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German Pages 408 Year 2018
Uwe Niedersen (Hrsg.)
Reformation in Kirche und Staat
Von den Anfängen bis zur Gegenwart
Duncker & Humblot · Berlin
Reformation in Kirche und Staat
Reformation in Kirche und Staat Von den Anfängen bis zur Gegenwart
Herausgegeben von Uwe Niedersen
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlag: Bildausschnitt (seitenverkehrt) des Gemäldes „Die Weihe der Schlosskapelle zu Torgau“ (Volker Pohlenz, 2012) Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Melanie Kater, Uwe Niedersen Umschlaggestaltung: Melanie Kater Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-428-15529-3 (Print) ISBN 978-3-428-55529-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85529-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
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Inhaltsverzeichnis Vorwort (Dr. Uwe Niedersen)
7
I. Lutherische Reformation und staatliche Macht Prof. Dr. Reiner Groß Kirche und Staat zur Reformationszeit in Sachsen – Ernestinisches Kurfürstentum Sachsen und Albertinisches Herzogtum Sachsen
9
Prof. Dr. Athina Lexutt Vom Kern der Nuss zur ganzen Frucht. Grundzüge der Theologie Martin Luthers und ihre Verankerung im Lutherischen Bekenntnis
20
Prof. Dr. Reinhold Rieger Luthers Hauptschriften von 1520 und seine Freiheitsidee
30
Prof. Dr. Klaus Berger Martin Luther und Bernhard von Clairvaux. Zisterziensische Theologie im Römerbrief Kommentar Wilhelms von Saint-Thierry
36
Dr. Hansjochen Hancke Torgau – die sächsische Stadt
42
Dr. Hansjochen Hancke Die Reformation und Torgau
45
Dr. Uwe Niedersen Kurfürstliche Residenz Torgau und Szenen der Lutherischen Reformation
53
Prof. Dr. Friedhelm Brusniak Johann Walter (1496–1570): Das „Urbild des protestantischen Kantors“ (Walter Blankenburg) und der Wandel eines musikhistorischen Mythos
63
Prof. Dr. Matthias Müller Die Gottesburg des protestantischen Fürsten. Schloss Torgau als ‚Bekenntnis-Architektur‘ Johann Friedrichs I. von Sachsen
69
Prof. Dr. Johannes Burkhardt Die Bedeutung von Reformation und Konfessionsbildung für die Geschichte der Neuzeit
84
Prof. Dr. Wolfgang Reinhard Glaube und Macht – Zwei Reiche? Auch ein Beitrag zur Luther-Dekade
91
Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen)
100
II. Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert Prof. Dr. Reiner Groß Von der Zweiten Reformation zum Westfälischen Frieden – Kursachsen zwischen Union und Liga
105
Prof. Dr. Athina Lexutt Ein Kern und mehrere Früchte – Die nachreformatorische Theologie zwischen Freiheit und Anpassung
118
4 Dr. Martin Treu Welthistorische Momente – Die Torgauer Wende vom Oktober 1530
127
Dr. Wolfgang Flügel Die Reformation als Schrittmacher der Erinnerungskultur – eine kurze Geschichte der Reformationsjubiläen
133
Prof. Dr. Rolf Decot Konfessionsstaat – Mehrkonfessionalität. Von der Religion zum Recht als Staatsgrundlage
149
Prof. Dr. Johannes Burkhardt Religion und Politik im Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden. Die deutsche und die europäische Dimension
163
Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen)
171
III. Kirche und Staat im 19. Jahrhundert Prof. Dr. Reiner Groß Staat und Kirche in Sachsen vom Posener Frieden 1806 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – ein Überblick
177
Prof. Dr. Athina Lexutt Kernobst auf dem Markt der Möglichkeiten – Das Reformatorische in den Herausforderungen des langen 19. Jahrhunderts
186
Prof. Dr. Mathias Schmoeckel Schleiermacher und Savigny: Von der „intellektuellen Anschauung“ zum historischen System (1795-1817)
197
Prof. Dr. Dieter Langewiesche Luther und die Deutschen. Wiederholungsstrukturen im deutschen Lutherbild seit dem 19. Jahrhundert
225
Prof. Dr. Olaf Blaschke Herrschaft und Konfession im 19. Jahrhundert
237
Prof. Dr. Dr. Andreas Tacke Kampf der Ziegel. Die Auswirkungen der Reformation auf den Berliner Kirchenbau um 1900
248
Prof. em. Dr. Eike Wolgast Das Wartburgfest 1817 – Reformationsgedenken und Protest gegen das Wiener System
272
Dr. Josef Ulfkotte „Ich bin mit allen Buchgläubigen immer gut durchgekommen, mit Christen, Buddhisten, Talmudisten und Islamern“ – Der Protestant Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852)
281
Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen)
296
IV. Kirche und Staat im 20. und übergehenden 21. Jahrhundert Prof. Dr. Reiner Groß Von der konstitutionellen Monarchie zur repräsentativen Demokratie – Staat und Kirche in Sachsen im 20. Jahrhundert
301
5 Prof. Dr. Athina Lexutt Kernobst statt Smoothies – Welchen Luther brauchen Kirche und Politik im 21. Jahrhundert?
308
Dr. Martin Treu Luther – der Fürstenknecht?!
318
Dr. Claus Scharf Der gesamtdeutsche Protestantismus im gespaltenen Deutschland. Staat, Gesellschaftssystem und Kirche in der DDR im Spiegel der öffentlichen Verlautbarungen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945–1961
325
Prof. Dr. Wolf Krötke Kirche und Staat in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland heute
346
Prof. Dr. Werner J. Patzelt Religion und Politik, Kirche und Staat vor neuen Herausforderungen: Zur Rückkehr von Religiosität in eine religionsfreie Gesellschaft
354
Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Konservatismus in Deutschland nach 1945 – Probleme und Perspektiven
366
Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen)
376
V. Glaube und Wissen Dr. Uwe Niedersen Glaubensfragen und Wissensfragen. Zur Koordination nichtkompatibler Bereiche
379
Autorenverzeichnis
405
7
Vorwort Jubiläen großer Ereignisse sind es, die Anlass geben, den Blick in die Vergangenheit zu richten. 2017 gibt es 500 Jahre Lutherische Reformation. Hierbei sind es Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel, die der Reformator am 31. Oktober 1517 an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben soll und die einen hinreichenden Grund darstellten, eine ganze Lutherdekade zu begehen. Am 31. Oktober 2017 war für alle deutschen Bundesländer der Reformationstag ein Feiertag. In dem vorliegenden Buch wird aufgezeigt, wie die lutherische Glaubensrichtung als eine neue Konfession Kursachsen und andere Länder in Europa beeinflusste. Weil sich das 16. Jahrhundert in seinen reformatorischen Bestrebungen besonders interessengeladen zeigte und zuhauf existenzsichernde bzw. zweckmäßige, d.h. Vorteile verschaffende Situationen anzustreben waren, kooperierten „Kirche“ und „Staat“ so einvernehmlich miteinander, dass dem ein qualitativ neues, ein die beiden Bereiche zusammenbindendes und dabei zugleich gestärkt hervorgehendes verschleiftes Gebilde erwuchs. Anzumerken ist, dass die beiden verschleiften Bereiche „Kirche“ und „Staat“ dennoch ihre unterschiedliche Wesensbestimmung durchweg bis heute beibehalten haben. Mit „Kirche“ kann kein „Staat“ organisiert und regiert werden und der „Staat“ kann die Sache und das Wesen von „Kirche“ nicht ersetzen und schon gar nicht hinreichend kompetent ausfüllen. Bei allem, was über das gemeinsame Vorgehen von Kirche und Staat ausgeführt wird, tritt uns darüber hinaus das nicht so einfach zu händelnde Begriffsgebilde „Kirche“ und „Staat“ entgegen. Fortlaufend wird im Buch die Frage beantwortet, wie die Koordination von zueinander nichtkompatiblen Bereichen, etwa „Religion“ und „Politik“ oder „Glaube“ und „Weltwissen“ (allgemein eben „Kirche und Staat“), erfolgen soll. Das ist ein Problem, das bedeutend ist, und das sich in Form von Denklinien durch die vorliegende Schrift zieht. Bei der Durchsetzung und Verbreitung der lutherischen Glaubensrichtung waren Kirche und Staat durch Bildung, Erziehung, Verwaltung und Staatsführung nicht nur gleichsam beteiligt, vielmehr wurden diese Tätigkeitsbereiche von beiden gesucht und geplant „bewirtschaftet“. Konfessionalisierung wurde zur gemeinsamen „Geschäftsgrundlage“ der neuen Kirche und des an Machtzuwachs interessierten kurfürstlichen Staates. Dieses besondere Zusammenwirken der von der Gegenständlichkeit her verschiedenen Bereiche (Kirche und Staat) führte dazu, dass der Staat
