Alkoholintoxikation) Schädel-Hirn-Trauma Durchblutungsstörungen des Gehirns Migräne Hirntumoren

i. d. R. Dauerschwindel, oft zusätzlich Bewusstseinsstörung oder neurologische Ausfälle; eher wenig Übelkeit und Erbrechen

psychogener Schwindel (z. B. bei Phobie mit Schwankschwindel und Fallangst) Höhenschwindel Reisekrankheit (Kinetose) kardiovaskulärer Schwindel (z. B. sehr hoher oder sehr niedriger Blutdruck, Herzfehler, Herzrhythmusstörungen) Augenerkrankungen starke Über- oder Unterzuckerung

diffuse Beschwerden, z. B. Gang- und Standunsicherheit, Taumeln oder Torkeln, Angst, „Schwarzwerden“ vor Augen

zentral-vestibulärer Schwindel

● ● ● ●

nicht vestibulärer Schwindel

● ● ● ●

● ●

Symptome und Befunde

457

18

HNO-Notfälle Erweiterte Maßnahmen • Bei starker Übelkeit oder Erbrechen werden Antiemetika (S. 124) gegeben (z. B. Dimenhydrinat, i. v.-Applikation wegen Erbrechen). Die weitere Therapie richtet sich nach der Ursache. Zur Abklärung werden die Patienten in eine Notaufnahme mit neurologisch-internistischer Abteilung transportiert oder HNO-ärztlich vorgestellt.

Abb. 18.3 Explosionstrauma mit Trommelfellperforation.

Fallbeispiel Fortsetzung – Plötzlicher Schwindel Sie bringen Frau L. in eine für sie angenehme Position und achten darauf, dass ihr Oberkörper leicht erhöht ist, um eine Aspiration bei erneutem Erbrechen zu vermeiden. Die Patientin wirkt ängstlich und teils orientierungslos. Sie beruhigen sie und kontrollieren Blutdruck, Puls und BZ. Da Frau L. weiterhin stark erbricht und der Puls leicht erhöht ist, bereiten Sie einen venösen Zugang und eine Infusion (VEL) vor. Zur Abklärung der Ursache bringen Sie Frau L. in das nächstgelegene Krankenhaus.

Die Ohrspiegelung zeigt unregelmäßige Trommelfellränder mit Blutbesatz. Aus: Behrbohm H, Kaschke O, Nawka N: Kurzlehrbuch Hals-NasenOhren-Heilkunde. 2. Auflage. Stuttgart. Thieme; 2012



RETTEN TO GO Schwindel ●







Definition: subjektiv empfundene, unangenehme Scheinbewegungen des eigenen Körpers gegenüber der Umwelt, verbunden mit Unsicherheit im Raum Ursachen: – Vestibulärer Schwindel entsteht im Gleichgewichtssystem (zentral-vestibulär: z. B. bei Durchblutungsstörungen oder Verletzungen des Gehirns; peripher-vestibulär: z. B. Morbus Menière, Lagerungsschwindel) und zeigt sich typischerweise als systematischer Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel, typischerweise begleitet von Übelkeit und Erbrechen. – nicht vestibulärer Schwindel: z. B. bei Blutdruckstörungen, Höhenangst oder Reisekrankheit; eher diffuser und ungerichteter Schwindel ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Notfallanamnese, Lagerung der Patienten nach Wunsch, Basismonitoring (v. a. BZ, RR), NA hinzuziehen ToDo erweitert: ggf. Antiemetika, HNO-ärztlich vorstellen oder Transport in eine Klinik

18.2.5 Akustisches Trauma Dezibel • Dezibel (abgekürzt dB) ist die Einheit für den Schalldruckpegel, die von der durchschnittlichen menschlichen Hörschwelle von 0 Dezibel ausgeht. Die Schmerzgrenze für Menschen liegt bei 120 dB. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt Schallpegel von 35 dB(A) oder weniger in Patientenzimmern. Schalldruckpegel von 80 dB(A) oder mehr können das Hörvermögen beeinträchtigen. Formen und Ursachen • Abhängig von Dauer, Begleitumständen und Intensität des Lärms (gemessen in dB) werden folgende Formen unterschieden: ● Knalltrauma: Die Haarzellen im Innenohr werden durch eine sehr kurze (1–3 ms) und starke Schalldruckwelle (≥ 150 dB) geschädigt, Trommelfell und Gehörgang bleiben intakt. Typische Auslöser sind z. B. Schüsse, Airbags, ein Blitzschlag (S. 410) sowie Knall- und Feuerwerkskörper. 458



Explosionstrauma: Das Innen- und das Mittelohr werden durch eine mindestens 3 ms dauernde Schalldruckwelle ≥ 160–190 dB geschädigt. In der Regel besteht auch eine Trommelfellperforation (▶ Abb. 18.3). Solche Verletzungen kommen z. B. in der Sprengstoffherstellung oder in der chemischen Industrie vor, können aber auch z. B. durch eine Ohrfeige, einen Kopfsprung ins Wasser oder das Auslösen eines Airbags verursacht werden. akutes Lärmtrauma (akute Lärmschwerhörigkeit): Das Innenohr wird durch hohe Schallstärken über Minuten bis Stunden geschädigt. Beispiele für Auslöser sind Handwerks- und Baumaschinen, Motorenlärm und Musik (z. B. Rockkonzert).

Symptomatik ● Knalltrauma: akute Schwerhörigkeit beidseits mit hochfrequentem Tinnitus, ggf. Gefühl dumpfen Hörens ● Explosionstrauma: akute Schwerhörigkeit beidseits mit stechenden Ohrschmerzen, blutigem Ausfluss aus dem Ohr (durch Trommelfellperforation und Mittelohrbeteiligung), Tinnitus beidseits, evtl. Drehschwindel ● akutes Lärmtrauma: beidseitige Schwerhörigkeit mit hochfrequentem Tinnitus sofort nach Ende der Lärmeinwirkung Versorgung des Patienten ● Notfallanamnese zur Klärung der Unfallursache ● Patienten beruhigen und in eine sitzende Position bringen, nicht flach lagern; bei Bewusstseinstrübung stabile Seitenlage mit leicht erhöhtem Kopf ● Vitalparameter nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2 ● bei einer Blutung aus dem Ohr: Decken Sie das Ohr mit einer sterilen Kompresse locker ab. ● Transport zu einer HNO-ärztlichen Praxis oder Klinik

! Merke Frühzeitige Therapie!

Nach einem Knalltrauma verbessert eine frühzeitige Therapie die Prognose erheblich, die Patienten sollten sich daher möglichst schnell HNO-ärztlich vorstellen! Bei einem Explosionstrauma sind die Innenohrschädigungen und der Tinnitus oft irreversibel.

Notfälle Abb. 18.4 Fremdkörper im äußeren Gehörgang.

RETTEN TO GO Akustisches Trauma ●



Eine akute Lärmeinwirkung kann eine Schädigung des Innenohres und mitunter auch des Mittelohrs und des Trommelfells auslösen, und zwar je nach Dauer der Lärmeinwirkung und -intensität durch ein Knall-, Explosions- oder akutes Lärmtrauma. Begleitend zur akuten Schwerhörigkeit besteht häufig ein Tinnitus, bei einem Explosionstrauma eine Blutung aus dem Ohr. ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, sitzende Lagerung, Beruhigung des Patienten; bei Blutung aus dem Ohr steril abdecken

18.2.6 Hörsturz Definition Hörsturz Der Hörsturz ist definiert als akut auftretender, einseitiger, schmerzloser Hörverlust aus völligem Wohlbefinden heraus, i. d. R. begleitet von einem Tinnitus. Ursachen • Als Ursache wird eine Durchblutungsstörung in den kleinen und kleinsten Gefäßen des Innenohrs vermutet, als Auslöser werden Virusinfektionen, Stress oder Stoffwechselstörungen in Erwägung gezogen. Der Häufigkeitsgipfel liegt im 50.–60. Lebensjahr. Symptomatik und Maßnahmen • Typisch ist eine einseitige Innenohrschwerhörigkeit, die oft mit Tinnitus sowie evtl. mit einem „dumpfen Gefühl“ auf dem Ohr und Schwindel einhergeht. Die Störung beginnt innerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten. Der Hörsturz bedarf i. d. R. keines rettungsdienstlichen Eingreifens. Die Patienten sollten beruhigt werden und sich zur weiterführenden Diagnostik und Therapie zeitnah in einer HNO-Praxis vorstellen.

18.2.7 HNO-Notfälle bei Kindern Siehe Kapitel 23 zu Besonderheiten des Atmungssystem bei Kindern (S. 524) .

Abhängig von der Größe kann ein Fremdkörper mehr oder weniger weit in den Gehörgang eindringen. Häufig verursacht er eine einseitige, akute Hörminderung.

Versorgung des Kindes ● Notfallanamnese zur Klärung der Unfallursache ● Beruhigen Sie das Kind und die Eltern. ● Vitalparameter nach (c)ABCDE-Schema (S. 183) kontrollieren, ggf. Basismonitoring (S. 198) ● Lagern Sie das Kind möglichst sitzend oder nach Wunsch des Kindes (z. B. auf dem Arm der Begleitperson). Vermeiden Sie eine flache Lagerung, damit der Fremdkörper nicht tiefer eindringt. ● bei einer Blutung aus dem Ohr: Decken Sie das Ohr mit einer sterilen Kompresse leicht ab. ● bei einer Blutung aus der Nase: Blut nicht hinunterschlucken, sondern ausspucken lassen, der Kopf des Kindes sollte nach Möglichkeit nach vorn gebeugt sein. ● Versuchen Sie nicht, den Fremdkörper mit einer Pinzette o. Ä. zu greifen, da er dadurch tiefer geschoben werden kann (Verletzungsgefahr von Nasenschleimhaut bzw. Trommelfell!). ● im Anschluss an die Basisversorgung HNO-ärztliche Vorstellung, um den Fremdkörper zu entfernen

ACHTUNG Der Rettungsdienst sollte nicht versuchen, Fremdkörper aus Nase oder Ohren zu entfernen!

RETTEN TO GO

Fremdkörper in Nase oder Gehörgang Fremdkörper in Nase oder Gehörgang

Krabbel- und Kleinkinder erkunden ihre Umgebung oft mit den Fingern und dem Mund. Aus lauter Forscherdrang stecken sie sich kleine Dinge, z. B. Knöpfe oder Spielsteinchen, z. T. auch in die Nase oder die Ohren.



Anzeichen für einen Fremdkörper in der Nase ● einseitig behinderte Nasenatmung ● evtl. Juckreiz, Niesen ● bei spitzen Gegenständen Schmerzen, evtl. Nasenbluten ● Sekretabsonderung aus der Nase ● bleibt der Fremdkörper über längere Zeit im Nasengang: übler, fauliger Geruch mit eitrigem Sekret Anzeichen für einen Fremdkörper im Gehörgang • ▶ Abb. 18.4 ● akuter, einseitiger Ohrenschmerz ● akute, einseitige Hörminderung ● bei Verletzung des äußeren Gehörgangs oder des Trommelfells durch einen spitzen Gegenstand evtl. Blutung aus dem Ohr





Anzeichen für einen Fremdkörper in der Nase: einseitig behinderte Nasenatmung, Schmerzen, evtl. Nasenbluten, bei längerem Verbleiben Sekretabsonderung und fauliger Geruch Anzeichen für einen Fremdkörper im Gehörgang: einseitige, akute Ohrenschmerzen und Schwerhörigkeit, evtl. Blutung aus dem Ohr ToDo Basis: Sicherstellen der Vitalfunktionen, Notfallanamnese zur Ursachenklärung, Kind beruhigen, möglichst sitzend lagern, Fremdkörper nicht entfernen, bei Blutung aus dem Ohr dieses steril abdecken, bei Blutung aus der Nase Blut ausspucken lassen; in HNO-Praxis vorstellen

Notfälle der oberen Atemwege ● ● ●

Fremdkörperaspiration (S. 273) Pseudokrupp (S. 280) Epiglottitis (S. 278) 459

19

Augennotfälle

19.1 Grundlagen Augennotfälle sind zwar meistens nicht lebensbedrohlich, können aber zu dauerhaften Beeinträchtigungen des Sehvermögens bis zur Erblindung führen. Ob eine Augenverletzung als leicht oder schwer einzuordnen ist, können Sie im Rettungsdienst nur vermuten. Zur Beurteilung ist eine spezielle augenärztliche Diagnostik notwendig – am besten in einer Augenklinik, da hier mehr Behandlungsmöglichkeiten bis hin zur Operation zur Verfügung stehen.

19.1.1 Leitsymptome Neben typischen Verletzungsmustern gibt es augenspezifische Erkrankungen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Symptomkonstellationen. Die hier beschriebenen Leitsymptome sollen Ihnen helfen, die Betroffenen einer schnellen und zielgerichteten Behandlung zuzuführen.

Plötzliche Sehstörungen Definition Visusverlust und Skotom Ein Visusverlust ist ein kompletter Verlust der Sehkraft, ein Skotom ein Gesichtsfeldausfall. Beide Symptome können auf eine isolierte Störung des Auges, aber auch auf eine schwerwiegende neurologische Schädigung hinweisen. Auge und Gehirn • Nicht alle Phänomene, die wir visuell wahrnehmen, finden wirklich im Auge statt: Visuelle Wahrnehmungen entstehen durch komplexe Interaktionen zwischen den Augen und dem Gehirn. Daher können die Ursa460

chen für Sehstörungen im Auge selbst liegen, z. B. bei einem Glaukomanfall (S. 472), aber auch in den weiterführenden Hirnstrukturen (das Auge selbst ist gesund): Mögliche Ursachen sind z. B. ein Schlaganfall (S. 427), eine Multiple Sklerose oder eine Migräne (S. 425) mit visueller Begleitsymptomatik (z. B. Flimmern vor den Augen – Flimmerskotom).

! Merke Alarmsignal plötzlicher Visusverlust

Denken Sie bei jeder plötzlichen Sehstörung immer daran, dass auch ein Problem im Bereich des Gehirns bestehen kann! Akut oder chronisch • Für die Einschätzung der Notfallrelevanz ist wichtig, ob die Sehbeeinträchtigung schon länger besteht oder ob sich plötzlich entwickelt hat bzw. ob ein Zusammenhang mit einem Trauma besteht. Meistens betreffen plötzliche Sehstörungen nur ein Auge und werden manchmal nicht sofort bemerkt, weil das andere Auge kompensiert (v. a., wenn nur Randbereiche und nicht das Sehzentrum betroffen sind). ▶ Tab. 19.1 zeigt häufige Ursachen für einen akuten, nicht traumatisch bedingten Sehverlust.

! Merke Amaurosis fugax

Ein kurzzeitiger, schmerzloser Visusverlust kann einem dauerhaften Verschluss der Netzhautarterie oder einem Schlaganfall vorausgehen und ist daher immer ein Notfall! Vorgehen bei plötzlichem Sehverlust • Die sehr empfindlichen Sinneszellen der Netzhaut überstehen eine Unterbrechung der Blutversorgung nur wenige Stunden, danach werden die Netzhaut oder der Sehnerv dauerhaft geschädigt, der Sehverlust ist bleibend. Transportieren Sie Patienten mit plötzlichem Sehverlust daher umgehend zu einer Augenklinik. Eine rechtzeitige Behandlung ist essenziell, um dauerhafte Schädigungen zu vermeiden.

Leitsymptome Grundlagen

▶S. 460

Anamnese und Untersuchung ▶S. 463 Basismaßnahmen

▶S. 466 Lidverletzungen

▶S. 467

Nicht penetrierende ▶S. 468 Fremdkörperverletzungen

Augenverletzungen Notfälle

Penetrierende Augenverletzungen

Stumpfe Augenverletungen Netzhautablösung Glaukomanfall

▶S. 472

▶S. 472

Chemische und thermische Verletzungen Verblitzung

Besonderheiten bei Kindern

▶S. 468

▶S. 469 ▶S. 470

▶S. 471

▶S. 473

Tab. 19.1 Typische Ursachen eines akuten, nicht traumatisch bedingten Sehverlustes. Leitsymptom

Begleitsymptome und Verlauf

Ursache

akuter Visusverlust ohne Schmerzen

plötzlich wahrnehmbarer Schatten (Skotom)

Netzhautablösung (S. 472)

Lichtblitze, schwarze Punkte („Rußregen“)

Glaskörperabhebung (häufig im Zusammenhang mit einer Netzhautablösung), Glaskörpereinblutung

Amaurosis fugax: plötzliche, schmerzlose, Sekunden bis Minuten andauernde Erblindung

vorübergehende Durchblutungsstörung der Netzhaut oder des Gehirns im Sinne einer TIA (S. 428)

plötzliche Erblindung ohne Erholung

Netzhautablösung (S. 472), Schlaganfall (S. 421), Zentralarterienverschluss (S. 428)

einseitige, starke Augen- und Kopfschmerzen, steinharter Bulbus, Lichtringe um Lichtquellen, Übelkeit

Glaukomanfall (S. 472)

einseitiger, pulsierender Kopfschmerz, Übelkeit, Flimmerskotom

Migräne (S. 425)

Farbentsättigung, Schmerzen bei Augenbewegungen

Entzündung des Sehnervs

akuter Visusverlust mit Schmerzen

Rotes Auge Differenzierung • Wichtige Fragen sind, ob Schmerzen bestehen und ob die Rötung nur eine Seite oder beide Augen betrifft (▶ Abb. 19.1): ● einseitige, schmerzlose Rötung: Hyposphagma ● einseitige, schmerzhafte Rötung: Glaukomanfall (S. 472) ● beidseitige, leicht schmerzhafte Rötung: Konjunktivitis Konjunktivitis • Reizungen oder Entzündungen der Bindehaut, z. B. durch Fremdkörper, Allergene, reizende Substanzen oder Infektionen (erhöhtes Risiko beim Tragen von Kontaktlinsen!), sind die häufigste Ursache für eine Rötung der Augen. Sie führen zu einer vermehrten Füllung der lokalen

Gefäße, was als „rotes Auge“ sichtbar wird. Die Symptomatik ist meist milde (Tränenträufeln, Lichtscheu, Fremdkörpergefühl) und spielt daher im Rettungsdienst nur eine geringe Rolle. Starke Schmerzen und Beeinträchtigungen der Sehschärfe sind Hinweise auf eine schwerwiegendere Ursache, z. B. einen Glaukomanfall (S. 472). Hyposphagma • Blutungen aus Gefäßen „unter“ der Bindehaut (zwischen Binde- und Lederhaut) werden als Hyposphagma oder subkonjunktivale Blutung bezeichnet. Sie zeigen sich als begrenzte, lackartige, schmerzlose Rötung der Sklera. Die Gefäße platzen bei Verletzungen des Auges oder spontan durch körperliche Anstrengung oder Hustenstöße. Begünstigende Faktoren sind Bluthochdruck, eine Ar461

19

Augennotfälle Abb. 19.1 Leitsymptom rotes Auge. a Hyposphagma (Einblutung unter die Bindehaut): schmerzlose, flächige, lackartige Rötung. Aus: Hahn G, Hrsg. Kurzlehrbuch Augenheilkunde. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

b Konjunktivitis: Die Bindehautgefäße sind deutlich sichtbar und hellrot gefüllt. Aus: Dietze H, Artes P, Grein H, Jung-

a

b

teriosklerose und eine erhöhte Blutungsneigung (z. B. bei Einnahme von Antikoagulanzien). Spontane Blutungen bilden sich in der Regel ohne Therapie innerhalb von 2 Wochen zurück. Bei einem Schädel-Hirn-Trauma (S. 379) ist ein Hyposphagma ein Warnhinweis auf knöcherne Verletzungen der Augenhöhle oder eine Schädelbasisfraktur. Auch bei Säuglingen sollte ein Hyposphagma sofort abgeklärt werden.

Abb. 19.2 Pupillendifferenz (Anisokorie).

Weitere Ursachen • Auch ein Glaukomanfall (S. 472) mit plötzlichem Anstieg des Augeninnendrucks und stumpfe Augenverletzungen (S. 469) können ein rotes Auge auslösen. Bei Letzteren besteht zusätzlich die Gefahr, dass sich Blut durch Gefäßverletzungen im Bereich der Regenbogenhaut in der Vorderkammer des Auges ansammelt.

Die rechte Pupille reagiert normal auf Lichteinfall, die linke Pupille ist weitgestellt (Mydriasis). Aus: Füeßl H, Middeke M, Hrsg. Duale Rei-

Augenschmerzen Typische Konstellationen ● Zunehmende, provozierbare Schmerzen weisen auf entzündliche Prozesse hin. Sind die Augenmuskeln oder der Sehnerv betroffen, sind Schmerzen meist dumpf und nehmen bei Augenbewegungen zu. Schmerzen beim Blick in die Nähe oder bei hellem Licht sind eher typisch für Entzündungen im Auge selbst. ● Drückende, stechende Schmerzen im vorderen Augenabschnitt und ein Fremdkörpergefühl („Sand im Auge“) sind typisch für Oberflächenstörungen des Auges (z. B. Kratzer auf der Hornhaut). Fremdkörper verursachen Schmerzen bei Lidbewegungen. ● Tief hinter dem Auge sitzende Schmerzen sind ein Hinweis auf Prozesse „hinter“ dem Auge (retrobulbär), z. B. eine Blutung oder Entzündung. ● Starke, dumpfe, ausstrahlende Augen- und Kopfschmerzen, häufig begleitet von vegetativen Symptomen (z. B. Übelkeit, Bauchschmerzen), sind typisch für einen Glaukomanfall.

Pupillenveränderungen und Lichtscheu Physiologie • Die Pupille ist die zentrale, kreisförmige Öffnung der Iris, die wie die Blende einer Kamera den Lichteinfall auf die Netzhaut reguliert. Ihre Form und Weite wird über kleine Muskeln in der Iris eingestellt, die über das vegetative Nervensystem gesteuert werden (z. B. Weitung der Pupillen bei Aktivierung des Sympathikus). Die Nervenbahnen beider Augen sind im Gehirn verschaltet, daher sind die Pupillen unter Normalbedingungen gleich weit (Isokorie) und verengen sich bei Belichtung eines Auges gleich stark (konsensuelle Lichtreaktion). Die Pupillenreaktionen werden mithilfe einer Diagnostikleuchte untersucht (S. 465).

462

nickel H, Marx S, Seidel D, Sickenberger W, Spors F: Die optometrische Untersuchung. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015.

he Anamnese und klinische Untersuchung. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022

Pupillendifferenz (Anisokorie) • Der Durchmesser der beiden Pupillen ist unterschiedlich (▶ Abb. 19.2). ● physiologische Anisokorie: Pupillendifferenz ≤ 1 mm, unabhängig von den Lichtverhältnissen ● pathologische Anisokorie: Die Pupillendifferenz beträgt > 1 mm und ist bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen verschieden stark ausgeprägt. Die Ursache dafür kann im Auge selbst liegen (z. B. Verletzung, Augentropfen, Glaukomanfall), aber auch im Gehirn: Eine deutliche Anisokorie ist z. B. ein Hinweis auf einen Anstieg des Hirndrucks mit Kompression des N. oculomotorius. Durch Überprüfung der Lichtreaktion (S. 465) kann die Pupillendifferenz genauer spezifiziert werden.

! Merke Anisokorie

Jede Pupillendifferenz > 1 mm (▶ Abb. 19.2) ist als pathologisch einzustufen und hinsichtlich der Möglichkeit eines neurologischen Notfalls abzuklären. Beidseitige Pupillenveränderungen ● deutlich erweiterte Pupillen (> 5 mm; Mydriasis), Verengung bei Lichteinfall: physiologischer Befund bei Dunkelheit, Angst und Schmerzen ● deutlich erweiterte Pupillen, keine Verengung bei Lichteinfall: z. B. Vergiftungen durch Kokain oder Amphetamine (S. 512), Parasympatholytika (z. B. Antidepressiva, Tollkirsche, Engelstrompete) oder Kohlenmonoxid (S. 276), beidseitiges Eintropfen der Augen zu Untersuchungszwecken ● deutliche Verengung der Pupillen (Miosis): Einnahme von Opioiden („Stecknadelkopf“-Pupillen bei Vergiftung), Vergiftung mit Alkylphosphaten (S. 519) Blendempfindlichkeit und Lichtscheu • Verengen sich eine oder beide Pupillen bei Belichtung nicht ausreichend, haben die Betroffenen ein Gefühl der Blendung, mitunter verbunden mit Lichtscheu (Photophobie), d. h. mit einer Rötung des Auges, Schmerzen und erhöhtem Tränenfluss. Auslösend können daher alle Ursachen einer ein- oder beidseitigen

Grundlagen Mydriasis sein, zusätzlich aber z. B. auch eine Meningitis (S. 432), Entzündungen im vorderen Augenabschnitt, ein Glaukomanfall oder eine Verblitzung (S. 471).

! Merke Abwehrtrias des Auges

Entzündungen oder Verletzungen des vorderen Augenabschnitts führen zu Epiphora (verstärktem Tränenfluss), Photophobie (Lichtscheu) und Blepharospasmus, einem krampfhaften Zusammenkneifen des Lids.

Weitere Symptome Tränenträufeln (Epiphora) • Eine vermehrte Produktion von Tränenflüssigkeit geht oft mit einer leichten Sehstörung durch den verstärkten Tränenfluss/-film und evtl. einem Fremdkörpergefühl einher. Sie ist ein unspezifisches Begleitsymptom bei Augenreizungen, z. B. bei einer Konjunktivitis durch Störungen der Oberfläche (Fremdkörper, Verletzungen). Ein gestörter Abfluss der Tränenflüssigkeit über die Tränenwege führt zu einem Überlaufen der Tränenflüssigkeit über die Lidkante. Blepharospasmus • Die Lider sind ein- oder beidseitig krampfhaft geschlossen. Dieser Lidkrampf ist ein Schutzreflex bei Verletzungen oder Reizungen des vorderen Augenabschnitts, er kann aber auch ohne erkennbare Ursache auftreten. Auch eine Augenspülung (S. 466) löst einen Blepharospasmus aus, was die Durchführung der Maßnahme erschwert.

RETTEN TO GO Leitsymptome des Auges ●













plötzliche Sehstörungen (Visusverlust und Gesichtsfeldausfälle): v. a. durch Störungen im Auge selbst (z. B. Netzhautablösung) oder der Sehbahnen im Gehirn (z. B. Schlaganfall) rotes Auge: v. a. bei Bindehautreizungen, Augenverletzungen, Glaukomanfall oder Fremdkörpern Augenschmerzen: v. a. bei Entzündungen, Reizung (Fremdkörper) oder Glaukomanfall Pupillenstörungen: – Anisokorie (Pupillendifferenz): v. a. durch Störungen im Auge selbst (z. B. Verletzungen) oder im Gehirn (z. B. bei erhöhtem Hirndruck). – beidseitige Mydriasis (Pupillenerweiterung): z. B. Vergiftungen durch Kokain oder Kohlenmonoxid, erhöhter Hirndruck, Hirntod – beidseitige Miosis (Pupillenverengung): Vergiftung durch Opioide oder Insektizide Photophobie (erhöhte Blendempfindlichkeit): z. B. bei Verletzungen des Auges, Verblitzung, neurologischen Erkrankungen oder Mydriasis Epiphora (Tränenträufeln): v. a. bei Augenreizungen (z. B. Bindehautentzündung, Fremdkörper) und Tränenabflussstörungen Blepharospasmus (Lidkrampf): Schutzreflex bei Verletzungen oder Irritationen des vorderen Augenabschnitts

Tab. 19.2 Anamnese bei Augenverletzungen. Ursache

typische Verletzung am Auge

Flex- und Schleifarbeiten

(heißer) Metallspan, der in die Hornhaut eindringt bzw. sich in die Hornhaut einbrennt

Arbeiten mit Hammer und Meißel

Splitter, der in die Hornhaut oder tiefere Strukturen eindringt

zersplittertes Brillenglas

Glassplitter, der in die Hornhaut oder tiefere Strukturen eindringt

Lichtbogen bei Schweißarbeiten

Verblitzung (S. 471)

Kontakt mit flüssigen Reinigungsmitteln

Reizung oder Verätzung (S. 470) der Hornhaut oder tieferer Strukturen

Faustschlag auf das Auge

stumpfe Augenverletzung (S. 469) mit Quetschung, Blutung oder Ruptur

19.1.2 Anamnese und Untersuchung Anamnese Durch die Anamnese können Sie u. a. herausfinden, ob nur das Auge betroffen ist oder ob die Beschwerden von einer systemischen, v. a. neurologischen Erkrankung ausgelöst werden. Wichtige Fragen an den Patienten: ● Könnten Fremdkörper oder Chemikalien auf das Auge eingewirkt haben? ● Bestehen nur am Auge Beschwerden oder gibt es weitere Probleme? ● Seit wann bestehen die Beschwerden? Haben sie sich akut entwickelt oder bestehen sie schon länger? ● Sind beide Augen betroffen? ● Tragen Sie eine Brille oder Kontaktlinsen? ● Sind bei Ihnen Augenerkrankungen bekannt? ● Hatten Sie in den letzten Wochen eine Augenoperation? Bei Augenverletzungen gibt die Anamnese einen ersten Anhaltspunkt für Art und Ausmaß der Schädigung, für typische Beispiele siehe ▶ Tab. 19.2.

! Merke Verätzung

Bei Augenunfällen mit Chemikalien (S. 470) müssen Sie unverzüglich, ohne weitere Untersuchung eine Augenspülung durchführen!

Inspektion und Palpation Inspektion • Bei der Inspektion werden das Umfeld der Augen und deren vorderer Abschnitt betrachtet. Um Auffälligkeiten zu erkennen, ist der Seitenvergleich hilfreich. Verwenden Sie für die gezielte Untersuchung eine Diagnostikleuchte und zur besseren Darstellung der detaillierten Augenstrukturen ggf. ein Vergrößerungsglas (▶ Tab. 19.3). Palpation • Durch vorsichtiges Abtasten der knöchernen Strukturen untersuchen Sie die Orbita auf Frakturen: ● tastbare Stufenbildung des Orbitarands und/oder Krepitation: Fraktur von Stirnbein, Jochbein und/oder Oberkieferknochen ● Knistern beim Abtasten des Lids und der Haut rund um das Auge: Entsteht bei einer Orbitafraktur eine Verbindung zwischen der luftgefüllten Nasen- oder Kieferhöhle 463

19

Augennotfälle

Tab. 19.3 Vorgehen und beispielhafte Befunde bei der Inspektion des Auges. Struktur

beurteilt werden

Umgebung des Auges

● ●

Schwellungen Verletzungen

mögliche Befunde

mögliche Verdachtsdiagnose

Schwellung, Hämatom Versengung der Augenbraue

● ● ●

Augenlider

● ●

Lidschwellung

Lidkanten, Lidspaltweite Lidschlag, Beweglichkeit

● ●

Bulbus

● ●

Bindehaut und Hornhaut







vordere Augenkammer

Iris



● ●

Abheben des Oberlides (sofern möglich) grobe „Tiefenkontrolle“ und Seitenvergleich (Blick von oberhalb des Kopfes des Patienten in Richtung Kinn)

Bulbus tritt zu stark hervor (Exophthalmus) oder ist eingesunken (Enophthalmus)

Augenoberfläche: orientierende Prüfung mittels Spiegelbildern, die sich auf einer glatten Hornhaut abbilden würden; seitliche Beleuchtung mit Diagnostikleuchte Trübungen: mit bloßem Auge oder bei seitlicher Beleuchtung erkennbar Lidinnenseite: Auswärtsdrehen der Lider (Ektropionieren, ▶ Abb. 19.3)



Tiefe der Kammer und Kammerwasser: orientierend mit schrägem, von temporal kommendem Lichteinfall; bei normal tiefer Kammer gute Ausleuchtung der gesamten Iris



Form und Weite der Pupille im Seitenvergleich Struktur der Iris (physiologisch: glänzendes Relief mit Auflockerungen)



● ● ●

● ● ● ●



● ●

Rötung ohne oder mit Abwehrtrias Blutung Chemosis (Schwellung der Bindehaut) Unregelmäßigkeiten der Kornea verzerrtes Spiegelbild



Trübung des Kammerwassers ungleichmäßige Ausleuchtung der Iris mit nasaler Schattenbildung



abweichende Pupillengröße oder -form Irisvorfall Lücke/Schlitz in der Iris



● ● ●

● ●





Verletzung Angioödem (Quincke-Ödem) bei allergischer Reaktion (S. 290) Verbrennung allergische Reaktion (S. 290): einseitig – Kontaktallergie; beidseitig – systemische Allergie Entzündung einseitiger Exophthalmus: Blutung, Entzündung, Tumor in der Orbita einseitiger Enophthalmus: Orbitafraktur beidseitiger Enophthalmus: Exsikkose

Fremdkörper Verletzungen Konjunktivitis (allergisch, infektiös) Trübung der Hornhaut bei Glaukomanfall

Blut, z. B. bei stumpfem Bulbustrauma Eiter bei schweren Entzündungen (Keratitis, Uveitis) abgeflachte Vorderkammer (Iris „klebt“ an der Kornea), z. B. bei Glaukomanfall Miosis, Mydriasis, Anisokorie, entrundete Pupillen Iriseinriss am Pupillensaum oder Abriss der Iriswurzel vom Ziliarkörper (Iridodialyse, ▶ Abb. 19.8) bei stumpfem Bulbustrauma perforierende Korneaverletzung mit Irisprolaps (lockere Irisstruktur wird vor den Defekt „geschwemmt“)

Abb. 19.3 Ektropionieren der Lider.

a

b

c

Um die lidseitigen Anteile der Bindehaut zu untersuchen und nach Fremdkörpern zu suchen, müssen Sie die Lider nach außen drehen. Für das Ektropionieren des Unterlids legen Sie den Finger auf den Orbitarand und ziehen das Hautgewebe nach unten. a Der Patient soll nach unten blicken und die Lider schließen. Legen Sie ein Wattestäbchen als Umlenkpunkt auf das Oberlid. b Heben Sie das Oberlid an den Wimpern und um das Wattestäbchen an. c Das Oberlid ist erfolgreich umgestülpt. Fotos: © K. Oborny/Thieme

464

Grundlagen



und der Orbita, kann Luft in die Subkutis eindringen. Es entsteht ein Hautemphysem. Eine Sensibilitätsstörung im Bereich von Unterlid, Nasenflügel und Oberlippe kann auffallen, wenn bei einer Fraktur des Orbitabodens ein sensibler Nerv verletzt wird.

Zur Schätzung des Augeninnendrucks tasten Sie den Bulbus im Seitenvergleich durch das geschlossene Oberlid – sofern das Auge und seine Umgebung unverletzt sind. Bitten Sie den Untersuchten, den Blick nach unten zu richten, und drücken Sie leicht auf das Oberlid: Wie weich oder hart fühlen sich die Augäpfel an? Ein „steinharter“ Augapfel ist der typische Befund eines Glaukomanfalls (S. 472).

Funktionsprüfung Prüfung der Sehfähigkeit Subjektive und objektive Einschränkungen des Visus • Die Sehfähigkeit (Visus) müssen Sie für jedes Auge getrennt überprüfen, am besten, indem Sie das jeweils andere Auge abdecken. Typische subjektive Äußerungen der Patienten sind: „Ich sehe unscharf/trüb/einen dunklen Bereich/schwarze Flecken/Farbringe.“ „Lichtblitze“ (z. B. bei einer Netzhautablösung) nehmen die Betroffenen auch bei geschlossenem Auge wahr. Mitunter berichten Patienten über Doppelbilder beim Blick mit einem oder beiden Augen. Zur objektiven Bewertung bei starker Visusminderung können Sie testen, ob der Betroffene Ihre Finger zählen kann oder ob er Handbewegungen und Lichtscheinprojektionen im Nahbereich des Auges erkennt. Gesichtsfeldausfälle • Das Gesichtsfeld ist der Bereich, den Sie „überblicken“, während die Augen einen zentralen Punkt fixieren. Das horizontale Gesichtsfeld beider Augen können Sie sich als Halbkreis vorstellen, wobei das Gesichtsfeld eines Auges schläfenwärts ca. 90° und zur Nase hin ungefähr 60° beträgt. Das vertikale Sichtfeld beträgt ca. 60° nach oben und unten, insgesamt also rund 120°. Wird ein ca. 1 m entfernter Gegenstand seitlich der Person bewegt, sollte dieser im Randbereich des Sichtfelds wahrnehmbar sein. Bei Verdacht auf größere Gesichtsfeldausfälle können Sie orientierend das Gesichtsfeld eines Auges des Patienten prüfen (▶ Abb. 19.4). Trotz der eher ungenauen Methode können Sie einen Halbseiten- oder einen Quadrantenausfall im monokularen Gesichtsfeld feststellen.

Prüfung der Augenbeweglichkeit Doppelbilder • Doppeltsehen (Diplopie) bedeutet, dass der Patient ein Objekt so wahrnimmt, als befände es sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten. Doppelbilder beim Blicken mit beiden Augen sind durch eine fehlerhafte Stellung der Sehachsen der Augen zueinander bedingt, z. B. durch eine Lähmung von Augenmuskeln. Eine gezielte Prüfung der Augenbewegungen (Motilität) kann weiteren Aufschluss darüber geben, bei welchem Auge die Beweglichkeit eingeschränkt ist und welche Blickrichtung besonders von Doppelbildern betroffen ist. Die Ursache für monokulare Doppelbilder (= Doppelbilder, die mit nur einem Auge wahrgenommen werden) liegt im optischen Apparat des Auges, d. h., sie entstehen durch Fehler bei der Brechung des Lichts auf dem Weg zwischen Hornhaut und Netzhaut (z. B. Linsenluxation, Iridodialyse). Beweglichkeit der Augen • Zur Kontrolle der Augenbewegungen soll der Untersuchte z. B. den Zeigefinger oder einen Stift mit den Augen in 6 Blickrichtungen verfolgen: links oben, links, links unten, rechts oben, rechts, rechts unten. Seine Augen sollten sich dabei synchron und im selben Ausmaß bewegen. Achten Sie darauf, ob ein Auge bei der Bewegung zurückbleibt. Abweichungen der Beweglichkeit können auf eine lokale (Augenmuskulatur, Bewegungshindernis) oder eine neurologische Störung (z. B. Lähmung eines Augenmuskels) hinweisen.

Prüfung der Pupillenreaktion Normalbefund • Bei Gesunden sind die Pupillen, abgesehen von einer physiologischen Anisokorie (≤ 1 mm), gleich groß (isokor) und reagieren seitengleich auf Lichteinfall. Zur Prüfung der Pupillenreaktion sollte der Untersuchte in die Ferne blicken, um eine Naheinstellungsmiosis zu vermeiden. Orientierende Prüfung • Zunächst werden beide Augen für etwa 3 Sekunden abgedeckt (Dunkeladaptation). Beim Öffnen der Augen soll der Untersuchte auf eine entfernte, helle Fläche blicken, z. B. ein Fenster bei Tageslicht. So können Sie die Verengung der Pupillen bei Lichteinfall beobachten. Direkte Lichtreaktion • Sie beleuchten jeweils ein Auge mit dem Lichtkegel der Diagnostikleuchte von schräg unten (▶ Video 19.1). Achten Sie darauf, den Test bei gedämpften

Abb. 19.4 Orientierende Gesichtsfeldprüfung.

Video 19.1 Prüfen des Pupillenstatus.

Manuelle Prüfung des Gesichtsfeldes isoliert an jedem Auge in den vier Gesichtsfeldquadranten.

Zum Prüfen des Pupillenstatus gibt es ein Video! Achten Sie darauf, dass nur das untersuchte Auge beleuchtet wird. Nur so können Sie beurteilen, ob die Engstellung und damit der Pupillenreflex auf direkten Lichteinfall funktioniert. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

465

19

Augennotfälle

Material • Für die Spülung können Sie gebrauchsfertige Augenspülflaschen verwenden, alternativ auch eine NaCl 0,9 %oder Ringer-Laktat-Lösung mit aufgesetztem EntnahmeSpike. Kunststoffflaschen haben den Vorteil, dass Sie den Spülstrahl auch mit nur einer Hand gut dosieren können.

! Merke Pupillenstörungen

! Merke Augenspülung bei Verätzungen

Störungen des optischen Apparats im Auge (z. B. Kurz- oder Weitsichtigkeit, grauer Star) führen zu keiner Pupillenstörung. Die Pupillen sind auch bei Blindheit eines Auges gleich weit (isokor)!

RETTEN TO GO Anamnese und Untersuchung bei Augennotfällen ●





Anamnese: Isolierter Augennotfall oder systemische Erkrankung? Ablauf des Notfalls, Fehlsichtigkeit oder Vorerkrankungen des Auges bekannt, Vortherapie? Inspektion und Palpation: Blutungen, Verletzungen, Fremdkörper, Stellung des Bulbus und der Lider, tastbare Knochenbrüche, Härte des Augapfels? Funktionsprüfung: orientierende Prüfung des Visus und des Gesichtsfeldes, Prüfung der Augenbewegungen, direkte und indirekte Lichtreaktion

19.1.3 Basismaßnahmen Grundprinzipien Versorgung vor Ort • Das oberste Ziel ist es, weitere Schädigungen des Auges zu vermeiden und die Gefahr eines Sehverlustes zu reduzieren. Wichtige Maßnahmen vor Ort sind die sofortige Augenspülung bei chemischen Verletzungen, feinen Fremdkörpern und Verbrennungen des Auges und der Augenverband bei mechanischen Verletzungen. Zu speziellen Maßnahmen siehe den Abschnitt Augenverletzungen (S. 467). Bei offenen Verletzungen müssen Sie nach dem Tetanusschutz fragen. Da in der Zielklinik eine Operation notwendig sein kann, sollte der Patient nüchtern bleiben. Fordern Sie bei schwerwiegenden Verletzungen, starken Schmerzen oder ausgeprägter vegetativer Begleitsymptomatik notärztliche Unterstützung an. Für eine Sauerstoffgabe sollten Sie nach Möglichkeit eine Nasensonde/-brille verwenden. Weiterführende Versorgung • Für die weitere Versorgung wird der Patient in einer Augenklinik vorgestellt (Voranmeldung, um unnötige Wartezeiten zu vermeiden!). Befindet sich keine Augenklinik in unmittelbarer Nähe, können isolierte Augennotfälle auch in einer augenärztlichen Praxis erstversorgt werden. Klären Sie jedoch vorher telefonisch 466

ab, ob die Praxis geöffnet und zur Versorgung geeignet ist. Reichen die Verletzungen über das Auge und die Augenlider hinaus, ist zur optimalen Versorgung eine primäre Vorstellung in der interdisziplinären Notaufnahme einer Klinik mit augenärztlicher Fachabteilung erforderlich.

Lichtverhältnissen durchzuführen und wirklich nur das untersuchte Auge zu belichten. Zur Abschirmung halten Sie eine Hand senkrecht auf den Nasenrücken des Untersuchten. Beobachten Sie zunächst das jeweils beleuchtete Auge: Die Pupille sollte sich bei Lichteinfall verengen (direkte Lichtreaktion, photomotorischer Reflex). Anschließend beobachten Sie beide Pupillen: Bei Gesunden verengen sie sich reflektorisch in gleichem Ausmaß, wenn ein Auge belichtet wird (konsensuelle Pupillenverengung = indirekte Lichtreaktion). Kontrollieren Sie diese Reaktion immer mehrfach und im Seitenvergleich. Eine Abweichung in Ausmaß und Geschwindigkeit der Pupillenreaktion weist auf eine efferente Störung der Pupillenmotorik hin und ist, abgesehen von einer möglichen Irisstörung (lokale Intoxikation, Verletzung), ein Hinweis auf eine neurologische Schädigung. Bei vollständiger Erblindung eines Auges durch eine Schädigung der Netzhaut oder des Sehnervs ist am betroffenen Auge nur die indirekte, nicht aber die direkte Lichtreaktion auslösbar (amaurotische Pupillenstarre).

Augenspülung Indikationen ● Kontakt des Auges mit Säuren, Laugen oder anderen reizenden Fremdstoffen (z. B. Haushaltsreiniger) ● Augenverbrennungen ● feine Fremdkörper (z. B. Staubpartikel)

Eine improvisierte Augenspülung können Sie mit jeder neutralen wässrigen Lösung durchführen, z. B. mit Leitungs- oder Mineralwasser: Bei Verätzungen zählt jede Sekunde, um das Auge vor weiterem Schaden zu bewahren. Vorbereitung • Kontaktlinsen sollten vor einer Spülung ggf. entfernt werden (möglichst durch den Patienten selbst), damit die Spülflüssigkeit die gesamte Augenoberfläche erreicht. Für die Durchführung der Spülung ist es wichtig, ob das Auge durch eine aggressive Substanz verletzt wurde oder ob sich Fremdkörper auf dem Auge bzw. unter dem Augenlid befinden. Augenspülung bei aggressiven Substanzen • Der Verletzte muss den Kopf so halten, dass die Spülflüssigkeit nicht über das Gesicht oder das gegenüberliegende Auge läuft (▶ Video 19.2). Fordern Sie ihn auf, das Auge zu öffnen. Ist dies wegen eines Lidkrampfes nicht möglich, spreizen Sie oder ein Helfender die Augenlider mit Daumen und Zeigefinger. Ziehen Sie dazu die Haut unterhalb des Auges nach unten und die Augenbraue nach oben. Ein Tupfer als Auflage verhindert das Abrutschen am feuchten Auge. Denken Sie unbedingt an den Eigenschutz und tragen Sie Handschuhe! Schützen Sie das nicht betroffene Auge mit einem Kompressenpolster vor Spritzern. Das Auge wird vom inneren Augenwinkel nach außen gespült. Durch den Schmerzabwehrreflex neigen Verletzte dazu, den Kopf vom Schmerz wegzudrehen: Fixieren Sie daher den Kopf gut. Der Verletzte Video 19.2 Augenspülung.

Über die Augenspülung gibt es ein Video! Video: © K. Oborny/Thieme

Notfälle sollte das Auge während des Spülvorgangs ständig in alle Richtungen bewegen. Der Spülstrahl sollte nicht zu kräftig aufs Auge auftreffen. Sofern der Verletzte es toleriert, sollten Sie für eine effektivere Spülung das Oberlid umstülpen (▶ Abb. 19.3). Parallel zur Augenspülung wird der Verletzte schnellstmöglich in die nächstliegende augenärztliche Einrichtung transportiert. Die Spülung wird für mindestens 15 Minuten fortgeführt, auch während des Transports. Für eine wirksame Augenspülung bei Verätzungen benötigen Sie z. T. mehrere Liter Spülflüssigkeit, um den pH-Wert in einen physiologischen Bereich zu bringen. Augenspülung bei Fremdkörpern im Auge • Spülen Sie das Auge bei geöffneten Augenlidern von außen in Richtung Nasenwurzel, entsprechend dem natürlichen Tränenfluss. Lose Partikel können Sie vorsichtig mit einem sterilen, feuchten Watteträger aufnehmen. Stülpen Sie den Lidbereich zur besseren Reinigung um. Nach Entfernung des Fremdkörpers tupfen Sie das Auge trocken.

RETTEN TO GO Basismaßnahmen ●



Eine sofortige Augenspülung ist z. B. bei Verätzungen (Säuren, Laugen), Verbrennungen oder feinen Fremdkörpern notwendig. Es gibt gebrauchsfertige Augenspülflaschen, prinzipiell kann aber jede neutrale wässrige Flüssigkeit verwendet werden. Bei Verätzungen wird vom inneren Augenwinkel nach außen gespült, bei Fremdkörpern von außen nach innen. Ein Augenverband schützt das geschädigte Auge bis zur Weiterbehandlung. Dazu wird ein Kompressenpolster aufgelegt und mit Pflasterstreifen fixiert. Zur Ruhigstellung des verletzten Auges müssen immer beide Augen verbunden werden. Beachten Sie, dass der Patient dadurch nichts sieht, was starke Ängste auslösen kann. Eine intensive Betreuung ist besonders wichtig!

Augenverband Vorgehen • Der Augenverband schützt das geschädigte Auge bis zur Weiterbehandlung. Bei einer penetrierenden Augenverletzung oder einer Verletzung der Lider wird das Auge steril abgedeckt. Am geschlossenen Auge wird ein Kompressenpolster aufgelegt und ohne Druck mit Pflasterstreifen fixiert (▶ Abb. 19.5).

! Merke Augenverband immer beidseitig

Auch wenn nur ein Auge ruhiggestellt werden soll, muss ein beidseitiger Augenverband angelegt werden, da die Augenbewegungen immer synchron verlaufen. Eine optimale Abschirmung der Augen ist v. a. bei Augenverletzungen durch Fremdkörper sehr wichtig, um weitere Schädigungen durch Augenbewegungen zu vermeiden. Betreuung des Patienten • Haben Sie einen beidseitigen Augenverband angelegt, sieht der Patient nichts mehr, die ohnehin schon vorhandene notfallbedingte Angst steigt oft noch an. Betreuen Sie den Patienten daher intensiv, zur Orientierung ist u. U. ein leichter Körperkontakt sinnvoll. Erläutern Sie alle Maßnahmen und Veränderungen in der Umgebung, damit sich der Patient ausreichend sicher fühlt. Bei Transfers (z. B. von Tragestuhl zu Trage) müssen Sie den Betroffenen führen. Abb. 19.5 Augenverband.

19.2 Notfälle 19.2.1 Augenverletzungen Bei einer offenen Augenverletzung hat eine durchgreifende Verletzung der Augenhülle (Sklera und Kornea) stattgefunden. Dazu zählen das stumpfe Trauma mit Rupturen im Inneren des Auges und penetrierende Augenverletzungen, z. B. Stich- und Splitterverletzungen.

Lidverletzungen Verletzungsmechanismus • Mechanisch bedingte Lidverletzungen sind die Folge von Ablederungen, Stich-, Schnittoder Bissverletzungen. Durch direkte Gewalteinwirkung und bei Schädelbasisfrakturen können Einblutungen in das Lidgewebe (Lidhämatome) vorkommen. Bei einer Durchtrennung der Lidkante (▶ Abb. 19.6) sind häufig zusätzlich tiefer liegende Strukturen wie Binde- und Hornhaut betroffen. Bei Stichverletzungen ist von einer penetrierenden Verletzung (S. 468) auszugehen. Versorgung der Patienten • Die Wunde wird mit einer sterilen Wundauflage versorgt, auch bei kontaminierten Wunden (z. B. Erde, Bissverletzungen). Stärkere Blutungen machen einen festen Augenverband erforderlich. Tierbisse können zu einer Infektion mit dem Tollwutvirus führen. Denken Sie u. a. deshalb daran, bei Bissverletzungen durch Haustiere die Daten des Tierbesitzers zu erfassen.

! Merke Kein Druckverband am Auge

Legen Sie bei Blutungen am oder aus dem Auge keinen Druckverband an, da dies die empfindlichen Strukturen des verletzten Auges zusätzlich schädigen kann. Es besteht keine Verblutungsgefahr!

Beidseitiger, druckfreier Augenverband zur Ruhigstellung der Augen. Foto: © K. Oborny/Thieme

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Augennotfälle Abb. 19.6 Verletzung der Lidkante. a Lidkantenverletzung nach einem stumpfen Trauma. b Erst bei Anheben des Oberlids wird das Ausmaß der Verletzung sichtbar. Aus: Welkoborsky H, Wiechens B, Hinni M, Hrsg. Orbita. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2015

a

b

Abb. 19.7 Fremdkörperverletzungen des Auges. a Eingebrannter Hornhautfremdkörper: Beim Flexen ohne Augenschutz ist ein Splitter ins Auge gekommen (Pfeil). Die Bindehaut in diesem Bereich ist gerötet. b Perforierende Augenverletzung von Hornhaut, Iris, Linse, Sklera und Netzhaut durch eine Tacker-Klammer.

a

b

Nicht penetrierende Fremdkörperverletzungen Grundlagen • Bei oberflächlichen Verletzungen der Hornhaut, z. B. durch einen Fingernagel oder Fremdkörper, liegen die Endigungen der Hornhautnerven frei und werden bei jeder Lidbewegung gereizt, was Schmerzen auslöst. Partikel unter dem Oberlid werden häufig durch einen verstärkten Tränenfluss und häufigere Lidbewegungen ohne weiteres Eingreifen ausgeschwemmt. Kleinere Fremdkörper (z. B. Sand, kleine Metallspäne, Partikel bei Flexarbeiten) können sich allerdings in die Kornea eingraben bzw. einbrennen (▶ Abb. 19.7a), sodass der Fremdkörperreiz bestehen bleibt. Solche oberflächlichen Verletzungen sind selten ein Alarmierungsgrund für den Rettungsdienst, sie werden meist in augenärztlichen Praxen behandelt. Bei schweren Fremdkörperverletzungen besteht die Gefahr einer penetrierenden Augenverletzung mit Vordringen des Fremdkörpers in den Bulbus bzw. einem Durchdringen des gesamten Auges mit Verletzungen dahinterliegender Strukturen. Symptomatik • Typische Symptome sind Fremdkörpergefühl (bei Fremdkörpern unter dem Oberlid lidschlagabhängig), Lidkrampf, Augenschmerzen und -rötung sowie Tränenfluss. Versorgung des Patienten Durch Abtupfen mit einem sterilen, feuchten Watteträger können kleine, harmlose Fremdkörper (z. B. Schmutzpartikel, Insekten), die sich nicht einfach aus dem Auge wischen lassen, aus dem Bindehautsack bzw. unter dem Oberlid entfernt werden. ● Durch ein Ektropionieren (▶ Abb. 19.3) gelingt es meist, auch Partikel unter dem Oberlid zu entfernen. ● Mit einer Augenspülung (S. 466) können Sie feine Staubpartikel beseitigen. ●

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Aus: Lang G, Esser J, Gareis O, Lang G, Lang S, Spraul C, Wagner P, Hrsg. Augenheilkunde. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019

Die Beschwerden verschwinden fast unmittelbar nach Entfernen des Fremdkörpers. Um eine Binde- oder Hornhautverletzung abzuklären, sollte sich der Betroffene auch bei anscheinend harmlosen Fremdkörpern in einer augenärztlichen Praxis vorstellen. Für den Transport wird das Auge mit einer Kompresse abgedeckt, um Lidbewegungen und die damit verbundene Reizung des Auges zu reduzieren. Vorgehen bei spitzen Fremdkörpern • Gehen Sie bei Verletzungen durch spitze oder scharfkantige Fremdkörper (z. B. Glassplitter, Metallspäne) immer von einer Verletzung der Binde- und/oder Hornhaut aus. Manipulationen durch Lidbewegungen und Augenreiben sollten vermieden werden. Legen Sie daher einen beidseitigen Augenverband (S. 467) an. Eine augenärztliche Weiterbehandlung ist unerlässlich.

Penetrierende Augenverletzungen Grundlagen • Ein Fremdkörper ist in das Innere des Augapfels eingedrungen (▶ Abb. 19.7b), d. h., dieser ist eröffnet. Durchdringt der Fremdkörper den Bulbus, sind schwerwiegende Verletzungen der Augenhöhle möglich. Typische Ursachen sind Stich-, Glas- (z. B. Brillenglas, Windschutzscheibe), Pfählungs-, Explosions- und Hammer-Meißel-Verletzungen (Verletzungen durch kleinste Metallsplitter).

ACHTUNG Bei kleinen Verletzungen (Splitterverletzungen) kann die Perforation der Hornhaut präklinisch unbemerkt bleiben, da diese quillt und die Perforation (zunächst) abdichtet. Symptomatik • Typische Symptome sind eine Rötung und Schmerzen des Auges mit Lidkrampf, Lichtscheu und Sehstörungen. Je nach Ausmaß der Verletzung können eine Einblutung unter die Bindehaut oder in die Vorderkammer, eine

Notfälle Hornhauttrübung, ein Irisprolaps, eine Pupillenentrundung, eine aufgehobene Vorderkammer, eine Glaskörperblutung oder eine Netzhautverletzung die Folge sein. Bei einer gleichzeitigen Bulbuskontusion (S. 469) sind weitere Verletzungen möglich. Versorgung des Patienten • Unterlassen Sie jede Manipulation am Auge! Fremdkörper bleiben im Auge. Decken Sie das verletzte Auge mit sterilen Kompressen ab, legen Sie zur Ruhigstellung einen beidseitigen, druckfreien Augenverband (S. 467) an. Transportieren Sie den Patienten in Oberkörperhochlagerung zur operativen Versorgung in eine Augenklinik.

Stumpfe Augenverletzungen Fallbeispiel Der Squashball ging ins Auge* Einsatzmeldung: Sportunfall – eine Person – Verletzung im Gesichtsbereich – Alarmierung RTW. Der Verunglückte liegt auf einer Bank am Spielfeldrand und hält sich einen Kühlpack an das rechte Auge. Er habe einen Squashball ins Gesicht bekommen. Der Augenbereich ist geschwollen. Bei der Inspektion erkennen Sie, dass das Auge gerötet und die Pupille entrundet ist. Der Verletzte klagt über anhaltende Augenschmerzen und eine Sehstörung („Alles ist trüb und ich sehe irgendwie alles doppelt“). Die Pupille des rechten Auges reagiert nur eingeschränkt auf Licht. Auch die koordinierten Augenbewegungen sind rechtsseitig eingeschränkt. *Fallbeispiel fiktiv

Grundlagen • Eine stumpfe Gewalteinwirkung auf das Auge führt, v. a. bei kleineren Objekten (z. B. Squashball), zu einer Prellung des Augapfels (Contusio bulbi, ▶ Abb. 19.8). Die Abb. 19.8 Beispiele für stumpfe Augenverletzungen.

Iridodialyse

Gewalteinwirkung

Sphinkterrisse

Schädigung der Linse (Kontusionskatarakt)

Orbitabodenfraktur mit Einklemmung des unteren geraden Augenmuskels Hyphäma

Retrobulbärund Lidhämatom

Beispiele für Augenverletzungen durch ein stumpfes Bulbustrauma. Nach: Lang G, Esser J, Gareis O, Lang G, Lang S, Spraul C, Wagner P, Hrsg. Augenheilkunde. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019

469

19

Augennotfälle einwirkenden Kräfte können vielfältige Rupturen der Strukturen im Auge verursachen, wobei die äußere Augenhülle meist intakt bleibt. Der hohe Druck bei der Kompression des Orbitainhalts kann zu einer Fraktur des Orbitabodens führen, der schwächsten Stelle der Augenhöhle. Eine solche Blow-out-Fraktur entsteht auch bei direkter Gewalteinwirkung auf die Orbitakante (z. B. Faustschlag). Bricht die mediale Orbitawand, entsteht eine Verbindung zur Nasenhöhle. Zusätzlich besteht die Gefahr einer Ruptur der Iris- und/oder Ziliarkörpergefäße. Symptomatik ● Augapfelprellung: Lidschwellung, Lidhämatom, Augenrötung und -schmerz mit Lidkrampf, Lichtscheu, Sehstörung, Hornhauttrübung ● Rupturen: Einblutung in Bindehaut, Vorderkammer oder Glaskörper, Iridodialyse, Pupillenentrundung, Mydriasis, Netzhautablösung ● Orbitabodenfraktur mit Verlagerung des Orbitainhalts in die Kieferhöhle: Bewegungseinschränkung bei Blickhebung und -senkung, Doppelbilder beim Blick mit beiden Augen, Enophthalmus (Zurücksinken des Augapfels in die Orbita), Sensibilitätsstörungen im Bereich von Wange und Oberlippe, Hautemphysem, Nasenbluten Versorgung des Patienten • Das verletzte Auge wird mit einer Kompresse abgedeckt. Die Augen werden mit einem beidseitigen, druckfreien Augenverband (S. 467) ruhiggestellt. Eine leichte Kühlung des verletzten Auges ist hilfreich (Kühlpack auf Verband legen, kein direkter Hautkontakt!), um die Schwellung zu begrenzen und die Schmerzen zu lindern. Bei Verdacht auf eine Orbitafraktur (v. a. mit Hautemphysem) sollte sich der Patient nicht schnäuzen. Der Patient wird nach Möglichkeit in Oberkörperhochlagerung transportiert.

! Merke Augenprellung

Auch bei leichten Augenprellungen mit harmloser Symptomatik sollte sich der Patient augenärztlich vorstellen, um ernsthafte Verletzungen der inneren Augenstrukturen abzuklären. Gestörte Augenbewegungen nach einer Augenprellung lassen Verletzungen der Augenhöhle vermuten.

Fallbeispiel Fortsetzung – Der Squashball ging ins Auge Die Vitalwerte sind unauffällig, die Anamnese nach SAMPLER ergibt keine weiteren Hinweise. Notärztliche Unterstützung ist daher nicht erforderlich. Aufgrund von Anamnese und Symptomatik stellen Sie die Arbeitsdiagnose „schwere Augenprellung“. Sie begutachten das verletzte Auge eingehend, decken es dann mit einer sterilen Kompresse ab und legen einen beidseitigen Augenverband an. Anschließend haken Sie und Ihre Kollegin den Verletzten beidseitig unter und führen ihn zum Rettungswagen. Währenddessen versuchen Sie, den Verletzten zu beruhigen und durch ein unverfängliches Gesprächsthema abzulenken. Sie lagern ihn im Fahrzeug auf der Krankentrage mit erhöhtem Oberkörper und geben ihm eine Kältekompresse zur weiteren selbstständigen Kühlung des Auges in die Hand. Sie legen für den Transport ein Standard-Monitoring an (Puls, RR, SpO2), erklären dem Verletzten die einzelnen Maßnahmen ausführlich und transportieren ihn wegen einer möglichen Orbitafraktur in eine Klinik mit Augen- und HNO-Abteilung.

Chemische und thermische Verletzungen Grundlagen • Aggressive Chemikalien oder deren Dämpfe, die an das Auge gelangen, führen zu einer Reizung der Binde- und Hornhaut bis zu Gewebsnekrosen. Die Folgen hängen von der Reaktionsfähigkeit, der Einwirkdauer und Konzentration der Chemikalie ab. Typischerweise verursachen Säuren primär eine schwere oberflächliche Verätzung, Laugen dringen schneller in das Auge ein und schädigen rasch fortschreitend die tieferen Bereiche des Augapfels. Oft sind auch die Augenlider und die Haut in der Umgebung des Auges betroffen. ▶ Tab. 19.4 fasst typische Ursachen für chemische und thermische Augenverletzungen zusammen. Symptomatik • Zunächst stehen Schmerzen, Lidkrampf und verstärkter Tränenfluss im Vordergrund. Je nach Schweregrad und Auslöser entwickeln sich im Verlauf weitere Symptome: ● Schwellung der Lider und der Bindehaut ● Rötung des Auges oder blass-ischämische Bindehaut mit sichtbaren thrombosierten Gefäßen, porzellanweiße Lederhaut

Tab. 19.4 Häufige Ursachen für chemische und thermische Verletzungen. Noxe

Vorkommen (Beispiele)

Wirkung

Schwefelsäure

in Autobatterien

● ●

Flusssäure (HF, Fluorwasserstoff)

Metall-, Elektro- und Glasindustrie

ungelöschter Kalk (Branntkalk)

Mörtelherstellung (Bauindustrie), Düngekalk (Landwirtschaft)



thermische Einwirkungen

kochendes Wasser, erhitztes Fett, heiße Dämpfe, Stichflammen, glühende Kohlestücke



flüssiges Metall

Metallindustrie



● ●







470

Verätzung thermische Verletzungen durch Hitzeentwicklung ausgedehnte Gewebsnekrosen zusätzliche Tiefenwirkung durch Resorption: schon bei handtellergroßen Verletzungen durch konzentrierte Flusssäure Gefahr einer lebensbedrohlichen Hypokalzämie (hohe Affinität von HF zu Kalzium) Reaktion mit Gewebewasser und „Hineinfressen“ in die Augenoberfläche Verteilung der entstehenden Lauge durch den Lidschlag auf dem Auge primär Schädigung des vorderen Augenabschnittes (Binde- und Hornhaut) fast immer zusätzliche Schädigung des Augenlides wegen des Lidschlussreflexes in schweren Fällen Lidverlust bis hin zur Zerstörung des Augapfels Verbrennung betrifft häufig auch größere Anteile der Gesichts- und Kopfhaut

Notfälle Abb. 19.9 Augenverätzung.

Sicherheitsdatenblatt • Im gewerblich-industriellen Bereich werden in der Regel besondere Vorkehrungen für Augenverätzungen getroffen: Spezielle Augenduschen und Spülpräparate stehen in den Gefährdungsbereichen zur Verfügung, die Ersthelfenden werden in der sachgerechten Anwendung geschult. Zu jeder gefährlichen Substanz existiert ein Sicherheitsdatenblatt, das für den Notfall griffbereit im Arbeitsbereich vorliegen muss (Gefahrstoffverordnung). Das Datenblatt enthält einen Bereich für Erste-Hilfe-Maßnahmen, auch mit Hinweisen zu ärztlichen Maßnahmen. Nehmen Sie das Sicherheitsdatenblatt für die klinische Behandlung mit.

Verblitzung

Die Hornhaut ist eingetrübt, temporal unten zeigt sich ein weißes, ischämisches Areal. Aus: Burk A, Burk R, Hrsg. Checkliste Augenheilkunde. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018



● ●

Eintrübung der Hornhaut (▶ Abb. 19.9), Maximalform: weißliche Hornhaut („gekochtes Fischauge“) Visusverschlechterung bis zur Erblindung Gewebsnekrosen

Versengte Wimpern und Augenbrauen sowie blasige Haut deuten auf eine Verbrennung (S. 398) hin. Bei schweren Verletzungen werden die freien Nervenendigungen zerstört, es bestehen daher nur geringe Schmerzen.

! Merke Ausmaß der Schädigung

Es besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem subjektiven Schmerzempfinden des Verletzten und dem Schädigungsausmaß!

Grundlagen • Energiereiche UV-Strahlung wird überwiegend von der Hornhaut und Bindehaut absorbiert. Bei starker Strahleneinwirkung kann die Haftung der Epithelzellen untereinander reduziert sein, was zu kleinsten Erosionen mit freiliegenden Nervenendigungen führt. Typische Ursachen sind Schweißen ohne UV-absorbierende Schutzeinrichtung und ein Aufenthalt im schneereichen Hochgebirge ohne ausreichenden Augenschutz (Schneeblindheit). Symptomatik • Üblicherweise sind beide Augen betroffen. Die Symptomatik mit Augenschmerzen, Fremdkörpergefühl, Augenrötung, Lichtscheu, Tränenträufeln und Lidkrampf beginnt etwa 3–8 Stunden nach der UV-Exposition. Versorgung des Patienten • Ein dezentes Kühlen der Augen und Schutz vor Tageslicht lindern die Beschwerden. Decken Sie die Augen mit feuchten, sterilen Kompressen ab und versorgen Sie den Patienten mit einem Augenverband. Für die weitere Behandlung wird der Patient augenärztlich vorgestellt.

RETTEN TO GO Versorgung des Patienten • Meist beginnen Ersthelfende oder die Betroffenen selbst bereits vor Ihrem Eintreffen mit einer Augenspülung (S. 466). Diese Maßnahme hat absoluten Vorrang und darf auch während des Transports nicht unterbrochen werden! Leichte Verbrennungen (Lidbereich, Augenrötung) werden nach Spülung und mechanischer Reinigung mit einer feuchten sterilen Kompresse abgedeckt. Schwerere Verbrennungen werden bis zur Ankunft in der Augenklinik moderat gespült, um entzündungsauslösende Substanzen auf dem Auge zu reduzieren. Dazu ist z. B. ein Infusionssystem mit RingerLactat-Lösung (ca. 30 Tropfen/min) gut geeignet. Feste Substanzen (z. B. Ruß-, Kalk- oder Zementpartikel) werden mechanisch entfernt: Dazu reinigen Sie die Augenoberfläche und die Lidinnenseiten mit einem feuchten, sterilen Watteträger. Zur Versorgung von Verbrennungen siehe das Kapitel Traumatologische Notfälle (S. 398). Bei Unfällen mit Chemikalien kann der Patient auch aggressive Dämpfe eingeatmet haben, mit der Gefahr einer Lungenschädigung. Klären Sie ein mögliches Inhalationstrauma bzw. ein toxisches Lungenödem (S. 269) ab! Angesichts der Spezifität von Chemieunfällen, ausgeprägter Schmerzzustände und möglicher systemischer Komplikationen sollten Sie notärztliche Unterstützung hinzuzuziehen. Nehmen Sie möglichst die Verpackung bzw. einen Rest der schädigenden Chemikalie in die Zielklinik mit, damit eine zielgerichtete Therapie erfolgen kann.

ACHTUNG Achten Sie bei gefährlichen Substanzen unbedingt auf den Eigenschutz!

Augenverletzungen ●







Lidverletzungen: Ursachen sind v. a. Ablederungen, Schnitte und Bisse. Die Verletzung wird mit einer sterilen Wundauflage versorgt, bei stärkeren Blutungen ist ein fester Augenverband erforderlich. nicht penetrierende Fremdkörperverletzungen: Typische Symptome sind Fremdkörpergefühl, Blepharospasmus, Schmerzen, Rötung und Tränenfluss. Die Fremdkörper werden durch Abtupfen mit einem feuchten Watteträger (ggf. Ektropionieren des Lids) oder mittels Augenspülung entfernt. Bei Verletzungen durch spitze Fremdkörper wird ein beidseitiger Augenverband angelegt. Anschließend augenärztliche Abklärung und Weiterbehandlung. penetrierende Augenverletzungen: Eröffnung des Bulbus z. B. durch Stich-, Glas-, Pfählungs- oder Explosionsverletzungen; vielfältige Symptome (u. a. Rötung, Schmerzen, Sehstörung). Fremdkörper werden präklinisch nicht entfernt. Das verletzte Auge wird steril abgedeckt, der Patient erhält einen beidseitigen Augenverband. Anschließend Transport in Oberkörperhochlagerung in eine Augenklinik. Bulbuskontusion (Augapfelprellung): Stumpfe Gewalt (z. B. Aufprall eines Squashballs) kann alle Strukturen im Augeninneren sowie die knöcherne Augenhöhle (z. B. Blow-out-Fraktur) verletzen. Notfallversorgung: verletztes Auge abdecken und leicht kühlen, beidseitiger Augenverband, unbedingt augenärztlich untersuchen lassen (auch bei leichter Prellung) 471

19

Augennotfälle







Augenverätzung: Ätzende Substanzen (Säuren, Laugen) reizen Binde- und Hornhaut und können schwere Augenschäden bis zur Erblindung bewirken. Entscheidend ist eine sofortige Augenspülung, die während des Transports in eine Augenklinik fortgesetzt werden muss. Augenverbrennung: thermische Schädigung (z. B. durch kochendes Wasser, heiße Dämpfe) primär von Binde- und Hornhaut; Augenspülung, bei schweren Verbrennungen bis zur Ankunft in der Augenklinik Verblitzung: Energiereiche UV-Strahlung (z. B. Schweißen, Aufenthalt im schneereichen Hochgebirge) schädigt die Binde- und Hornhaut; Kühlung, Schutz vor Tageslicht, augenärztliche Vorstellung

RETTEN TO GO Netzhautablösung Eine Ablösung der Netzhaut (Ablatio retinae) entsteht meist infolge degenerativer Prozesse, seltener nach einer Bulbuskontusion. Vorboten sind die Wahrnehmung von Lichtblitzen und beweglicher schwarzer Punkte („Rußregen“). Schließlich schiebt sich ein Schatten von oben oder unten ins Gesichtsfeld. Der Patient muss umgehend in eine Augenklinik gebracht werden.

19.2.3 Glaukomanfall

19.2.2 Netzhautablösung Synonyme • Ablatio retinae, Amotio retinae Ursache • Die Netzhautablösung ist die häufigste Ursache für eine einseitige, schmerzlose Erblindung. Sie entsteht überwiegend als Folge eines Netzhauteinrisses (▶ Abb. 19.10), meistens bedingt durch degenerative Prozesse (Glaskörperabhebung) oder seltener eine Bulbuskontusion. Die Netzhaut löst sich von der Aderhaut ab und wird dadurch nicht mehr ausreichend versorgt. Die sehr empfindlichen Sinneszellen der Netzhaut überstehen eine Unterbrechung der Blutversorgung nur wenige Stunden. Symptomatik • Als Vorbote einer Netzhautablösung nehmen die Patienten Lichtblitze oder einen Rußregen wahr: Beim Einreißen der Netzhaut sind Verletzungen der Netzhautgefäße möglich. Die Blutung zeigt sich als absinkende schwarze Punkte im Gesichtsfeld. Die Lichtblitze werden auch bei geschlossenem Auge wahrgenommen. Im Verlauf breitet sich ein schwarzer Schatten im Gesichtsfeld aus. Manche Patienten beschreiben dies als dunklen Vorhang, der sich langsam zuzieht. Letztlich resultiert ein Sehverlust. Versorgung des Patienten • Nur eine rechtzeitige augenärztliche Behandlung kann ein Fortschreiten des Sehverlustes begrenzen. Wichtig ist daher, die Brisanz des Notfalls zu erkennen! Der Patient muss umgehend in eine Augenklinik transportiert werden. Bei rechtzeitiger Behandlung kann die Sehkraft meistens erhalten werden.

Fallbeispiel Plötzlich Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen* Am frühen Abend erreicht Sie die Einsatzmeldung „Häuslicher Notfall – 64-jährige Patientin – Kopfschmerzen, Übelkeit, mehrfaches Erbrechen – Alarmierung RTW“. Sie fahren zu einem Mehrfamilienhaus, wo Sie die Patientin im Sessel sitzend vorfinden. Ihr Kollege führt eine kurze Anamnese durch, parallel beginnen Sie mit der Erhebung der Vitalwerte. Die Patientin berichtet, dass die Symptomatik plötzlich und ohne ersichtliche Ursache eingesetzt habe. Ihr sei sehr übel und sie habe unerträgliche, rechtsseitige Kopfschmerzen. Beim Blick ins Licht beschreibt die Patientin störende Farbringe, ihr rechtes Auge ist auffällig gerötet. Bei der Pupillenkontrolle ist die rechte Pupille erweitert und reagiert nur wenig auf Lichteinfall. Die Lichtreaktion am anderen Auge ist normal. Durch einzelnes Abdecken der Augen stellen Sie eine Sehstörung am rechten Auge fest. Mit leichtem Druck auf die Oberlider ertasten Sie rechts einen steinharten Augapfel. *Fallbeispiel fiktiv

Definition Glaukom und Glaukomanfall „Glaukom“ ist der Sammelbegriff für verschiedene Augenerkrankungen mit fortschreitender Schädigung des Sehnervs im Bereich der Papille. Bei einem Glaukomanfall steigt der Augeninnendruck schlagartig an, wodurch der Sehnerv rasch fortschreitend geschädigt wird.

Abb. 19.10 Netzhauteinriss und Netzhautablösung.

Riss Ablösung

Sehnerv

Netzhaut Am häufigsten ist eine Netzhautablösung die Folge degenerativer Prozesse, seltener auch einer stumpfen Augenverletzung.

472

Synonyme ● Glaukom: grüner Star (Laienbezeichnung) ● Glaukomanfall: akuter Winkelblock Chronische Formen des Glaukoms werden hier nicht weiter besprochen, von Notfallrelevanz ist einzig der plötzlich auftretende Glaukomanfall. Pathophysiologie • Bei einem Glaukomanfall steigt der Augeninnendruck plötzlich stark an. Der Auslöser ist eine Verlagerung der Iris, sodass sie den Kammerwinkel als Hauptabflussweg des Kammerwassers verengt oder verlegt. Der dann extrem hohe Augeninnendruck schädigt den Sehnerv rasch und fortschreitend. Eine Weitstellung der Pupille (z. B. durch Medikamente oder bei Dunkelheit) begünstigt einen Glaukomanfall, da die Mydriasis eine Einengung des Kammerwinkels bewirkt.

Besonderheiten bei Kindern

ACHTUNG

Abb. 19.11 Glaukomanfall.

Der Glaukomanfall ist ein Notfall! Neben den ausgeprägten Beschwerden besteht die akute Gefahr eines Visusverlustes bis hin zur Erblindung des betroffenen Auges. Symptomatik • Im Vordergrund stehen oft vegetative Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen, z. T. auch Herzrhythmusstörungen. Die Gefahr einer Fehldiagnose ist daher groß, u. a. als akutes Abdomen, Trigeminusneuralgie, Migräne, Zahnschmerzen oder Hirnblutung. Typische Symptome, die das Auge betreffen, sind starke Augenschmerzen mit Ausstrahlung (Kopf, Oberkiefer), eine plötzliche Sehstörung bzw. Nebelsehen und die Wahrnehmung farbiger Ringe um Lichtquellen („Halos“). In der Regel ist nur ein Auge betroffen. Untersuchung • Typische Befunde (▶ Abb. 19.11) sind ein rotes Auge mit eingetrübter Hornhaut, mittelweiter, entrundeter und reaktionsloser Pupille und abgeflachter Vorderkammer. Der Augapfel ist palpatorisch „steinhart“.

Das Auge ist stark gerötet, die Hornhaut ist getrübt. Aus: Hahn G, Hrsg. Kurzlehrbuch Augenheilkunde. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012

! Merke Glaukomanfall

Die Kombination aus rotem Auge, Kopfschmerzen und Erbrechen ist höchst verdächtig auf einen Glaukomanfall! Ein weiterer wichtiger Hinweis ist der „steinharte“ Bulbus. Versorgung des Patienten • Die wichtigste Maßnahme ist der zügige Transport des Patienten in sitzender oder halbsitzender Position in die nächstgelegene augenärztliche Klinik oder Praxis, damit dort der Augeninnendruck zügig gesenkt wird. Folgende flankierende Maßnahmen sind sinnvoll: ● O2-Gabe über Nasensonde bzw. -brille mit 4–6 l/min ● Monitoring (v. a. bei kardiovaskulärer Begleitsymptomatik): Puls, Blutdruck, SpO2, 6-Kanal-EKG ● i. v.-Zugang vorbereiten und legen ● bei starken Schmerzen oder ausgeprägten vegetativen Beschwerden notärztliche Unterstützung nachfordern

Fallbeispiel Fortsetzung – Plötzlich Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen Mit der Arbeitsdiagnose „Akuter Glaukomanfall“ müssen Sie entscheiden, ob Sie notärztliche Unterstützung benötigen. Die Patientin gibt auf der Schmerzskala (0–10) Schmerzen in der Stärke 5 an, die Kreislaufwerte (Puls und RR erhöht) sind angesichts der Situation akzeptabel und deuten nicht auf eine vitale Bedrohung hin. Seit Sie vor Ort sind, hat die Patientin nicht erneut erbrochen. Sie gibt an, den Transport ohne Schmerzmedikation zu tolerieren. Angesichts der kurzen Entfernung zu einer augenärztlichen Praxis entscheiden Sie sich für diese und melden den Notfall telefonisch an. Ihr Kollege führt die Patientin bereits zum Rettungswagen und lagert sie mit erhöhtem Oberkörper auf der Krankentrage. Über eine Nasensonde bekommt die Patientin 4 l/min Sauerstoff. Ein 6-Kanal-EKG wird zur Beobachtung der Herzfunktion angelegt. Während des Transports wird ihr Kreislauf überwacht (Puls, RR, SpO2). Sie fahren die Augenarztpraxis unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten an.

RETTEN TO GO Glaukomanfall ●

● ●



Definition: Der Augeninnendruck steigt schlagartig an, wodurch der Sehnerv rasch fortschreitend geschädigt wird (Gefahr der Erblindung!). Ursache: akute Abflussblockade im Kammerwinkel Symptomatik: Augenschmerzen mit Ausstrahlung (Kopf, Oberkiefer), Sehstörungen, mittelweite, reaktionslose Pupille, „steinharter“ Augapfel; häufig deutliche vegetative Begleitsymptomatik mit Übelkeit und Erbrechen ToDo Basis: zügiger Transport in sitzender oder halbsitzender Position zur nächstgelegenen augenärztlichen Klinik oder Praxis, dort möglichst rasche Senkung des Augeninnendrucks

19.3 Besonderheiten bei Kindern Entwicklung des Sehvermögens • In den ersten Lebensmonaten (sensible Phase) reift das visuelle System des Kindes rasant: Säuglinge sehen noch sehr unscharf und können v. a. Hell-Dunkel-Kontraste unterscheiden. Im Lauf des 1. Lebensjahres entwickeln sich die Akkommodation (Dinge werden immer schärfer gesehen), das Sehen von Kontrasten und das räumliche und dreidimensionale Sehen. Auch das Farbsehen differenziert sich weiter aus. Besonderheiten in Diagnostik und Verlauf • Je jünger ein Kind ist, umso folgenschwerer wirken sich Augennotfälle auf die Entwicklung der Sehfähigkeit aus. Verletzungen oder Erkrankungen bei Kleinkindern führen oft zu Entwicklungsstörungen des Auges. Die Diagnostik wird häufig dadurch erschwert, dass kleine Kinder eine Sehstörung und deren Ursachen (z. B. Unfallhergang) in der Regel nur sehr eingeschränkt mitteilen können. Passierte der Unfall in einem unbeobachteten Moment, sind Sie auf Vermutungen zum Hergang angewiesen. Hinzu kommt, dass die Augenuntersuchung schwieriger ist als bei älteren Kindern. Vor diesem Hintergrund sollten Kinder mit Augennotfällen im Zweifelsfall immer augenärztlich vorgestellt werden!

473

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

Genitale Blutungen

20.1 Grundlagen Im rettungsdienstlichen Alltag werden Sie mit Notfällen in der Schwangerschaft und rund um die Geburt zu tun haben, aber auch mit Notfällen durch Erkrankungen oder Verletzungen der weiblichen Geschlechtsorgane. Die meisten Schwangeren unterziehen sich den empfohlenen, regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen. Daher sind Einsätze wegen Schwangerschaftskomplikationen im Rettungsdienst selten, aber unter Umständen für die Mutter und/oder das ungeborene oder neugeborene Kind lebensgefährlich.

20.1.1 Leitsymptome Übelkeit und Erbrechen bei Schwangeren Vor allem in den ersten 3 Schwangerschaftsmonaten leiden viele Frauen unter Übelkeit und Erbrechen, u. a. durch die hohe Konzentration des Schwangerschaftshormons β-hCG. Manchmal ist das Erbrechen so ausgeprägt und unstillbar, dass eine stationäre Behandlung mit Flüssigkeitszufuhr notwendig ist. Übelkeit und Erbrechen in der späteren Schwangerschaft können auf eine Spätgestose (S. 481) oder auf ein Vena-cava-Kompressionssyndrom (S. 480) hinweisen. Denken Sie immer auch an schwangerschaftsunabhängige Ursachen (z. B. Gastroenteritis)!

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Bei Schwangeren • Vaginale Blutungen sind während der gesamten Schwangerschaft möglich. In der Frühschwangerschaft kommen sie v. a. bei Extrauteringraviditäten (S. 478) und Fehlgeburten (S. 479) vor, oft in Verbindung mit Unterleibsschmerzen. Ursachen für Blutungen in der Spätschwangerschaft sind z. B. eine Placenta praevia oder eine vorzeitige Plazentalösung (S. 485). Wichtige Ursachen für verstärkte Blutungen rund um eine Geburt sind eine Uterusruptur (S. 485) und postpartale Blutungen (S. 490). Bei nicht schwangeren Frauen • Außerhalb einer Schwangerschaft sind vaginale Blutungen selten lebensbedrohlich. Sie können auf unterschiedlichste Probleme hinweisen, die Ursachen hängen auch vom Alter der Patientin ab: Bei Kindern ist vorrangig an Fremdkörper oder an einen sexuellen Missbrauch zu denken, bei Patientinnen in der Menopause mit einer erneuten vaginalen Blutung v. a. an einen Tumor. Typische Blutungsursachen bei nicht schwangeren Frauen: ● Menstruationsstörungen mit verlängerter oder verstärkter Blutung ● Entzündungen, z. B. Eierstockentzündung (Adnexitis) ● Tumoren im Unterleib, v. a. in fortgeschrittenen Stadien: u. U. sehr starke Blutungen ● Verletzungen (S. 477), z. B. Pfählungsverletzung, Vergewaltigung, stumpfes Unterbauchtrauma Anamnese bei genitalen Blutungen ● Ist eine Schwangerschaft möglich? Wenn ja, seit wann? ● Seit wann besteht die Blutung? Wie stark ist sie, auch im Vergleich zur üblichen Regelblutung? ● Gibt es Hinweise auf eine zusätzliche innere Blutung (z. B. Abwehrspannung, Schocksymptomatik)?

Leitsymptome Grundlagen

▶S. 474

Anamnese und Untersuchung Basismaßnahmen

▶S. 476

▶S. 476

Gynäkologische Verletzungen

▶S. 477 Physiologische Grundlagen

Schwangerschaft

Mutterpass

▶S. 477

▶S. 477

Notfälle in der Schwangerschaft

Komplikationen in der Frühschwangerschaft

▶S. 478

Komplikationen bei fortgeschrittener Schwangerschaft

Physiologischer Ablauf der Geburt Geburt und Neugeborenes

Wochenbett

● ●

▶S. 485

Geburtsbegleitung im Rettungsdienst ▶S. 486 Versorgung des Neugeborenen

Komplikationen während und nach der Geburt

▶S. 480

Fehllagen des Kindes Postpartale Blutungen

▶S. 488

▶S. 489 ▶S. 490

▶S. 490

Gibt es weitere Beschwerden (z. B. Schmerzen, Übelkeit)? Gab es eine Verletzung?

Versorgung der Patientin • Bei Blutungen steht neben der Kreislaufstabilisierung (S. 287) die Blutstillung im Vordergrund, z. B. mit der Lagerung nach Fritsch (▶ Abb. 20.1). Eine vaginale Tamponade wird nicht empfohlen, da dies die Blutung verstärken kann. Eine definitive Blutstillung ist i. d. R. erst in der Klinik möglich. Innere Blutungen werden nur indirekt bemerkt (z. B. harter Bauch, Schocksymptomatik) und oft unterschätzt. Entscheidend ist der zügige Transport in die Klinik unter engmaschiger Beobachtung der Vitalfunktionen und des Zustands der Patientin. Bei Anzeichen eines Schocks fordern Sie notärztliche Unterstützung zur Stabilisierung der Vitalfunktionen an.

Akute Unterleibsschmerzen Die Ursachen sind vielfältig. Auch hier werden Ursachen bei Schwangeren und bei nicht schwangeren Frauen unterschieden. Natürlich sind auch nicht gynäkologische Ursachen, z. B. eine Appendizitis (S. 344) oder eine Nierenkolik (S. 495), in Erwägung zu ziehen, vgl. „Akutes Abdomen“ (S. 336). Traumatische Ursachen ergeben sich aus der Anamnese. Bei Schwangeren • Schmerzen in der Frühschwangerschaft durch das Wachstum des Uterus und die zunehmende Dehnung der Mutterbänder sind recht häufig. Aber auch ein (bevorstehender) Abort (S. 479) kann Schmerzen hervorrufen. Bei Frauen im gebärfähigen Alter und plötzlich beginnenden Unterleibsschmerzen sollten Sie immer an eine Extrauteringravidität (S. 478) als Ursache denken. Bei fortgeschrittener Schwangerschaft können z. B. eine vorzeitige Plazentalösung (S. 485), einsetzende Wehen (S. 482) oder eine Uterusruptur (S. 485) zu mitunter starken Bauchschmerzen führen.

! Merke Unterleibsschmerzen bei Schwangeren

Unterleibsschmerzen in der Schwangerschaft müssen immer gynäkologisch abgeklärt werden. Bei nicht schwangeren Frauen • Eine häufige Ursache sind z. B. Zysten oder Tumoren an den Eierstöcken, die eine Stieldrehung des Eierstocks auslösen und damit zu einem akuten Abdomen führen können. Typisch ist ein plötzlich einsetzender, einseitiger, heftiger Unterleibsschmerz, oft nach einer schnellen Drehbewegung. Krampfartige Unterleibsschmerzen mit Ausstrahlung in den Rücken und die Oberschenkel, häufig begleitet von Übelkeit und Erbrechen, knapp vor oder in den ersten Tagen der Regelblutung, sind ein Hinweis auf eine Endometriose: Inseln von Gebärmutterschleimhautähnlichem Gewebe siedeln sich z. B. in der Wand der Gebärmutter, im Bereich der Eierstöcke, der Eileiter, des Darms, der Blase und/oder des Bauchfells an und bluten ebenfalls monatlich. Diese Blutungen lösen bei einem Teil der Frauen heftige Schmerzen, aber auch entzündliche Veränderungen mit Verwachsungen aus. Infektionen der inneren Geschlechtsorgane, z. B. eine Eileiterentzündung (Adnexitis, Salpingitis) führen oft zu akuten Unterleibsschmerzen und einem auffälligen Ausfluss aus der Vagina. Häufig steigen solche Infektionen aus der Vagina auf und betreffen junge, sexuell aktive Frauen. Hohes Fieber und schweres Krankheitsgefühl sind ein Hinweis auf eine Ausbreitung der Entzündung auf das Bauchfell (S. 336).

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

20.1.2 Anamnese und Untersuchung

Abb. 20.1 Fritsch-Lagerung.

Anamnese • Eine genaue Anamnese nach dem SAMPLER(S)Schema (S. 193) kann wertvolle Hinweise auf die Ursache der Beschwerden geben. Denken Sie bei gynäkologischen Notfällen immer an die Möglichkeit einer Schwangerschaft und fragen Sie nach der letzten Regelblutung. Lassen Sie sich bei Schwangeren immer den Mutterpass (S. 477) zeigen. Untersuchung • Zentral ist das Überprüfung der Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183). Gynäkologische Untersuchungen sind den meisten Frauen unangenehm, ein angepasstes und taktvolles Verhalten ist daher wichtig. Der Unterleib sollte nach Möglichkeit bedeckt bleiben. Im Rettungsdienst sind überwiegend männliche Kollegen im Einsatz, das Hinzuziehen einer (weiblichen) Vertrauensperson kann bei der Untersuchung von Vorteil sein, auch aus juristischen Gründen. Generell sollten nur die notwendigsten Maßnahmen durchgeführt und diese nach Einholen der Einwilligung (!) angekündigt und erläutert werden. Eine Inspektion (Berührung nur in absoluten Ausnahmefällen!) von Vulva und/oder Scheideneingang ist i. d. R. nur bei einem Verdacht auf Verletzungen im Intimbereich (Ausschluss penetrierender Verletzungen mit Gefahr von Gefäßverletzungen) und bei einer beginnenden Geburt (S. 486) zur Beurteilung des Geburtsfortschritts indiziert.

Die Patientin liegt ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel in Linksseitenlage (hier zur Illustration auf dem Rücken), die Beine werden etwa auf Kniehöhe überkreuzt. Vor die Vulva werden sterile Vorlagen gelegt. Dies dient dem Infektionsschutz und erlaubt zusätzlich eine Beurteilung der Menge abgehenden Blutes. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

Abb. 20.2 Linksseitenlagerung.

20.1.3 Basismaßnahmen Die Maßnahmen hängen von der Symptomatik und der Verdachtsdiagnose ab. Sie werden detailliert bei den einzelnen Krankheitsbildern beschrieben. ● Sicherstellen und Aufrechterhalten der Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema (S. 183) ● kontinuierliche Monitorüberwachung (Puls, SpO2, ggf. EKG), RR auf Intervallmessung einstellen ● sättigungsabhängige Gabe von Sauerstoff (S. 216) ● Lagerung: – vaginale Blutungen: Lagerung nach Fritsch (▶ Abb. 20.1) – Schwangere ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel: Linksseitenlage (▶ Abb. 20.2) – Beckenhochlagerung: bei vorzeitigem Blasensprung – bauchdeckenentspannende Lagerung (S. 248) bei Bauchschmerzen bzw. akutem Abdomen – Gehen Sie nach Möglichkeit auf Lagerungswünsche der Patientin ein. ● je nach Kreislaufsituation und Medikamentenbedarf i. v.Zugang vorbereiten (und legen) ● Bei starken vaginalen Blutungen, akutem Abdomen und ggf. anderen Notfällen wird notärztliche Unterstützung nachgefordert, bei geburtshilflichen Notfällen möglichst auch eine Hebamme. Bei den meisten Schwangerschaftskomplikationen muss die Patientin (ggf. schnell) in ein Krankenhaus transportiert werden.

476

Die Patientin liegt leicht auf der linken Seite, durch eine Decke oder ein Kissen wird die Position unterstützt. Bei Bedarf wird diese Lagerung mit der Lagerung nach Fritsch und/oder mit einer Kopftieflagerung (bei Schocksymptomen) kombiniert. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © K. Oborny/Thieme

RETTEN TO GO Grundlagen ●







Leitsymptome: Übelkeit, Erbrechen, genitale Blutungen, akute Unterleibsschmerzen; wichtig ist: Ist die Frau schwanger oder nicht? Denken Sie auch bei Schwangeren an nicht genitale Ursachen der Beschwerden. Anamnese: Vorgehen nach dem SAMPLER(S)-Schema, immer nach der letzten Regelblutung und der Möglichkeit einer Schwangerschaft fragen Untersuchung: Untersuchen Sie den Genitalbereich nur, wenn unbedingt notwendig (z. B. bei Verdacht auf penetrierende Verletzung, beginnende Geburt). Basismaßnahmen: Sichern der Vitalfunktionen gemäß cABCDE-Schema, bei vaginaler Blutung Lagerung nach Fritsch, bei Schwangeren ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel Linksseitenlage; häufig muss ein NA, bei geburtshilflichen Notfällen ggf. auch eine Hebamme nachgefordert werden.

Schwangerschaft

20.2 Gynäkologische Verletzungen Vaginale Fremdkörper • Fremdkörper im Bereich der weiblichen Genitalien dürfen, wie Fremdkörper im Allgemeinen, wegen der Blutungsgefahr nie am Unfallort, sondern erst in der Klinik entfernt werden. Hier müssen auch Verletzungen benachbarter Organe abgeklärt werden. Sonderfall Vergewaltigung • Nach einer Vergewaltigung steht die psychische Betreuung der Patientin, am besten durch eine Kollegin, im Vordergrund. Der Patientin ist in dieser Situation grundsätzlich „Glauben zu schenken“. Die medizinische Versorgung und Untersuchung sollten so knapp wie möglich durchgeführt und die Patientin zur weiteren Behandlung und Diagnostik in eine Klinik mit gynäkologischer Abteilung gebracht werden. Der Rettungsdienst dokumentiert ausführlich den Bericht und die Auffindesituation der Patientin und evtl. Besonderheiten (z. B. im Umfeld) und übergibt diese Informationen an die weiterbehandelnde Klinik (die auch z. B. Verletzungen dokumentiert und die Polizei hinzuzieht). Die Kleidung der Patientin und Ähnliches (z. B. Bettwäsche) werden zur Beweissicherung asserviert.

20.3 Schwangerschaft 20.3.1 Physiologische Grundlagen Informationen zur Befruchtung, Einnistung und Entwicklung des Kindes sowie zu den Abschnitten der Schwangerschaft finden Sie im Kapitel Anatomie und Physiologie (S. 87). Schwangerschaftsbedingte Komplikationen entwickeln sich am häufigsten im 1. und 3. Trimenon. Die aktuelle Schwangerschaftsdauer ist u. a. für das Einsatzprotokoll relevant und wird so angegeben: Anzahl der abgeschlossenen Schwangerschaftswochen (SSW) + Tage der angefangenen Woche (z. B. 34 + 2 SSW = Schwangerschaft besteht seit 34 Wochen und 2 Tagen = 35. SSW)

20.3.2 Mutterpass Bei Schwangeren sollten Sie sich immer den Mutterpass ansehen, da hier im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen wesentliche Daten rund um die Schwangerschaft notiert werden (▶ Abb. 20.3). Dazu zählen u. a.: ● Anamnese und allgemeine Befunde, Risikofaktoren ● Blutgruppe ● Daten zu vorangegangenen Schwangerschaften: „Gravida“ steht dabei für die Anzahl der Schwangerschaften (inkl. der aktuellen), „Para“ steht für die Anzahl der Geburten (ohne Fehlgeburten), z. B. Gravida III Para II: 3. Schwangerschaft, bereits 2 Kinder geboren ● berechneter Entbindungstermin, Einling oder Mehrlinge ● besondere Befunde im Schwangerschaftsverlauf (z. B. Placenta praevia) ● gynäkologische Untersuchungen mit SSW, Befund der vaginalen Untersuchung, aktuelle Lage des Kindes Abkürzungen im Mutterpass: CTG: Kardiotokografie, EGT: errechneter Geburtstermin, ET: Entbindungstermin, EUG: Extrauteringravidität, MM: Muttermund, BEL: Beckenendlage, QL = Querlage, SL = Schädellage, SSL: Scheitel-Steiß-Länge, SSW: Schwangerschaftswoche, SP = Spontangeburt.

! Merke Mutterpass ansehen ●



Machen Sie sich im Vorfeld mit dem Mutterpass vertraut und beachten Sie dabei die Abkürzungen. Sehen Sie sich bei Schwangeren immer den Mutterpass an und nehmen Sie ihn (zusammen mit der eigenen Dokumentation) mit in die Klinik!

Abb. 20.3 Mutterpass. Das doppelseitige Gravidogramm gibt einen Überblick über die bisherigen Untersuchungen im Schwangerschaftsverlauf, z. B. zum Körpergewicht der Mutter und zur Lage des Kindes im Mutterleib. Achtung: In einem Mutterpass können mehrere Schwangerschaften dokumentiert sein. Achten Sie darauf, dass Sie sich die Informationen zur aktuellen Schwangerschaft ansehen! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © C. Marth/Thieme

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

RETTEN TO GO Schwangerschaft ●



Schwangerschaftsdauer: Eine Schwangerschaft dauert vom 1. Tag der letzten Menstruation durchschnittlich 40 Wochen und wird in 3 etwa gleich lange Abschnitte (Trimenon 1, 2 und 3) unterteilt. Die aktuelle Schwangerschaftsdauer wird durch die Anzahl der abgeschlossenen Schwangerschaftswochen (SSW) plus der Anzahl der Tage der angefangenen Woche angegeben (z. B. 34 + 2 SSW = 35. SSW). Denken Sie bei schwangeren Patientinnen immer daran, sich den Mutterpass der aktuellen Schwangerschaft anzusehen und in die Klinik mitzunehmen.

20.4 Notfälle in der Schwangerschaft 20.4.1 Komplikationen in der Frühschwangerschaft Extrauteringravidität (EUG) Fallbeispiel Starke Unterleibsschmerzen*

schmerzen, aber das ist nicht vergleichbar.“ Auf die Frage nach der letzten Periode antwortet sie: „Keine Ahnung, ich habe einen sehr unregelmäßigen Zyklus. Es könnte vor 6 Wochen gewesen sein. Ach, ich weiß nicht...“ Sie erkundigen sich nach der genauen Lokalisation der Schmerzen. „Rechts unten, so wie es war, als ich als Teenager eine Blinddarmentzündung hatte“, antwortet die Patientin. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Definition Extrauteringravidität Bei einer EUG nistet sich die befruchtete Eizelle nicht innerhalb (intrauterin), sondern außerhalb (extrauterin) der Gebärmutterhöhle ein, z. B. im Eileiter (ektope Schwangerschaft). Pathophysiologie und Ursachen • Die Ursache einer EUG sind Reifungs- und Transportstörungen der Eizelle, z. B. durch Verwachsungen nach Eileiterentzündungen. Meistens nistet sich die befruchtete Eizelle im Eileiter ein (= Eileiterschwangerschaft oder Tubargravidität), wesentlich seltener in der Bauchhöhle (Bauchhöhlenschwangerschaft) oder im Eierstock selbst (Ovarialschwangerschaft, ▶ Abb. 20.4). Das rasche Wachstum des Embryos führt zu Unterleibsschmerzen und später zu einer (lebensbedrohlichen) Eileiterruptur. Symptomatik • Typische Symptome sind einseitige Unterleibsschmerzen sowie evtl. eine Schmierblutung und Symptome der Frühschwangerschaft (S. 474). Die Anamnese kann wegweisend sein (evtl. bereits positiver Schwangerschaftstest? letzte Regelblutung?). Typisch für eine Eileiterruptur sind plötzlich beginnende Zerreißungsschmerzen. Blutungen in die freie Bauchhöhle führen zum Bild eines akuten Abdomens (S. 336) mit Abwehrspannung der Bauchdecke. Es besteht die Gefahr eines hämorrhagischen Schocks (S. 289), da viel Blut in kürzester Zeit verloren gehen kann!

! Merken Tubarruptur

Entwickelt sich bei einer Frau im gebärfähigen Alter aus völligem Wohlbefinden heraus ein akutes Abdomen, müssen Sie immer an eine EUG mit Eileiterruptur denken, die zügig klinisch abgeklärt werden muss. Diese Symptomatik kann Lebensgefahr bedeuten!

Abb. 20.4 Extrauteringravidität. © astrosystem/stock.adobe.com

Sie werden morgens mit dem Einsatzstichwort „Abdominale Schmerzen“ zu einer 25-jährigen Frau gerufen. Am Einsatzort öffnet die Mutter der Patientin die Haustür und führt Sie mit den Worten in das Wohnzimmer: „Gut, dass Sie da sind. Ich weiß mir bei den starken Schmerzen von Laura nicht mehr zu helfen. Wir haben schon Ibuprofen und Wärmflasche versucht, was ihr sonst immer gut hilft, aber ohne Erfolg.“ Die Tochter, Laura M., liegt mit angezogenen Beinen auf der Couch und ist mit einer Decke zugedeckt. „Guten Morgen, mein Name ist Müller, das ist mein Kollege Fischer. Wir sind vom Rettungsdienst. Welche Beschwerden haben Sie denn?“, stellen Sie sich zunächst bei der Patientin vor. Frau M. antwortet: „Mein Bauch tut seit ca. 5 Uhr sehr weh. Es hilft nichts. Ich kenne ja Regel-

Eileiterschwangerschaft

normale Einnistung

Ovarialschwangerschaft Bauchhöhlenschwangerschaft Mögliche Einnistungsorte.

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Notfälle in der Schwangerschaft Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) • Beachten Sie v. a. folgende Punkte: ● frühzeitige Puls- und RR-Messung, um eine bedrohliche Blutung mit beginnendem Schock zu erkennen ● Lagerung: Patientin je nach Schwere der Symptomatik flach lagern, ggf. Beine anwinkeln (Bauchdeckenentlastung) oder Schocklagerung, Wärmeerhalt beachten Erweiterte Maßnahmen • Je nach Kreislaufsituation muss nach Legen eines oder mehrerer venöser Zugänge Volumen substituiert werden (VEL), vgl. Schocktherapie (S. 287). Bei stärkeren Schmerzen ist eine Analgesie angezeigt, z. B. mit Metamizol (z. B. Novalgin®) oder Opioiden. Die Patientin wird zügig in die nächste Klinik mit gynäkologischer Abteilung transportiert. Bei akutem Abdomen „load and go“, Voranmeldung in der Klinik.

RETTEN TO GO Extrauteringravidität (EUG) ●







! Merken „Verlorene Schwangerschaft“

Jede EUG muss operativ oder medikamentös entfernt werden, auch wenn keine Beschwerden bestehen. Es besteht keine Überlebenschance für den Embryo.

Fallbeispiel Fortsetzung – Starke Unterleibsschmerzen Als die Mutter den Raum kurz verlässt, erzählt die Patientin rasch und besorgt: „Ich habe seit 8 Wochen einen neuen Freund. Meine Mutter ist gegen die Beziehung. Vorhin habe ich einen Schwangerschaftstest gemacht, der war positiv. Hoffentlich geht es dem Baby gut!“ Sie antworten beruhigend: „Frau M., wir werden Ihnen jetzt zunächst ein Pulsoxymeter anlegen und Ihnen den Blutdruck messen.“ Sie erheben eine Herzfrequenz von 110/min, eine Sättigung von 98 % und einen Blutdruck von 110/80 mmHg. Da die Patientin weiterhin stärkste Schmerzen hat und die Herzfrequenz erhöht ist (Hinweis auf ein evtl. beginnendes Schockgeschehen!), fordern Sie notärztliche Unterstützung nach. Sie erläutern der Patientin, dass gleich ein Notarzt oder eine Notärztin kommen werde, um ihr etwas gegen die Schmerzen zu geben. Der Kollege gehe nun die Transporttrage holen, damit sie zur weiteren Abklärung ins Krankenhaus gebracht werden könne. Sie bereiten alles für einen i. v.-Zugang und eine Infusion vor und melden die Patientin in der Klinik an. Die Mutter kommt in diesem Moment zurück und fragt: „Was machen Sie jetzt mit ihr? Wo ist Ihr Kollege hin?“ Sie antworten: „Wir haben notärztliche Unterstützung angefordert, damit Ihre Tochter ein Schmerzmittel erhält. Dann werden wir sie mit ins Krankenhaus nehmen. Dort werden weitere Untersuchungen durchgeführt, um die Ursache für die Schmerzen zu finden. Mein Kollege ist gerade zum Rettungswagen gegangen und holt die Trage.“ Der nach wenigen Minuten eintreffende Notarzt legt einen peripher-venösen Zugang und injiziert Frau M. das Opioid Piritramid, woraufhin die Schmerzen schnell nachlassen. Während des Transports in die Klinik erhält die Patientin Sauersoff (4 l/ min) und eine VEL. Der zügige Transport in die Klinik verläuft problemlos, die engmaschig gemessenen Vitalparameter halten sich auf dem im Vorfeld gemessenen Niveau. Im Krankenhaus wird eine Eileiterschwangerschaft als Ursache für die Unterleibsschmerzen diagnostiziert. Die Patientin wird operiert.



Definition: Einnistung einer befruchteten Eizelle außerhalb der Gebärmutterhöhle, am häufigsten im Eileiter (Eileiterschwangerschaft) Ursache: Reifungs- und Transportstörungen der Eizelle (z. B. durch Verwachsungen nach Eileiterentzündungen) Symptomatik: Schmierblutungen, einseitige Unterleibsschmerzen; bei Ruptur des Eileiters plötzlicher Zerreißungsschmerz, akutes Abdomen, Blutungsschock ToDo Basis: Sicherstellen der Vitalfunktionen, Basismonitoring, Patientin flach bzw. bauchdeckenentlastend lagern und beruhigen, bei Zeichen des Schocks Schocklagerung und NA nachfordern, ggf. O2-Gabe und Vorbereitung von i. v.-Zugang, Infusion und Medikation ToDo erweitert: Volumensubstitution (VEL), bei Schock Volumengabe entsprechend Kreislaufsituation, bei stärkeren Schmerzen Analgesie, zügiger Transport in die nächste Klinik

Fehlgeburt Definition Fehlgeburt Eine Fehlgeburt ist eine vorzeitige und ungewollte Beendigung einer Schwangerschaft vor der 24. Schwangerschaftswoche (SSW). Synonym • Abort Häufigkeit und Ursachen • Fehlgeburten sind die häufigste Schwangerschaftskomplikation und ereignen sich am häufigsten in der Frühschwangerschaft. Mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft werden sie deutlich seltener. Die Ursachen sind vielfältig, z. B. Fehlentwicklungen des Kindes, Infektionen oder Fehlbildungen der Gebärmutter. Oft lässt sich die Ursache nicht ermitteln. Symptomatik • Frühaborte (vor der 12. SSW) verlaufen häufig unbemerkt. Mögliche Symptome sind mäßige (bis starke) vaginale Blutungen (evtl. Abgang von Blut- oder Gewebeklumpen) und wehenartige Schmerzen. Vor allem bei Spätaborten (nach der 12. SSW) sind starke Blutungen und mitunter ein Volumenmangelschock möglich. Ein unvollständiger Abgang des Embyos bzw. des Fetus kann Entzündungsreaktionen und im weiteren Verlauf eine Sepsis auslösen. Basismaßnahmen zur Versorung der Patientin (S. 476) • Beachten Sie v. a. folgende Punkte: ● psychische Betreuung und Überwachung der Patientin ● Lagerung nach Fritsch (▶ Abb. 20.1) ● Wärmeerhalt (S. 249) zur Schockprophylaxe

! Merke Traumatisierendes Ereignis

Eine Fehlgeburt ist für die Eltern oft traumatisierend. Verhalten Sie sich daher besonders einfühlsam. Erweiterte Maßnahmen • Insbesondere bei Frühaborten sind meist keine kreislaufstabilisierenden Maßnahmen nötig. Bei starken Blutungen können eine Volumensubstitution (VEL) und die Verabreichung von kreislaufunterstützenden Medikamenten zur Schocktherapie (S. 288) notwendig sein, dann notärztliche Unterstützung anfordern. Bei lebensgefähr-

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle licher Blutung und/oder sichtbarem Abortgewebe kann ein Medikament gegeben werden, das zur Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur führt und damit die Blutung reduziert (z. B. Oxytocin). Bei Schmerzen erhält die Patientin Analgetika. Sie sollte zur Nachsorge unbedingt in eine gynäkologisch-geburtshilfliche Klinik transportiert werden.

Abb. 20.5 Vena-cava-Kompressionssyndrom.

ACHTUNG Keine Manipulationen am Uterus! Es besteht die Gefahr, dass kindliche oder plazentare Bestandteile in den Blutkreislauf der Mutter gelangen und dort Blutgerinnsel und eine Embolie auslösen.

RETTEN TO GO Fehlgeburt (Abort) ●









Definition: vorzeitige und ungewollte Beendigung der Schwangerschaft vor der 24. SSW, häufigste Schwangerschaftskomplikation, v. a. in der Frühschwangerschaft Ursachen: vielfältig (z. B. Fehlentwicklungen des Kindes, Infektionen), oft nicht ermittelbar Symptomatik: – Frühabort (vor der 12. SSW): unbemerkt oder mäßige vaginale Blutung, evtl. wehenartige Schmerzen – Spätabort (nach der 12. SSW): evtl. starke Blutungen mit Gefahr eines Volumenmangelschocks ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, psychisch betreuen, Basismonitoring, Lagerung nach Fritsch, Wärmeerhalt ToDo erweitert: ggf. Volumensubstitution, Schocktherapie, bei starken Schmerzen Analgetika

20.4.2 Komplikationen bei fortgeschrittener Schwangerschaft Vena-cava-Kompressionssyndrom Fallbeispiel Mir ist so schlecht* An einem heißen Julinachmittag werden Sie und Ihr Kollege (NotSan) mit der Einsatzmeldung „Synkope“ in ein Wohngebiet gerufen. Der Partner der Patientin empfängt Sie mit den Worten: „Sophie geht es gar nicht gut. Machen Sie schnell!“ Sie finden die Patientin, Frau Sophie Schneider, auf der Couch liegend vor. Sie ist schweißgebadet, kreidebleich und hochschwanger. Ihre Lippen sind blass und sie klagt auf die Frage, was denn passiert sei: „Nach dem Mittagessen war ich müde und ich habe mich auf die Couch gelegt. Jetzt ist mir total schwindelig, mein Herz rast wie verrückt und ich bekomme keine Luft mehr!“ Herr Schneider berichtet daraufhin, dass seine Frau gestern noch bei ihrer Frauenärztin gewesen sei, und mit der Kleinen sei alles okay gewesen! Sie sei nun im 8. Monat und bisher sei die Schwangerschaft ohne Probleme verlaufen. „Schauen Sie, da liegt der Mutterpass von Sophie.“ *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

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In der Spätschwangerschaft kann das Gewicht der Gebärmutter in Rückenlage die V. cava inferior komprimieren (Pfeil), was zu einem Blutdruckabfall und in der Folge zu einem Sauerstoffmangel beim Kind führen kann.

Definition Vena-cava-Kompressionssyndrom Vor allem im letzten Drittel der Schwangerschaft kann das zunehmende Gewicht des Uterus die untere Hohlvene vermehrt komprimieren, v. a. in Rückenlage. Dies behindert den venösen Rückstrom zum Herzen, wodurch die zirkulierende Blutmenge abnimmt (relativer Volumenmangel). Der Blutdruck der Schwangeren fällt ab, die Folge kann eine Unterversorgung des Kindes sein (▶ Abb. 20.5). Symptomatik • Typische Symptome bei der Schwangeren sind ein Blutdruckabfall, Schwäche, Tachykardie, kaltschweißige Haut, Atemnot und Schocksymptome, bei unzureichender Durchblutung des Gehirns sind Bewusstseinsstörungen bis zur Bewusstlosigkeit möglich. Eine Minderdurchblutung des Uterus kann einen akuten O2-Mangel beim Kind bewirken und damit lebensbedrohlich sein. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) • Als wichtigste Maßnahme bringen Sie die Patientin unverzüglich in Linksseitenlage (▶ Abb. 20.2). Dies entlastet die rechts von der Wirbelsäule gelegene V. cava inf., wodurch sich der Zustand der Patientin meist innerhalb weniger Minuten bessert. Tritt durch die Lagerungsmaßnahme keine rasche Besserung ein, fordern Sie notärztliche Unterstützung an. Erweiterte Maßnahmen • Meistens normalisiert sich der Blutdruck nach der Lageänderung rasch, es sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Hält die Symptomatik an, ist eine Volumensubstitution mit VEL bzw. bei einem anhaltenden RRsyst < 100 mmHg eine medikamentöse Kreislaufstabilisierung indiziert (Theoadrenalin/Cafedrin, z. B. Akrinor®).

! Merke Vena-cava-Kompressionssyndrom

Auch wenn sich der Zustand der Schwangeren durch eine Linksseitenlage stabilisiert, sollte immer eine geburtshilfliche Abklärung erfolgen, um einen O2-Mangel beim Kind auszuschließen. Prophylaktisch werden alle Schwangeren ab dem 2. Schwangerschaftsdrittel in ca. 15° Linksseitenlage gelagert und transportiert (bei Schock zusätzlich Oberkörper tieflagern, ▶ Abb. 20.2).

Notfälle in der Schwangerschaft

Fallbeispiel Fortsetzung – Mir ist so schlecht Sie helfen der Patientin, sich auf die linke Seite zu legen. Der Blutdruck liegt bei 90/70 mmHg, die Herzfrequenz bei 110/min und die SpO2 bei 98 %. Da der Blutdruck zu niedrig ist, klären Sie Frau Schneider auf, dass nun ein venöser Zugang gelegt und ihr etwas Flüssigkeit gegeben werde. „Dann wird es Ihnen schnell wieder …“, können Sie gerade noch sagen, als Frau Schneider losweint: „Ich mache mir so große Sorgen um unser Baby, nicht, dass ihm was passiert.“ Sie beruhigen die Patientin und erklären ihr, dass durch die Schwangerschaft die Gebärmutter auf die Bauchgefäße drückt und es dadurch, v. a. in Rückenlage, zu einem niedrigen Blutdruck kommen könne. „Durch die Linksseitenlage steigt Ihr Blutdruck wieder, davon profitiert auch Ihr Kind.“ Frau Schneider geht es dann auch tatsächlich schnell besser und der Blutdruck stabilisiert sich bei 120/80 mmHg. Sie fahren die Patientin dennoch mit dem RTW in die Klinik, damit der Zustand des Fetus kontrolliert wird. Dazu lagern Sie Frau Schneider zunächst auf einen Tragestuhl und unten am RTW auf die Transporttrage um (weiterhin in Linksseitenlage). Unter engmaschiger RR-Kontrolle wird sie komplikationslos ins Krankenhaus transportiert.

RETTEN TO GO Vena-cava-Kompressionssyndrom ●







Definition: Das zunehmende Gewicht des Uterus komprimiert, v. a. im 3. Drittel der Schwangerschaft und in Rückenlage, vermehrt die V. cava inferior (untere Hohlvene), was bei der Schwangeren zu einem relativen Volumenmangel mit Blutdruckabfall und unter Umständen zu einer Unterversorgung des Fetus führt. Symptomatik: Schwäche, Tachykardie, RR-Abfall, kaltschweißige Haut, Atemnot, mitunter Bewusstseinsverlust; beim Kind Gefahr eines O2-Mangels ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, unverzügliche Lagerung in Linksseitenlage, Basismonitoring, O2-Gabe; bei fehlender Besserung NA nachfordern ToDo erweitert: bei anhaltender Symptomatik trotz Linksseitenlage: Volumensubstitution, medikamentöse Kreislaufstabilisierung; Transport in geburtshilfliche Abteilung, um einen O2-Mangel des Kindes auszuschließen

Spätgestosen Definition Spätgestosen ●







Ursachen • Die Entstehung der Erkrankungen ist im Detail unklar. Wichtige Faktoren scheinen der eigentlich physiologische Anstieg des Herzzeitvolumens in der Schwangerschaft und Schädigungen der kleinsten Gefäße zu spielen. Symptomatik • Viele Schwangere mit SIH sind symptomfrei, mitunter haben sie Kopfschmerzen. Bei einer Präeklampsie entwickeln sich häufig zusätzlich Ödeme, v. a. an den Unterschenkeln, an den Händen und im Gesicht. Warnsymptome einer drohenden Eklampsie sind ein weiterer Blutdruckanstieg, Kopfschmerzen, Sehstörungen (z. B. Flimmern vor den Augen), Ohrensausen, Übelkeit, Erbrechen, motorische Unruhe und gesteigerte Muskeleigenreflexe. Eine Eklampsie ist durch tonisch-klonische Krämpfe mit oder ohne Bewusstseinsverlust gekennzeichnet. Schwangere mit HELLP-Syndrom haben meistens rechtsseitige Oberbauchschmerzen (durch eine Dehnung der Leberkapsel) sowie unspezifische Symptome wie Übelkeit und Sehstörungen. Lebensbedrohliche Komplikationen wie ein akutes Nierenversagen oder eine Leberruptur sind möglich.

! Merke Eklampsie = vitale Bedrohung

Bei Krampfanfällen besteht die Gefahr einer O2-Unterversorgung sowohl der Mutter als auch des ungeborenen Kindes. Die Krampfanfälle sind damit unmittelbar lebensbedrohlich. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) Lagerung: in Linksseitenlage (▶ Abb. 20.2), bei Bewusstseinsstörung stabile Seitenlage ● nach Möglichkeit Abschirmung vor akustischen und optischen Reizen, um (weitere) Krämpfe zu vermeiden ● Basismaßnahmen bei Krampfanfällen (S. 419) ● Die Gabe von Sauerstoff kann das Risiko für Krampfanfälle erhöhen, sie ist daher gut abzuwägen (nur bei respiratorischen Defiziten oder beginnender Bewusstseinsstörung). ● notärztliche Unterstützung anfordern bei hohen RR-Werten (RRsyst > 180 mmHg), Krampfanfall und/oder Bewusstseinsstörungen ●

Erweiterte Maßnahmen • Die Schwangere erhält einen i. v.Zugang, dieser wird mit VEL offengehalten. Das Mittel der Wahl, um Krampfanfälle zu durchbrechen, ist Magnesiumsulfat i. v. (Achtung: evtl. Atemdepression). Bei unzureichender Wirkung wird ein Benzodiazepin, z. B. Midazolam, gegeben. Bei exzessiv erhöhten RR-Werten > 200/100 mmHg wird der Blutdruck vorsichtig mit einem Antihypertonikum, z. B. Urapidil (z. B. Ebrantil®), gesenkt. SpO2, Atmung, RR und Puls müssen fortlaufend kontrolliert werden. Die Patientin wird in einer Klinik mit geburtshilflicher Abteilung vorangemeldet: Dort kann alles für einen zügigen Kaiserschnitt vorbereitet werden (Sectiobereitschaft).

schwangerschaftsinduzierte Hypertonie (SIH, Gestationshypertonie): Nach der 20. SSW werden erstmals Ruheblutdruckwerte > 140/90 mmHg gemessen. Präeklampsie: SIH + erhöhte Eiweißausscheidung über den Urin (Proteinurie) Eklampsie: Präeklampsie + tonisch-klonische Krampfanfälle, mitunter auch ohne schwere Hypertonie HELLP-Syndrom: schwere, lebensbedrohliche Erkrankung mit Hämolyse (Zerfall von roten Blutkörperchen), erhöhten Leberwerten und erniedrigten Thrombozytenzahlen (Low Platelets)

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle Abb. 20.6 Placenta praevia.

RETTEN TO GO Spätgestosen ●







Definitionen: – schwangerschaftsinduzierte Hypertonie (SIH): RR in Ruhe > 140/90 mmHg, erstmals nach der 20. SSW – Präeklampsie: zusätzlich erhöhte Eiweißausscheidung über den Urin (Proteinurie) – Eklampsie: zusätzlich tonisch-klonische Krampfanfälle – HELLP-Syndrom: lebensbedrohliche Erkrankung mit Hämolyse, erhöhten Leberwerten und niedrigen Thrombozytenzahlen Symptomatik: – bei Hypertonie oft Kopfschmerzen – bei Präeklampsie: zusätzlich Ödeme – Warnsymptome einer drohenden Eklampsie: weiterer RR-Anstieg, neurologische Symptome (z. B. Flimmern vor den Augen, motorische Unruhe) – HELLP-Syndrom: rechtsseitige Oberbauchschmerzen, Übelkeit, Sehstörungen ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Lagerung in Linksseitenlage, nach Möglichkeit Abschirmung vor akustischen und optischen Reizen, bei Krampfanfall Schutz vor Verletzungen, bei hohen RR-Werten NA nachfordern, ggf. vorsichtige O2-Gabe (Abwägung!), Vorbereitung von i. v.-Zugang, Infusion und Medikation ToDo erweitert: VEL-Gabe, bei Krampfanfall Magnesiumsulfat (bei Anhalten des Krampfs: Benzodiazepin), bei exzessiven RR-Werten vorsichtige Blutdrucksenkung; fortlaufende Kontrollen von SpO2, Atmung, RR und Puls, Transport in geburtshilfliche Klinik (Voranmeldung für Sectiobereitschaft!)

Placenta praevia Definition Placenta praevia Physiologisch sitzt der Mutterkuchen an der Vorder- oder Hinterwand des Uterus. Bei einer Placenta praevia befindet er sich tiefer und verlegt teilweise oder vollständig den inneren Muttermund (▶ Abb. 20.6). Während der Schwangerschaft (v. a. in der Spätschwangerschaft) oder bei Einsetzen der Geburt können für Mutter und Kind lebensbedrohliche Blutungen entstehen. Symptomatik • Typisch sind plötzliche, schmerzlose, hellrote, vaginale Blutungen im letzten Schwangerschaftsdrittel. Die Schwangeren hatten in der Regel zuvor keine Beschwerden. Der Uterus ist weich tastbar. Je nach Blutungsintensität kann sich ein hämorrhagischer Schock (S. 289) entwickeln. Wehen bei Placenta praevia sind sehr gefährlich, da jede Wehe zu starken Blutungen führen kann. Der Blutdruckabfall der Schwangeren reduziert die O2-Versorgung des Kindes und kann daher lebensgefährlich für das Ungeborene sein! Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) Patientin auf der linken Seite in Kopftieflage lagern, in Kombination mit der Lagerung nach Fritsch (▶ Abb. 20.1) ● Wärmeerhalt beachten ● notärztliche Unterstützung anfordern (ggf. entgegenfahren)

a

b

c

Es werden 3 Schweregrade unterschieden. a Die Plazenta erreicht den inneren Muttermund. b Die Plazenta überlagert teilweise den inneren Muttermund. c Die Plazenta liegt zentral über dem inneren Muttermund.

ACHTUNG Führen Sie auf keinen Fall eine vaginale oder rektale Tastuntersuchung durch, da dies massive Blutungen auslösen kann! Im Uterus können größere Blutmengen vorhanden sein, die nicht abfließen. Die vaginale Blutung spiegelt nur einen Teil des Gesamtblutverlustes wider: Trotz eher gering erscheinender Blutung kann akute Verblutungsgefahr bestehen! Erweiterte Maßnahmen • Die Schwangere erhält einen oder mehrere i. v.-Zugänge, ggf. Schocktherapie (S. 287) mit Volumensubstitution. Wehen werden ggf. mit Fenoterol (z. B. Partusisten®) gehemmt. Die Patientin ist unverzüglich in eine Klinik mit geburtshilflicher Abteilung zu transportieren (Voranmeldung). Je nach Schweregrad, Blutungsstärke, CTGBefund und Reifegrad des Kindes wird die weitere Therapie in der Klinik festgelegt (z. B. Notfall-Sectio).

! Merke Vorgehen bei bekannter Placenta praevia

Geht eine Schwangere regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen, sollte eine Placenta praevia durch Ultraschalluntersuchungen bemerkt werden. Um schwere Komplikationen zu vermeiden, werden die Frauen häufig in der Spätschwangerschaft stationär aufgenommen und per Kaiserschnitt 1–2 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin entbunden.

RETTEN TO GO Placenta praevia ●







Definition: Die Plazenta verlegt teilweise oder vollständig den inneren Muttermund. Symptomatik: plötzlich beginnende, schmerzlose, vaginale Blutung in der Spätschwangerschaft ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, Sichtung des Mutterpasses, genaues Achten auf Schocksymptome, Lagerung in Kopftieflage und nach Fritsch, O2-Gabe, Wärmeerhalt, NA nachfordern ToDo erweitert: i. v.-Zugang legen, ggf. Schocktherapie, ggf. Wehenhemmung, unverzüglicher Transport in Klinik mit geburtshilflicher Abteilung



Vorzeitige Plazentalösung Definition Vorzeitige Plazentalösung Die Plazenta löst sich vor der Geburt des Kindes ganz oder teilweise ab. Die Folgen sind (je nach Ausmaß der Ablösung) eine teilweise oder vollständige Unterbrechung der O2-Versorgung des Kindes und eine schwere innere Blutung der Schwangeren.

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Notfälle in der Schwangerschaft Ursachen und Pathophysiologie • Bekannte Risikofaktoren sind Erkrankungen der Mutter, z. B. ein Bluthochdruck, ein Diabetes mellitus, ein vorzeitiger Blasensprung oder Traumata (z. B. stumpfe Gewalteinwirkung auf den Bauch), aber auch Versuche, bei Beckenendlage (S. 489) die Lage des Kindes zu normalisieren. Durch Blutungen aus Gebärmuttergefäßen entwickelt sich ein Hämatom hinter der Plazenta (retroplazentares Hämatom, ▶ Abb. 20.7a).

RETTEN TO GO Vorzeitige Plazentalösung ●



Symptomatik • Typisch sind plötzlich einsetzende Bauchschmerzen. Der Uterus ist bretthart tastbar und druckempfindlich. Möglich ist auch eine vaginale Blutung (dunkelrotes Blut). Die nach außen tretende Blutmenge ist nicht repräsentativ für den tatsächlichen Blutverlust, da sich das Hämatom nur zum Teil über die Vagina entleert. Bei einer ausgeprägten Blutung resultiert ein Blutdruckabfall mit Gefahr eines hypovolämischen Schocks. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) ● Schocklagerung auf die linke Seite mit Kopftieflage, ggf. in Kombination mit der Lagerung nach Fritsch (▶ Abb. 20.1) ● frühzeitige Puls- und RR-Messung (Blutung mit beginnendem Volumenmangelschock?) ● großzügige und frühzeitige O2-Gabe von 10–15 l/min entsprechend den geltenden Arbeitsanweisungen, Flow je nach SpO2 ggf. im Verlauf anpassen ● Voranmeldung in der Klinik (Notsectio) ● notärztliche Unterstützung anfordern (ggf. entgegenfahren) Erweiterte Maßnahmen • Die Patientin erhält einen oder mehrere i. v.-Zugänge und VEL, ggf. Schocktherapie (S. 288). Zügiger Transport in geburtshilfliche Klinik unter Nutzung der Wegerechte!

! Merke Lebensgefahr für Mutter und Kind

Für das Kind besteht die Gefahr einer akuten Minderversorgung (O2Mangel), die Mutter ist durch einen massiven Blutverlust gefährdet. Auch heute versterben noch viele Kinder! Neben der Stabilisierung der Vitalparameter hat der schnellstmögliche Transport in eine geburtshilfliche Klinik zur Entbindung höchste Priorität!





Definition: Die Plazenta löst sich vor der Geburt ganz oder teilweise ab. Die O2-Zufuhr zum Kind ist unterbrochen, die Schwangere verliert massiv Blut. Symptomatik: plötzliche Bauchschmerzen, brettharter, druckschmerzhafter Uterus, mitunter dunkelrote vaginale Blutung; bei ausgeprägter Blutung Blutdruckabfall mit Schockgefahr; schwere O2-Unterversorgung des Kindes; akute Lebensgefahr für Kind und Mutter! ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, genaues Achten auf Schocksymptome, Lagerung in Kopftieflage und ggf. nach Fritsch, großzügige und frühzeitige O2-Gabe, Wärmeerhalt, NA nachfordern ToDo erweitert: i. v.-Zugang legen, ggf. Schocktherapie, schnellstmöglicher Transport in geburtshilfliche Klinik

Vorzeitiger Blasensprung und Nabelschnurvorfall Definition Vorzeitiger Blasensprung und Nabelschnurvorfall Der Blasensprung kennzeichnet den Beginn der Geburt. Ein vorzeitiger Blasensprung findet vor Beginn der Wehentätigkeit statt. Die Hauptgefahr bei einem vorzeitigen Blasensprung kurz vor dem errechneten Geburtstermin ist ein Nabelschnurvorfall: Reißt die Fruchtblase ein, bevor sich das Köpfchen „fest“ im Beckeneingang befindet, kann die Nabelschnur zwischen den vorangehenden Kindsteil, i. d. R. den tiefer tretenden Kopf des Kindes, und den mütterlichen Beckenring rutschen und komprimiert werden. Die Folge ist eine O2-Minderversorgung des Kindes (▶ Abb. 20.7b). Ursachen • Die Ursache für einen vorzeitigen Blasensprung sind eine beginnende Geburt (v. a. bei Fehllagen des Kindes) oder aufsteigende Infektionen. Je nach Zeitpunkt in der Schwangerschaft erhöht ein vorzeitiger Blasensprung das Risiko für eine Fehlgeburt (S. 479) oder Frühgeburt (S. 482).

Abb. 20.7 Komplikationen in der Spätschwangerschaft. Symptomatik • Bei einem vorzeitigen Blasensprung geht Fruchtwasser schwallartig oder tröpfelnd ab. Es sollte klar sein, eine Verfärbung kann auf Stress des Kindes hinweisen (Alarmzeichen!). Ein Nabelschnurvorfall macht sich durch ein Fremdkörpergefühl in der Vagina bemerkbar, mitunter ist die Nabelschnur bereits äußerlich zu sehen. Für das Kind besteht wegen der O2-Unterversorgung akute Lebensgefahr!

Hämatom Blutung a

Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) Patientin psychisch betreuen und möglichst beruhigen ● Lagerung: Beckenhochlagerung und Linksseitenlage ● bei vorzeitigem Blasensprung ohne Nabelschnurvorfall: Die Patientin darf wegen der Gefahr eines Nabelschnurvorfalls nicht mehr sitzen oder aufstehen. Sie wird liegend in Linksseitenlage und mit erhöhtem Becken transportiert. ● bei Nabelschnurvorfall: notärztliche Unterstützung anfordern, O2-Gabe bei Bedarf ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ●

b

a Vorzeitige Plazentalösung: Die Sauerstoffversorgung des Kindes ist akut gefährdet. b Nabelschnurvorfall: Die Nabelschnur ist zwischen das mütterliche Becken und den Kopf des Kindes gerutscht und wird eingeklemmt. Die O2-Versorgung des ungeborenen Kindes ist stark gefährdet.

483

20

Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

! Merke Lagerung bei vorzeitigem Blasensprung

Die Gefahr eines Nabelschnurvorfalles besteht v. a., wenn Schwangere nach einem vorzeitigen Blasensprung umhergehen. Sie sollten daher immer liegend (in Beckenhochlage) und, wenn möglich, in Linksseitenlage transportiert werden. Erweiterte Maßnahmen • Ein vorzeitiger Blasensprung ist, sofern er nicht mit einem Nabelschnurvorfall oder einer drohenden Fehl- oder Frühgeburt einhergeht, keine notfallmedizinische Situation. Dennoch sollte die Patientin zügig in eine Klinik mit geburtshilflicher Abteilung transportiert werden, um die Situation des Kindes zu kontrollieren. Bei einem Nabelschnurvorfall muss die Patientin schnellstmöglich (ggf. NA entgegenfahren) und unter Voranmeldung (Notsectio-Bereitschaft!) transportiert werden. Bis zur Übergabe in der Zielklinik muss ein Helfer den Kopf des Kindes kontinuierlich (kein Helferwechsel!) nach „oben“ schieben, um die Nabelschnur zu entlasten: Hierzu werden nach dem Anlegen steriler Handschuhe vorsichtig zwei Finger vaginal eingeführt, bis das kindliche Köpfchen erreicht ist. Nun wird das Köpfchen mit Druck nach oben bewegt. Diese manuelle Dekompression muss in der Klinik bis zu einer Notsectio fortgesetzt werden: Sie ermöglicht die Sauerstoffversorgung des Kindes und ist lebensrettend. Zusätzlich erhält die Patientin einen venösen Zugang und ggf. eine Wehenhemmung (Akuttokolyse mit Fenoterol, z. B. Partusiten®).

RETTEN TO GO Vorzeitiger Blasensprung und Nabelschnurvorfall ●





Definitionen: – vorzeitiger Blasensprung: Einreißen der Fruchtblase mit Abgang von Fruchtwasser vor Beginn der Geburtswehen; als Zeichen des Geburtsbeginns oder als Folge einer aufsteigenden Infektion – Nabelschnurvorfall: Reißt die Fruchtblase ein, bevor das Köpfchen „fest“ im Beckeneingang steht, kann die Nabelschnur zwischen den Kopf des Kindes und den mütterlichen Beckenring rutschen und komprimiert werden. Die Folge ist eine akut lebensbedrohliche O2Minderversorgung des Kindes. ToDo Basis: Patientin beruhigen, Transport in Beckenhochlagerung und Linksseitenlage, Patientin nicht mehr sitzen oder aufstehen lassen; Basismonitoring, bei Nabelschnurvorfall NA nachfordern und O2-Gabe ToDo erweitert: – vorzeitiger Blasensprung ohne Nabelschnurvorfall: zügiger Transport in geburtshilfliche Klinik – Nabelschnurvorfall: Köpfchen permanent nach „oben“ schieben (kein Helferwechsel!), Anlage eines i. v.-Zugangs, ggf. medikamentöse Wehenhemmung (z. B. mit Fenoterol), schnellstmöglicher Transport in geburtshilfliche Klinik mit Notsectio-Bereitschaft

Vorzeitige Wehen/(drohende) Frühgeburt Definition Vorzeitige Wehen/Frühgeburt ●



484

vorzeitige Wehen: Beginn regelmäßiger Wehen vor der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) Frühgeburt: Beendigung einer Schwangerschaft vor Vollendung der 37. SSW

Ursachen • Ein erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt haben u. a. Schwangere unter 20 oder über 40 Jahren und rauchende Frauen. Weitere Risikofaktoren sind u. a. aus der Vagina aufsteigende Infektionen, Spätgestosen (S. 481) und Mehrlingsschwangerschaften. Symptomatik • Eine Frühgeburt kündigt sich durch einen vorzeitigen Blasensprung mit Abgang von Fruchtwasser (s. o.) und/oder eine zunehmende Wehentätigkeit mit Unterleibs- und Rückenschmerzen und einer immer wieder fest werdenden Bauchdecke an. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) Patientin beruhigen und psychisch betreuen. ● Sichtung des Mutterpasses und kurze Anamnese: Ist Fruchtwasser abgegangen? Wie sind die Abstände zwischen den Wehen? Besteht ein Pressdrang (falls ja, Geburtshilfe leisten)? ● O2-Gabe zur Erhöhung des O2-Angebots nach SpO2: Eine gute O2-Versorgung ist wichtig für das ungeborene Kind! ● Lagerung: Die Patientin soll nicht mehr selbst gehen! Linksseitenlage (▶ Abb. 20.2), Becken leicht erhöht ● bei Presswehen (S. 485): – notärztliche Unterstützung anfordern, zusätzlich (sofern verfügbar) Hebamme, Kinderarzt bzw. Baby-NAW – Fahrt unterbrechen, Schwangere auf die bevorstehende Geburt vorbereiten, Geburtshilfe leisten (S. 487) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, Infusion und Medikation ●

Erweiterte Maßnahmen • Am wichtigsten sind die Anlage eines i. v.-Zugangs, die Gabe von VEL und ein schonender, aber schnellstmöglicher Transport in eine geburtshilfliche Klinik bzw. ein für die Versorgung von Frühgeborenen optimal ausgestattetes Perinatalzentrum (nach Voranmeldung). Bei drohender Frühgeburt kann ein erfahrener NA präklinisch eine Wehenhemmung (Not-Tokolyse) mit einem βSympathomimetikum beginnen (Fenoterol, z. B. Partusisten®; Risikoabwägung!). So wird Zeit gewonnen, um die Klinik noch vor der Entbindung zu erreichen und so eine bessere Versorgung von Mutter und Kind zu gewährleisten.

RETTEN TO GO Vorzeitige Wehen/Frühgeburt ●







Definition: – vorzeitige Wehen: Wehen vor der 37. SSW – Frühgeburt: Geburt eines Kindes vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche Risikofaktoren: z. B. Alter unter 20 oder über 40 Jahre, Rauchen, aufsteigende Infektionen, Mehrlingsschwangerschaft Symptomatik: zunehmende Wehentätigkeit und/oder vorzeitiger Blasensprung mit Fruchtwasserabgang ToDo: Patientin beruhigen, Anamnese (Blasensprung? Abstand zwischen den Wehen? Pressdrang?), Mutterpass ansehen, Basismonitoring, Linksseitenlage, O2-Gabe; bei Presswehen NA, Hebamme, ggf. Kinderarzt nachfordern und Geburtshilfe leisten; schnellstmöglicher Transport in eine geburtshilfliche Klinik, möglichst mit Perinatalzentrum

Geburt und Neugeborenes

20.5.1 Physiologischer Ablauf der Geburt

Uterusruptur Definition Uterusruptur Während der Geburt zerreißt die Wand der Gebärmutter. Ursache • Die Komplikation ist selten. Die Belastung der Uteruswand übersteigt deren Belastbarkeit. Auslöser können z. B. ein sehr großes Kind, kindliche Lageanomalien, z. B. Querlage (S. 489), oder auch äußere Einwirkungen sein, z. B. ein Bauchtrauma. Symptomatik • Bei einer drohenden Uterusruptur nimmt die Wehentätigkeit stark zu, bis hin zum Wehensturm. Die Gebärende hat stärkste Schmerzen. Nach der Ruptur entwickelt sich ein akutes Abdomen. Die Wehentätigkeit hört plötzlich auf und die Patientin entwickelt einen hypovolämischen Schock (S. 289). Die kindlichen Herztöne nehmen ab oder sind nicht mehr nachweisbar. Versorgung der Patientin • Bei eingetretener Ruptur haben die Schocktherapie (S. 289) und eine schnellstmögliche Notsectio höchste Priorität.

20.5 Geburt und Neugeborenes Die Geburt ist ein individueller Prozess, gesteuert durch das hormonelle Zusammenspiel von Mutter und Kind. Der genaue zeitliche Verlauf, die Dauer der Phasen, Pausen und die Dynamik sind von Geburt zu Geburt unterschiedlich. Zwar gibt es wiederkehrende Abläufe und Merkmale der „normalen“ Geburt, jedoch lässt sich diese nicht in einen Algorithmus zwängen. Im Folgenden werden der regelrechte Ablauf der Geburt, die einzelnen Phasen und Maßnahmen erläutert. Dies soll Ihnen als RS einen „roten Faden“ für die geburtshilfliche Begleitung geben. Ein einfühlsamer Umgang, gute Kommunikation und ein individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse der Gebärenden beeinflussen maßgeblich den Verlauf und die individuelle Wahrnehmung der Geburt durch die Frau.

Termingeborene Kinder kommen zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche zur Welt. Bei einer Geburt nach der 42. SSW spricht man von einer Übertragung, die Geburt wird dann künstlich eingeleitet. Eine Geburt vor der vollendeten 37. SSW ist eine Frühgeburt (S. 484). Die Geburt (▶ Abb. 20.8, ▶ Abb. 20.9) wird in 3 Perioden unterteilt: Eröffnungsperiode • Die Geburt beginnt mit dem Einsetzen regelmäßiger und starker Wehen (mind. alle 5–20 min) oder mit dem Platzen der Fruchtblase. Die Wehen nehmen in dieser Phase zu, die Abstände werden kürzer. Der Schleimpfropf, der zuvor den Gebärmutterhals verschlossen hat, wird (sofern noch nicht vorher geschehen) ausgestoßen („Zeichnen“). Dies kann mit einer leichten Zeichnungsblutung einhergehen. Mit dem Tiefertreten des kindlichen Kopfs erweitert sich der Muttermund, bis er vollständig auf einen Durchmesser von ca. 10 cm geöffnet ist. Die Eröffnungsperiode dauert bei Erstgebärenden ca. 7–12 Stunden, bei Mehrgebärenden ca. 2–8 Stunden. Im Regelfall reißt die Fruchtblase ein, sobald der Muttermund vollständig eröffnet ist (rechtzeitiger Blasensprung).

ACHTUNG Auch stille Muttermundsöffnungen ohne typische Wehenschmerzen sind möglich: Die Schwangere bemerkt die Eröffnungswehen nicht und die Presswehen setzen unerwartet ein. Austrittsperiode • Die Austrittsperiode beginnt mit der vollständigen Eröffnung des Muttermundes und dem Eintreten des kindlichen Kopfes in das Becken. Die Wehen treten alle 4–10 min auf. Diese Periode dauert bei Erstgebärenden bis zu 1 Stunde, bei Mehrgebärenden meist nur einige bis 20 Minuten. Das Kind muss sich auf seinem Weg durch den Geburtskanal mehrmals drehen. Diese Drehungen sind bei der vaginalen Untersuchung (und bei Schädellage) anhand der Lage der Schädelnähte und Fontanellen nachvollziehbar.

Abb. 20.8 Ablauf der Geburt.

Senkwehen

Eröffnungsperiode

Austrittsperiode

• 3–4 Wochen vor der Geburt • unregelmäßige Abstände

• Beginn: regelmäßige, starke Eröffnungswehen • Ende: vollständige Öffnung des äußeren Muttermundes • Blasensprung am Ende der Eröffnungsperiode • Dauer: 3–12 h

• Beginn: nach vollständiger Öffnung des Muttermunds • Kind wird erst durch Austreibungs-, dann durch starke Presswehen durch den Geburtskanal geschoben • Ende: Geburt des Kindes • Dauer: 1–2 h

Das Kind tritt tiefer in das mütterliche Becken.

Der Kopf des Kindes liegt quer vor dem Beckeneingang und kann getastet werden.

Damit das Kind durch den Geburtskanal passt, muss es sich während der Geburt mehrmals um die Längsachse drehen (Schädelnähte als Orientierungshilfe).

Nachgeburtsperiode • Beginn: nach der Geburt des Kindes • Ende: Abgang der Nachgeburt (Plazenta, Eihäute und Nabelschnurreste) durch Nachgeburtswehen • Dauer: 20 min Die Ablösung der Plazenta hinterlässt eine Wunde am Endometrium.

Unterschieden werden die Eröffnungs-, die Austritts- und die Nachgeburtsperiode. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 485

20

Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle Abb. 20.9 Physiologische Geburt.

a

b

c

a Zu Beginn der Austrittsperiode steht der Kopf des Kindes quer im Beckeneingang. b Um durch den Beckenausgang zu gelangen, dreht das Kind erst den Kopf, dann auch den Rest des Körpers zur Seite. c Der Kopf des Kindes ist durch den Beckenausgang getreten und befindet sich im Geburtskanal. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Drückt der kindliche Kopf auf den Beckenboden, klafft der Anus und die Gebärende hat ein Gefühl wie beim Stuhlgang (Pressdrang): Nun beginnen die Presswehen als letzter Teil der Austrittsperiode. Sobald der Kopf geboren ist, dreht sich der Körper des Kindes, was an einer Drehung des Kopfes zur Seite zu sehen ist. Erfahrene Geburtshelfer unterstützen die Entwicklung der vorderen, Richtung Symphyse zeigenden Schulter, indem sie den kindlichen Kopf absenken. Anschließend wird der kindliche Kopf angehoben und die hintere Schulter und schließlich der restliche Körper entwickelt. Bei unkompliziertem Geburtsverlauf wird das Neugeborene der Mutter direkt nach der Geburt auf den Bauch gelegt, ggf. abgesaugt und dann abgenabelt (S. 488). Mit der Geburt des Kindes endet die Austrittsperiode.

! Merke Pressphasendauer

Eine > 30–40 min andauernde Pressphase ist kritisch, da während jeder Wehe der Blutfluss in der Nabelschnur unterbrochen und damit die O2-Versorgung des Kindes beeinträchtigt ist. Ursachen für eine verlängerte Pressphase können Fehllagen (S. 489) oder ein Missverhältnis zwischen Kindsgröße und Geburtsweg sein. Bei einer Geburt im Rettungsdient mit verlängerter Pressdauer muss ein Transport in eine Klinik mit geburtshilflicher Abteilung unter der Geburt abgewogen werden.

! Merke Geburtszeitpunkt und Plazenta

Der Zeitpunkt, zu dem das Kind vollständig geboren ist, ist der Geburtszeitpunkt und muss dokumentiert werden. Der Geburtsvorgang ist jedoch erst beendet, wenn die Plazenta geboren wurde. Bei einer Geburt im RD müssen Sie die Plazenta immer mitnehmen! Nachgeburtsperiode • Nach der vollständigen Entwicklung des Kindes wird es abgenabelt (S. 488). Nach etwa 10– 30 min werden die Plazenta und die Eihäute ausgestoßen. Die Plazenta muss immer durch einen Gynäkologen oder eine Hebamme auf Vollständigkeit überprüft werden. Während dieser Periode ist der Blutverlust der Mutter oft am größten (physiologisch: bis ca. 300 ml). Dauert die Nachgeburtsperiode > 30 min oder gehen > 500 ml Blut verloren, besteht die Gefahr eines Blutungsschocks. Näheres im Abschnitt zu postpartalen Blutungen (S. 490).

486

ACHTUNG Die Nachgeburtsperiode ist die gefährlichste Periode der Geburt für die Mutter: Besonders gefährlich ist eine Kontraktionsschwäche der Gebärmutter (Uterusatonie), die zu starken Blutungen (S. 490) führen kann.

RETTEN TO GO Physiologischer Ablauf der Geburt ●





Die Eröffnungsperiode beginnt mit regelmäßigen, starken Wehen (zu Beginn mind. alle 20 min, später häufiger) oder dem Blasensprung. Sie dauert in der Regel mehrere Stunden und endet, sobald der Muttermund vollständig (auf ca. 10 cm Durchmesser) geweitet ist. In der Austrittsperiode wird das Kind durch kräftige Wehen (alle 4–10 min) durch den Geburtskanal geschoben. Insgesamt dauert diese Phase bis zu 1 h, wobei gegen Ende Presswehen auftreten. Die Phase der Presswehen sollte 40 min nicht überschreiten, da sonst die Gefahr einer O2-Minderversorgung für das Kind besteht. Die Austrittsperiode endet mit der Geburt des Kindes. In der Nachgeburtsperiode wird durch die Nachwehen die Nachgeburt (Plazenta, Eihäute und Nabelschnurrest) ausgestoßen, i. d. R. innerhalb von 20 min.

20.5.2 Geburtsbegleitung im Rettungsdienst Transportentscheidung Beginnt eine Geburt ungeplant außerhalb des Krankenhauses („Notgeburt“), gilt es, v. a. Ruhe zu bewahren und festzustellen, ob noch ausreichend Zeit für den Transport in eine Geburtsklinik vorhanden ist oder die Geburt im RTW bzw. am Notfallort notwendig wird: ● In der Eröffnungsperiode ist oft noch ausreichend Zeit, um die Patientin zügig, aber schonend in eine geburtshilfliche Klinik zu transportieren. ● In der fortgeschrittenen Austrittsperiode, wenn bereits Pressdrang besteht bzw. der kindliche Kopf in der Vulva zu sehen ist, wird Geburtshilfe geleistet und nur bei Komplikationen transportiert.

Geburt und Neugeborenes

Versorgung der Gebärenden



Eröffnungsphase



Basismaßnahmen ● Notfallanamnese, z. B.: – Wann haben die Wehen begonnen? – In welchen Abständen kommen die Wehen? – Wie lange dauern die Wehen jeweils? – Besteht ein Pressdrang? ● Patientin beruhigen ● Lagerung: Linksseitenlage, Becken etwas hochlagern – Ist die Fruchtblase bereits geplatzt, Patientin nicht mehr aufstehen lassen (Gefahr des Nabelschnurvorfalls). ● Mutterpass ansehen (S. 477) ● Basismonitoring (S. 198): RR, Puls, SpO2, EKG ● ggf. O2-Gabe (nach Bedarf und SpO2) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und Infusion Erweiterte Maßnahme • Die Patientin wird unter Monitoring der Vitalparameter in eine geburtshilfliche Klinik transportiert. Nehmen Sie unbedingt den Mutterpass mit! Sofern eine rasch einsetzende Geburt zu erwarten ist (Achten Sie auf die Abstände zwischen den Wehen!): Fordern Sie notärztliche Unterstützung an (ggf. entgegenfahren).

Austrittsperiode Berichtet die Patientin über Pressdrang und ist der kindliche Kopf in der Vulva zu sehen, müssen Sie Geburtshilfe leisten. Befindet sich die Patientin im RTW, unterbrechen Sie die Fahrt und halten an einer sicheren Stelle an. Ist mit Komplikationen vor, während oder nach der Geburt zu rechnen, benötigen Mutter und Kind ggf. intensivste Betreuung. Denken Sie daher rechtzeitig daran, einen 2. RTW oder einen BabyNAW nachzufordern. Maßnahmen notärztliche Unterstützung und (wenn möglich) Hebamme nachfordern ● Feststellen der Geburtsperiode und Indikationsstellung zur präklinischen Geburt ● Anamnese: Schwangerschaftsverlauf, Risiken und Komplikationen, Mutterpass prüfen ● Vitalfunktionen überwachen, ggf. i. v.-Zugang anlegen ● Heizen Sie den Geburtsraum vor, bereiten Sie trockene/ saubere Handtücher und Material für die Geburt vor (u. a. sterile Handschuhe, Nabelschnurklemmen, Silberwindel). ● Unterstützen Sie den Geburtsvorgang durch Halten, Leiten und Schützen des Kindes. Kein Eingreifen ohne Indikation. Ziehen Sie niemals an Kindsteilen! ●





● ●

Animieren Sie die Frau während der Presswehen zum Mitpressen und achten Sie auf Erholung in den Wehenpausen. Sobald der kindliche Kopf entwickelt ist, folgen die Schultern. Der Rest des Kindes folgt meist spontan. Erstversorgung des Kindes: sofortiger Wärmeerhalt, bei verlegten Atemwegen oder grünem Fruchtwasser Nase, Mund und Rachenraum absaugen, Kind nach der Geburt nicht über Plazentahöhe lagern, abnabeln (▶ Abb. 20.11), APGAR-Score ermitteln (▶ Tab. 20.1) Legen Sie das Kind warm eingewickelt zur Mutter. Sie kann das Kind auf Wunsch anlegen und stillen. Inspektion und ggf. Versorgung von Geburtsverletzungen Transport in eine Klinik mit geburtshilflicher Abteilung, die Nachgeburt muss nicht zwingend abgewartet werden. Falls die Plazenta ausgestoßen wird, müssen Sie diese unbedingt vollständig asservieren. Beachten Sie, dass die Nachgeburt mit einer starken Blutung einhergehen kann.