„Konfessionsstaat“ und die Kirche „Konfessionskirche“ sein wollte. Dem Förderverein Europa Begegnungen e.V., ein nach der Deutschen Einheit, 1990, gegründeter kulturhistorischer Verein, war es schon ein Anliegen, auf die Bedeutung Torgaus als politisches Zentrum der Lutherischen Reformation über historische Arbeiten und durchgeführte Tagungen, Ausstellungen, Begehungen und Publikationen aufmerksam zu machen. Der Torgauer Hansjochen Hancke hatte Anfang der 1990er-Jahre die Aussage vorgenommen: „In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war Torgau mit seinem Residenzschloss zum politischen Zentrum Sachsens und der Reformation geworden“. Die moderne Reformationsforschung geht davon aus, dass die Reformation nicht allein Luther in Wittenberg zuzuschreiben ist. Wittenberg ist das geistige und Torgau das politische Zentrum der Lutherischen Reformation. Wichtig ist bei den historischen Darlegungen über die Durchsetzung der Neuen Kirche, die politischen Aspekte mit zu berücksichtigen. Um die Lutherdekade inhaltlich bereichern zu helfen und auch um Torgau und die Reformation sowie das hiesige Kurfürstliche Residenzschloss als politisches Zentrum in den Blick zu bringen, hatte der Förderverein Europa Begegnungen e.V. 2014 die Tagungsserie „Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat“ installiert. Zur Orientierung seien folgend die Themen der Torgauer Tagungen mitgeteilt: Oktober 2014: Lutherische Reformation und staatliche Macht; Oktober 2015: Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert; Oktober 2016: Kirche und Staat im 19. Jahrhundert; Mai 2017: Kirche und Staat im 20. und übergehenden 21. Jahrhundert. Alle diese wissenschaftlichen Tagungen wurden im ehemaligen Kurfürstlichen (Ernestinischen) Residenzschloss in Torgau (Schloss Hartenfels) durchgeführt. Ausstellungen und Begehungen von Stätten in Torgau, die (verallgemeinernd) mit „Kirche und Staat“ oder „Glaube und Macht“ überschrieben werden konnten, ergänzten das jeweilige Tagungsprogramm. Eine Exkursion führte die Tagungsteilnehmer 2016 zu den Friedenskirchen nach Jauer (Jawor) und Schweidnitz (Swidnica), Polen.
8 Das vorliegende Buch beinhaltet die während der jährlichen Tagungsveranstaltungen gehaltenen Vorträge. Einige der hier mit aufgenommenen Aufsätze kamen (vor allem) aus zeitlichen Gründen nicht zum Vortrag. Zum Zwecke der Bereicherung und zur inhaltlichen Abrundung der Tagungsthematik wurden diese jedoch aufgenommen und hier abgedruckt. Die Kapitelüberschriften im Buch entsprechen den Themen der durchgeführten Tagung. Des Weiteren sei noch angemerkt, dass die Podiumsdiskussionen der Referenten und die Anfragen aus dem Auditorium, welche nach den jeweiligen Vortragsblöcken geführt wurden, über eine textliche Bearbeitung den jeweiligen Kapiteln des Buches unter der Rubrik „Diskussion“ angefügt worden sind.
Unser Dank gilt abschließend den Autoren für ihre Beiträge. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Förderverein Europa Begegnungen e.V., Melanie Kater, Gerlinde Nitschke, Thorsten Just, Klaus Fey, Ilka Meyer, Hendrik Jaenisch, Maritta Schuster sowie Gabriele Opitz (Vorsitzende des Fördervereins Europa Begegnungen e.V.) haben mit Fleiß und Einsatz die eingegangenen Abbildungen, Fotos und Manuskripte bearbeitet. Diese waren oftmals wieder neu zu ordnen und dennoch hat die „Mannschaft“ die Übersicht behalten. Allen sei hiermit Dank gesagt. Dr. phil. habil. Uwe Niedersen (Hrsg.)
9 Reiner Groß
Kirche und Staat zur Reformationszeit in Sachsen – Ernestinisches Kurfürstentum Sachsen und Albertinisches Herzogtum Sachsen Die gesellschaftliche Entwicklung in Europa ist am Ausgang des 15. und im 16. Jahrhundert nicht nur durch Humanismus und Renaissance, durch bahnbrechende Erfindungen und Entdeckungen, durch eine bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung und durch eine Staatenbildung mit der Herausbildung von Nationalstaaten und im Heiligen römischen Reich deutscher Nation von Territorialstaaten charakterisiert, sondern auch durch einen Verfall christlicher Werte, der letztlich zur Glaubensspaltung im Christentum führte. Der zuletzt genannte grundlegende Prozess, der rückwirkend als ein einschneidendes Ereignis in der Menschheitsgeschichte anzusehen ist, hatte seinen Ausgangspunkt und seinen Schwerpunkt im mitteldeutschen Raum. Dieses Territorium zwischen Werra im Westen und Schwarzer Elster im Osten, Thüringer Wald und Erzgebirge im Süden sowie Harz und Fläming im Norden war seit dem Ende des 11. Jahrhunderts zunehmend von dem Fürstengeschlecht der Wettiner herrschaftlich gestaltet worden. Das seit 1423 existierende wettinische Kurfürstentum Sachsen war 1482, als nach dem Tod des Wettiners Herzog Wilhelms III. des Tapferen auch der thüringische Landesteil an den seit 1464 regierenden Kurfürsten Ernst und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Albrecht gefallen und damit die Altenburger Teilung von 1445 wieder überwunden war, neben der Hausmacht der Habsburger der zweitgrößte Territorialstaat im Reich. Um so schmerzlicher wirkte sich die erneute Teilung der wettinischen Lande von 1485 aus. Sie sollte dauerhaft bleiben und entscheidend die politische und staatliche Situation im gesamten 16. Jahrhundert im Reich und darüber hinaus in europäischen Dimensionen beeinflussen. Deshalb muss bei einer Betrachtung der Ereignisse in dem geographischen Raum, in dem die Reformation ihren Anfang nahm, die Leipziger Teilung von 1485 am Beginn stehen. Nach vorausgegangenen Missstimmungen zwischen Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht, die seit dem Tod ihres Vaters Kurfürst Friedrich II. am 7. September 1464 gemeinsam die Verantwortung für das sächsische Kurfürstentum wahrnahmen, wurde entgegen den Festlegungen ihres Vaters am 17. Juni 1485 auf dem Landtag in Leipzig die erneute Teilung des wettinischen Territoriums beschlossen und am 11. November 1485 vollzogen (Abb. 1). Ernst, bei dem die Kurwürde und das Herzogtum Wittenberg verblieb, erhielt den thüringischen Landesteil. Der zwei Jahre jüngere Albrecht erhielt den Meißnischen Teil mit der Herzogswürde. Auf diese Weise erschienen zwei neue Territorialstaaten auf der politischen Bühne Deutschlands. Kurfürst Ernst musste Dresden verlassen und wählte neben Wei-
Abb. 1: Leipziger Teilung – Teilzettel für den Meißnischen Teil. Papierlibell mit Siegel. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. mar Torgau und zeitweise Wittenberg zu seiner Residenz. Herzog Albrecht zog von Torgau, wo er sich mit seiner Familie seit 1480 aufhielt, wieder nach Dresden, wodurch die Stadt Residenzstadt blieb. Die Herrschaften Beeskow, Storkow, Sorau und Sagan blieben ebenso wie der erzgebirgische Silberbergbau von Schneeberg und Neustädtel sowie die Schutzherrschaft über das Bistum Meißen gemeinsamer Besitz. Die bewusst herbeigeführte verzahnte Lage der beiden neuen Territorialstaaten sollte eine spätere Wiedervereinigung, die jedoch nie eintreten sollte, vereinfachen, ja ermöglichen. Nach diesem Teilungsvorgang gingen die nunmehr zwei wettinischen Staaten außen- und innenpolitisch getrennte Wege, die bald auch zu machtpolitischen Konfrontationen führen sollten. Das durch die Leipziger Teilung entstandene ernestinische Kurfürstentum Sachsen war geographisch ein schwieriges Gebilde. Es erstreckte sich von Schweikersheim bei Heldburg in Franken bis Belzig und Brück nördlich von Wittenberg in der Süd-Nord -Ausdehnung und in der West-Ost-Ausdehnung von Creutzburg an der Werra bis an die Zwickauer Mulde im Erzgebirge und östlich von Leisnig. Man hat ausgerechnet, dass dieser ernestinische Territorialstaat etwa 21780 Quadratkilometer umfasste. Dieses Territorium wurde, nachdem Kurfürst Ernst am 26. August 1486 im Alter von 46 Jahren verstorben war, von seinem ältesten Sohn Friedrich übernommen. Er war 1463 im Schloss zu Torgau geboren und regierte von Weimar, Torgau und Wittenberg aus. Ihm folgte 1525 sein jüngerer Bruder Johann und 1532 dessen Sohn Johann Friedrich der Großmütige (Abb. 2). In den sechs Jahrzehnten des Bestehens dieses ernestinischen Kurfürstentums führte das politische Handeln seiner
10 Landesherren und ihrer Räte – so u.a. Degenhart Pfeffinger, Georg Spalatin, Gregor Brück, Melchior von Osse, Erasmus von Minckwitz und Hans von Ponikau – von der engsten Anlehnung an Kaiser Maximilian I. und das Reich über die Wahlvorgänge zur Kür des deutschen Königs des Jahres 1519 letztlich zur Konfrontation mit Kaiser Karl V. (Abb. 2) in der Luthersache. Das führte zur Bündnispolitik gegen Kaiser und Reich in europäischen Dimensionen und endete im Krieg zwischen Kaiser und römisch-katholischen Reichsständen einerseits und protestantischen Reichsständen andererseits.
tinerorden für diese Professur sowie für die Lectura in biblia verantwortlich war. Nachdem Luther von Oktober 1509 bis zum Spätsommer 1511 wieder in Erfurt war, wurde er erneut nach Wittenberg versetzt, wo er dann zeitlebens blieb. Damit wurde Luther Untertan des ernestinischen Kurfürsten, der 1512 auch die Promotionskosten für ihn übernahm, nachdem Luther versichert hatte, die Lectura in biblia sein Leben lang zu halten. Nach seiner Promotion zum Doktor der Theologie wurde Luther dann am 22. Oktober 1512 ordentliches Mitglied der Theologischen Fakultät.
Abb. 2: Friedrich III. (der Weise), Johann (der Beständige) und Johann Friedrich (der Großmütige). Triptychon von Lucas Cranach d.Ä., um 1535. Öl auf Holz. Hamburger Kunsthalle. Am Ende des 15. Jahrhunderts gab es im Reich kaum ein größeres weltliches oder geistliches Territorium, das nicht über eine eigene Universität verfügte. Dort wurde der Nachwuchs für Verwaltung und Wissenschaft ausgebildet. Als die Leipziger Teilung vollzogen war, lag die bis dahin als Landesuniversität des sächsischen Kurfürstentums geltende Universität Leipzig im albertinischen Herzogtum Sachsen, wodurch das eigentlich ranghöhere ernestinische Kurfürstentum Sachsen über keine eigene Universität verfügte. Vor allem der steigende Bedarf an Juristen in der sich ausweitenden Landesverwaltung mündete bald in Bemühungen zur Errichtung einer eigenen Universität. 1502 wurde dies Wirklichkeit. Am 18. Oktober 1502 (also vor genau 512 Jahren) wurde die Wittenberger Universität feierlich eröffnet. Bereits im Semester 1502/1503 waren etwa 400 Studenten immatrikuliert. Im Herbst 1508 wurde der am 17. Juli 1505 in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten eingetretene Martin Luther in den Augustiner-EremitenKonvent Wittenberg versetzt, um die Professur für Moralphilosophie wahrzunehmen, da der Dozent Wolfgang Ostermeyer erkrankt war und der Augus-
Bald entfaltete der frischgebackene Theologieprofessor Martin Luther in seinem ersten Vorlesungszyklus über die Psalmen, der vom August 1513 bis zum Spätherbst 1515 stattfand, erste Ansätze reformatorischen Denkens. Mit diesem Wirken Luthers an der Wittenberger Universität wurde das ernestinische Kurfürstentum Sachsen zur Wiege der Reformation. Dem Vorlesungszyklus über die Psalmen folgte vom 8. April 1515 bis zum 7. September 1516 ein Kolleg über die Römerbriefe. Dabei entdeckte er für sich in Auseinandersetzung mit der scholastischen Theologie den Glauben als den gemeinschaftsbildenden Kern des Christentums. In der Scheidung von Gesetz und Evangelium kam Luther dann zu seinen Ansichten über eine prinzipielle Kirchenkritik. Nur im Glauben könne man das Heil suchen, nicht mit barem Geld oder anderen Leistungen zur Vergebung der Sünden. So begann er bereits seit Ende 1514, sich kritisch zur Ablasspraxis seiner Kirche und zur Geldgier der römischen Kurie zu äußern. In gelehrten Disputationen mit seinen Hochschulkollegen fand sich Luther bald in seinen reformatorischen Ansichten bestätigt. Von Karlstadts 151 Thesen vom April 1517 über das
11 „Geistlich edle Büchlein“ und die gedruckte deutsche Übersetzung der Bußpsalmen war es dann bis zu seinen eigenen 95 Thesen über Ablass und Gnade nur noch ein kleiner Schritt. Den letzten Anstoß dazu gab der Ablasshandel durch den Hohenzollern Erzbischof Albrecht von Magdeburg und Mainz, der mit seiner ausführlichen Instruktion für die Ablassprediger ein lukratives und umfassendes Geldgeschäft mit dem Seelenheil der Menschen ab Februar 1517 begonnen hatte. Es war vor allem das gewissenlose Ablasspredigen des aus Pirna stammenden Dominikanermönches Johann Tetzel, der 1517 in Jüterbog nahe der Grenze zum Kurfürstentum Sachsen und dessen Residenz Wittenberg den Peterskirchenablass vertrieb. Am 31. Oktober 1517 übermittelte Luther seine handschriftlich abgefassten Thesen über Ablass und Gnade dem päpstlichen Ablasskommissar Erzbischof Albrecht von Magdeburg und Mainz und seinem kirchlichen Vorgesetzten, dem Bischof von Brandenburg Hieronymus Schulze. Die weit verbreitete Version des Thesenanschlages an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg kann bis heute nicht bewiesen werden. Bewiesen aber ist der 31.Oktober 1517 durch einen eigenhändigen Vermerk Luthers auf seinem Exemplar des Leipziger Thesendruckes vom Dezember 1517, den der Leipziger Drucker Jacob Thanner hergestellt hatte (Abb. 3):
Abb. 3: Plakatdruck von Luthers 95 Thesen über Ablass und Gnade. Leipzig, Dezember 1517. Mit der handschriftlichen Notiz Luthers oben rechts.