Überstürzte Geburt und Sturzgeburt Vor allem bei Mehrgebärenden und geringer Größe des Kindes können Geburten sehr rasch ablaufen: ● Eine überstürzte Geburt ist eine in < 2 h ablaufende, ansonsten aber physiologische Geburt. Die Eröffnungswehen sind wenig schmerzhaft und werden daher mitunter nicht als solche bemerkt. Die Gebärende wird von plötzlich auftretenden Presswehen überrascht. Das Kind wird häufig im RTW oder im heimischen Bett geboren. ● Bei einer Sturzgeburt stürzt das Kind aus dem Geburtskanal und wird dabei häufig verletzt. Der Rettungsdienst trifft hier naturgemäß meist erst ein, wenn die Geburt bereits beendet ist. Eine sorgfältige Untersuchung des Neugeborenen ist hier sehr wichtig!

RETTEN TO GO Geburtsbegleitung im Rettungsdienst ●



Transportentscheidung aufgrund der Geburtsperiode: In der Eröffnungsperiode ist ein Transport in die Klinik oft noch problemlos möglich, in der Austrittsperiode muss in der Regel Geburtshilfe geleistet werden. Versorgung: Anamnese (Beginn der Wehentätigkeit, Abstand und Dauer der Wehen, Pressdrang), Mutterpass ansehen und mitnehmen, Linksseitenlagerung mit etwas erhöhtem Becken, Basismonitoring; bei kürzer werdenden Wehenabständen NA nachfordern und ggf. entgegenfahren. Sobald bei der Patientin Pressdrang einsetzt und/oder der kindliche Kopf in der Vulva sichtbar wird, anhalten und Geburtshilfe leisten.

Tab. 20.1 APGAR-Score*. Merkmal

2 Punkte

1 Punkt

0 Punkte

Aussehen

rosig an Rumpf und Gliedmaßen

rosig am Rumpf, Gliedmaßen bläulich

Rumpf und Gliedmaßen blass und bläulich

Puls

> 100/min

< 100/min

kein Puls messbar

Grimassieren

Schreien, Husten, Niesen

Verziehen des Gesichts

kein Grimassieren

Aktivität

aktiv, spontane Bewegungen

träge Flexionsbewegungen

schlaff

Respiration

regelmäßige Atmung (ca. 40/min)

langsame, unregelmäßige Atmung

keine Atmung

*Je nach Ausprägung werden für das jeweilige Merkmal 0–2 Punkte vergeben: 9–10 Punkte: unauffälliges Neugeborenes 5–8 Punkte: grenzwertig < 5 Punkte: akute Lebensgefahr

487

Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle Abb. 20.10 Lebensfrisches Neugeborenes.

Abb. 20.11 Die Abnabelung.

Das Neugeborene wird in warme, trockene Tücher gewickelt und der Mutter auf die Brust gelegt. Der Kopf des Neugeborenen muss bei allen Maßnahmen gestützt werden! Foto: © U. Alpers,

Die Abnabelung erfolgt mit 2 sterilen, speziell dafür geeigneten Klemmen. Die erste Klemme wird ca. 20–30 cm vom Bauch des Neugeborenen entfernt platziert, die 2. Klemme eine Handbreite weiter. Zwischen den beiden Klemmen wird die Nabelschnur mit einer sterilen Schere durchtrennt.

20

–3

0

cm

10

cm

20

Esslingen

20.5.3 Versorgung des Neugeborenen Erstversorgung und Beurteilung des Neugeborenen Die meisten reifgeborenen Neugeborenen (NG) passen sich schnell an das Leben außerhalb des Uterus an und beginnen i. d. R. ohne Unterstützung zu atmen und zu schreien (▶ Abb. 20.10). Das vorsichtige Abtrocknen des NG dient nicht nur dem Wärmeerhalt, sondern bietet meist auch eine ausreichende Stimulation, um eine effektive Spontanatmung anzuregen. Zum Wärmeerhalt wird das NG unmittelbar nach der Geburt in warme, trockene Tücher oder eine Rettungsdecke und für den Transport zusätzlich in eine Silberwindel gewickelt. Auch das Köpfchen sollte bedeckt sein, das Gesicht des Kindes muss frei bleiben. In der 1., 5. und 10. Lebensminute wird das NG anhand des APGAR-Scores (▶ Tab. 20.1) beurteilt. So wird eine akute Gefährdung frühzeitig erkannt. Weitere Normwerte für Früh- und Neugeborene finden Sie in ▶ Tab. 23.1. Bei ausreichender Atmung, gutem Muskeltonus und einer Herzfrequenz > 100/min wird das Kind ohne weitere Maßnahmen auf den Bauch bzw. an die Brust der Mutter gelegt und (falls gewünscht) zum ersten Stillen angelegt (Achtung: NG können durch die Käseschmiere „rutschig“ sein). Bei schlechten Vitalwerten wird das NG nach Eröffnen der Atemwege direkt mit Maske beatmet (5 initiale Beatmungen), ggf. wird eine NG-Reanimation (S. 332) eingeleitet.

! Merke Absaugen

Spontan atmende NG ohne Verlegung der Atemwege werden nicht abgesaugt, da dies zu Schleimhautverletzungen, reflektorische Bradykardien und Apnoen führen kann.

Erstes Stillen nach der Geburt Der Mutter sollte nach der Geburt ein möglichst frühzeitiger Kontakt zum Kind ermöglicht werden. Der direkte Körperkontakt hilft dem Kind, seine Körpertemperatur zu halten. Je nach Zustand und Wunsch der Mutter und Verfassung des Kindes kann das NG bereits direkt nach der Entbindung, eingewickelt in ein warmes Tuch, an die Brust angelegt werden. Das Saugen an der Brust stimuliert bei der Mutter die Ausschüttung des Hormons Oxytocin und damit den Milcheinschuss sowie die Rückbildung des Uterus (→ Blutstillung).

RETTEN TO GO Versorgung des Neugeborenen ●



Abnabelung und Absaugen Der Zeitpunkt der Abnabelung richtet sich nach dem Zustand des Kindes (▶ Abb. 20.11). Gesunde, unbeeinträchtigte Neugeborene werden frühestens 1 min nach der Geburt abgenabelt. Risikokinder werden unverzüglich abgenabelt, um sie sofort weiterversorgen zu können (z. B. bei Reanimationspflicht). Das kindsnahe Nabelschnurende wird steril abgedeckt. Abgesaugt wird das NG nur bei Atemstillstand, einer Verlegung der Atemwege oder grünem Fruchtwasser.

488



Das Kind wird in trockene, warme Tücher gewickelt und vorsichtig abgerieben, um die Spontanatmung anzuregen. In der 1., 5. und 10. Lebensminute wird der APGARScore erhoben. Bei gutem Ergebnis wird das Neugeborene der Mutter auf den Bauch gelegt, andernfalls 5 initiale Beatmungen, ggf. Neugeborenreanimation. Gesunde Neugeborene werden frühestens 1 min nach der Geburt abgenabelt, Risikokinder sofort. Ein Absaugen wird nur bei Atemstillstand, verlegten Atemwegen oder grünem Fruchtwasser durchgeführt. Erlaubt es der Zustand von Mutter und Kind, wird möglichst direkt nach der Entbindung direkter Körperkontakt hergestellt. Wünscht es die Mutter, kann das Neugeborene direkt an die Brust angelegt werden.

Geburt und Neugeborenes

Tab. 20.2 Lagen des Kindes bei der Geburt. Lage

Beschreibung

Maßnahmen

Schädellage

Der Kopf dehnt den Geburtskanal vor, danach folgen die Schultern und der Rest des Körpers.

regelgerechte Geburt möglich

Beckenendlage

Der Steiß als führender Teil kann durch den geringeren Umfang den Geburtskanal nicht ausreichend vordehnen. Eine Einklemmung der Nabelschnur, eine Hypoxie und (bei vorzeitigem Zug am Kind) ein Hochschlagen der Arme sind möglich (Umfangsvergrößerung).

erschwerte Geburt, sofortiger Transport bei unaufhaltsamer Geburt Geburtsvorgang ab Sichtbarwerden der Schulterblattspitzen unterstützen

Quer- und Schräglage

Das Kind steht quer oder schräg zum Geburtskanal. Dadurch kann es zu einem Extremitätenvorfall kommen.

Geburtsunmögliche Lage! keine Geburtsversuche unternehmen, sofortiger Transport

Extremitätenvorfall

Fuß, Hand, Arm oder Bein sind zu sehen und können sich im Geburtskanal „verkeilen“

Geburtsunmögliche Lage! keine Geburtsversuche unternehmen, sofortiger Transport

20.5.4 Komplikationen während und nach der Geburt Fehllagen des Kindes Bei einer regelrechten Geburt ist der Kopf des Kindes der führende Teil (Schädellage, ▶ Abb. 20.12, ▶ Tab. 20.2). Fehllagen machen eine vaginale Geburt schwierig oder unmöglich, werden im Rettungsdienst jedoch oft nicht erkannt, da sie für Ungeübte nur schwer zu diagnostizieren sind. Im Rettungsdienst ist es wichtig, zu erkennen, in welchen Situationen eine Geburtsbegleitung vor Ort möglich und wann ein sofortiger Transport in die Klinik indiziert ist. Bei Lageanomalien führt nicht der Kopf (Beckenendlage, Quer- und Schräglage). Bei Haltungsanomalien weicht der kindliche Kopf aus seiner regelhaften Haltung ab (z. B. Stirnoder Gesichtslage). Bei Einstellungsanomalien ist der vorangehende Kindsteil nicht richtig eingestellt (Schulterdystokie, Extremitätenvorfall). Bei Fehllagen des Kindes ist i. d. R. keine regelrechte Geburt möglich, sie können für Mutter und Kind lebensbedrohlich sein. Grundsätzlich wird bei verzögerten Geburtsverläufen nicht am Notfallort abgewartet, sondern möglichst unmittelbar die nächstgelegene geburtshilfliche Klinik angefahren.

Schulterdystokie • Bei manchen Kindern „verhaken“ sich die Schultern des Kindes nach der Geburt des Kopfes am mütterlichen Becken. Dies erhöht das Risiko für Geburtskomplikationen und Verletzungen des Kindes. Tritt nur der Kopf des Kindes aus, aber nicht die Schultern, darf keinesfalls am Kopf des Kindes gezogen werden. Eine mögliche Maßnahme ist das McRoberts-Manöver (▶ Abb. 20.13). Die Gebärende wird schnellstmöglich in eine geburtshilfliche Klinik transportiert (NA nachalarmieren, ggf. entgegenfahren).

Abb. 20.13 McRoberts-Manöver bei Schulterdystokie.

3x 1 2

Abb. 20.12 Fehllagen des Kindes.

Querlage

physiologische Schädellage

Beckenendlage

Physiologisch ist die Schädellage (kindlicher Kopf im mütterlichen Becken). Bei der Beckenendlage zeigt der kindliche Steiß zum Beckenausgang, bei der Querlage der Rücken des Kindes. Bei beiden Lageanomalien können Gliedmaßen des Kindes in den Geburtskanal eintreten.

Das Manöver soll die Schultern des Kindes befreien. Die Gebärende liegt auf dem Rücken. Der Geburtshelfer beugt und streckt ihre Beine 3 × kräftig in der Hüfte. Gleichzeitig wird oberhalb der Symphyse auf die Bauchdecke der Gebärenden gedrückt, um das Manöver zu unterstützen. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

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Geburtshilfliche und gynäkologische Notfälle

RETTEN TO GO

RETTEN TO GO

Fehllagen des Kindes

Postpartale Blutungen

Die physiologische Lage des Kindes zum Geburtszeitpunkt ist die Schädellage (Kopf liegt unten). Fehllagen können die Geburt stark verzögern oder unmöglich machen. Sie gefährden Mutter und Kind und erfordern eine zügige Abklärung in einer geburtshilflichen Klinik.







Postpartale Blutungen Definition Postpartale Blutungen Blutungen aus dem Genitaltrakt ≥ 500 ml nach einer vaginalen Geburt bzw. ≥ 1000 ml nach einem Kaiserschnitt (Sectio caesarea) Ursachen – die 4Ts: Tonus: Uterusatonie (atonische Nachblutungen): Normalerweise zieht sich die Muskulatur der Gebärmutter nach der Geburt des Kindes und der Plazenta deutlich zusammen. Dadurch verkleinert sich der Uterus und die nach der Ablösung der Plazenta noch offenen Gefäße werden komprimiert. Ein Ausbleiben dieser Reaktion kann zu lebensbedrohlichen Blutungen führen. Typische Ursachen sind eine Überdehnung des Uterus bei sehr großen Kindern oder Mehrlingen und eine sehr lange Geburtsdauer. ● Trauma: Geburtsverletzungen, z. B. Dammriss, Zervixriss, Uterusruptur (S. 485) ● Tissue: fehlende Plazentalösung: Die Plazenta hat sich auch > 30 min nach der Geburt des Kindes nicht komplett gelöst oder Plazentareste verbleiben in der Gebärmutter. ● Thrombin: schwangerschaftsbedingte Gerinnungsstörungen, z. B. bei Fruchtwasserembolie, Präeklampsie, HELLPSyndrom (S. 481) ●

! Merke Blutungen kurz nach der Geburt

In den ersten 4 Stunden nach einer Geburt ist das Risiko einer Uterusatonie und damit einer lebensbedrohlichen postpartalen Blutung am höchsten. Basismaßnahmen zur Versorgung der Patientin (S. 476) frühzeitige O2-Gabe, initial 10–15 l/min, je nach SpO2 Flow ggf. anpassen ● Fritsch-Lagerung (▶ Abb. 20.1) in Kombination mit Schocklagerung, Wärmeerhalt beachten (S. 249) ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und Infusion ● notärztliche Unterstützung anfordern ● Sichten von blutgetränkten Unterlagen, Binden, Koageln zum Abschätzen des Blutverlustes ●

Erweiterte Maßnahmen ● Anlage von 1 oder 2 i. v.-Zugängen, Schocktherapie (S. 289) ● bei Rissblutung an Vulva oder Damm: lokale Kompression ● Gabe von Oxytocin i. v. zur Kontraktionsförderung ● je nach Blutungsintensität und Symptomatik sofortiger Transport in geburtshilfliche Klinik

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Definition: vaginale Blutung ≥ 500 ml nach vaginaler Geburt bzw. ≥ 1000 ml nach Sectio Ursachen: z. B. fehlende Kontraktion des Uterus (Uterusatonie, am häufigsten), Geburtsverletzungen, fehlende Plazentalösung, Gerinnungsstörungen ToDo Basis: Sicherstellen der Vitalfunktionen, Basismonitoring, Fritsch-Lagerung mit Schocklagerung, O2-Gabe (nach Bedarf und SpO2), Wärmeerhalt, NA nachfordern ToDo erweitert: Anlage von i. v.-Zugängen, Schocktherapie, Oxytocin i. v., Kompression von Rissblutungen an Vulva oder Damm, zügiger oder sofortiger Transport in die Klinik

20.6 Wochenbett Physiologie • Das Wochenbett umfasst die ersten 6–8 Wochen nach einer Geburt. In dieser Phase bilden sich die schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen zurück und die Laktation beginnt. Durch die Wochenbettwehen werden Blutungen aus der Gebärmutterwunde gestillt und das Wundsekret (Wochenfluss, Lochien) nach außen befördert. Körperliche Komplikationen • Das Risiko für venöse Thrombosen (S. 314) ist erhöht. Eine schwerwiegende Komplikation nach einer Geburt (aber mitunter auch nach einem Abort!) ist die Wochenbett- oder Puerperalsepsis („Kindbettfieber“): Nach der Geburt können sich auf der durch die Ablösung der Plazenta entstandenen Wundfläche in der Gebärmutter Bakterien ansiedeln, die schwere Entzündungen mit Gefahr einer systemischen Ausbreitung und hoher Sterblichkeit auslösen können. Typische Symptome sind Fieber, Unterbauchschmerzen, eine fehlende Rückbildung des Uterus, übelriechender Ausfluss und Kopfschmerzen. Die Versorgung erfolgt wie bei anderen Formen der Sepsis (S. 292). Psychische Komplikationen • Als Folge der massiven hormonellen und psychischen Umstellungen in den ersten Wochen nach einer Geburt entwickeln viele Frauen zumindest leichte depressive Symptome mit Weinattacken und Angstgefühlen (Babyblues), mitunter aber auch eine tatsächliche Wochenbettdepression (S. 445) mit über Wochen oder Monate anhaltenden Symptomen. Selten, aber mitunter gefährlich für das Leber der Mutter und des Neugeborenen (Selbstmordgefahr; mitunter Gefahr der Kindstötung) ist eine Wochenbettpsychose: Die Mutter entwickelt im Wochenbett gravierende psychische Symptome (z. B. Halluzinationen, Erregungszustände, Wahnideen). Hier müssen Sie v. a. die Gefahr erkennen, beruhigend auf die Patientin einwirken, ggf. den NA alarmieren und für die weitere Behandlung in einer psychiatrischen Klinik Sorge tragen. Mutter und Kind werden nur in Ausnahmefällen bzw. bei akuter Gefährdung voneinander getrennt.

Wochenbett

RETTEN TO GO Wochenbett In den ersten 6–8 Wochen nach einer Geburt bilden sich die schwangerschafts- und geburtsbedingten Veränderungen zurück. Wichtige körperliche Komplikationen in diesem Zeitraum sind venöse Thrombosen und eine Wochenbett- oder Puerperalsepsis mit systemischer Entzündungsreaktion. Die hormonellen Umstellungen können zu einem „Baby Blues“ mit depressiver Verstimmung bis hin zu Depressionen oder einer Wochenbettpsychose führen. Letztere ist ein Notfall.

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Nephrologische und urologische Notfälle, Störungen des Wasser-, Elektrolyt- und Säure-BasenHaushalts

schiebungen rechnen? Wie muss ich darauf reagieren? Welche Folgen kann dies haben?

21.1 Einführung Nephrologie und Urologie • Gegenstand der Nephrologie sind u. a. die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen der Niere. Die Urologie befasst sich mit den ableitenden Harnwegen und den männlichen Geschlechtsorganen. Dieses Kapitel fasst die für den RD relevanten Erkrankungen und Notfälle beider Fachgebiete zusammen. Typische Notfälle • Die meisten urologischen und nephrologischen Notfälle sind nicht akut lebensbedrohlich. Allerdings können viele Erkrankungen die Organe irreversibel schädigen. Durch eine rasche (Verdachts-)Diagnose und die Einleitung einer zielgerichteten Therapie werden Nierenund Blasenfunktionsstörungen sowie Störungen der Sexualfunktion vermieden. Der RD hat somit eine weichenstellende Funktion, die definitive Versorgung ist erst in der Klinik möglich. Verletzungen des Urogenitaltrakts kommen meistens im Rahmen eines Polytraumas (S. 397) vor und können lebensbedrohlich sein. Die Urosepsis (S. 496) ist ein schwerwiegendes Krankheitsbild mit Relevanz für den RD. Wasser-, Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt • Dieser Themenkomplex ist aus (patho-)physiologischer Sicht funktionell eng mit den Nieren verknüpft: Häufige Ursachen für Störungen des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts sind Erkrankungen der Nieren, die Einnahme von Medikamenten (z. B. Diuretika, Abführmittel), aber auch z. B. die diabetische Ketoazidose (S. 356). Wichtig zu wissen ist in jedem Fall: Bei welchen Grunderkrankungen muss ich mit welchen Ver-

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21.2 Grundlagen 21.2.1 Leitsymptome Schmerzen Lokalisation • Schmerzen bei urologischen und nephrologischen Erkrankungen betreffen häufig den Bereich seitlich der Lendenwirbelsäule (Lumbalgegend) und strahlen ggf. nach bauchwärts aus (Flankenschmerzen). Auch eine Schmerzausstrahlung in den Hodensack oder die Vulvalippen ist möglich. Anamnese • Eine genaue Anamnese nach dem SAMPLERSchema (S. 193) kann auf die Schmerzursache hinweisen. Mithilfe des OPQRST-Schemas (S. 195) wird die Symptomatik präzise charakterisiert: Beispielsweise weisen abrupt beginnende, kolikartige Schmerzen auf eine Urolithiasis (S. 495) hin, während eher dumpfe Schmerzen in der Lumbalgegend mit begleitendem Fieber eine Nierenbeckenentzündung wahrscheinlich machen. Wichtige Fragen: ● Wo ist das Maximum der Schmerzen (z. B. Lumbalgegend, Leistenregion, Skrotum)? ● Strahlen die Schmerzen aus? Wenn ja, wohin (z. B. vom Skrotum in die Leistenregion)? ● Wann haben die Schmerzen begonnen? ● Wie ist der Schmerzcharakter (z. B. brennend, stechend)? ● Wie ist der Schmerzverlauf (z. B. konstant, stetig zunehmend, wellenförmig)? ● Wie stark sind die Schmerzen?

Einführung

▶S. 492

Leitsymptome Grundlagen

▶S. 492

Untersuchung ▶S. 494 Akuter Harnverhalt ▶S. 494 Notfälle der Nieren und der ableitenden Harnwege

Urolithiasis und Nieren-/Harnleiterkolik Akutes Nierenversagen

▶S. 497

Akutes Skrotum Notfälle der männlichen Geschlechtsorgane

Priapismus Paraphimose

Veränderungen des Natriumund Wasserhaushalts Störungen des Wasserund Elektrolythaushalts

Azidosen und Alkalosen

Besonderheiten bei Kindern



Hyperkaliämie

▶S. 503

Hypokaliämie

▶S. 504

▶S. 495

▶S. 499

▶S. 500 ▶S. 501

▶S. 501

▶S. 505

▶S. 506

Welche anderen Symptome stehen mit den Schmerzen im Zusammenhang (z. B. Fieber bei entzündlicher Ursache)?

Abb. 21.1 Hämaturie.

Hämaturie Definition Hämaturie Erythrozyten werden mit dem Urin ausgeschieden. Im Rettungsdienst relevant ist nur die Makrohämaturie, bei der je nach Ausmaß der Blutung eine bräunliche bis rötliche Färbung des Urins mit dem bloßen Auge sichtbar ist (▶ Abb. 21.1). Eine Mikrohämaturie kann nur mikroskopisch oder mit einem Urinteststreifen (Urinstix) festgestellt werden. Wichtige Fragen zur Abklärung ● Besteht eine urologische Grunderkrankung (z. B. Tumor, Harnsteine)? ● Gibt es Anzeichen für eine Entzündung der ableitenden Harnwege? ● Nimmt der Patient gerinnungshemmende Medikamente? ● Gibt es einen möglichen Auslöser für die Hämaturie (z. B. Trauma, Katheterisierung)?

! Merke Hämaturie als Notfall

Patienten mit schmerzhafter Hämaturie und Fieber oder Schocksymptomen (S. 282) müssen sofort versorgt werden (NA anfordern, zügiger Transport). Fehlerquellen • Eine Kontamination mit Menstrualblut kann eine Hämaturie vortäuschen. Nach dem Genuss von Roter Bete kann der Urin rot verfärbt sein. Das Gleiche gilt für einige Medikamente und Vitamintabletten.

Vergleich von normal gefärbtem Urin (links) und einem Befund bei Makrohämaturie (rechts). Aus: Tratz F, Reich O, Cohen C D. Was tun bei Hämaturie? – Schritt für Schritt. DMW - Deutsche Medizinische Wochenschrift 2020; 145(01): 56 – 61

Verringerte Harnmenge Definition Anurie und Oligurie Bei einer Anurie werden < 100 ml Urin/Tag ausgeschieden, bei einer Oligurie < 500 ml Urin/Tag. Ursachen • Eine stark verringerte Harnmenge kann auf ein akutes Nierenversagen (S. 497) hinweisen. Die häufigste Ursache ist ein Volumenmangel bei Exsikkose oder Schock (prärenale Ursache), wodurch die Nierendurchblutung abnimmt. Auch Erkrankungen der Niere selbst (renale Ursache) oder ein Abflusshindernis in den ableitenden Harnwegen (postrenale Ursache) kommen als Auslöser in Frage.

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Nephrologische und urologische Notfälle Wichtige Fragen zur Abklärung ● Wie viel Harn wurde in den letzten 24 Stunden ausgeschieden? ● Sind Trübungen oder Ausflockungen erkennbar (Hinweis auf eine Harnwegsinfektion)?

Video 21.1 Perkussion der Nierenlager.

Störungen der Blasenentleerung Die Miktion, die Entleerung der Harnblase, ist erschwert oder unvollständig, die Häufigkeit des Wasserlassens ist verändert oder die Miktion ist schmerzhaft. Wichtige Fragen zur Abklärung ● Hat sich die Häufigkeit der Miktionen im Vergleich zu sonst verändert? ● Wird mehr oder weniger Harn pro Miktion ausgeschieden als bisher? ● Ist das Wasserlassen schmerzhaft oder erschwert (z. B. stärkeres Pressen notwendig)? ● Geht Urin ungewollt ab?

Zur Untersuchung des Nierenlagers gibt es ein Video! Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Video: © K. Oborny/Thieme

oder einen Harnstau hinweisen. Da bereits kleinste Erschütterungen schmerzhaft sein können, soll die Perkussion vorsichtig und durch einen erfahrenen Untersuchenden durchgeführt werden.

RETTEN TO GO Leitsymptome bei Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege ●







Schmerzen: häufig in der Flankengegend, oft kolikartig, mitunter Ausstrahlung in den Hodensack oder die Vulvalippen Hämaturie: Beimischung von Blut zum Urin, entweder mit bloßem Auge sichtbar (Makrohämaturie) oder nur unter dem Mikroskop bzw. mit Urinteststreifen erkennbar (Mikrohämaturie) verringerte Harnmenge: – Oligurie: Urinausscheidung < 500 ml/d – Anurie: Urinausscheidung < 100 ml/d Störung der Blasenentleerung, z. B. erschwerte, schmerzhafte oder unvollständige Miktion

21.3 Notfälle der Nieren und der ableitenden Harnwege 21.3.1 Akuter Harnverhalt Definition Akuter Harnverhalt Der Patient kann die (bei normaler Urinproduktion) gefüllte Harnblase nicht entleeren, obwohl ein quälender und schmerzhafter Harndrang besteht.

21.2.2 Untersuchung

Synonym • Ischurie

Urologische Notfälle sind den Patienten oft unangenehm. Achten Sie daher auf ein taktvolles Verhalten und (wenn möglich) eine adäquate Distanz.



! Merke Respekt vor den Patienten

Für eine definitive Diagnostik sind Urinuntersuchungen, bildgebende Verfahren und spezifische Untersuchungstechniken erforderlich. Im Rettungsdienst können Sie durch einfache Untersuchungen die möglichen Ursachen eingrenzen: ● Inspektion: – Gibt es bei reduzierter Harnmenge Hinweise auf eine Exsikkose (stehende Hautfalten, trockene Schleimhäute, borkige Zunge)? – Sind Skrotum oder Penis verändert? Eine Schwellung, Verfärbung oder Überwärmung sind Hinweise auf ein akutes Skrotum (S. 499), einen Priapismus (S. 500) oder eine Paraphimose (S. 501). ● Palpation des Abdomens: Eine rundliche, druckschmerzhafte Vorwölbung der Bauchdecke oberhalb der Symphyse kann auf einen akuten Harnverhalt hinweisen. ● Perkussion (▶ Video 21.1): Ein Klopfschmerz über dem Nierenlager (beidseits seitlich der Lendenwirbelsäule, Lumbalgegend) kann auf eine Nierenbeckenentzündung 494

Früherkennung von Infektionen • Messen Sie bei jedem urologischen bzw. nephrologischen Notfall mit unspezifischen Krankheitszeichen die Körpertemperatur. Je früher eine Entzündung bzw. Sepsis (S. 292) erkannt wird, umso besser ist die Prognose für den Patienten.

Ursachen mechanisches Hindernis: Die Harnblase oder die Harnröhre ist durch eine gutartige Vergrößerung oder einen bösartigen Tumor der Vorsteherdrüse (Prostatahyperplasie bzw. -karzinom), einen im Blasenausgang oder in der Harnröhre eingeklemmten Stein oder einen verstopften Blasenkatheter verlegt. ● Medikamente: z. B. Butylscopolamin (z. B. Buscopan®), Opioide ● neurogene Ursache: Bei einer Querschnittslähmung, Multipler Sklerose oder einem Bandscheibenvorfall können die für die Harnblasenentleerung verantwortlichen Nerven geschädigt sein. ● reflektorischer Harnverhalt bei Kolikschmerzen (S. 495)

! Merke Harnverhalt bei älteren Männern

Bei älteren Männern ist eine Prostatahyperplasie eine häufige Ursache für einen akuten Harnverhalt. Symptomatik • Typischerweise sind die Patienten unruhig und haben starke Unterbauchschmerzen. Oft gehen den Schmerzen ein zunehmender Blasendruck und Harndrang voraus. Die prall gefüllte Blase kann als rundliche Vorwöl-

Notfälle der Nieren und der Harnwege bung der Bauchdecke tastbar sein: Palpieren Sie wegen der Schmerzen vorsichtig! Ein unkontrolliertes und tröpfchenweises Abgehen des Urins spricht für eine Überlaufinkontinenz (die Blase „läuft über“). Die Schmerzen können vegetative Symptome wie Blässe, Kaltschweißigkeit und Übelkeit/Erbrechen auslösen. Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen ist v. a. eine fehlende Urinproduktion (Anurie). Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG, Körpertemperatur ● ggf. O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2 92–96 % ● Lagerung nach Wunsch des Patienten, z. B. bauchdeckenentlastende Lagerung mit Knierolle (▶ Abb. 14.5) ● notärztliche Unterstützung anfordern (zur Analgesie) ● ggf. Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation ●

Erweiterte Maßnahmen ● Wird ein i. v.-Zugang gelegt, darf nur eine geringe Infusionsmenge verabreicht werden: Eine zu hohe Infusionsmenge oder Diuretika erhöhen die Harnmenge und verstärken damit den Harndrang und die Schmerzen! ● Hat der Patient einen Harnblasenkatheter, kann dieser durch Anspülen mit NaCl 0,9 % oder Aqua dest. evtl. wieder durchgängig gemacht werden. Die Blase sollte bei Erfolg langsam entleert werden: Eine schnelle Entleerung kann Blutungen und Kreislaufprobleme auslösen. ● Je nach Ausmaß der Schmerzen ist eine Analgesie, z. B. mit Metamizol (z. B. Novalgin®) oder Piritramid (z. B. Dipidolor®), angezeigt. Auch die Gabe eines Antiemetikums (S. 124) und/oder eines Spasmolytikums (z. B. Buscopan®) kann sinnvoll sein. Zur Entlastung der Harnblase wird unter sterilen Bedingungen ein Harnblasenkatheter gelegt und der Urin in einen Urinbeutel abgelassen. Dies sollte in jeder Klinik möglich sein. Für die anschließende Ursachensuche und Weiterbehandlung ist eine Klinik mit urologischer Abteilung geeigneter. Bei sehr starken Schmerzen oder unverhältnismäßig langer Transportzeit ist eine präklinische Katheterisierung durch den NA in Erwägung zu ziehen.

RETTEN TO GO Akuter Harnverhalt (Ischurie) ●







Definition: Trotz Harndrang kann der Patient die gefüllte Harnblase nicht entleeren. Ursachen: meist mechanisch durch Verlegung der Harnblase oder Harnröhre durch eine vergrößerte Prostata, einen Stein oder einen verstopften Blasenkatheter, seltener durch Medikamente oder neurologische Störungen (Querschnittslähmung, Bandscheibenvorfall, Multiple Sklerose) oder reflektorisch bei Kolikschmerzen Symptomatik: Schmerzen im Unterbauch, prall gefüllte Harnblase ohne Urinentleerung, evtl. rundliche Vorwölbung der Bauchdecke, oft vegetative Symptome (Blässe, Kaltschweißigkeit, Übelkeit, Erbrechen) ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring inkl. Temperaturmessung; ggf. O2-Gabe; Lagerung mit Entlastung der Bauchdecke; ggf. i.v-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten, NA nachfordern



ToDo erweitert: Bei Anlage eines i. v.-Zugangs Infusionsmenge gering halten! Anspülen eines verstopften Blasenkatheters mit NaCl 0,9 % oder Aqua dest., danach Urin langsam ablassen; ggf. Analgetikum, Spasmolytikum, Antiemetikum; bei langen Transportzeiten und entsprechender Ausstattung evtl. Anlage eines Blasenkatheters durch den NA

21.3.2 Urolithiasis und Nieren-/ Harnleiterkolik Fallbeispiel Unerträgliche Flankenschmerzen*

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Sie werden als Rettungssanitäter zusammen mit Ihrem Notfallsanitäter zu einem Mann mit akuten Bauchschmerzen alarmiert. Nach dem ersten Eindruck und der Untersuchung nach dem (c)ABCDE-Schema besteht kein Anhalt für unmittelbare Lebensgefahr. Allerdings klagt der Patient über starke Schmerzen in der rechten Flanke, die in den Unterbauch und den Hoden ausstrahlten. Diese dumpfen Schmerzen hätten vor etwa einer halben Stunde plötzlich begonnen und kämen „in Wallungen“. Während der Mann dies berichtet, läuft er unruhig im Raum auf und ab und krümmt sich immer wieder. *Fallbeispiel fiktiv

Definition Urolithiasis und Harnleiterkolik Bei einer Nephro- bzw. Urolithiasis haben sich Steine (Konkremente) in der Niere bzw. den ableitenden Harnwegen (Harnleiter, Harnblase, Harnröhre) gebildet: ● Nierensteine (Nephrolithiasis) ● Harnleitersteine (Ureterolithiasis) ● Harnblasensteine (Zystolithiasis) ● Harnröhrensteine (selten) Verlegt ein Stein die ableitenden Harnwege, resultiert eine Nierenoder Harnleiterkolik mit akuten, starken Schmerzen. Pathophysiologie • Harnsteine sind im globalen Norden häufig. Sie entstehen, wenn die Konzentration bestimmter Substanzen (meist Kalziumoxalat oder Harnsäure) im Urin zu hoch ist und diese ausfallen und Kristalle bilden (Konkremente). Diese können wenige Millimeter oder auch (in der Harnblase) groß wie ein Tennisball sein. Risikofaktoren sind u. a. eine geringe Trinkmenge, Bewegungsmangel und über495

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Nephrologische und urologische Notfälle Abb. 21.2 Lokalisation und Form von Harnsteinen.

Abb. 21.3 Schmerzausstrahlung bei Urolithiasis.

Nierensteine

Nierensteine im Kelchhals Ureterstein am Nierenbeckenausgang

Nierenbeckenstein

Ureterstein an der Gefäßkreuzung des Ureters

Ausgussoder Korallenstein Harnleitersteine

Ureterstein an der Uretermündung in die Harnblase

Blasenstein Harnsteine bleiben am häufigsten in den Hälsen der Nierenbeckenkelche (I) oder an den Engstellen der Harnleiter stecken, am Nierenbeckenausgang (II), im mittleren Drittel bei Überkreuzung der Beckengefäße (III) und an der Einmündung in die Harnblase (IV). Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Harnröhrensteine

Harnsteine können unterschiedlich groß und unterschiedlich geformt sein – je nachdem, wo im Harntrakt sie entstehen. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

mäßiger Fleischkonsum (hoher Gehalt an Purinen → Abbau zu Harnsäure), eine genetische Veranlagung und Fehlbildungen der Harnwege (▶ Abb. 21.2). Eine Kolik entsteht, wenn sich ein zuvor festsitzender Stein löst und in den Harnwegen (meistens im Harnleiter) hängenbleibt. Die glatte Muskulatur arbeitet gegen das Abflusshindernis an und verursacht so die Schmerzen. Symptomatik • Das Leitsymptom der Nieren-/Harnleiterkolik ist ein einseitiger, schlagartig einsetzender, krampfartiger, wellenförmiger Flankenschmerz (▶ Abb. 21.3). Die Intensität wird von den Patienten meist als „noch nie da gewesen“ beschrieben. Die Schmerzen können in den Rücken und den Unterbauch ausstrahlen, aber auch in die Leiste, in das Skrotum bzw. in die Vulvalippen (v. a. bei einer Einklemmung des Steins im unteren Harntrakt). Oft versuchen die Patienten, ihren Schmerz durch Umherlaufen zu lindern oder sie nehmen eine vornübergebeugte Schonhaltung ein. Häufig bestehen begleitend vegetative Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Blässe, Kaltschweißigkeit und Tachykardie. Harndrang und blutiger Urin (S. 493) sind weitere mögliche Symptome. Anamnese und Untersuchung • Oft wissen die Patienten von ihren Harnsteinen. Bei der Untersuchung fallen ein Klopfschmerz in der Flankengegend und evtl. auch Schmerzen bei der Palpation der Bauchdecke auf.

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Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen sind v. a. bei rechtsseitiger Harnleiterkolik eine Gallenkolik (S. 348) und eine Appendizitis (S. 344), bei Schmerzen auf der linken Seite eine Sigmadivertikulitis (S. 345). Bei Frauen sind eine Eileiterentzündung oder eine Extrauteringravidität (S. 478) zu bedenken. Die Schmerzen bei entzündlichen Erkrankungen nehmen im Vergleich zur Harnleiterkolik i. d. R. jedoch stetig zu und treten nicht plötzlich auf. Weitere Ursachen für Flankenschmerzen sind z. B. ein Bandscheibenvorfall (S. 430) oder eine Lendenwirbelkörperfraktur (S. 384). Ein Zerreißungsschmerz mit Ausstrahlung in den Rücken kann auf ein akutes Aortensyndrom (S. 352) hindeuten.

! Merke Alarmzeichen Fieber

Die Kombination aus dumpfen Flankenschmerzen, Fieber und Krankheitsgefühl ist verdächtig auf eine Nierenbeckenentzündung oder eine beginnende Urosepsis. Diese Patienten müssen unbedingt stationär behandelt werden. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG, Körpertemperatur (Fieber als Infektzeichen) ● ggf. O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● Patienten beruhigen und seinem Wunsch entsprechend lagern. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Patienten während der Versorgung und des Transports immer wieder in eine neue Position bringen möchten. ● notärztliche Unterstützung anfordern zur Analgesie ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation ● Gehen Steine spontan ab, werden sie asserviert und in der Klinik zur weiteren Diagnostik übergeben. ●

Erweiterte Maßnahmen • Im Vordergrund steht eine ausreichende Analgesie mit dem spasmolytisch (krampflösend) wirksamen Metamizol (z. B. Novalgin®). Opioide werden nur gegeben, wenn dies die Schmerzen nicht ausreichend lin-

Notfälle der Nieren und der Harnwege dert. Eine VEL dient zum Offenhalten des i. v.-Zugangs und zum Einspülen der Medikamente in den Kreislauf. Der Nutzen von Butylscopolamin (z. B. Buscopan®) als Spasmolytikum in dieser Situation ist fraglich, laut der aktuellen Leitlinie sollte es nicht verabreicht werden. Da der Einsatz jedoch eine lange Tradition hat, wird es in der Praxis weiterhin häufig gegeben. Ergänzend kann ein Antiemetikum (S. 124), z. B. Dimenhydrinat (z. B. Vomex A®), und/oder ein Sedativum (S. 123), z. B. Midazolam (z. B. Dormicum®), appliziert werden.

21.3.3 Akutes Nierenversagen Fallbeispiel Auf dem Trockenen* Sie werden an einem heißen Sommerabend zu einer 70-jährigen Patientin in ein Altenwohnheim gerufen. Laut Pflegedienst hat sich deren Allgemeinzustand innerhalb der letzten 3 Tage verschlechtert. Nun sei sie nur noch auf laute Ansprache erweckbar und wirke apathisch. Die Atemfrequenz ist mit 26/ min beschleunigt. Während der Untersuchung bemerken Sie eine borkige Zunge und stehende Hautfalten. Die Patientin hat einen Blasenkatheter. Im Urinbeutel ist nur wenig Urin mit gelboranger Färbung zu sehen. Auf Nachfrage erfahren Sie, dass die Patientin in den letzten Tagen weniger getrunken habe als für sie üblich.

ACHTUNG Eine übermäßige Infusionstherapie und die Gabe von Diuretika sind kontraindiziert, da dies die Harnstauung verschlimmern kann!

Fallbeispiel Fortsetzung – Unerträgliche

*Fallbeispiel fiktiv

Flankenschmerzen Der Notfallsanitäter stellt aufgrund der typischen Symptome die Verdachtsdiagnose einer Harnleiterkolik und fordert aufgrund der starken Schmerzen notärztliche Unterstützung nach. Sie versuchen währenddessen, den Patienten zu beruhigen und bereiten einen i. v.-Zugang und 500 ml VEL als Infusion vor. Vitalparameter: AF: 22/min, SpO2: 99 %, RR: 150/85 mmHg, HF: 96/min, kein Fieber. Die kurz darauf eintreffende Notärztin legt den i. v.-Zugang und injiziert 1 g Metamizol, zusätzlich hängt sie 1,5 g Metamizol als (Kurz-)Infusion über die VEL an. Die Schmerzen lassen schon bald deutlich nach. Die Notärztin entscheidet, den Transport nicht zu begleiten. Während der Fahrt in eine Klinik mit urologischer Abteilung kommt der Patient ein wenig zur Ruhe.

Grundlagen Definition Akutes Nierenversagen Das akute Nierenversagen (ANV) bezeichnet einen plötzlichen (teilweisen oder kompletten) Ausfall der Nierenfunktion. Dieser ist i. d. R. innerhalb von Wochen bis Monaten reversibel. Jedes akute Nierenversagen kann unbehandelt in eine chronische, nicht mehr reversible Niereninsuffizienz übergehen (chronische Nierenschädigung). Akut kann das Nierenversagen im Rahmen eines Multiorganversagens (mit) zum Tod führen. Synonym • Akute Nierenschädigung Ursachen • ▶ Abb. 21.4 prärenales ANV: Die Ursache liegt vor der Niere, d. h., die Durchblutung der Nieren ist reduziert. – Volumenmangel: Dehydratation, Blutverlust, Durchfall, hypovolämischer Schock (S. 289) – systemische Vasodilatation (Gefäßerweiterung): anaphylaktischer (S. 290) oder septischer Schock (S. 292) – niedriges Herzzeitvolumen: kardiogener Schock (S. 289) ● intrarenales ANV: Die Ursache ist eine direkte Schädigung des Nierengewebes. – spezifische Nierenerkrankungen: Glomerulonephritis (Entzündung der Nierenkörperchen), Niereninfarkt – nierenschädigende Substanzen, z. B. bestimmte Antibiotika, NSAR, Röntgenkontrastmittel ● postrenales ANV: Die ableitenden Harnwege sind verlegt, der Harn staut sich zurück und schädigt die Nieren, z. B. bei angeborenen Fehlbildungen, durch Harnsteine, eine Prostatahyperplasie (gutartige Vergrößerung der Vorsteherdrüse), Tumoren oder einen verstopften Harnkatheter. ●

RETTEN TO GO Urolithiasis und Nieren-/Harnleiterkolik ●









Definition: Bei einer Nephro- bzw. Urolithiasis bilden sich Steine (Konkremente) in der Niere bzw. in den ableitenden Harnwegen. Unterschieden werden Nierensteine (Nephrolithiasis), Harnleitersteine (Ureterolithiasis), Harnblasensteine (Zystolithiasis) und selten Harnröhrensteine. Gehen die Steine in die Harnwege ab, können sie eingeklemmt werden und eine Nieren- oder Harnleiterkolik auslösen. Risikofaktoren: geringe Trinkmenge, Bewegungsmangel, starker Fleischkonsum, genetische Veranlagung, Fehlbildungen der ableitenden Harnwege Symptomatik bei Nieren-/Harnleiterkolik: sehr starke, einseitige, wellenförmige Flankenschmerzen, Unruhe, vegetative Begleitsymptome (Blässe, Kaltschweißigkeit, Übelkeit, Erbrechen) ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring inkl. Temperaturmessung; ggf. O2-Gabe. Lagerung nach Wunsch des Patienten, Positionswechsel ermöglichen; ggf. abgehende Steine asservieren; ggf. i.v-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: i. v.-Zugang für Analgesie (Metamizol), Spasmolyse, ggf. Antiemetikum und/oder Sedativum

Symptomatik Das Leitsymptom ist eine deutliche Abnahme der Urinmenge (S. 493). In der Folge sammeln sich harnpflichtige Substanzen (u. a. Kreatinin) im Blut an. Bei manchen Patienten besteht hingegen eine Polyurie (vermehrte Harnausscheidung). Abhängig vom Ausmaß der Nierenschädigung entwickeln sich weitere Symptome: ● unzureichende Ausscheidung von Wasser mit Ödembildung, z. B. Bein- und Lidödeme, aber auch evtl. ein Lungenödem mit Atemnot oder ein Hirnödem mit Apathie, Bewusstseinstrübung bis Koma oder Krampfanfällen

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Nephrologische und urologische Notfälle Abb. 21.4 Ursachen eines akuten Nierenversagens.

PRÄRENAL (VOR DER NIERE) Nierenarterie Aorta Niere

Ursache: verminderte Perfusion der Nieren Mögliche Auslöser: • systemische Vasodilatation • Volumenmangel z.B. bei septischem Schock z.B. bei Dehydratation, Blutverlust, Verbrennungen, • Abfall des Herzzeitvolumens hypovolämischem Schock z.B. bei kardiogenem Schock ➤ ca. 60 % aller Fälle von akutem Nierenversagen

INTRARENAL (IN DER NIERE) Ursache: direkte Schädigung des Nierengewebes Mögliche Auslöser: • nierenschädigende Substanzen z.B. NSAR, Antibiotika, Kontrastmittel

• Erkrankungen der Niere, z.B. Glomerulonephritis, Niereninfarkt

Harnleiter ➤ ca. 35 % aller Fälle von akutem Nierenversagen

POSTRENAL (HINTER DER NIERE) Ursache: Verengungen der ableitenden Harnwege (Harnstau) Mögliche Auslöser: • Tumoren • Harnsteine • vergrößerte Prostata • verstopfter Harnkatheter Harnblase Prostata

Harnröhre

➤ ca. 5 % aller Fälle von akutem Nierenversagen

Die häufigste Ursache des akuten Nierenversagens ist ein prärenaler Volumenmangel mit Minderdurchblutung der Niere. Aus: retten Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme; 2023









Juckreiz, Wadenkrämpfe, unkontrollierte Muskelkontraktionen Rückstau harnpflichtiger Substanzen (Urämie): vertiefte Atmung, evtl. Foetor uraemicus (Atem- und Körpergeruch nach Urin) Hyperkaliämie (S. 503) mit Gefahr von lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen erhöhte Infektionsgefahr mit Risiko einer Sepsis (S. 292)

ACHTUNG Eine normale oder gesteigerte Harnausscheidung schließt ein ANV nicht aus. Bei Patienten mit ANV ist die Gefahr von Herzrhythmusstörungen erhöht. Insbesondere eine Hyperkaliämie ist bedrohlich. Sie müssen daher den Herzrhythmus fortlaufend überwachen.

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG (Gefahr von Herzrhythmusstörungen!), Temperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen ● Lagerung: Oberkörper leicht erhöht; bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage ● O2-Gabe: 10–12 l/min, SpO2-abhängig, Zielbereich 92–96 % ● notärztliche Unterstützung anfordern ● ggf. Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen ● Vorbereiten von i. v.-Zugang, Infusion (balancierte VEL, z. B. Ringer-Azetat), ggf. Medikation und Intubation Erweiterte Maßnahmen • Bei respiratorisch oder hämodynamisch instabilen Patienten kann eine Intubationsnarkose indiziert sein. Bei Volumenmangel bzw. im Schock werden balancierte VEL (z. B. Ringer-Azetat) i. v. gegeben, bei einem hypertensiven Notfall Urapidil (z. B. Ebrantil®, ▶ Tab. 4.17), bei ausgeprägter Überwässerung und Lungenödem Diuretika wie Furosemid (S. 137) – nur bei erhaltener Rest-Harnausscheidung! Krampfanfälle werden mit Benzodiazepinen wie Midazolam (z. B. Dormicum®) durchbrochen. Der Patient wird zügig in eine Klinik mit nephrologischer und intensivmedizinischer Abteilung transportiert.

498

Notfälle der männlichen Geschlechtsorgane

Fallbeispiel Fortsetzung – Auf dem Trockenen Wegen der Bewusstseinstrübung fordern Sie notärztliche Unterstützung an. Das nächste NEF startet von einem weiter entfernten Standort und benötigt relativ lange an die Einsatzstelle. Ihr Kollege (Notfallsanitäter) und Sie gehen von einer ausgeprägten Dehydratation mit prärenalem Nierenversagen aus. Aufgrund der Somnolenz stellen Sie sich an den Kopf der Patientin und überwachen ihre Atmung. Darüber hinaus verabreichen Sie ihr 10 l O2/min über eine Inhalationsmaske. Ihr Kollege entscheidet sich für die Anlage eines i. v.-Zugangs (18 G) und schließt eine VEL zur Kreislaufstabilisierung an. Über ein EKG überwachen Sie kontinuierlich den Herzrhythmus. Nach Eintreffen des Notarztes transportieren Sie die Patientin in die nächste Klinik mit interdisziplinärer Intensivstation und Nephrologie, die etwa 20 Minuten entfernt ist.

21.4 Notfälle der männlichen Geschlechtsorgane 21.4.1 Akutes Skrotum Fallbeispiel Fußballspiel mit Folgen* Sie werden zu einem Fußballplatz alarmiert. Ein 15-jähriger Jugendlicher habe sich während des Spiels in der Leistenregion verletzt. Als Sie eintreffen, wurde der Patient bereits in den Sanitätsraum gebracht. Er habe aus heiterem Himmel starke Schmerzen im Hodensack verspürt. Die Schmerzen strahlten in die Leiste aus und ihm sei schlecht. Einen Schlag oder Tritt durch einen Mitspieler verneint er glaubhaft. Diskret inspizieren Sie den Skrotalbereich, der mäßig gerötet und geschwollen ist. Bei Palpation ist der Hoden druckschmerzhaft, sodass Sie von weiteren Manipulationen absehen.

RETTEN TO GO Akutes Nierenversagen ●









Definition: plötzlicher (kompletter oder teilweiser) Ausfall der Nierenfunktion, bei adäquater Behandlung i. d. R. reversibel Ursachen: – prärenales ANV: verminderte Nierendurchblutung, z. B. Dehydratation, Blutverlust, Schock – intrarenales ANV: Nierenerkrankungen (z. B. Glomerulonephritis), Medikamente (z. B. NSAR) – postrenales ANV: unterbrochener Harnabfluss, z. B. bei Prostatahyperplasie oder Harnsteinen Symptomatik: stark reduzierte Harnmenge, ggf. auch Polyurie; Überwässerung mit Ödemen an den Beinen, in der Lunge (Atemnot) und evtl. im Gehirn (Bewusstseinsstörungen bis Koma, Krampfanfälle), Juckreiz, Wadenkrämpfe, bei Hyperkaliämie Gefahr von Herzrhythmusstörungen ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (AF, SpO2, Puls, RR, Temperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen, EKG – Rhythmusstörungen!), O2-Gabe (10–12 l/min), Lagerung nach Zustand, Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen; i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: VEL i. v., ggf. Gabe von Diuretika, ggf. Blutdrucksenkung bzw. Krampfdurchbrechung, bei instabilen Patienten Narkose und Intubation

*Fallbeispiel fiktiv

Definition Akutes Skrotum Der Begriff „akutes Skrotum“ beschreibt akut auftretende, schmerzhafte Erkrankungen des Hodensacks (Skrotums) mit Gefahr einer Hodennekrose. Jedes akute Skrotum ist daher ein Notfall. Ursachen ● Hodentorsion (Samenstrangtorsion): Der Hoden dreht sich teilweise oder komplett um seinen „Stiel“, den Samenstrang (▶ Abb. 21.5a). Dadurch wird die Sauerstoffversorgung des Hodens unterbrochen, es droht eine Nekrose mit Organverlust. Betroffen sind v. a. Säuglinge, Kleinkinder und Teenager. Ausgelöst wird die Hodentorsion meistens durch abrupte Bewegungen beim Sport (ohne direkte Gewalteinwirkung), manchmal aber auch durch eine Drehung im Schlaf. ● Nebenhodenentzündung (Epididymitis): Meistens greift eine bakterielle Infektion aus der Harnröhre oder Prostata auf den Nebenhoden über. Betroffen sind v. a. Männer im mittleren und höheren Lebensalter. Symptomatik • Leitsymptome sind starke Schmerzen sowie eine Rötung und Schwellung des Hodensacks (▶ Abb. 21.5b). Die Schmerzen können in die Leiste oder den Unterbauch ausstrahlen. Typischerweise entwickeln sie sich bei einer Hodentorsion schlagartig, bei einer Nebenhodenentzündung eher langsam. Häufig bestehen vegetative Begleitsymptome wie Übelkeit/Erbrechen, Tachykardie, Blässe und Kaltschweißigkeit. Fieber ist ein Hinweis auf eine entzündliche Ursache. Differenzialdiagnosen • Abzugrenzen ist in erster Linie ein Hodentrauma. Eine Schmerzausstrahlung in den Bauch und die vegetative Begleitsymptomatik können einem akuten Abdomen (S. 336) ähneln. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG, Temperatur ● ggf. O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● Lagerung: nach Wunsch des Patienten. Hoden evtl. unterpolstern und hochlagern (Mullbinde, Watte) ●

499

21

Nephrologische und urologische Notfälle Abb. 21.5 Akutes Skrotum.

RETTEN TO GO Akutes Skrotum ●





a

b ●

a Hodentorsion: Der Hoden hat sich um den Samenstrang gedreht, die Sauerstoffversorgung des Gewebes ist unterbrochen. Aus: I care Pflege. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020 b Nebenhodenentzündung: Der Hodensack ist gerötet und geschwollen. Aus: Neurath M, Lohse A, Hrsg. Checkliste Anamnese und



Definition: akute, schmerzhafte Erkrankung des Hodensacks mit Gefahr einer Hodennekrose Ursachen: meist Samenstrangtorsion (Hodentorsion) oder Epididymitis (Entzündung des Nebenhodens) Symptomatik: starke Schmerzen in der Hodenregion mit Rötung und Schwellung, Ausstrahlung in die Leiste oder den Unterbauch, häufig vegetative Symptome wie Übelkeit/Erbrechen; Schmerzbeginn bei Hodentorsion meist schlagartig, bei Epididymitis eher langsam zunehmend ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring. Hoden unterpolstern und hochlagern, evtl. kühlen; i. v.Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA anfordern ToDo erweitert: Analgesie, ggf. Sedierung, zügiger Transport

klinische Untersuchung. 5. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

21.4.2 Priapismus ●

● ●

Mitunter lindert eine vorsichtige Kühlung des Hodens, z. B. mit einem Einmalkühlpack, die Schmerzen. notärztliche Unterstützung anfordern zur Analgesie Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation

Erweiterte Maßnahmen • Im Vordergrund steht die Analgesie mit Metamizol (z. B. Novalgin®) oder einem Opioid (z. B. Dipidolor®). Sehr agitierte Patienten können sediert werden. Die Patienten werden rasch in eine Klinik mit urologischer Abteilung transportiert.

! Merke Akutes Skrotum

Der Transport in die Klinik hat bei akutem Skrotum oberste Priorität! Nehmen Sie Sonder- und Wegerechte in Anspruch, da das Gewebe bei einer Hodentorsion nach spätestens 6 Stunden abstirbt.

Definition Priapismus Es besteht eine schmerzhafte Dauererektion ohne sexuelle Erregung über mindestens 2 Stunden. Ursache • Bekannte Auslöser sind einige Medikamente (z. B. Psychopharmaka) und Drogen (z. B. Marihuana, Kokain), Bluterkrankungen oder eine Schwellkörperautoinjektionstherapie bei erektiler Dysfunktion (dabei injiziert sich der Patient vor dem Geschlechtsverkehr selbst Medikamente in die Schwellkörper). Oft ist keine Ursache feststellbar („idiopathisch“). Symptomatik • Der Penis ist derb verhärtet, schmerzhaft und evtl. nach oben gekrümmt. Im Verlauf verfärbt er sich zunehmend livide und schwillt ödematös an.

! Merke Notfall Priapismus Fallbeispiel Fortsetzung – Fußballspiel mit Folgen Die Anamnese und das Alter des Jungen sprechen für eine Hodentorsion. Sie erkennen die Gefahr des Organverlustes und leiten unverzüglich den Transport in eine Klinik mit Urologie ein. Der Trainer informiert die Eltern über den Notfall, diese fahren separat in die Klinik. Durch eine sofortige operative Freilegung des Hodens wird die Diagnose bestätigt und die Torsion dauerhaft behoben.

Meistens drängt die Zeit, da der Rettungsdienst aus Schamgefühl oft erst spät alarmiert wird. Die Gefahr einer dauerhaften Störung der Sexualfunktion ist groß. Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG ● ggf. O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● Lagerung: nach Wunsch des Patienten, evtl. Unterpolsterung und vorsichtige Kühlung des Penis mit einer umwickelten Kompresse ● notärztliche Unterstützung anfordern zur Analgesie ● ggf. Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation Erweiterte Maßnahmen • Zur Analgesie werden Opioide i. v. gegeben, z. B. Piritramid oder Morphin, eine Sedierung kann notwendig/sinnvoll sein. Der Patient wird rasch in eine Klinik mit urologischer Abteilung transportiert.

500

Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts

RETTEN TO GO Priapismus ●









Definition: schmerzhafte Dauererektion ohne sexuelle Erregung Ursachen: meist keine Ursache zu finden, ggf. Drogen, Medikamente, andere Grunderkrankungen Symptomatik: derb verhärteter, schmerzhafter Penis, der im Verlauf zunehmend bläulich wird und anschwillt ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring. Penis unterpolstern und evtl. lokal kühlen; i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: Analgesie, ggf. Sedierung; zügiger Transport

Erweiterte Maßnahmen • Notärztliche Maßnahmen sind eine Analgesie und ein Versuch, die Vorhaut manuell zurückzustreifen: Dabei wird die Eichel über 2–5 min komprimiert und die Vorhaut anschließend wieder über die Eichel gestreift. Der Patient wird rasch in eine Klinik mit urologischer Abteilung transportiert.

RETTEN TO GO Paraphimose ●





21.4.3 Paraphimose ●

Definition Paraphimose Die Penisspitze wird durch eine zu enge Vorhaut abgeschnürt. ●

Ursache • Die Vorhaut ist zu eng (relative Phimose). Dies fällt erst auf, wenn die Vorhaut über die Eichel zurückgezogen wird (meist bei einer Erektion, aber z. B. auch beim Legen eines Katheters). Dabei kann die Vorhaut hinter der Eichel „eingeklemmt“ bleiben und diese abschnüren. Die Durchblutung ist eingeschränkt, es besteht Nekrosegefahr.

Definition: Abschnürung der Penisspitze (Eichel) durch eine zu enge Vorhaut Ursachen: Die Vorhaut lässt sich nach dem Zurückziehen (z. B. bei Erektion oder Legen eines Katheters) nicht mehr zurückstreifen und klemmt die Penisspitze ab. Symptomatik: schmerzhafte Schwellung und evtl. bläuliche Verfärbung der Eichel; geschwollene Vorhaut als Schnürring erkennbar ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, Hoden und Penis evtl. unterpolstern; i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: Analgesie; evtl. manuelle Reposition der Vorhaut durch NA; zügiger Transport

21.5 Störungen des Wasserund Elektrolythaushalts

Symptomatik • Die freiliegende Eichel ist schmerzhaft geschwollen und evtl. bläulich verfärbt. Die zurückgestreifte Vorhaut ist als Schnürring erkennbar und ebenfalls deutlich geschwollen (▶ Abb. 21.6).

21.5.1 Störungen des Natrium- und Wasserhaushalts

Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG ● ggf. O2-Gabe: initial 2–4 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● Lagerung: nach Wunsch des Patienten, evtl. Unterpolsterung von Penis und Hoden ● notärztliche Unterstützung anfordern zur Analgesie ● ggf. Vorbereiten von i. v.-Zugang, VEL und Medikation

Definition Natrium- und Wasserhaushalt



Grundlagen ●



● ●

Dehydratation (Hypohydratation, Austrocknung, Exsikkose): Die Flüssigkeitsmenge im Körper ist reduziert. Hyperhydratation (Überwässerung): Die Flüssigkeitsmenge im Körper ist erhöht. Hyponatriämie: Na+-Konzentration im Serum < 135 mmol/l Hypernatriämie: Na+-Konzentration im Serum > 145 mmol/l

Überblick Abb. 21.6 Paraphimose.

Pathophysiologie und Ursachen • Für die physiologischen Grundlagen siehe das Kapitel Wasser- und Elektrolythaushalt (S. 83). Im Vergleich zum Wasserangebot kann der Na+Gehalt im Serum normal (isoton), erhöht (hyperton) oder vermindert (hypoton) sein, siehe ▶ Tab. 21.1. Bei Veränderungen des osmotischen Drucks ist zunächst der Extrazellularraum betroffen. Hier ist wieder die Na+-Konzentration entscheidend: Durch den Ein- oder Ausstrom von Wasser ändert sich auch der osmotische Druck in den Zellen: ● hypertone Störungen: Wasser strömt aus den Zellen in den Extrazellularraum. ● hypotone Störungen: Wasser strömt aus dem Extrazellularraum in die Zellen. ● isotone Störungen: Der osmotische Druck ist unverändert, es gibt keine Flüssigkeitsverschiebungen zwischen den Zellen und dem Extrazellularraum.

Die Vorhaut ist angeschwollen und schnürt die Penisspitze ab. Aus: Sökeland J, Rübben H, Hrsg. Taschenlehrbuch Urologie. 14. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2007

501

21

Nephrologische und urologische Notfälle

Tab. 21.1 Störungen des Natrium- und Wasser-Haushalts. Osmolalität

Flüssigkeit extrazellulär

Flüssigkeit intrazellulär

Na+-Konzentration (extrazellulär)

Ursachen (Beispiele)*

isoton







Erbrechen, Durchfall, Verbrennungen (S. 398), Blutverlust

hyperton







diabetisches Koma (S. 356), Durst, Schwitzen, hohes Fieber

hypoton







Unterfunktion der Nebennieren (S. 361), Hitzekrämpfe (S. 406), chronisches Erbrechen, Einnahme von Diuretika

Normohydratation

isoton







Normalzustand

Hyperhydratation

isoton







Herzinsuffizienz (S. 306), Leberzirrhose (S. 347), Niereninsuffizienz

hyperton







Trinken von stark salzhaltigem Wasser (z. B. Meerwasser)

hypoton







Niereninsuffizienz, Trinken von destilliertem Wasser, Glukose-Infusionen

Dehydratation

↔ unverändert, ↑ erhöht, ↓ vermindert * Es gibt fließende Übergänge und der tatsächliche Zustand hängt auch von anderen Faktoren ab. Die exemplarisch aufgeführten Ursachen führen demnach nicht zwingend nur zu dem einen genannten Störungsbild. Zudem sind manche Störungsbilder in der Realität deutlich häufiger als andere anzutreffen.

Dehydratation Isotone Dehydratation • Wasser und Elektrolyte gehen in gleichem Ausmaß verloren. Das Flüssigkeitsvolumen im Extrazellularraum ist reduziert, die Osmolalität bleibt aber extra- und intrazellulär unverändert. Deshalb ist kein Einoder Ausstrom von Wasser zu beobachten und das Flüssigkeitsvolumen in den Zellen ändert sich nicht. Hypertone Dehydratation • Es geht mehr Wasser als Elektrolyte verloren. Zunächst ist dadurch das Flüssigkeitsvolumen im Extrazellularraum vermindert, gleichzeitig steigt dort die Osmolalität. Deshalb strömt so lange Wasser aus den Zellen in den Extrazellularraum, bis ein osmotisches Gleichgewicht hergestellt ist. Am Ende ist das Flüssigkeitsvolumen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Zellen vermindert. Hypotone Dehydratation • Es gehen mehr Elektrolyte als Wasser verloren. Zunächst sind sowohl das Flüssigkeitsvolumen als auch die Osmolalität im Extrazellularraum vermindert. Wegen der niedrigeren Osmolalität strömt Wasser in die Zellen ein. Am Ende ist das Gesamtflüssigkeitsvolumen vermindert, das Flüssigkeitsvolumen in den Zellen aber relativ erhöht.

! Merke Risikogruppen für Dehydratation

Aufgrund physiologischer Besonderheiten haben Kinder (S. 526) und alte Menschen (S. 531) ein deutlich erhöhtes Risiko, eine schwerwiegende Dehydratation zu entwickeln.

Hyperhydratation Isotone Hyperhydratation • Das Flüssigkeitsvolumen außerhalb der Zellen ist erhöht, die Osmolalität bleibt jedoch innerhalb und außerhalb der Zellen unverändert. Daher verändert sich das Flüssigkeitsvolumen in den Zellen nicht.

502

Hypertone Hyperhydratation • Es werden zu viel Wasser und Elektrolyte aufgenommen, wobei die Salzaufnahme überwiegt. Zunächst sind sowohl das Flüssigkeitsvolumen als auch die Osmolalität im Extrazellularraum erhöht. Daher strömt Wasser aus den Zellen in den Extrazellularraum. Letztlich ist das Gesamtflüssigkeitsvolumen erhöht, das Flüssigkeitsvolumen in den Zellen aber relativ vermindert. Hypotone Hyperhydratation • Durch die übermäßige Aufnahme elektrolytarmen Wassers nimmt zunächst das Flüssigkeitsvolumen außerhalb der Zellen zu, gleichzeitig ist dort die Osmolalität vermindert. Deshalb strömt so lange Wasser in die Zellen, bis ein osmotisches Gleichgewicht hergestellt ist. Letztlich ist sowohl in den Zellen als auch außerhalb das Flüssigkeitsvolumen erhöht.

Symptomatik Symptome bei Dehydratation ● Durst, trockene Haut und Schleimhäute, stehende Hautfalten (▶ Abb. 21.7), borkige Zunge ● reduzierte Harnproduktion bis zur Anurie ● Benommenheit, Krampfanfälle, Koma ● arterielle Hypotonie und Tachykardie, letztlich hypovolämischer Schock (S. 289)

! Merke Stehende Hautfalten

Ein typischer Hinweis auf eine Dehydratation ist das Stehenbleiben von Hautfalten, die durch Zug an der Haut – z. B. am Handrücken – erzeugt werden. Normalerweise bilden sie sich schnell zurück (abhängig vom Alter und vom Ernährungszustand). Symptome bei Hyperhydratation Gewichtszunahme, prominente Halsvenen, Aszites ● Lungenödem mit Dyspnoe, Orthopnoe und feuchten Rasselgeräusche ● arterielle Hypertonie ● Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Koma ●

Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts Abb. 21.7 Exsikkose.





Eine auf dem Handrücken frisch gezogene Hautfalte verstreicht nicht von selbst wieder, sondern bleibt stehen. Aus: Füeßl H, Middeke



M, Hrsg. Duale Reihe Anamnese und klinische Untersuchung. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022 ●

Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG, Temperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen ● Lagerung: – Dehydratation: Oberkörper leicht erhöht; bei Schockzeichen Flachlagerung oder ggf. Schocklagerung (S. 288), bei Bewusstlosigkeit stabile Seitenlage – Hyperhydratation: möglichst mit erhöhtem Oberkörper, ggf. Beine tief ● O2-Gabe: 4–6 l/min, bei Dyspnoe oder reduzierter SpO2: 10–12 l/min, Ziel-SpO2: 92–96 % ● Vorbereiten von i. v.-Zugang und VEL ● ggf. notärztliche Unterstützung nachfordern Erweiterte Maßnahmen ● Dehydratation: Volumentherapie mit balancierten Vollelektrolytlösungen (VEL). Auch bei Patienten mit Niereninsuffizienz oder (potenzieller) Hyperkaliämie können VEL wie Ringer-Azetat verwendet werden. Es ist nicht zu befürchten, dass eine etwaige Hyperkaliämie dadurch verschlimmert wird. ● Hyperhydratation: ggf. Behandlung einer Herzinsuffizienz (S. 307) bzw. eines Nierenversagens (S. 498), Gabe von Diuretika (S. 137) wie Furosemid (20–40 mg i. v.)

RETTEN TO GO Veränderungen des Natrium- und Wasserhaushalts ●

Definitionen: – Dehydratation (Austrocknung, Exsikkose): Die Flüssigkeitsmenge im Körper ist reduziert. – Hyperhydratation (Überwässerung): Die Flüssigkeitsmenge im Körper ist erhöht. – Hyponatriämie: Serumnatrium < 135 mmol/l – Hypernatriämie: Serumnatrium > 145 mmol/l – Im Vergleich zum Wasserangebot kann der Na+-Gehalt im Serum normal (isoton), erhöht (hyperton) oder vermindert (hypoton) sein.

Ursachen: – isotone Dehydratation: z. B. Erbrechen, Durchfall – hypertone Dehydratation: z. B. diabetisches Koma, Dursten, Schwitzen, hohes Fieber – hypotone Dehydratation: z. B. Nebenniereninsuffizienz – isotone Hyperhydratation: z. B. Herz- oder Niereninsuffizienz, Leberzirrhose – hypotone Hyperhydratation: z. B. Niereninsuffizienz, Glukose-Infusionen Symptome: – Dehydratation: Durst, Trockenheit der Haut und der Schleimhäute, stehende Hautfalten, borkige Zunge, reduzierte Harnproduktion, Benommenheit, Krampfanfälle, Koma, arterielle Hypotonie bis zum Schock – Hyperhydratation: Gewichtszunahme, Dyspnoe, prominente Halsvenen, Aszites, arterielle Hypertonie, Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Koma ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring, i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA anfordern ToDo erweitert: – Dehydratation: Volumentherapie mit VEL – Hyperhydratation: ggf. Behandlung einer Herzinsuffizienz bzw. eines Nierenversagens, Gabe von Diuretika (z. B. Furosemid)

21.5.2 Hyperkaliämie Definition Hyperkaliämie Kaliumkonzentration im Serum > 5,5 mmol/l, notfallmedizinisch relevant sind meist Spiegel > 6 mmol/l. Ursachen ● verminderte Ausscheidung von K+ über die Nieren, z. B. bei Niereninsuffizienz oder durch Medikamente (z. B. kaliumsparende Diuretika, ACE-Hemmer) ● erhöhte Freisetzung von K+ aus den Zellen, z. B. bei großflächigen Verbrennungen (S. 398), Zerfall von roten Blutkörperchen (Hämolyse) oder Skelettmuskelzellen (Rhabdomyolyse) sowie bei einer metabolischen Azidose (S. 505), wenn der Körper versucht, die H+-Konzentration im Blut zu senken (vermehrte Aufnahme von H+ in die Zellen, im Gegenzug vermehrte Freisetzung von K+)

! Merke Hyperkaliämie und Niereninsuffizienz

Da Kalium zum Großteil über die Nieren ausgeschieden wird, sind v. a. Patienten mit chronischer oder akuter Niereninsuffizienz durch eine Hyperkaliämie gefährdet. Pathophysiologie • Eine Hyperkaliämie verändert die Erregbarkeit der Herzmuskelzellen: Zunächst nimmt die Erregbarkeit und damit die Gefahr für Tachykardien und Rhythmusstörungen zu. Steigt der Kaliumspiegel weiter, sinkt die Erregbarkeit wieder ab. Die Folge sind Bradykardien, letztlich eine Asystolie. Die Erregbarkeit der Skelettmuskulatur ist gestört, die Folge sind u. a. schlaffe Lähmungen.

! Merke Kalium und Reanimation

Sowohl die Hyperkaliämie als auch die Hypokaliämie sind wichtige und reversible Ursachen eines Herz-Kreislauf-Stillstands (S. 316). Eine Reanimation bis in die Zielklinik mit Möglichkeit zur Dialyse hat bei diesen Patienten durchaus Chancen auf einen guten Erfolg. Mechanische Reanimationshilfen (S. 323) können dabei von Vorteil sein. 503

21

Nephrologische und urologische Notfälle Abb. 21.8 EKG-Veränderungen bei Hyperkaliämie.



Serum-Kalium-Spiegel (mmol/l) 4,0

6,0

8,0

Je höher der Kaliumspiegel ist, umso flacher ist die P-Welle und höher und umso spitzer die T-Welle. Bei schwerer Hyperkaliämie ist der (deformierte) QRS-Komplexes verbreitert. Aus: Trappe HJ, Schuster HP: EKG-Kurs für Isabel. 8. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

Symptomatik • Die unspezifischen Symptome lassen sich im RD nicht zuverlässig einer Hyperkaliämie zuordnen: ● neuromuskuläre Störungen: Schwäche, Lähmungen, Gefühlsstörungen, abgeschwächte Reflexe ● Störungen der kardialen Erregungen: EKG-Veränderungen (▶ Abb. 21.8), ventrikuläre Tachykardien, Bradykardie, letztlich Herz-Kreislauf-Stillstand durch Kammerflimmern oder Asystolie Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG (!), Körpertemperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen ● Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen, ggf. kardiopulmonale Reanimation (S. 318) ● Lagerung: Oberkörper leicht erhöht, sonst nach Zustand ● O2-Gabe: 4–6 l/min, SpO2-abhängig, Ziel: 92–96 % ● i. v.-Zugang, VEL, Medikation und Intubation vorbereiten ● notärztliche Unterstützung nachfordern Erweiterte Maßnahmen • Eine Hyperkaliämie kann präklinisch in der Regel nicht objektiviert und erst in der Zielklinik adäquat therapiert werden. Eine notärztliche Option bei nicht reanimationspflichtigen Patienten ist die Inhalation von Salbutamol (bis zu 20 mg, ▶ Tab. 4.25), um temporär Kalium in die Zellen zu verschieben. Weitere Möglichkeiten sind Schleifendiuretika wie Furosemid (20–40 mg i. v.), v. a. bei Hypervolämie und erhaltener Restdiurese. Um die Erregungsüberleitung im Herz zu stabilisieren, kann Kalziumchlorid (10 ml 10 %) oder Kalziumglukonat (30 ml 10 %) sehr langsam i. v. appliziert werden.

RETTEN TO GO Hyperkaliämie ● ●



Definition: Serumkaliumspiegel > 5,5 mmol/l Ursachen: – verminderte Kaliumausscheidung bei Niereninsuffizienz oder Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. kaliumsparende Diuretika, ACE-Hemmer) – vermehrte Kaliumfreisetzung aus Zellen, z. B. bei Untergang von Muskelgewebe, Hämolyse, Verbrennungen oder metabolischer Azidose Symptomatik: Schwäche, Lähmungen, Parästhesien; Gefahr von Herzrhythmusstörungen bis zum HerzKreislauf-Stillstand



ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring (EKG!); Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen; Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper; i. v.Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA anfordern ToDo erweitert (Behandlung von Kaliumverschiebungen nur durch NA): evtl. Inhalation mit Salbutamol, Gabe von Schleifendiuretika (z. B. Furosemid), balancierte VEL, ggf. Reanimation bis zur Zielklinik fortsetzen, mechanische Reanimationshilfen nutzen

21.5.3 Hypokaliämie Definition Hypokaliämie Kaliumkonzentration im Serum < 3,5 mmol/l, bei schwerer Hypokaliämie < 2,5 mmol/l Ursachen • Die häufigste Ursache ist eine Behandlung mit bestimmten Diuretika (S. 137), die z. B. gegen Bluthochdruck eingenommen werden. Weitere Ursachen sind Erbrechen, Durchfall, der Missbrauch von Abführmitteln, Mangelernährung, Alkalosen und die Überdosierung von Insulin. Pathophysiologie • Ein Abfall des Kaliumspiegels steigert die Erregbarkeit der Herzmuskelzellen und der Schrittmacherzellen im Sinusknoten. In der Folge steigt das Risiko für Herzrhythmusstörungen, Extrasystolen und Tachykardien bis zum Kammerflimmern. In der Skelettmuskulatur und im Verdauungstrakt sinkt die Erregbarkeit. Die Folgen sind Muskelschwäche, abgeschwächte Reflexe und eine verminderte Darmtätigkeit bis zu einem paralytischen Ileus. Symptomatik • Die unspezifischen Symptome sind im RD nicht zuverlässig einer Hypokaliämie zuzuordnen: ● Verstopfung bis zum paralytischen Ileus ● neuromuskuläre Störungen: Lähmungen, abgeschwächte Reflexe, Muskelschwäche (inkl. Atemmuskulatur) ● Störungen der kardialen Erregung: EKG-Veränderungen (▶ Abb. 21.9), Extrasystolen, Arrhythmien, letztlich HerzKreislauf-Stillstand Basismaßnahmen zur Versorgung des Patienten Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG (!), Körpertemperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen ● Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen. ● Lagerung: Oberkörper leicht erhöht, sonst nach Zustand ● O2-Gabe: 4–6 l/min, SpO2-abhängig, Zielbereich 92–96 % ● i. v.-Zugang, VEL, ggf. Medikation, Intubation vorbereiten ● notärztliche Unterstützung nachfordern ●

Abb. 21.9 EKG-Veränderungen bei Hypokaliämie. Serum-Kalium-Spiegel (mmol/l) T U

4,0

2,0

T

U

1,0

T

U

T

U

Bei sinkendem Serum-Kalium-Spiegel wird die T-Welle flacher und die U-Welle betonter. Aus: Trappe HJ, Schuster HP: EKG-Kurs für Isabel. 8. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

504

3,0

Azidosen und Alkalosen Erweiterte Maßnahmen • Präklinisch sind keine weiteren Maßnahmen bezüglich der Hypokaliämie möglich, ggf. wird eine kardiopulmonale Reanimation (S. 318) durchgeführt. In der Klinik wird Kalium unter engmaschiger Kontrolle des Kaliumspiegels und des Herzrhythmus i. v. substituiert.