„Anno 1517 ultimo Octobris, vigilie Omnium sanctorum, indulgentie primum inpugnata“ (Im Jahre 1517, am letzten Oktober, am Vorabend von Allerheiligen, wurden die Ablässe zum ersten Mal bekämpft). Die von Luther gewählte doppelte Datierung weist zugleich auf sein Epochenverständnis hin. Als Luther seine 95 Thesen über Ablass und Gnade niederschrieb, dachte er nicht daran, dass er kurze Zeit später als Ketzer an den Pranger gestellt werden würde. Letztlich war es ein weltgeschichtliches Ereignis, dass nicht nur die christliche Kirche, sondern auch die Staatenwelt in Europa verändern sollte. Mit Luthers Thesen beginnt das Reformationszeitalter. Sein Ende ist m.E. nicht so eindeutig bestimmbar. Endet es schon mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555, oder 1577/1580 mit Konkordienformel und Konkordienbuch oder 1591 mit dem Ende der „Zweiten Reformation“ in Kursachsen? Auch in der 2005 in zweiter Auflage erschienenen, von ausgewiesenen sächsischen Kirchen- und Landeshistorikern verfassten Publikation „Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen“ findet man keine endgültige Antwort. Die darin enthaltene „Zeittafel zur sächsischen Kirchengeschichte“ schließt die Reformation mit der Veröffentlichung des „Konkordienbuches“ am 25. Juni 1580 ab und für das albertinische Gebiet bildet das Jahr 1601 mit der Hinrichtung von Nikolaus Krell und dem Regierungsantritt von Kurfürst Christian II. den Abschluss. Ich werde meine Bemerkungen zum Reformationszeitalter in Sachsen mit dem Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 beenden. Mit Luthers Thesen hatte die antirömische Bewegung in der Kirche eine neue Qualität erlangt. Für Erfolg oder Nichterfolg dieser Bewegung wurde die Haltung des jeweiligen Landesherrn zur sich ausprägenden lutherischen Lehre wesentlich. Im Verlauf des 1518 gegen Luther eingeleiteten kanonischen Prozesses ergriff bald Kurfürst Friedrich der Weise Partei für seinen Untertan, stimmte der Disputation mit dem Ingolstädter Theologieprofessor Johann Eck im Juni / Juli 1519 in Leipzig zu, setzte dessen Anhörung auf dem Reichstag in Worms 1521 bei Kaiser Karl V. durch, verweigerte die Vollziehung des Wormser Ediktes mit der Reichsacht in den kursächsischen Landen und ließ den gebannten Luther auf der Rückreise vom Wormser Reichstag im April 1521 im Thüringer Wald „überfallen“ und unerkannt auf die Wartburg bringen. Dort hielt sich Luther als Junker Jörg bis zum Frühjahr 1522 auf. Inzwischen hatte sich die reformatorische Bewegung voll entfaltet, überschritt bald die Grenzen des kursächsischen Landesstaates und erfasste nicht nur weitere deutsche Territorialstaaten und Reichsstädte, sondern auch halb Europa. Von Wittenberg breitete sich die Reformation im ganzen ernestinischen Kurfürstentum ebenso rasch aus wie sie in den Nachbarstaaten Eingang fand. Hessen und Brandenburg gehörten ebenso dazu wie die oberdeutschen Reichsstädte Nürnberg und Augs-
12 burg. Darüber hinaus erreichte die reformatorische Zur ersten grundsätzlichen Frage: Als Luther 1522 Bewegung bald Dänemark, Schottland, die Nieder- von der Wartburg nach Wittenberg zurückgekehrt lande und das Baltikum. Es waren vor allem Au- war, dies allerdings ohne Zustimmung seines Langustinermönche und in Wittenberg von Luther und desherrn Kurfürst Friedrich den Weisen, vervollMelanchthon ausgebildete Theologen, die die re- kommnete und entwickelte er unter dem Schutz seiformatorischen Ideen verbreiteten. nes Landesherrn das reformatorische Programm. Nach dem Bauernkrieg von 1525 führten Ablehnung Er gestaltete die Liturgie nach seinen Vorstellungen oder Anerkennung der lutherischen Lehre zum Ab- weiter aus, führte die Predigt in deutscher Sprache schluss von Bündnissen weltlicher und geistlicher ein und begann eine Neuordnung der KirchenverFürsten. Diese Entwicklung hatte 1524 im Regens- fassung. Dazu gehörten auch die Errichtung neuer burger Konvent zur energischen Durchsetzung des Schulen und die Förderung des Bildungswesens Wormser Ediktes ihren Anfang genommen und war allgemein, die Festlegungen über die Verwendung von Herzog Georg, dem streng an der römischen des umfassend vorhandenen kirchlichen VermöKirche festhaltenden albertinischen Herzog von gens der Klöster, Stifte und Bistümer zum Nutzen Sachsen, im Juli 1525 mit dem Dessauer Bündnis der Gemeinden, aber auch zur Unterhaltung der zur Abwehr der reformatorischen Bewegung fortge- Kirchgebäude und der Schulen, zur Versorgung der setzt worden. Dieses Bündnis bildete für die evan- Pfarrer und Lehrer sowie zur Armenfürsorge. Zur gelischen Reichsstände den Anlass für einen eigen- Gewährleistung der letztgenannten Verpflichtung ständigen Zusammenschluss. Landgraf Philipp von wurde in vielen Gemeinden der „Gemeine Kasten“ Hessen traf als ein entschiedener Verfechter einer eingeführt. Die darin zum Ausdruck kommende Fürstenreformation am 8. November 1525 erste Neugestaltung der kirchlichen und damit auch der Absprachen mit Kurfürst Johann von Sachsen, die gesellschaftlichen Zustände vor allem nach 1525 dann am 27. Februar 1526 in Gotha zum Abschluss war dann nicht allein Luthers Werk. Daran wirkdes sogenannten Gotha-Torgauer Bündnisses führ- ten viele von Luther beeinflusste und ausgebilten. Es wurde am 2. Mai 1526 besiegelt. Die bei- dete Theologen ebenso mit wie kurfürstliche Räte, den evangelischen Fürsten bekannten zwar ihren Amtsleute und Ratsherren. Das alles vollzog sich Gehorsam gegenüber dem Kaiser, verpflichteten innerhalb eines Zeitraumes von etwa einem halben sich aber zu gegenseitiger Hilfeleistung für den Fall Jahrhundert. eines Angriffs auf ihre Territorien. Sie verabredeten Ein zentrales Anliegen Luthers und seiner Mitstreidie Erhaltung des Evangeliums in ihren Ländern ter war die Neugestaltung des Gottesdienstes als und bei all denen, die sich ihrer Einigung anschlie- der wichtigsten Form des Zusammenlebens in der ßen würden. Die danach folgenden intensiven christlichen Gemeinde. Dabei ging er sehr vorsichBemühungen von Kurfürst Johann führten dazu, tig zu Werke. Es begann mit Karlstadts Einführung dass am 12. Juni 1526 der Magdeburger Vertrag der deutschen Messe im Herbst 1521 in Wittenabgeschlossen werden konnte, mit dem die Her- berg, setzte sich über die Leisniger Kastenordnung zöge von Braunschweig-Lüneburg und von Meck- 1523 und die „Formula missae et communionis“ lenburg, der Fürst von Anhalt und die Grafen von vom Dezember 1523 für den sonntäglichen GotMansfeld dem Gotha-Torgauer Bündnis beitraten. tesdienst fort. Zwei Jahre später hatte Luther seine Wenig später traten die Stadt Magdeburg und Her- „Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts“ vollzog Albrecht von Preußen, einige Jahre später die ständig ausgearbeitet (Abb. 4). Am 29. Oktober Stadt Bremen dem Vertrag bei. Mit diesen Bündnissen deutete sich die Gruppierung der Kräfte an, die in der politischen und reformatorischen Entwicklung zum Schmalkaldischen Bund führte. Im weiteren Verlauf der Reformation wurden zwei grundsätzliche Fragen wichtig, die über Erfolg oder Misserfolg dieser Bewegung entschieden. Das war einmal die Neuordnung des kirchlichen Lebens und das war zum anderen das Verhältnis der lutherischen Lehre zum Landesstaat. Daraus ergab sich schließlich das Verhältnis der sich zum lutherischen Glauben Abb. 4: Schriften Luthers „Von Ordnung Gottesdiensts“ 1523 und bekennenden weltlichen Mächte „Deutsche Messe“ 1526. zu Kaiser und Reich.
13 1525 hielt er danach in der Wittenberger Stadtkirche erstmals den Gottesdienst ab. Zu Weihnachten 1525 wurde diese Gottesdienstordnung im ganzen Kurfürstentum Sachsen verbindlich eingeführt und im Januar 1526 im Druck veröffentlicht. Luther behielt das Grundschema der altkirchlichen Messe bei, entwickelte aber mit Predigt und Abendmahlsfeier in beiderlei Gestalt eine eigenständige Form des Gottesdienstes. In dieser neuen Form des Gottesdienstes wurde die Gemeinde mit geistlichen deutschen Liedern an den religiösen Handlungen aktiv beteiligt. Dazu schuf Luther selbst zahlreiche Lieder und Choräle, die von Johann Walther in sein 1524 erschienenes Wittenberger Chorgesangbuch aufgenommen wurden. Das wiederholte sich 1529 in dem in Wittenberg herausgegebenen Klugschen Gesangbuch „Geistliche Lieder zu Wittenberg“. Der von Luther verfasste und komponierte Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ gilt noch heute als die Marseillaise des 16. Jahrhunderts und wird immer wieder im evangelischen Gottesdienst gesungen. Schließlich wurde in Kirchenordnungen und Agenden das gesamte kirchliche Leben neu geordnet. Ein zweites grundsätzliches Anliegen Luthers bestand in der Aufrichtung und Verbesserung des Schulwesens, damit der Verbesserung der allgemeinen Volksbildung, das insgesamt zu einer Neugestaltung des Bildungswesens führte. Das Ziel war eine allgemeine Schulbildung, denn das von Luther erstrebte aktive Mitwirken der christlichen Gemeinde im Gottesdienst und das evangelische Glaubensbekenntnis waren ohne die Kenntnis der Bibel ohne die Vermittlung elementarer Lese- und Schreibkenntnisse nicht zu verwirklichen. Nur da-
durch war nach Luthers Auffassung das Glaubenserlebnis zu erreichen. Damit verbanden sich auch humanistische Bildungsziele und Anforderungen, die der Landesherr aus wirtschaftlicher Sicht und im Interesse der Konsolidierung der Landesverwaltung stellte. Dem in den ersten Jahren der reformatorischen Bewegung eingetretenen Verfall der Schulbildung trat Luther mit seiner Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“, die 1524 in Wittenberg gedruckt erschien, entgegen. Der in der Reformation gewonnene Zusammenhang von Theologie und Sprachkenntnissen, vom Humanismus geprägt, wurde nun durch ein Schulprogramm ergänzt, um das „junge Volk“ zu lehren. Als „junges Volk“ fasste Luther Knaben und Mädchen gleichermaßen auf. So entstanden Knabenund Mädchenschulen nebeneinander. Neben dem Sprachunterricht sollte vor allem Geschichte unterrichtet werden, jene Disziplin, aus der, wie Luther schrieb, wir „witzig und klug werden, was zu suchen und zu meiden sei in diesem äußerlichen Leben“. Mit der praktischen Umsetzung solcher Forderungen wurden, von Melanchthon geprägt, die Grundlagen des deutschen Bildungswesens geschaffen. Um den Pfarrern und Lehrern eine handbuchartige Zusammenfassung der evangelischen Lehre an die Hand zu geben mit dem Ziel, eine baldige Besserung der Glaubenshaltung bei allen Christen, bei der heranwachsenden Jugend und auch bei den Predigern zu erreichen, schrieb Luther ab Ende September 1528 den Großen Katechismus. Die einzelnen Teile des Katechismus (1. die zehn Gebote – 2. das Glaubensbekenntnis – 3. das Vater-
Abb. 5: Luthers „Deutscher Katechismus“. Druck. Wittenberg 1529.
14 unser – 4. das Sakrament der Taufe – 5. das Sakrament des Abendmahls – 6. das Lehrstück von der Beichte – 7. das Lehrstück vom Amt der Schlüssel) erschien im April 1529 unter dem Titel „DeutschCatechismus“ in Wittenberg (Abb. 5). Es wurde eine seiner volkstümlichsten Schriften. Es war ein Buch zur religiösen Belehrung, ein Muster und eine Anleitung zur deutschen Predigt über die Hauptstücke evangelischer christlicher Glaubenslehre. Noch im gleichen Jahr, im Mai 1529, erschien der „Kleine Katechismus“. Als Schulbuch wurde er in seiner schlichten Sprache, seiner lebendigen Gestaltung mit Bildern von Lucas Cranach d.Ä., mit seiner einprägsamen Gliederung über viele Jahrhunderte hinweg bestimmend für die religiöse und sittliche Erziehung der heranwachsenden Generationen. Beide Katechismen Luthers wurden als symbolische Bücher der lutherischen Kirche in das Konkordienbuch von 1580 aufgenommen. Zur zweiten grundsätzlichen Frage: Entscheidend für die Ausgestaltung der Reformation wurde das Verhältnis von Kirche und Landesstaat. In Ablehnung der alleinigen Verfügungsgewalt des Papstes über alle Institutionen der römisch-katholischen Kirche entstand für die lutherische evangelische Kirche das landesherrliche Kirchenregiment. Überall dort, wo die Reformation gesiegt hatte, entstand es, so im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen, in der Landgrafschaft Hessen, im Herzogtum Württemberg, im Herzogtum Mecklenburg, ab 1539 im albertinischen Herzogtum Sachsen, im Kurfürstentum Brandenburg und im Herzogtum Preußen. Der Landesherr übernahm die Verantwortung für die Kirche in seinem Territorium und begann, obrigkeitliche Rechte auf kirchlich-religiösem Gebiet auszuüben. Erstmals wurde dies bei der Durchführung von Visitationen, d.h. die Überprüfung des Zustandes der geistlichen und moralischen Qualifikation der Pfarrer sowie ihrer materiellen Sicherstellung praktiziert. Der Landesherr setzte Visitationskommissionen ein und berief dazu Theologen und Juristen. Das galt für die Anfänge des Visitationswesens im Januar 1525 im kursächsischen Amt Eisenach ebenso wie für die Visitationen von 1526 bis 1530 im ernestinischen Kurfürstentum Sachsen und für diejenigen im albertinischen Herzogtum Sachsen von 1539 und 1540. Es war Luther, der am 31. Oktober 1525 und noch einmal am 22. November 1526 seinen Landesherrn Kurfürst Johann aufforderte, Kirchen- und Schulvisitationen im ganzen Land durchführen zu lassen. Im Brief vom 22. November 1526 schrieb er u.a. an den Kurfürsten: „Da wollen die bauren schlecht nichts mehr geben, und ist solcher undank unter den leuten für das heilige gottswort, das ohn zweifel eine grosse plage furhanden ist von Gott … das sie keinen pfahrer noch prediger hetten und lebten wie die seue … Da ist kein furcht noch zucht mehr … und thun yedermann, was er nur will.“ Und weiter schrieb er im Zusammenhang mit seiner Forderung nach Schu-
len, Predigern und Pfarrherren: „Wollen die alten ja nicht, mugen sie ymer zum Teufel hinfuren. Aber wo die jugent verseumet und unerzogen bleibt, da ist die schuld der oberkeit, und wird dazu das land vol wilder, loser leute, das nicht allein Gotts gebot, sondern auch unser aller not zwingt, hieryn vleys furzuwenden.“ Die Visitationen geschahen durch ausführliches Befragen sowohl der weltlichen Amtsträger im Visitationssprengel als auch aller darin befindlichen Geistlichen, Schulmeister und Patronatsherren. Darüber wurden Protokolle geführt, die dann an den Landesherrn eingereicht wurden. So ist dem Protokoll der Visitation von 6 Gemeinden des Amtes Plauen aus dem Jahr 1529 zu entnehmen, dass von den dort tätigen 8 Pfarrern nur zwei „geschickt und gelehrt“ sowie zwei weitere „ziemlich“ befunden wurden, während vier Pfarrer „nicht sehr geschickt“ bzw. „ungelehrt“ befunden wurden. Prediger, die den Forderungen der neuen Lehre nicht entsprachen und als „papistisch“ eingeschätzt wurden, konnten entlassen werden (Abb. 6).