RETTEN TO GO Hypokaliämie ● ●







Definition: Serumkaliumspiegel < 3,5 mmol/l Ursachen: am häufigsten bestimmte Diuretika; Erbrechen, Durchfall, Abführmittel, Mangelernährung, Funktionsstörungen der Niere, Überdosierung von Insulin Symptomatik: unspezifisch; evtl. Verstopfung, Schwäche und Lähmungen; EKG-Befund: u. a. Extrasystolen und Arrhythmien; Gefahr eines Herz-Kreislauf-Stillstands ToDo Basis: Vitalfunktionen sicherstellen, Basismonitoring (EKG!); Beatmungs- und Defibrillationsbereitschaft herstellen, Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper, ggf. i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: ggf. kardiopulmonale Reanimation

21.6 Azidosen und Alkalosen 21.6.1 Grundlagen Definition Azidosen und Alkalosen ● ●

Azidose: Übersäuerung des Blutes, pH-Wert < 7,37 Alkalose: Alkalisierung des Blutes, pH-Wert > 7,43

Übersicht • Für die physiologischen Grundlagen siehe das Kapitel Säure-Basen-Haushalt (S. 85). Nach der Ursache werden atembedingte (respiratorische) und stoffwechselbedingte (metabolische) Störungen unterschieden, die sich mit der Blutgasanalyse (S. 207) differenzieren lassen (▶ Tab. 21.2).

Azidosen Respiratorische Azidose • Die Ursache ist eine verminderte Belüftung der Lungen (Hypoventilation), z. B. als Folge einer Atemdepression durch Opioide oder Benzodiazepine (S. 512), bei COPD (S. 264) oder aufgrund eines SchädelHirn-Traumas (S. 379) mit Beeinträchtigung des Atemzentrums: Die O2-Aufnahme und in der Folge der pO2 im Blut ist verringert (Hypoxämie). Gleichzeitig ist die Abgabe von CO2 vermindert, der pCO2 im Blut steigt an (Hyperkapnie). Das Gleichgewicht des Bikarbonat-Puffers verschiebt sich und es entstehen vermehrt freie Wasserstoffionen (H+). Der

Tab. 21.2 Blutgasanalyse bei Azidosen und Alkalosen. Veränderung

pH-Wert

HCO3–*

pCO2

Azidose

metabolisch







respiratorisch







metabolisch







respiratorisch







Alkalose

pH-Wert des Blutes fällt ab (Azidose). Kompensatorisch steigern die Nieren die Abgabe von H+. Metabolische Azidose gesteigerte Bildung von H+ im Stoffwechsel, z. B. bei diabetischer Ketoazidose (S. 356) oder lange andauerndem Hungerstoffwechsel ● verminderte Ausscheidung von H+ über die Nieren, z. B. bei Niereninsuffizienz ● Verlust von Bikarbonat, z. B. über den Darm bei Durchfall ●

Als Kompensationsmechanismus steigert der Körper die Atmung, um die überschüssigen H+ durch eine stärkere CO2Abatmung zu eliminieren. Gleichzeitig wird die renale Ausscheidung von H+ gesteigert.

ACHTUNG Bei Azidosen besteht die Gefahr einer Hyperkaliämie (S. 503) mit lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen.

Alkalosen Respiratorische Alkalose • Die Ursache ist eine über den aktuellen Bedarf hinaus gesteigerte Atmung (Hyperventilation), z. B. psychogen (S. 270), bei Fieber oder bei Störungen im Bereich des Gehirns. Dadurch wird zu viel CO2 abgeatmet und der pCO2 im Blut sinkt (Hypokapnie). Das Gleichgewicht des Bikarbonat-Puffers verschiebt sich, der pH-Wert steigt an. Die Nieren hemmen als Gegenmaßnahme die Ausscheidung von H+-Ionen und steigern die Ausscheidung von Bikarbonat. Die Alkalose führt dazu, dass Bluteiweiße verstärkt H+ freisetzen, um die pH-Wert-Verschiebung abzupuffern. Dadurch entstehen Bindungsstellen an den Eiweißen, an die sich ionisiertes Kalzium aus dem Serum anheften kann. Es resultiert eine relative Hypokalzämie. Metabolische Alkalose • Typische Ursachen sind Erbrechen mit Verlust von saurem Magensaft oder eine Therapie mit bestimmten Diuretika. Die Konzentration von H+-Ionen im Serum fällt ab, der pH-Wert steigt an. Der Körper kann durch eine Reduktion der Atmung mit Zurückhalten von CO2 nur bedingt einen Ausgleich schaffen, da sonst ein Sauerstoffmangel entsteht.

21.6.2 Symptomatik Respiratorische Azidose • Die Störung führt (je nach Ausprägung) zu Angst- und Verwirrtheitszuständen oder letztlich zu einem hyperkapnischen Koma. Eine gleichzeitige Hypoxämie ist häufig an einer Zyanose erkennbar. Die Hypoventilation zeigt sich evtl. als Dys- oder Bradypnoe. Durch eine reaktive Aktivierung des Sympathikus besteht eine Tachykardie. Metabolische Azidose • Auch bei diesen Patienten bestehen Bewusstseinsstörungen. Im Koma zeigen sie evtl. eine stark vertiefte Kußmaul-Atmung (▶ Tab. 8.2) als Zeichen der respiratorischen Kompensationsversuche. Respiratorische Alkalose • Die Atmung ist vertieft und beschleunigt. Vor allem bei Angst, Parästhesien und Pfötchenstellung der Hände ist von einer Hyperventilationstetanie (S. 270) auszugehen. In schweren Fällen sind Bewusstseinsstörungen möglich.

↔ unverändert, ↑ erhöht, ↓ vermindert *bezogen auf das Standardbikarbonat

505

21

Nephrologische und urologische Notfälle Metabolische Alkalose • Der Körper versucht, durch eine reduzierte Atemtätigkeit CO2 im Körper zurückzuhalten: Die Atmung der Betroffenen ist flach. Im Verlauf sind Tetanien und Bewusstseinsstörungen möglich.

21.6.3 Versorgung des Patienten Basismaßnahmen ● Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sichern ● Basismonitoring (S. 198): AF, SpO2, Puls, RR, EKG, Körpertemperatur, bei Bewusstseinsstörungen BZ messen ● Lagerung: Oberkörper leicht erhöht, sonst nach Zustand ● ggf. O2-Gabe, initial 4–6 l/min, SpO2-Ziel: 92–96 % ● i. v.-Zugang, VEL, ggf. Medikation, Intubation vorbereiten ● ggf. notärztliche Unterstützung nachfordern Erweiterte Maßnahmen ● respiratorische Azidose: ggf. Intubation und Beatmung, bei Intoxikation mit Opioiden oder Benzodiazepinen (S. 512) Gabe des Antidots (Naloxon 0,4 mg i. v./i. m. bzw. Flumazenil 0,2 mg i. v.) ● metabolische Azidose: O2-Gabe (6–8 l/min, SpO2-abhängig, Zielbereich 92–96 %) ● respiratorische Alkalose: symptomatische Therapie, bei psychogener Hyperventilation Beruhigung des Patienten und Rückatmung von CO2 ● metabolische Alkalose: symptomatische Therapie

RETTEN TO GO Azidosen und Alkalosen ●







506

Definition: – Azidose: Übersäuerung des Blutes, pH-Wert < 7,37 – Alkalose: Alkalisierung des Blutes, pH-Wert > 7,43 Ursachen: atembedingte (respiratorische) und stoffwechselbedingte (metabolische) Störungen – respiratorische Azidose: zu geringe Belüftung der Lungen → zu geringe Abatmung von CO2 (Hyperkapnie), z. B. bei Intoxikationen (Opioide, Benzodiazepine) oder Schädel-Hirn-Trauma – metabolische Azidose: z. B. diabetische Ketoazidose, Hungerstoffwechsel, Niereninsuffizienz – respiratorische Alkalose: gesteigerte Atmung → zu starke Abatmung von CO2 (Hypokapnie), z. B. psychogen oder bei Fieber – metabolische Alkalose: Erbrechen, Diuretika Symptomatik: – respiratorische Azidose: Angst- und Verwirrtheitszustände, Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, Zeichen der Dyspnoe, evtl. Zyanose – metabolische Azidose: Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, evtl. stark vertiefte Kußmaul-Atmung – respiratorische Alkalose: Parästhesien, Pfötchenstellung der Hände – metabolische Alkalose: eher flache Atmung, Tetanien, Bewusstseinsstörungen ToDo Basis: Vitalfunktionen sichern, Basismonitoring. Lagerung mit leicht erhöhtem Oberkörper; ggf. i. v.-Zugang, VEL, Medikamente vorbereiten; NA nachfordern ToDo erweitert: ggf. Intubation und Beatmung; bei Intoxikation mit Opioiden oder Benzodiazepinen Gabe des Antidots (Naloxon bzw. Flumazenil); bei psychogener Hyperventilation Beruhigung des Patienten und Rückatmung von CO2 (z. B. in eine Tüte)

21.7 Besonderheiten bei Kindern Grundsätzlich hat die Anamnese eine große Bedeutung, sie ist jedoch bei Kleinkindern nur eingeschränkt möglich. Auch projizieren Kinder Schmerzen häufig in den Bauchraum (S. 352). Eine klare Unterscheidung zwischen einem akuten Abdomen (S. 336) und einem urologischen/nephrologischen Notfall ist somit nicht immer möglich. Die Hodentorsion ist eine typische Erkrankung bei männlichen Säuglingen, Kleinkindern und Teenagern. Störungen des Wasser-Elektrolyt-Haushalts kommen u. U. bei Hitzeerschöpfung (S. 406) vor (z. B. bei Sportwettkämpfen in der Schule oder in der Freizeit). Im Rahmen der Erstmanifestation eines Diabetes mellitus Typ 1 (S. 356) bei Kindern und Jugendlichen kann sich neben einer ausgeprägten Dehydratation eine Ketoazidose (metabolische Azidose) entwickeln. In Stresssituationen können auch Kinder und Jugendliche eine Hyperventilationstetanie (S. 270) zeigen.

22

Intoxikationen

22.1 Allgemeine Toxikologie 22.1.1 Einführung Definition Intoxikation Unter einer Intoxikation (Vergiftung) versteht man die Aufnahme von schädlich wirkenden Substanzen in den Körper. Die Substanzen können dabei durch Verschlucken, Einatmen, über die Haut/ Schleimhaut oder intravenös aufgenommen werden – und zwar absichtlich oder unabsichtlich. Zusätzlich wird als Intoxikation auch die klinisch in Erscheinung tretende Vergiftung bezeichnet. Die Toxikologie ist die Wissenschaftsdisziplin, die die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Stoffen auf den Organismus untersucht. Grundsätzlich werden abhängig von der Einwirkzeit des Gifts akute und chronische Vergiftungen unterschieden. Chronische Vergiftungen entstehen durch die dauerhafte Aufnahme für sich allein nicht giftiger Mengen einer bestimmten Substanz, z. B. bei langjährigem Alkoholabusus oder Giftexposition am Arbeitsplatz. Im Rettungsdienst spielen solche chronischen Vergiftungen eine untergeordnete Rolle, daher werden im Weiteren hauptsächlich akute Vergiftungen detailliert besprochen: Diese sind charakterisiert durch eine einmalige oder in kurzen Abständen wiederholte Aufnahme hoher Dosen einer giftigen Substanz. Der Schweregrad der Vergiftung ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Art und Giftigkeit der Noxe sind entscheidend. Je größer die aufgenommene Menge ist und je schneller das Gift aufgenommen wird, umso schlechter. Ein wichtiger Faktor ist auch die Möglichkeit der Elimination 508

des Giftes: Je langsamer das Gift aus dem Organismus entfernt werden kann, desto schlechter für den Betroffenen. Dosis sola venenum facit – die Dosis alleine macht das Gift. Schon Paracelsus (1493–1541) wusste, dass fast jede Substanz – abhängig von der Dosis – als Gift wirken kann. Entsprechend vielfältig sind die Substanzen, mit denen Menschen sich vergiften. Die häufigsten sind: ● Alkohol (S. 515) und illegale Drogen (S. 512), z. B. Heroin, Kokain, Ecstasy, Cannabis, Amphetamine wie Crystal Meth ● Arzneimittel aller Art (S. 512), v. a. Schlaf- und Beruhigungsmittel, Psychopharmaka, Substanzen gegen Epilepsie, Schmerzmittel, Herz-Kreislauf-Medikamente, Diabetes-Medikamente ● Haushaltschemikalien (z. B. Frostschutzmittel, Klebstoffe, Reinigungsmittel) ● Pflanzenschutzmittel (S. 519), z. B. E605 ● Gift aus Pflanzen oder Pilzen (S. 516), z. B. Tollkirsche, Herbstzeitlose, Knollenblätterpilz ● tierische Gifte (S. 518), z. B. Schlangengift ● Atemgifte, z. B. Kohlenmonoxid (S. 276), Kohlendioxid (S. 275), „Schnüffelstoffe“

22.1.2 Aufnahme des Giftes Gifte können auf verschiedenen Wegen in den Körper und letztlich ins Blut und in die Organe gelangen: ● oral: Medikamente (Tabletten oder Tropfen), illegale Drogen (z. B. Ecstasy), Alkohol, Pflanzen, Pilze, Pflanzenschutzmittel, Haushaltschemikalien ● inhalativ (Atemgifte): z. B. Blausäure (Zyanide), Kohlenmonoxid (CO), Kohlendioxid (CO2), Schwefelwasserstoff, „Schnüffelstoffe“ (z. B. Klebstoff oder Lösungsmittel) ● transdermal (über die Haut oder Schleimhäute): z. B. Organophosphate (z. B. E605), Opioide (z. B. „Schmerzpflaster“

Einführung Allgemeine Toxikologie

▶S. 508

Aufnahme des Giftes Entgiftung

▶S. 508

▶S. 509

Anamnese Grundlagen

▶S. 510

Untersuchung

▶S. 510

Versorgung der Patienten

▶S. 511

Vergiftungen durch Medikamente und illegale Drogen Vergiftungen durch Alkohol Spezielle Vergiftungen

Vergiftungen durch Pflanzen, Pilze und Tiere

▶S. 512

▶S. 515

▶S. 516

Lebensmittelvergiftungen ▶S. 519 Vergiftungen durch Insektizide ▶S. 519 Vergiftungen durch Zyanide



mit Fentanyl), Schnupfen von Kokain oder Crystal Meth, Substanzmissbrauch über die Schleimhäute von Mund, Rektum oder Vagina parenteral: z. B. i. v.-Konsum von Drogen (z. B. Heroin), Bisse oder Stiche durch Tiere (z. B. Schlange)

Wurde der Giftstoff in den Körper aufgenommen, verteilt er sich im Organismus (Distribution) und wird im Anschluss insbesondere in der Leber verstoffwechselt (Biotransformation). Hier gelten prinzipiell die gleichen Regeln wie für die Aufnahme und Verteilung von Arzneimitteln (S. 114).

22.1.3 Entgiftung Dekontamination • Ziel der Dekontamination ist es, die Giftaufnahme zu beenden und die Einwirkdauer des Giftes zu reduzieren. In erster Linie zählt dazu die Reinigung der Haut mit Wasser und Seife bei transdermaler Giftaufnahme, aber auch z. B. die Suche nach „Schmerzpflastern“, vgl. das Fallbeispiel (S. 512). Alle möglicherweise kontaminierten Kleidungsstücke müssen entfernt werden. Eine Magenspülung wird außerhalb des Krankenhauses nicht empfohlen. Elimination • Unter Elimination versteht man den Versuch, das einwirkende Gift möglichst schnell aus dem Körper des Vergifteten zu entfernen. Beispielsweise sollte Patienten nach der Inhalation giftiger Substanzen an die frische Luft gebracht werden, auch die Inhalation von Sauerstoff kann sinnvoll sein. Das Auslösen von Erbrechen wird nicht mehr empfohlen. Neutralisation • Bei der Neutralisation eines Giftstoffes wird dieser durch Medikamente so umgewandelt, dass er weniger oder nicht mehr giftig ist oder nicht mehr resorbiert werden kann. Die wichtigste eingesetzte Substanz ist die Aktivkohle, vgl. ▶ Tab. 4.34: Sie wird selbst nicht resorbiert und bindet

▶S. 519

oral aufgenommene Giftstoffe. Dadurch werden auch diese nicht mehr aufgenommen und mit dem Stuhl ausgeschieden. Bei einer Vergiftung mit Schaumbildnern (z. B. Spülmittel) können Entschäumer eingesetzt werden, meist Simeticon oder Dimeticon. Diese wandeln große Schaumblasen in kleinere um, indem sie die Oberflächenspannung zerstören. Antidot • Ein Antidot (Gegengift) ist ein Stoff, der speziell gegen den Giftstoff wirkt und diesen inaktiviert. Dies geschieht entweder direkt, indem das Antidot an das Gift bindet und es neutralisiert. Oder das Antidot besetzt denselben Rezeptor wie der Giftstoff (natürlich ohne die schädigende Wirkung) und schwächt so die Giftwirkung ab. Siehe ▶ Tab. 4.34 für im Rettungsdienst wichtige Antidote.

RETTEN TO GO Allgemeine Toxikologie Eine Intoxikation (Vergiftung) ist die Folge der Aufnahme einer oder mehrerer schädlicher Substanzen in den Körper, und zwar oral, über die Haut, über die Atemwege, intravenös oder durch einen Biss oder Stich. Eine Entgiftung kann, je nach Art und Aufnahme des Giftes, aus mehreren Komponenten bestehen: ● Bei der Dekontamination (Beendigung der Giftaufnahme) wird das Gift mechanisch entfernt, z. B. durch Abwaschen. ● Zur Elimination (Entfernung des Giftstoffs) dient z. B. die Inhalation von O2 bei inhalativen Vergiftungen. ● Zur Neutralisation (Unschädlichmachen des Giftstoffs) werden z. B. Aktivkohle oder Entschäumer eingesetzt. ● Für eine Reihe von Giften existiert ein spezifisches Antidot (Gegengift). 509

22

Intoxikationen Abb. 22.1 W-Fragen bei Vergiftungen.

Wer hat sich vergiftet? Alter, Geschlecht, Gewicht, gesundheitliche Verfassung (z.B. ansprechbar, komatös) Was hat die Person aufgenommen? Giftstoff (z.B. Produktname, Bestandteile) Wann wurde es aufgenommen? Zeitpunkt der Einnahme und der ersten Symptome (möglichst genau) Wie wurde es aufgenommen? oral, inhalativ, intravenös oder über Hautkontakt Wie viel wurde aufgenommen? Mengenangabe (möglichst genau, z. B. Anzahl der Tabletten) Warum wurde das Gift aufgenommen? Selbstmordabsicht, Sucht, irrtümliche Einnahme Wo wurde das Gift aufgenommen? Ort (z.B. Arbeitsplatz, häusliches Umfeld)

Diese Fragen geben wichtige Hinweise für die Versorgung des Patienten und helfen bei der Kontaktaufnahme mit einem Giftinformationszentrum.

22.2 Grundlagen 22.2.1 Anamnese Die Diagnose einer Vergiftung erfolgt in erster Linie durch die Anamnese, also durch Befragen des Betroffenen und/ oder von Zeugen/Angehörigen. Auch die Auffindesituation und evtl. Utensilien wie Tablettenpackungen oder Flaschen mit Chemikalien geben wichtige Hinweise. Das Rettungsdienstpersonal muss im Verlauf des Einsatzes bei Vergiftungsfällen dem Patienten oder Zeugen/Angehörigen die 7 W-Fragen zur Beurteilung von Vergiftungsnotfällen stellen (▶ Abb. 22.1). Diese helfen außerdem bei der Kontaktaufnahme mit einem Giftinformationszentrum (▶ Tab. 22.1): ● Wer hat sich vergiftet? Alter, Geschlecht, Körpergewicht, Zustand des Patienten (ansprechbar, bewusstlos) ● Was hat die Person aufgenommen? Angabe des Giftstoffes (Produktname, Wirkstoffe) ● Wann wurde das Gift aufgenommen? Einnahmezeitpunkt, Beginn der Symptome ● Wie wurde das Gift aufgenommen? Oral, inhalativ, i. v.? ● Wie viel wurde aufgenommen? z. B. Anzahl der Tabletten ● Warum wurde das Gift aufgenommen? Selbstmordabsicht, Versehen, Sucht ● Wo wurde das Gift aufgenommen?

22.2.2 Untersuchung

510

So verschieden die Gifte sind, so vielfältig sind die Symptome, die sie hervorrufen. Meist sind sie uncharakteristisch, z. B. Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Herz-Kreislauf-Beschwerden. Dennoch gibt es Symptome, die (v. a. bei gleichzeitigem Vorkommen) den Verdacht auf eine bestimmte Vergiftungsursache lenken.

Tab. 22.1 Giftinformationszentralen (GIZ). Ort

Tel.

gemeinsamer Notruf

0 361 730 730

Berlin

030 19 240

Bonn (Pädiatrie)

0 228 19 240

Erfurt

0 361 730 730

Freiburg

0 761 19 240

Göttingen

0 551 19 240

Homburg/Saar (Pädiatrie)

06 841 19 240

Mainz

06 131 19 240

München

089 19 240

Die Anfragestatistik ist unter https://www.ggiz-erfurt.de/giftinformation.html einzusehen: Vergiftungen durch Medikamente sind der mit Abstand häufigste Grund für Anfragen.

Einige Substanzen führen dosisabhängig zu so typischen Symptomkonstellationen, dass sich allein aufgrund des klinischen Erscheinungsbildes eine gut begründete Verdachtsdiagnose formulieren lässt (z. B. Bewusstlosigkeit + stark verengte Pupillen + verringerte Atmung → Opioid-Intoxikation). Diese Symptomkomplexe werden als Toxidrome bezeichnet. Für die Untersuchung der Patienten ist auch hier eine Orientierung am (c)ABCDE-Schema (S. 183) sinnvoll: ● A: – Blick in den Mundraum und die Nasenlöcher: Nach einem Brand (S. 398) sind Rußauflagerungen ein Hinweis auf ein Inhalationstrauma und auf eine Inhalation von Rauchgasen (Rauchgasintoxikation). Dazu kommt es, wenn der Brandrauch mit Zyaniden, Säuren, Ammoniak, Nitrosegasen, Schwefelwasserstoff, Kohlenmonoxid und/oder -dioxid vergiftet ist. – Alkoholgeruch: Vergiftung mit Ethanol (S. 515) – gesteigerter Speichelfluss und Geruch nach Knoblauch: Vergiftung mit Insektiziden aus der Gruppe der Organophosphate (S. 519), z. B. E605. Meist sind die Lippen und der Mundraum gelb oder blau gefärbt, da diese Substanzen aus Sicherheitsgründen meist gefärbt und mit einem stechend knoblauchartigen Geruch aromatisiert werden. – Geruch nach gebrannten Mandeln: Zyanidvergiftung ● B: – Atemgeräusche: Nach der Inhalation von Reizgasen kann ein inspiratorischer Stridor zu hören sein, ein pfeifendes Geräusch bei der Einatmung, verursacht durch eine Verengung des Kehlkopfes bzw. der Bronchien (Laryngobzw. Bronchospasmus). – feuchte Rasselgeräusche als Hinweis auf ein beginnendes toxisches Lungenödem (S. 269) – reduzierte Atemfrequenz: bei Vergiftung mit Opiaten (z. B. Heroin), Alkohol oder Beruhigungsmitteln – erhöhte Atemfrequenz: bei Vergiftung mit Amphetaminen, Kokain, Tollkirsche ● C: – reduzierte Herzfrequenz: bei Vergiftung mit Nikotin oder Betablockern – erhöhte Herzfrequenz: bei Vergiftung mit Tollkirsche, Kokain, Amphetaminen oder Koffein – erniedrigter Blutdruck: bei Vergiftung mit blutdrucksenkenden Mitteln, Beruhigungsmitteln oder Opiaten – erhöhter Blutdruck: bei Vergiftung mit Amphetaminen, Kokain oder Koffein

Grundlagen



– Herzrhythmusstörungen: bei Vergiftung mit Antidepressiva oder Neuroleptika D: – Die Pupillen können bei Verdacht auf eine Drogenintoxikation wegweisend sein: Geweitete Pupillen sind Hinweis auf den Konsum von Kokain, Amphetaminen oder Tollkirschen, enge („stecknadelkopfgroße“) Pupillen hingegen ein Hinweis auf die Einnahme von Opiaten. – Veränderungen des Wachheitsgrades: substanzabhängig von erregt und unruhig (z. B. Amphetamine) bis hin zu komatös (Sedativa) – Halluzinationen: Halluzinogene (z. B. LSD, Magic Mushrooms) – Krampfanfälle: bei fortgeschrittener Vergiftung mit Neuroleptika, Pilzen oder Amphetaminen – Unterzuckerung: bei Diabetes-Medikamenten, Alkohol oder Betablockern

Abb. 22.2 5-Finger-Regel bei Intoxikationen.

1. Sicherung der Vitalfunktionen Situationsabhängig symptomatische Kreislauftherapie 2. Giftelimination Verhindern der weiteren Giftaufnahme, Fördern der Giftausscheidung 3. Antidot-Therapie Die Gabe eines Antidots setzt eine genaue Kenntnis des Giftes voraus 4. Asservierung Sicherstellung der Giftstoffe. Speise- und Tablettenreste, Pflanzenteile, Spritzbestecke, Erbrochenes oder die erste Portion nach der Magenspülung in geeigneten Gefäßen asservieren

Auch Umgebungsgerüche, z. B. nach chemischen Substanzen (Ammoniak, Chlor), können die Diagnose erleichtern. Der Atemgeruch kann bei Vergiftung durch Chemikalien manchmal einen ersten Anhalt für den auslösenden Gefahrstoff geben. Auch Schädigungen der Haut, z. B. Blasenbildungen bei Barbituraten (▶ Tab. 22.2), oder die gleichzeitige Erkrankung mehrerer Personen (z. B. bei Pilzvergiftung) können richtungsweisend sein.

22.2.3 Versorgung der Patienten Basismaßnahmen ACHTUNG Bei Verdacht auf eine Vergiftung gilt vor und bei jeder Maßnahme: Eigenschutz geht vor! Manche Gifte werden über die Haut resorbiert: Fassen Sie daher nie ohne Handschuhe irgendetwas an, weder den Patienten noch Gegenstände! Konkretes Vorgehen: ● Situation einschätzen: Ist die Sicherheit an der Einsatzstelle gewährleistet? Wurde das notwendige Einsatzmaterial mitgenommen? Gibt es Informationen über die Anzahl von Verletzten/Betroffenen? Sind weitere Rettungskräfte notwendig (z. B. Feuerwehr bei Rauchgasen oder Polizei bei Suizidversuch?). Warnen Sie ggf. umstehende Personen; ggf. CO-Messung durch Feuerwehr. ● Eigenschutz beachten, Gefährdungspotenzial einschätzen ● lebensrettende Basismaßnahmen: Vitalfunktionen gemäß (c)ABCDE-Schema (S. 183) sicherstellen, ggf. Bodycheck ● notärztliche Unterstützung nachfordern ● Basismonitoring (S. 198): RR, Atemfrequenz, Puls, EKG, SpO2 (Vorsicht: falsch hohe Werte bei CO-Intoxikationen!), BZ-Messung ● bedarfsangepasste O2-Gabe über Maske mit Reservoir (hochdosiert v. a. bei Rauchgasintoxikationen!) ● Lagerung je nach Patientenzustand und -wille (z. B. stabile Seitenlage bei Bewusstlosigkeit) ● Vorbereiten eines i. v./i.o.-Zuganges mit Blutentnahme sowie einer VEL, ggf. Antidot vorbereiten ● falls noch nicht geschehen oder im Verlauf notwendig: Airwaymanagement, ggf. Intubation vorbereiten ● Wärmeerhalt (S. 249), Beruhigung des Patienten ● ggf. kardiopulmonale Reanimation einleiten

! Merke Fünf-Finger-Regel

5. Transport Wegen der beschränkten präklinischen Möglichkeiten sind die Patienten grundsätzlich einer differenzierten klinischen Therapie zuzuführen. Die 5-Finger-Regel bietet bei der Versorgung von Patienten mit Intoxikation eine gute Orientierung. Eine Antidot-Gabe ist allerdings nur in wenigen Fällen möglich.

Erweiterte Maßnahmen Die erweiterten Maßnahmen orientieren sich an der tatsächlichen bzw. erwarteten Schwere der Vergiftung. Sie umfassen zunächst die Anlage eines i. v.-Zuganges, eine Blutentnahme und die Infusion einer VEL. Gegebenenfalls wird ein Antidot oder Aktivkohle (▶ Tab. 4.34) verabreicht. Eine Magenspülung wird präklinisch nur sehr selten durchgeführt. Der Transport sollte zügig eingeleitet werden und (abhängig von der Transportzeit) möglichst in eine Klinik der Maximalversorgung erfolgen. Weitere Empfehlungen zur speziellen Therapie erhalten Sie von Giftexperten der Giftinformationszentralen (▶ Tab. 22.1).

RETTEN TO GO Untersuchung und Versorgung des Patienten ●







7 W-Fragen: Wer hat sich vergiftet? Was hat sie/er wann und wie aufgenommen? Wie viel und warum wurde das Gift aufgenommen? Wo ist es passiert? Symptome: vielfältig und oft unspezifisch, Verdachtssymptome: z. B. Bewusstlosigkeit, auffälliger Atemgeruch, Veränderungen der Pupillengröße Beachten Sie bei Intoxikationen besonders den Aspekt Eigenschutz (z. B. CO-Messung)! ToDo: Versorgung grundsätzlich nach der 5-Finger-Regel (lebensrettende Basismaßnahmen, Giftentfernung, Antidot, Asservierung, zügiger Transport); ein Giftinformationszentrum (GIZ, Telefon: 0 361 730 730) kann Empfehlungen zu speziellen Vergiftungen geben.

Die Fünf-Finger-Regel bei Vergiftungen lautet: lebensrettende Basismaßnahmen, Giftentfernung, Antidot, Asservierung, zügiger Transport (▶ Abb. 22.2). 511

22

Intoxikationen

22.3 Spezielle Vergiftungen 22.3.1 Vergiftungen durch Medikamente und illegale Drogen Fallbeispiel Ist doch nur ein Pflaster* Sie treten Ihren ersten Tag als Rettungssanitäter auf der Rettungswache an. Nach dem Fahrzeugcheck und dem Kennenlernen Ihres Kollegen werden Sie auch schon zum ersten Einsatz „unklare Bewusstseinsstörung“ gerufen. Notärztliche Unterstützung sei momentan nicht verfügbar. Am Einsatzort öffnet Ihnen ein älterer Herr, Herr S., die Tür und führt Sie ins Wohnzimmer zu einer schläfrigen älteren Dame, seiner Ehefrau. Während Ihr Kollege die Ersteinschätzung nach (c)ABCDESchema durchführt, legen Sie die RR-Manschette und den SpO2Sensor an, bereiten das EKG vor und kleben es auf. Auf dem Monitor lassen sich nun bereits erste Auffälligkeiten im Herzrhythmus erkennen: eine leichte Arrhythmie mit einer Herzfrequenz um die 62/min. Außerdem besteht eine Hypotonie von 90/50 mmHg. Ihr Kollege fasst das Ergebnis der Ersteinschätzung so zusammen:

A – Atemwege frei, kein Erbrochenes, Schutzreflexe erhalten, Erwägung Wendl-Tubus ● B – Bradypnoe bei einer Atemfrequenz von 5–7/min, Atemtiefe flach, Erwägung assistierte Beatmung bzw. O2-Gabe via Maske mit Reservoir ● C – flacher, teilweise unregelmäßiger Puls, jedoch an der A. radialis noch palpabel, beginnend bradykard, CRF < 2 s ● D – stecknadelkopfgroße Pupillen, bewusstlos, BZ 6,4 mmol/l ● E – keine auffälligen Verletzungen, Temperatur aurikulär 38,6 °C Im Zuge der weiteren Anamnese berichtet der Ehemann, dass seine Frau seit Jahren unter einer starken Kniegelenksarthrose leide, die mit Schmerzmitteln behandelt werde. Eine OP lehne Frau S. bis dato ab. Ihr Kollege überfliegt den Medikamentenzettel: Frau S. wird mit einem stark wirksamen Opioid, nämlich einem Durogesic®-Pflaster, behandelt. ●

*Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Medikamente und Drogen sind Substanzen, die im Organismus eine bestimmte Wirkung entfalten sollen (z. B. einen Rausch oder Schmerzfreiheit). Je nach Konzentration und Verträglichkeit der Substanz führen Arznei- oder Suchtmittel bei einer Überdosierung zu Symptomen einer Vergiftung. Dabei sind Vergiftungen mit Medikamenten am häufigsten und geschehen meist in suizidaler Absicht. In ca. 50 % der Fälle liegt bei Vergiftungen mit Drogen und/oder Medikamenten gleichzeitig eine Alkoholintoxikation vor (Mischintoxikation). Nimmt eine Person regelmäßig mehrere Drogen- und Medikamentenarten zu sich, spricht man von Polytoxikomanie.▶ Tab. 22.2 zeigt eine (natürlich unvollständige) Auswahl von Vergiftungen mit Drogen und Medikamenten und listet Besonderheiten bei der Versorgung der Betroffenen auf.

ACHTUNG Besonders bei Vergiftungen mit Drogen und auch mit Alkohol zeigen die Betroffenen häufig ein enthemmtes, aggressives Verhalten. Mitunter reagieren sie höchst agitiert, wenn ihnen z. B. durch eine Antagonisierung der Rausch genommen wird. Beachten Sie hier unbedingt den Eigenschutz, auch im Hinblick auf mögliche Infektionskrankheiten! Ziehen Sie, wenn nötig, frühzeitig die Polizei hinzu. Wühlen Sie nicht blind in Taschen oder Hose, um nach einer Versicherungskarte oder Personalien zu suchen: Möglicherweise befindet sich in der Tasche ein Spritzenbesteck.

Fallbeispiel Fortsetzung – Ist doch nur ein Pflaster Der Verdacht liegt nahe, dass die Bewusstseinsstörung etwas mit dem Opioid zu tun hat, d. h., dass eine Überdosierung besteht. Wie kam es dazu? Nun, seit mehreren Tagen plagt die Patientin ein grippaler Infekt mit hohem Fieber. Da bei Fieber die Haut viel besser durchblutet ist, ist auch die Aufnahme des Wirkstoffs über die Haut erhöht. Weitere typische Anwendungsfehler, die zu einer Überdosierung von Opioiden aus „Schmerzpflastern“ führen, sind z. B., dass ein neues Pflaster aufgeklebt wird, das alte aber auf der Haut vergessen wird. Suchen Sie daher in solchen Situationen auch immer nach alten, noch aufgeklebten Schmerzpflastern.

512

Frau S. erhält einen intravenösen Zugang und nach erfolgter Blutabnahme für das Krankenhaus bittet Ihr Kollege Sie, die Gabe von Naloxon 0,4 mg vorzubereiten, um das Opioid zu antagonisieren. Sie greifen sich die Ampulle, verdünnen diese auf 10 ml NaCl 0,9 % und reichen sie unter Nennung des Namens und der Verdünnung an. Sobald das Naloxon verabreicht wurde, klart Frau S. etwas auf, die Atemfrequenz normalisiert sich. Sie und Ihr Kollege bringen sie schließlich in den RTW und – da nach wie vor keine notärztliche Unterstützung verfügbar ist – fahren sie in die Notaufnahme.

Spezielle Vergiftungen

Tab. 22.2 Auswahl häufiger Intoxikationen mit illegalen Drogen und Medikamenten. Substanz (mögliche Handelsnamen, „Szenesprache“)

spezifische Symptome

Besonderheiten

Opioide, z. B. Fentanyl®, Heroin („H“, „Hero“, „Schnore“, „Smack“, ▶ Abb. 22.3a)

Dämpfung des Atemzentrums → respiratorische Insuffizienz (Bradypnoe, Apnoe) Miosis: stecknadelkopfgroße Pupillen Bewusstseinsminderung bis Koma

Antidot: Naloxon (Narcanti®); kürzere Wirkung als die meisten Opioide → ggf. mehrmals injizieren (▶ Tab. 4.34)

Kokain (▶ Abb. 22.3c, ▶ Abb. 22.3d, „C“, „Cokie“, „Crack“, „Koks“, „Schnee“, „White Lady“) Amphetamine, z. B. Ecstasy (▶ Abb. 22.3b, MDMA, „E“, „Eve“), Amphetamin („Speed“), Methamphetamin („Crystal Meth”), Cathinone („legal Highs“, „Mephedron“, „Badesalze“), neue psychoaktive Substanzen

High-Gefühl, starke Unruhe zerebrale Krampfanfälle und Blutungen, RR-Erhöhung, Tachykardie, Hyperthermie, Tremor; Mydriasis

eingeschränkte Wahrnehmung körperlicher Symptome → v. a. in Verbindung mit exzessivem Tanzen Gefahr von starken Flüssigkeitsverlusten und Elektrolytstörungen

Halluzinogene: LSD (▶ Abb. 22.3e, „Acid”, „Deep Purple”, „Lady”), Psilocybin (▶ Abb. 22.3f, „Zauberpilze”)

Halluzinationen, Mydriasis, Krampfanfälle, Übelkeit/Erbrechen

evtl. Horror-Trip mit Wahnvorstellungen und starken Angstzuständen → „Talk-Down“ (psychische Betreuung) besonders wichtig

Gammahydroxybuttersäure (GHB, „Liquid Ecstasy“, K.o.-Tropfen)

in niedriger Dosierung ähnlich einem Alkoholrausch, bei höherer Dosis Bewusstlosigkeit; Risiko für Krampfanfälle

relativ häufig unbemerkte Verabreichung, um Sexualdelikte zu begehen („Date-Rape-Drug“)

Paracetamol

Übelkeit, Erbrechen, letztlich Leberversagen

nicht verschreibungspflichtiges Schmerzmittel, Vergiftungen häufig in suizidaler Absicht oder als unabsichtliche Überdosierung bei Schmerzen/Infekten Achtung: Bei Kleinkindern ist schon die „normale“ Erwachsenendosis von 1 g tödlich! Antidot: Acetylcystein (im RTW nicht regelhaft vorgehalten)

„Schlafmittel“ wie Barbiturate (z. B. Luminal®) oder Benzodiazepine (z. B. Valium®, „Benzos“)

frühzeitig Bewusstseinsstörungen, ggf. bis zum „Scheintod“ → Rettungsmaßnahmen nicht frühzeitig beenden!

Antidot bei Benzodiazepinen (S. 123): Flumazenil (z. B. Anexate®). HWZ geringer als die der Benzodiazepine → ggf. mehrmals injizieren

Antiarrhythmika (z. B. Rhythmonorm®), Digitalispräparate (z. B. Lanicor®)

schwere Herzrhythmusstörungen mit hoher Sterblichkeit

Die Substanzen (S. 131) sollen Herzrhythmusstörungen unterbinden, können aber selbst solche auslösen! Antidot: Digitalis-Antitoxin ist in der Klinik vorhanden.

Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Doxepin, Mirtazapin, Citalopram)

unterschiedliche Stoffklassen, unterschiedliche Symptome; Somnolenz bis Koma, Krampfanfälle, Tachykardie, (lebensbedrohliche) Herzrhythmusstörungen, Atemdepression hohe Sterblichkeit!

Durch die darmlähmende Wirkung der trizyklischen Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) kann Aktivkohle über einen längeren Zeitraum (> 1 Stunde) zur Giftelimination verwendet werden.

Antidiabetika, Insulin

Hypoglykämie (S. 358)

Betablocker (S. 131), z. B. Metoprolol, Bisoprolol

hemmen die Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin; Sedierung, Schwindel, Krampfanfälle, Bradykardie, AV-Blockierung, kardiogener Schock, Asystolie, Ateminsuffizienz hohe Sterblichkeit!

Hypoglykämie möglich durch Hemmung der Glykogenolyse; Gefahr: Symptome teilweise durch die Betablockade maskiert

513

22

Intoxikationen Abb. 22.3 Beispiele für illegale Drogen.

a

c

b

d

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f

a Heroin: Straßenheroin gibt es in unterschiedlichen Reinheitsgraden und als verschiedene Granulate, von braunem (oben links) bis zum reineren weißen Heroin (unten rechts). b Ecstasy: Die Partydroge wird meist als Tabletten gehandelt. c Kokain: Spiegel mit pulverförmigem Kokain, das mithilfe einer Rasierklinge strichförmig aufgehäuft wurde („line“). An dem Aufbewahrungsröhrchen aus Glas ist ein Portionierungslöffelchen befestigt. Mit dem Strohhalm oder dem Metallröhrchen wird das Kokain gesnieft, die Holznuss des Metallröhrchens dichtet dabei das Nasenloch ab. d Crackpfeife und Crackkristalle („Rocks“): Die kleinen Kristallbrocken werden mit dem Bunsenbrenner zum Glühen gebracht und dann in 1–2 Zügen in speziellen kleinen Pfeifen geraucht. e LSD (Lysergsäurediethylamid): Die gängigsten Verkaufsformen sind Mikrotabletten oder Löschpapiere, die mit unterschiedlichen Motiven bedruckt sind („Blotter“, „Pappen“). Die Papiere werden mit gelöstem LSD getränkt; der Konsumierende legt sie sich auf die Zunge. Links im Bild: LSD in Gelatine-Form (schokoladenähnliche Blättchen) und als „Mini-Mikro-Drips“ (Minitabletten) im passenden Schälchen. f Magic Mushrooms: Links der Spitzkegelige Kahlkopf (Psilocybe semilanceata), rechts der Kubanische Kahlkopf (Psilocybe cubensis) in getrockneter Form. Im Internet werden Aufzuchtboxen mit Sporen für diese Pilze („Grow Kits“) angeboten; der Handel mit solchen Pilzen und deren Besitz zur Anwendung als Droge sind in Deutschland strafbar. Aus: Scherbaum N, Hrsg. Das Drogentaschenbuch. 6. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019

514

Spezielle Vergiftungen Abb. 22.4 Akute Alkoholvergiftung.

KÖRPERLICHE FOLGEN

PSYCHISCHE FOLGEN

Enthemmung Euphorie Selbstüberschätzung reduzierte AufmerksamkeitsAufmerksamkeit störungen

0

0,5

1,0 Gleichgewicht ↓ Feinmotorik ↓ Reaktionszeit ↑

Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen Bewusstlosigkeit Verwirrtheit

1,5

2,0 Erbrechen

3,0 Unterkühlung keine Reflexe

Koma

4,0 Promille Lähmung Atemstillstand

Das Ausmaß eines einfachen Rausches hängt von der getrunkenen Alkoholmenge und damit vom Blutalkoholgehalt ab. Allerdings reagiert nicht jeder Körper gleich auf Alkohol: So sind z. B. Menschen, die häufig Alkohol konsumieren, an höhere Spiegel gewöhnt. Aus: I care Krankheitslehre. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

22.3.2 Vergiftungen durch Alkohol Stadien und Symptome • Alkoholvergiftungen (umgangssprachlich auch C2-Intox) gehören zu den häufigsten Einsätzen im Rettungsdienst. Abhängig von der Blutalkoholkonzentration (in ‰) werden verschiedene Stadien der Alkoholvergiftung unterschieden (▶ Abb. 22.4, ▶ Tab. 22.3). Diese Stadien sind aber nicht absolut zu sehen, sondern abhängig von der Konstitution und der Alkoholgewöhnung der Person. Manche Personen sind bereits ab 3 ‰ in Lebensgefahr, während andere noch auf den Beinen sind. Von der Alkoholvergiftung ist das Delir (S. 439) beim akuten Alkoholentzug abzugrenzen. Besonderheiten bei der Versorgung des Patienten • Neben den üblichen Maßnahmen (s. o.) müssen bei der Versorgung von Personen mit Alkoholintoxikation einige Aspekte besonders beachtet werden: ● Hypoglykämie (S. 358): Alkohol erniedrigt den Blutzuckerspiegel → frühzeitig BZ bestimmen ● Unterkühlung (S. 402): Alkohol führt zu einer Erweiterung der peripheren Gefäße. So geht die Körperwärme überdurchschnittlich schnell verloren, obwohl die Personen nicht frieren → Maßnahmen zum Wärmeerhalt ergreifen ● Hypovolämie (S. 501): Alkohol steigert die Wasserausscheidung über den Harn, außerdem kann Wasser über Erbrechen verloren gehen → an Volumenersatz denken ● Aspiration (S. 273): Bewusstseinsstörung und Erbrechen erhöhen die Gefahr einer Aspiration → frühzeitig Atemwege freimachen und sichern

Tab. 22.3 Stadien und Symptome der Alkoholvergiftung. Stadium

Alkoholgehalt im Blut

Symptome

Euphorie

0,5–1,5 ‰

Euphorie, Benommenheit, verwaschene Sprache, leichte Gangunsicherheit, Enthemmung

Rausch

1,5–2,5 ‰

schwere Gangunsicherheit, ggf. Aggression oder beginnende Müdigkeit, ggf. Übelkeit und Erbrechen

Narkose

2,5–3,5 ‰

Bewusstseinsverlust – Somnolenz bis Bewusstlosigkeit, ggf. Hypoglykämie, „Schmerzfreiheit“

Asphyxie

ab 3,5 ‰

komatös mit Ausfall der Schutzreflexe, Atemlähmung möglich, ggf. Cheyne-StokesAtmung, ggf. Herz-Kreislauf-Versagen

RETTEN TO GO Vergiftung durch Medikamente, Drogen, Alkohol ●

ACHTUNG Eine Alkoholvergiftung kann andere, lebensbedrohliche Zusatzerkrankungen bzw. -verletzungen verschleiern, z. B. eine Hypoglykämie, eine zusätzliche Tablettenintoxikation oder ein Schädel-HirnTrauma. Vor allem der Geruch nach Alkohol kann zu falschen Schlüssen führen!



Vergiftungen durch Medikamente oder Drogen sind häufig. Sie geschehen v. a. bei Medikamenten durch Verwechslung oder in suizidaler Absicht, bei Drogen häufiger im Rahmen einer versehentlichen oder in suizidaler Absicht mutwilligen Überdosierung. Wurde zusätzlich zu Medikamenten und/oder Drogen Alkohol konsumiert, spricht man von einer Mischintoxikation. Die Symptome bei Vergiftungen mit Medikamenten und/oder Drogen sind vielfältig und abhängig von der eingenommenen Substanz. Für einige Medikamente gibt es spezifische Antidote. Die Alkoholvergiftung verläuft in spezifischen Stadien. Diese reichen von einer anfänglichen Euphorie über den Rausch zum Narkosestadium. Im Endstadium, dem asphyktischen Stadium, besteht bei Ausfall der Schutzreflexe akute Lebensgefahr. Eine Alkoholvergiftung erhöht außerdem massiv das Risiko, eine Hypoglykämie, eine Unterkühlung, eine Hypovolämie und/oder eine Aspiration zu verursachen – bei der Versorgung des Patienten muss dem entgegengewirkt werden. 515

22

Intoxikationen

22.3.3 Vergiftungen durch Pflanzen, Pilze und Tiere

Krampfanfälle. Einige Pflanzen (z. B. der Riesenbärenklau) führen zu Entzündungen der Haut, die besonders nach Sonneneinstrahlung auftreten (phototoxische Dermatitis).

! Merke Vergiftungen durch Pflanzen Fallbeispiel Verheerender

Festschmaus*

Für Herrn und Frau Meyer beginnt mit dem Herbst der Höhepunkt des Jahres – sie sind Pilzsammler. Dank eines kühlen und feuchten Sommers schießen die Fruchtkörper im wahrsten Sinne des Wortes „wie Pilze aus dem Boden“. Als die beiden von ihrer Sammeltour zurückkommen, kann es Frau Meyer kaum erwarten, die Pilze zuzubereiten. „Lecker. Fabelhaft“, spricht Herr Meyer voll des Lobes nach dem Mittagsmahl. Die Tochter, die Pilzen gegenüber misstrauisch ist, verzichtet. Doch irgendetwas sollte dieses Mal gänzlich anders laufen als sonst: Am Abend wird nicht nur Herr Meyer von Bauchschmerzen gepeinigt. Auch seine Ehefrau hat bereits mehrfach erbrochen und wässrige Durchfälle. Ein leiser Verdacht regt sich, Herr Meyer wiegelt jedoch ab. Als in den folgenden Tagen die Beschwerden jedoch massiv zunehmen und Herr Meyer schließlich bewusstlos zusammenbricht, entschließt sich die Tochter, den Notruf zu wählen. Sie und Ihr Kollege werden bereits an der Haustür von der Tochter empfangen: „Schnell, so beeilen Sie sich doch!“ Die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. In der Wohnung angekommen, schildert sie, dass ihr Vater vor ein paar Minuten bewusstlos zusammengebrochen sei. Auch der Mutter gehe es schlecht. Im Wohnzimmer sehen Sie einen blassen Mann auf dem Fußboden liegen. Die Ehefrau stützt sich im Badezimmer auf dem Waschbecken ab. Sie denken sofort: „Hier herrscht Lebensgefahr!“ Ihr Kollege bittet Sie, nach der Ehefrau zu sehen. In einem ersten, kurzen Gespräch erfahren Sie, dass es Frau Meyer nicht ganz so schlimm geht wie dem Ehemann. Sie bitten die Tochter, einen Augenblick bei der Mutter zu bleiben. Zurück im Wohnzimmer hat Ihr Kollege bereits die Ersteinschätzung durchgeführt. Er fasst zusammen: ● A – Atemwege frei, kein Erbrochenes, keine Halsvenenstauung, Guedel-Tubus wird toleriert, Erwägung HWS-Immobilisation (die Tochter gibt aber an, dass ihr Vater von der Couch gerutscht und nicht aus dem Stand zusammengebrochen ist) ● B – Tachypnoe bei einer Atemfrequenz von 24/min, hochdosierte O2-Gabe über Maske mit Reservoir ● C – flacher, tachykarder Puls, an A. radialis nicht mehr tastbar (RRsys < 80 mmHg), A. carotis noch tastbar, CRF > 2 s ● D – Pupillen isokor, lichtreagibel, BZ 4,4 mmol/l, GCS 3 ● E – keine auffälligen Verletzungen *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Giftige Pflanzen Giftstoffe unterschiedlicher Gefährlichkeit sind in vielen Pflanzen enthalten. Je nach Giftigkeit entwickeln sich meist lediglich Unverträglichkeitsreaktionen mit Unwohlsein und Übelkeit. Einige Pflanzen sind jedoch sehr giftig. Beispiele dafür sind die Nachtschattengewächse Engelstrompete (▶ Abb. 22.5b), Tollkirsche (▶ Abb. 22.5c), Stechapfel (▶ Abb. 22.5d) und Bilsenkraut. Sie können als Tee konsumiert werden und führen dann zu rauschähnlichen Zuständen (Halluzinogene). An Zierpflanzen sind z. B. Fingerhut (▶ Abb. 22.5a), Maiglöckchen (▶ Abb. 22.5e) Goldregen (▶ Abb. 22.5f) und Herbstzeitlose (▶ Abb. 22.5g) zu nennen. Weitere typische Symptome bei Vergiftungen mit Pflanzen sind Übelkeit und Erbrechen, Bewusstseinsstörungen oder 516

Vergiftungen durch Pflanzen sind bei Erwachsenen relativ selten und verlaufen mild (Ausnahme: Einnahme in suizidaler Absicht), gehören jedoch bei Kindern zu den häufigeren akzidentiellen Vergiftungen. Vor allem bei Kindern führt die Einnahme von Pflanzen oder Pflanzenteilen häufig zu Panik und Angst der Eltern und in der Folge zur Alarmierung des Rettungsdienstes.

Giftige Pilze Schwere Pilzvergiftungen kommen saisonal gehäuft vor (Juli bis Oktober) und sind vergleichsweise selten. Sie beruhen meistens auf Verwechslungen mit essbaren Pilzen, z. B. von Steinpilzen mit giftigen Röhrlingen, oder – besonders gefährlich – von Champignons mit kleinen Fruchtkörpern des grünen Knollenblätterpilzes (▶ Abb. 22.6). Vergiftungen durch beabsichtigte Einnahme von Pilzen mit psychoaktiven Inhaltsstoffen (▶ Abb. 22.3f) kommen während des ganzen Jahres vor. Bedrohliche Symptome können sowohl durch in den Pilzen enthaltene Giftstoffe („echte“ Pilzvergiftungen, z. B. durch Knollenblätterpilze) als auch z. B. durch verdorbene, falsch zubereitete oder im Übermaß konsumierte Pilze entstehen („unechte“ Pilzvergiftungen). Besonderheiten bei der Versorgung des Patienten • Die gefährlichsten Pilzvergiftungen sind die, bei denen die Pilzmahlzeit bereits mehr als 4 h, manchmal auch länger, zurückliegt: Das Gift hat den Magen dann bereits passiert und ist über den Dünndarm in die Blutbahn gelangt. Fragen Sie also bei verdächtigen Symptomen immer auch nach länger zurückliegenden Pilzmahlzeiten, von denen die Patienten möglicherweise nicht sofort berichten. Treten die (meist gastrointestinalen) Beschwerden frühzeitig, also während oder kurz nach der Pilzmahlzeit auf, handelt es sich meist um harmlosere Unverträglichkeiten, die aber zur Sicherheit ebenfalls in der Klinik abgeklärt werden müssen. Alle Speisereste (auch Erbrochenes) müssen sichergestellt und ggf. von einem toxikologischen Labor auf Giftstoffe untersucht werden.

! Merke Pilzvergiftung

Bei Verdacht auf eine Pilzvergiftung müssen alle Personen, die die Pilze konsumiert haben, in die Klinik gebracht werden.

ACHTUNG Eingebildete Pilzvergiftung: Manchmal kommt es vor, dass Personen der felsenfesten Überzeugung sind, giftige Pilze gegessen zu haben. Sie entwickeln aus dieser Überzeugung heraus Symptome, die einer echten Vergiftung ähneln können. Solche Fälle werden bis zum Beweis des Gegenteils wie echte Vergiftungen therapiert.

Spezielle Vergiftungen Abb. 22.5 Auswahl hochgiftiger Pflanzen.

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b

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d

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f

g

a Roter Fingerhut: Die Pflanze enthält das Gift Digitalis, das zu massiven Herzrhythmusstörungen führen kann. In der Pharmakologie macht man sich diese Wirkung (in geringer Dosierung) bei den Digitalisglykosiden zunutze. Foto: © R. Stockinger/Thieme b Engelstrompete: Die Blätter oder Blüten werden zu Rauschzwecken als Teezubereitung getrunken, die getrockneten Blätter allein oder mit Cannabis zusammen geraucht. Foto: © R. Stockinger/Thieme c Tollkirsche: Früher verwendeten Frauen die Tollkirsche, damit ihre Augen größer wirkten (bella donna: schöne Frau). Foto: © E. Stangler-Alpers/Thieme

d Stechapfel: Gezeigt wird die getrocknete und bereits aufgesprungene Fruchtkapsel mit den dunklen Samen. Aus: Scherbaum N, Hrsg. Das Drogentaschenbuch. 6. unveränderte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019

e Maiglöckchen: Der harmlose Bärlauch wird immer wieder mit den Giftpflanzen Herbstzeitlose und Maiglöckchen verwechselt. Foto: © ON-Photography/stock.adobe.com

f Goldregen: Die sehr dekorative Pflanze findet sich häufig in Gärten und Parkanlagen. Foto: © magann/stock.adobe.com g Herbstzeitlose: Blätter und Blüten erscheinen nie gleichzeitig. Die Blätter treiben im Frühjahr, die Blüten im Herbst, wenn die Blätter bereits eingezogen wurden. Foto: © K. Oborny/Thieme

517

22

Intoxikationen Abb. 22.6 Heimische Giftpilze (Beispiele).

a

b

c

a Grüner Knollenblätterpilz: In seiner weißen Form ist er, genauso wie der Weiße Knollenblätterpilz (Amanita versosa), leicht mit dem Wiesen- und dem Waldchampignon zu verwechseln. © Schlegelfotos/stock.adobe.com b Frühjahrslorchel: Sie kann leicht mit essbaren Speisemorchelarten verwechselt werden. Der Verzehr dieses bereits im Frühling wachsenden Pilzes kann tödlich enden. © weinkoetz/stock.adobe.com c Ziegelroter Risspilz: Der sehr giftige Pilz kann mit dem essbaren Mairitterling verwechselt werden. © Gerhard/stock.adobe.com Abb. 22.7 Giftschlangen.

Fallbeispiel Fortsetzung – Verheerender Festschmaus Aufgrund der prekären Situation fordert Ihr Kollege notärztliche Unterstützung und einen zweiten RTW für die Ehefrau nach. Noch bevor Sie sich um das Monitoring kümmern, bringen Sie den Patienten mithilfe eines Stuhles in Schocklagerung. Ihr Kollege versucht nun, einen peripher-venösen Zugang zu legen. Der erste Punktionsversuch am Handrücken scheitert. Weiter proximal stellt sich eine Vene in der Ellenbeuge einigermaßen gut dar. Hier wird ein großlumiger Zugang erfolgreich gelegt und rasch eine Vollelektrolytlösung infundiert. In Ermangelung eines Infusionsständers bitten Sie die Tochter, einen Kleiderbügel zu holen. Improvisation! Die Infusion wird an den Haken des Bügels gehängt und dieser an die Deckenlampe. Das Monitoring zeigt, dass bei dem Patienten ein Schock besteht: RR 70/ 50 mmHg, HF 108/min, SpO2 peripher nicht messbar. Ihr Kollege bittet Sie, den Patienten weiter zu überwachen, bis notärztliche Unterstützung und der zweite RTW eintreffen. Sie hören aus dem Badezimmer, wie Ihr Kollege versucht, Details der Umstände in Erfahrung zu bringen – vor allem, warum es auch Frau Meyer schlecht geht. Noch vor Eintreffen der notärztlichen Unterstützung fällt der wichtige Hinweis auf die Pilzmahlzeit. Der Notfallsanitäter versucht außerdem, die Tochter zu beruhigen und erklärt das weitere Prozedere. Die Übergabe an die inzwischen eingetroffene Notärztin erfolgt zügig. Im RTW entschließt sich diese zur Intubation des Patienten. Unter Nutzung der Sonder- und Wegerechte werden Herr und Frau Meyer in der Notfallzentrale unter dem Stichwort „Amatoxin-Syndrom“ angemeldet. Trotz intensivmedizinischer Maßnahmen verstirbt Herr Meyer wenige Tage später an einem Leberversagen. Seine Ehefrau überlebt die verhängnisvolle Pilzmahlzeit ohne bleibende Schäden.

Tierische Giftstoffe Einige Tiere, z. B. Spinnen, Skorpione und vor allem Schlangen, enthalten Gifte, die in unseren Körper injiziert werden können – entweder durch einen Stich (z. B. Skorpion) oder durch einen Biss (z. B. Schlange). Insgesamt sind das aber Raritäten, die hauptsächlich bei der Arbeit mit exotischen Tieren auftreten. Die einzigen heimischen Giftschlangen sind 518

a

b

In Deutschland sind Schlangenbisse ein seltenes Problem. a Kreuzotter: Typisch ist die Rückenzeichnung mit Zickzackband und dunklen Punktreihen © xiduu/stock.adobe.com b Schlangenbiss mit gut erkennbarer Schwellung. Aus: Gräsner J, Weiler N, Petzke F, Bein B, Hrsg. Klinikalltag AINS. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018

die Aspisviper und die Kreuzotter (▶ Abb. 22.7), deren Gift aber nur für alte Menschen und Kinder lebensgefährlich ist. Tierische Giftstoffe führen lokal an der Bissstelle zu einer Schwellung, einer Rötung und Schmerzen. Systemisch wirken sie häufig toxisch auf die Blut- und Nervenzellen. Au-

Spezielle Vergiftungen ßerdem können sie allergische Reaktionen (z. B. Wespengift) hervorrufen, die letztlich zum Schock führen können, vgl. die Fallstudie im Kapitel Schock (S. 282). Besonderheiten bei der Versorgung des Patienten • Nach einem Biss oder Stich eines giftigen Tiers müssen Sie (neben der üblichen Versorgung des Patienten) darauf achten, dass die Körperregion, die gebissen wurde, absolut ruhiggestellt wird. Führen Sie keine Manipulationen an der Wunde durch. Keinesfalls wird die Bissstelle ausgesaugt oder eingeschnitten! Kontaktieren Sie so schnell wie möglich die GIZ, um Informationen über das weitere spezifische Vorgehen (z. B. Antidot) zu erhalten. Halter von Giftschlangen haben häufig ein spezifisches Antiserum bevorratet.

ACHTUNG Achten Sie auch hier unbedingt auf den Selbstschutz: Möglicherweise befinden sich in der Wohnung mehrere, durch die Umstände verängstigte und daher gefährliche Giftschlangen!

Vergiftungen durch Insektizide Alkylphosphate (syn. Organophosphate, z. B. E605®) sind zwar mittlerweile EU-weit verboten, dennoch kommen aus Altbeständen oder bei illegaler Verwendung immer noch Vergiftungen mit diesen Stoffen vor. Sie führen zu einer pathologischen Steigerung der Wirkungen des Parasympathikus (S. 62): Typisch sind eine Verlangsamung der Herzfrequenz, starker Speichelfluss, Übelkeit, Muskelkrämpfe, verengte Pupillen und Krampfanfälle. Der Blutdruck sinkt ab, letztlich kann sich ein Herz-Kreislauf-Versagen entwickeln. Häufig fallen ein knoblauchähnlicher Geruch oder eine gelbbräunliche Verfärbung des Mundes oder der Zunge auf: Das liegt daran, dass die eigentlich farblosen Organophosphate als Sicherheitsvorkehrung meistens eingefärbt und mit diesem Geruch versehen sind.

ACHTUNG Alkylphosphate werden über die Haut aufgenommen, geringe Mengen reichen für eine Vergiftung aus. Beachten Sie unbedingt den Eigenschutz!

RETTEN TO GO

Inhalative Vergiftungen Vergiftungen durch Pflanzen, Pilze und Tiere ●



Die häufigsten Notfälle in diesem Bereich sind Pilzvergiftungen – meist durch eine Verwechslung essbarer Pilze mit giftigen Doppelgängern. Pilzvergiftungen sind besonders dann als gefährlich einzustufen, wenn die Beschwerden länger als 4 h nach dem Pilzkonsum auftreten (das Gift ist dann bereits aus dem Magen-Darm-Trakt ins Blut übergegangen). Manchmal werden auch giftige Pflanzen konsumiert – entweder von Kleinkindern aus Versehen oder von Erwachsenen mit dem Bestreben, einen Rausch zu provozieren. Im Rahmen der Versorgung des Patienten müssen alle Pflanzen- und Pilzreste, auch Erbrochenes, asserviert und toxikologisch untersucht werden. Alle, die von den Pilzen gegessen haben, auch wenn (derzeit noch) keine Symptome bestehen. Vergiftungen durch Tiere passieren meist im Umgang mit exotischen Tieren. Kontaktieren sollten Sie so schnell wie möglich das Giftinformationszentrum, das Informationen über eine spezifische Therapie bereithält.

22.3.4 Weitere Vergiftungen Lebensmittelvergiftungen In Lebensmitteln können sich v. a. bei unsachgemäßer Lagerung bestimmte Bakterien vermehren, die dabei Toxine bilden. Werden die Lebensmittel konsumiert, resultiert eine Lebensmittelvergiftung mit Durchfall, Erbrechen und Bauchschmerzen. Die häufigsten auslösenden Bakterien sind Staphylococcus aureus und Bacillus cereus, betroffen sind in erster Linie protein- oder stärkehaltige Produkte wie Fisch, Fleisch, Milchprodukte sowie gegarte Nudeln oder Reis. Im Unterschied zu einer Gastroenteritis vermehren sich die Erreger nicht im Körper der Patienten, es besteht damit keine Infektion. Die Symptome setzen in der Regel wenige Stunden nach dem Konsum des konsumierten Lebensmittels ein und klingen nach einigen Stunden wieder folgenlos ab. Schwere Verläufe finden sich am ehesten bei Säuglingen, Kleinkindern, älteren und immungeschwächten Personen.

Vergiftungen durch CO (S. 276) und CO2 (S. 275) werden bei den respiratorischen Notfällen besprochen.

Vergiftungen durch Zyanide Vorkommen • Dämpfe der Blausäure (Zyanwasserstoff, HCN) sind Teil von Brandgasen und entstehen v. a. beim Verbrennen bestimmter Kunst- und Naturstoffe (z. B. Holz, Wolle). Blausäure findet sich z. B. auch in Mandeln und Aprikosenkernen – hier besteht eine Intoxikationsgefahr nach der oralen Aufnahme größerer Mengen. In Form der Salze Natriumoder Kaliumzyanid (Zyankali) wird Blausäure u. a. in der Metallverarbeitung eingesetzt. Pathophysiologie • Zyanide blockieren die sauerstoffabhängige Energiegewinnung in den Mitochondrien (S. 50). Eine Vergiftung führt damit zu einem inneren Ersticken. Symptomatik • Unmittelbar nach dem Inhalieren von HCN entwickeln sich Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Tachykardie. Bei fortgesetzter Exposition folgen Dyspnoe und Hyperventilation, bei schweren Vergiftungen zusätzlich zerebrale Krampfanfälle, Bradykardie, Bewusstlosigkeit bis hin zum Koma sowie letztlich ein Atem- und Herz-KreislaufStillstand. Bei bereits initial hoher Konzentration kann schon nach wenigen Sekunden der Atemstillstand eintreten. Besonderheiten bei der Versorgung des Patienten Fordern Sie frühzeitig notärztliche Unterstützung sowie ggf. weitere Kräfte und Mittel an. ● Betreten Sie die Unfallstelle erst, nachdem sie von der Feuerwehr freigegeben wurde. ● frühzeitige O2-Gabe über Maske mit Reservoir: maximale Dosierung und maximale Flussrate (ideal: 100 %, 15 l/min) ● Gabe eines Antidots: im Rettungsdienst i. d. R. 4-DMAP (▶ Tab. 4.34), in der Zielklinik ggf. Hydroxycobalamin ●

ACHTUNG Blausäuredämpfe riechen nach Bittermandeln – allerdings nehmen nicht alle Menschen diesen Geruch wahr!

519

22

Intoxikationen

RETTEN TO GO Weitere Vergiftungen ●





520

Lebensmittelvergiftungen entstehen durch bakterielle Toxine, die bei der Vermehrung bestimmter Bakterien entstehen. Betroffen sind v. a. unsachgemäß gelagerte protein- oder stärkehaltige Produkte. Nach einigen Stunden entwickeln die Betroffenen Erbrechen, Durchfall und Bauchschmerzen, die in der Regel folgenlos abklingen. Alkylphosphate (Organophosphate, z. B. E605®) sind zwar mittlerweile verboten, dennoch kommen immer noch Vergiftungen mit diesen Stoffen vor. Sie führen zu einer Verlangsamung der Herzfrequenz, einem Blutdruckabfall, starkem Speichelfluss, Übelkeit, Muskelkrämpfen, verengten Pupillen und Krampfanfällen. Häufig fällt ein knoblauchähnlicher Geruch oder eine gelbbräunliche Verfärbung des Mundes oder der Zunge auf. Die Substanzen werden über die Haut aufgenommen, geringe Mengen reichen für eine Vergiftung aus. Eigenschutz! Zyanide: Gasförmige Blausäure (Zyanwasserstoff, HCN) ist Teil von Brandgasen, entsteht beim Verbrennen bestimmter Kunst- und Naturstoffe (z. B. Holz, Wolle) und führt zu einem inneren Ersticken. Typische Symptome einer Intoxikation sind Kopfschmerzen, Schwindel, Dyspnoe, Krämpfe, Bewusstlosigkeit bis hin zu Koma und letztlich ein Atem- und Herz-Kreislauf-Stillstand. Entscheidend sind (neben dem Eigenschutz) eine frühe NAAnforderung, eine frühzeitige, hochdosierte O2-Gabe sowie die Gabe eines spezifischen Antidots.

23

Besondere Patientengruppen



Dieses Kapitel beschreibt Besonderheiten der Anatomie und Physiologie von Kindern, älteren sowie stark übergewichtigen Patienten, also bei pädiatrischen, geriatrischen sowie adipösen Patienten, und daraus resultierende Abweichungen bei deren Behandlung im Notfall.

23.1 Besonderheiten pädiatrischer Patienten 23.1.1 Grundlagen im Umgang Definition Pädiatrie Die Kinder- und Jugendmedizin (= Pädiatrie) befasst sich mit der Entwicklung des kindlichen und jugendlichen Körpers, seinen Erkrankungen und deren Behandlung. Pädiatrische Notfälle sind mit einem Anteil von ca. 4–5 % an allen Einsätzen im Rettungsdienst eher selten, jedoch in vielerlei Hinsicht besondere Ereignisse und erfordern für eine erfolgreiche Behandlung aus folgenden Gründen besondere Kenntnisse: ● Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“, sondern haben anatomische und physiologische Besonderheiten, die Sie beachten müssen. ● Die Bandbreite der Notfälle bei Kindern unterscheidet sich von denen bei Erwachsenen. ● Die Kommunikation und damit auch die Versorgung ist gerade in den jüngeren Lebensjahren stark erschwert.

522

Pädiatrische Notfälle erzeugen eine hohe psychische Belastung für alle am Einsatz Beteiligten. Daraus kann es sich ergeben, dass auch weitere Personen zu betreuen sind, z. B. Mutter oder Vater, oder auch Ihr Kollege.

Besonderheiten bei der Kommunikation mit Kindern sind im Kapitel „Kommunikation und Verhalten“ (S. 172) dargestellt. Auch bei der Gabe von Medikamenten (S. 116) sind Besonderheiten zu beachten.

23.1.2 Kindliche Entwicklung Altersperioden Die Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen dauert ca. 20 Jahre und unterliegt einem stetigen Wandel. Dieser kontinuierliche Entwicklungsprozess wird in verschiedene Phasen eingeteilt: ● Frühgeborene: Geburt vor der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) ● Neugeborene: 0.–28. Lebenstag ● Säuglinge: 28 Tage–12 Monate ● Kleinkinder: 1–3 Jahre ● Kinder: 4–13 Jahre ● Jugendliche: 13–18 Jahre Während dieser Phasen durchleben Kinder entscheidende körperliche, geistige und soziale Entwicklungsschritte. Fähigkeiten, die ein gesundes Kind in einem bestimmten Alter erreicht haben sollte, werden als Meilensteile in der Entwicklung bezeichnet (▶ Abb. 23.1). Dabei dürfen Sie aber nicht vergessen, dass sich jedes Kind unterschiedlich schnell entwickelt und nicht jedes verspätete Erreichen der Meilensteine besorgniserregend oder ein Hinweis auf eine Erkrankung ist.

Grundlagen im Umgang

Kindliche Entwicklung

▶S. 522

▶S. 522

Anatomie und Physiologie

Besonderheiten pädiatrischer Patienten

▶S. 524

Beurteilung und Versorgung Transport

▶S. 526

▶S. 528

Kindeswohlgefährung

▶S. 529

Grundlagen im Umgang

▶S. 530

Anatomie und Physiologie

Besonderheiten geriatrischer Patienten

▶S. 530

Beurteilung und Versorgung

Übergewicht und Risiko für Begleiterkrankungen

▶S. 531

▶S. 533

Besonderheiten adipöser Patienten Beurteilung und Versorgung

Normwerte Mit dem Lebensalter verändern sich auch die physiologischen Normwerte von Kindern. Sowohl die Meilensteine in der Entwicklung als auch die physiologischen Normwerte eines Kindes sind für die rettungsdienstliche Diagnostik und Beurteilung des Gesundheitszustandes wichtige Orientie-

▶S. 533

rungspunkte. Da pädiatrische Notfälle selten vorkommen und sich die Normwerte im Verlauf der körperlichen Entwicklung deutlich verändern, sollten Sie bei Kindern pädiatrische Notfalllineale (▶ Abb. 23.2) einsetzen: Damit können Sie das Gewicht des Kindes über die Größe ermitteln und anschließend relevante Werte zuordnen (▶ Tab. 23.1).

Tab. 23.1 Physiologische Normwerte bei Kindern. Alter

Länge bzw. Größe

Gewicht

AF (in Ruhe)

Atemzugvolumen (AZV)

HF (in Ruhe)

RR (in Ruhe)

Blutvolumen

Frühgeborene

≤ 45 cm

≤ 2,5 kg

30–60/min

15–35 ml

140–160/min

50/30 mmHg

≥ 160 ml

Neugeborene

45–55 cm

2,5–4,5 kg

30–60/min

20–40 ml

120–140/min

65/40 mmHg

160–400 ml

Säuglinge

55–75 cm

4,5–10 kg

25–45/min

30–70 ml

110–130/min

80/50 mmHg

320–1000 ml

Kleinkinder

75–100 cm

10–18 kg

20–35/min

55–110 ml

100–120/min

100/55 mmHg

770–2400 ml

Kinder

100–160 cm

15–60 kg

12–30/min

80–420 ml

80–110/min

110/60 mmHg

1200–3 700 ml

Jugendliche

≥ 150 cm

> 60 kg

10–18/min

300–600 ml

60–80/min

120/80 mmHg

> 3 600 ml

Die angegebenen Werte sollen als Anhaltspunkte dienen, Abweichungen sind möglich; AF: Atemfrequenz, HF: Herzfrequenz, RR: Blutdruck

523

23

Besondere Patientengruppen Abb. 23.1 Meilensteine in der Entwicklung von Kindern.

6 WOCHEN • soziales Lächeln bla bla

2–3 MONATE • hebt Kopf in Bauchlage • gibt Laute von sich

4 MONATE • dreht Kopf zur Schallquelle • hält Gegenstände • beobachtet Hände bla bla bla

7–11 MONATE • Scherengriff • sitzt • robbt

5–6 MONATE • greift gezielt nach Gegenständen und gibt sie von Hand zu Hand • spielt mit den Knien • plaudert • isst Brei 10–13 MONATE

13–18 MONATE

• steht • Pinzettengriff • wirft Gegenstände

mama auto

• geht frei • spricht 2–3 Wörter • isst selbstständig • trinkt aus dem Glas

nein!