Abb. 6: Protokoll der für Meißen und das Vogtland eingesetzten Visitationskommission über ihre Verhandlungen im Amt Plauen. 27. Februar 1529. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Luther veranlasste schließlich Melanchthon, den „Unterricht der Visitationen an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen“ zu verfassen. Diese offizielle Anweisung erschien im März 1528 im Druck. Dazu hatte Luther eine Vorrede geschrieben, in der er begründete, warum der Landesherr allein die Macht habe, die kirchliche Ordnung aufzurichten. Das ernestinische Kurfürstentum Sachsen wurde damit zum Vorbild für alle anderen Territorien, die
15 sich zu Luthers Lehre bekannten. Im Verlauf der Visitationen wurden ab 1527 Superintendenten, d.h. aufsichtführende geistliche Amtsträger, eingesetzt, die das erste konstante Element der neuen Kirchenverfassung bildeten. Diese Entwicklung fand mit der Errichtung von Konsistorien als landesherrliche Behörden zu geistlichen Zwecken ihren Abschluss. Der Versuch des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich des Großmütigen, das Bischofsamt mit neuem Inhalt zu versehen, schlug fehl. Der am 20. Januar 1542 als evangelischer Bischof in Naumburg eingeführte Nikolaus von Amsdorf gab am 3. Dezember 1546 entnervt sein Amt auf. Aus der Reformierung des kirchlichen Lebens ergab sich die Notwendigkeit, über die Weiterverwendung des Kirchengutes zu entscheiden. Luther und seine Mitstreiter sprachen sich dafür aus, das Kirchengut für die Versorgung der Pfarrer und Kirchendiener, zur Unterhaltung der Schulen und Hospitäler, zur Zahlung von Stipendien und zur Armenfürsorge zu verwenden. Sie stimmten aber auch dem Einschmelzen der in Kirchen, Klöstern und Stiften beschlagnahmten Gold- und Silbergefäße, in denen vor allem Reliquien aufbewahrt worden waren, in den landesherrlichen Münzstätten zu. Das betraf beispielsweise das Wittenberger Heiltum, die Reliquiensammlung von Kurfürst Friedrich dem Weisen, mit über 20000 Gegenständen. Mit den dadurch gewonnenen Geldmitteln bezahlten die evangelischen Landesherren ihre Kriegsrüstung und ihre Schulden. Der geistliche Grundbesitz von Kirchen, Klöstern, Stiften und Bistümern wurde säkularisiert, d.h. verweltlicht, und von den Landesherren zur Stärkung ihres Landesstaates verwendet. Es entstanden dadurch zum Teil neue landesherrliche Amtsbezirke, deren Einkünfte dem Land zuflossen. Es entstanden aber auch durch Verkauf geistlichen Grundbesitzes an bürgerliche und adelige Räte, die im landesherrlichen Dienst standen, neue oder erweiterte Grundherrschaften. Die Verkaufserlöse flossen gleichfalls in die landesherrlichen Kassen. So gingen die Territorialstaaten und die reformierten Stadtobrigkeiten wirtschaftlich gestärkt aus der Reformation hervor. Einer derjenigen Landesherren, die sehr konsequent die Säkularisation des geistlichen Grundbesitzes betrieben, war der junge albertinische Herzog Moritz, der 1543 drei Landesschulen in ehemaligen Klöstern einrichtete und sie durch klösterlichen Grundbesitz materiell sicherstellte. Der gesamte andere geistliche Grundbesitz verfiel der Sequestration. An diese grundsätzlichen Fragen der Reformation schloss sich eine weitere wichtige Frage an, die Frage nach dem künftigen Verhältnis zu Kaiser und Papsttum. Dem Verhältnis der protestantischen Reichsstände zu Kaiser Karl V. und seinem in Wien residierenden Bruder Ferdinand, der den Kaiser bei dessen Abwesenheit vom Reich vertrat, und den bei der römischen Kirche verbliebenen Reichsständen kam besondere Bedeutung zu. Nach der
Niederschlagung des Bauernaufstandes 1525 verlangte Kaiser Karl V. von Spanien aus die strikte Durchsetzung des Wormser Ediktes. So stand auf dem Reichstag zu Speyer 1526 die Glaubensfrage im Mittelpunkt der Verhandlungen. Für die evangelischen Reichsstände erreichten Kurfürst Johann von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen einen Kompromiss. Er kam zustande, weil König Ferdinand von Österreich dringend von den Reichsständen finanzielle und militärische Hilfe zur Abwehr des Türkeneinfalls in Ungarn benötigte und Kaiser Karl V. durch seine militärische Auseinandersetzung mit König Franz I. in Italien gebunden war. So einigte man sich im Reichstagsabschied vom 27. August 1526 auf die Formel, dass zur Klärung der Glaubensfrage ein Konzil einberufen werden müsse. Bis zu einem solchen Nationalkonzil solle jeder Reichsstand mit seinen Untertanen „also leben, regieren und sich halten, wie ein jeder solches gegen Gott und kaiserliche Majestät hoffe und vertraue zu verantworten“. Diese Formulierung bildete die reichsrechtliche Grundlage für das relativ ungehinderte Fortbestehen der reformatorischen Bewegung. Das war aber nicht in allen Territorien der Fall und vor allem im albertinischen Herzogtum Sachsen nicht. Der bereits seit 1487 im Auftrag seines Vaters Albrecht die Statthalterschaft im Herzogtum
Abb. 7: Herzog Georg der Bärtige. Öl auf Holz. Lucas Cranach d.Ä., 1534. Museum der bildenden Künste Leipzig.
16 ausübende Georg hatte nach dem Tod des Vaters im September 1500 die alleinige Regierung angetreten (Abb. 7). Bis zu seinem Tod am 17. April 1539 prägte Georg, der mir Beharrlichkeit und Strenge den christlichen Glauben lebte, dabei dominiert vom Papsttum in Rom, das religiöse Leben in seinem Herzogtum. Kirchen mit zahlreichen Altären, vielen Gemälden, Wandbehängen und Reliquienbehältnissen, Reliquienverehrung, Laienbruderschaften neben den Klöstern der Franziskaner, Augustiner, Benediktiner und Dominikaner sowie Ablassgewährung und Ablasshandel prägten das Land. Gegenüber nicht zu übersehenden Missständen und Auswüchsen des kirchlichen Lebens nahm Georg selbst eine kritische Haltung ein und versuchte, die Kirche in seinem Land zu verbessern. Deshalb tolerierte er zunächst auch Luthers Thesen gegen den Ablasshandel und deren Verbreitung in seinem Land. Als Herzog Georg aber im Verlauf der Leipziger Disputation, die er aufmerksam verfolgte, die Unvereinbarkeit seiner Grundüberzeugungen mit Luthers Auffassungen feststellte, ging er bald mit energischen Maßnahmen gegen die reformatorische Bewegung vor. Immer wieder forderte er seine Amtleute und Räte zu strengem Vorgehen gegen das Eindringen reformatorischen Gedankengutes in das Herzogtum auf. Kriminaluntersuchungen, Prangerstehen und andere peinliche Strafen bis zu Landesverweisungen gehörten zu solchen drastischen Maßnahmen. Dazu kam nach 1519 ein zum Teil sehr heftiger, öffentlich in Druckschriften geführter Streit zwischen Luther auf der einen und Herzog Georg mit seinen Hoftheologen auf der anderen Seite. Ein Höhepunkt in diesen Auseinandersetzungen war die auf Betreiben Georgs 1523 erfolgende Heiligsprechung Bischof Bennos von Meißen durch Papst Hadrian VI. Nach 1525 blieb Georg fest beim katholischen Glauben und unbeirrt auf der Seite Kaiser Karls V. in dessen Ringen gegen die nun landesherrlichpolitischen Dimensionen der Reformation. Nach dem Reichstag zu Speyer kam es zu weiteren politischen Spannungen im Reich, die 1527/1528 an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung führten. Sie sind als „Pack‘sche Händel“ in die Geschichte eingegangen. Im Mai 1527 hatten König Ferdinand, Herzog Georg von Sachsen und weitere katholische Reichsfürsten in Breslau Absprachen gegen die protestantischen Reichsfürsten zur Ausrottung der „Ketzerei“ im Reich getroffen. Georgs Vizekanzler Otto von Pack offenbarte dies Landgraf Philipp von Hessen. Daraufhin leiteten der hessische Landgraf und der sächsische Kurfürst Rüstungsmaßnahmen ein. Im letzten Moment konnten Luther und Melanchthon einen Kriegsausbruch verhindern. Sie griffen mit äußerster Entschiedenheit in den Konflikt ein, indem sie Kurfürst Johann nachdrücklich ermahnten, den Frieden zu erhalten. So kam es im Sommer 1528 nicht zum Krieg zwischen den Reichsständen im Reich.