• kritzelt eckig • beachtet Handlungsresultat • Zweiwortsätze (Wortschatz 150) • betrachtet Bilderbuch • gibt Gegenstände • sagt: „NEIN!“ • bittet um Hilfe

3 JAHRE • tags trocken • mit Hilfe anziehen • nachts meist trocken • öffnet und schließt Flasche • kritzelt geschlossene Formen • spricht alle Laute außer S/Sch/R 6 JAHRE

2 JAHRE

4 JAHRE auto

• Formen reproduzieren • Männchen-Zeichnen (13 Teile) • „schreiben“ und rechnen • spielt Rollenspiele • grammatikalisch korrekte Sätze/Wörter definieren

• Erwachsenengriff • reproduziert Formen • Männchen-Zeichnen (7 Teile) • Groß-Klein-Unterscheidung • versteht z. B. „Was tust du, wenn du Hunger hast?“ • kann Kapazität abschätzen

Nicht jedes Kind erreicht die Meilensteine zur gleichen Zeit, Abweichungen sind häufig. Aus: I care Anatomie, Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

23.1.3 Anatomie und Physiologie Atmungssystem Der Bau der Atemwege (S. 68) unterscheidet sich im Vergleich zu Erwachsenen an einigen entscheidenden Stellen (▶ Abb. 23.3), weswegen z. B. Atemwegsschwierigkeiten bei Kindern häufiger vorkommen als bei Erwachsenen. Folgende Besonderheiten sind beim kindlichen Atmungssystem zu berücksichtigen: ● Die Schleimhäute der Atemwege reagieren auf Entzündungen und mechanische Reize deutlich empfindlicher bzw. schwellen schneller an als bei Erwachsenen und ver524







ursachen daher sehr viel schneller Atemprobleme, evtl. schon bei einer geringfügigen „Erkältung“. Neugeborene und Säuglinge sind „obligate Nasenatmer“, d. h., sie können nicht einfach durch den Mund statt durch die Nase atmen: Bereits ein leichter Schnupfen kann somit die Atmung beeinflussen. Die Zunge ist relativ groß und fällt leichter zurück als bei Erwachsenen, was bei der Intubation zu beachten ist. Die engste Stelle der Atemwege ist bei Kindern der subglottische Raum (Bereich unterhalb der Stimmritze, ▶ Abb. 23.3), bei Erwachsenen hingegen die Stimmritze. Dadurch können bei Kindern Schwellungen im subglottischen Bereich zu Atemnot führen, z. B. beim Krupp-Syndrom (S. 280).

Besonderheiten pädiatrischer Patienten Abb. 23.2 Notfalllineal der Firma meetB. ●







Mithilfe eines Notfalllineals können Sie anhand der Größe des Kindes dessen Gewicht abschätzen. Auf vielen Linealen sind außerdem altersentsprechende Normwerte, Dosierungsempfehlungen für häufig in der Notfallrettung eingesetzte Medikamente sowie die jeweils passende Größe von Beatmungsmasken oder Tuben vermerkt. Das hier gezeigte Modell stammt von der Firma meetB, ähnliche Lineale sind auch von anderen Herstellern erhältlich. Aus: Trappe U, Reifferscheid F, Thiele J et al.: Aktionsplan Sichere Notfallnarkose bei Kindern. Der Notarzt 2016; 32(05): 244 – 253. Foto: © U. Trappe

Abb. 23.3 Atemwege bei Erwachsenen und bei Kindern.

harter Gaumen Zunge Epiglottis Stimmbänder

Die Atemwege von Kindern und Erwachsenen unterscheiden sich anatomisch. Dies erhöht das Risiko für Atemwegsschwierigkeiten bei Kindern bzw. für Probleme bei der Versorgung im Rettungsdienst, z. B. bei der Masken-Beutel-Beatmung oder der Intubation. Horizontale Linien: Projektion der Glottis (Stimmritze) auf die Halswirbelsäule; schräge Linien: Winkel zwischen Epiglottis (Kehldeckel) und Glottisebene.







Der Kehlkopf liegt bei Kindern höher als bei Erwachsenen und ist nach ventral gekippt, wodurch bei einer Beatmung keine Überstreckung des Kopfes nötig ist. Stattdessen bietet sich hier der Esmarch-Handgriff (S. 209) bzw. die Schnüffelposition (▶ Abb. 13.15) an. Die Luftröhre ist im Vergleich zu Erwachsenen relativ kurz und sehr eng, wodurch einseitige Fehlintubationen begünstigt werden und der Tubus bei leichten Kopfbewegungen trotz Fixierung leichter verrutschen kann. Bei Neugeborenen sind die Knorpelspangen der Luftröhre noch sehr elastisch, die Halsmuskulatur ist noch nicht sehr kräftig. Um eine Verlegung der Atemwege durch „Abkni-

cken“ zu verhindern, müssen Sie daher den Kopf beim Tragen immer unterstützen. Bei Neugeborenen und Säuglingen stehen die Rippen eher horizontal, wodurch eine Behinderung der Zwerchfellatmung (z. B. bei aufgetriebenem Bauch) schlechter ausgeglichen wird. Kinder sind anfälliger für Atemwegsinfektionen, da die oberen Luftwege noch verhältnismäßig kurz und die Schleimhäute empfindlicher sind. Im Laufe der Entwicklung nimmt die Totalkapazität der Lunge beachtlich zu: Sie verdreifacht sich durch Zunahme des Lungengewebes von etwa 1,4 l bei 5-Jährigen auf ca. 4,5 l bei Jugendlichen. Dies erleichtert das Ein- und Ausatmen erheblich. Für den Rettungsdienst hat dies u. a. die Konsequenz, dass Sie bei der Masken-Beutel-Beatmung je nach Alter unterschiedliche Atemzugvolumina beachten müssen (▶ Tab. 23.1). Das Lungenvolumen ist geringer, die Rippen stehen eher horizontal und der Sauerstoffbedarf ist durch den aktiveren Stoffwechsel höher. Daher ist die Atemfrequenz bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern deutlich höher als bei Erwachsenen (▶ Tab. 23.1). Erst ab dem 10. Lebensjahr nähert sie sich der Frequenz von Erwachsenen an. Daher müssen Sie bei der Masken-Beutel-Beatmung neben dem Volumen auch die Frequenz an das Alter des Kindes anpassen.

ACHTUNG Die genannten Unterschiede führen dazu, dass Kinder Atmungseinschränkungen nur kurz ausgleichen können und diese schnell zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen können!

Kardiovaskuläres System Auch die anatomischen und physiologischen Gegebenheiten des Herz-Kreislauf-Systems stellen Mitarbeitende des Rettungsdienstes mangels Routine oft vor Herausforderungen: Um den kindlichen Körper mit ausreichend Blut zu versorgen, werden die geringere Herzkraft und somit kleinere Auswurfleistung sowie der niedrigere systemische Gefäßwiderstand durch eine erhöhte Herzfrequenz ausgeglichen, vgl. das Kapitel zur Physiologie der Herzleistung (S. 62). Das Herzminutenvolumen ist gerade bei jüngeren Kindern von der Herzfrequenz abhängig: Das bedeutet, dass eine für Erwachsene normwertige Herzfrequenz (z. B. 80 Schläge/min) für Neugeborene und Säuglinge als lebensbedrohlich zu werten ist. Zudem reagiert das kindliche Herz auf eine Hypoxie schneller als das Herz von Erwachsenen mit einer Bradykardie. Daher muss z. B. eine schnellere Narkoseeinleitung durchgeführt und zwischen der Gabe der Narkosemedikamente und der Intubation zwischenbeatmet werden. Im Verlauf der kindlichen Entwicklung nehmen die Kontraktionskraft und das Schlagvolumen des Herzens sowie auch der Gefäßwiderstand zu, die Werte für Herzfrequenz und Blutdruck erreichen bis zur Pubertät den Bereich der Werte von Erwachsenen (▶ Tab. 23.1).

! Merke Kreislaufwerte

Je jünger das Kind, umso höher sind die Atem- und die Herzfrequenz und umso niedriger ist der Blutdruck. Zusätzlich ist zu beachten, dass zwar das Blutvolumen im Verhältnis zum Körpergewicht höher ist als bei Erwachsenen (80 ml/kg KG Kind zu 70 ml/kg KG Erwachsener), das Gesamtvolumen aber in Abhängigkeit vom Alter des Kindes dennoch wesentlich geringer ist (▶ Tab. 23.1). 525

23

Besondere Patientengruppen

ACHTUNG Absolut gesehen ist das Blutvolumen bei Kindern geringer als bei Erwachsenen, sodass bei Kindern bereits scheinbar geringe Blutverluste zum Schock (S. 293) führen können.

Fallbeispiel Blutverlust Verliert ein Erwachsener mit 70 kg KG und ca. 5 Liter Blutvolumen 200 ml Blut („ein Glas voll“), sind dies < 5 % seines Blutvolumens. Bei einem Kleinkind mit 15 kg KG und ca. 1 Liter Blutvolumen ist dies hingegen ein Verlust von 20 % des Blutvolumens und es besteht Schockgefahr!

Verdauungssystem Die Speiseröhre (Ösophagus) ist bei kleineren Kindern kurz und hat eine schwache Muskulatur. Der untere Ösophagussphinkter, der die Speiseröhre vor zurückfließendem Mageninhalt verschließt, ist bei Säuglingen noch nicht ganz ausgereift. Der Magen liegt bis zum Kleinkindalter hoch im Bauch und eher horizontal als vertikal. Sein Fassungsvermögen steigt von 30–90 ml bei Neugeborenen auf 2–3 l bei Erwachsenen an. Das heißt, Kinder können bei zu hohen Beatmungsdrücken leichter ein Magenüberblähung erleiden. Dadurch haben sie ein höheres Risiko, Flüssigkeit oder feste Bestandteile einzuatmen (höheres Aspirationsrisiko). Kinder sind anfälliger für bakterielle Infektionen des Magen-Darm-Traktes, da sie wenig Magensäure produzieren und Bakterien somit schlechter abgetötet werden. In den ersten Lebenstagen ist häufig ein Neugeborenenikterus zu beobachten, weil die Leberfunktionen noch nicht völlig ausgereift ist. Dadurch wird das beim Abbau des fetalen Hämoglobins entstehende Bilirubin in der Leber nicht schnell genug verstoffwechselt und die Bilirubinkonzentration im Blut steigt an. Die Haut verfärbt sich gelblich. Dies sollte sich bis zum 10. Lebenstag zurückbilden.

Wasserhaushalt Kinder verlieren mehr Flüssigkeit als Erwachsene: Dies liegt zum einen an den noch nicht voll funktionsfähigen Nieren, die verhältnismäßig mehr Wasser ausscheiden als bei Erwachsenen, zum anderen an der im Vergleich zu Erwachsenen 2- bis 3-mal größeren Körperoberfläche (im Verhältnis zum Körpergewicht). Kinder haben einen höheren Körperwasseranteil (ca. 75 %) als Erwachsene (ca. 60 %). Daher ist auch der Erhaltungsbedarf des Wasser- und Elektrolythaushalts höher als bei Erwachsenen: Säuglinge nehmen täglich ein Sechstel ihres Körpergewichts an Wasser auf, Erwachsene hingegen weniger als ein Zwanzigstel. Kinder benötigen also prozentual gesehen deutlich mehr Wasser als Erwachsene. Daher führt ein Magen-Darm-Infekt mit Durchfall und/oder Erbrechen häufiger als bei Erwachsenen zu einer Dehydratation (S. 501) oder unbehandelt bis zum Volumenmangelschock oder zum Tod, vgl. das Kapitel zur Physiologie des Wasser- und Elektrolyt-Haushalts (S. 83).

wärmeproduzierende Skelettmuskulatur verfügen als Erwachsene und ältere Kinder. Diese entwickelt sich erst durch aktive Bewegung. Säuglinge können deshalb in den ersten 9–12 Lebensmonaten einer Unterkühlung (S. 402) nicht durch Kältezittern (Muskelkontraktionen, um die Körpertemperatur zu erhöhen) entgegenwirken. Zwar verfügen Neugeborene und Säuglinge über spezielles braunes Fettgewebe zur Wärmeproduktion, dies reicht jedoch für eine Kompensation dennoch oft nicht aus. Darüber hinaus haben Kinder eine im Vergleich größere Körperoberfläche und geben damit mehr Wärme über die Haut nach außen ab. Insbesondere der Kopf ist bei Kindern und ganz besonders bei Neugeborenen und Säuglingen im Verhältnis zum restlichen Körper deutlich größer als bei Erwachsenen, wodurch zusätzlich schnell sehr viel Wärme über den Kopf verloren geht. Achten Sie deswegen immer auf eine Kopfbedeckung! Um dies zu verdeutlichen, ein kleiner Vergleich: Ein nacktes Neugeborenes kann seine Körpertemperatur nur bei einer Außentemperatur von 32–34 °C problemlos aufrechterhalten. Einem nackten Erwachsenen ist dies noch bei 27– 29 °C möglich. Sinkt die Außentemperatur unter 23 °C, versagen die Regulationsmechanismen von Neugeborenen und es besteht eine akute Gefahr der Unterkühlung. Daher ist der Wärmeerhalt mit Rettungsdecken bei Kindern unter 1 Jahr besonders wichtig.

23.1.4 Beurteilung und Versorgung Material Für eine optimale Untersuchung und Behandlung von Kindern gibt es auf den rettungsdienstlichen Fahrzeugen spezielles „kleines“ Material (z. B. passende Tuben, Sauerstoffmasken, Beatmungsbeutel, Stethoskope, Zugänge, RR-Manschetten). Die Mindestausstattung für die Notfallausrüstung legt die DIN 13 232 fest. Teil C beschreibt dabei die spezielle Materialvorhaltung für Kindernotfälle. Das Equipment kann in unterschiedlichen Koffer- und Rucksacksystemen modular kombiniert und mitgeführt werden. Meistens wird das Material für pädiatrische Notfälle separat vorgehalten. Aufgrund lokaler Ausstattungsstandards variiert die zur Verfügung stehende Ausrüstung in Umfang und Qualität. Um im Einsatz Zeitverluste bei lebensrettenden Maßnahmen zu verhindern, müssen Sie die jeweils eingesetzten Ausrüstungsgegenstände kennen und anwenden können.

Ersteinschätzung Sehr wichtig bei der Beurteilung und Versorgung verletzter und erkrankter Kinder ist es, ein möglicherweise unmittelbar bevorstehendes respiratorisches oder zirkulatorisches Versagen zu erkennen. Daher wird für die Einschätzung des Ersteindrucks bei Kindernotfällen das pädiatrische Blickdiagnosedreieck (▶ Abb. 23.4) angewendet. Im Anschluss werden sie (wie Erwachsene) mithilfe des cABCDE-Schemas (S. 183) beurteilt, allerdings sind die im Folgenden beschriebenen Besonderheiten zu beachten.

ABCDE-Schema

526

Wärmehaushalt

Airway

Die Wärmeregulation (S. 91) von Kindern, insbesondere von Neugeborenen und Säuglingen, unterscheidet sich deutlich von der Erwachsener: Kinder reagieren viel schneller auf Abweichungen der Umgebungstemperatur von gewohnten Werten. Dies liegt u. a. daran, dass sie über deutlich weniger

Kinder weisen – wie unter „Atmungssystem“ (S. 524) beschrieben – anatomische Merkmale auf, die das Atemwegsmanagement erschweren und die Gefahr von Atemwegsverlegungen (Atemwegsobstruktionen) im Vergleich zu Erwachsenen erhöhen.

Besonderheiten pädiatrischer Patienten Abb. 23.4 Pädiatrisches Blickdiagnosedreieck.

Allgemeinzustand

Atmung/Atemarbeit

Absaugen • Bevor Sie Sekret, das die Atemwege verlegt, absaugen, müssen Sie den Sog kontrollieren. Halten Sie den Sog möglichst < 0,2 bar, da ein zu starker Sog die Schleimhäute verletzen kann. Ein endotracheales Absaugen kann Atelektasen (zusammengefallene Lungenbläschen/-abschnitte) erzeugen. Beatmen Sie deshalb das Kind nach dem Absaugen 1- bis 2-mal mit einem Beatmungsbeutel. Säuglinge sind obligate Nasenatmer, saugen Sie daher auch die Nasenhöhlen vorsichtig ab.

Breathing Hautkolorit/Hautperfusion Allgemeinzustand

Kind wach und aktiv? Spricht/schreit das Kind?

Atmung/Atemarbeit

Atemfrequenz zu niedrig/zu hoch? Dyspnoezeichen wie Nasenflügeln, Einziehungen, Stridor oder Zyanose vorhanden?

Hautkolorit/ Hautperfusion

Kind blass/rosig? Haut warm/kalt/verschwitzt? Kapilläre Füllungszeit?

Das pädiatrische Blickdiagnosedreieck (PAT – Pediatric Assessment Triangle) dient der Beurteilung des Allgemeinzustands, der Atmung und der Kreislaufsituation von Kindern. Aus: Olivieri M, Keil J, Reuter L V et al. Kindernotfälle – unbegründete Angst?. retten! 2020; 9(02): 108–118

Erhöhtes Aspirationsrisiko • Kinder haben im Vergleich zu Erwachsenen ein höheres Aspirationsrisiko, das mit zunehmendem Alter sinkt. Dies hat folgende Ursachen: ● Der Kehlkopf liegt höher als bei Erwachsenen. ● Die Kaufähigkeit und der Schluckakt sind noch nicht vollständig entwickelt. ● Bei Atemwegsinfekten setzen Kleinkinder die Mundatmung ein, sind dies aber noch nicht gewohnt. ● Säuglinge und Kleinkinder erkunden ihre Umgebung mit dem Mund, nehmen also „alles“ in den Mund (= orale Umgebungserkundung). ● Die motorischen Fähigkeiten sind bereits gut entwickelt, es besteht aber noch zu wenig Verständnis/Bewusstsein für Gefahren. Positionierung des Kopfes • Die kindlichen Atemwege sind im Notfall am besten in der „Schnüffelposition“ geschützt. Diese Position verhindert, dass der im Verhältnis zum Rest des Körpers große und damit schwere Kopf des Kindes die Halswirbelsäule nach vorne biegt (Vorneigung des Kopfes) und damit die Atemwege versperrt. Um dem entgegenzuwirken, können Sie Kindern (v. a. Neugeborenen und Säuglingen) auch ein 2–3 cm dickes Tuch unter den Rücken legen und so das Offenhalten der Atemwege unterstützen (▶ Abb. 13.15). Atemwegssicherung • Zur Atemwegssicherung bewusstloser Kinder können ein Wendl-Tubus (S. 211) oder ein supraglottisches Hilfsmittel, z. B. eine Larynxmaske (S. 215), genutzt werden. Beide lösen allerdings häufig Erbrechen aus, sofern die Schutzreflexe des Kindes nicht erloschen sind. Eine endotracheale Intubation wird bei Kindern im Rettungsdienst nur im äußersten Notfall durchgeführt.

Bei Säuglingen ist Atemnot nicht so deutlich zu sehen wie bei Erwachsenen: Wichtige Anzeichen von Atemnot sind Nasenflügeln (Nasenflügel bewegen sich rasch auf und ab), Stöhnen und Einziehungen des Thorax beim Atmen. Kleinkinder versuchen, einer Hypoxie durch eine erhöhte Atemfrequenz und vermehrte Atemarbeit entgegenzuwirken. Diese Anstrengung kann zu einer schweren Erschöpfung bis hin zum Atemversagen führen, weil zur Bewältigung der Atemarbeit auch eine Steigerung der Herzleistung nötig ist. Bei Atemnot oder gesteigerter Atemarbeit sollte assistiert (mit einem Beatmungsbeutel) beatmet werden, da sich der Zustand des Patienten akut verschlechtern können. Achten Sie dabei auf die Verwendung eines entsprechend kleinen Beatmungsbeutels sowie eine korrekte Filter- und Maskengröße, um eine Magenüberblähung und Druckschädigungen zu vermeiden. Angestrebt wird eine SpO2 ≥ 95 %.

Circulation Kinder kompensieren Kreislaufbeschwerden sehr unauffällig. Selbst bei starken Blutungen wird der Kreislauf nicht sofort sichtbar instabil. Wird er allerdings instabil, ist der Zustand des Kindes meist bereits so schlecht, dass kaum noch Hilfe möglich ist.

! Merke Vitalparameter

Bei Kindern müssen Sie die Vitalparameter engmaschig kontrollieren (ca. alle 2–5 min), um eine Verschlechterung des Zustands rechtzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können. Der periphere Puls bei Neugeborenen und Kindern ist an der A. brachialis tastbar. Schon bei Kindern über 1 Jahr können Sie außerdem versuchen, den Radialispuls zu tasten. Die Stellen der zentralen Pulsmessung (Hals- und Beinschlagader) sind wie bei Erwachsenen nutzbar. Eine Bradykardie (verlangsamter Herzschlag unter den jeweiligen altersabhängigen Normwert, ▶ Tab. 23.1) bei Kindern weist i. d. R. auf eine Atemstörung hin. Eine Tachykardie (beschleunigter Herzschlag, über den altersspezifischen Wert) kann ein Anzeichen von Stress, Angst oder Schmerzen sein. Allerdings ist die Herzfrequenz bei Kindern generell höher, sodass eine Frequenz > 100 Schlägen/min nicht besorgniserregend sein muss. Hingegen ist eine Herzfrequenz von 60 Schlägen/min bei einem Neugeborenen bereits bedrohlich langsam! Zur orientierenden Einschätzung des Volumenstatus sollten Sie (wie bei Erwachsenen) den Hautturgor beurteilen. Ergänzend dazu können Sie bis zum Ende des 2. Lebensjahres eine Palpation der Stirnfontanelle vornehmen: Eine eingefallene Fontanelle weist auf eine Dehydratation (S. 501) hin, das Kind benötigt Volumen. Eine erhabene Fontanelle deutet hingegen auf eine Hirndruckerhöhung hin.

527

23

Besondere Patientengruppen

Disability Glasgow Coma Score • Zur neurologischen Beurteilung liefert der Glasgow-Coma-Score (S. 191) aussagekräftige Informationen, genau wie bei Erwachsenen. Jedoch muss die verbale Reaktion bei kleinen Kindern anders bewertet werden als bei Erwachsenen, da das Sprachvermögen i. d. R. noch sehr eingeschränkt ist. Ersatzweise wird dann anstelle der sprachlichen Äußerungen das Verhalten des Kindes beurteilt. Unter anderem deswegen gibt es für Kinder einen modifizierten GCS: So gelten z. B. Plappern und Brabbeln als angemessene Reaktion (5 Punkte), bei Stöhnen oder unverständlichen Lautäußerungen werden 2 Punkte, bei keinerlei verbaler Reaktion 1 Punkt vergeben. Blutzucker • Um abzuklären, ob ein Kind aufgrund einer Unterzuckerung (S. 358) bewusstlos ist (und nicht aufgrund eines neurologischen Problems) oder nicht auf Ansprache reagiert, sollte auch bei Kindern der Blutzucker (BZ) gemessen werden. Ein zu niedriger Blutzuckergehalt kann z. B. durch längere Ernährungspausen oder auch durch Erbrechen verursacht sein. Im 1. Lebensjahr wird das Blut für die BZ-Messung an der Außenseite der Ferse entnommen. Um das Schmerzerleben des Kindes dabei zu mindern, sollte es Hautkontakt zu einer Bezugsperson haben und/oder ein paar Tropfen Zuckerlösung (möglichst unter Saugen, z. B. über ein getränktes Wattestäbchen) bekommen.

Exposure and Environment Kinder sollten unbedingt auf weitere, möglicherweise lebensbedrohliche Verletzungen hin untersucht werden. Dabei ist mit einem unter Umständen verängstigten Kind zu rechnen. Aufgrund der Besonderheiten im Wärmehaushalt (S. 526) von Kindern ist bei ihnen die Gefahr einer Unterkühlung (S. 402) deutlich größer als bei Erwachsenen. Zudem fehlt beim Frieren z. B. das Zittern als deutliches Zeichen einer möglichen Unterkühlung (Kältezittern und Gänsehaut sind in den ersten 9–12 Monaten noch nicht möglich), wodurch diese leicht übersehen werden kann.

! Merke Säuglinge und Kinder warm halten

Decken Sie Säuglinge und Kinder nach der Untersuchung unverzüglich wieder zu, um keinen Wärmeverlust und somit eine Unterkühlung zu riskieren.

Die Blutdruckmessung ist bei Kindern im Notfall mäßig zuverlässig, technisch schwierig, zeitraubend und belastend. Außerdem tritt ein RR-Abfall bei Kindern erst kurz vor dem Kreislaufversagen auf. Deshalb sollten Sie sich zur Kontrolle der Durchblutung (Perfusionskontrolle) vorrangig auf die Nagelbettprobe (S. 189) bei Raumtemperatur konzentrieren. Es gilt hier wie bei Erwachsenen: Bei einer Rekapillarisierungszeit > 2 s liegt möglicherweise ein Schock vor. Auch Blässe ist hierfür ein Alarmsignal. Messen Sie bei einem Kind dennoch den Blutdruck, sollte die RR-Manschette 2/3 des Oberarmes einnehmen. Die speziellen Kindermanschetten sind meistens bunt gestaltet und wirken nicht so abschreckend. Um das Kind nicht unnötig einzuschüchtern, sollten Sie das Stethoskop vor Gebrauch durch leichtes Reiben anwärmen.

! Merke Blutdruckmessung

Die RR-Messung ist bei Kindern im Notfall erst nach dem 2. Geburtstag sinnvoll.

23.1.5 Transport Für Kinder werden für den Transport i. d. R. normale RTWs oder KTWs genutzt, es gibt aber auch Spezialfahrzeuge (z. B. Baby-NAW, ▶ Abb. 23.5) und Transportinkubatoren (spezielles Transportsystem für Neugeborene). Vor und während des Transports ergeben sich dabei logistische Herausforderungen. Im Vordergrund sollte immer die Sicherheit des Kindes stehen. Befolgen Sie dazu folgende Grundsätze: ● Ist aufgrund eines Traumas (z. B. bei Wirbelsäulentrauma) eine Immobilisation erforderlich, sollte das Kind nicht von den Eltern auf dem Arm zum Fahrzeug getragen werden. ● Alle Kinder dürfen nur mit speziell dafür vorgesehenen Kinderrückhaltesystemen transportiert werden, also nicht in den Armen oder auf dem Schoß von Mutter oder Vater. Ein Elternteil bzw. eine Bezugsperson sollte aber in der Nähe des Kindes sein, um Körperkontakt zur Beruhigung zu ermöglichen. ● Bei sehr aufgeregten Eltern/Bezugspersonen, die die Versorgung des Kindes beeinträchtigen, ist eine alternative Transportmöglichkeit zu schaffen.

Abb. 23.5 Baby-Notarztwagen und Transportinkubator.

Entfernen Sie im Falle einer Hyperthermie (Überhitzung) bzw. bei Hitzenotfällen (S. 432) beengende Kleidung, um einen Wärmestau und eine Überlastung des Kreislaufsystems zu vermeiden.

Secondary Survey Auf die Ersteinschätzung und die Entscheidung, ob ein pädiatrischer Notfallpatient kritisch oder nicht kritisch ist, folgt die weiterführende Diagnostik. Sie besteht aus der Anamnese, Messwerten und einer fokussierten körperlichen Untersuchung. Bei Kleinkindern steht die Fremdanamnese im Vordergrund. Insbesondere die Beurteilung von Schmerzen und die Beurteilung der Notwendigkeit bzw. Effektivität einer Schmerztherapie kann schwierig sein. Siehe Näheres zur Schmerzbeurteilung bei Kindern (S. 118). Bei der Erhebung der Messwerte müssen Sie entsprechend kleine Hilfsmittel verwenden, um die exakten Vitalparameter zu erheben. Im Kindernotfallkoffer finden Sie kleinere Stethoskope, EKG-Elektroden, Defibrillationselektroden, SpO2-Sensoren und RR-Manschetten. 528

Die Trageeinrichtung ist quer zur Fahrtrichtung verbaut. Aus: Hillebrand G, Naust B: Notfalltransporte von Neugeborenen. Notfallmedizin up2date 2021; 16(03): 347–365. Stuttgart: Thieme. Foto: © mit freundlicher Genehmigung der Wietmarscher Ambulanz- und Sonderfahrzeug GmbH, Wietmarschen

Besonderheiten pädiatrischer Patienten

! Merke Kinder immer gesichert transportieren!

Abb. 23.6 Hinweise auf Kindesmisshandlung.

Häufig wird die Meinung vertreten, Kinder müssten für einen kurzen Transport nicht gesichert werden: „Bei der kurzen Fahrstrecke geht das schon, fahr' halt ein bisschen vorsichtiger…“ Es gilt jedoch: Der Fahrer eines Fahrzeuges ist immer verantwortlich für die Sicherheit der Insassen. Diese Verantwortung kann weder auf andere Personen im Fahrzeug übertragen noch von diesen übernommen werden!

23.1.6 Kindeswohlgefährdung

„unnatürlicher“ Verletzungsbereich „natürlicher“ Verletzungsbereich

Fallbeispiel Kindeswohlgefährdung?* Das RTW-Team hat einen Einsatz in der Schule. Ein Kind sei die Treppe hinuntergefallen. Am Einsatzort treffen Sie auf ein 10jähriges Mädchen. Bei der schnellen Traumauntersuchung fallen Ihnen diverse Hämatome unterschiedlichen Alters auf. *Fallbeispiel fiktiv

Oft bringen solche Situationen die Retter nicht nur fachlich, sondern auch emotional an ihre Grenzen. Ein sensibles Vorgehen, Kenntnisse über Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung und den Umgang damit sind unerlässlich, um im Zweifelsfall zu beurteilen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt – oder auch nicht.

Definition Kindswohlgefährdung „Eine Kindeswohlgefährdung ist eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (Bundesgerichtshof 1956). Formen • Grob kann zwischen körperlichen und seelischen Misshandlungen unterschieden werden. Kindesmisshandlungen kommen in allen Gesellschaftsschichten vor, dabei sind körperliche Übergriffe am offensichtlichsten. Folgende Formen der Kindeswohlgefährdung werden unterschieden: ● körperliche oder seelische Misshandlung ● körperliche, seelische oder kognitive Vernachlässigungen ● sexueller Missbrauch

Anzeichen für eine Misshandlung Bei Verdacht auf Kindesmisshandlung sind Sie als Rettungsdienstmitarbeitender in einer schwierigen Lage: Einerseits müssen Sie Hinweise in diese Richtung absolut ernst nehmen, um das Kind vor weiteren Übergriffen zu schützen. Andererseits bedeutet eine falsche Verdächtigung eine große Belastung für die betroffene Familie. Eine gesellschaftliche Vorverurteilung ist kaum wieder einzufangen. Körperliche Misshandlung • Folgende Verletzungsmuster legen den Verdacht auf körperliche Übergriffe nahe: ● zahlreiche Hämatome in unterschiedlichen Phasen der Abheilung, oft auch an für eine akzidentelle Entstehung ungewöhnlichen Körperstellen (z. B. am Rücken; ▶ Abb. 23.6) ● typische Form der Verletzungen, z. B. Striemen nach Schlägen mit einem Gürtel oder Stock, punktförmige Verbrennungen durch Zigaretten ● Zeichen früherer Verletzungen, z. B. Narben oder Stufenbildungen an knöchernen Strukturen ● Bisswunden, ausgerissene Haare ● Verletzungen, Schmerzen oder Juckreiz im Intimbereich nach sexuellen Übergriffen ● Symptome eines Schütteltraumas bei Säuglingen (S. 381)

Hautveränderungen an Körperstellen, die bei akzidentellen Verletzungen nur sehr selten betroffen sind, können ein Hinweis auf eine Kindesmisshandlung sein. Bei rund 90 % aller misshandelten Kinder sind an der Haut Auffälligkeiten zu erkennen. Aus: Höger P, Hrsg. Kinderdermatologie. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021

Mögliche indirekte Hinweise im elterlichen Verhalten: ● unglaubwürdige Angaben bei der Anamnese (unterschiedliche Darstellung des Verletzungshergangs, Erklärung passt nicht zu den Verletzungen, fehlende Erklärung) ● Ablehnen oder Boykottieren einer weiteren Untersuchung ● Hinauszögern des Notrufs Körperliche Vernachlässigung • Eine schlechte körperliche Pflege des Kindes zeigt sich oft durch unpassende und/oder verschmutzte Kleidung und eine schlechte Körper- und Mundhygiene. Eine länger anhaltende Verwahrlosung kann zu Wachstums- und Entwicklungsstörungen führen. Seelische Misshandlungen • Solche Misshandlungen sind für den Rettungsdienst in der Regel schwer zu erkennen, da sich die Eltern während des Einsatzes ggf. anders verhalten als im Alltag. Oft resultieren u. a. ein verängstigtes oder auch aggressives Verhalten des Kindes, eine nicht altersgemäße Sprachfähigkeit oder andere Verhaltensstörungen.

Konkretes Vorgehen Wie sollen Sie sich als Rettungssanitäter nun konkret verhalten? Sie können v. a. den Notfallsanitäter dabei unterstützen, notärztliche Unterstützung anzufordern und das Jugendamt zu informieren. Sofern es der Zustand des Kindes auch nur ansatzweise rechtfertigt, transportieren Sie es in eine Klinik und informieren das Klinikpersonal über Ihren Verdacht. Auf einer pädiatrischen Station ist das Kind akut vor weiteren Übergriffen geschützt und es kann strukturierter untersucht werden als im Notfalleinsatz vor Ort.

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Besondere Patientengruppen

RETTEN TO GO Besonderheiten pädiatrischer Patienten ●







Pädiatrische Notfälle sind selten. Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“. Es gibt wichtige Besonderheiten bezüglich Normwerten und Körperbau. Für die Einschätzung der physiologischen Normwerte können pädiatrische Notfalllineale hilfreich sein. Ersteinschätzung im Notfall mit dem pädiatrischen Blickdiagnosedreieck und im Anschluss wie bei Erwachsenen mithilfe des (c)ABCDE-Schemas mit folgenden Besonderheiten: – Airway: erhöhtes Aspirationsrisiko. Deshalb am besten „Schnüffelposition“. Bei bewusstlosen Kindern kann ein oropharyngealer Tubus oder ein supraglottisches Hilfsmittel genutzt werden. Beim Absaugen von Sekret sollte der Sog unter 0,2 bar gehalten werden. – Breathing: Atemnot ist bei Säuglingen schlechter sichtbar, typische Hinweise sind Nasenflügeln, Stöhnen und Einziehungen des Thorax beim Atmen. Kleinkinder versuchen, einer Hypoxie mit einer erhöhten Atemfrequenz und vermehrter Atemarbeit entgegenzuwirken. Dies kann zu schneller Erschöpfung mit Atemstillstand führen. – Circulation: Puls bei Neugeborenen an der A. brachialis, bei Kindern über 1 Jahr auch an der A. radialis tastbar. Bradykardie weist i. d. R. auf Atemstörung hin, Tachykardie kann Anzeichen von Stress, Angst oder Schmerzen sein. – Disability: neurologische Beurteilung mit dem Glasgow-Coma-Score oder modifizierten GCS; Blutzucker messen, um Unterzuckerung auszuschließen! – Exposure and Environment: Kinder unbedingt auf weitere Verletzungen hin untersuchen. Erhöhtes Risiko für Unterkühlung, daher gezielt auf diesbezügliche Hinweiszeichen und den Wärmeerhalt achten! Kinder dürfen nur mit speziellen Kinderrückhaltesystemen transportiert werden! Im Falle einer möglichen Kindeswohlgefährdung wird das Jugendamt zur Beratung hinzugezogen. Nach Möglichkeit wird das Kind in eine Klinik transportiert, das Klinikpersonal muss über den Verdacht informiert werden.

23.2 Besonderheiten geriatrischer Patienten 23.2.1 Grundlagen im Umgang Definition Geriatrische Patienten Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (= Lehre von den Krankheiten des alten Menschen) gibt es zwei Kriterien, nach denen ein Patient als „geriatrisch“ einzustufen ist: 1. Der Patient ist multimorbide, leidet also gleichzeitig an verschiedenen Krankheiten und hat ein bestimmtes Alter überschritten (meist 70 Jahre). Hier ist die Multimorbidität entscheidender als das kalendarische Alter – oder: 2. Der Patient ist älter als 80 Jahre und aufgrund dieses Alters besteht ein erhöhtes Risiko, dass eine Erkrankung bei ihm kompliziert verläuft, Folgeerkrankungen nach sich zieht (geriatrietypische Vulnerabilität, wörtlich „Verletzlichkeit“) und chronisch wird (Gefahr der Chronifizierung). Zudem ist bei dieser Patientengruppe mit einer erhöhten Gefahr des Verlustes der Selbstbestimmungsfähigkeit (Autonomie) zu rechnen, begleitet von einer Verschlechterung des Selbsthilfestatus. 530

Fachärzte für ältere Menschen (Geriater) unterteilen Menschen ab einem Alter von 60 Jahren folgendermaßen: ● Ältere: 60- bis 75-Jährige ● Alte: 75- bis 90-Jährige ● Hochbetagte: 90- bis 100-Jährige ● Langlebige: > 100-Jährige Die Gruppe der älteren Menschen ist in Deutschland die zahlenmäßig am schnellsten wachsende Altersgruppe. Viele ältere Menschen führen ein gesundes und aktives Leben, andere werden jedoch von chronischen Gesundheitsproblemen geplagt. Die ständig wachsende Zahl der älteren Menschen mit deren alterstypischen Veränderungen stellen bezüglich Versorgung und Transport für den Rettungsdienst eine zunehmend größere Herausforderung dar. Kenntnisse über physiologische Veränderungen, Vorerkrankungen und Dauermedikationen geriatrischer Patienten sind wichtig, um einen guten Einsatzablauf zu gewährleisten. Besonderheiten bezüglich der Kommunikation mit alten Menschen finden Sie im Kapitel „Kommunikation und Verhalten“ (S. 171).

23.2.2 Anatomie und Physiologie Das Altern selbst ist ein natürlicher biologischer Prozess und beginnt bereits Mitte 20. In dieser Phase sind alle Organsysteme ausgereift und das physiologische Optimum erreicht. In den darauffolgenden Jahren fällt es dem Körper zunehmend schwer, das innere physiologische Gleichgewicht (Homöostase) beizubehalten. Das späte Lebensalter ist meist mit Gebrechlichkeit und verschlechterten geistigen, körperlichen und seelischen Fähigkeiten verbunden sowie mit chronischen und degenerativen Erkrankungen (z. B. Degeneration der Gelenke mit Gelenkschmerzen, z. B. am Knie). Die generell zunehmende „Gebrechlichkeit“ kann bei der rettungsdienstlichen Versorgung zu spezifischen Problemen führen, die im folgenden Abschnitt erklärt werden.

Atmungssystem Mit steigendem Lebensalter nimmt die Atemfunktion ab: Zum einen kann sich der Thorax nicht mehr so gut ausdehnen und zusammenziehen, zum anderen nimmt die Krümmung der Brustwirbelsäule zu, z. B. durch Osteoporose. Durch die damit nachlassende Atemleistung müssen sich ältere Menschen mehr anstrengen, um die Herausforderungen des Alltags zu bewältigen. Daneben verringert sich ab dem 30. Lebensjahr die für den Gasaustausch zur Verfügung stehende Oberfläche in den Alveolen (Lungenbläschen), und zwar alle 10 Jahre um ca. 4 %. Zusätzlich zu dieser verringerten O2-Aufnahmefähigkeit sinkt auch die Fähigkeit, Hämoglobin mit Sauerstoff zu beladen. Siehe dazu auch das Kapitel zur Physiologie des Atmungssystems (S. 72). Dieser verringerten Funktionalität des Atmungssystems versucht der Körper mit einer höheren Atemfrequenz und vermehrter Zwerchfellatmung entgegenzuwirken. Dadurch werden ältere Menschen aber auch empfindlicher für Änderungen des Drucks im Bauchraum (z. B. durch Rückenlage, üppige Mahlzeiten und Fettleibigkeit). Dies bedeutet, dass sie im Vergleich zu jüngeren Menschen Erkrankungen und Verletzungen, bei denen das Atmungssystem den Verlauf beeinflussen kann (z. B. Lungenembolie und Polytrauma), insgesamt weniger gut kompensieren können.

Besonderheiten geriatrischer Patienten

Kardiovaskuläres System Auch ohne das Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit oder einer Arteriosklerose verändern sich mit steigendem Alter die Eigenschaften der Gefäße und des Herzens: ● Die Elastizität der Arterien nimmt ab. Dadurch steigt der periphere Widerstand an. Um dem entgegenzuwirken, steigt auch der systolische Blutdruck an. 70-Jährige haben einen systolischen Blutdruck von ca. 140 mmHg. ● Die Dehnungs- und Reaktionsfähigkeit der Herzmuskulatur und der Blutgefäße nimmt mit dem Alter ab. Das HerzKreislauf-System kann die Blutzirkulation und damit die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und Nährstoffen immer weniger effektiv aufrechterhalten. Insbesondere nimmt die Fähigkeit des Herzens ab, bei einem plötzlichen Absinken des Blutdrucks (z. B. durch zu schnelles Aufstehen), bei Blutverlusten oder bei besonderer körperlicher Belastung angemessen zu reagieren. Ursachen dafür sind die sinkende maximale Herzfrequenz (220/min minus Lebensalter), die Abnahme des Herzminutenvolumens (um ca. 50 % mit 80 Jahren) und die abnehmende Sensibilität der Hormonrezeptoren (v. a. für Katecholamine) im Alter. Die eingeschränkte Blutzirkulation trägt zudem bei älteren Menschen zu einer allgemeinen Unterversorgung der Zellen mit Sauerstoff bei (zelluläre Hypoxie). Folgen davon können Herzrhythmusstörungen, akutes Herzversagen oder der plötzliche Herztod sein. ● Zusätzlich verringert sich das zirkulierende Blutvolumen u. a. durch die sehr oft zu geringe Flüssigkeitsaufnahme (nachlassendes Durstgefühl!), wodurch im Falle eines Blutverlustes weniger Reserven zur Verfügung stehen. Vgl. das Kapitel zur Physiologie der Herzleistung (S. 62).

Nervensystem Die Hirnmasse und die Anzahl der Nervenzellen nehmen während des Alterungsprozesses ab. Mit Mitte 20 erreicht unser Gehirn sein Maximalgewicht von ca. 1,4 kg. Ein 80Jähriger hingegen hat ein ca. 10 % leichteres und kleineres Hirn. Zusätzlich sinkt im Alter auch die Nervenleitgeschwindigkeit, wodurch u. a. der Gang unsicher werden kann. Diese normalen Veränderungen können das Gedächtnis beeinflussen, die Persönlichkeit verändern (z. B. verringertes Interesse an Neuem und Fokussierung auf Althergebrachtes) und andere Funktionsverluste zur Folge haben. Zu beachten ist jedoch, dass diese Alterungsprozesse des Nervensystems nicht auf eine Erkrankung des Gehirns hinweisen: Auch bei älteren Notfallpatienten müssen Sie im Falle einer neurologischen Auffälligkeit davon ausgehen, dass diese aus seiner aktuellen Erkrankung oder Verletzung resultiert.

! Merke Neurologische Auffälligkeiten bei alten Menschen

Neurologische Auffälligkeiten, z. B. Vergesslichkeit und eine kurzzeitige Desorientiertheit, können auch im Alter auf eine Erkrankung oder Verletzung hinweisen: Alte Menschen sind nicht zwangsläufig in ihren intellektuellen Fähigkeiten beschränkt! Ein zunehmender Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit ist meist krankhaft und nicht Ausdruck normalen Alterns.

Weitere Veränderungen Mit fortschreitendem Alter nehmen die Zahl und die Funktionsfähigkeit der weißen Blutkörperchen ab. Dadurch treten vermehrt Infekte auf. Die Leber- und Nierenfunktion nehmen ab, was bei der Wahl und Dosierung von Medika-

menten berücksichtigt werden sollte, da deren Wirkung i. d. R. früher eintritt und länger anhält. Der Gesamtkörperwasseranteil fällt von ca. 70 % bei jungen Erwachsenen auf etwa 50 % bei älteren Menschen, was die Gefahr einer Exsikkose (S. 501) erhöht. Verstärkt wird dieses Risiko durch ein abnehmendes Durstgefühl und dadurch zu geringe Trinkmengen. Die Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane nimmt ab (v. a. Hören, Sehen, Tasten), wodurch die Kommunikation und Orientierung erschwert wird und die Mobilität und Eigenständigkeit abnehmen: Beispielsweise kann bereits das Bezahlen des Einkaufs mit Münzen aus dem Geldbeutel zu einer Schwierigkeit werden. Die Muskelmasse nimmt im Alter ab, wodurch zum einen die für die Mobilität erforderliche Kraft, zum anderen aber auch die Wärmeproduktion abnimmt. Dadurch werden ältere Menschen empfindlicher gegenüber Wärmeverlusten. Auch bei der Gabe von Medikamenten (S. 117) sind Besonderheiten zu beachten. Zusammengefasst bedeuten diese Veränderungen für Sie im Rettungsdienst, dass ältere Menschen physiologisch eine eingeschränkte Kompensationsfähigkeit gegenüber Störungen besitzen, wodurch in einer Notfallsituation schnell und unerwartet Komplikationen auftreten können.

23.2.3 Beurteilung und Versorgung Die präklinische Beurteilung und Versorgung älterer Notfallpatienten verläuft grundsätzlich so wie bei allen Notfallpatienten. Dennoch sind dabei Besonderheiten zu berücksichtigen, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.

ABCDE-Schema Airway • Sofern Zahnprothesen gut sitzen, sollten sie im Mund belassen werden, um ggf. bei einer Maskenbeatmung eine bessere Abdichtung zu erzielen. Verschiebt sich jedoch eine Prothese oder verlegt sie die Atemwege, ist sie zu entfernen. Verletzlichere Schleimhäute in Nase und Rachen sowie die Einnahme von Antikoagulanzien im Alter führen zu einer größeren Blutungsgefahr bei der Verwendung von Tuben zur Atemwegssicherung. Die Schluck- und Hustenreflexe sind im Vergleich zu jüngeren Menschen reduziert, wodurch eine Aspiration begünstigt wird. Breathing • Ältere Menschen reagieren verzögert auf eine Abnahme der SpO2 (Hypoxie), eine Abnahme des pH-Werts (Azidose) oder einen Anstieg des pCO2 (Hyperkapnie). Daher besteht die Gefahr, dass ein Versagen der Atmung und damit ein akuter O2-Mangel nicht rechtzeitig erkannt wird. Grundsätzlich ist eine O2-Sättigung von über 95 % zu halten. Die Versteifung der Thoraxwand und die Schwächung der Brustmuskulatur bei älteren Menschen führen schneller zu einer respiratorischen Insuffizienz als bei Jüngeren. Infolge der verknöcherten Thoraxwand ist bei älteren Notfallpatienten im Rahmen eines Thoraxtraumas das Risiko für Rippen- und Sternumfrakturen erhöht. Circulation • Sowohl bei sehr jungen als auch bei sehr alten Menschen müssen Sie die Vitalparameter vorsichtig interpretieren: Bei älteren Patienten können Vitalparameter „normal“ sein, auch bei schwerster Minderdurchblutung. Das Erkennen eines Schocks (S. 282) ist durch die reduzierten funktionellen Reserven und bestehende Begleiterkrankungen erschwert. So blockieren z. B. Betablocker, die zur Blutdrucksenkung eingenommen werden, bei einem Schockgeschehen die sympathische Gegenreaktion und die Betroffenen entwickeln keine Tachykardie. 531

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Besondere Patientengruppen Aufgrund des ohnehin reduzierten Blutvolumens und Wasseranteils in ihrem Körper tolerieren ältere Menschen einen Blutverlust schlechter als jüngere Erwachsene. Essenziell sind deshalb eine schnelle Blutungskontrolle, eine zügige Versorgung und ein schneller Transport in die Zielklinik. Disability • Die Erhebung des GCS (S. 191) sollte bei Älteren besonders sorgfältig erfolgen. Gleiches gilt für die Orientierung zu Zeit, Ort und Person. Eine Verwirrung kann auf eine schlechte Oxygenierung, ein Schädel-Hirn-Trauma oder einen Schock hindeuten. Bedeutende neurologische Erkrankungen und Verletzungen sollten möglichst angesichts der vor dem Ereignis bestehenden Beeinträchtigungen beurteilt werden: Im Secondary Survey können über eine Fremdanamnese Vergleichswerte ermittelt werden. Kann niemand am Einsatzort den Normalzustand des Patienten beschreiben, müssen Sie davon ausgehen, dass die Ursache im aktuellen Notfallgeschehen zu suchen ist. Ein normales Bewusstsein und fehlende neurologische Defizite schließen bei älteren Notfallpatienten eine bedeutsame intrakranielle Blutung nicht aus: Die Ursache kann z. B. sein, dass das Blut aufgrund des verringerten Hirnvolumens in der Schädelhöhle mehr Platz hat. Exposure und Environment • Ältere können schlechter Wärme produzieren als junge Menschen. Dadurch sind sie stärker durch eine Unterkühlung (S. 402) und deren Folgen gefährdet. Vermeiden Sie bei diesen Patienten daher unbedingt Wärmeverluste, z. B. durch ein Vorheizen des RTWs und das Verwenden von Einmaldecken. Auch bei Infektionen kann der Körper die Temperatur nicht mehr so deutlich anheben wie bei Jüngeren (geringe Fieberentwicklung), was zu Fehlbeurteilungen führen kann.

Secondary Survey Akute medizinische Probleme präsentieren sich bei älteren Menschen oft anders als bei jüngeren Notfallpatienten (z. B. ausschließlich Luftnot bei einem Herzinfarkt; schlechter Allgemeinzustand, aber kein Fieber bei einer Pneumonie). Das bedeutet: Hinter unspezifischen Beschwerden kann eine akute, schwere Erkrankung stecken. Anamnese und Hilfsmittel • Eine Demenz oder ein Delir erschweren oft das Erheben der Anamnese. Dies behindert und verzögert auch die nachfolgende Beurteilung. Daher ist es wichtig, eine Fremdanamnese durchzuführen. Seh- und Hörminderungen können ebenfalls Probleme bei der Anamnese bereiten. Hilfreich sind hier die dem Patienten in der Regel zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z. B. Brille, Hörgeräte) – mitunter sind diese jedoch in der Akutsituation nicht direkt zur Hand.

! Merke Hilfsmittel

Nehmen Sie z. B. Brillen, Hörgeräte und Zahnprothesen immer mit ins Krankenhaus, um den Patienten die Kommunikation zu erleichtern, und ihnen beim Erhalt ihrer Selbstständigkeit und Würde zu helfen. Ohne Hilfsmittel besteht die Gefahr, dass die Patienten z. B. als dement abgestempelt werden. Fragen Sie, sofern die Akutsituation es erlaubt, vor dem Abtransport explizit nach Hilfsmitteln.

532

Medikamente • Geriatrische Patienten nehmen aufgrund ihrer veränderten körperlichen Funktionen im Durchschnitt mehr als 4 Medikamente täglich ein. Kenntnisse über die von Patienten eingenommenen Medikamente können für die weitere Behandlung äußert relevant sein. Folgende Medikamente sind hier von besonderem Interesse: ● β-Blocker zur Blutdrucksenkung unterbinden den kompensatorischen Anstieg der Herzfrequenz im Schock. ● Kalziumantagonisten zur Blutdrucksenkung können die Verengung der peripheren Gefäße verhindern, die zur Kompensation von Flüssigkeitsverlusten entscheidend sein kann. ● NSAR und Gerinnungshemmer (Antikoagulanzien) verhindern die Hämostase und verstärken damit Blutungen. ● Pflanzliche Mittel werden häufig nicht angegeben, haben auch Nebenwirkungen, z. B. verstärkt Ginkgo Blutungen ähnlich wie Gerinnungshemmer. Vorerkrankungen • Vorerkrankungen steigern das Risiko für Notfälle. Da die Häufigkeit von chronischen Erkrankungen im Alter deutlich ansteigt, sind alte Menschen von Erkrankungen oder Verletzungen als Folge ihres Grundleidens häufiger betroffen als Jüngere. Beispiele sind das höhere Risiko für einen Schlaganfall bei bekanntem Vorhofflimmern oder eine gesteigerte Frakturgefahr bei Osteoporose.

! Merke Vorgeschichte und Medikamentenplan

Vermeiden Sie Informationsverluste: Fragen Sie nach einem Medikamentenplan, ggf. dem Pflegeüberleitungsbogen oder Arztbriefen und nehmen Sie diese mit ins Krankenhaus. Notfälle bei pflegenden Angehörigen • Auch Menschen, die allein einen Angehörigen pflegen, können Notfallpatienten werden. In diesen Fällen ist es manchmal nötig, ein zusätzliches Rettungsmittel anzufordern, um zusätzlich auch den pflegebedürftigen Angehörigen in ein geeignetes Krankenhaus oder eine andere Versorgungseinrichtung zu transportieren. In diesen Fällen besteht eine soziale Indikation für diesen Transport. Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung • Die in einer Vorsorgevollmacht als Bevollmächtigte in der Gesundheitsfürsorge benannten Personen müssen bei Entscheidungen einbezogen werden und können hier eine wesentliche Hilfe sein. Vgl. dazu das Kapitel zu rechtlichen Grundlagen (S. 559). Entsprechende Dokumente (idealerweise die Originale) sollten in die Klinik mitgenommen werden. Zudem können Angehörige dabei helfen, den vermutlichen Willen eines nicht entscheidungsfähigen Patienten herauszufinden, auch wenn keine Patientenverfügung existiert.

! Merke Patientenverfügung

Fragen Sie immer nach dem Vorliegen einer Vorsorgevollmacht und/ oder einer Patientenverfügung!

Besonderheiten adipöser Patienten

RETTEN TO GO Besonderheiten geriatrischer Patienten ●





Geriatrische Patienten sind multimorbide Menschen nach dem 70. Geburtstag sowie generell alle über 80-Jährigen. Kenntnisse über physiologische Veränderungen im Alter sind für die Beurteilung und Behandlung dieser Menschen wichtig. Die Erstbeurteilung erfolgt (wie immer) mithilfe des (c)ABCDE-Schemas, mit folgenden Besonderheiten: – Airway: Lassen Sie gut sitzende Zahnprothesen im Mund, sonst entfernen. Bei einer Atemwegssicherung mit Tuben ist die Blutungsgefahr in Nase und Rachen erhöht. Schluck- und Hustenreflexe sind reduziert und das Aspirationsrisiko dadurch höher. – Breathing: Ältere Menschen reagieren verzögert auf Azidose, Hypoxie oder Hyperkapnie. Grundsätzlich ist eine O2-Sättigung > 95 % zu halten. – Circulation: Bei älteren Patienten können Vitalparameter „normal“ sein, auch bei schwerster Minderdurchblutung. Ein Blutverlust wird schlechter toleriert als bei jüngeren Menschen. Wichtig sind daher eine schnelle Blutungskontrolle, eine zügige Versorgung und ein schneller Transport in die Zielklinik. – Disability: Die Erhebung des Glasgow-Coma-Score sollte bei Älteren besonders sorgfältig erfolgen. Eine Desorientierung (zu Zeit, Ort, Person) kann auf eine schlechte Oxygenierung, ein SHT oder einen Schock hinweisen. – Exposure and Environment: Ältere Menschen haben ein erhöhtes Hypothermierisiko, vermeiden Sie daher unbedingt Wärmeverluste (z. B. Vorheizen des RTWs, Decken). Akute medizinische Probleme präsentieren sich bei älteren Menschen oft unspezifischer. Denken Sie immer daran, nach Hilfsmitteln (z. B. Brille, Hörgerät, Zahnprothese), einem Medikamentenplan, Arztbriefen sowie nach einer Vorsorgevollmacht bzw. Patientenverfügung zu fragen und diese in die Klinik mitzunehmen.

23.3 Besonderheiten adipöser Patienten

gansysteme sind von der Adipositas betroffen und dies führt gezwungenermaßen zu diversen Folge- und Begleiterkrankungen. So werden Sie immer häufiger adipöse Patienten versorgen, bei denen präklinische Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich sollten Sie im Rettungsdienst nicht beurteilen, warum ein Mensch dick geworden ist und welches Maß an „Schuld“ ihn trifft.

23.3.2 Beurteilung und Versorgung Grundlagen Grundproblematik • Adipöse Patienten stellen besondere Anforderungen an Mitarbeitende des Rettungsdienstes. Sie haben häufiger Begleiterkrankungen als Normalgewichtige, die nicht nur schnell lebensbedrohlich werden können, sondern auch die normale körperliche Kompensationsfähigkeit (z. B. bei einem plötzlichen Volumenmangel durch hohen Blutverlust) deutlich einschränken. Spezielle Kenntnisse im Umgang mit diesen Patienten sind daher unbedingt nötig. Lagebeurteilung • Besonders wichtig bei der rettungsdienstlichen Versorgung ist die initiale Lagebeurteilung, u. a.: Wo befindet sich der Patient? Wie schwer übergewichtig ist er? Vielleicht muss der Patient aus einer Wohnung oder aus einem Fahrzeug gerettet und anschließend transportiert werden. Dies erfordert meist zusätzliches Personal, zusätzliche Ausrüstung (Equipment), z. B. eine Schwerlast-Fahrtrage (▶ Abb. 23.7), und einen speziell dafür eingerichteten Schwerlast-RTW (S. 38). Beachten Sie vor dem Transport unbedingt die maximalen Zuladungsgewichte der verwendeten Rettungsmittel (▶ Tab. 23.2).

! Merke Gewicht erfragen, Unterstützung anfordern

Um adipöse Patienten sicher und ohne Zeitverlust transportieren zu können, müssen Sie das Gewicht zu erfragen – ggf. auch nur das geschätzte, wenn das exakte Gewicht nicht bekannt ist. Durch ein frühzeitiges Nachfordern von speziellen Geräten und Personal können Sie einer Dekompensation entgegenwirken.

Abb. 23.7 Schwerlast-Fahrtrage.

23.3.1 Übergewicht und Risiko für Begleiterkrankungen Definition Übergewicht, Adipositas und BMI Unter Adipositas versteht man eine krankhafte (pathologische) Vermehrung des Körperfetts. Wie ausgeprägt die Vermehrung des Körperfetts ist, ob es sich „nur“ um Übergewicht oder tatsächlich um eine pathologische Adipositas handelt, lässt sich mithilfe des BodyMass-Index (BMI) bestimmen. Der BMI errechnet sich aus: Körpergewicht/Körpergröße (m)². Von Übergewicht spricht man ab einem BMI von 25 kg/m², von Adipositas ab einem BMI von ≥ 30 kg/m². Adipositas ist in Deutschland weit verbreitet. Über die Hälfte aller Erwachsenen ist übergewichtig und die Zahl nimmt zu. Insbesondere bei jungen Menschen steigt der Anteil, so dass mittlerweile auch adipöse Kinder und Jugendliche eine Herausforderung sein können. Die Ursachen für Übergewicht sind vielfältig (z. B. Lebensstil, psychische und hormonelle Erkrankungen, Gendefekte), ebenso auch die Folgen. Alle Or-

Mithilfe einer solchen speziellen Trage, die bis zu 400 kg Gewicht verkraftet, lassen sich auch stark adipöse Patienten schonend transportieren. Aus: Kruska P, Kappus S, Kerner T. Adipositas im Rettungsdienst – Was ist zu beachten?. AINS – Anästhesiologie · Intensivmedizin · Notfallmedizin · Schmerztherapie 2012; 47(09): 556–562

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23

Besondere Patientengruppen

Tab. 23.2 Maximale Beladegewichte von Rettungsmitteln. Rettungsmittel

Hersteller/max. Beladegewicht Ferno

Stollenwerk

Stryker

Tragestuhl

118–318 kg

250 kg

227 kg

Krankentrage

180–250 kg

250 kg

228 kg

Tragegestell

180–270 kg

250 kg

228 kg

elektrohydraulische Fahrtrage + Beladesystem

318–350 kg

320 kg

318 kg

Fahrtec

Ferno

Strobel

250–350 kg

230 kg

250 kg

Complan

Pax

Schnitzler

150–250 kg

150–200 kg

150–250 kg

Tragetisch

Tragetuch

Besonderheiten im (c)ABCDE-Schema Airway und Breathing Im Anschluss an die Lagebeurteilung startet die Erstversorgung. Die Sicherung des Atemwegs und die Beatmung können bei adipösen Menschen aufgrund des überschüssigen Gewebes im Kehlkopf-, Kinn- und Halsbereich erschwert sein. Zudem haben diese Menschen durch ein vergrößertes Magenvolumen, einen erhöhten Druck im Bauchraum und einen häufig bestehenden gastroösophagealen Reflux ein erhöhtes Aspirationsrisiko.

! Merke Beatmung

Bei adipösen Patienten können Sie den Kopf aufgrund des überschüssigen Gewebes, z. B. im Halsbereich, oft nicht ausreichend überstrecken, so dass eine gute Masken-Beutel-Beatmung kaum möglich ist. Zudem müssen Sie aufgrund des vermehrten Fettgewebes am Körperstamm mit höheren Beatmungsdrücken arbeiten als bei normalgewichtigen Patienten, was wiederum das Aspirationsrisiko vergrößert. Beatmungspflichtige Patienten mit starkem Übergewicht sollten daher von einem Notarzt oder einer Notärztin intubiert werden. Idealerweise wird dabei ein Videolaryngoskop (S. 212) genutzt, die Option für eine Notkoniotomie (S. 216) sollte gegeben sein: Normalerweise wird als Alternative zur endotrachealen Intubation z. B. eine Larynxmaske vorbereitet. Da aber fast immer hohe Beatmungsdrücke notwendig werden, die die zulässigen Drücke für z. B. die Larynxmaske übersteigen und damit das Aspirationsrisiko erhöhen, empfiehlt es sich, stattdessen das Material für eine Notkoniotomie bereitzulegen. Auch die Pulsoxymetrie (S. 200) kann bei übergewichtigen Patienten durch das überschüssige subkutane Fettgewebe an den Fingern erschwert sein. Als Alternative können Sie hier das Ohrläppchen nutzen, sofern dafür geeignete Clips zur Verfügung stehen.

Circulation Im Vergleich zu Normalgewichtigen sind Schlagvolumen und Herzzeitvolumen erhöht, der periphere Widerstand dagegen erniedrigt. Dies ist nötig, um die Versorgung des Gewebes sicherzustellen. Mögliche Folgen dieser dauerhaften Anstrengung des Herz-Kreislauf-Systems sind (v. a. bei gleichzeitig erhöhtem Blutdruck) Herzinsuffizienz, Herz-

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rhythmusstörungen und mitunter ein plötzlicher Herztod. Adipöse Patienten können außerdem aufgrund der genannten Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems rasche Volumenänderungen (z. B. durch akuten Blutverlust, periphere Vasodilatation, überschießende Volumengabe) oft schlecht kompensieren. Wird bei einem Volumenmangel oder für eine medikamentöse Therapie ein Gefäßzugang benötigt, ergeben sich oft zusätzliche Probleme: Die Anlage eines peripher-venösen Zugangs ist aufgrund der Fülle des subkutanen Fettgewebes zum Teil nur stark zeitverzögert oder gar nicht möglich. Bei kritisch kranken oder verletzten adipösen Patienten ist daher frühzeitig ein intraossärer Zugang (S. 112) anzustreben. Bei geringen Medikamentenmengen kann eine intranasale Applikation (S. 113) überlegt werden.

Secondary Survey Aufgrund der erhöhten Herz-Kreislauf-Belastung hat (nach Sicherung der Vitalfunktionen) das Monitoring bei adipösen Patienten eine besondere Bedeutung. Hierbei ist zu beachten, dass der Armumfang bei Adipösen deutlich größer ist als bei Normalgewichtigen, sodass zu schmale RR-Manschetten falsch hohe Werte liefern. Auch der diagnostische Aussagewert des EKGs ist oft eingeschränkt, da zusätzliches Weichteilgewebe die korrekte Anlage der Elektroden behindert und die Signalqualität verschlechtert.

! Merke RR-Messung

Verwenden Sie bei der RR-Messung unbedingt eine ausreichend lange und breite Manschette. Sehr relevant bei Adipösen ist gerade im Rahmen von Traumata eine detaillierte körperliche Untersuchung, um z. B. größere Verletzungen abzuklären. Stark Übergewichtige können nach verhältnismäßig geringen Traumata durchaus schwerwiegende Verletzungen erleiden, da sich die Aufprallenergie durch die Körpermasse erhöht: Fällt z. B. ein 200 kg schwerer Patient aus dem Bett, können untypisch viele Knochen brechen, weil sein Übergewicht die Aufprallenergie entsprechend stark gesteigert hat. Außerdem können Verletzungen und Erkrankungen leichter übersehen werden, da Weichteilgewebe unter Umständen die Auskultation, Palpation und Funktionsprüfung beeinträchtigt.

Besonderheiten adipöser Patienten

ACHTUNG Bei adipösen Patienten besteht die Gefahr, die Verletzungsschwere zu unterschätzen.

Transport Bei Patienten mit einem BMI > 35 kg/m² reichen bereits kleinere Belastungen aus, um eine kardiale Dekompensation auszulösen. Dies ist u. a. relevant für die Frage, wie der Patient in den RTW gebracht wird: Schon geringe Belastungen können problematisch sein. Die Rettung, Immobilisierung bzw. Lagerung adipöser Patienten mit einem herkömmlichen Tragetuch, Spineboard, einer Vakuummatratze oder einer Halskrause sowie Trage kann unmöglich werden, wenn Körperteile über die Abmessungen hinausragen. Auch die Versorgung im Fahrzeug ist unter solchen Umständen nicht einfach, da durch die engen Platzverhältnisse z. B. Zugänge oder Tuben nur schwer oder gar nicht zu erreichen sind. Aus diesen Gründen sei nochmals betont, wie wichtig eine rechtzeitige Nachforderung von Personal und Equipment sowie eines Schwerlast-RTWs (S. 38) sind, um einen sicheren und zügigen Transport in die Zielklinik zu gewährleisten. Bei der Auswahl der Zielklink müssen spezielle weitere Kriterien beachtet werden: So sollte das Krankenhaus z. B. über Schwerlastbetten und spezielle CT-Geräte mit größerer Tragelast und größerem Innendurchmesser verfügen, um eine optimale Diagnostik und Therapie sicherzustellen.

RETTEN TO GO Besonderheiten adipöser Patienten ●





! Merke Anmeldung in der Zielklinik

Eine frühestmögliche Information der Zielklinik über das Patientengewicht ist essenziell, damit dort ggf. entsprechendes Equipment auf die Station gebracht werden kann.





Adipositas bezeichnet die krankhafte Vermehrung des Körperfetts. Festgestellt wird Adipositas mithilfe des Body-Mass-Index (BMI: Körpergewicht/Körpergröße [m]²). Adipositas besteht bei einem BMI ≥ 30 kg/m². Besonders wichtig ist die initiale Lagebeurteilung: Erfragen Sie immer das Gewicht, um bei Bedarf zusätzliches Personal, zusätzliche Ausrüstung und/oder einen Schwerlast-Rettungswagen anzufordern. Beachten Sie vor dem Transport unbedingt die maximalen Zuladungsgewichte der verwendeten Rettungsmittel. Die Erstbeurteilung im Notfall erfolgt mithilfe des (c)ABCDE-Schemas, mit einigen Besonderheiten: – Airway und Breathing: Die Sicherung des Atemwegs und die Beatmung können erschwert sein. Höhere Beatmungsdrücke sind nötig, was das Aspirationsrisiko erhöht. Bei Ateminsuffizienz ist daher eine notärztliche Intubation anzustreben, Material für eine Notkoniotomie sollte bereitliegen. – Circulation: Schlagvolumen und Herzzeitvolumen sind erhöht, der periphere Widerstand erniedrigt. Daher können adipöse Patienten rasche Volumenänderungen (z. B. durch akuten Blutverlust) oft schlecht kompensieren. Die Anlage eines peripher-venösen Zugangs ist oft erschwert. Verwenden Sie bei der Blutdruckmessung unbedingt eine ausreichend lange und breite Manschette, um Messfehler zu vermeiden. Informieren Sie die Zielklinik vorab über das Patientengewicht.

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Spezielle Einsatzsituationen

rung eine akute Belastungsreaktion (S. 442) bzw. im weiteren Verlauf eine posttraumatische Belastungsstörung (S. 448) entwickeln können.

24.1 Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten 24.1.1 Grundlagen Definition MANV und Großschadensereignis Ein Massenanfall von Verletzten/Erkrankten (MANV/E) ist eine Einsatzlage, bei der die Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie von anderen Geschädigten und/oder Betroffenen die Anzahl der zur Verfügung stehenden Rettungsmittel des Regelrettungsdienstes übersteigt. Bei einem Großschadensereignis (z. B. Zugunglück) bestehen erhebliche Sachschäden, ggf. zusätzlich zu einem MANV. Der Rettungsdienst in Deutschland ist strukturell auf eine qualitativ hochwertige, individualmedizinische Versorgung von Notfallpatienten ausgerichtet. Ein MANV/E kommt im Rettungsdienst eher selten vor. Übersteigt die Anzahl der Patienten die Kapazität des Rettungsdienstes, kann – zumindest initial – keine individualmedizinische Versorgung der Patienten geleistet werden. In dieser speziellen Situation müssen daher die vorhandenen Ressourcen so eingesetzt werden, dass möglichst viele Patienten effizient (im Sinne einer lebensrettenden medizinischen Erstversorgung) versorgt werden können. Zusätzlich zu verletzten bzw. organisch erkrankten Personen ist bei einem MANV auch immer mit psychisch traumatisierten Personen zu rechnen, die entsprechend den Behandlungsprioritäten ebenfalls versorgt werden müssen. Beachten Sie, dass nicht nur Beteiligte, sondern auch Einsatzkräfte bei entsprechender Traumatisie-

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! Merke Zielsetzung bei MANV

Das Ziel ist es, schnellstmöglich sicherzustellen, dass alle Patienten adäquat individualmedizinisch versorgt werden. Dazu sind folgende Schritte entscheidend: ● Ausgleich des Mangels an Einsatzkräften und Material (meist durch Anforderung überregionaler Unterstützung) ● Ordnung der Lage vor Ort ● Koordination der zahlreichen Beteiligten Beispiele für MANV und Großschadensereignisse ● Massenkarambolage oder Zugunglück: Die zahlreichen Verletzten können über eine größere Fläche verteilt sein. ● Naturereignis (z. B. Sturm, Überschwemmung): Verletzte befinden sich an verschiedenen Orten. ● Großbrand, z. B. Industriebrand, Brand in einem Gebäude mit vielen Personen (z. B. Wohnanlage, Einkaufszentrum), Waldbrand ● Massenpanik bei Großveranstaltung (z. B. Konzert, Sportveranstaltung): Neben Verletzten befinden sich zahlreiche weitere Personen vor Ort, was die Übersicht erheblich erschweren kann. ● Infektion oder Lebensmittelvergiftung, z. B. in einem Pflegeheim oder Hotel, auf einem Schiff, mit Erkrankungen vieler Menschen innerhalb kurzer Zeit ● Amok- oder Terrorlage (S. 545): Verletzungen nicht nur durch den eigentlichen Anschlag, sondern ggf. auch durch eine daraus resultierende Massenpanik

Grundlagen ▶S. 536 Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten

Maßnahmen des ersteintreffenden Rettungsmittels Priorisierung und Sichtung (Triage) Erstversorgung und Transport

▶S. 537

▶S. 540

▶S. 541

CRBN-Gefahren ▶S. 541 CBRN-Lagen

Vorgehensweise bei CBRN-Lagen Dekontamination

▶S. 542

▶S. 544

Persönliche Schutzausrüstung bei CBRN-Einsätzen

Besondere Einsatzlagen und taktisches Vorgehen

▶S. 545

Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT) Weitere spezielle Einsatzsituationen

Seenotrettung Eisrettung

Auslösen einer MANV-Einsatzlage • In ganz Deutschland gibt es grundlegend ähnliche Vorkehrungen zur Bewältigung eines MANV mit bis zu 300 Betroffenen. Folgende MANVStufen werden unterschieden: ● MANV-Stufe 1–3: mit örtlich verfügbaren Rettungsmitteln zu bewältigen ● MANV-Stufe 4 oder Ü-MANV („Ü“ für „überörtlich“) nur mit zusätzlicher überörtlicher Hilfe zu bewältigen Ab wann und auf welcher Stufe eine MANV-Einsatzlage ausgelöst wird, ist in den jeweiligen MANV-Plänen der Landkreise oder kreisfreien Städte definiert, ebenso Art und Umfang der jeweils benötigten Einsatzmittel. Dazu stehen bundesweit flächendeckend erweiterte Strukturen des Rettungsdienstes zur Verfügung. Katastrophenschutz • Wird durch ein Großschadensereignis zusätzlich relevante Infrastruktur zerstört, kann die zuständige Katastrophenschutzbehörde den Katastrophenfall ausrufen, d. h. Katastrophen werden (im Gegensatz zu Großschadensereignissen) behördlich festgestellt und erklärt. Der Katastrophenschutz (S. 31) wird von den Feuerwehren und den Hilfsorganisationen überwiegend durch ehrenamtliche Helfende bewerkstelligt. Hierzu organisieren die Hilfsorganisationen im medizinischen Bereich Schnelleinsatzgruppen (SEG), u. a. für die Behandlung, die Betreuung und den Transport von Patienten sowie für Sonderaufgaben wie CBRN-Gefahren (S. 541) oder psychosoziale Notfallversorgung (PSNV). Teilweise werden diese Einheiten überregional zu medizinischen Taskforces (MTF) zusammengeführt. LNA und Orgl RD • Der leitende Notarzt (LNA) hat die medizinische Einsatzleitung in MANV-Einsatzlagen, d. h., er koordiniert, leitet und überwacht alle medizinischen Aufgaben am Schadensort. Der organisatorische Leiter Rettungsdienst,

▶S. 544

▶S. 546

▶S. 547

▶S. 547

kurz OrgL RD (S. 19), unterstützt den LNA und übernimmt organisationstechnische Führungsaufgaben. Gemeinsam bilden sie die Sanitätseinsatzleitung (SanEL). Die Kompetenzen von OrgL und LNA unterscheiden sich regional. Versorgungseinrichtungen bei MANV • Patientenablagen sind Bereiche außerhalb der Gefahrenzone, in denen Patienten nach ihrer Rettung aus dem Schadensgebiet von Rettungskräften übernommen werden. Hier finden eine Sichtung und ggf. lebensrettende Sofortmaßnahmen statt, bevor die Patienten zu einem Behandlungsplatz oder einer weiterführenden medizinischen Versorgungseinrichtung weitertransportiert werden. An Behandlungsplätzen werden Patienten gemäß ihrer Sichtungskategorie behandelt, solange sie noch nicht abtransportiert werden können (aufgrund ihres Zustands oder wegen fehlender Kapazität). Von hier aus werden die Patienten koordiniert in eine weiterführende medizinische Versorgungseinrichtung abtransportiert.

24.1.2 Maßnahmen des ersteintreffenden Rettungsmittels Problemstellung • Im Gegensatz zu Standardeinsätzen im Rettungsdienst, bei denen das Verhältnis von Patienten und Rettungsmitteln 1 : 1 ist, sind die ersteintreffenden Rettungsteams bei einer MANV-Einsatzlage mit einer großen Anzahl von Patienten konfrontiert. Das oberste Ziel in solchen Einsatzlagen ist es, die große Anzahl von Notfallpatienten und unverletzten Betroffenen zu überblicken, entsprechend zu kategorisieren und zu erfassen, entsprechend der Behandlungspriorität zu versorgen und in weiterführende medizinische Versorgungseinrichtungen zu transportieren.