Erneut eskalierte die Situation, als Ferdinand auf dem zweiten Speyerer Reichstag 1529 die Religionsfrage doch noch einer Lösung im Sinne des Wormser Ediktes zuführen wollte. Es kam zur Protestation der lutherisch gesinnten Reichsstände gegen die Verletzung des Reichstagsabschiedes des ersten Speyerer Reichstages und damit von reichsrechtlich gültigen Festlegungen, denen 1526 mehrheitlich die Reichsstände zugestimmt hatten. Das war die Geburtsstunde des Protestantismus, die über den Augsburger Reichstag und das Augsburger Glaubensbekenntnis von 1530 zum Schmalkaldischen Bund und damit zur Glaubensspaltung der deutschen Nation führte. Mit dem Abschied des Augsburger Reichstages vom 19. November 1530 war für die Protestanten eine äußerst gefährliche Situation entstanden, da Kaiser Karl V. die Confessio Augustana für widerlegt erklärte und die gewaltsame Durchsetzung des Wormser Edikts androhte. Zum Jahresende 1530 wurden daraufhin in Schmalkalden von den protestantischen Reichsfürsten und Reichsstädten erste gemeinsame Absprachen zum Schutz ihrer Macht getroffen. Am 27. Februar 1531 wurde der zunächst auf sechs Jahre befristete Schmalkaldische Bund geschlossen. Neben Hessen und Kursachsen waren die Mitglieder des Magdeburger Bundes die vertragsschliessenden Parteien, denen eine Reihe oberdeutscher Reichsstädte beitraten. Am 26. September 1536 wurde das Bündnis um weitere zehn Jahre verlängert (Abb. 8).
Abb. 8: Vertrag über die Verlängerung des Schmalkaldischen Bundes um 10 Jahre. 29. September 1536. Urkunde, behändigte Ausfertigung. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. Dieses Bündnis zur Abwehr aller Angriffe in Glaubenssachen stellte eine Konzentration protestantischer Kräfte gegenüber Kaiser, Reich und Habsburg dar. Die politischen Beziehungen des Bundes zu Frankreich, England, Dänemark, Ungarn-Siebenbürgen und zu den bayerischen Herzögen eröffneten weitreichende Perspektiven. Die kursächsisch-ernestinische Politik gewann mit der Gründung des Schmalkaldischen Bundes für an-
17 derthalb Jahrzehnte eine die Landesgrenzen weit überschreitende Dimension. Unter dem Schutz dieses Bündnisses behauptete sich die Reformation gegenüber dem Kaiser und dehnte sich territorial weiter aus. Es war Herzog Georg, der immer wieder versuchte, ein festes Bündnis gegen den Schmalkaldischen Bund zu schmieden. Nach mehr als zweijährigen Verhandlungen unter aktiver Beteiligung von Herzog Georg kam dann ein solcher Bund zu Stande, wie er nach 1528 von Herzog Georg und König Ferdinand geleugnet worden war. Am 10. Juni 1538 wurde in Nürnberg der Bund katholischer Reichsstände zur Abwehr des Schmalkaldischen Bundes zwischen dem Kaiser, Herzog Georg, den Herzögen von Braunschweig und Bayern und den Erzbischöfen von Salzburg und Magdeburg geschlossen. Das Bündnis blieb aber praktisch wirkungslos, da ihm keiner der Kurfürsten und nur zwei geistliche Fürsten angehörten. Bis Mitte der vierziger Jahre hatte sich der protestantische Glaube so weit gefestigt und war durch die protestantischen Territorialstaaten und Reichsstädte im politischen Leben so stark im Reich verankert, dass eine Beseitigung der evangelischen Konfession mit Waffengewalt nicht mehr möglich war. Dazu hatten die systematische Ausarbeitung der evangelischen Lehre vor allem durch Luther und Melanchthon ebenso beigetragen wie die mehrfachen Religionsgespräche der Protestanten zwischen 1529 und 1541. Die reformatorische Bewegung hatte sich nämlich bald durch das Wirken von Zwingli in Zürich und Calvin in Straßburg aufgesplittert. Um der Gefahr eines drohenden Zerfalls der Protestanten in unterschiedliche Parteien zu begegnen, fand auf Initiative des hessischen Landgrafen vom 1. bis 4. Oktober 1529 im Marburger Schloss ein erstes Religionsgespräch zwischen den Wittenberger Theologen mit Luther sowie Zwingli mit dessen Anhängern statt. Es wurde versucht, die Differenzen in der Bekenntnisfrage, besonders im Abendmahl, beizulegen. Die mühsam erreichten gemeinsamen Standpunkte wurden in 15 Artikeln formuliert. Aber in der Kernfrage des Abendmahls, ob Brot und Wein Christi Leib und Blut bedeuten, so Zwingli, oder ob sie es nach Luther sind, blieb man unverglichen. Am Ende äußerte Luther zu Bucer im Beisein Zwinglis: „So reimet sich unser Geist und Euer Geist nicht zusammen, sondern ist offenbar, dass wir nicht einerlei Geist haben.“ Danach trennte sich doch noch die reformatorische Bewegung in zwei Lager, was ihre Positionen beträchtlich schwächte. Es dauerte bis Mitte der vierziger Jahre, ehe sich Kaiser Karl V. den Reichsangelegenheiten und der Zerschlagung des Schmalkaldischen Bundes zuwenden konnte. Seit Beginn der vierziger Jahre hatte er dies diplomatisch geschickt vorbereitet. Es war gelungen, einmal den Schmalkaldischen Bund zu schwächen, indem er Landgraf Philipp von Hes-
sen wegen dessen Doppelehe mit Margarete von der Sale seit 1540 unter Verzicht auf eine reichsgerichtliche Anklage wegen Bigamie zu einem Geheimvertrag zur Unterstützung der kaiserlichen Politik nötigte. Zum anderen gelang es dem Kaiser, den jungen Herzog Moritz von Sachsen mit dem Versprechen der Kurwürde auf die kaiserliche Seite zu ziehen, obwohl Moritz gemeinsam mit seinem Vater Herzog Heinrich 1537 dem Schmalkaldischen Bund beigetreten war. Das kam nicht von ungefähr. Als Moritz am 29. August 1541 die Nachfolge seines am 18. August 1541 verstorbenen Vaters Herzog Heinrich im albertinischen Herzogtum Sachsen die Regentschaft übernahm (Abb. 9), hatte der Zwanzigjährige bereits eine klare politische Zielstellung. Er wollte die Leipziger Teilung von 1485 überwinden, den wettinischen Gesamtbesitz wieder in einer Hand vereinigen und selbst Kurfürst werden. Diesem Ziel ordnete er in den nächsten Jahren all sein politisches Handeln unter. Um diese Ziele zu erreichen, brauchte er einen gut verwalteten, wirtschaftlich prosperierenden und finanziell kräftigen Landesstaat. Schon in seinen ersten Regierungsmonaten traf er dafür wichtige Entscheidungen. Dazu gehörten eine neue Münzordnug, die Erneuerung der territorialen Einteilung in Kreise als Mittelbehörden zwischen den Ämtern und den Landesbehörden so-
Abb. 9: Moritz von Sachsen als Kurfürst. Heinrich Göding, vor 1606. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister.