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Spezielle Einsatzsituationen Schrittweises Vorgehen • Um die genannten Herausforderungen zu bewältigen, wird nach einem initialen Absichern der Einsatzstelle unter Beachtung des Eigenschutzes (S. 175) ein Vorgehen in 10 Schritten empfohlen: 1. Organisation der Einsatzstelle: Als Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels müssen Sie sich zunächst einen groben Überblick über die Einsatzstelle verschaffen und sie organisieren. Da die Anzahl der Verletzten größer ist als die Anzahl der verfügbaren Rettungsmittel, dürfen zu diesem Zeitpunkt noch keine Patienten behandelt werden. Die Behandlung beginnt erst, wenn klar ist, wie viele und welche Personen wie schwer verletzt sind. Dies stellt sicher, dass sich die Gesamtabarbeitung des Einsatzes zeitlich nicht verzögert und vital bedrohte Patienten auch zuerst behandelt werden. 2. Erstrückmeldung an die Leitstelle: Anschließend geben Sie eine erste Rückmeldung an die Leitstelle. Diese beinhaltet eine grobe Lageübersicht und eine grobe Abschätzung der Patientenzahl und ermöglicht es der Leitstelle, eine MANV-Stufe (s. o.) festzulegen und die notwendigen Rettungsmittel zu alarmieren. 3. Lageerkundung: Eine gründliche Lageerkundung ist entscheidend für den weiteren Einsatzverlauf. Als Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels versuchen Sie, mögliche Gefahren an der Einsatzstelle zu erkennen. Daraus ergibt sich, wie viele Spezialkräfte von Feuerwehr, THW und Polizei der Einsatz erfordert. Bei der Lageerkundung ermitteln Sie die exakte Anzahl verletzter und erkrankter Personen im Schadensgebiet und führen eine Erstsichtung aller Betroffenen durch, um die Schwere von Verletzungen und Erkrankungen abzuschätzen, z. B. nach dem mSTART-Schema (▶ Abb. 24.1). Auch während der Lageerkundung wird die Behandlung einzelner Patienten weitgehend vermieden, da dies zu einer Zeitverzögerung bei der Gesamtabarbeitung des Einsatzes führt. 4. detaillierte, zweite Lagemeldung an die Leitstelle: Unmittelbar nach der Lageerkundung geben Sie eine zweite, detaillierte Rückmeldung an die Leitstelle. Diese beinhaltet v. a. die genaue Anzahl der Betroffenen sowie die Ergebnisse der Erstsichtung (Sichtungskategorie 1–4, ▶ Abb. 24.3). Darüber hinaus werden die Anzahl an benötigten Rettungsmitteln und Spezialkräften sowie mögliche Anfahrtswege an die Leitstelle übermittelt. 5. Leitung übernehmen: Da weiterhin ein Missverhältnis zwischen der Zahl der benötigten und der Zahl der vorhandenen Rettungsmittel besteht, müssen Sie als Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels die medizinische Einsatzleitung übernehmen, bis ein OrgL RD und ein LNA eintreffen. Zu den Aufgaben der medizinischen Einsatzleitung gehört die detaillierte, möglichst notärztliche Sichtung aller Patienten sowie das erste Festlegen einzelner Versorgungsräume (Patientenablagen, Behandlungsplätze, Bereitstellungsräume für Rettungsmittel). Bis zum Eintreffen von OrgL und LNA weist die Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels die weiteren Einsatzkräfte ein. 6. Spontantransporte verhindern: Insbesondere zu Beginn einer MANV-Einsatzlage ist es notwendig, spontane Abtransporte zu verhindern. Dies gewährleistet, dass alle Patienten im Schadensgebiet erfasst und gemäß den Behandlungs- und Transportprioritäten in die jeweils geeignete Klinik transportiert werden. Gleichzeit wird so verhindert, dass Klinikkapazitäten frühzeitig erschöpft werden, weil zu viele Patienten gleichzeitig in einer Klinik eintreffen. 7. prioritätenbasierte Patientenversorgung: Zuerst werden die Patienten behandelt, die am schwersten verletzt sind bzw. die sich in Lebensgefahr befinden (= hohe Behandlungspriorität). Dazu erhält jeder Patient eine Verletzten-

538

Abb. 24.1 mSTaRT-Schema. mSTaRT Erwachsene Vorsichtung Trauma

MANV

ABC-Lage?

Eigenschutz beachten ja ABC-Lage kommunizieren Kontamination vermeiden

nein Patient gehfähig?

* Ungewöhnlicher Geruch nach Knoblauch, Senf, Fisch, Heu, Bittermandel, Chlor und/oder gleiche Vergiftungssymptome bei mehr als einer Person

ja zur Samm elstelle für Leichtverletzte

Nachsichtung

ja Todesfeststellung durch Arzt

Keine Behandlung

nein Tödliche Verletzung? nein C

Spritzende Blutung?

ja

Blutung stoppen

Sofortbehandlung

Freihalten der Atemwege

Notfallmaßnahmen nach Befund*

nein A

Atmung vorhanden?

B

Atemfrequenz zwischen 10 und 30/min?

nein

ja nein

Antidotgabe erwägen

nein

Not-Dekon** erforderlich?

nein

ärztliche Sichtung

ja

akute TransportOP-Indikation?

ja C

Radialispuls vorhanden?

D

Kann einfache Befehle befolgen?

E

Inhalationstrauma mit Stridor?

ja

ja

nein

Dringliche Behandlung

RTW/KTW verfügbar?

Mithilfe dieses Schemas werden Patienten innerhalb von 60 s einer der 4 Vorsichtungskategorien zugewiesen, die von Mitarbeitenden des Rettungsdienstes vergeben werden. * Notfallmaßnahmen bei SK I (rot): nicht Aufgabe des Sichtungsteams während der Vorsichtung, wird durch NA bzw. in Notkompetenz durch Rettungsfachpersonal durchgeführt: Atemwegssicherung (Larynxtubus, ggf. Notfallintubation oder -koniotomie); dringliche Intubation bei GCS < 10 Punkten, Blutung im Mund-Rachen-Raum oder Aspiration; Beatmung über Maske oder Tubus; Thoraxdekompression bei Spannungspneumothorax; Blutstillung ** Notdekontamination bei SK I und notwendigem Notfalltransport: Entfernen der Kleidung; ggf. Abwaschen/Abtupfen mit Wasser oder Wasser-Seife-Gemisch Aus: Kuhnke R, Ahne T: ManV-Sichtung mSTART - Das sollten Sie wissen für die Ergänzungsprüfung. In: retten! 2019; 8(05): 318 – 325. Stuttgart: Thieme. © Branddirektion München

anhängekarte (▶ Abb. 24.4), auf der das Ergebnis der Sichtung eingetragen ist. Zu Beginn einer MANV-Lage werden primär Patienten mit der Sichtungskategorie 1 (rot, vitale Bedrohung) behandelt. 8. Nachrückende Einsatzkräfte einweisen: Sobald weitere Rettungsmittel an der Einsatzstelle eintreffen, müssen sie in die Einsatzlage eingewiesen werden und bestimmte Funktionen erhalten. Primär sollten Abschnittsleiter für jeweils eine Patientenablage, einen Behandlungsplatz sowie einen Bereitstellungsraum (in dem z. B. weitere Rettungsmittel zur Verfügung stehen) ernannt werden. Dies führt zur Führungsentlastung des ersteintreffenden Rettungsmittels.

Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten Abb. 24.2 PRIOR-Algorithmus.

!

ANSCHLAG-MANV

!

CBRN-MANV

!

lebensbedrohende Blutung

ja

Eigenschutz nach Rettung aus dem Gefahrenbereich durch Polizei PRIOR anwenden

ja

Eigenschutz nach Rettung aus dem Gefahrenbereich durch Feuerwehr PRIOR-CBRN anwenden

ja

lebensrettende Sofortmaßnahmen (LSM) • Blutung stoppen • schnellstmöglicher Transport

nein

A

bewusstlos (drohende) Atemwegsverlegung

ja

LSM • Atemwege freimachen • Seitenlage • starke Blutung stoppen

SK I rot

LSM • Atemwege freimachen • starke Blutung stoppen

SK I rot

LSM • starke Blutung stoppen

SK I rot

nein

B

Atemstörung

ja

nein

C

Kreislaufstörung

ja

nein

D

Bewusstseinsstörung

ja

SK I rot

ja

SK I rot

ja

SK II gelb

nein

E

starke Schmerzen am Körperstamm nein liegend kann nicht ohne Hilfe gehen

nein

SK III grün

Der PRIOR®-Algorithmus zur Vorsichtung bei MANV-Ereignissen wurde federführend von der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin (DGKM) und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) entwickelt. Die erweiterten Zusatzindikatoren für Kinder sind hier nicht abgebildet. Aus: Zayer S (Hrsg.): Fallbuch Notfallsanitäter. Stuttgart: Thieme; 2018. Quelle: www.bbk.bund.de

9. Transport vital bedrohter Patienten initiieren: In Absprache mit einem Notarzt/dem LNA wird zuerst der Transport vital bedrohter Patienten (Sichtungskategorie 1 – rot) in umliegende Kliniken organisiert und durchgeführt. Erst wenn alle Patienten dieser Sichtungskategorie abtransportiert sind, werden weitere Patienten aus dem Schadensgebiet abtransportiert.

10. Lageübergabe an LNA/OrgL RD: Sobald OrgL RD und LNA an der Einsatzstelle eingetroffen sind, wird die Einsatzführung an diese übergeben. Dies erfolgt detailliert mit Angabe der Anzahl der Patienten, der Einsatzkräfte, der Einsatzabschnitte (Patientenablage, Behandlungsplätze, …) und der bereits durchgeführten Maßnahmen.

539

24

Spezielle Einsatzsituationen Abb. 24.3 Sichtungskategorien.

Beschreibung

Abb. 24.4 Verletztenanhängekarte.

Versorgungspriorität

Beispiele

SK I

akute, vitale Bedrohung

hoch, sofortige Behandlung

verlegter Atemweg, massive Blutungen

SK II

schwer verletzt, schwer erkrankt

mittel, dringliche Behandlung

offene Fraktur

SK III

leicht verletzt, leicht erkrankt

niedrig, spätere Behandlung

geschlossene Fraktur

SK IV

keine Überlebenschance

abwartendes Vorgehen

mit dem Leben nicht vereinbare Verletzungen

SK V

tot

nur Kennzeichnung

sichere Todeszeichen

Die SK IV (abwartendes Vorgehen) wird nur ärztlich und bei anhaltender Ressourcenknappheit vergeben, nicht bei der Vorsichtung durch Rettungsdienstpersonal. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thie-

Die Sichtungskategorie (hier: rot/vital gefährdet) ist auf den ersten Blick erkennbar. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023; Foto: © S. Kürzinger/Thieme

me: Stuttgart; 2023

! Merke PEST-Regel 1. 2. 3. 4.

P: Priorisieren durch Sichtung der Patienten E: Erstversorgung nach dem Ergebnis der Priorisierung einleiten S: Soforttransporte der vital gefährdeten Patienten organisieren T: Transporte der weiteren Patienten organisieren

24.1.3 Priorisierung und Sichtung (Triage) Definition Sichtung Als Sichtung (Triage, frz. für „Auswahl“) wird eine Kurzuntersuchung von Personen mit dem Ziel bezeichnet, die Dringlichkeit der Versorgung bzw. des Transports festzustellen und insbesondere Patienten mit hoher Behandlungspriorität schnellstmöglich zu identifizieren. Die Sichtung ist grundsätzlich eine (not)ärztliche Aufgabe. Wird sie aufgrund der Komplexität einer MANV-Einsatzlage von nichtärztlichem Personal durchgeführt, spricht man von einer Vorsichtung. Diese wird anhand spezieller prioritätenorientierter Algorithmen standardisiert durchgeführt. Um auch bei einem MANV eine individualmedizinische Versorgung zu gewährleisten, müssen die Patienten für die Versorgung nach der Dringlichkeit der Behandlung priorisiert werden. Dies gelingt durch eine frühzeitige (Vor-)Sichtung aller Notfallpatienten an der Einsatzstelle. Eine Vorsichtung muss auch durch speziell ausgebildetes Rettungsdienstpersonal durchgeführt werden können. Durchführung • Der genaue Ablauf einer (Vor)Sichtung hängt vom jeweils gültigen MANV-Konzept ab und variiert daher regional. Zudem ist die Situation bei jedem MANV-Einsatz unterschiedlich, das Vorgehen lässt sich daher nur beispielhaft skizzieren. Die (vorläufige) Einsatzleitung bzw. der zuständige Abschnittsleiter teilt die Mitarbeitenden des Rettungsdienstes in Vorsichtungsteams ein und weist ihnen

540

ggf. einen bestimmten Abschnitt des Einsatzgebiets zu. Jedes dieser Teams besteht aus 2 Personen: ● Person 1 sagt die einzelnen Schritte des Vorsichtungsalgorithmus an und dokumentiert. ● Person 2 führt die Untersuchung durch und stellt fest, ob lebensrettende Sofortmaßnahmen (z. B. Freimachen der Atemwege, Stoppen starker Blutungen, Positionierung in stabiler Seitenlage) notwendig sind. Diese werden ggf. von beiden Personen gemeinsam durchgeführt.

! Merke Vorsichtung

Priorität hat zunächst die Vorsichtung der nicht gehfähigen Patienten! Im Rahmen der Vorsichtung werden nur lebensrettende Sofortmaßnahmen durchgeführt. Dokumentation • Jeder vorgesichtete Patient wird mit einer Verletztenanhängekarte (▶ Abb. 24.4) gekennzeichnet. Dies muss dokumentiert werden, um Zeitverluste durch doppelte Vorsichtungen zu vermeiden. Gehfähige Patienten sollen sich eigenständig zur Patientenablage zu begeben. Trageteams transportieren vorgesichtete, nicht gehfähige Patienten zur Patientenablage. Dort erfolgt meist die eigentliche ärztliche Sichtung, um die Transport- und Behandlungspriorität festzulegen und weitere Maßnahmen zu veranlassen. Algorithmen und Kategorien • Derzeit werden für die Vorsichtung unterschiedliche, z. T. auch regional angepasste Algorithmen verwendet. Relativ weit verbreitet sind die folgenden Algorithmen: ● mSTaRT-Schema (modified Simple Triage and Rapid Treatment, ▶ Abb. 24.1) zur Beurteilung aller Patienten innerhalb von ca. 60 s pro Patient ● PRIOR®-Algorithmus (primäres Ranking zur initialen Orientierung im Rettungsdienst, ▶ Abb. 24.2) Das Ziel beider Schemata ist die Zuweisung jedes Patienten zu einer Sichtungskategorie (SK, ▶ Abb. 24.3), die sich nach der Dringlichkeit der Versorgung bzw. des Transportes rich-

CBRN-Lagen tet. Die Patienten werden in der Regel mit einer Verletztenanhängekarte (▶ Abb. 24.4) gekennzeichnet, auf der deutlich die Farbe der vergebenen Kategorie erkennbar ist.

24.1.4 Erstversorgung und Transport Definition Erstversorgung bei MANV Die Erstversorgung umfasst medizinische Maßnahmen zur Vermeidung von Todesfällen und schweren Folgeschäden. Unterschiede zur Erstversorgung bei Standardeinsätzen • Es steht weniger Zeit und Material zur Verfügung als im Standardfall, damit trotz Ressourcenmangels möglichst viele Patienten versorgt werden können. Zeit- und/oder ressourcenintensive Maßnahmen, die nicht unmittelbar zur Verbesserung oder Stabilisierung des Patientenzustandes beitragen (z. B. aseptische Verbände kleiner Wunden, Schienung peripherer Frakturen), sind hier nachrangig. Priorisierung der Erstversorgung • Die Patienten werden entsprechend der jeweiligen Sichtungskategorie erstversorgt. Dabei haben Patienten mit der Sichtungskategorie 1 absoluten Vorrang. Ist eine sofortige Versorgung nicht am Behandlungsplatz möglich (z. B. bei inneren Blutungen), müssen LNA und OrgL RD einen sofortigen Transport in eine Klinik organisieren. Transport • Den Abtransport vom Behandlungsplatz koordinieren LNA und OrgL RD. Dabei entscheiden die Sichtungskategorie, die Aufnahmekapazitäten der Kliniken und die Verfügbarkeit von Rettungsmitteln über den jeweiligen Zielort und die Reihenfolge, in der die Patienten zu bestimmten Kliniken transportiert werden.

RETTEN TO GO Einsätze mit einer großen Anzahl von Verletzten ●





Definition: Ein Massenanfall von Verletzten bzw. Erkrankten (MANV/E) ist eine Einsatzlage, bei der die Anzahl von Verletzten oder Erkrankten sowie anderer Geschädigter und/oder Betroffener die Anzahl der zur Verfügung stehenden Rettungsmittel des Regelrettungsdienstes übersteigt. Die Herausforderung besteht darin, schnellstmöglich eine adäquate individuelle medizinische Betreuung aller Patienten sicherzustellen. Ursachen: z. B. Massenkarambolagen, Zugunglücke, Großbrände Organisation: Das ersteintreffende Rettungsmittel übernimmt bis zur Ankunft des OrgL RD (organisatorischer Leiter Rettungsdienst) und LNA (leitender Notarzt) die vorläufige Einsatzleitung. Die vorrangigen Aufgaben sind die Lagefeststellung und die frühzeitige und engmaschige Rückmeldung an die Leitstelle – und nicht die sofortige medizinische Versorgung. Gefahren an der Einsatzstelle sollten frühzeitig erkannt werden, ggf. werden zusätzlich benötigte Kräfte nachgefordert.



Sichtung, Erstversorgung und Transport: Die Sichtung (Triage) der Betroffenen dient dazu, die Sichtungskategorie, d. h. die Dringlichkeit der Versorgung bzw. des Transports, festzustellen. Diese eigentlich ärztliche Aufgabe kann bei MANV auch durch nichtärztliches Personal anhand standardisierter Algorithmen erfolgen (Vorsichtung), z. B. nach dem mSTaRT- oder PRIOR-Schema. Im Rahmen der Vorsichtung werden nur lebensrettende Sofortmaßnahmen durchgeführt. Die gesichteten Patienten erhalten je nach Sichtungskategorie die notwendige Erstversorgung, d. h. alle medizinischen Maßnahmen, die unmittelbar Todesfälle und schwere Folgeschäden vermeiden sollen. Je nach Priorisierung erfolgen ggf. Soforttransporte (falls keine Stabilisierung vor Ort möglich ist) und die Organisation der weiteren Patiententransporte. Die Sichtungskategorie, die erhobenen Befunde, die getroffenen Maßnahmen und das Transportziel werden auf der Verletztenanhängekarte dokumentiert.

24.2 CBRN-Lagen Definition CBRN-Lagen CBRN steht für „chemisch, biologisch, radiologisch und nuklear“. CBRN-Lagen im Rettungsdienst sind also Einsatzsituationen, in denen die Gefahr von chemischen, biologischen, radioaktiven oder nuklearen Stoffen ausgeht. Diese Stoffe können absichtlich als Kampfmittel oder nicht absichtlich durch einen Unfall freigesetzt werden. Mitunter wird auch die Abkürzung CBRN(E) verwendet – E für „Explosion“. Da diese aber streng genommen keine eigenständige Gefahr darstellt, sondern aus der Reaktion von Stoffen miteinander resultiert, wird hier CBRN verwendet.

24.2.1 CBRN-Gefahren Chemische Gefahren (C) Am häufigsten gehen chemische Gefahren von Pestiziden, Kraftstoffen, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln oder verschiedenen Industriechemikalien aus, die bei einem Unfall in die Umwelt gelangen (z. B. Großbrand einer Industrieanlage, Verkehrsunfall eines Gefahrguttransporters). Im Rahmen von Kriegshandlungen oder terroristischen Anschlägen ist auch mit dem Einsatz von chemischen Kampfstoffen (C-Waffen) zu rechnen (trotz internationaler Ächtung). Je nachdem, ob die Substanzen fest, flüssig oder gasförmig sind oder als Aerosol vorliegen, werden sie überwiegend über die Atemwege oder die Haut aufgenommen. Möglich sind daher sowohl lokale Schäden als auch eine systemische Intoxikation. Zusätzlich geht die Freisetzung einiger Chemikalien mit einer hohen Explosionsgefahr einher (z. B. bei Kraftstoffen, Wasserstoff).

Biologische Gefahren (B) Als biologische Gefahren spielen v. a. Mikroorganismen bzw. die von ihnen gebildeten Toxine eine Rolle, die in kurzer Zeit bei sehr vielen Menschen schwerwiegende Erkrankungen hervorrufen (Epidemie). Diese Erreger können natürlich auftreten (z. B. SARS-CoV-2, Ebolaviren, Choleraerreger bei Naturkatastrophen) oder bei einem terroristischen Anschlag in Umlauf gebracht werden. Als solche (international geächteten) B-Waffen einsetzbar sind z. B. die Sporen des Milzbranderregers. Zu beachten sind auch biologische Gefahren, die keine Epidemien auslösen, aber einzelne Mitarbeitende des Rettungsdienstes gefährden können, z. B. bei Klinikabfällen. 541

24

Spezielle Einsatzsituationen

Radiologische und nukleare Gefahren (R und N) Ionisierende und radioaktive Strahlung • Die Energie ionisierender Strahlung ist in der Lage, Elektronen aus Atomen oder Molekülen herauszulösen, wodurch Radikale, d. h. sehr reaktionsfreudige Moleküle oder Ionen, entstehen. Diese können Zellen schädigen oder zerstören. Die wichtigsten Arten ionisierender Strahlung sind UV-Strahlung und Röntgenstrahlung aus dem elektromagnetischen Spektrum sowie radioaktive Strahlung. Letztere entsteht, wenn instabile Atomkerne zerfallen. Welche der folgenden Strahlungsarten dabei entsteht, hängt vom zerfallenden Element und damit von der Form des Kernzerfalls ab: ● α-Strahlung kann die Haut nicht durchdringen, jedoch nach dem Einatmen oder Verschlucken (über kontaminierte Nahrungsmittel) von α-Teilchen schwere Schädigungen verursachen. ● β-Strahlung kann in die unteren Hautschichten eindringen und dort zu lokalen Strahlenverletzungen führen. ● γ-Strahlung ist die im medizinischen Umfeld relevanteste Strahlungsart. Sie kann (ähnlich wie Röntgenstrahlung) den ganzen Körper durchdringen und Strahlungsschäden im gesamten Körper auslösen. Strahlenschäden • Das Ausmaß der Zellschädigungen nach einer Exposition hängt von der Strahlenart, der Strahlendosis und der Expositionsdauer ab. Unterschieden werden folgende Effekte: ● akute Strahlenschäden (Früheffekte): Das Ausmaß der Schädigung ist so hoch, dass die Reparaturmechanismen der Zellen überfordert sind und viele Zellen gleichzeitig absterben. Typische Effekte sind Strahlenverbrennungen mit Hautrötungen und Blasenbildung und (bei hoher Energiedosis und Ganzkörperbestrahlung) das häufig tödlich verlaufende akute Strahlensyndrom mit schweren Durchfällen, Störungen der Blutbildung und neurologischen Symptomen. ● Spätschäden: Auch ohne akute Symptome kann ionisierende Strahlung die DNA schädigen. Die wichtigsten Folgen sind ein erhöhtes Risiko für bösartige Tumoren und Einschränkungen der Zeugungsfähigkeit durch eine Schädigung der Keimzellen. ● Die Einwirkung ionisierender Strahlung während einer Schwangerschaft kann schwere kindliche Fehlbildungen zur Folge haben. Gefährdungsszenarien • R- und N-Gefahren sind generell selten. Eine Gefährdung besteht v. a. bei Unfällen im medizinischen Bereich (z. B. defekte CT- oder Röntgengeräte, Freisetzung von diagnostisch oder therapeutisch eingesetzten radioaktiven Stoffen), bei Verkehrsunfällen mit Gefahrguttransportern, die radioaktives Material geladen haben, und bei Störfällen in Kernkraftwerken oder kerntechnischen Anlagen. Eine potenzielle Gefahr sind auch Kriegs- oder Terrorhandlungen mit radioaktiven Substanzen (A-Waffen).

24.2.2 Vorgehen bei CBRN-Lagen GAMS-Regel Grundlegend werden mögliche CBRN-Lagen nach der GAMS-Regel abgearbeitet: ● G – Gefahr erkennen ● A – Absperrmaßnahmen durchführen ● M – Menschenrettung durchführen ● S – Spezialkräfte anfordern 542

Gefahr erkennen Achten Sie bei der Erstbeurteilung einer Einsatzstelle (S. 175) immer auf mögliche Hinweise auf eine CBRN-Gefahr, z. B. bei Verkehrsunfällen oder Industrieunfällen auf Gefahrgutzettel und Warntafeln (▶ Abb. 24.5, ▶ Abb. 24.6).

ACHTUNG Für Gefahrgüter gibt es, abhängig von der Substanzklasse, Freigrenzen, unterhalb derer Transportfahrzeuge nicht entsprechend gekennzeichnet sein müssen: Fehlende Warntafeln schließen daher einen Gefahrgutunfall nicht aus!

Absperrmaßnahmen durchführen Gefahrenbereich • Um die Sicherheit für Einsatzkräfte und Unbeteiligte zu gewährleisten, muss der Gefahrenbereich großräumig abgesperrt werden (▶ Abb. 24.7, mind. 50 m um die Gefahrenquelle), i. d. R. von Einsatzkräften der Feuerwehr. Innerhalb dieses Gefahrenbereiches wirkt die CBRNGefahr direkt auf Menschen und Technik, dieser Bereich darf daher nur mit entsprechender Schutzausrüstung betreten werden. Art und Umfang der Absperrmaßnahmen sind abhängig von der Art und dem Ausmaß der CBRN-Gefahr, den räumlichen Gegebenheiten und den Wettereinflüssen. Behandlungszone • Um den Gefahrenbereich herum wird ein weiterer Bereich mit Radius von mindestens 100 m als Behandlungszone abgesperrt, i. d. R. von der Polizei. In dieser Zone besteht keine CBRN-Gefahr für die Einsatzkräfte. Übergangszonen • Zwischen Behandlungszone und Gefahrenbereich gibt es fest definierte Übergangszonen, in denen Verletzte und Einsatzmaterial übergeben werden und ggf. eine Dekontamination (s. u.) stattfindet.

Menschenrettung durchführen Die Menschenrettung im Gefahrgutbereich ist Aufgabe der Spezialkräfte der Feuerwehr (ABC-Einheit; A für „atomar“, B für „biologisch“, C für „chemisch“), die über die dafür notwendige Schutzausrüstung verfügen.

! Merke Eigenschutz

Können Sie eine Person nicht aus dem Gefahrenbereich retten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, ist das oberste Ziel der Eigenschutz.

Spezialkräfte nachfordern Finden Sie an einem Einsatzort Hinweise auf eine CBRN-Gefahr, müssen Sie dies unmittelbar der Leitstelle melden. Diese alarmiert Spezialkräfte der Feuerwehr mit der erforderlichen Schutzausrüstung, die direkt im Gefahrenbereich tätig werden können. Auch wenn der Leitstelle und der Feuerwehr mögliche CBRN-Gefahren bereits bekannt sind, ist es sinnvoll, der Leitstelle nach einer Lageerkundung mitzuteilen, um welchen Gefahrenstoff es sich ganz genau handelt. Die Leitstelle kann dann aufgrund der übermittelten Gefahrgutsymbole (▶ Abb. 24.5) und der Beobachtungen gezielt Spezialkräfte von Feuerwehr und THW nachfordern.

CBRN-Lagen Abb. 24.5 Gefahrgutzettel und Warntafel.

1. Gefahrzettel (Aufkleber/Schild): Auf der Spitze stehendes Quadrat mit Gefahrensymbol ‣ ggf. Angabe der Gefahrklasse durch Zahl an der unteren Spitze ‣ mind. 10 cm × 10 cm an Containern, Tanks und Versandstücken ‣ mind. 25 cm × 25 cm bei Transport in Tankfahrzeugen usw. (Großzettel, Placards) Klasse 1 – Explosive Stoffe

1.1 Massenexplosionsfähig

1.2 Splitterbildung

1.3 Hitzebildung

1.4 Geringe Explosionsgefahr

1.5 Sehr unempfindlich, aber massenexplosionsfähig

1.6 Extrem unempfindlich, nicht massenexplosionsfähig

‣ Bei Brand an Fahrzeugen mit Gefahrzettel der Gefahrenklasse 1 Unfallstelle großflächig räumen und Deckung nehmen. ‣ Entstehungsbrände mit allen Mitteln bekämpfen. ‣ Brandstelle schnellstmöglich verlassen und Sicherheitsabstand einhalten (lagegerecht 150–1500 m). Klasse 2 – Gase und gasförmige Stoffe

Klasse 3 – Entzündbare flüssige Stoffe

Klasse 4 – Entzündbare feste Stoffe

2.1 Entzündbare Gase

F1 mit einem Flammpunkt von höchstens 60 °C F2 mit einem Flammpunkt über 60 °C

4.1 Leicht entzündbar, leicht brennbar

2.2 Nicht entzündbare, nicht giftige Gase

Klasse 6 – Giftige und ansteckungs-gefährliche Stoffe

6.1 Giftige Stoffe

2.3 Giftige Gase

Klasse 7 – Radioaktive Stoffe

6.2 Ansteckungsgefährliche Stoffe

4.2 Selbstentzündlich

Klasse 5 – Entzündend (oxidierend) wirkende Stoffe

4.3 Bilden bei Berührung mit Wasser entzündliche Gase

Klasse 8 – Ätzende Stoffe

5.1 Entzündend (oxidierend)

5.2 Organische Peroxide

Klasse 9 – Verschiedene gefährliche Stoffe

Verschiedene Stoffe und Gegenstände, die während der Beförderung eine Gefahr darstellen, die nicht unter die Begriffe der anderen Klassen fallen

Spaltbare Stoffe

2. Rechteckige orangefarbene Warntafel Ggf. sind an der Warntafel 2 Kennzeichnungsnummern angegeben, die das Gefahrgut und sein Gefahrenpotenzial spezifizieren: a) Die obere Zahl (Gefahrnummer oder Kemler-Zahl) benennt die Gefahr – es bedeuten allgemein: 1 Gefahr durch Explosion 2 Entweichen von Gas (Druck/chemische Reaktion) 3 Entzündbarkeit von Flüssigkeiten und Gasen 4 Entzündbarkeit von Feststoffen 5 Oxidierende (brandfördernde) Wirkung 6 Giftigkeit/Ansteckung 7 Radioaktivität 8 Ätzwirkung 9 Gefahr einer spontanen heftigen Reaktion X Gefährliche Reaktion mit Wasser ▶ Die Verdoppelung einer Ziffer bedeutet eine Zunahme der entsprechenden Gefahr ▶ Kann die Gefahr eines Stoffes ausreichend durch eine einzige Ziffer angegeben werden, wird dieser Ziffer eine 0 angefügt. b) Die untere Zahl (UN-Nummer; UN = United Nations) besteht aus 4 Ziffern und bezeichnet das Gefahrgut. Diese Zahl ist im Gefahrenfall an die Feuerwehr weiterzugeben; diese identifiziert den Stoff anhand der UN-Code-Liste, informiert den Rettungsdienst und gibt Hinweise für geeignete Maßnahmen. X= Der Stoff reagiert in gefährlicher Weise mit Wasser

Gefahrnummer (Kemler-Zahl)

UN-Nummer (Stoffnummer) hier: Natrium

Der Gefahrgutzettel enthält Symbole für Gefahrstoffgruppen, z. B. giftige Gase. Die Warntafel (orange mit schwarzer Umrandung) zeigt an, dass es sich um gefährliche Güter handelt. Die Zahl in der oberen Hälfte (2 oder 3 Ziffern) ist die Gefahrnummer, die Zahl in der unteren Hälfte die UN- oder Stoffnummer (UN = United Nations = Vereinte Nationen). Die Gefahrnummer zeigt an, welche Gefahr von der jeweils geladenen Substanz ausgeht. Anhand der Stoffnummer können Sie feststellen, um welche Substanz es sich handelt. Aus: Adams H, Flemming A, Friedrich L, Ruschulte H, Hrsg. Taschenatlas Notfallmedizin. 3. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016

543

24

Spezielle Einsatzsituationen Abb. 24.6 Tanklaster mit Gefahrgutkennzeichnung.

Abb. 24.8 Persönliche Schutzausrüstung für CBRN-Einsätze.

Der Tanklaster hat umweltgefährdende Stoffe der Gefahrgutklasse 9 „sonstige gefährliche Stoffe“ geladen. Es besteht die Gefahr einer spontanen heftigen Reaktion (Gefahrennummer 90), die Stoffnummer 3 082 steht für „umweltgefährdender Stoff, flüssig, N.A.G. (nicht anderweitig genannt)“. Der genaue Stoff ist damit hier nicht identifizierbar. © M. Perfectti/adobe.stock.com

Chemikalienschutzanzug mit Gummistiefeln, Gummihandschuhen und Atemschutz. Foto: © M. Granzow/Berufsfeuerwehr Duisburg

Abb. 24.7 Absperrbereich bei Unfällen mit Gefahrstoffen.

Absperrbereich

te müssen ggf. dekontaminiert werden (Dekon-P, P wie Person, bzw. Dekon-G, G wie Gerät). Hierzu wird eine DekonStelle am Übergang vom Gefahrenbereich in die Übergangszone errichtet: Hier wird jede Person ohne passende persönliche Schutzausrüstung (PSA) dekontaminiert, bevor sie die Behandlungszone betritt.

24.2.4 Persönliche Schutzausrüstung bei CBRN-Einsätzen Gefahrenbereich mind. 100 m

mind. 50 m

Absperrradius bei einem Gefahrstoffunfall gemäß FwDV 500. Den Gefahrenbereich dürfen nur Einsatzkräfte mit geeigneter Schutzausrüstung betreten. Die Abmessungen der Bereiche sind Mindestangaben. Zum Beispiel können je nach geografischen Gegebenheiten und Windverhältnissen auch größere Bereiche notwendig sein. Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Bei CBRN-Einsätzen benötigen die Einsatzkräfte eine besondere persönliche Schutzausrüstung (PSA), um den Gefahrenbereich betreten zu können. In Deutschland werden Art und Umfang der PSA u. a. durch die Feuerwehrdienstvorschrift FwDV500 – Einheiten im ABC-Einsatz geregelt (▶ Abb. 24.8): ● Die Körperschutzform 1 bietet Schutz gegen feste Stoffe und thermische Einflüsse sowie einen begrenzten Spritzschutz, aber keinen Schutz gegen Flüssigkeiten oder Gase. ● Die Körperschutzform 2 gibt es in verschiedenen Ausführungen, als Kontaminations-, Infektions- oder Flüssigkeitsschutzanzug. Sie ist flüssigkeitsundurchlässig und bedingt gasdicht. Wird die Schutzform als Infektionsschutzanzug getragen, werden alle Übergänge zu weiteren Teilen der Schutzbekleidung (Handschuhe oder Einsatzstiefel) abgedichtet, z. B. mit Klebeband. ● Die Körperschutzform 3 (Chemikalienschutzanzug, CSA) ist flüssigkeits- und gasdicht und schützt vor Kontaminationen mit festen, flüssigen und gasförmigen Stoffen.

RETTEN TO GO

24.2.3 Dekontamination Eine Verunreinigung eines Menschen durch Schadstoffe wird allgemein als Verseuchung oder Kontamination bezeichnet. Bei einem CBRN-Einsatz müssen Personen, die sich innerhalb der Gefahrenzone aufgehalten haben, möglicherweise dekontaminiert werden. Dies wird auch als Dekon-V (V wie Verletzte) bezeichnet und von speziell ausgebildeten und ausgestatteten Einsatzkräften der Feuerwehr oder des Rettungsdienstes durchgeführt. Auch unverletzte Personen sowie Einsatzkräfte, die sich innerhalb der Gefahrenzone aufgehalten haben, bzw. in der Gefahrenzone benutzte Gerä544

CBRN-Lagen im Rettungsdienst Bei CBRN-Lagen im Rettungsdienst geht die Gefahr von chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Stoffen aus. Mögliche CBRN-Gefahren am Einsatzort sind sofort der Leitstelle zu melden. CBRN-Einsatzlagen werden entsprechend der GAMS-Regel abgearbeitet: ● G – Gefahr erkennen, z. B. über Gefahrenkennzeichen ● A – Absperrmaßnahmen durchführen ● M – Menschenrettung durchführen (durch Spezialkräfte) ● S – Spezialkräfte anfordern

Besondere Einsatzlagen und taktisches Vorgehen

Um die Gefahrenquelle wird von der Feuerwehr ein Gefahrenbereich mit einem Radius von mind. 50 m und darum herum von der Polizei ein Behandlungsbereich abgesperrt. Mitarbeitende des Rettungsdienstes, die in der Regel über keine ausreichende Schutzausrüstung verfügen, dürfen den Gefahrenbereich nicht betreten. Alle Personen, die sich innerhalb der Gefahrenzone aufgehalten haben, müssen ggf. dekontaminiert werden. Die persönliche Schutzausrüstung (PSA) der Spezialkräfte gibt es in unterschiedlichen Ausführungen: ● Körperschutzform 1: Schutz vor festen Stoffen und thermischen Einflüssen, begrenzter Spritzschutz ● Körperschutzform 2: Schutz vor flüssigen Stoffen, begrenzt auch vor gasförmigen Substanzen ● Körperschutzform 3 (Chemikalienschutzanzug = CSA): Schutz vor festen, flüssigen und gasförmigen Stoffen

24.3 Besondere Einsatzlagen und taktisches Vorgehen Definition Besondere Einsatzlagen Als besondere oder bedrohliche Einsatzlagen werden i. d. R. Einsatzlagen mit anhaltender Bedrohungslage bezeichnet (z. B. Terroranschlag, Amoklauf, Geiselnahme). Im Unterschied zu einem MANV sind sowohl die Einsatzkräfte als auch die Verletzten und sonstige Betroffene während des Einsatzes weiterhin gefährdet. Einsatzkonzepte • Bedrohliche Einsatzlagen sind komplexe Situationen, die außergewöhnliche Anforderungen an alle Einsatzkräfte stellen. Als Reaktion auf Anschläge und Amokläufe wurden in den letzten Jahren vermehrt spezielle Einsatzkonzepte erarbeitet, um sowohl die Einsatzkräfte optimal zu schützen als auch eine prioritätenbasierte Versorgung der Verletzten zu gewährleisten. In der Anfangsphase geht es v. a. darum, den oder die Täter durch Polizeikräfte unschädlich zu machen, um weitere Opfer zu verhindern. Die Bergung und Versorgung der Opfer und auch der Schutz anderer Einsatzkräfte durch die Polizei sind anfangs nachgeordnete Ziele. Erkennen der Gefährdung am Einsatzort • Aus einem Notruf oder an der Einsatzstelle ist nicht immer sofort ersichtlich, dass eine bedrohliche Einsatzlage besteht. Wichtig ist, dass diese Möglichkeit sowohl von den Mitarbeitenden des Rettungsdienstes als auch vom Personal der Leitstellen in Betracht gezogen wird und sie für das Erkennen möglicher Bedrohungslagen sensibilisiert werden. Gefährdete Orte für terroristische Anschläge oder Amokläufe sind öffentliche Orte (z. B. Plätze, Sehenswürdigkeiten), Bildungseinrichtungen, Veranstaltungen (z. B. Konzerte), öffentliche Verkehrsmittel und Flughäfen. Gefährdungsszenarien • Die Formen von Angriffen und somit auch die Bedrohungsarten sind vielfältig, z. B.: ● Attacken mit Schusswaffen, Schlag-, Hieb-, und Stichwerkzeugen ● Angriffe mit Kraftfahrzeugen ● Sprengstoffanschläge, meist mit unkonventioneller Sprengvorrichtung oder als Selbstmordattentat ● Angriff mit chemischen, biologischen oder nuklearen Kampfstoffen

Dynamische und stationäre Szenarien • Besondere Einsatzlagen können sich unterschiedlich präsentieren: ● In einem dynamischen Szenario sind der oder die Täter noch nicht gefasst und bewegen sich frei. Die Lage kann daher jederzeit unvorhergesehen eskalieren. ● In einem stationären Szenario wurden die Täter bereits gefasst oder die Tat ist abgeschlossen. Die Lage ist unter Kontrolle, die unmittelbare Gefahr ist vorüber. Kommunikationsprobleme • Bei besonderen Einsatzlagen besteht immer die Gefahr einer Überlastung bzw. eines Ausfalls der Kommunikationsmöglichkeiten über BOS- und Mobilfunk. In einer solchen Situation müssen Rettungsteams auf sich gestellt arbeiten. Die persönliche Sicherheit ist gefährdet, da die Sicherheitskräfte nicht zeitnah über etwaige Lageveränderungen informieren können. Taktisches Vorgehen • Wie bei einem MANV unterstehen die Rettungskräfte der Sanitätseinsatzleitung (S. 536), die Gesamtleitung des Einsatzes liegt jedoch bei der Polizei. Diese klärt auch die Lage vor Ort und übernimmt die Einteilung der Gefahrenbereiche bzw. die Raumordnung (▶ Abb. 24.9): ● Im unsicheren (roten) Bereich besteht eine unmittelbare Gefährdung durch den oder die Täter. Nur die Polizei hat Zutritt zu diesem Areal, Rettungsteams sind hier nicht zugelassen. Zunehmend werden Einsatzkräfte der Polizei nach dem Konzept des Tactical Emergency Medical Support (TEMS) ausgebildet, das darauf abzielt, auch in unsicheren Bereichen häufige, potenziell vermeidbare Todesursachen mit schnellen und einfachen Mitteln zu beheben. Dazu zählt z. B. die Anlage eines Tourniquets bei kritischen Blutungen (S. 376). ● Im teilsicheren (gelben) Bereich ist eine Gefährdung durch den oder die Täter unwahrscheinlicher, aber nicht auszuschließen. In diesem Bereich dürfen sich Rettungsteams auf Weisung der Polizei aufhalten, allerdings so kurz wie möglich (Priorität des Eigenschutzes!). Hier sind eine rettungsdienstliche Vorsichtung (S. 540) und lebensrettende Sofortmaßnahmen möglich. Im Unterschied zu MANV werden wegen der Gefahr eines Folgeanschlags (Second Hit) keine Behandlungsplätze aufgebaut, sondern die Verletzten möglichst schnell in den sicheren Bereich transportiert: Die Gefährdungslage kann sich jederzeit verändern! ● Im sicheren (grünen) Bereich ist mit keiner Gefährdung durch den oder die Täter zu rechnen, z. B. in der polizeilich gesicherten Notaufnahme der Zielkliniken. Nach einigen Einsatzkonzepten sollen Rettungsteams nur in diesem Bereich tätig sein. Wichtig ist, dass die Verletzten gesichtet werden (S. 540) und ihre Behandlung der Sichtungskategorie entsprechend priorisiert wird! Erstversorgung • Häufige Verletzungsmuster bei Anschlägen sind Explosions-, Schuss- und Splitterverletzungen. Diese kommen im Regeldienst selten vor und sind schon allein deshalb eine rettungsdienstliche Herausforderung. Das Hauptproblem bei den meisten Verletzungsmustern ist ein kritischer Blutverlust mit Gefahr eines hämorrhagischen Schocks (S. 289). Daher müssen kritischen Blutungen unbedingt gestoppt werden (S. 374).

! Merke Stop the bleeding and clear the scene

Die wichtigsten Maßnahmen bei besonderen Einsatzlagen sind das Stoppen kritischer Blutungen und das schnellstmögliche Verlassen der gefährdeten Bereiche.

545

24

Spezielle Einsatzsituationen Abb. 24.9 Gefahrenbereiche bei besonderen Einsatzlagen.

sicher teilsicher

unsicher gPA Hospital

RTWLadezone

Anschlag

Krankenhaus gPA unsicher

BSR Bereitstellungsraum

Die einzelnen Bereiche können (v. a. bei einem dynamischen Szenario) oft nicht klar voneinander getrennt werden. Ob die geschützten Patientenablagen (gPA) am Übergang vom unsicheren zum teilsicheren oder vom teilsicheren zum sicheren Bereich eingerichtet werden, ist abhängig vom jeweiligen Einsatzkonzept. Beispiele für lebensrettende Sofortmaßnahmen im teilsicheren Bereich sind das Stillen lebensbedrohlicher Blutungen, die Atemwegssicherung und die Entlastung eines Spannungspneumothorax. Aus: Hossfeld B, Wurmb T, Josse F, Helm M: Massenanfall von Verletzten – Besonderheiten von „bedrohlichen Lagen“. In: AINS – Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Schmerztherapie. 2017; 52(09): 618 – 629. Stuttgart: Thieme.

teilsicher sicher unsicherer Bereich

teilsicherer Bereich

nur Polizei Triage nach Lebenszeichen Blutstillung mit Tourniquet

geschützte Patientenablagen (gPA) Entwaffnung Vorsichtung Abwendung von vitaler Bedrohung sicherer Bereich

Bereitstellungsräume (BSR) An- und Abfahrt der RTW

keine Behandlungsplätze Sichtung vor der Notaufnahme

! Merke Eigenschutz bei besonderen Einsatzlagen

Beachten Sie zum Schutz Ihrer eigenen Sicherheit bei besonderen Einsatzlagen folgende Punkte: ● Warten Sie außerhalb des (vermuteten) Gefahrenbereichs auf das Eintreffen der Polizei und handeln Sie nicht eigenmächtig – auch als Mitglied des ersteintreffenden Rettungsteams. Ziehen Sie sich bei Hinweisen auf eine persönliche Gefährdung sofort zurück. ● Halten Sie den Funk jederzeit besetzt, um neue Lagebeurteilungen und Anweisungen nicht zu verpassen. ● Die Lage kann sich jederzeit ändern, reagieren Sie daher unverzüglich auf Änderungen des Einsatzplans! ● Befolgen Sie unbedingt und unverzüglich die Anweisungen der Polizei!

RETTEN TO GO Besondere Einsatzlagen Besondere Einsatzlagen sind Einsatzsituationen, in denen sowohl die Einsatzkräfte als auch Verletzte und sonstige Betroffene anhaltend gefährdet sind (z. B. Terroranschlag, Amoklauf). In der Anfangsphase liegt der Fokus auf der Bekämpfung der Täter durch Einsatzkräfte der Polizei, um weitere Opfer zu vermeiden. Die Einsatzleitung liegt bei der Polizei. Sie übernimmt die Lagefeststellung sowie die Einteilung des Gebiets in unsichere, teilsichere und sichere Bereiche. Die Besatzung des ersteintreffenden Rettungsmittels darf nicht eigenmächtig handeln, sondern muss auf die Anweisungen der Polizei warten und diesen folgen.

546

Die Versorgung von Verletzten im unsicheren Bereich ist eine polizeiliche Aufgabe. Ziel ist es, häufige und vermeidbare Todesursachen schnell zu beheben (z. B. Stillen kritischer Blutungen durch das Anlegen eines Tourniquets). Die Übergabe der Patienten an die Rettungskräfte erfolgt i. d. R. im teilsicheren Bereich. Hier stehen eine rettungsdienstliche Vorsichtung, die Kontrolle kritischer Blutungen, die Atemwegssicherung und ggf. die Entlastung eines Spannungspneumothorax im Vordergrund. Das Ziel ist der schnellstmögliche Transport der Patienten in den sicheren Bereich, meist in die Notaufnahmen der Kliniken.

24.4 Weitere spezielle Einsatzsituationen 24.4.1 Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT) Definition Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen SRHT umfasst das Aufsuchen und die Evakuierung von verletzten und schwer erkrankten Personen aus großen Höhen oder Tiefen sowie ihre rettungsdienstliche bzw. notärztliche Erstversorgung. Zuständigkeit • In Deutschland gibt es für SRHT speziell ausgebildete Gruppen bei den Feuerwehren und Hilfsorganisationen (z. B. Bergwacht). Diese Gruppen umfassen jeweils mindestens 5 Personen (1 Führungskraft + 4 Einsatzkräfte) und werden bei entsprechenden Notfällen parallel oder zeit-

Weitere spezielle Einsatzsituationen nah zum Rettungsdienst alarmiert. Die Ausbildung für die Mitarbeit in einer solchen Gruppe umfasst 80 h und orientiert sich an den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren in Deutschland (AGBF).

Abb. 24.10 Seenotkreuzer.

Einsatzursachen • Der häufigste Alarmierungsgrund sind Arbeitsunfälle oder internistische Notfälle (v. a. Schlaganfall, akutes Koronarsyndrom) bei entsprechend exponierten Arbeiten, z. B. bei Kranführern, bei Wartungsarbeiten an hohen Gebäuden oder Windkraftanlagen, gefolgt von Freizeitunfällen (z. B. beim Klettern, bei Höhlenerkundungen) und Suizidversuchen. Spezielle Problemstellungen gibt es bei OffshoreWindparks im Meer sowie bei Rettungen im Hochgebirge und bei ungünstiger Witterung. Vorgehen bei SRHT-Einsätzen • Die gemeinsame Problematik bei SRHT-Einsätzen ist, dass der Notfallort schwer zugänglich und die Rettung daher oft umständlich ist und (z. B. bei Rettungen aus dem Hochgebirge bei schlechtem Wetter) mit einer Gefährdung der Rettungskräfte einhergehen kann. Hilfsfristen (S. 32) des Rettungsdienstes lassen sich nicht einhalten. Ist der Patient nicht direkt für eine rettungsdienstliche Untersuchung und Erstversorgung erreichbar (z. B., weil er in einer Gebirgswand feststeckt), steht zunächst die Evakuierung aus dieser Situation im Vordergrund. Erst danach beginnt die medizinische Erstversorgung. Zur Verringerung der Behandlungs- und Transportzeiten sollen alle Rettungsmittel (RTW, RTH) und notärztliche Unterstützung frühzeitig angefordert werden, sodass sie zur Verfügung stehen, sobald der Notfallpatient von der SRHTGruppe gerettet wurde. Hängetrauma • Ein bewegungsloses Hängen oder Sitzen (z. B. in einem Absturzgurt) kann auch bei unverletzten Personen innerhalb weniger Minuten zu einem „Versacken“ des Blutes in den herabhängenden Gliedmaßen mit orthostatischer Synkope (S. 419) und in der Folge zu einem hypovolämischen Schock (S. 289) führen. Ein solches Hängetrauma kommt zwar selten vor, muss aber bei der Erstversorgung von Patienten nach einer SRHT beachtet werden: Derzeit wird eine Flachlagerung der Betroffenen und eine weitere Versorgung nach cABCDE-Schema empfohlen.

Seenotkreuzer BERLIN der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). © fotografie-la.de/stock.adobe.com

24.4.3 Eisrettung Beim Einbrechen in natürliche Eisflächen können die Verunglückten ertrinken (S. 271), sind aber auch durch eine Unterkühlung (S. 402) und weitere Verletzungen durch das Einbrechen in das Eis gefährdet. Um den Eigenschutz zu gewährleisten, sollten Sie in einer solchen Situation Spezialkräfte von Feuerwehr, Wasserwacht, DLRG oder DGzRS nachfordern. Diese Spezialkräfte können die verunglückte Person mit speziellen Rettungsgeräten (z. B. Eisrettungsschlitten, Leitern) aus dem Eis befreien, um eine anschließende rettungsdienstliche Versorgung zu ermöglichen.

RETTEN TO GO Weitere spezielle Einsatzsituationen ●

24.4.2 Seenotrettung Für die Seenotrettung an den deutschen Küsten werden primär Seenotrettungsboote und Seenotrettungskreuzer der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) eingesetzt (▶ Abb. 24.10). Die DGzRS wird dabei durch Schiffe und seeflugtaugliche RTH mit Seilwinden der Küstenwache und Marine unterstützt. Die Gefahr bei Schiffsunglücken ist, dass über Bord gegangene Personen im Wasser treiben und durch die Aspiration von Flüssigkeit ertrinken. Das oberste Ziel ist daher, diese Personen so schnell wie möglich zu retten, sie zügig an Land zu bringen und dort an den bodengebunden Rettungsdienst zu übergeben. Im Falle einer Havarie mit mehreren Personen an Bord eines Schiffes wird notärztlich entschieden, ob die Personen zu ihrer eigenen Sicherheit auf dem Schiff verbleiben, bis sie kontrolliert gerettet werden können. Die Rettungsarbeiten werden oft durch widrige Wetterbedingungen erschwert. Siehe Näheres zu Tauchnotfällen (S. 411) und Ertrinkungsunfällen (S. 271).





Spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen (SRHT) – Definition: Aufsuchen und Evakuierung von verletzten und schwer erkrankten Personen aus großen Höhen oder Tiefen sowie ihre rettungsdienstliche bzw. notärztliche Erstversorgung – Zuständigkeit: speziell ausgebildete SRHT-Gruppen der Feuerwehren und Hilfsorganisationen – häufige Einsatzursachen: Arbeitsunfälle oder internistische Notfälle an exponierten Stellen (z. B. Wartungsarbeiten an hohen Gebäuden oder Windkraftanlagen), Freizeitunfälle (z. B. beim Klettern) und Suizidversuche – Vorgehen: erst Evakuierung durch SRHT-Gruppe, dann medizinische Erstversorgung; frühzeitige Alarmierung von RTW bzw. RTH und NA – Hängetrauma: orthostatische Synkope bzw. Gefahr eines hypovolämischen Schocks durch bewegungsloses Hängen oder Sitzen (z. B. in einem Absturzgurt), nach der Rettung Patienten flach lagern Seenotrettung: Primär zuständig ist die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Die obersten Ziele sind die schnelle Rettung aller Personen aus dem Wasser, der zügige Transport an Land und die Übergabe an bodengebundene Rettungskräfte. Eisrettung: Gefahren beim Einbrechen in natürliche Eisflächen sind Ertrinken, Unterkühlung und Verletzungen durch den Einbruch ins Eis. Fordern Sie für die Rettung vom Eis Spezialkräfte von Feuerwehr, Wasserwacht, DLRG oder DGzRS an, die über spezielle Rettungsgeräte (z. B. Eisrettungsschlitten) verfügen. 547

V

Rahmenbedingungen 25 Rechtliche Rahmenbedingungen und Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . 550 26 Dokumentation im Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

25

Rechtliche Rahmenbedingungen und Qualitätsmanagement

25.1 Grundlagen der staatlichen Ordnung in Deutschland Verfassungsgrundsätze • Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) formuliert für den deutschen Staat folgende Verfassungsgrundsätze: ● (1) Die Bunderepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. ● (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. ● (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. ● (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Nachfolgend ein paar vereinfachte Erläuterungen zu diesem Artikel des Grundgesetzes. Deutschland ist ein Bundesstaat, es ist in 16 Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen etc.) eingeteilt, die jeweils eigene Befugnisse („Rechte“) haben. Auf diese Weise wird die Macht auf diese 16 Bundesländer verteilt und eine allzu große Konzentration der Macht verhindert. Deutschland ist eine Republik (und z. B. keine Monarchie, in der ein auf Lebenszeit gewählter König regieren würde) und eine Demokratie, d. h., es 550

wird von mehreren Volksvertretern (Abgeordneten) regiert. Diese Abgeordneten wählt das Volk selbst, und zwar auf begrenzte Zeit. Sozial ist die Bundesrepublik, da sie soziale Unterschiede in einem gewissen Maß ausgleicht, also sozial Schwächere, die u. a. weniger Geld zur Verfügung haben, unterstützt und so für soziale Gerechtigkeit sorgt. Gesetze, die in Deutschland gelten, dürfen nicht gegen das Grundgesetz verstoßen und alle, egal ob Politiker, Richter, Polizisten, Angehörige der Verwaltung usw., müssen sich an Recht und Gesetz halten und dürfen nicht willkürlich entscheiden und handeln. Deutschland ist damit auch ein Rechtsstaat. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz von 1949, wird als ein äußerst schützenswertes Gut angesehen. Daraus ergibt sich Punkt 4 des oben zitierten Artikels 20, das Recht zum Widerstand. Dieses Recht gilt jedoch nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn das Fortbestehen der Demokratie gefährdet ist. Ein solcher Extremfall ist seit Aufnahme dieses Satzes in das Grundgesetz 1968 nicht eingetreten. Merkmale eines Rechtsstaats • Aus den Artikeln des GG ergeben sich folgende Merkmale eines Rechtsstaates: ● Der Staat hat die persönliche Freiheit jedes Einzelnen zu sichern (Freiheitssicherung). Jeder Einzelne hat dasselbe Anrecht auf persönliche Freiheit. ● Der Staat darf nicht willkürlich handeln, sondern muss sich an geltendes Recht und geltende Gesetze halten, wie auch jeder Einzelne. Die Gesetze gelten für ihn genauso wie für jeden einzelnen Bürger (Rechtssicherheit). ● Vor dem Gesetz sind alle gleich, egal, welcher Bevölkerungsschicht oder welchem Geschlecht sie angehören, egal, ob sie arm oder reich sind (Rechtsgleichheit).

Grundlagen der staatlichen Ordnung in Deutschland

▶S. 550 Unterlassene Hilfeleistung ▶S. 553 ▶S. 553

Sachbeschädigung Rechtsgebiete

Rechtliche Grundlagen für das Handeln im Rettungsdienst

▶S. 552

Körperverletzung Schweigepflicht

▶S. 554 ▶S. 554

Transportverweigerung

Beispiele aus dem Rettungsdienstalltag

▶S. 555

Zwangseinweisung ▶S. 555 Aufklärung und Einwilligung ▶S. 557

Straßenverkehrsrecht

Arbeitsrecht

▶S. 561

Medizinproduktegesetz und Medizinproduktebetreiberverordnung

▶S. 562

▶S. 558

Vorsorgevollmacht, Betreuung ▶S. 559 und Patientenverfügung Testament ▶S. 560

Bewertungskriterien

▶S. 563

Qualitätsstandards und Qualitätskontrolle ▶S. 563

Grundlagen des Qualitätsmanagements

Der PDCA-Zyklus

▶S. 564

Abb. 25.1 Gewaltenteilung.

Bundesverfassungsgericht

In Deutschland sind Legislative, Judikative und Exekutive, also die gesetzgebende, die rechtsprechende und die ausführende Gewalt, 3 voneinander getrennte Staatsgewalten, die sich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene gegenseitig überwachen und kontrollieren („Checks and Balances“).

Bundesregierung

Oberste Gerichtshöfe

Aus: retten – Notfallsanitäter. Thieme: Stuttgart; 2023

Länderregierungen

Gerichte der Länder

Aufteilung der Staatsgewalt

Länderebene

Bundesebene

Legislative gesetzgebende Gewalt

Bundesrat

Bundestag

Länderparlamente

Exekutive vollziehende Gewalt Bundeskanzler/in

Judikative rechtsprechende Gewalt

Minister/in

Gewaltenteilung • Aus Artikel 20 Abs. 2 Satz 2 GG ergibt sich die Gewaltenteilung. Durch die Gewaltenteilung (▶ Abb. 25.1) sollen sich die 3 Staatsgewalten (Legislative, Judikative und Exekutive) sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene gegenseitig überwachen und kontrollieren.

551

25

Recht und Qualitätsmanagement

Tab. 25.1 Staatsorgane und ihre Aufgaben. Staatsorgan

Funktionen und Aufgaben

Bundespräsident

● ● ●

Bundestag

● ● ●

Bundesrat

● ●

Bundeskanzler

● ●

Bundesregierung



Bundesversammlung



Bundesverfassungsgericht (BVerfG)



Bundesgerichtshof







● ●



Staatsoberhaupt (auf 5 Jahre von der Bundesversammlung gewählt) repräsentiert überparteilich den deutschen Staat (völkerrechtlicher Vertreter) hat keine Exekutivgewalt (= ausführende Gewalt), nimmt nicht an politischen Willensbildungsprozessen teil vom Volk (alle 4 Jahre) gewählte Abgeordnete kontrolliert die Regierung und verabschiedet Bundesgesetze wählt den Bundeskanzler Organ der Bundesländer im Rahmen der Gesetzgebung, d. h., der Bundesrat vertritt bei Bundesgesetzen die Interessen der Länder Mitglieder werden von den jeweiligen Ländern entsandt Regierungschef (alle 4 Jahre vom Bundestag gewählt) bestimmt Bundesminister und gibt der Bundesregierung die politischen Richtlinien vor (= Richtlinienkompetenz) besteht aus Bundeskanzler und Bundesministern (= Bundeskabinett) plant, entwirft und gestaltet die Staatsführung besteht aus den Mitgliedern des Bundestags und der Landesvertretungen (Landtage, Abgeordnetenhäuser etc.) einziges nicht ständiges Verfassungsorgan, da es im Regelfall nur alle 5 Jahre zusammentritt, um den Bundespräsidenten zu wählen überwacht, ob alle staatlichen Stellen (Bundesrat, Bundestag, Gerichte) die Vorgaben des Grundgesetzes einhalten fällt Entscheidungen bei Streitigkeiten zwischen den Staatsorganen; das Urteil des BVerfG ist stets bindend. Jeder Bürger kann beim BVerfG Verfassungsbeschwerde einreichen, um überprüfen zu lassen, ob seine Grundrechte evtl. verletzt wurden (z. B. Verletzung des Versammlungsrechtes, wenn die Polizei eine Demonstration nicht genehmigt). oberster Gerichtshof für Zivil- und Strafsachen oberste Revisionsinstanz bei Urteilen der Landgerichte und Oberlandesgerichte

RETTEN TO GO

25.2 Rechtliche Grundlagen für das Handeln im Rettungsdienst

Verfassungsgrundsätze und Rechtsgebiete

25.2.1 Rechtsgebiete

Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist das Grundgesetz von 1949. Es enthält in Artikel 20 u. a. (hier vereinfacht formuliert), folgende Grundsätze: ● Deutschland ist ein Bundesstaat (mit 16 Bundesländern). ● Nach den Grundsätzen der Demokratie wird Deutschland von Volksvertretern (Abgeordneten) regiert. Diese wählt das Volk auf begrenzte Zeit in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl. ● Soziale Unterschiede werden zu einem gewissen Maß ausgeglichen (Sozialstaat). ● Deutschland ist auch ein Rechtsstaat, d. h., an geltende Gesetze müssen sich alle halten (Rechtssicherheit), vor dem Gesetz sind alle gleich (Rechtsgleichheit) und der Staat muss die Freiheit jedes Einzelnen sichern (Freiheitssicherung). ● Durch die Gewaltenteilung (= Aufteilung der Macht auf die 3 Staatsgewalten Legislative, Judikative und Exekutive, also gesetzgebende, rechtsprechende und ausführende Gewalt) sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene sollen sich diese 3 Staatsgewalten gegenseitig überwachen und kontrollieren („Checks and Balances“).

Das deutsche Recht wird in 3 Rechtsgebiete unterteilt: ● Zivilrecht – regelt Verhältnisse zwischen den Bürgern – Beispiele: Ansprüche aus Verträgen (Mietvertrag etc.) ● Strafrecht (▶ Abb. 25.2) – regelt Strafansprüche des Staates gegenüber Bürgern bei Verletzungen des Strafgesetzes – Dem Angeklagten steht stets ein Staatsvertreter gegenüber (Staatsanwalt). – Beispiele: Körperverletzungen, Diebstähle Abb. 25.2 Straftatbestände im Rettungsdienst.

Freiheitsberaubung

Verletzung von Privatgeheimnissen

unterlassene Hilfeleistung

Körperverletzung

vorsätzlich fahrlässig

fahrlässige Tötung

Organe des Staates und ihre Aufgaben • ▶ Tab. 25.1 fasst die Staatsorgane, ihre Funktionen und Aufgaben sowie die Häufigkeit, mit der sie gewählt werden, zusammen.

Beispiele für mögliche Straftatbestände nach StGB bei der Arbeit im Rettungsdienst. Nach: Hell W: Alles Wissenswerte über Staat, Bürger, 552

Recht. Stuttgart: Thieme; 2018.

Recthliche Grundlagen



öffentliches Recht – regelt Verhältnis zwischen Bürger und Staat – Beispiele: Sozialrecht (soziale Ansprüche des Bürgers wie Arbeitslosengeld), Verwaltungsrecht, Grundrechte

25.2.2 Beispiele aus dem Rettungsdienstalltag Nachfolgend werden anhand von Fallbeispielen einige den Rettungsdienst betreffende Gesetzmäßigkeiten erläutert.

Unterlassene Hilfeleistung Fallbeispiel Fall 1 – Unterlassene Hilfeleistung* Rettungssanitäterin Sophie und Rettungssanitäter Karl befinden sich mit dem KTW auf dem Weg von einem Krankenhaus zurück zur Rettungswache. Sie bemerken auf dem Fahrradweg eine am Boden liegende, regungslose Person. Neben ihr liegen zwei Fahrräder. Eine weitere Person läuft hektisch und ziellos umher. Nach kurzer Überlegung fahren Sophie und Karl weiter mit dem Gedanken: „Da hilft ja schon jemand, außerdem haben wir seit einer halben Stunde Feierabend.“ *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Haben Sophie und Karl rechtmäßig gehandelt?

! Merke Unterlassene Hilfeleistung

§ 323c des Strafgesetzbuches (StGB) besagt: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich [...] ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“ Obwohl es Sophie und Karl möglich war, Hilfe zu leisten (besonders in Bezug auf ihre berufliche Qualifikation), haben sie es unterlassen. Der Gesetzgeber spricht im Sinne des § 323c StGB von einer unterlassenen Hilfeleistung. Die beiden hätten sich zumindest vergewissern müssen, dass die andere Person ausreichend Hilfe leistet. Da diese Person allerdings hektisch und augenscheinlich hilflos wirkte, hätten Sophie und Karl anhalten müssen, da sie mit der mitgeführten notfallmedizinischen Ausrüstung in der Lage gewesen wären, professionelle Hilfe zu leisten. Die unterlassene Hilfeleistung muss allerdings dringend vom Begehen durch Unterlassen abgegrenzt werden. Aus dem § 13 StGB ergibt sich die Garantenpflicht: „Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.“ Die hier beschriebene gesteigerte Hilfeleistungspflicht betrifft bestimmte Berufsgruppen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, z. B. Erzieher im Kindergarten oder Rettungskräfte im Einsatz. Letztere sind vor dem Gesetz Obhutsgaranten für „ihren“ Patienten vom Moment der Einsatzübernahme bis zur Übergabe im Krankenhaus. In dieser Zeit müssen sie alle Gefahren (v. a. medizinische) im Rahmen ihrer Möglichkeiten abwenden. Nach Dienstende endet die Garantenstellung, da der Rettungssanitäter nun keine hoheitlichen Pflichten mehr wahrnimmt. Er muss nun die oben beschriebene reguläre Hilfeleistungspflicht wie jeder andere Bürger

beachten. Bezogen auf den Fall 1 trifft ein Begehen durch Unterlassen also nicht zu, da Karl und Sabine noch keinen Einsatzauftrag zu dem verunglückten Radfahrer hatten.

Fallbeispiel Fall 2 – Die Verpflichtung, Hilfe zu holen* Rettungssanitäter Felix macht mit seiner Freundin einen Winterspaziergang um einen zugefrorenen See. Plötzlich hören die beiden Hilferufe, die vom See zu kommen scheinen. Nach kurzer Suche bemerken sie einen offensichtlich eingebrochenen Eisangler, der verzweifelt mit den Armen wedelt und aus Leibeskräften um Hilfe ruft. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Müssen die beiden versuchen, zu dem Angler zu gelangen, um ihn zu retten und sich somit nicht – wie im Fallbeispiel 1 beschrieben – der unterlassenen Hilfeleistung strafbar zu machen? Nein, an dieser Stelle muss der oben beschriebene § 323c StGB, Unterlassene Hilfeleistung, genauer betrachtet werden: „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.“

! Merke Unterlassene Hilfeleistung

§ 323c StGB, Unterlassene Hilfeleistung, besagt auch, dass man nicht das eigene Leben „aufs Spiel setzen“ muss, um selbst aktiv Hilfe zu leisten. Man ist jedoch zumindest verpflichtet, geeignete Hilfe zu holen. In diesem Falle ist den beiden eine aktive Hilfestellung (Bsp.: das Eis betreten und den Angler herausziehen) nicht zuzumuten, da eine Gefahr für das eigene Leben besteht. Jedoch sind Felix und seine Freundin in jedem Falle gemäß § 323c StGB verpflichtet, Hilfe zu holen!

Sachbeschädigung Fallbeispiel Fall 3 – Kein Straftatbestand trotz Sachbeschädigung* Die Rettungssanitäter Johannes und Mia sollen einen 82-jährigen, dialysepflichtigen Patienten mit dem KTW zum Dialysetermin in eine Arztpraxis transportieren. Ein solcher Transport findet 3-mal wöchentlich statt, der 82-Jährige ist den beiden bestens bekannt. Normalerweise öffnet er selbst die Tür und kann mit Unterstützung zum KTW gehen. Diesmal öffnet jedoch niemand auf das Klingeln. Mia und Johannes entscheiden, das Grundstück zu betreten und im Garten nachzusehen. Hierbei entdecken sie den älteren Herrn im Wintergarten auf dem Fußboden liegend. Trotz lauten Rufens und starken Klopfens an die Glasscheiben reagiert er nicht. Nachdem die beiden Rettungssanitäter alle Türen und Fenster zu öffnen versucht haben, entschließen sie sich, die Glastür des Wintergartens einzuschlagen, da sie wissen, dass der Patient an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus leidet. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

553

25

Recht und Qualitätsmanagement Haben sich Mia und Johannes der Straftatbestände der Sachbeschädigung oder des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht, weil sie die Fensterscheibe eingeschlagen haben, um zu dem Patienten zu gelangen? Die Antwort lautet nein, denn § 34 StGB besagt: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“

! Merke Sachbeschädigung

Eine Sachbeschädigung, wie das Einschlagen einer Fensterscheibe, ist kein Straftatbestand, wenn sie zwingend notwendig ist, um ein Leben zu retten, und auch ein angemessenes Mittel darstellt, um dieses Leben zu retten. Das, was § 34 StGB schildert, bedeutet einfacher ausgedrückt: Im Fall 3 liegt zwar eine „Sachbeschädigung“ vor, jedoch haben die beiden Rettungssanitäter die Fensterscheibe nur eingeschlagen, um einem Menschen in Lebensgefahr zu helfen. Somit haben sie für diese Sachbeschädigung einen Rechtfertigungsgrund. Das „geschützte Interesse“ (das Leben des Patienten) überwiegt eindeutig das „beeinträchtigte Interesse“ (hier der Schutz der Glasscheibe) – ganz vereinfacht gesagt: Es ist wichtiger, ein Menschenleben zu retten, als dafür zu sorgen, dass eine Glasscheibe heil bleibt. Das Zerschlagen der Scheibe war außerdem zwingend notwendig, um zum Patienten zu gelangen und sein Leben zu retten, und auch ein angemessenes Mittel (Prinzip der Verhältnismäßigkeit), um dieses Ziel zu erreichen.

Körperverletzung Fallbeispiel Fall 4 – Straftatbestand Körperverletzung* Die Rettungssanitäter Leon und Niklas werden zum Einsatzstichwort „Z. n. Sturz“ gerufen. Am Einsatzort (Sporthalle) finden sie einen 25-jährigen Mann, der starke Schmerzen im rechten Unterschenkel hat. Es stellen sich deutliche Zeichen einer Unterschenkelfraktur heraus. Die beiden entschließen sich, eine Schiene (SamSplint) anzulegen, dazu halten sie das Bein unter Zug und bringen die Schiene an. Während der Lagerung (unter Zug) schreit der Patient vor Schmerzen: „Halt, hören Sie auf, das tut zu sehr weh!“ RS Leon äußert dazu: „Tschuldigung, ist gleich vorbei, wir dürfen kein Schmerzmittel geben!“ Nachdem die Schiene angelegt ist, gibt der Patient an, jetzt immer noch starke Schmerzen zu haben. RS Niklas: „Wir fahren jetzt mal ins Krankenhaus, da können Sie ein Schmerzmittel kriegen. Wir sind in 5 min da – ehe der Arzt hier ist, dauert`s länger. Ein Knochenbruch tut nun mal weh!“ *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

An dieser Stelle haben die beiden RS den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt: Wer Schmerzen zufügt, erfüllt die Tatbestandsmerkmale des § 223 StGB:

554





„(1) Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.“

! Merke Körperverletzung

Das Wohlbefinden bzw. der Gesundheitszustand der Patienten sind bei jeder therapeutischen oder diagnostischen Maßnahme zwingend zu beachten! Die beiden RS haben trotz ihrer guten Absicht, die Fraktur zu schienen, dem Patienten Schmerzen zugefügt und ihn körperlich misshandelt. Stattdessen hätten sie notärztliche Unterstützung anfordern müssen. Der Notarzt oder die Notärztin hätte zunächst eine Analgesie durchgeführt. Anschließend hätten sie dem Patienten die Schiene anlegen können. Manche Straftatbestände, z. B. der der Körperverletzung, können auch fahrlässig begangen werden. Fahrlässiges Handeln bedeutet, dass man Schäden zwar für möglich gehalten, auf deren Nichteintritt jedoch vertraut hat. Eine fahrlässige Handlung liegt also vor, wenn man die notwendige Sorgfalt außer Acht lässt. Vorsätzlich handelt nur derjenige, dem Wissen und Wollen der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes oder der Folgen des Tatbestandes nachgewiesen werden können. Es handelt also nur vorsätzlich, wer bewusst und absichtlich handelt. Auf diesen Fall bezogen bedeutet das, dass die beiden RS vorsätzlich gehandelt haben, da sie wissentlich die Schienung weiter durchgeführt haben, obwohl der Patient einerseits Schmerzen geäußert hat und außerdem mit dem Zusatz „Halt, hören Sie auf, das tut zu sehr weh!“ seine Einwilligung in die Behandlung zurückgenommen hat.

Schweigepflicht Fallbeispiel Fall 5 – Schweigepflicht* RS David und RS Frieda werden zu einem Verkehrsunfall alarmiert. Vor Ort stellen sie fest, dass ein PKW in eine Reihe parkender PKWs gefahren ist. An allen PKWs sind lediglich Bagatellschäden zu erkennen. Die Polizei ist nicht vor Ort. Der mutmaßliche Unfallverursacher schildert Schmerzen in Thorax und Nacken. Nach entsprechender Versorgung verbringen die RS den Patienten in die nächstgelegene Notaufnahme. Während der Fahrt bemerkt RS Frieda eine deutliche Alkoholfahne bei dem Patienten. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Es stellt sich hier die Frage, ob die beiden RS der Polizei mitteilen müssen, dass der Patient den Unfall unter Alkoholeinfluss verursacht hat. Der Gesetzgeber hat dazu den § 203, Verletzung von Privatgeheimnissen, im StGB formuliert: „(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als 1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, [...]

Recthliche Grundlagen anvertraut worden oder sonst bekannt geworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Abs. 3: Den in Absatz 1 und Satz 1 Genannten stehen ihre berufsmäßig tätigen Gehilfen und die Personen gleich, die bei ihnen zur Vorbereitung auf den Beruf tätig sind.“ Rettungssanitäter sind nach Abs. 3 „Gehilfen des (Not)arztes“ und unterstehen daher ebenso wie er der Schweigepflicht. Es wird deutlich, dass die beiden die Tatsache, dass der Unfallverursacher alkoholisiert war, nicht der Polizei mitteilen dürfen.

! Merke Schweigepflicht

Von der Schweigepflicht können Sie grundsätzlich nur von der betroffenen Person selbst entbunden werden. Wurde man von der Schweigepflicht entbunden, ist man, wie jede Privatperson, verpflichtet, die Wahrheit zu sagen (vgl. §§ 64 und 65 Strafprozessordnung). Liegt keine solche Entbindung vor, hat der Arzt und auch der Rettungssanitäter ein Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. § 53 StPO).

Transportverweigerung Fallbeispiel Fall 6 – Keine Behandlung gegen den Willen des Patienten* NotSan Laura und RS Lena werden zu einem älteren Herrn unter dem Stichwort „Brustschmerz“ alarmiert. Durch die Anamnese und v. a. durch das EKG bestätigt sich die Diagnose eines Herzinfarktes. Der Patient lehnt die Weiterbehandlung in einem Krankenhaus und den Transport dorthin trotz intensiver Aufklärung ab. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Fälle wie dieser stellen das Rettungsdienstpersonal oftmals vor eine schwere Entscheidung. Einerseits hat der Patient eine akut lebensbedrohliche Erkrankung, andererseits befindet er sich offensichtlich im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und lehnt einen Transport in das Krankenhaus ab. Der Verfassungsgeber positioniert sich hier eindeutig. Artikel 1 des deutschen GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dies ist hier in Verbindung mit Artikel 2 Satz 1 GG zu betrachten: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu zusätzlich folgende Ansicht: „Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten.“ (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009, Absatz-Nr. (1–421), Absatz-Nr. 364; vgl. auch: BVerfGE 45, 187 ff., 227.)

! Merke Schutz der Menschenwürde

Der Wille des Menschen steht über seinem Wohl! Grundsätzlich darf niemand gegen seinen Willen behandelt werden, egal wie (lebens) gefährlich seine Erkrankung oder Verletzung ist. Bezogen auf den Patienten im Beispiel oben bedeutet dieser Satz, dass der Wille dieses Patienten zu akzeptieren und zu

tolerieren ist. In einem solchen Fall muss das Rettungsdienstteam den Patienten deutlich verständlich über mögliche Folgen der Erkrankung im Zusammenhang mit ausbleibender ärztlicher Behandlung aufklären und die Transportverweigerung dokumentieren. Dies sollte nach Möglichkeit unter Zeugen geschehen! Außerdem muss das Rettungsteam sicherstellen, dass der Patient die Aufklärung auch verstanden hat. Verzichten Sie bei solchen Gesprächen unbedingt auf evtl. unverständliche Fachbegriffe und schildern Sie jedem Patienten die möglichen Folgen so verständlich wie nur möglich. Ein Formular zur Transportverweigerung gehört zum Standard-Dokumentationswerk des Rettungsdienstes (▶ Abb. 25.3).

Zwangseinweisung Fallbeispiel Fall 7 – Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik? Rettungssanitäterin Sarah und Notfallsanitäter Samuel werden mit dem Stichwort „hilflose Person“ zu einem 25-jährigen Mann gerufen. Vor Ort empfängt sie die Schwester des Mannes. Sie schildert, dass sie mit ihrem Bruder telefoniert habe, da gestern dessen Freundin die Beziehung zu ihm beendet habe. Dabei habe er mehrfach betont, sich das Leben nehmen zu wollen. Sie sei sofort zu ihm gefahren, hier habe er wieder mehrfach geäußert, im Leben keinen Sinn mehr zu sehen und sein Leben beenden zu wollen. Daraufhin habe sie den Rettungsdienst gerufen. Im ersten Gespräch mit dem Rettungsteam erklärt der Mann, sich vor den nächsten Zug werfen zu wollen. Eine psychiatrische Behandlung lehnt er ab. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

In diesem Fall stellt sich die Frage, wie man einsatztaktisch in einem rechtlich vertretbaren Rahmen vorgeht. Da eindeutig suizidale Absichten im Raum stehen, der Patient jedoch eine weitere Behandlung in einer entsprechenden Einrichtung ablehnt, muss geklärt sein, inwieweit Sie sich über den Willen des Patienten hinwegsetzen dürfen. Hierbei greift das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG). Allerdings gilt hierbei das jeweilige Landesrecht, d. h., das PsychKG unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland sowohl in den Formulierungen als auch in der Umsetzung.

! Merke Zwangseinweisung

Inwieweit und in welchen Fällen Sie sich im Rettungsdienst über den Willen eines Patienten hinwegsetzen dürfen, regelt das PsychischKranken-Gesetz (PsychKG) des jeweiligen Bundeslandes. Sie sollten sich daher unbedingt über das in Ihrem Bundesland geltende PschKG informieren! Als Beispiel dient hier das Brandenburgische PsychKG: „Eine Unterbringung im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn eine Person aufgrund ihrer psychischen Krankheit oder seelischen Behinderung gegen ihren Willen, in willenlosem Zustand oder gegen den Willen ihrer gesetzlichen Vertretungsperson oder gerichtlich bestellten Betreuungsperson nicht nur vorübergehend in eine Einrichtung der psychiatrischen Versorgung nach § 10 Abs. 1 eingewiesen und dort festgehalten wird“ (§ 8 BrbgPsychKG). Psychisch kranke Personen sind Personen, „[…] die an einer Psychose (= schwere psychische Erkrankung), einer psychischen Störung, die in ihren Auswirkungen einer Psy555

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Recht und Qualitätsmanagement Abb. 25.3 Protokoll zur Transportverweigerung Thieme DokuFORM. Der Rettungsdienst muss die Aufklärung des Patienten nachweisen können, v. a. im Falle der Transportverweigerung durch den Patienten. Die Aufklärung übernimmt i. d. R. der Transportverantwortliche (NA oder NotSan). RS fungieren hier als Zeugen und unterstützen selbstverständlich bei der unabdingbaren Untersuchung und Betreuung des Patienten. Quelle: Thieme DokuFORM GmbH

chose gleichkommt, oder einer mit dem Verlust der Selbstkontrolle einhergehenden Abhängigkeit von Suchtstoffen leiden und bei denen ohne Behandlung keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht“ und „[…] geistig behinderte Menschen, die aufgrund hinzutretender psychischer Störungen im Sinne des Absatzes 2 besonderer Hilfen bedürfen“ (vgl. § 1 Abs. 2 und 3 BrbgPsychKG). In § 12, Einstweilige Unterbringung, wird formuliert, dass der sozialpsychiatrische Dienst eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik anordnen darf. Ist der sozialpsychiatrische Dienst nicht verfügbar, „[…] so hat die integrierte Leitstelle des Rettungsdienstes eine Notärztin oder einen Notarzt zu der betroffenen Person zu entsenden. Die Notärztin oder der Notarzt kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 die einstweilige Unterbringung der Person anordnen und zur Ausführung dieser Anordnung die Polizei um Vollzugshilfe ersuchen“ (§ 12 Abs. 4 BrbgPsychKG). Für den Fall 7 bedeutet dies, dass das Rettungsteam zunächst über die Leitstelle erkunden muss, ob der sozialpsychiatrische Dienst verfügbar ist, bzw. bei dessen Nichtverfügbarkeit notärztliche Unterstützung nachfordern muss. 556

Voraussetzungen für eine Einweisung durch den sozialpsychiatrischen Dienst oder eine Notärztin oder einen Notarzt sind Fremd- und/oder Eigengefährdung. Beispiele für Eigengefährdung Gefahr der Selbsttötung ● gesundheitliche Gefahr durch erhebliche Müllansammlung ● planloses Herumirren im öffentlichen Straßenverkehr ●

Beispiele für Fremdgefährdung ● Morddrohung ● gewalttätige Übergriffe ● erhebliche Stalking-Attacken Ob es sich letztlich um eine der aufgeführten Gefährdungen handelt, darf endgültig nur der sozialpsychiatrische Dienst oder die Notärztin/der Notarzt entscheiden. Jedoch können Sie als Rettungssanitäter selbstverständlich einen dahingehenden Verdacht äußern!

Recthliche Grundlagen

Aufklärung und Einwilligung RETTEN TO GO Recht im Rettungsdienstalltag (Beispiele) – Teil 1 ●









Unterlassene Hilfeleistung ist grundsätzlich strafbar (Freiheitsstrafe von bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe, § 323c des Strafgesetzbuches, kurz StGB). Ausnahme: Wenn die eigene aktive Hilfeleistung damit verbunden ist, dass man das eigene Leben aufs Spiel setzt (z. B., wenn man jemanden retten muss, der ins Eis eingebrochen ist), muss man nicht selbst aktiv helfen, ist aber verpflichtet, geeignete Hilfe zu holen. Sachbeschädigung, z. B. das Einschlagen einer Fensterscheibe, ist grundsätzlich strafbar. Nicht strafbar ist sie (so § 34 StGB), wenn die Sachbeschädigung notwendig und ein angemessenes Mittel ist, um ein Leben zu retten (z. B., wenn man durch die eingeschlagene Fensterscheibe – und nur auf diesem Weg – zu einem Menschen in Lebensgefahr gelangen und ihn so retten kann). Körperverletzung liegt z. B. vor, wenn man anderen Schmerzen zufügt (§ 223 StGB). Dies gilt auch im Rettungsdienst: Das Wohlbefinden bzw. der Gesundheitszustand eines Patienten sind bei jeder therapeutischen oder diagnostischen Maßnahme zwingend zu beachten! Das heißt z. B.: Auch als Rettungssanitäter können Sie nicht einfach einen Knochenbruch schienen, wenn dies dem Patienten zusätzlich Schmerzen verursacht. Stattdessen: NA anfordern, der vor der Schienung ein Schmerzmittel verabreicht. Verletzung der Schweigepflicht: Rettungssanitäter sind nach § 203 Abs. 3 „Gehilfen des (Not)arztes“ und unterliegen wie er grundsätzlich der Schweigepflicht. Das heißt z. B., dass Rettungsdienstmitarbeitende der Polizei nicht mitteilen dürfen, dass ein Unfallverursacher alkoholisiert war, und zwar auch, wenn die Polizei danach fragt. Sie haben ein sog. Zeugnisverweigerungsrecht. Nur wenn der Unfallverursacher selbst den Rettungsdienstmitarbeitenden erlaubt, diese Information an die Polizei weiterzugeben, sind diese von der Schweigepflicht befreit (man sagt auch „entbunden“). Schutz der Menschenwürde: Der Wille des Menschen steht über seinem Wohl (Grundgesetz), d. h. auch: Niemand darf gegen seinen Willen behandelt werden, egal wie (lebens)gefährlich eine Erkrankung oder Verletzung ist. Das Rettungsdienstteam muss einen Patienten, der die Behandlung verweigert, jedoch eindeutig verständlich über mögliche Folgen seiner Verweigerung informieren und die Verweigerung unter Zeugen dokumentieren. Ausnahmen hiervon bilden psychisch kranke Personen. Inwieweit und in welchen Fällen man sich bei psychisch Kranken im Rettungsdienst über den Willen des Patienten hinwegsetzen darf (Zwangsmaßnahmen), regelt das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) des jeweiligen Bundeslandes. Es ist daher zwingend erforderlich, sich über das PsychKG des jeweiligen Bundeslandes zu informieren.

Fallbeispiel Fall 8 – Einwilligung* Der RS-Praktikant Thomas wird im Rahmen seines 4-wöchigen Praktikums vom Ausbildungsleiter der Rettungswache in die Abläufe vor, während und nach den Einsätzen eingewiesen. Dabei kommt der Ausbildungsleiter auf das Thema Einwilligung zu sprechen: „Bedenke immer, dass jeder Patient durchaus das Recht hat, Leistungen von uns abzulehnen. Selbst wenn wir ein Medikament oder das Legen eines venösen Zugangs als dringend notwendig erachten, müssen wir den Patienten dennoch zunächst um sein Einverständnis bitten. Sonst handeln wir ja gegen seinen Willen!“ Am Tag nach der Einweisung besetzt Thomas gemeinsam mit dem Ausbildungsleiter und einem weiteren Kollegen den RTW 1 der Rettungswache. Kurz nach dem Frühstück werden sie zu einer bewusstlosen Person gerufen. Vor Ort stellt sich heraus, dass der 81-jährige Patient unterzuckert ist und dringend Glukose intravenös benötigt. Sofort nach dieser Erkenntnis beginnt der Notarzt, eine Venenverweilkanüle in den Handrücken des bewusstlosen Patienten zu legen. Thomas erinnert sich an die Schulung am Vortag: „Der Notarzt konnte den Patienten ja nun nicht nach seiner Zustimmung fragen. Vielleicht will der diese Behandlung ja gar nicht“, denkt er sich. Er stellt sich die Frage, wie man von einem nicht kommunikationsfähigen Patienten die Zustimmung zu einer medizinisch notwendigen, invasiven Maßnahme erhalten kann. *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

BGB § 630 d) und e) legt fest, dass ein Patient vor Anwendung einer medizinischen Maßnahme umfänglich über „Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie“ aufgeklärt werden muss. Es werden eine ausdrückliche und eine mutmaßliche Einwilligung unterschieden. Die erste gibt der Patient nach o. g. Aufklärung selbst, es sei denn, er ist einwilligungsunfähig. Dies bedeutet, dass der Patient nicht über die geistige Reife verfügt, die Tragweite seiner Entscheidung zu verstehen (z. B. bei geistiger Behinderung oder kleinen Kindern). Die mutmaßliche Einwilligung wird mit der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) gemäß § 677 BGB geregelt: „Wer ein Geschäft für einen anderen besorgt, ohne von ihm beauftragt oder ihm gegenüber sonst dazu berechtigt zu sein, hat das Geschäft so zu führen, wie das Interesse des Geschäftsherrn mit Rücksicht auf dessen wirklichen oder mutmaßlichen Willen es erfordert.“

! Merke Aufklärung und Einwilligung

Medizinische Maßnahmen an einem Patienten sind generell nur zulässig, wenn dieser umfänglich über die Maßnahme aufgeklärt wurde und in die Behandlung eingewilligt hat. Ist der Patient z. B. aufgrund einer Bewusstlosigkeit hierzu nicht in der Lage, müssen Sie nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten handeln. Bezogen auf den oben dargelegten Fall bedeutet dies, dass der Rettungsdienst einen bewusstlosen Patienten durchaus ohne dessen Einwilligung behandeln darf. Die Rettungsdienstmitarbeitenden müssen dabei nur so handeln, wie es der Patient mutmaßlich wünschen würde (hier: Glukose spritzen, damit er wieder zu Bewusstsein kommt). 557

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Recht und Qualitätsmanagement

Arbeitsrecht Fallbeispiel Fall 9 – Kündigung* Die Rettungssanitäter Alexander und Robert treffen sich zufällig privat beim Einkaufen. Die beiden kennen sich seit der Ausbildung und pflegen ein freundschaftliches Verhältnis über die Arbeit hinaus. „Mensch, du siehst aber heute wirklich schlecht aus!“, begrüßt Robert seinen Freund. „Was ist denn los?“ Alexander blickt finster drein und erwidert: „Ich bin heute fristlos von meinem Arbeitgeber gekündigt worden, weil ich im letzten halben Jahr zweimal zu spät zum Dienst gekommen bin. Er sei nicht gewillt, ein solches Verhalten von mir hinzunehmen.“ Kurzes Schweigen. „Dagegen musst du dich wehren!“, unternimmt Robert einen Aufmunterungsversuch. „Müsstest du nicht mittlerweile besonderen Kündigungsschutz genießen? Ich rate dir, dich an den Betriebsrat zu wenden und eventuell auch gegen deinen Arbeitgeber zu klagen. Zumal dein Arbeitgeber auch nicht fehlerfrei ist. Er hat dir doch neulich keine neuen Arbeitsschutzschuhe zur Verfügung gestellt, obwohl er dazu verpflichtet ist.“ *Fallbeispiel fiktiv, Namen frei erfunden

Aus diesem Fall ergibt sich hinsichtlich des Arbeitsrechts u. a. die Frage, ob die fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber gerechtfertigt war. Ein Arbeitsverhältnis kann durch folgende Ereignisse beendet werden: ● ordentliche Kündigung ● Aufhebungsvertrag ● außerordentliche Kündigung ● Tod des Arbeitnehmers Bei einer ordentlichen Kündigung kann jede Vertragspartei innerhalb einer vorgegebenen Frist das Arbeitsverhältnis beenden. Die Kündigungsfrist ergibt sich aus dem Arbeitsvertrag oder, wenn dort nichts weiter beschrieben ist, aus den gesetzlichen Regelungen des § 622 BGB. Dort findet sich eine Begünstigung des Arbeitnehmers: Dieser kann innerhalb von 4 Wochen das Arbeitsverhältnis beenden. Will der Arbeitgeber einem Angestellten kündigen, so muss er seine Betriebszugehörigkeit beachten, da sich hiernach die Kündigungsfrist staffelt (▶ Tab. 25.2). Jeder Arbeitsvertrag kann abweichend von den gesetzlichen Regelungen zur Kündigungsfrist andere Vereinbarungen zwischen beiden Vertragsparteien beschließen. Tut er das nicht, gelten die gesetzlichen Fristen. Eine außerordentliche Kündigung kann nur ausgesprochen werden, wenn ein besonderer Grund vorliegt. Der

Tab. 25.2 Kündigungsfristen.

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Beschäftigungsdauer

Frist zum Ende des Kalendermonats

2 Jahre

1 Monat

5 Jahre

2 Monate

8 Jahre

3 Monate

10 Jahre

4 Monate

12 Jahre

5 Monate

15 Jahre

6 Monate

20 Jahre

7 Monate

§ 626 BGB definiert diesen Grund als einen solchen, dass der kündigenden Vertragspartei ein Weiterführen des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar ist. Die Kündigung muss innerhalb von 2 Wochen nach dem auslösenden Ereignis ausgesprochen werden und ist sofort wirksam (fristlos).

! Merke Kündigung

Eine außerordentliche und damit fristlose Kündigung ist nur möglich, wenn ein Weiterführen des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer nicht mehr zumutbar ist. Bei ordentlichen Kündigungen müssen Fristen eingehalten werden. Bei einem Aufhebungsvertrag einigen sich beide Vertragsparteien auf ein verabredetes Ende des Arbeitsverhältnisses. Bezogen auf den obigen Fall wird deutlich, dass die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt war: Setzt man die zweimalige verspätete Ankunft am Arbeitsort ins Verhältnis zum pünktlichen Erscheinen, war der RS Alexander offensichtlich nahezu immer pünktlich. Vielmehr hätte der Arbeitgeber seinem Angestellten die Chance geben müssen, sein Fehlverhalten zu bessern, um ihm bei einem bestehenden Mangel ordentlich zu kündigen. Ein Weiterführen des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wäre dem Arbeitgeber also zumutbar gewesen. Nichtsdestoweniger hat der Arbeitgeber das Recht, dieses Fehlverhalten zu tadeln: Dies kann z. B. durch eine Abmahnung geschehen. Der Arbeitgeber kann einen Angestellten bis zu 3 × abmahnen und mit der letzten Abmahnung gleichzeitig kündigen – allerdings nur, wenn diese Abmahnungen aus dem gleichen Verschulden des Arbeitnehmers (z. B. verspätetes Erscheinen am Arbeitsplatz) resultieren. Also kann ein Arbeitnehmer nicht mehrere Abmahnungen gleichzeitig erhalten. Außerdem muss der Arbeitsnehmer die Chance haben, sein Verhalten zu bessern. Die Abmahnungen können also nicht an 3 aufeinanderfolgenden Tagen ausgesprochen werden. Nach einer gewissen Zeit, meist nach ca. 2 Jahren, wird die Abmahnung aus der Personalakte gelöscht, wobei zu beachten ist, dass sie auch lediglich mündlich ausgesprochen werden kann. Meist wird zu dieser disziplinarischen Maßnahme gegriffen, wenn der Arbeitnehmer gegen seine Haupt- oder Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis verstoßen hat. Die Hauptpflicht des Arbeitnehmers im Sinne des § 611 BGB ist die Arbeitsleistungspflicht: Der Angestellte muss seine Arbeit zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und im vertraglich vereinbarten Umfang erbringen. Im beschriebenen Beispiel hat der RS Alexander teilweise gegen diese Pflicht verstoßen, da er unpünktlich erschienen ist. Jedoch ist in diesem Falle fraglich, ob dadurch der Betriebsablauf gefährdet war. Zwar musste wahrscheinlich ein anderer Mitarbeitender Überstunden machen, der RTW war jedoch dennoch besetzt und einsatzbereit. Zu den Nebenpflichten des Arbeitnehmers zählen u. a.: ● Treuepflicht: Wahrung der Interessen des Arbeitgebers ● Unterlassungspflichten: Wahrung von Betriebsgeheimnissen, kein direkter Wettbewerb gegen den Arbeitgeber ● Verhaltenspflicht: Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Störungen im Betriebsablauf umgehend mitzuteilen. ● Repräsentationspflicht: Auftreten gegenüber Kunden im Sinne des Arbeitgebers. Hiermit ist die Bekleidung, aber z. B. auch die Körperhygiene gemeint. Solche Haupt- und Nebenpflichten gelten selbstredend auch für den Arbeitgeber! Dessen Hauptpflicht ist die Vergütungspflicht. Sie besagt, dass der Arbeitgeber das vertraglich vereinbarte Arbeitsentgelt pünktlich zu entrichten hat. Eine

Recthliche Grundlagen wichtige Nebenpflicht ist die Fürsorgepflicht. Sie besagt, dass der Arbeitgeber während der Arbeitszeit für seine Angestellten zu sorgen hat, indem er Maßnahmen des Arbeitsschutzes gewährt, Pausen ermöglicht und einen regelmäßigen Erholungsurlaub möglich macht. Gegen diese Fürsorgepflicht hat der Arbeitgeber im o. g. Fallbeispiel verstoßen, da er dem RS Alexander keine neuen Arbeitsschutzschuhe gestellt hat. Es bleibt selbstredend zu klären, ob er bereits über eine vertretbare Zahl von Arbeitsschutzschuhen verfügt. Ferner muss der Arbeitgeber alle Angestellten gleich behandeln (Gleichbehandlungspflicht), was bedeutet, dass er weder einen Mitarbeitenden gegenüber anderen Kollegen benachteiligen darf. Allerdings darf er auch keinen Mitarbeitenden gegenüber seinen Kollegen bevorzugen, z. B. indem der eine mehr freie Tage erhält als die anderen.

Vorsorgevollmacht, Betreuung und Patientenverfügung Fallbeispiel Fall 10 – Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht* An einem Sonntagvormittag werden RTW und NEF in ein Seniorenheim gerufen: Eine 92-jährige Bewohnerin ist nicht mehr erweckbar und atmet nur noch sehr flach. Als Vorerkrankungen finden sich in der Patientenakte eine COPD sowie ein Leberkarzinom im Endstadium. Die diensthabende Pflegefachkraft merkt an, dass die Patientin bereits einen sehr quälenden Leidensweg hinter sich habe. Der Blutdruck liegt nur noch bei 90/55 mmHg und die Sauerstoffsättigung bei 91 %. Die Patientin ist weiterhin nicht erweckbar (GCS 3 Punkte). Der Blutzuckerspiegel liegt im Normalbereich (5,6 mmol bzw. 100,9 mg/dl). Der Notarzt fragt die Pflegefachkraft, ob die Frau eine Patientenverfügung habe. Da es sich um eine eventuelle palliative Versorgungssituation handelt, möchte der Arzt klären, ob die Patientin für eine solche Situation ihren Willen verfügt hat. Die Pflegefachkraft antwortet: „Nein, aber der Enkelsohn hat die Vorsorgevollmacht! Die Nummer steht auf dem Pflegeüberleitungsbogen.“ *Fallbeispiel fiktiv

Es stellt sich nun die Frage, warum der Notarzt explizit nach einer Patientenverfügung gefragt hat und worin der Unterschied zur Vorsorgevollmacht besteht.

Vorsorgevollmacht Die Grundlage einer Vorsorgevollmacht ist absolutes Vertrauen zu der vertretenden Person, sodass meist ein nahe stehendes Familienmitglied ausgewählt wird. Die rechtliche Grundlage bildet der § 164 BGB: Hier wird geklärt, dass eine Person ihren Willen durch einen von ihr bestimmten Vertreter erklären kann. Der Bevollmächtigte regelt vorab explizit festgelegte Belange für den Fall, dass der Vollmachtgeber – wie im obigen Beispiel – nicht mehr geschäftsfähig ist. Es ist möglich, einen Vertrauten in folgenden Bereichen zu befähigen, seinen Willen umzusetzen: ● Gesundheitssorge und Pflegebedürftigkeit (Beantragung von Pflegestufen) ● Vermögenssorge (Bankgeschäfte) ● Wohnungs- und Mietangelegenheiten ● Aufenthalt und Unterbringung (z. B. Vertrag mit Pflegeheim) ● Post- und Fernmeldeverkehr

● ●

Behörden- und Ämtervertretung Beauftragung von Rechtsanwälten und Vertretung vor Gerichten

Es ist auch möglich, eine Generalvollmacht zu erstellen, sodass der Bevollmächtigte sämtliche Interessen vertreten darf. Bezogen auf den oben geschilderten Fall würde es bedeuten, dass der Notarzt die Vorsorgevollmacht einsehen und prüfen müsste, ob der Enkelsohn Belange der Gesundheitssorge vertreten darf. Wenn ja, könnte er telefonisch Rücksprache halten, welche Maßnahmen er bei der Patientin noch durchführen soll und welche nicht. Oftmals geht es in diesen Fällen v. a. um Wiederbelebungs- oder intensivmedizinische Maßnahmen (z. B. Beatmung). Eine Vorsorgevollmacht kann auch über den Tod des Betroffenen hinausgehen, wenn z. B. kein Erbe benannt ist und ein Vermögen weiter verwaltet werden muss. Zu beachten ist, dass eine Vorsorgevollmacht nicht zwingend durch einen Notar beglaubigt werden muss. Jedoch ist dieses Vorgehen sicherlich ratsam, da so die Originalität und Korrektheit des Dokumentes zweifelsfreier ist.

Betreuungsverfügung Über ein Betreuungs- oder Vormundschaftsgericht (vgl. § 1814 BGB) kann gesetzlich eine Betreuung verfügt werden, z. B. wenn es keine oder nur eine unzureichende Vorsorgevollmacht gibt. In einer Betreuungsverfügung kann der Betreute vorab festlegen, in welchen Punkten er vertreten werden will. Darüber hinaus kann er einen Wunsch äußern, wer die Betreuung durchführen soll, und auch festlegen, wer dies definitiv nicht durchführen soll (z. B. nach Familienstreitigkeiten). Hat der Vollmachtgeber keinen Wunsch geäußert, wählt das Gericht jemanden aus. Hierfür bieten Betreuungsvereine ihre Dienstleistungen an, aber auch ehrenamtliche Personen können mit solchen Aufgaben betraut werden. In jedem Fall muss der Bevollmächtigte in regelmäßigen Abständen Rechenschaft vor einem Gericht ablegen, damit kontrolliert wird, ob der Patient gemäß seinem Willen vertreten wird. Im Unterschied zu einer Vorsorgevollmacht besteht hier eine gerichtliche Überwachung und die Betreuung tritt erst in Kraft, wenn es richterlich befundet tatsächlich notwendig ist. Mitunter übernimmt die Vertretung jemand, der dem Betreuten fremd ist, sodass eventuell keine Vertrauensgrundlage gegeben ist.

Patientenverfügung In einer Patientenverfügung legen Sie schriftlich fest, ob und wie Sie in sehr schweren bzw. aussichtslosen Krankheitssituationen medizinisch behandelt und gepflegt werden möchten, wenn Sie sich selbst dazu nicht mehr äußern können. Die Herausforderung liegt darin, die Patientenverfügung so detailliert wie nur möglich zu schreiben. Beispielsweise ist der Wunsch „keine lebensverlängernden Maßnahmen“ erhalten zu wollen, sehr unkonkret: Der behandelnde Arzt kann aus dieser Formulierung nicht herauslesen, was der Betroffene damit gemeint hat und was nicht. So kann es besser sein, konkret aufzulisten, welche medizinischen Maßnahmen man in welchen Krankheitszuständen wünscht und welche nicht (z. B., dass keine Beatmungen oder generell Reanimationsmaßnahmen durchgeführt werden sollen). Um darüber hinaus eine möglichst hohe Bindungswirksamkeit zu erreichen, sollte die Patientenverfügung stets aktuell, d. h. möglichst einmal jährlich, unterschrieben sein. Nur so kann der behandelnde Arzt sicher sein, dass die Verfügung den nahezu aktuellen Wunsch des Patienten widerspiegelt. Für eine Patientenverfügung muss der Verfasser nicht zwingend ge559

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Recht und Qualitätsmanagement schäftsfähig, jedoch in der Lage sein, seinen Willen zu bekunden. Auch hier wird eine bevollmächtigte Person als Ansprechpartner eingetragen, um in einem Zweifelsfall die Interessen des Patienten durchzusetzen. Im Vergleich zu den bisher genannten Dokumenten regelt eine Patientenverfügung daher ausschließlich medizinische Belange für den Fall, dass ein Patient nicht mehr in der Lage ist, selbst über eine Behandlung zu entscheiden. Diese Entscheidung kann sehr genau ausformuliert sein und von einer Vertrauensperson durchgesetzt werden.

Gültigkeit der Dokumente

Arzneimittel- und Betäubungsmittelgesetz Für die rechtlichen Regelungen für den Umgang mit Arzneimitteln und Betäubungsmitteln siehe das Kapitel Pharmakologie (S. 107).

RETTEN TO GO Recht im Rettungsdienstalltag (Beispiele) – Teil 2 ●

Alle Dokumente sind nur gültig, wenn sie im Original unterschrieben vorliegen. Daher sollten sie immer an einem bekannten Ort liegen, sodass der Notarzt oder die Notärztin sie ggf. schnell einsehen kann. Formulierte Wünsche bezüglich der Behandlung im Krankheitsfall sind auch für nichtärztliche Rettungsdienstmitarbeitende bindend.

! Merke Vorgehen im Zweifelsfall

In Zweifelsfällen (z. B. Patientenverfügung vorhanden, aber nicht auffindbar) müssen Sie sofort mit allen notwendigen lebensrettenden Maßnahmen beginnen.



Testament Ein Testament ist eine formgebundene Willenserklärung einer Person, wie nach ihrem Ableben mit ihrem Vermögen (sachlich und monetär) umgegangen werden soll. Der Erblasser benennt also die Erben und die Verteilung der Sachgüter. In den meisten Fällen wird ein Testament vorab bei einem Notar hinterlegt. Jedoch existiert auch die Möglichkeit eines Nottestamentes. Es gibt folgende Möglichkeiten, ein Testament aufzunehmen, wenn ein Notar nicht rechtzeitig erreicht werden kann. Dies ist der Fall, wenn der Patient abgesperrt (z. B. verschüttet, eingeklemmt) ist oder sich in naher Todesgefahr befindet (vgl. § 2250 BGB): ● Bürgermeistertestament ● Testament auf See ● Drei-Zeugen-Testament Letzteres ist im Rettungsdienst am relevantesten, wenn ein sterbender oder schwerverletzter Patient um die Aufnahmen seines Testaments bittet. Dabei ist folgendermaßen vorzugehen: 1. Der Erblasser muss seinen Willen mündlich vor 3 Zeugen bekunden. 2. Die Niederschrift muss zu Lebzeiten des Erblassers erfolgen und ihm vorgelesen werden, sodass die Richtigkeit bestätigt wird. Dies kann auf Deutsch, aber auch in jeder anderen Sprache erfolgen. 3. Anschließend muss der Erblasser (sofern den Umständen entsprechend möglich) unterschreiben und die 3 Zeugen müssen gegenzeichnen. Als Zeugen scheiden aus: ● Erblasser ● Ehegatte/Lebenspartner (reiner Sexualpartner fällt nicht darunter) ● in gerade Linie Verwandte (Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel) und deren Vertreter ● Ebenso sollen Minderjährige, taube, stumme, blinde und des Schreibens unkundige Personen nicht als Zeugen fungieren. Ein Nottestament ist immer nur 3 Monate gültig. 560





Aufklärung und Einwilligung: Patienten müssen vor jeder medizinischen Maßnahme über diese umfänglich aufgeklärt werden. Die Maßnahme darf nur durchgeführt werden, wenn der Patient oder sein gesetzlicher Vertreter ausdrücklich eingewilligt hat. Ist der Patient z. B. aufgrund einer Bewusstlosigkeit hierzu nicht in der Lage, muss nach dem mutmaßlichen Wunsch des Patienten vorgegangen werden. Insbesondere bei lebensrettenden Sofortmaßnahmen ist von einer mutmaßlichen Einwilligung auszugehen. Arbeitsrecht: Ein Arbeitsverhältnis kann durch folgende Ereignisse beendet werden: – ordentliche Kündigung: Hier müssen Kündigungsfristen beachtet werden. – Aufhebungsvertrag: Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen sich auf ein Ende des Arbeitsverhältnisses. – außerordentliche Kündigung: Eine fristlose Kündigung ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich, wenn die Fortführung des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitgeber oder Arbeitnehmer nicht zumutbar ist. – Tod des Arbeitnehmers Fehlverhalten des Arbeitnehmers kann durch Abmahnungen getadelt werden, ggf. auch mehrmals. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben Haupt- und Nebenpflichten zu erfüllen. Die Hauptpflicht des Arbeitnehmers ist die Arbeitsleistungspflicht (Erbringen der Arbeit zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und im vertraglich vereinbarten Umfang), die Hauptpflicht des Arbeitgebers ist die Vergütungspflicht (pünktliche Entrichtung des vertraglich vereinbarten Arbeitsentgeltes). Zu den Nebenpflichten zählen u. a. die Treue- und die Verhaltenspflicht des Arbeitnehmers bzw. die Fürsorge- und die Gleichbehandlungspflicht des Arbeitsgebers. Vorsorgevollmacht: Eine Person kann ihren Willen durch einen von ihr bestimmten Vertreter erklären lassen. Der Bevollmächtigte regelt vorab explizit festgelegte Belange für den Fall, dass der Vollmachtgeber nicht mehr geschäftsfähig ist. Der Vertraute kann zu bestimmten Bereichen oder generell (Generalvollmacht) befähigt werden, seinen Willen umzusetzen. Ist der Betroffene selbst nicht mehr geschäftsfähig und ein Vertreter bevollmächtigt, über Belage der Gesundheitssorge zu entscheiden, sollte hier – sofern möglich – Rücksprache über die Durchführung z. B. von Wiederbelebungs- oder Intensivmedizinische Maßnahmen (z. B. Beatmung) gehalten werden. Betreuungsverfügung: Eine gesetzliche Betreuung kann über ein Betreuungs- oder Vormundschaftsgericht festgelegt werden. Der Betreute kann festlegen, in welchen Belangen er vertreten werden will und Wünsche äußern, wer ihn betreuen soll (und wer nicht). Der Bevollmächtigte muss in regelmäßigen Abständen Rechenschaft vor einem Gericht ablegen, um zu kontrollieren, ob der Patient gemäß seinem Willen vertreten wird.

Recthliche Grundlagen





Patientenverfügung: In einer Patientenverfügung ist schriftlich und möglichst detailliert festgelegt, ob und wie jemand in sehr schweren bzw. aussichtslosen Krankheitssituationen medizinisch behandelt und gepflegt werden möchte, wenn er sich selbst dazu nicht mehr äußern kann. Die Verfügung sollte möglichst einmal jährlich aktualisiert und neu unterschrieben werden. Auch hier wird eine bevollmächtigte Person als Ansprechpartner benannt, um in einem Zweifelsfall die Interessen des Patienten durchzusetzen. – Gültigkeit: Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patientenverfügung sind nur gültig, wenn sie im Original unterschrieben vorliegen. Sie haben auch für nichtärztliche Mitarbeitende bindende Wirkung. Im Zweifelsfall werden lebensrettende Maßnahmen immer durchgeführt. Testament: In einem Testament benennt ein Erblasser die Erben und die Verteilung seiner Sachgüter. Für den Rettungsdienst relevant ist das Drei-Zeugen-Testament, das sterbende oder schwer verletzte Patienten rechtlich gültig verfassen können. Dazu müssen 3 Zeugen, die nicht Teil der engen Familie des Erblassers sind, zugegen sein. Der Erblasser verkündet den Inhalt des Testaments, es wird schriftlich festgehalten und vom Erblasser sowie den Zeugen unterschrieben.

25.2.3 Straßenverkehrsrecht Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes, der Feuerwehr und der Polizei haben bekanntlich besondere Rechte im Straßenverkehr. Zunächst werden Sonderrechte und Wegerechte unterschieden: Mit Sonderrechten ist gemeint, dass übliche Verbote (z. B. Parken in zweiter Reihe) aufgehoben sind. Hierbei sind allerdings nachfolgende Paragrafen der Straßenverkehrsordnung zu beachten: ● § 35 Abs. 5a: „Fahrzeuge des Rettungsdienstes sind von den Vorschriften dieser Verordnung befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden.“ Aber StVO § 35 Abs. 8: „Die Sonderrechte dürfen nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden.“



Diese Regelungen bedeuten, dass Rettungsmittel z. B. eine rote Ampel überfahren dürfen und an jeder nicht beampelten Kreuzung Vorfahrt haben. Jedoch müssen sich die Mitarbeitenden vorsichtig an eine Kreuzung herantasten und dürfen die Kreuzung erst passieren bzw. andere Autos überholen, nachdem sie sich vergewissert haben, dass alle übrigen Verkehrsteilnehmer ihnen Vorfahrt gewähren.

ACHTUNG Wenn Sie Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen, muss stets gewährleistet sein, dass dadurch keine Verkehrsteilnehmer (Auto, Krad, Fahrrad oder Fußgänger) gefährdet sind!

fen, also nur während des Einsatzes bei Gefahr für Leib und Leben! Weitere Beispiele für Sonderrechte i. V. m. § 35 Abs 5a): ● Befahren von Fuß- und Radwegen ● Fahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung (Einbahnstraße) ● Überholen trotz Überholverbot ● Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit Hier müssen die oben bereits erwähnten Wegerechte des § 38 der StVO betrachtet werden: „(1) Blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn darf nur verwendet werden, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwenden, flüchtige Personen zu verfolgen oder bedeutende Sachwerte zu erhalten. Es ordnet an: Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen.“ Die übrigen Verkehrsteilnehmer müssen also gemäß Abs. 1 durch blaues Blinklicht gemeinsam mit einem Einsatzhorn gewarnt werden, damit ihnen signalisiert wird, dass sie einem Rettungsmittel Vorfahrt gewähren müssen. „(2) Blaues Blinklicht allein darf nur von den damit ausgerüsteten Fahrzeugen und nur zur Warnung an Unfalloder sonstigen Einsatzstellen, bei Einsatzfahrten oder bei der Begleitung von Fahrzeugen oder von geschlossenen Verbänden verwendet werden.“ Abs. 2 besagt, dass blaues Blinklicht allein lediglich der Warnung und Sicherung an Einsatzstellen dient. Blaues Blinklicht allein fordert nicht zwingend andere Verkehrsteilnehmer auf, freie Bahn zu schaffen. Geschlossene Verbände sind z. B. bei Einsatzfahrten der Bundeswehr oder der Polizei zu finden, die sich mit mehreren hintereinanderfahrenden Fahrzeugen zu einem geschlossenen Verband verbinden.

RETTEN TO GO Straßenverkehrsrecht Einsatzfahrzeuge des Rettungsdienstes, der Feuerwehr und der Polizei haben Sonder- und Wegerechte: ● Ein Sonderrecht ist z. B., dass Rettungsmittel im Einsatz (bei Gefahr für Leib und Leben eines Patienten) in zweiter Reihe parken dürfen, allerdings nur für die Dauer des Einsatzes. Außerdem muss die öffentliche Sicherheit und Ordnung in jedem Fall berücksichtigt werden! Das heißt: Wenn Sie Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen, muss stets gewährleistet sein, dass andere Verkehrsteilnehmer (Auto, Fahrrad, Fußgänger …) dadurch nicht gefährdet sind! ● Wegerechte: Rettungsmittel im Einsatz haben z. B. Vorfahrt an jeder nicht beampelten Kreuzung und dürfen rote Ampeln überfahren. Möchte ein Rettungsmittel dieses Recht beanspruchen, muss es dies den anderen Verkehrsteilnehmern signalisieren, und zwar durch blaues Blinklicht und das Einsatzhorn. Blaues Blinklicht allein dient laut Straßenverkehrsordnung (StVo) lediglich der Warnung und Sicherung an Einsatzstellen.

Auf das Parken in zweiter Reihe bezogen bedeutet dies, dass Rettungsdienste dieses Sonderrecht nur in Zusammenhang mit ihren hoheitlichen Aufgaben in Anspruch nehmen dür-

561

25

Recht und Qualitätsmanagement

25.2.4 Medizinproduktegesetz und Medizinproduktebetreiberverordnung

Abb. 25.4 MTK-Plakette.

Am 2. August 1994 hat der Deutsche Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates das Gesetz über Medizinprodukte (MPG) beschlossen und damit die EG-Richtlinien 90/385 und 93/42 in nationales Recht umgesetzt. Das MPG und die Medizinproduktebetreiberverordnung (MPBetreibV) stellen den rechtlichen Rahmen für den Umgang mit Medizinprodukten dar. Sinn und Zweck des Gesetzes ist es, den Verkehr von Medizinprodukten und deren Zubehör zum Schutz der Gesundheit der Patienten, Anwender und Dritter zu regeln.

Medizinprodukte Definition Medizinprodukte Medizinprodukte sind Apparate, Vorrichtungen, Instrumente und Stoffe, die ● Krankheiten erkennen, verhüten, überwachen, behandeln oder lindern, ● Verletzungen oder Behinderungen erkennen, verhüten, überwachen, kompensieren oder lindern, ● anatomische Strukturen und physikalische Vorgänge untersuchen, ersetzen oder verändern, ● die Empfängnis regeln. Medizinprodukte sind keine pharmakologischen oder immunologischen Stoffe (vgl. § 3 Nr.1 MPG). Arten von Medizinprodukten: ● aktive Medizinprodukte: Medizinprodukte mit eigener Energiequelle, z. B. Defibrillator, Pupillenleuchte; Für diese Produkte muss ein Medizinproduktebuch geführt werden, in dem ggf. Fehlfunktionen sowie die regelmäßigen sicherheitstechnischen Kontrollen und die Einweisung des Personals in die Bedienung der Produkte festgehalten werden. ● nicht aktive Medizinprodukte: Medizinprodukte ohne eigene Energiequelle, z. B. Skalpell, Rollator ● Medizinprodukte mit Messfunktion können sowohl aktive als auch nicht aktive Medizinprodukte sein, z. B. Fieberthermometer, oszillometrisches RR-Messgerät.

Inverkehrbringen von Medizinprodukten Medizinprodukte dürfen nur zweckbestimmt nach sorgfältiger Prüfung eingesetzt werden. Sollte bei einer Funktionsprüfung festgestellt werden, dass Patienten, Anwender oder Dritte gefährdet werden, muss das Gerät aus dem Verkehr gezogen werden. Eine entsprechende Instandsetzung darf nur von einem dafür ausgebildeten Techniker des Herstellers durchgeführt werden. Bei den Funktionsprüfungen werden sicherheits- (STK) und messtechnische Kontrollen (MTK) unterschieden, die beide in regelmäßigen Intervallen von Technikern des Herstellers durchgeführt werden. Die STK dient dazu, Gerätemängel festzustellen, die Risiken für die Gesundheit von Anwendern darstellen können. Die MTK hingegen soll klären, wie genau das Gerät seine Messaufgaben durchführt bzw. ob es Messfehler gibt. Die Kontrollen werden mit einer Prüfplakette auf dem Gerät markiert (▶ Abb. 25.4), die anzeigt, wann die nächste Überprüfung ansteht.

562

Prüfplaketten für messtechnische Kontrollen (MTK).

Anwender Definition Anwender Anwender sind die Personen, die das Medizinprodukt in Betrieb nehmen und anwenden (nicht zum Eigenbedarf!). Pflichten des Anwenders: ● Anwendung des Produkts nur nach Zweckbestimmung und vorheriger Einweisung in das Produkt ● Prüfung der Funktionsfähigkeit vor jeder Anwendung ● Kontrolle, ob die sicherheitstechnische und die messtechnische Kontrolle (STK und MTK) stattgefunden haben und aktuell sind. Eventuell festgestellte Widrigkeiten hierbei führen dazu, dass das Gerät sofort außer Betrieb genommen und der MPG-Beauftragte bzw. der Wachleiter informiert werden muss. ● Prüfung, ob das Medizinproduktebuch und die Bedienungsanweisung vorhanden und zugänglich sind ● Prüfung, ob notwendiges Zubehör (z. B. Gurte einer Trage, EKG-Kabel am Defibrillator) vorhanden, zugelassen und funktionstüchtig ist.

Betreiber Definition Betreiber Betreiber sind die Personen, die im Besitz des Medizinproduktes sind und die tatsächliche Sachherrschaft innehaben. Der Betreiber ist nicht zwingend dem Eigentümer gleichzusetzen. Der Betreiber eines Medizinprodukts ist z. B. der Leiter des Rettungsdienstbereiches. Der Eigentümer ist der Landkreis, die kreisfreie Stadt oder die Hilfsorganisation, die mit der Durchführung des Rettungsdienstes (S. 28) beauftragt ist. Pflichten des Betreibers: ● Prüfung, ob eine Funktionskontrolle und Ersteinweisung durch den Hersteller stattgefunden hat und ob dies im Produktebuch dokumentiert ist; d. h., der Betreiber oder eine von ihm beauftragte Person (MPG-Beauftragter) muss vor Inbetriebnahme des jeweiligen Medizinprodukts vom Hersteller in das Produkt eingewiesen werden. ● Prüfung der fachlichen Kompetenz des Personals, die für die Anwendung notwendig ist (in der Regel durch den Nachweis des entsprechenden Berufsabschlusses) ● Einweisung des Personals durch den Hersteller bzw. durch eine beauftragte Person, die durch den Hersteller eingewiesen wurde (MPG-Beauftragter)

Qualitätsmanagement

RETTEN TO GO Medizinprodukte Dies sind u. a. Apparate, Instrumente und Stoffe, die Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen erkennen, verhüten, überwachen, behandeln oder lindern. Medizinprodukte sind aktiv oder nicht aktiv (eigene Energiequelle, wie ein Defibrillator, oder keine, wie ein Skalpell) und/oder haben eine Messfunktion (z. B. Fieberthermometer). Pharmakologische oder immunologische Stoffe sind keine Medizinprodukte. Den Umgang mit Medizinprodukten regeln das Medizinproduktegesetz (MPG) und die Medizinproduktebetreiberverordnung (MPBetreibV). Geregelt sind u. a. die sachgerechte Wartung und der sachgerechte Einsatz von Medizinprodukten durch entsprechend qualifiziertes Personal. Medizinprodukte dürfen nur zweckbestimmt nach sorgfältiger Prüfung eingesetzt werden. Dafür werden regelmäßig sicherheits- und messtechnische Kontrollen (STK und MTK) durchgeführt. Die Gesetze gelten für Anwender wie für Betreiber von Medizinprodukten. Anwender sind diejenigen, die ein MP tatsächlich in Betrieb nehmen und benutzen (also z. B. ein RS, der einen Defibrillator einsetzt). Betreiber sind diejenigen, die das jeweilige MP verwalten. Der Betreiber muss nicht der Eigentümer sein. Eigentümer könnte z. B. das DRK sein, Betreiber aber der Leiter eines Rettungsdienstbereiches.

25.3 Qualitätsmanagement 25.3.1 Bewertungskriterien Wie viele andere Unternehmen aus verschiedenen Sektoren ist auch der Rettungsdienstbetrieb daran interessiert, die Qualität seiner Arbeit zu prüfen, zu erhalten und ggf. zu verbessern. Da es sich jedoch um Arbeit von Menschen an Menschen handelt, ist es schwierig, die Qualität zu überprüfen. Schließlich gibt es kein maschinelles, mit Zahlen arbeitendes Messinstrument für die nachfolgend aufgelisteten Aufgaben des Rettungsdienstes: ● Notfallrettung ● Krankentransport ● Intensivtransport ● Luftrettung ● Blut- und Organtransport ● Wasserrettung Die Qualität der rettungsdienstlichen Arbeiten wird nach folgenden Kriterien beurteilt: ● fachlich kompetent und bedarfsgerecht ● zeitnah: Einhalten der Hilfsfristen (S. 32)! ● zweckmäßig ● wirtschaftlich ● dauerhaft ● flächendeckend In jedem Rettungsdienstbereich sorgen Mitglieder des Qualitätsmanagements dafür, dass diese Kriterien ausführlich

25.3.2 Qualitätsstandards und Qualitätskontrolle Qualitätsmanagement ist nur möglich, wenn man sich auf bestimmte Standards einigt, die für alle im Rettungsdienst Tätigen verbindlich sind. Dazu gehören u. a. standardisierte Arbeitsabläufe (z. B. regelmäßige Überprüfung der Arbeitsmaterialien auf Vollständigkeit und Funktion) oder eine standardisierte Ausstattung von Rettungswagen (z. B. KTWs verfügen überall in Deutschland über eine standardisierte Ausstattung). Nur wenn es solche allgemeingültigen oder lokale Qualitätsstandards gibt, ist es möglich, in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren, ob sie von allen eingehalten werden (Qualitätskontrolle), und evtl. Mängel bei der Versorgung von Patienten im Rettungsdienst nach und nach zu beseitigen oder überhaupt erst aufzudecken. Der Rettungsdienst orientiert sich bei den Qualitätsstandards an der europäischen Normenreihe DIN-EN-ISO-9 000 (derzeit gilt die Norm ISO 9 001 aus dem Jahr 2015). Qualitätsmanagement gliedert sich in folgende Subtypen (▶ Abb. 25.5): ● Strukturqualität: – Qualifikation, Kompetenz, Anzahl des zur Verfügung stehenden Personals – technisch einheitliche Voraussetzungen der Rettungsmittel des jeweiligen Rettungsdienstbereiches – bestimmte bauliche Voraussetzungen der Rettungswachen des jeweiligen Rettungsdienstbereiches – Standorte der Rettungswachen, z. B. um Hilfsfristen (S. 32) gerecht zu werden ● Prozessqualität: – Versorgungs- und Behandlungsstandards (z. B. Algorithmen zur Reanimation) – Abläufe der Dienstplanung (z. B. wann der Dienstplan den Mitarbeitenden vorliegen muss) – Abläufe der Leistungserfassung (z. B. jährliche Abnahme der Reanimationskenntnisse durch den ärztlichen Leiter „Rettungsdienst“) – Führungsabläufe (Wer ist Ansprechpartner für welches Problem während der Arbeit i. S. eines Organigramms?) – Qualifizierungsverfahren – Abläufe zur Behebung von Störungen – Beschwerdemanagement – Fehlermanagement

Abb. 25.5 Die drei Säulen des Qualitätsmanagements.

Qualitätsmanagement

Ergebnisqualität



formuliert, den Mitarbeitenden kommuniziert und entsprechend überprüft werden.

Prozessqualität



Einhalten der Fristen für sicherheitstechnische und messtechnische Kontrollen (STK und MTK) Einhalten der Zweckbestimmung des Medizinproduktes Führen eines Medizinproduktebuchs, falls es sich um ein aktives Medizinprodukt (s. o.) handelt. Der Hersteller übergibt dem Betreiber das Medizinproduktebuch.

Strukturqualität



Ein gutes Qualitätsmanagement basiert auf Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität. 563

25

Recht und Qualitätsmanagement



Ergebnisqualität: – Ergebnis der Patientenversorgung, z. B. durch Auswertung von Reanimations- oder Traumaregistern – subjektive Eindrücke der Patienten/Angehörigen

25.3.3 Der PDCA-Zyklus Die Grundlage des Qualitätsmanagements und des Problemlösungsprozesses ist der PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act), der auf den Mathematiker William Edwards Deming (1900– 1993) zurückgeht (▶ Abb. 25.6): ● Plan: Führe eine Ist-Analyse der Situation durch und suche nach Ursachen für Probleme im Arbeitsablauf und nach Informationen für eine Optimierung der Situation. ● Do: Präsentiere den Plan allen relevanten Parteien und setze die im QM-Handbuch beschriebene Maßnahme um. ● Check: Evaluiere die Maßnahme, erhebe Ergebnisse und prüfe, ob die Maßnahme zum Erfolg geführt hat. ● Act: Reflektiere die Maßnahme. Bei Erfolg standardisiere sie, bei ausbleibendem Erfolg fange wieder bei „Plan“ an. Abb. 25.6 PDCA-Zyklus.

Verbesserung

Planung

Act • Optimieren und/ oder Weiterführen der Maßnahmen

Plan • Ist-Zustand beurteilen • Ziele und Maßnahmen festlegen

Check • Prüfen des Erfolgs der Maßnahmen

Do • Maßnahmen einleiten und umsetzen

Überprüfung

Umsetzung

Der PDCA-Zyklus ist ein Instrument des Qualitätsmanagements. Er lässt sich beliebig oft wiederholen und führt so zur Qualitätssteigerung.

564

Durch interne oder externe Audits (Untersuchungsverfahren zum Soll-Ist-Abgleich) werden die Maßnahmen auf Erfolg oder Misserfolg geprüft. Diese Audits werden durch Prüfer aus dem Unternehmen (intern) oder von anderweitigen Qualitätsfachgesellschaften (extern) durchgeführt. Sämtliche qualitätsverbessernden bzw. -erhaltenden Maßnahmen sind in den jeweiligen QM-Handbüchern festgehalten.

RETTEN TO GO Qualitätsmanagement Qualitätsmanagement setzt Qualitätsstandards voraus, z. B. standardisierte Arbeitsabläufe (z. B. regelmäßige Überprüfung der Arbeitsmaterialien auf Vollständigkeit und Funktion) oder eine standardisierte Ausstattung von Rettungswagen (ein KTW z. B. verfügt überall in Deutschland über eine ganz bestimmte Ausstattung). Der Rettungsdienst orientiert sich bei den Qualitätsstandards an der europäischen Normenreihe DIN-EN-ISO-9 000. Regelmäßige Qualitätskontrollen stellen sicher, dass die Qualitätsstandards von allen eingehalten bzw. evtl. Mängel bei der Versorgung von Patienten im Rettungsdienst behoben werden. Die Grundlage des Qualitätsmanagements und des Problemlösungsprozesses ist der PDCA-Zyklus (= Plan-DoCheck-Act), der beliebig oft wiederholt werden kann. Er beginnt mit einer genauen Analyse des Ist-Zustands und endet damit, eine Maßnahme, die sich als erfolgreich erwiesen hat, zu standardisieren oder sie zu verwerfen und erneut bei „Plan“ anzufangen.

26

Dokumentation im Rettungsdienst

26.1 Stellenwert Die Dokumentation im Rettungsdienst ist ein wichtiger Baustein der Qualitätssicherung. Insbesondere die digitale Dokumentation vereinfacht und professionalisiert die Zugänglichkeit und Auswertung aller Daten zum Vorteil des Personals und der Administration. Als Übergabedokumentation in der weiterbehandelnden Einrichtung ermöglicht sie die Ausrichtung der anschließenden Therapie. Zudem liefert sie die Daten für die Auswertung bestehender und die Planung neuer Standorte und Rettungsmittel. Nicht zuletzt ermöglicht sie als Grundlage für die Einsatzabrechnung auch eine sichere und regelmäßige Bezahlung aller Mitarbeitenden.

26.2 Rechtliche Grundlagen Sozialgesetzbuch • Rettungsdienstliche Leistungen werden derzeit (Stand 2023) nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) als reine Transportleistung beschrieben. Im Selbstverständnis der am Rettungsdienst beteiligten Personen werden sie jedoch aufgrund der steigenden Komplexität und der weitergehenden Ausbildung des Rettungsdienstpersonals immer mehr als medizinische Leistung bewertet. Die lückenlose und auswertbare Dokumentation ist dabei ebenso wichtig wie die Patientenversorgung. Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte • Die Dokumentationspflicht des ärztlichen Personals wird in der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte näher beschrieben. 566

Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) • Die Grundlage für die Dokumentationspflicht aller Behandelnden, folglich auch des nichtärztlichen Personals, bildet das Bürgerliche Gesetzbuch. Hier werden im Patientenrechtegesetz unter § 630f „Dokumentation der Behandlung“ der rechtliche Rahmen definiert und die notwendigen Maßnahmen beschrieben. § 630f Absatz 1 lautet: „Der Behandelnde ist verpflichtet, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen. Berichtigungen und Änderungen von Eintragungen in der Patientenakte sind nur zulässig, wenn neben dem ursprünglichen Inhalt erkennbar bleibt, wann sie vorgenommen worden sind. Dies ist auch für elektronisch geführte Patientenakten sicherzustellen.“ Darüber hinaus führt das Patientenrechtegesetz unter § 630h die „Beweislast bei Haftung für Behandlungs- und Aufklärungsfehler“ auf. Hier wird deutlich, dass eine nicht dokumentierte Maßnahme als nicht durchgeführt gilt bzw. die Beweislast beim Behandelnden liegt: Bei einem möglichen Rechtsstreit muss der Behandelnde nachweisen, dass eine Maßnahme durchgeführt wurde, auch wenn diese nicht dokumentiert ist. Gelingt ihm dies nicht, kann er das Verfahren ggf. allein aufgrund der unvollständigen Dokumentation verlieren, ohne einen Behandlungsfehler begangen zu haben. Rettungsdienstgesetze • In den einzelnen Rettungsdienstgesetzen der Länder wird das Thema Dokumentation ebenfalls benannt. Hier gibt es in den Anforderungen jedoch mitunter starke Unterschiede.

Stellenwert

▶S. 566

Rechtliche Grundlagen

▶S. 566

Was wird dokumentiert?

Die „6 Gebote der Dokumentation“

Datenschutzgesetze • Darüber hinaus gelten die rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich aus dem Bundesdatenschutzgesetz, den Datenschutzgesetzen der Länder und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der EU ergeben.

! Merke Örtliche Besonderheiten

Aufgrund länder- und bereichsspezifischer Unterschiede sollte Sie sich als Mitarbeitender im Rettungsdienst mit dem für Sie relevanten Landesrettungsdienstgesetz sowie regionalen Vorgaben auseinandersetzen, um die örtlichen Besonderheiten zu kennen.

26.3 Was wird dokumentiert?

▶S. 567

▶S. 569

lich und auch digital einsetzbar ist. In ▶ Tab. 26.1 werden die im Protokoll genannten Punkte näher erläutert. Elektronische Datenerfassung • Die elektronische Datenerfassung z. B. mit einem Tablet ist mittlerweile weit verbreitet. Vom digitalen Stift (ePen) über hybride Lösungsansätze (ePen und Tablet) bis zur reinen Tablet-Erfassung gibt es ein breites Spektrum und die Entwicklung wird weiter voranschreiten (▶ Abb. 26.2). Auch ohne Papier können Daten rechtssicher erhoben werden. Dabei spielen neben dem BGB, den Rettungsdienst- und Datenschutzgesetzen auch verschiedene Normen zum Thema Archivierung sowie IT- und Datensicherheit eine entscheidende Rolle.

Welche Daten im Rettungsdienst erfasst werden sollen, wird ebenfalls im § 630f Absatz 2 BGB und den Rettungsdienstgesetzen der Länder näher beschrieben. Der „Minimale Notfalldatensatz“ (MIND) der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bildet die Grundlage der zu erhebenden Daten ab. Aktuell ist die Version MIND 3.1. Um den aktuellen Anforderungen, auch im Hinblick auf das Notfallsanitätergesetz (NotSanG) zu entsprechen, wird der Minimale Notfalldatensatz regelmäßig angepasst. Die ▶ Abb. 26.1 zeigt ein Protokoll der Thieme DokuFORM GmbH auf MIND 3.1-Basis, das seit 2016 erhält-

567

26

Dokumentation im Rettungsdienst Abb. 26.1 (ePen-)Einsatzprotokoll der Thieme DokuFORM GmbH.

Einsatzprotokoll der Thieme DokuFORM GmbH. Quelle: Thieme DokuFORM GmbH

568

Die „6 Gebote der Dokumentation“

Tab. 26.1 Im Einsatzprotokoll relevante Punkte. Punkt im Protokoll

Rubrik

Details

Patienten-/Stammdaten

Name, Adresse, Krankenkasse/Kostenträger

Punkt 1

rettungstechnische Daten

Rettungsmittel, Einsatzort, Zeiten

Punkt 2

Notfallgeschehen, Anamnese, Erstbefund

Beschwerdebeginn, Unfallzeitpunkt, (c)ABCDE-Schema, SAMPLER-Schema

Punkt 3

Befunde

Neurologie (GCS), Messwerte (RR, HF, Temperatur, BZ, AF, SpO2, O2, etCO2), EKG, Atmung, psychischer Zustand, Haut, OPQRST-Schema, BE-FAST

Punkt 4

Diagnose

● ●

Erkrankungen (ZNS, Herz/Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Abdomen, Psychiatrie, Gyn./Geb.-Hilfe, Infektionen, Sonstiges) Verletzungen

Punkt 5

Verlaufsbeschreibung

inkl. Medikamentengabe

Punkt 6

Maßnahmen

Airway/Atmung/Beatmung, Herz/Kreislauf, spezielle Maßnahmen, Monitoring, Medizintechnik, Lagerungs-/Rettungstechnik

Punkt 7

Reanimation/Tod

vermutete Ursache, Informationen zur Durchführung

Punkt 8

Ergebnis

RD-Versorgung, NACA-Score, Zielklinik, Einsatzbesonderheiten, Einsatzart

Punkt 9

Übergabe, Transportziel

Messwerte (GCS, RR, HF, Temperatur, BZ, AF, SpO2, etCO2), EKG, Atmung, psychischer Zustand, Verlauf, Hausarzt, EVM/SOP

Abb. 26.2 Digitale Datenerfassung mit Tablet.

26.4 Die „6 Gebote der Dokumentation“

! Merke Dokumentation

Mit einer lückenlosen und vollständigen Dokumentation helfen Sie dem Patienten, die optimale Versorgung zu erhalten, aber auch der weiterbehandelnden Einrichtung, ein Gesamtbild der Situation zu erhalten, und zudem sich persönlich: Sie sichern sich Ihr Gehalt und können bei Rückfragen (z. B. vor Gericht) adäquat antworten. ●

Digitale Datenerfassung mit Tablet. Thieme DokuFORM GmbH ●









Einsatzsituation! Neben den Patienten- und einsatztaktischen Daten gehört die vorgefundene Situation in die Beschreibung eines Datensatzes. Nur wer vor Ort war, kann wiedergeben, was vorgefunden wurde. Nutzen Sie ggf. auch eine im Tablet vorhandene Kamera. Patientendaten! Nehmen Sie alle Daten auf, die Ihnen Ihr Patient mitteilt. Nutzen Sie ggf. ein Kartenlesegerät für die digitale Dokumentation. Auf Notfallprotokollen können alle notwendigen Daten eingetragen werden. Maßnahmen dokumentieren! Jeder Behandelnde ist zur Dokumentation verpflichtet. Alle getroffenen Maßnahmen müssen aufgeführt werden. Stellen Sie sicher, dass diese durch die vorgefundene Situation begründet sind. Digitale Dokumentation! Digitale Datenerfassungssysteme unterstützen die Dokumentation und helfen, alle wesentlichen Punkte im Auge zu behalten. Achten Sie auf zusätzliche Informationen, die in Papierform bisher nicht abgefragt wurden. Sorgfältig dokumentieren! Das Protokoll muss gewissenhaft ausgefüllt werden. Erhobene Daten werden oft ausgewertet, um eine Qualitätssteigerung im Rettungsdienst zu ermöglichen und auch Ihre Arbeit zu vereinfachen. Vollständig dokumentieren! Ihre Protokolle werden für mindestens 10 Jahre archiviert. Der Datensatz muss vollständig ausgefüllt werden, damit der Einzelfall auch zu einem späteren Zeitpunkt im Detail nachvollziehbar ist.

569

VI

Interessantes zum Schluss 27 Orientierungshilfen, Begriffe, Abkürzungen, Größen und Einheiten . . . . . . . . . . . 572

27

Orientierungshilfen, Begriffe, Abkürzungen, Größen und Einheiten

Abb. 27.1 Achsen und Ebenen des Körpers.

27.1 Orientierungshilfen am menschlichen Körper

Frontalebene

Zur Orientierung am menschlichen Körper sollten Sie die Körperachsen und -ebenen kennen (▶ Abb. 27.1). 3 Hauptachsen des Körpers (Körperachsen) Longitudinal- oder Längsachse: von oben nach unten und umgekehrt ● Transversal- oder Querachse: von rechts nach links und umgekehrt ● Sagittal- oder Pfeilachse: von vorn nach hinten und umgekehrt

Transversalachse



3 Hauptebenen des Körpers (Körperebenen) ● Die Frontalebene entsteht, wenn Sie sich die flache Hand vor die Augen halten. ● Die Transversalebene entsteht, wenn Sie die Hand waagerecht an die Stirn legen. ● Die Sagittalebene entsteht, wenn Sie die Hand senkrecht zwischen den Augen auf die Nase legen. Eine solche Ebene kann auch rechts und links von der Mitte durch den Körper gehen. Befindet sie sich genau in der Mitte des Körpers, spricht man von der Medianebene. Für die korrekten Bezeichnungen für Richtungen und Bewegungsarten siehe die ▶ Abb. 27.2 und ▶ Abb. 27.3.

572

Transversalebene

Sagittalachse Sagittalebene

Longitudinalachse Man unterscheidet die Longitudinal-, die Transversal- und die Sagittalachse sowie die Frontal-, die Transversal- und die Sagittalebene.

Orientierungshilfen am menschlichen Körper

▶S. 572

Wichtige medizinische Begriffe und Silben

Wichtige in der Medizin verwendete physikalische Größen und Einheiten

▶S. 574

▶S. 580

Abb. 27.2 Richtungsangaben am menschlichen Körper.

radial (zur Speiche hin)

palmar/volar (zur Handfläche hin) ulnar (zur Elle hin)

frontal (zur Stirn hin) okzipital (zum Hinterhaupt hin) superior/kranial (zum Kopf hin) inferior/kaudal (zum Steiß hin) proximal (zum Rumpf hin) distal (vom Rumpf weg) tibial (zum Schienbein hin)

median (in der Körpermittelebene) medial (zur Mittelebene hin) lateral (zur Seite hin) anterior/ventral (nach vorne/zur Bauchseite hin) posterior/ dorsal (nach hinten/ zum Rücken hin) fibular (zum Wadenbein hin)

plantar (zur Fußsohle hin) Die Verwendung fachsprachlicher Richtungsangaben (im Gegensatz z. B. zu „oben“ oder „unten“) vermeidet Missverständnisse.

573

27

Abkürzungen, Größen und Einheiten Abb. 27.3 Bewegungen.

27.2 Wichtige medizinische Begriffe und Silben Siehe ▶ Tab. 27.1. Tab. 27.1 Wichtige medizinische Begriffe und Silben.

Streckung (Extension)

Beugung (Flexion)

Abspreizen (Abduktion)

Heranführen (Adduktion)

Rückwärtsbewegung Vorneigung Rückneigung (Retroversion) (Inklination) (Reklination)

Auswärtsdrehung Einwärtsdrehung Vorwärtsbewegung (Supination) (Pronation) (Anteversion) Die medizinische Fachterminologie kennt auch für die Beschreibung von Bewegungen spezifische Ausdrücke. Aus: I care Anatomie Physiologie. 2. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020

574

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

A.; Plural: Aa.

A. = Arteria (Arterie); Aa. = Arteriae (Arterien)

Abdomen

Bauch (Bauchhöhle)

Abusus

Missbrauch

ACS

akutes Koronarsyndrom

AED

automatischer externer Defibrillator

aerogen

über die Luft

Aerosol

Mischung aus einem Gas und einer fein verteilten Flüssigkeit bzw. einem fein verteilten Feststoff

Akren

die vom Rumpf am weitesten entfernten Körperteile (z. B. Hände/Finger, Füße/Zehen, Nase)

akzidentell

zufällig, unwesentlich

-algie, -odynie

Schmerz

Alkalose

erhöhter pH-Wert

ALS

advanced Life Support

an-

Fehlen von

anal

den Darmausgang betreffend

Analgesie

Schmerzausschaltung

Analgosedierung

Kombination aus Schmerzreduktion und Dämpfung/Beruhigung

Angi-

Gefäß

Anion

negativ geladenes Atom oder Molekül

ante-

vor-, nach vorn

anterior

der Vordere, vorne

anti-

gegen

ANV

akutes Nierenversagen

Apathie

Teilnahmslosigkeit

Applikation

Verabreichung

Arrhythmie

Rhythmusstörung

Arteria (A.); Plural: Arteriae (Aa.)

Arterie, Schlagader

ascendens

aufsteigend

Aspiration

1. Anatmung von körpereigenem oder -fremdem Material („Verschlucken“) 2. Ansaugen von Flüssigkeit in eine Spritze

Asservierung

Sicherstellung und Aufbewahrung

Wichtige medizinische Begriffe und Silben

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

-atresie

angeborener oder erworbener Verschluss

di-

doppelt, zwei

autonom

unabhängig, z. B. autonomes vegetatives Nervensystem

Digitus, digital

Finger; zum Finger gehörend oder mit dem Finger

axialis

auf die Achse bezogen

Dilatation

Erweiterung, Aufweitung

axillar

in der Achselhöhle gelegen, zu dieser gehörig

Diskonnektion

basalis

an der Basis gelegen

Trennung einer Verbindung, z. B. Trennung der Infusionsleitung vom venösen Zugang

benigne

gutartig

disloziert

verschoben, fehlgelagert

BGA

Blutgasanalyse

disponibel

verfügbar

bi-

zweifach, zwei

distal

Rumpf-fern, von der Körpermitte entfernt gelegen

biliär

zur Galle gehörig

Diurese

Harnausscheidung

BLS

Basic Life Support

dorsal

Bolusgabe

Gabe eines Medikaments innerhalb eines kurzen Zeitintervalls

hinten, zum Rücken hin gelegen, auch auf Hand- bzw. Fußrücken bezogen

dys-

gestört, schlecht, falsch

-ektomie

operative Entfernung

Elimination

Beseitigung, Ausscheidung

endogen

von innen, im Körper selbst entstanden

enteral

über den Darm

epi-

oben, auf

eu-

gut

ex-

nach außen, heraus

exogen

von außen, durch äußere Einflüsse entstanden

Exspiration

Ausatmung

Extension

Streckung

BOS

Behörden und Organe mit Sicherheitsaufgaben

brachial

am Arm

brachy-

kurz

brady-

langsam

bronchial

an den Bronchien

Butterfly

Kanüle mit biegsamen Flügeln zur Blutentnahme

caudalis

Richtung Steiß gelegen (schwanzwärts gelegen), unten

CBRN

chemisch-biologisch-radioaktiv-nuklear

centralis

im Mittelpunkt liegend Kohlenmonoxid

externus (-a, -um)

außen, an der Oberfläche

CO CO2

Kohlendioxid

extra-

außerhalb

con-

gemeinsam, zusammen

Extremitäten

Gliedmaßen

contra-

gegen

Kot, Stuhl

CPR

kardiopulmonale Reanimation, Herz-LungenWiederbelebung

Fäzes oder Faeces femoral

am Oberschenkel

cranialis

zum Kopf gehörend, kopfwärts gelegen

Flexion

Beugung

CT (Computertomografie)

bildgebendes Verfahren zur Erzeugung von Schnittbildern unter dem Einsatz von Röntgenstrahlen

FMS

Funkmeldesystem

Foetor

übler Geruch

Cuff

aufblasbare Manschette

fokal

einen Herd betreffend, von einem Herd ausgehend

Dekompensation

Zustand, in dem der Körper erkrankungsbedingte Probleme nicht mehr ausreichend ausgleichen kann

fraktioniert

unterteilt

frontal

von vorne, an der Vorderseite

Derma-

Haut

generalisiert

Prozess, der den ganzen Körper betrifft

descendens

absteigend

-grafie

Aufzeichnung

dexter (-tra, -trum)

rechts (vom Patienten aus betrachtet)

Gravidität

Schwangerschaft

575

27

Abkürzungen, Größen und Einheiten

Tab. 27.1 Fortsetzung.

576

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Hämatom

Bluterguss

intrakraniell

im Schädel

Hämostase

Blutstillung

in einem Muskel, in einen Muskel

Hautturgor

Hautspannung (bei Austrocknung vermindert)

intramuskulär (i. m.)

HDM

Herzdruckmassage

intraossär (i.o.)

in einem Knochen, in einen Knochen

hemi-

halb

intravasal

in einem Gefäß

hepatisch

an der Leber oder zur Leber gehörend

intravaskulär

in ein Gefäß

hetero-

verschieden, anders

intravenös (i. v.)

in einer Vene, in eine Vene

HKS

Herz-Kreislauf-Stillstand

Raum innerhalb der Zellen

HNO

Hals-Nasen-Ohren

Intrazellularraum

holo-

ganz, völlig

intrazerebral

im Gehirn

homo-

gleich

invasiv

in den Körper eindringend

Homöostase

Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in einem Organismus

i.o.

intraossär, in einen Knochen hinein

Ion

elektrisch geladenes Atom oder Molekül

horizontalis

waagerecht gelegen

ipsilateral

auf der gleichen Seite

hyper-

über, oberhalb, (zu) viel

irreversibel

nicht umkehrbar

Hypertrophie

Vergrößerung eines Gewebes oder Organs durch Zellvergrößerung

Ischämie

Minderdurchblutung

hypo-

unter, unterhalb, (zu) niedrig

iso-

gleich

i.a.

intraarteriell, in eine Arterie hinein

-itis

Entzündung

-iasis

krankhafter Zustand

i. v.

intravenös, in eine Vene hinein

iatrogen

durch einen Arzt verursacht

ITW

Intensivtransportwagen

ICB

intrazerebrale Blutung, Hirnblutung

kardial

das Herz betreffend, wegen des Herzens

idiopathisch

ohne erkennbare Ursache

katabol

Nahrungsstoffe oder körpereigene Substanzen abbauend

iliakal

im Beckenraum gelegen (am Darmbein gelegen)

Kation

positiv geladenes Atom oder Molekül

i. m.

intramuskulär, in einen Muskel hinein

kaudal

Richtung Steiß (schwanzwärts) gelegen, unten

Immobilisation, Immobilisierung

Ruhigstellung

bildgebendes Verfahren zur Erzeugung von Schichtaufnahmen unter Verwendung starker Magnetfelder

in-

hinein, in, „Verneinung“ (nicht, kein)

Kernspintomografie oder Magnetresonanztomografie

inferior

unten, weiter unten gelegen

KHK

koronare Herzkrankheit

inhalativ

über die Atemwege durch Einatmung

Inspektion

Betrachtung

KI (Kontraindikation)

Faktor, der gegen eine bestimmte medizinische Maßnahme spricht (Gegenanzeige)

Inspiration

Einatmung

KKT

Körperkerntemperatur

insuffizient

nicht ausreichend, eingeschränkt funktionsfähig

KOF

Körperoberfläche

innen, innen gelegen

kollabieren, Kollaps

Zusammenbrechen

internus (-a, -um)

Kollateralen

Interstitium

Zwischenraum zwischen Zellen

Gefäße, die einen Umgehungskreislauf ausgebildet haben (z. B. bei Verschluss des Hauptgefäßes)

intra-

innerhalb

kolloidal

intraarteriell (i.a.)

in einer Arterie, in eine Arterie

in einer Flüssigkeit oder in einem Gas fein verteilt

Kolorit

Färbung

Wichtige medizinische Begriffe und Silben

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Kompression

Ausübung von Druck

Mikro-

klein

konkav

nach innen gewölbt

mono-

allein, einzeln, ein

Konstriktion

Verengung

morbid

krank

kontagiös

ansteckend

Kontamination

Verunreinigung

bildgebendes Verfahren zur Erzeugung von Schichtaufnahmen unter Verwendung starker Magnetfelder

kontra-

gegen

MRT (Magnetresonanztomografie) oder Kernspintomografie

Kontraktion

Zusammenziehen

kontralateral

auf der anderen Seite

Multiorganversagen

akut lebensbedrohlicher Ausfall mehrerer Organe

Kontusion

Prellung

myo-

Muskel

konvex

nach außen gewölbt

N.; Plural: Nn.

N. = Nervus (Nerv); Nn. = Nervi (Nerven)

kranial

oben, kopfwärts gelegen

nasal

die Nase betreffend

KTW

Krankentransportwagen

Nausea

Übelkeit

Läsion

Verletzung, Schädigung

NAW

Notarztwagen

lateral

außen, seitlich

NEF

Notarzteinsatzfahrzeug

lienalis

zur Milz gehörend

Nephro

Niere

Lipid

Fett

Nervus; Plural: Nervi

Nerv

-loge, -iater

-facharzt

neuro-

Nerven betreffend

-logie, -iatrie

-heilkunde, Lehre von

neurogen

vom Nervensystem ausgehend

longitudinal

in Längsrichtung

neurotoxisch

giftig für das Nervensystem

lumbal

im Bereich der Lendenwirbelsäule

NotSan

Notfallsanitäter

Lumen

das Innere eines Hohlraumes

Nl.; Plural: Nll.

Lyse

Auflösung

Nl. = Nodus lymphoideus (Lymphknoten); Nll. = Nodi lymphoidei (mehrere Lymphknoten)

M.; Plural: Mm.

M. = Musculus (Muskel); Mm. = Musculi (Muskeln)

Nodus; Plural: Nodi

Knoten

makro-

groß, lang

nonverbal

nichtsprachlich

Mal-

Störung

normofrequent

mit normaler Frequenz (Häufigkeit)

maligne

bösartig

Noxe

Schadstoff

Manus; Plural: Manus

Hand

NSAR

nicht steroidale Antirheumatika

NSTEMI

MANV

Massenanfall von Verletzten

Herzinfarkt ohne Hebung der ST-Strecke im EKG

medial

innen, zur Mitte hin

obligat

zwingend notwendig

medianus (-a, -um)

in der Mitte liegend

okzipital

zum Hinterhaupt gehörend, am Hinterhaupt gelegen

medius

der Mittlere

oligo-

wenig

mega-

groß, stark

-om

Geschwulst, Schwellung, Tumor

metabolisch

stoffwechselbedingt

oral

zum Mund gehörend, über den Mund

Metabolisierung

Verstoffwechselung

Os; Plural: Ossa

Knochen

-osis/-ose

Krankheit

Meteorismus

Blähungen

ösophageal

die Speiseröhre betreffend

-metrie

Messung

577

27

Abkürzungen, Größen und Einheiten

Tab. 27.1 Fortsetzung.

578

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

O2

Sauerstoff

Prophylaxe

Vorbeugung

Päd-

Kinder, das Kindesalter betreffend

Protein

Eiweiß

palmar

zur Hohlhandseite hin, auf der Hohlhandseite gelegen, an der Handfläche

proximal

näher zur Körpermitte hin gelegen

PSA

persönliche Schutzausrüstung

para-

neben

PTBS

posttraumatische Belastungsstörung

paramedian

neben der Mitte (Medianebene) gelegen

pulmonal

die Lunge betreffend, zur Lunge gehörend

parenteral

am Darm vorbei, unter Umgehung des Darms

R.; Plural: Rr.

Pars; Plural: Partes

Teil

R. = Ramus (Ast, Abzweigung); Rr. = Rami (Äste, Abzweigungen)

radial, radialis

zum Radius hin gelegen, zu diesem gehörend

-pathie

krankhafte Veränderung

re-

zurück

pathogen

eine Krankheit auslösend

reflektorisch

durch einen Reflex bedingt, unwillkürlich

pathologisch

krankhaft

rektal

zum Mastdarm gehörend, im Mastdarm

PEA

pulslose elektrische Aktivität

relaxierend

entspannend

PEEP (positiver endexspiratorischer Druck)

Aufrechterhaltung eines positiven Drucks in den Lungen über den gesamten Zeitraum einer Beatmung

renal

zur Niere gehörend oder an der Niere gelegen

Reperfusion

Wiederherstellung des Blutflusses

-penie

Verminderung

Repetition

Wiederholung

per

durch, über

Zurückbringen in die ursprüngliche Lage

Perforation

Durchstoßen, Durchbruch

Reposition, Reponieren

Perfusion

Durchblutung, Durchfluss

Resistenz

Widerstandsfähigkeit

peri-

um, herum

Resorption

Aufnahme

peripher

vom Körperzentrum oder einem Organzentrum entfernt liegend

respiratorisch

die Atmung betreffend

retro-

zurück

perkutan

über die Haut, durch die Haut

reversibel

umkehrbar

permanent

anhaltend, dauernd

RR

Blutdruck

Permeabilität

Durchlässigkeit

-rrhagie

Austritt von Flüssigkeit

peroral

über den Mund (z. B. perorale Gabe von Medikamenten)

-rrhö

Fluss

physiologisch

natürlich, ohne Krankheitswert

RS

Rettungssanitäter

plantar

zur Fußsohle hin

RTH

Rettungshubschrauber

-plasie

-bildung, Neubildung

RTW

Rettungstransportwagen

-plastik

Wiederherstellung, Wiederaufbau

Ruptur

Riss

Poly-

viel

SaO2

arterielle Sauerstoffsättigung

post-

nach

sagittal

von vorne nach hinten (lat. sagitta = Pfeil)

posterior

hinterer, weiter hinten

s. c.

subkutan, unter die Haut

prä-

vor

Sedierung

Behandlung mit Beruhigungsmitteln

präfinal

kurz vor dem Tod

SEG

Schnelleinsatzgruppe

primär

zuerst, vorrangig

sekretorisch

absondernd

pro-

vor

sekundär

zweitrangig

profundus (-a, -um)

tief liegend

semipermeabel

halbdurchlässig, meist auf Membranen bezogen

Wichtige medizinische Begriffe und Silben

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Tab. 27.1 Fortsetzung.

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

Begriff, Abkürzung

Bezeichnung bzw. Bedeutung

SHRT

spezielle Rettung aus Höhen und Tiefen

Blutgerinnsel

SHT

Schädel-Hirn-Trauma

Thrombus; Plural: Thromben

sinister (-tra, -trum)

links

kurzzeitige Durchblutungsstörung von Teilen des Gehirns

Sinus; Plural: Sinus

Hohlraum, Höhle, auch verwendet für venöse Gefäße

TIA (transitorische ischämische Attacke) tibialis

zum Schienbein gehörend, am Schienbein

sistieren

anhalten

-tomie

operative Durchtrennung, Schnitt

-skopie

Spiegelung

tonisch

steif, starr

s. l.

sublingual, unter die Zunge

toxisch

giftig

-stase

Stillstand

trans-

hindurch, durch

STEMI

Herzinfarkt mit Hebung der ST-Strecke im EKG

transient

vorübergehend

Stenose

Verengung

transversal

quer zur Achse liegend

sub-

unter

tri-

dreifach, drei

subkutan

unter der Haut, unter die Haut

ulnar, ulnaris

zur Ulna hin gelegen, zu dieser gehörend

sublingual (s. l.)

unter der Zunge, unter die Zunge

V.; Plural: Vv.

V. = Vena (Vene); Vv. = Venae (Venen)

suffizient

ausreichend

vaginal

zur Scheide gehörend, in der Scheide

superficialis, superfizial, superfiziell

oberflächlich

VEL

Vollelektrolytlösung Vene

superior

weiter oben gelegen, der Obere

Vena; Plural: Venae

Suppositorium (Supp.)

Zäpfchen

Ventilation

Belüftung vorne (zur Bauchseite hin)

supraventrikulär

oberhalb der Herzkammern, im Bereich der Vorhöfe

ventral, ventralis vertebral

die Wirbelsäule betreffend

syn-

zusammen

senkrecht gelegen

Synthese

Herstellung, Neubildung

verticalis, vertikal

tachy-

schnell

viszeral

zu den Eingeweiden gehörend, die Eingeweide betreffend

temporal

zur Schläfe hin, an der Schläfe

vulnerabel

verletzlich

temporär

zeitlich begrenzt

-zentese

Einstich, Punktion

thermo-

die Temperatur betreffend

zerebral

das Gehirn betreffend

thorakal

im Brustkorb gelegen oder zum Brustkorb gehörend

ZNS

zentrales Nervensystem (Gehirn + Rückenmark)

579

27

Abkürzungen, Größen und Einheiten

27.3 Wichtige in der Medizin verwendete physikalische Größen und Einheiten Siehe ▶ Tab. 27.2. Tab. 27.2 Physikalische Größen und Einheiten.

580

Größe

Einheit

Einheiten-Symbol

Druck

Pascal; üblich für Blutdruck: Millimeter Quecksilbersäule

Pa; für Blutdruck: mmHg

elektrische Spannung

Volt

V

elektrische Stromstärke

Ampere

A

elektrischer Widerstand

Ohm

Ω

Energie

Joule (Kalorien)

J (cal)

Fläche

Quadratmeter

m2

Frequenz

Hertz

Hz

Geschwindigkeit

Meter pro Sekunde

m/s

Kraft

Newton

N

Länge

Meter

m

Leistung

Watt

W

Masse

Gramm, Kilogramm

g, kg

Stoffmenge

Mol

mol

Temperatur

Kelvin (Grad Celsius)

K (°C)

Volumen

Kubikmeter

m3

Zeit

Sekunden, Minuten, Stunden

s, min, h

Sachverzeichnis

Sachverzeichnis 1 10-for-10 23 10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip 23 12-Kanal-EKG 203 1-%-Regel 399

3 3-Zeugen-Testament 560

4 4-Augen-Prinzip 107, 222 4-DMAP (4-Dimethylaminophenol) 143 4-Ohren-Modell 21

5 5-Finger-Regel 511

6 6-F-Regel 348

8 8-R-Regel 107, 222

A AB0-System 54 Abbinden 376 ABCDE-Schema 182 – bei Kindern 526 – bei Übergewichtigen 533 – im Alter 531 ABC-Einheit 542 Abdomen, akutes 336 – Kinder 352 Abdominaltrauma 392 Abhängigkeit 445 Ablatio retinae 472 Ablederung 373 Abmahnung 558 Abnabelung 488 Abort 479 Absaugen – Flüssigkeit 209 – Neugeborenes 488 Absorption 114 Absperrmaßnahme 542 Abtauchen 411 Abwehrspannung 340 Acetylcholin 98 Acetylsalicylsäure 140 Adams-Stokes-Anfall 420 Adenosin 132 Aderlass, unblutiger 269 Aderpresse 376 ADH (antidiuretisches Hormon) 90 Adipositas 533 Adiuretin 90 Adnexe 86 Adrenalin 90, 128 AECOPD (akut exazerbierte COPD) 265 AED (automatischer externer Defibrillator) 325 Affektivität 438 Affektkrampf 419 Afferenz 98 After 80 After-Drop 403 Agglutination 54

Agonisten 115 Agoraphobie 450 AIDS 151 Airbag 179 Airway 186 – bei Kindern 526 – im Alter 531 Aktionspotenzial 97 Aktivität, pulslose elektrische (PEA) 308 Aktivkohle 143 Akutes Abdomen 336 – Kinder 352 Alarmierungszeit 32 Alkalose 75, 505–506 Alkoholabhängigkeit 446 Alkoholvergiftung 515 Alkylphosphate 519 Allergie 290 Allgemeinanästhesie 124 Alter, Physiologie 530 Altersperiode 522 Aluminiumpolsterschiene 237 Alveole 71 Alzheimer-Krankheit 444 Amaurosis fugax 428, 461 Amiodaron 132 Amnesie 380, 438 Amotio retinae 472 Amphetamine 447 Ampullarium 108 Ampulle 222 Amputation 378 Analgetikum 118 Analgosedierung 120 Analkanal 80 Analogfunk 43 Anämie 54 Anamnese 182 Anaphylaxie 290 Anästhetikum, intravenöses 126 Androgen 90 Aneurysma 63 – Hirnarterie 430 Aneurysmaruptur 352 Anfall, epileptischer 417 Angina pectoris 300 Angstattacke 443 Angststörung 450 Anion 84 Anisokorie 462 ANP (atriales natriuretisches Peptid) 91 Anschlagzeit 128 Antagonist 115 Antianginosum 131 Antiarrhythmikum 131 – Vergiftung 513 Antibiotikum 148 Antidepressivum, Vergiftung 513 Antidot 143, 509 Antiepileptikum 123 Antifibrinolytikum 142 Antigen 56 Antihistaminikum 136 Antihypertensivum 130 Antihypertonikum 130 Antikoagulans 139 Antikonvulsivum 123 Antikörper 56 Antirheumatikum, nicht steroidales 121 Antriebsstörung 438 Antrum 78 Anurie 493 Anus 80 Anxiolytikum 123 Aorta 67

Aortendissektion 312 Aortenenge 78 Aortenklappe 59 Aortenruptur, nicht traumatische 312 Aortensyndrom, akutes 312 APGAR-Score 487–488 Apnoe 73, 256 Apnoetauchen 411 Apoplex 421 Appendix vermiformis 57, 80 Appendizitis 80, 344 Applikation 105 – bukkale 113 – inhalative 112 – intranasale 113 – intraossäre 110 – intravenöse 110 – rektale 112 – sublinguale 113 Applikationsweg 109 Arachnoidea 100 Arbeitsleistungspflicht 558 Arbeitsrecht 558 Arbeitstechniken 198 ARDS 267 Arm 95 Armtragetuch 237 Arm-Vorhalte-Versuch 414 Arrhythmie 307 Arteria brachialis, Kompression 375 Arteria carotis 67, 99 – Kompression 375 Arteria cerebri 99 Arteria femoralis 67 – Kompression 375 Arteria iliaca 67 Arteria subclavia 67 Arteria vertebralis 99 Arterie 63 Arteriosklerose 300 Arzneiform 104 Arzneimittel 104 Arzneimittelgesetz 107 Arzneimittelkennzeichnung 108 Arzneimittelwirkung, unerwünschte 105 Arzneistoff 104 Asphyxie, traumatische 389 Aspiration 70, 273 – Kinder 526 ASS (Acetylsalicylsäure) 140 Asthma bronchiale 261 Asthma cardiale 268, 307 Asthmaanfall 261 Asystolie 308 Aszites 346 Atemfrequenz 73, 187 Atemgastransport 75 Atemgeruch 187 – süßlicher 357 Atemhilfsmuskeln 73 Atemkontrolle 321 Atemmechanik 72 Atemmuskel 72 Atemnebengeräusch 260 Atemnot 256 – bei Kindern 278 Atemrhythmus 187 Atemstillstand 256 Atemstörung 256 Atemtiefe 187 Atemüberprüfung 321 Atemvolumen 73 Atemweg – bei Kinder 524 – Freihalten 210 – Freimachen 208 Atemwegskontrolle 186

Atemwegsmanagement 207 Atemzeitvolumen 73 Atemzentrum 75 Atemzug 73 Atherosklerose 300 Atlas 95 Atmung 68 – Beurteilung 187 – inverse 187 – Kontrolle 187 – paradoxe 187, 387 – Regulation 75 – Veränderung 75 Atmungssystem 68 – bei Kindern 524 – im Alter 530 Atrioventrikularklappe 59 Atrioventrikularknoten 62 Atrium 58 Atriumseptumdefekt (ASD) 315 Atropin 132 – Antidot 143 Attacke, transitorische ischämische (TIA) 428, 460 Aufhebungsvertrag 558 Aufklärung 557 Auftauchen 411 Aufziehen, Ampullen 222 Auge 101 – rotes 461 – Untersuchung 463 – Verletzung 467 Augenhöhle 101 Augennotfall 460 Augenprellung 470 Augenschmerzen 462 Augenspülung 466 Augenverband 467 Aura, epileptische 418 Ausatmung 73 Ausbildung 16 Auskultation – Herz 60 – Lunge 187 Ausräumen, manuelles 208 Ausrückzeit 32 Ausschuss 373 Außenohr 102 Austrittsperiode, Geburt 485 Austrocknung 501 Auswurf 259 Autolyse 251 AV-Block 308 AV-Klappe 59 AV-Knoten 61 AVPU-Schema 183 Axis 95 Axon 97 Azidose 75, 286, 505–506

B BAK-Schema 320 Bakterien 146 Bandscheibenprolaps 430 Bandscheibenvorfall 430 Barbiturat, Vergiftung 513 Barotrauma 412, 453 Base 85 Basic Life Support (BLS) 319 Basischeck (BAK-Schema) 320 – bei Kindern 329 Basismonitoring 198 Bauchaortenaneurysma 352 Bauchatmung 73 Bauchfell 81 Bauchfellentzündung 82 Bauchfellhöhle 81

581

27

Sachverzeichnis Bauchhöhlenschwangerschaft 478 Bauchschmerz 336 Bauchspeicheldrüse 80 Bauchspeicheldrüsenentzündung, akute 345 Bauchtrauma 392 Bauchwassersucht 346 Bauhin-Klappe 79 Beatmung 219 – bei Kindern 332 – bei Reanimation 323 – maschinelle 221 – mit Beatmungsbeutel und Maske 220, 323 – mit Larynxtubus 323 – mit PEEP 221 Beatmungsmaske 219 Beckenendlage 489 Beckengürtel 95 Beckenring 95 – Fraktur 395 Beckenschlinge 395 BE-FAST-Test 415 Befruchtung 87 Behandlungsplatz 537 Behandlungszone 542 Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) 42 Bein 95 Belastungsreaktion, akute 442 Belastungsstörung, posttraumatische (PBTS) 448 Belüftung 187 Benommenheit 416 Benzodiazepin 123 – Abhängigkeit 447 – Vergiftung 513 Bergetod 403 Beruhigungsmittel 123 Betablocker 132 Betäubungsmittel 107 Betäubungsmittelbuch 109 Betreuung, rechtliche 559 Betreuungsverfügung 559 Beutel-Masken-Beatmung 220 Bewegungssystem 92 Bewusstlosigkeit 416 – Airway 186 Bewusstseinseinengung 416 Bewusstseinserweiterung 416 Bewusstseinskontrolle 320 Bewusstseinsstörung 416 Bewusstseinstrübung 416, 440 Bewusstseinsverschiebung 416 Bikarbonat-Puffer 85 Bikuspidalklappe 59 Bindegewebe 52 Bindehautentzündung 461 Biot-Atmung 188 Biotransformation 115 Bisswunde 373 Bläschendrüse 89 Blasensprung, vorzeitiger 483 Blasenstein 495 Blausäure 519 Blepharospasmus 463 Blickdiagnosedreieck, pädiatrisches 526 Blinddarm 80 Blitzschlag 410 β-Blocker 62, 132 Blow-out-Fraktur 470 Blumberg-Zeichen 345 Blut 53 Blutarmut 54 Blutdruck 67 – arterieller 67 – Messung 198 Blutdruckkrise 310 Blutdrucksenker 130 Bluterbrechen 340, 455

582

Blutfluss 64 Blutgasanalyse (BGA) 207, 505 Blutgefäß 63 Blutgefäßverschluss, peripherer arterieller 312 Blutgerinnung 54–55 – Pharmakologie 139 Blutgruppe 54 Bluthochdruck 310 Bluthusten 259 Blutkreislauf 64 Blut-Luft-Schranke 72 Blutplasma 53–54 Blutplättchen 54 Blutserum 54 Blutspende 54 Blutstillung 375 – Physiologie 55 Bluttransfusion 54 Blutung 375 – anorektale 343 – aus dem Mund 455 – aus dem Ohr 456 – Fraktur 369 – gastrointestinale 343 – genitale 474 – im HNO-Bereich 452 – im Verdauungstrakt 343 – intrakranielle 428 –– traumatische 380 – intraparenchymatöse 428 – intrazerebrale 428 –– traumatische 380 – postpartale 490 – subkonjunktivale 461 – versteckte 189 Blutverlust 53 – bei Fraktur 369 – Nachgeburtsphase 486 Blutvolumen 53 Blutzelle 53 Blutzuckermessung 204 Bolustod 273 BOS (Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben) 42 Bradyarrhythmie 307 Bradykardie 62, 189, 307 – bei Kindern 329 Bradypnoe 73, 187 Brandschutz 179 Brandwunde 400 Breathing 187 Brechampulle 222 Breite, therapeutische 106 Bremer Liste 143 Brief Resolved Unexplained Event (BRUE) 433 Bries 56 Bronchialbaum 71 Bronchie 71 Bronchioli 71 Bronchiolitis 278 Bronchitis, chronisch-obstruktive 265 Bronchodilatator 134 Bronchospasmolytikum 134 BRUE 433 Brustbein 95 Brustfell 72 Brustkorb 57, 60, 95 Brustwandableitung nach Wilson 202 Brustwirbelsäule 95 Buchstabiertafel 45 bukkal 113 Bundesgerichtshof 552 Bundeskanzler 552 Bundespräsident 552 Bundesrat 552 Bundesregierung 552 Bundestag 552 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 552

Bundesversammlung 552 Bürgerliches Gesetzbuch 566 Butylscopolamin 119 B-Waffe 541

C C2-Intox 515 cABCDE-Schema 182 Cafedrin 129 Caisson-Krankheit 412 Calcium 85 Campylobacter 151 Canadian C-Spine Rule 186 Cannabis 447 Carbo medicinalis 143 Cardiopulmonary Resuscitation (CPR) 318 CBRN-Gefahren 541 CBRN-Lage 541 Chemikalienschutzanzug 544 Chemoprophylaxe 153 Chemorezeptoren 75 Chemosis 464 Cheyne-Stokes-Atmung 188 Chitosan 377 Chlorid (Cl–) 85 Cholangitis 348 Choledocholithiasis 348 Cholelithiasis 348 Cholezystitis 348 Cholezystolithiasis 348 Choriogonadotropin, humanes (hCG) 90 Chymus 78 Circulation 188 Circulus arteriosus Willisii 99 Claudicatio intermittens 313 Clonazepam 123 Clonidin 130 Closing loop 22 Closing-Loop-Strategie 22 Cluster-Kopfschmerz 425 CO2-Narkose 276 Cochlea 102 Colitis ulcerosa 345 Colon 80 Coma – diabeticum 356 – hepaticum 347 CombiCarrier II 233 Commotio cerebri 382 Compressio cerebri 382 Continous positive Airway Pressure (CPAP) 221 Contusio bulbi 469 Contusio cerebri 382 COPD (chronic obstructive pulmonary disease) 264 Coping 25 Cor pulmonale 265 Coronavirus 151 Costa 95 COVID-19 151 CO-Warngerät 277 Cowper-Drüse 89 COX-Inhibitor 120 CPAP 219 CPAP (continous positive airway pressure) 221 CPR (Cardiopulmonary Resuscitation) 318 Cranium 93 Crashrettung 366 Craving 445 Crisis Resource Management (CRM) 21 Cuff 212 Cushing-Triade 426 C-Waffe 541 Cyclooxygenase 120 Cytochrom-P450-System 115

D Darmbein 95 Darmerkrankung, chronisch-entzündliche 345 Darmverschluss 350 Darmverwachsung 350 Darreichungsform 104 Datenschutzgesetz 567 Décollement 373 Defibrillation 325 – bei Kindern 333 Defibrillator 325 Defizit, neurologisches 191 Dehnungsrezeptoren 75 Dehydratation 501 Dekompressionskrankheit 412 Dekontamination 509, 544 Delegieren 181 Delir 439 Demand-Ventil 219 Demenz 444 Denkstörung 437 Dens 77 Depression 445 – postpartale 490 Dermis 103 Desinfektion 156 Dezibel 458 Diabetes mellitus 353 – Notfallsituation 356 Diaphragma 72 Diaphyse 92 Diarrhö 340 Diastole 60 Diazepam 123 Dickdarm 79 Dickdarmdivertikel 345 Dickdarmflora 79 Dickdarmtumor 350 Dienstkleidung 158 Diffusion 74 Diffusionsstörung 68 Digitalfunk 43 Digitalis, Vergiftung 513 Dimenhydrinat 124 Dimetinden 136 Diplopie 465 Direct Mode Operation (DMO) 43 Direktmodus (DMO) 43 Disability 191 – bei Kindern 528 – im Alter 532 Diskusprolaps 430 Dispositionsprophylaxe 153 Dissoziation, elektromechanische (EMD) 308 Disstress 20 Distanz-Elektroimpulswaffe 410 Distorsion 366 Distribution 114 Divertikulitis 345 DMS-Kontrolle 366 Dobutamin 129 Dokumentationspflicht 566 Dopamin 90, 128 Doppelbild 465 Dosieraerosol 112 Dosierung 105 Dreiecktuch 237 Drei-Zeugen-Testament 560 Dringlichkeit, hypertensive 310 Drop Attack 418 Drosselmarke 383 Drosseln 383 Druck – hydrostatischer 84 – intrakranieller 426 – kolloidosmotischer 84 – onkotischer 84 – osmotischer 84

Sachverzeichnis – positiver endexspiratorischer (PEEP) 221 Druck, mittlerer arterieller 198 Druckschmerz 342 Druckverband 375 Drüse 52 – endokrine 89 Ductus deferens 89 Dünndarm 78 Duodenalulkus 343 Duodenum 79 Dura mater 100 Durchfall 340 Durchfallerkrankung 151 Durchschuss 373 Durchstechflasche 223 Dyspnoe 256 – bei Kindern 278

E E. coli 151 Ecstasy 447 Efferenz 98 Eichel 88 Eierstock 87 Eigenhygiene 158 Eigenschutz 178 – bei Stromunfällen 410 – Vergiftung 511 Eileiter 87 Eileiterruptur 478 Eileiterschwangerschaft 88, 478 Einatmung 72 Ein-Helfer-Methode 320 Einklemmungstrauma 365 Einklemmungszeichen 426 Einnistung 87–88 Einsatzablauf 174 Einsatzlage, besondere 545 Einsatzprotokoll 569 Einsatzstelle 175 Einsatztaktik 174 Einschuss 373 Einstellungsanomalie, Geburt 489 Einthoven-Extremitätenableitung 202 Einwilligung 557 Eisrettung 547 Eizelle 87 Ejakulation 88 EKG (Elektrokardiogramm) 201 Eklampsie 481 Ektropionieren 464 Elektrokardiogramm (EKG) 201 Elektrolyte 84 Elektrolytlösung 137 Elektroschockwaffe 410 Elektrounfall 409 Elimination 115, 509 Elle 95 Ellenbogengelenk 95 Embolie 303 Embolus 303 Embryo 88 Emesis 340 Emotionssteuerung 25 Empathie 25 Endemie 148 endogen 149 Endokard 59 Endometriose 475 Endotrachealtubus 212 Enophthalmus 464 Enterokokken, multiresistente 148 Entfremdungserlebnis 437 Entgiftung 509 Entgleisung, hypertensive 310 Entlastungspunktion 390 Entwicklung – kindliche 522 – vorgeburtliche 88

Entzugssymptome 446 Entzündungsschmerz 337 Environment 191 – bei Kindern 528 – im Alter 532 Enzephalitis 432 Enzephalon 98 Enzephalopathie, hepatische 347 Epidemie 148 Epidemiologie 146 Epidermis 103 Epididymis 88 Epididymitis 499 Epiduralblutung 380 Epiglottis 70 Epiglottitis 279 Epikard 59 Epilepsie 417 Epinephrin 128 Epiphora 463 Epiphyse 90, 92 Epistaxis 454 Epithelgewebe 52 Erblasser 560 Erblindung 461 Erbrechen 340 – Schwangerschaft 474 Erdrosseln 383 Erektion 88 Erfrierung 404 Ergebnisqualität 564 Erhängen 383 Erinnerungslosigkeit 438 Eröffnungsperiode, Geburt 485 Erregungszustand, akuter 442 Ersteinschätzung 182 Ersthelfender 177 Ertrinkungsunfall 271 Erythropoetin (EPO) 53, 82, 91 Erythrozyt 53 Erythrozytenkonzentrat 54 ESBL (Extended Spectrum Beta-Lactamase) 148 Esketamin 126 Esmarch-Handgriff 209 Eustachi-Röhre 102 Eustress 20 Evasion 114 Exkoriation 372 Exkretion 115 exogen 149 Exophthalmus 464 Explosionstrauma 458 Expositionsprophylaxe 152 Exposure 191 – bei Kindern 528 – im Alter 532 Exsikkose 501 Exspiration 73 Extended Spectrum Beta-Lactamase (ESBL) 148 Extrasystole 307 Extrauteringravidität (EUG) 478 Extrazellularraum 50 Extremität – obere und untere 95 – Ruhigstellung 237 Extremitätenableitungen 201 Extremitätenverletzung 366 Extremitätenvorfall 489 EZ-IO-Bohrmaschine 111

F Fahrtrage 247 Fahrzeit 32 Fahrzeugfunkgerät 42 Falt-und-Roll-Technik 247 Fassthorax 265 Fäulnis 251 Fäzes 79

Fehlerkettenmodell 23 Fehlermanagement 23 Fehlgeburt 479 Fehllage 489 Fehlpunktion, arterielle 227 Femur 95 Fentanyl 122 Fernmeldegeheimnis 42 Fertigarzneimittel 104 Fertigspritze 222 Fettembolie 304 Fettgewebe 52 – Hormon 91 Fettleber 346 Fetus 88 FFP-Maske 161 Fibrin 55 Fibrinolyse 55 Fibrinolytikum 141 Fibula 95 Fieber 91 Fingergelenk 95 First-Pass-Effekt 115 Fissur 369 Five-second-round 182 Fixierungsfehler 23 Flachlagerung 248 flail chest 387 Flankenschmerz 492 Flatterthorax 387 Flimmerepithel 71 Flimmerskotom 461 Flow 217 Flumazenil 143 Flüssigkeit, Absaugen 209 Flüssigkeitsbilanz 84 Foetor hepaticus 348 Fraktur 368 Freiheitssicherung 550 Freiname 104 Fremdkörper – Auge 468 – im Gehörgang 459 – in der Nase 459 – in der Wunde 374 – vaginaler 477 Fremdkörperaspiration 273 Fresh Frozen Plasma 54 Frischplasma, gefrorenes 54 Fritsch-Lagerung 476 Frontalebene 572 Fruchtwasserembolie 304 Frühabort 479 Frühgeborenes 522 Frühgeburt 484 Frühschwangerschaft 88 – Komplikationen 478 Führung im Einsatz 181 Fünf-Finger-Regel 511 Funk 41 Funkdisziplin 43 Funkmeldesystem (FMS) 46 Funkrufname 44 Fürsorgepflicht 559 Fuß 95 Fußsyndrom, diabetisches 353

G Galle 81 Galleerbrechen 340 Gallenblase 81 Gallenkolik 81, 348 Gallensteine 348 Gallenwegserkrankung 348 GAMS-Regel 542 Gänsegurgel 220 Ganzkörperuntersuchung 190–191 Gasaustausch 74 Gaster 78 Gastritis 343

Gastroenteritis 151 Gaumen 77 Gaze, blutstillende 377 Gebärmutter 86 Gebiss 77 Geburt 485 – Komplikation 489 Geburtsweg 86 Geburtszeitpunkt 486 Gedächtniszelle 56 Gefäßhaut 101 Gefäßverschluss – peripherer arterieller 312 – peripherer venöser 314 Gefäßwand 63 Gegengift 143, 509 Gehirn 98 Gehirnerschütterung 382 Gehirnprellung 382 Gehirnquetschung 382 Gekröse 79 Gelbsucht 346 Gelenk 92 Generikum 104 Gerätetauchen 411 Geriatrie 530 Gesamtkörperwasser 84 Geschäftsführung ohne Auftrag 557 Geschlechtsdrüse, akzessorische 89 Geschlechtsorgane – männliche 88 – weibliche 86 Gesichtsfeld 465 Gesichtsfeldausfall 460 Gesichtsmaske 218 Gesichtsschädel 93 – Fraktur 381 Gestagen 90 Gestationsdiabetes 353 Gestationshypertonie 481 Gewalt im Rettungsdienst 172 Gewaltenteilung 551 Gewebe 51 – diffuses endokrines 89 GI-Blutung 343 Gift 508 – pflanzliches 516 – tierisches 518 Giftinformationszentrale (GIZ) 510 Giftschlangen 518 Glasampulle 222 Glasgow Coma Score 191 Glaskörperabhebung 461 Glaskörpereinblutung 461 Glaukom 472 Gleichbehandlungspflicht 559 Gleichgewichtssinn 102 Globalinsuffizienz 306 Glukagon 80, 90 Glukokortikoid 90, 136 Glukoselösung 139 – bei Hypoglykämie 358 Glyceroltrinitrat 131 Goldberger-Extremitätenableitung 202 Golden Hour of Trauma 397 Golgi-Apparat 51 Grand-mal-Anfall 418 Grimmdarm 80 Grippe 151 Großhirn 98 Growth Hormone (GH) 90 Grundgesetz 550 Grünholzfraktur 369 Guedel-Tubus 210 Gummibauch 345

583

27

Sachverzeichnis

H Haargefäß 63 Halbwertszeit 114 Halluzination 438 Haloperidol 441 Halsschlagader 67 Halsvene, gestaute 296 Halswirbelsäule 95 – Stützkragen 233 Haltungsanomalie, Geburt 489 Hämatemesis 340 Hämatokrit 53 Hämatom – epidurales 380 – retroplazentares 483 – subdurales 380 Hämatopoese 53 Hämatothorax 388 Hämaturie 493 Hämoglobin 53 Hämoptoe 259 Hämoptyse 259 Hämorrhoiden 343 Hämostase 55 – Pharmakologie 139 Hämostyptikum 377 Hand 95 Hand Radio Terminal (HRT) 42 Händedesinfektion, hygienische 159 Händehygiene 158 Handelsname 104 Händewaschen 158 Handflächenregel 399 Handfunkgerät 42 Handmuskel 96 Handschuh, steriler 160 Handwurzelgelenk 95 Hanged-man-fracture 384 Hängetrauma 547 Harn 82 Harnblase 83 Harnblasenstein 495 Harnleiter 83 Harnleiterkolik 495 Harnleiterstein 495 Harnröhre 83 Harnröhrenstein 495 Harnsamenröhre 83 Harnsäure 83 Harnstoff 83 Harnsystem 82 Harnverhalt, akuter 494 Harnweg, ableitender 83 Hashimoto-Thyreoiditis 360 Hauptachse/-ebene 572 Hauptpflicht 558 Haustrum 79 Haut 103 Hautdesinfektion 156 HbA1c 353 hCG (humanes Choriogonadotropin) 90 HCN 519 HDM (Herzdruckmassage) 322 Head-Zone 336 Hebetechnik 237 Heimlich-Handgriff 274 HELLP-Syndrom 481 Helmabnahme 229 Hepar 80 Heparin 141 Hepatitis 346 Hering-Breuer-Reflex 75 Hernie 350 Heroin 513 Herz 57 – Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem 61 Herzbettlagerung 290 Herzbeuteltamponade 311 – traumatische 387

584

Herzdruckmassage (HDM) 322 – bei Kindern 333 – bei Neugeborenen 333 Herzfrequenz (Hf) 62, 189 Herzinfarkt 300 Herzinsuffizienz 306 Herzkatheterintervention 302 Herzklappe 59 Herzkontusion 389 Herzkrankheit, koronare (KHK) 300 Herzkranzgefäß 59 Herz-Kreislauf-Erkrankung 296 – bei Kindern 315 Herz-Kreislauf-Stillstand (HKS) 316 – Basischeck 320 – bei Kindern 329 Herz-Kreislauf-System 57 Herzleistung 62 Herzminutenvolumen (HMV) 62 Herzmuskulatur 52 Herzprellung 389 Herzrasen 296 Herzrhythmusstörung 307 Herzskelett 62 Herzstillstand 316 Herzton 60 Herzzeitvolumen (HZV) 62 Herzzyklus (EKG) 60, 201 Hf (Herzfrequenz) 62 hidden six 387 Hilfeleistung, unterlassene 553 Hilfsfrist 32 Hinterhauptsbein 93 Hirnanhangdrüse 90 Hirnblutung 428 – traumatische 380 Hirndruck 426 Hirndruckzeichen 426 Hirnhaut 100 Hirnhautentzündung 432 Hirninfarkt 421, 428 Hirnischämie 428 Hirnnerv 100 Hirnödem 426 Hirnschädel 93 Hirnsinus 99 Hirnstamm 99 Hirnvenenthrombose 430 His-Bündel 62 Histamin 136 Hitzeerschöpfung 406 Hitzekollaps 405 Hitzekrampf 406 Hitzenotfall 405 Hitzeohnmacht 405 Hitzesynkope 405 Hitzschlag 406 HIV 151 HIV-PrEP 153 HKS (Herz-Kreislauf-Stillstand) 316 HNO-Notfall 452 – bei Kindern 459 Hochdrucksystem 67 Hochspannungsunfall 409 Hoden 88 Hodentorsion 499 Höhenlungenödem 268 Hohlorganperforation 340 Hohlvene 67 Hörminderung 452 Hormon 89 – antidiuretisches (ADH) 90 Hormonsystem 89 Hornhaut 101 Hörschnecke 102 Hörsinn 102 Hörsturz 459 Hörverlust 452 HTCL-Manöver 209, 321 Hüftbein 95 Hüftgelenk 95

Humanfaktor 20 Husten 258 HWS-Distorsion 383 HWS-Immobilisierung 186 HWS-Orthese 233 HWS-Stützkragen 233 Hydrophilie 115 Hygiene 152 – persönliche 158 Hygienebeauftragter 19 Hyperfibrinolyse 142 Hyperglykämie 356 Hyperhydratation 501 Hyperkaliämie 503 Hyperkapnie 75 Hypernatriämie 501 Hyperoxämie 75 Hypertension, portale 343 Hyperthermie 91 Hyperthyreose 359 Hypertonie 199 – arterielle 310 – pulmonale 265 – schwangerschaftsinduzierte 481 Hyperventilation 270, 505 Hypervolämie 53, 84 Hypnotikum 123, 126 Hypoglykämie 358 Hypohydratation 501 Hypokaliämie 504 Hypokalzämie, relative 505 Hypokapnie 75 Hyponatriämie 501 Hypoperfusion, zerebrale 428 Hypophyse 90 Hyposphagma 461 Hypothalamus 90 Hypothermie 91, 249, 402 – Prophylaxe 249 – Reanimation 326 Hypothyreose 360 Hypotonie, arterielle 199 Hypoventilation 505 Hypovolämie 53, 84 Hypoxämie 75 – arterielle 303 Hypoxie 303

I ICB (intrazerebrale Blutung) 428 Ich-Störung 437 IfSG (Infektionsschutzgesetz) 152 Ikterus 346 Ileozäkalklappe 79 Ileum 79 Ileus 350 Illusion 438 Immobilisation 233 – HWS 385 Immobilisationsset 235 Immunisierung 153 Immunsystem 56 Impfempfehlung 153 Impfung 153 Impulskontrolle 25 Indikation 105 Infektiologie 146 Infektion 146 Infektionskategorie 161 Infektionskette 149 Infektionskrankheit 147, 150 Infektionsprophylaxe 152 Infektionsquelle 149 Infektionsrettungstransportwagen 161 Infektionsschutzgesetz (IfSG) 152 Infektionstransport 161 – Desinfektion 157 Influenza 151

Infusionslösung – kolloidale 139 – kristalloide 137 Inhalationstrauma 399 Initialschrei 418 Injektionsanästhetikum 126 Inkubationszeit 147 Innenohr 102 Insektengift-Allergie 290 Insektizid, Vergiftung 519 Inselorgan 80 Insolation 407 Inspektion, Mund-Rachen-Raum 208 Inspiration 72 Instrumentendesinfektion 156 Insulin 80, 90, 353 – Mangel 353 Insult – ischämischer 428 – zerebraler 421 Intensivtransportwagen (ITW) 36 Interzellularsubstanz 51 Intoxikation 508 intranasal 113 intraossär 110 intravenös 110 Intrazellularraum 50 Intrinsic Factor 78 Intubation 212 – Alternative 215 Invagination 350 Invasion 114 Involvieren 181 Inzidenz 148 IPPAF-Schema 195 Ipratropiumbromid 135 Iris 101 I-RTW (Infektionsrettungstransportwagen) 161 Ischämie, zerebrale 428 Ischämiezeichen, EKG 203 Ischurie 494 Isokorie 462 Isopression 411 iTClamp 377 ITW (Intensivtransportwagen) 36

J Jackson-Position 214 Jejunum 79 Jochbein 93 Jugendlicher 522

K Kachexie, pulmonale 265 Kalium (K+) 85 Kalotte 93 Kalottenfraktur 381 Kalzitonin 90 Kalzium (Ca2 + ) 85 Kammer 58 Kammerflattern 308 Kammerflimmern 308 Kampf-oder-Flucht-Reaktion 20 Kapazitätsgefäß 64 Kapillare 63 Kapnografie 205 Kapnometrie 205 Kardia 78 Kardioversion 309 Karotissinussyndrom 420 Katastrophenschutz 18, 31, 537 Katecholamin 90 Kation 84 Kaudasyndrom 431 Kausalanalyse 25 Kehldeckel 70 Kehlkopf 70 Keilbein 93

Sachverzeichnis Keimdrüse 90 Keimphase 88 Kennwörter von Organisationen 44 Kind 522 – ABCDE-System 526 – Physiologie 523 Kindesmisshandlung 529 Kindeswohlgefährdung 529 Kindstod, plötzlicher 433 Kinn-Scheitel-Griff 209 Kleinhirn 99 Kleinkind 522 Klimakterium 87 Klitoris 86 Knalltrauma 458 Knie 95 Knochen 92 Knochengewebe 52 Knochenmark 56, 92 Knorpelgewebe 52 Koagulationsnekrose 401 Kochsalzlösung, isotonische 138 Kohlendioxid-Erstickung 275 Kohlendioxid-Partialdruck 75 Kohlendioxidtransport 75 Kohlenmonoxid-Intoxikation 276 Kohlenmonoxid-Warngerät 277 Kokain 447, 513 Kolikschmerz 337 Kolliquationsnekrose 401 Kolon 80 Kolonisation 147 Koma 416 – diabetisches 356 – hyperosmolares 357 – ketoazidotisches 356 Kommunikation – bei Aggressivität 172 – bei Sprachproblemen 171 – bei Vergiftung 171 – im Notfall 168 – mit alten Menschen 171 – mit Angehörigen 170 – mit Kindern 172 – mit Kollegen 170 Kommunikationsmodelle 21 Kommunikationsquadrat 21 Kompakta 92 Kompression 411 – manuelle 375 Kompressionsfraktur 384 Konjunktivitis 461 Kontagiosität 147 Kontaktinfektion 149 Kontamination 147 Kontraindikation 105 Konzeption 87 Konzessionsmodell 33 Kopfschmerz 425 Kopftieflagerung 248 Kornea 101 Koronararterie 59 Koronarsyndrom – akutes (ACS) 300 – chronisches 300 Korotkow-Geräusch 199 Körperachse/-ebene 572 Körperkerntemperatur (KKT) 91 Körperkreislauf 64 Körperoberfläche, verbrannte 399 Körperschutzform 544 Körperspannung 241 Körperverletzung 554 Koterbrechen 340 Krampfschwelle 418 Krankenfahrt 29 Krankentransport 28 – Berufsgruppe 16 Krankentransportwagen (KTW) 36 Krankheitserreger 147 – multiresistenter (MRE) 148

Kreatinin 83 Kreislauf – bei Kindern 527 – bei Übergewichtigen 534 – im Alter 531 Kreislaufkontrolle 188 Kreislaufstillstand 316 Kreislaufzentralisation 282, 286 Kreuzbein 95 Kreuzgriff 208, 414 Krise – hypertensive 310 – hypothyreote 360 – thyreotoxische 360 Krisenintervention 439 Krisenreaktion, akute 442 Krummdarm 79 Krupp-Syndrom 280 KTW (Krankentransportwagen) 36 Kumulation 106 Kündigung 558 Kunststoffsplint 237 Kurvatur 78 Kußmaul-Atmung 188 Kyphose 95

L LADME-Modell 114 Lageanomalie, Schwangerschaft 489 Lagerung – bauchdeckenentspannte 249 – bei Reanimation 322 – Herz-Kreislauf-Erkrankung 299 – nach Fritsch 476 – Reanimation, Kind 332 – Schock 288 –– hypovolämischer 289 –– kardialer 290 Lagerungsart 248 Lagerungsschwindel, gutartiger anfallsartiger 457 Lagetyp, kardialer 203 Lähmung 426 Landesrettungsdienstgesetz 567 Langerhans-Inseln 80 Längsachse 572 Lärmschwerhörigkeit, akute 458 Lärmtrauma, akutes 458 Laryngitis subglottica 280 Laryngitis supraglottica 279 Laryngoskop 213 Laryngotracheitis, stenosierende 280 Larynx 70 Larynxmaske 215 Larynxtubus 215 – Reanimation 324 Laufreserve 217 Lebendimpfstoff 153 Lebensmittelvergiftung 519 Leber 80 Leberausfallskoma 347 Lebererkrankung 346 Leberkoma 347 Leberlappen 81 Leberpforte 81 Leberruptur 392 Leberverfettung 346 Leberversagen, akutes 347 Leberzerfallskoma 347 Leberzirrhose 81, 347 Lederhaut 101, 103 Leerdarm 79 Lehrrettungswache 30 Leichenflecke 251 Leichenschau 252 Leistungsfähigkeit 167 Leitstellendisponent 30 Lendenwirbelsäule 95 Leptin 91 Letalität 148

lethal six 386 Leukozyt 53–54 Liberation 114 Lichtbogen 409 Lichtreaktion 462, 465–466 Lichtscheu 462 Lidkrampf 463 Lidocain 120 Ligand 115 Lingua 77 Linksappendizitis 345 Linksherzinsuffizienz 306 Linksseitenlagerung 476 Lipiddoppelschicht 50 Lipophilie 115 Liquorrhö 452 Livores 251 Lobärpneumonie 267 Lochien 490 Log-Roll-Manöver 232 Lokalanästhetikum 120 Longitudinalachse 572 Lorazepam 123 Lordose 95 Loslassschmerz 342 LSD 513 Luftembolie 304 Luftkammerschiene 237 Luftröhre 70 Luftröhrenschnitt 71 Lumbalgie 431 Lunge 71 – Auskultation 187 Lungenarterienembolie 303 Lungenatmung 68 Lungenbläschen 71 Lungenembolie 303 Lungenemphysem 265 Lungenentzündung 267 Lungenerkrankung, chronisch-obstruktive (COPD) 264 Lungenfell 72 Lungeninfarkt 303 Lungenkontusion 389 Lungenkreislauf 64, 67 Lungenödem 268 Lungenprellung 389 Lungenquetschung 389 Lungenversagen, akutes 267 Luxation 367 Luxationsfraktur 384 Lymphgefäße 57 Lymphknoten 57 Lymphozyt 56 Lysetherapie 141 Lysosom 51

M Macintosh-Spatel 213 MAD (Mucosal Atomization Device) 113 Magen 78 Magen-Darm-Infekt 151 Magen-Darm-Verletzung 392 Magenfundus 78 Magengeschwür 343 Magenkörper 78 Magenpförtner 78 Magensaft 78 Magenschleim 78 Magenschleimhautentzündung 343 Magenulkus 343 Magill-Tubus 212 Magill-Zange 208 Magnesium (Mg2 + ) 85 Magnesiumsulfat 135 Makrohämaturie 493 MALT (Mucosa-Associated Lymphoid Tissue) 57 Mandeln 57

Mandibula 93 Manie 449 MANV (Massenanfall von Verletzten) 536 Massenanfall von Verletzten (MANV) 536 Massenblutung 429 Mastdarm 80 Maximaldosis 106 Mediainfarkt 428 Mediastinum 72 Medizinprodukt 562 Medizinproduktebeauftragter 19 Medizinproduktebetreiberverordnung (MPBetreibV) 562 Medizinproduktegesetz (MPG) 562 Medulla oblongata 99 Mehrfachverletzung 397 Melatonin 90 Menarche 87 Meningen 100 Meningismus 424 Meningitis 432 Meningoenzephalitis 432 Menopause 87 Menschenrettung 542 Menschenwürde 555 Menstruationszyklus 87 Mesenterialinfarkt 350 Mesenterium 79 Metabolismus 115 Metamizol 121 Metaphyse 92 Meteorismus 342, 345 Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus (MRSA) 148 Metoclopramid 124 Metoprolol 132 Midazolam 123, 126 Migräne 425 Mikrobiom 147 Mikrohämaturie 493 Mikrostressor 25 Mikrothrombus 287 Mikrozirkulationsstörung 286 Miktion 494 Miller-Spatel 213 Milz 57 Milzriss 392 Milzruptur 392 MIND (minimaler Notfalldatensatz) 567 Mineralokortikoid 90 Miosis 462 Mischintoxikation 512 Miserere 340 Missbrauch 445 Mitochondrium 51 Mitralklappe 59 Mitteldruck, arterieller = MAD 198 Mittelfuß 95 Mittelgesichtsfraktur 381 Mittelhirn 99 Mittelohr 102 Mobile Radio Terminal (MRT) 42 Monitoringsystem 207 Morbidität 148 Morbus Addison 361 Morbus Alzheimer 444 Morbus Basedow 359 Morbus Crohn 345 Morbus Menière 457 Morphin 122 Mors subita infantum 433 Mortalität 148 mRNA-Impfstoff 153 MRSA (Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) 148 mSTaRT-Schema 540 Mucosa-Associated Lymphoid tissue (MALT) 57

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27

Sachverzeichnis Mundhöhle 76 Mund-Rachen-Inspektion 208 Mundspeichel 77 Mund-zu-Mund-Beatmung 323 Mund-zu-Nase-Beatmung 323 Muskelgewebe 52 Mutterkuchen 88 Mutterpass 477 Mydriasis 462 Mykose 148 Myokard 52, 59 Myokardinfarkt 300 Myokardkontusion 389 Myxödem-Koma 360

N Nabelschnurvorfall 483 N-Acetylcystein 143 Nachblutung, atonische 490 Nachgeburtsperiode 486 Nachlast 57 Nachrichtenquadrat 21 Nackensteifigkeit 424 NaCl 0,9 % 138 Nadeldekompression 390 Nadelstichverletzung 160 Nagelbettprobe 189 Naloxon 143 Narkose 124 Nase 69 Nasenbein 93 Nasenbluten 454 Nasenbrille 218 Nasennebenhöhle 69 Nasensonde 218 Nasentamponade 455 Nasopharyngealtubus 211 Natrium (Na+) 85 Natriumhydrogencarbonat 139 Nausea 340 NAW (Notarztwagen) 36 Nebenhoden 89 Nebenhodenentzündung 499 Nebenpflicht 558 Nebenschilddrüse 90 NEF (Notarzteinsatzfahrzeug) 36 Nephrolithiasis 495 Nephron 82 Nephropathie, diabetische 353 Nervenfaser 97 Nervensystem 97 – im Alter 531 Nervenzusammenbruch 442 Nervus vagus 100 Nestschutz 153 Netzhaut 101 Netzhautablösung 472 Netzhauteinriss 472 Neugeborenenikterus 526 Neugeborenes 488, 522 Neuner-Regel 399 Neurit 97 Neuron 97 Neuropathie, diabetische 353 Neurotransmitter 98 Neutralisation 509 Nexus-Kriterien 186 NFS (Notfallsanitäter) 15 Nicht-Opioid-Analgetikum 120 Niederdrucksystem 67 Niederspannungsunfall 409 Niere 82 Nierenbeckenentzündung 496 Niereninsuffizienz, akute 497 Nierenkolik 495 Nierenpforte 82 Nierenschädigung, akute 497 Nierenstein 495 Nierenversagen, akutes 497 Nifedipin 130

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Nitrat 131 Nitrendipin 130 Nitroglyzerin 131 NIV (noninvasive Ventilation) 219 Noradrenalin 90, 128 Norepinephrin 128 Normoglykämie 204 Normohydratation 502 Normopnoe 187 Normovolämie 53 Norovirus 151 nosokomial 149 Notarzt 31 – leitender (LNA) 537 Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) 36 Notarztwagen (NAW) 36 Notdienst, kassenärztlicher 31 Notfall 166 – hypertensiver 310 – im Gleisbereich 179 Notfallanamnese 182 Notfalldatensatz, minimaler (MIND) 567 Notfalllineal 523 Notfallpatient 28 Notfallrespirator 221 Notfallrettung 28 Notfallsanitäter (NFS, NotSan) 15 Notfallsonografie 207 Notgeburt 486 Notkompetenz 15 Notrettung 366 Notruf, Sprechfunk 45 NotSan (Notfallsanitäter) 15 Nottestament 560 Novaminsulfon 121 Nozizeptor 118 NSAR 121 NSTEMI (= non ST-elevation myocardial infarction) 301 Nüchternblutzucker 353 Nüchternerbrechen 426 Nukleus 50

O Oberflächendesinfektion 157 Oberflächenepithel 52 Oberflächenschmerz 337 Oberhaut 103 Oberkieferbein 93 Oberkörperhochlagerung 248 Oberschenkel 95 Obstipation 341 Ödem 296 Off-Label-Use 113 Ohnmacht 419 Ohr 102 Ohrgeräusch 453 Ohrspeicheldrüse 77 Ohrthermometer 206 Oligurie 493 Ondansetron 124 Opiat 121 – Abhängigkeit 447 – Vergiftung 513 Opioid 121 – Abhängigkeit 447 – Vergiftung 513 OPQRST-Schema 195 Optimismus, realistischer 25 Orbitafraktur 470 Organell 50 Organophosphate 519 Orientierungsstörung 437 Oropharyngealtubus 210 Orthopnoe 307 Os coccygis 95 Os coxae 95 Os ilium 95 Os ischii 95

Os pubis 95 Os sacrum 95 Osmolalität 84 Ösophagus 77 Ösophagusruptur 389 Ösophagussphinkter 77 Ösophagusvarizen 343 Östrogen 90 Otitis media 453 Otoliquorrhö 381 Ovar 87 Ovulation 87 Oxygenierung 200 – hyperbare 412 Oxytocin 90

P Pädiatrie 522 Palpitation 309 Pandemie 148 Panikattacke 443 Panikstörung 450 Pankreas 80 Pankreasverletzung 392 Pankreatitis, akute 345 Papilla Vateri 81 Paracetamol 121 – Vergiftung 513 Paralyse 426 Paraparese 384 Paraphimose 501 Parasit 148 Parasympathikus 100 Parathormon (PTH) 90 Parese 426 Parotis 77 Partialdruck 74 Passivrauchen 446 Patella 95 Pathogenität 147 Patient – adipöser 533 – geriatrischer 530 Patientenablage 537 Patientenrechtegesetz 566 Patientenverfügung 559 pAVK (periphere arterielle Verschlusskrankheit) 313 PCDA-Zyklus 564 PECH-Regel 367 PEEP (positiver endexspiratorischer Druck) 221 Peitschenschlagsyndrom 383 Pelvis 95 Pelvis renalis 83 Penis 88 Pepsinogen 78 Peptid, atriales natriuretisches (ANP) 91 Percutaneous Coronary Intervention (PCI) 302 Perforation, Hohlorgan 340 Perforationsschmerz 340 Perfusionsstörung 68 Periduralraum 100 Perikard 59 Perikardtamponade 311 – traumatische 387 Periost 92 Peritonealhöhle 81 Peritoneum 81 Peritonitis 82 Personenfehler 23 Perthes-Syndrom 389 Peyer-Plaque 57 Pfählungsverletzung 372 Pfeilachse 572 Pfortaderhochdruck 343 Pfortaderkreislauf 67 Pförtnervorraum 78

Pfötchenstellung 270 Phagozyt 56 Pharmakodynamik 115 Pharmakokinetik 114 Pharmakologie 104 Pharmakon 104 Pharyngealtubus 210 Pharynx 69 Phimose 501 Phlebothrombose 314 Phobie 450 Phosphat (PO43–) 85 Photophobie 462 Photorezeptor 101 pH-Wert 75, 85 Pia mater 100 Pilz 148 Pilzgift 516 Piritramid 122 Placenta praevia 482 Plan-Do-Check-Act-Zyklus (PCDA) 564 Plaque, atherosklerotische 300 Plasmaprotein 54 Plasmin 55 Plasmin-Inhibitor 142 Platzwunde 373 Plazenta 88 Plazentalösung – fehlende 490 – vorzeitige 482 Plegie 426 Pleura 72 Pleuraerguss 72, 267 Pneumonie 267 Pneumothorax 387 Polytoxikomanie 512 Polytrauma 397 Porta hepatis 81 Postexpositionsprophylaxe 156 Potenzialtrichter 409 PQ-Strecke 201 Präeklampsie 481 Präexpositionsprophylaxe 153 Präoxygenierung 214 Prävalenz 148 Prednisolon 136 Prednison 136 Prellschuss 373 Pressorezeptor 67 Priapismus 500 Primärharn 83 Primary Assessment 182 Primary Survey 182 PRIOR-Algorithmus 540 Progesteron 90 Propofol 126 Prostaglandin 120 Prostata 89 Protonenakzeptor 85 Protonendonator 85 Prozessqualität 563 PSA (persönliche Schutzausrüstung) 158 Pseudohalluzination 438 Pseudokrupp 280 Pseudo-Nasenbluten 454 Pseudosynkope 418 Psoas-Zeichen 345 Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) 555 Psychose, akute organische 440 Psychosyndrom, akutes organisches 440 PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) 448 PTCA (Percutaneous Transluminal Coronary Angioplasty) 302 Puffersystem 85 Pulmo 71 Pulmonalarterienembolie 303

Sachverzeichnis Pulmonalembolie 303 Pulmonalklappe 59 Puls 67 – Palpation 188 Pulsdefizit 189 Pulsoxymetrie 187, 200 Pulverinhalator 112 Punktionskanüle, Entsorgung 160 Pupillendifferenz 462 Pupillenreflex 465 Pupillenstarre, amaurotische 466 Purkinje-Faser 62 P-Welle 201 Pylorus 78 Pyramidenbahn 98 Pyramidenprozess 107

Q QRS-Komplex 201 qSOFA-Score 292 Qualitätskontrolle 563 Qualitätsmanagement 563 Qualitätsstandard 563 Querachse 572 Querlage 489 Querschnittslähmung 384 Querschnittssyndrom 385

R RA (Rettungsassistent) 15 Rachen 69 Rachentubus 210 Radioaktivität 542 Radius 95 Ramus circumflexus (RCX) 59 Ramus interventricularis anterior (RIVA) 59 Rasselgeräusch 260 Rauchen 446 Rauchgasintoxikation 399, 510 Rautek-Rettungsgriff 230 Reaktion – allergische 290 – anaphylaktische 290 Reanimation 318 – bei Kindern 329 – bei Neugeborenen 332 – bei Säuglingen 332 – erfolglose 327 Recapping 160 Recht, öffentliches 553 Rechtsgleichheit 550 Rechtsherzinsuffizienz 306 Rechtssicherheit 550 Rechtsstaat 550 Reflex, photomotorischer 466 Reflexsynkope 419 Reflux, gastroösophagealer 78 Regenbogenhaut 101 Reinigung 156 Reithosenanästhesie 431 Reizgasintoxikation 268 Reizleitung 97 Rekapillarisierungszeit 189 Reklination 209 Rekompression 412 Rektiole 112 Rektum 80 Relaisstation 43 Releasing-Hormon 90 Rendezvous-System 36 Renin 82, 91 Replantations-Set 378 Repräsentationspflicht 558 Residualkapazität, funktionelle 73 Residualvolumen 73 Resilienz 25 Retention 237 Retikulum, endoplasmatisches (ER) 51

Retina 101 Retinopathie, diabetische 353 Retroperitonealraum 81 Rettung – auf dem Eis 547 – aus Lebensgefahr 176 – aus Seenot 547 – schonende 365 – spezielle aus Höhen und Tiefen 547 Rettungsassistent (RA) 15 Rettungsdecke 249 Rettungsdienst – betrieblicher 18 – Leiter, organisatorischer 19, 537 Rettungsdienstbereich 33 Rettungsdienstgesetz 566 Rettungsfahrzeug 36 Rettungskette 39 Rettungskorsett 235 Rettungsleitstelle 30 Rettungsmittel 36 Rettungsöffnung 365 Rettungssanitäter (RS) 14 – Aufbauqualifikation 18 – Ausbildung 16 – Tätigkeit 18 Rettungstechnik 229 Rettungstod 403 Rettungstransporthubschrauber (RTH) 38 Rettungstransportwagen (RTW) 36 Rettungstuch 247 Rettungswache 30 Rettungswachenpraktikum 17 Rezeptor 115 Rezeptoraffinität 116 Rhesus-Blutgruppensystem 54 Rhinoliquorrhö 381 Ribosom 51 Rigor mortis 251 Ringknorpel 70 Rippe 95 Rippenfell 72 Rippenfraktur 387 Riss-Quetsch-Wunde 373 Risswunde 373 RIVA (Ramus interventricularis anterior) 59 Rocuronium 128 Röhrenknochen 92 ROSC (return of spontaneous circulation) 327 Rotavirus 151 Rovsing-Zeichen 345 RR 67 RS (Rettungssanitäter) 14 RS-Virus 278 RTH (Rettungstransporthubschrauber) 38 RTW (Rettungstransportwagen) 36 Rückatmung 271 Rückenlagerung 248 Rückenmark 99 – Verletzung 384 Rückenmarksnerv 99 Rückenschmerz 426 Rückwärtsversagen 306 Ruhemembranpotenzial 97 Ruhigstellungstechnik 233 Rumpf 93 Rumpfmuskulatur 96 Rußregen 472

S SAB (Subarachnoidalblutung) 430 Sachbeschädigung 554 Sagittalachse/-ebene 572 Salmonellen 151 Salpinx 87 Saluretikum 137

Salzsäure (HCl) 78 Samenleiter 89 Samenstrangtorsion 499 SAMPLER-Schema 193 Sanitätsdienst 18 Sanitätseinsatzleitung (SanEL) 537 SaO2 (arterielle O2-Sättigung) 200 SARS-CoV-2 151 Sauerstoff – Applikation 218 – Flussrate 217 – Partialdruck 75 – Sättigung 53 – Transport 75 Sauerstoffbrille 218 Sauerstoffmaske 218 Sauerstoffsättigung, arterielle (SaO2) 200 Sauerstoffsonde 218 Sauerstofftherapie 216 Säugling 522 Säuglingstod, plötzlicher 433 Säure 85 Säure-Basen-Haushalt 85 Säureverätzung 401 Schädel 93 Schädelbasisfraktur 381, 452 Schädelfraktur 381 Schädel-Hirn-Trauma 379 Schädellage 489 Schädelprellung 379 Schambein 95 Schaufeltrage 231 Schaufensterkrankheit 313 Schaukelatmung 187 Scheide 86 Scheintod 251 Scheitelbein 93 Schenkelhalsfraktur 368 Schienbein 95 Schiene 237 Schilddrüse 90 – Überfunktion 359 – Unterfunktion 360 Schildknorpel 70 Schizophrenie 449 Schläfenbein 93 Schlafmittel, Abhängigkeit 447 Schlaganfall 421 Schlagvolumen (SV) 62 Schlangengift 518 Schleimhautkontamination 160 Schleudertrauma 383, 385 Schlussdesinfektion 157 Schlüssel-Schloss-Prinzip 115 Schmelztablette 113 Schmerz, projizierter 431 Schmerzkrankheit 118 Schmerzlokalisation 340 Schmerzmittel 118 Schmerztypen 336 Schmierinfektion 149 Schnappatmung 188, 318 Schneeblindheit 471 Schnelleinsatzgruppe (SEG) 537 Schnittwunde 160, 372 Schnorcheln 411 Schnüffelposition 332, 527 Schock 282 – anaphylaktischer 283, 290 – bei Kindern 293 – distributiver 283 – hämorrhagischer 283, 289 – hypovolämischer 283, 289 – kardialer 283, 289 – kardiogener 283, 289 – neurogener 283, 293 – obstruktiver 283, 289 – psychischer 442 – septischer 283, 292 – spinaler 283, 293

Schockindex 287 Schocklagerung 248, 288 Schockspirale 287 Schockstadien 286 Schräglage 489 Schrittspannung 409 Schultergelenk 95 Schütteltrauma 381 Schutzausrüstung, persönliche (PSA) 158, 178 – CBRN-Einsatz 544 Schutzintubation 212 Schwangerschaft 88, 477 – ektope 478 Schweigepflicht 554 Schweizer-Käse-Modell 23 Schwellendosis 106 Schwerlastrettungstransportwagen (SRTW) 38 Schwindel 452, 457 Scoop and run 176 Seat-Belt-Sign 389 Sechs-F-Regel 348 Secondary Survey – bei Kindern 528 – bei Übergewichtigen 534 – im Alter 532 Sedativa – Abhängigkeit 447 – Vergiftung 513 Sedativum 123 Seenotrettung 547 Sehfähigkeit 465 Sehfeld 465 Sehne 96 Sehverlust 460 Seitenlage, stabile 210, 249 Selbsthilfe, psychologische 26 Selbstmord 441 Selbstwirksamkeitsüberzeugung 25 Sensibilitätsstörung 426 Sepsis 292 Septum 58 Shaken-Baby-Syndrom 381 Shaken-Impact-Syndrom 381 Shigellen 151 SHT (Schädel-Hirn-Trauma) 379 Sicherstellungstransport 29 Sichtung 540 SIDS (Sudden Infant Death Syndrome) 433 Sigma 80 Silberwindel 488 Sinnesepithel 52 Sinnesorgan 101 Sinus coronarius 59 Sinusbradykardie 308 Sinusknoten 61 Sinusrhythmus 62 Sinustachykardie 308 Sinusvenenthrombose 430 Sitzbein 95 Skalpierung 373 Skalpierungsverletzung 381 Skelett 92 Skelettmuskulatur 52, 92, 96 Sklera 101 Skotom 460 Skrotum, akutes 499 Sludge-Phänomen 287 Sodbrennen 78 Sofortmaßnahme 176 Sofortrettung 366 Somatostatin 90 Somatotropin 90 Somnolenz 416 Sonderrecht 561 Sonnenstich 407 Sopor 416 Sozialgesetzbuch V 566 Spannungskopfschmerz 425

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Sachverzeichnis Spannungspneumothorax 388 Spannungstrichter 409 Spannungsüberschlag 409 Spasmolytikum 119 Spätgestose 481 Spätschwangerschaft 88 – Komplikation 480 Speiche 95 Speicheldrüse 77 Speiseröhre 77 Speiseröhrenfremdkörper 78 Sperma 89 Spinalkanal 95 Spinalnerv 99 Spineboard 232 Spongiosa 92 Spontankreislauf 327 Spontanpneumothorax 388 Sprechfunkgerät 42 Spritzenphobie 450 Sprunggelenk 95 Sputum 259 S-RTW (Schwerlastrettungstransportwagen) 38 Staatsorgan 552 Standortflora 147 Status asthmaticus 262 Status epilepticus 418 Statusmeldung 46 Stay-and-play 176 Stechampulle 223 Steckschuss 373 Steißbein 95 Stellknorpel 70 STEMI (ST-elevation myocardial infarction) 301 Sterilisation 157 Sternum 95 StGB (Strafgesetzbuch) 553 Stichwunde 372 Stieldrehung 475 Stillen 488 Stirnbein 93 Störung – bipolare affektive 449 – katatone 438 – manisch-depressive 449 – psychomotorische 438 Strafgesetzbuch (StGB) 553 Strafrecht 552 Strahlenschaden 542 Strahlensyndrom, akutes 542 Strahlung – ionisierende 542 – radioaktive 542 Strangulation 383 Straßenverkehrsrecht 561 Streifschuss 373 Stress 20 – bei Notfall 167 Stressbewältigung 25, 167 Stressor 25 Stridor 260 Stroke 421 Stroke-Unit 424 Strommarke 410 Stromunfall 409 Strukturqualität 563 ST-Strecke 201, 203 Stuhlgang 340 Sturzattacke 418 Sturzgeburt 487 Stützapparat 92 Stützgewebe 52 STUVW-Schema 364 Subarachnoidalblutung 430 Subarachnoidalraum 100 Subcutis 103 Subduralhämatom 380 Subileus 350 subkutan 110

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sublingual 113 Sublingualspray 113 Submissionsmodell 33 Substanz, harnpflichtige 83 Substitutionsbehandlung 447 Succinylcholin 128 Suchterkrankung 445 Sudden Infant Death Syndrome 433 Sugammadex 128 Suizid 441 Suizidversuch 441 Superinfektion 147 Suppositorium 109 Surfactant 72 Suxamethonium 128 Sympathikus 100 Syndrom – delirantes 440 – demenzielles 444 – metabolisches 346 – radikuläres 430 Synkope 296, 419 System – endokrines 89 – kardiovaskuläres 525 –– im Alter 531 – lymphatisches 56 Systemfehler 23 Systole 60

T Tachyarrhythmie 307 Tachykardie 62, 189, 296, 307 – pulslose ventrikuläre (pVT) 308 Tachypnoe 73, 187, 256 Tactical Emergency Medical Support 545 Talk-Down 439 Tänie 79 Taskforce, medizinische 537 Tauchunfall 411 Tawara-Schenkel 62 Team Resource Management (TRM) 21 Teamarbeit, im Rettungsdienst 180 Teamkooperation 177 Teerstuhl 341 Telekommunikationsgesetz 42 Temperaturmessung 206 Temperaturregulation 91 Ten-for-Ten 23 Terminalschlaf 418 Testament 560 Testis 88 Testosteron 90 Tetraparese 384 Thalamus 99 The Deadly Dozen 386 Theodrenalin 129 Thiopental 126 Thorax 57, 60, 95 – instabiler 387 Thoraxdrainage 391 Thoraxpumpmechanismus 322 Thoraxschmerz 296 Thoraxtrauma 386 Thoraxwandfragment, loses 387 Thrombolytikum 141 Thrombose 303 Thrombozyt 53–54 Thrombozytenaggregation 55 Thrombozytenaggregationshemmer 140 Thrombus 303 Thymus 56 Thyreostatikum 360 Thyroxin (T4) 90 TIA (transitorische ischämische Attacke) 428, 460 Tibia 95

Tiefenrausch 411 Tiefenschmerz 337 Tinnitus 453 Tod, klinischer 251 Todesfeststellung 251 Todeszeichen 251 Tokolyse 484 Toleranzentwicklung 106 Toloniumchlorid 143 Tonsillektomie, Nachblutung 455 Tonsillen 57 Totalkapazität 73 Totenflecke 251 Totenschein 252 Totenstarre 251 Totimpfstoff 153 Totraumvolumen 73 Tourniquet 376 Toxidrom 510 Toxin 508 Trabekel 92 Trachea 70 – Abriss 390 Tracheostoma 71 Tracheotomie 71 Tragestuhl 246 Tragetechnik 237 Tränenträufeln 463 Tranexamsäure 142 Tranquilizer 123 Tranquillanz 123 transdermal 110 Transfusionsreaktion 54 Transport – intensivmedizinischer 28 – Übergewichtiger 535 Transporttechnik 246 Transversalachse/-ebene 572 Trauma, akustisches 458 Traumatologie 364 Traumauntersuchung, schnelle 190 TRBA (technische Regeln für biologische Arbeitsstoffe) 157 Treat first what kills first 397 Trendelenburg-Lagerung 248 Treuepflicht 558 Triage 540 Trijodthyronin (T3) 90 Trikuspidalklappe 59 TRM (Team Resource Management) 21 Trommelfellperforation 453 Truncus brachiocephalicus 67 Trunked Mode Operation (TMO) 43 Tuba auditiva 102 Tuba uterina 87 Tubargravidität 478 Tubenkatarrh 453 T-Welle 201, 203 Tympanothermometer 206 Typ-1-Diabetes 353 Typ-2-Diabetes 353

U Übelkeit 340 – Schwangerschaft 474 Überdosierung 106 Überdruckbehandlung 412 Übergabe, Notfallpatient 41 Übergangszone 542 Übergewicht 533 Überlaufinkontinenz 495 Überstrecken 209 Übertragungsweg 149 Überwässerung 501 Überzuckerung 356 Uhrglasnägel 259 Ulna 95 ultraCOMBI-STRETCHER 233 Umgang mit Patienten 169

Universalspender 54 Unterhaut 103 Unterkieferbein 93 Unterkieferspeicheldrüse 77 Unterkühlung 249, 402 – Reanimation 326 Unterleibsschmerz 475 Unterzuckerung 358 Unterzungenspeicheldrüse 77 Urämie 498 Urapidil 130 Ureter 83 Ureterolithiasis 495 Urethra 83 Urin 82 Urolithiasis 495 Urosepsis 496 Uterus 86 Uterusatonie 490 Uterusruptur 485 Uvea 101

V Vagina 86 Vakuummatratze 236 Vakuumschiene 237 Vasodilatation 63 Vasokonstriktion 63 Vasopressin 90 Vena cava 67 Vena jugularis interna 99 Vena portae hepatis 81 Vena-cava-Kompressionssyndrom 480 Vene 64 Venenthrombose, tiefe (TVT) 314 Ventilation 72 Ventilationsstörung 68 Ventilebene 59 Ventriculus 78 Ventrikel 58 Ventrikelseptumdefekt (VSD) 315 Venushügel 86 Verabreichung 105 Verapamil 132 Verätzung 401 Verband 373 Verblitzung 471 Verbrauchskoagulopathie 289 Verbrennung 398 Verbrennungskrankheit 398 Verbrühung 398 Verdauungssystem 76 – Kinder 526 Verfassungsgrundsatz 550 Vergewaltigung 477 Vergiftung 508 Vergütungspflicht 558 Verhaltenspflicht 558 Verkennung, illusionäre 438 Verletzung – Extremität 366 – tracheobronchiale 390 Verneblung 112 Vernichtungskopfschmerz 430 Vernichtungsschmerz 340 Verrenkung 367 Verschlusskrankheit, periphere arterielle (pAVK) 313 Verstauchung 366 Verstopfung 341 Verstrahlung 542 Verteilungsschock 283 Vertigo 457 Vertretungsdienst, kassenärztlicher 31 Verwirrtheitszustand 440 Vesica urinaria 83 Vestibularisausfall 457 Vestibularorgan 102

Sachverzeichnis Vier-Augen-Prinzip 107 Vier-Ohren-Modell 21 Vier-S 175 – Erste Hilfe, psychische 168 Vigilanz 416 Virchow-Trias 314 Virulenz 147 Virus 148 Virusgrippe 151 Virusinfektion 148 Visusprüfung 465 Visusverlust 460 Vita minima 251 Vitalkapazität 73 Vitamin B12 (Cobalamin) 78 Vitamin D 82 Vliestuchspendertechnik 157 vocal cord dysfunction 262 Vokal-Regel 251 Vollelektrolytlösung 138 Volumenersatztherapie 377 Volumenmangel 286 Volumenmangelschock 283, 289 Volvulus 350 Voranmeldung 41 Vorfuß 95 Vorhaut 88 Vorhof 58 Vorhofflattern 308 Vorhofflimmern 308 Vorlast 57 Vorsichtung 540 Vorsorgevollmacht 559 Vorsteherdrüse 89 Vorwärtsversagen 306 Vulva 86

W Wachstumshormon 90 Wadenbein 95 Wahn 437 Waldeyer-Rachenring 57 Wärmedecke 249 Wärmehaushalt 91 – Kinder 526 Wärmen 249 WASB-Schema 183 Wasser- und Elektrolythaushalt 83 – bei Kindern 526 – Störungen 501 Wasseraufnahme 84 Wasserausscheidung 84 Wasserbilanz 84 Wassereinlagerung 296 Wasserrettung 272 Wasserverteilung 83 Wechseljahre 87 Wechselwirkung 105 Wegerecht 561 Wehen, vorzeitige 484 Wehenhemmung 484 Wehensturm 485 Wendl-Tubus 211 Widerstandsgefäß 63 Wiederbelebung, kardiopulmonale 318 Wilson-Brustwandableitung 202 Windkesselfunktion, Aorta 63 Winkelblock 472 Wirbelkörperfraktur 384 Wirbelsäule 93 – Trauma 384 Wirkdauer 114 Wirkeintritt 114

Wirkmechanismus 105 Wirkung, paradoxe 105 Wisch-Scheuer-Methode 157 Wochenbett 490 Wochenbettdepression 490 Wochenbettpsychose 490 Wochenfluss 490 Woodbridge-Tubus 212 Wound Packing 377 Wunde 372 Wundklammer 377 Wundtamponade 377 Wundversorgung 373 – Verbrennung 400 Würgemale 383 Würgen 383 Wurmfortsatz 57, 80 Wurzelkompressionssyndrom 431

X xABCDE-Schema 186

Y Yerkes-Dodson-Gesetz 167

Z Zahn 77 Zahnbox 379 Zahnextraktion, Nachblutung 455 Zahnverletzung 379 Zäkum 80 Zäpfchen 109 Zehen 95 Zeitstress 167

Zellatmung 68 Zellkern 50 Zellmembran 50 Zellorganell 50 Zentralarterienverschluss 428 Zerbeißkapsel 113 Zerreißungsschmerz 340 Zeugnisverweigerungsrecht 555 Zielorientierung 25 Ziliarkörper 101 Zirbeldrüse 90 Zivilrecht 552 Zivilschutz 31 ZNS (zentrales Nervensystem) 98 Zunge 77 Zungenbiss 418 Zwangseinweisung 555 Zwei-Eimer-Wischmethode 157 Zwei-Helfer-Methode 320 Zwerchfell 72, 96 Zwerchfellenge 78 Zwerchfellruptur 389 Zwischenhirn 99 Zwischenrippenmuskeln 73 Zwölffingerdarm 79 Zwölffingerdarmgeschwür 343 Zwölf-Kanal-EKG 203 Zyanid 519 Zyankali 519 Zyanose 258 Zystolithiasis 495 Zytokin 56 Zytoplasma 50 Zytoskelett 50 Zytosol 50

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