18 wie der Aufbau einer effektiven Bergverwaltung mit einem Oberbergamt in Freiberg. Auf seinem ersten Ausschusstag der Landstände am 18. November 1541 erklärte er in Bezug auf die geistlichen Güter die Verfügungen seines Vaters für ungültig, zog die geistlichen Güter alle ein und bestimmte selbst über deren Zukunft. Ein Teil dieser Güter wurde veräußert, ein Teil verpachtet, aber der größere Teil im Interesse des Landesherrn verwendet, u.a. auch zur territorialen Abrundung von Amtsbezirken. Darauf hatte ich schon hingewiesen. Für die bessere Organisation des landesherrlichen Kirchenregiments, im Rahmen dessen der evangelische Landesherr wirksam zu werden hatte, richtete Moritz 1543 in Leipzig und 1545 in Meißen ein Konsistorium nach dem Vorbild des ernestinischen Kurfürstentums ein. Damit hatte sich Moritz ein Instrument geschaffen, das ihm im Ringen um den Erhalt des evangelisch-lutherischen Glaubensbekenntnisses Rat, Hilfe und Halt geben konnte. In der Wurzener Fehde standen sich seit Ende März 1542 zwischen Grimma und Oschatz 12000 ernestinische und 3500 albertinische Reiter und Kriegsknechte feindlich gegenüber. Zum ersten Mal waren zwei Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes in Konfrontation geraten. Allein durch die Vermittlung von Landgraf Philipp von Hessen wurde die bewaffnete Auseinandersetzung verhindert. Nach diesen Erfahrungen suchte Moritz eine Annäherung an Kaiser und die Habsburger. Als Karl V. mit dem Frieden von Crepy am 18. September 1544 die außenpolitischen Differenzen mit Frankreich nach vier Kriegen beenden konnte und 1545 mit dem Osmanischen Reich einen fünfjährigen Waffenstillstand geschlossen hatte, konnte sich der Kaiser nunmehr dem offenen Problem der Durchsetzung des Wormser Ediktes zuwenden. Für den Kaiser war es zudem ein Erfolg, dass er auf dem Reichstag zu Regensburg am 19. Juni 1546 mit Moritz einen Vertrag über Hilfe für den Kaiser abschließen konnte. Damit waren für Karl V. die Voraussetzungen gegeben, das seit dem Wormser Reichstag 1521 offene, nur immer wieder interimistisch geregelte Verhältnis zur lutherischen Lehre und zu den protestantischen Reichsständen endgültig im Sinne der römischen Papstkirche zu lösen. Als Martin Luther am 18. Februar 1546 in Eisleben starb, stand der militärische Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Schmalkaldischen Bund unmittelbar vor dem Ausbruch. Am 20. Juli 1546 verhängte Karl V. über Kurfürst Johann Friedrich den Großmütigen und Landgraf Philipp von Hessen wegen Verweigerung des Gehorsams die Reichsacht. Der daraufhin vom Schmalkaldischen Bund überraschend nach Oberdeutschland vorgenommene militärische Vorstoß des Bundesheeres, womit der Schmalkaldische Krieg begann, blieb ohne Wirkung. Ab dem 20. Oktober 1546 drang Herzog Moritz im Bündnis mit dem Kaiser und König Ferdinand von Böhmen
in das ernestinische Kurfürstentum ein. Danach dauerten die Kampfhandlungen im ernestinischen Kurfürstentum und albertinischen Herzogtum bis in das Frühjahr 1547. Der Krieg endete, als der sächsische Kurfürst Johann Friedrich im Gefecht bei Mühlberg am 24. April 1547 in kaiserliche Gefangenschaft geriet und schließlich am 19. Mai 1547 unter Androhung der Todesstrafe die Wittenberger Kapitulation unterschrieb (Abb. 10).
Abb. 10: Wittenberger Kapitulation. Feldlager zu Wittenberg, 19. Mai 1547. Urkunde, behändigte Ausfertigung. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden. Dies war zugleich das Ende des ernestinischen Kurfürstentums Sachsen und die Begründung des auf die thüringischen Gebiete beschränkten ernestinischen Herzogtums Sachsen. Aus dem albertinischen Herzogtum Sachsen wurde das albertinische Kurfürstentum Sachsen unter Kurfürst Moritz, mit dem sich dann bald die reichsrechtliche Absicherung der Reformation verband. Am 1. Juni 1547 stellte Johann Friedrich einen förmlichen Überweisungsbrief für alle an Moritz angetretenen Gebiete aus, d.h. die Untertanen und Vasallen wurden von ihrem Eid gegenüber dem ehemaligen ernestinischen Kurfürsten entbunden. Danach erfolgte durch Kaiser Karl V. am 4. Juni 1547 vor den Toren Wittenbergs die Belehnung von Moritz mit der Kurwürde und allen ehemals ernestinischen Gebieten. Damit trat das albertinische Kurfürstentum Sachsen mit der Residenz Dresden als Zentrum der wettinischen Macht in das Licht der Öffentlichkeit. Neben der österreichisch-habsburgischen Hausmacht war damit der zweitgrößte und zweitmächtigste deutsche Territorialstaat in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden, der die Geschicke des Reiches künftig mit bestimmen sollte (Abb. 11). Auf diesem Hintergrund bestand für den neuen albertinischen Kurfürsten die wichtigste Aufgabe darin, das neu zusammengebrachte Land, auch wenn es nicht der
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Abb. 11: Karte der wettinischen Länder 1485 bis 1554. gesamte wettinische Territorialbesitz war, zu ordnen und die Anerkennung im gesamten Kurfürstentum zu erlangen. Dem diente der für den Juli 1547 nach Leipzig einberufene erste Landtag für das neugebildete Land, auf dem Moritz seine künftige Außenund Innenpolitik darlegte. Bereits wenige Tage nach dem Schluss des Leipziger Landtages erließ er am 5. April 1547 eine neue Kanzleiordnung mit der Bildung des Hofrates als neuer zentraler Verwaltungsbehörde und der Einteilung des Staatsgebietes in fünf Kreise, an deren Spitze Kreishauptleute traten. Neben der Verwaltung wurde das Gerichtswesen reformiert. Dies geschah durch die Hofgerichtsordnung vom 22. Dezember 1548. Mit einem Rundschreiben vom 9. Juli 1548 an alle Ämter und Städte wurden diese verpflichtet, alle Einkommen und Gerechtsame aufzuzeichnen und eine Abschrift davon an den Hofrat nach Dresden zu senden. Damit entstanden flächendeckend die Amtserbbücher, mit deren Hilfe eine wichtige Seite der kursächsischen Staatseinkünfte in Ordnung gebracht wurde. Moritz hatte mit der Neuordnung der drei Verwaltungsebenen einen ordentlichen Instanzenzug geschaffen, territoriale und sachliche Kompetenzen klar abgegrenzt, die Entscheidungsbefugnisse eindeutig festgelegt und für einzelne wichtige Verwaltungszweige wie das Kirchen- und Justizwesen, das Berg- und Münzwesen obere Fachbehörden geschaffen. Innerhalb von wenigen Jahren war damit der Grundstein für ein effektives Funktionieren
eines modernen Flächenstaates gelegt, auf dem dann sein jüngerer Bruder August nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod von Kurfürst Moritz am 11. Juli 1553 im Feldlager bei Peine erfolgreich weiterbauen konnte. Dabei muss ich es aus Zeitgründen bewenden lassen. Luther, der Auslöser der Reformation, erlebte weder den Kriegszug des Bundesheeres nach Oberdeutschland noch die Kriegshandlungen im Kurfürstentum und Herzogtum Sachsen, auch nicht den „Verrat“ des Albertiners Moritz am Schmalkaldischen Bund, die militärische Niederlage des Bundes im Frühjahr 1547, die Wittenberger Kapitulation und die grundlegenden territorialen Veränderungen in Mitteldeutschland mit der Entstehung des albertinischen Kurfürstentums Sachsen und des ernestinischen Herzogtums Sachsen. Über das Augsburger Interim, die Fürstenopposition und den Passauer Vertrag 1552 führte dies letztendlich 1555 zum Augsburger Religionsfrieden. Der Reichstagsabschied von Augsburg am 23. September 1555 brachte dann doch noch dem Protestantismus die abschließende Anerkennung. Das theologische Reformwerk des „Ketzers“ Luther wurde nach über vierzigjährigem Ringen von den evangelischen deutschen Landesstaaten dauerhaft gesichert. Die Reformationskirche, der die protestantischen Landesherren Schutz und Schirm gewährten, hatte sich zur Landeskirche entwickelt, ein Zustand, der bis heute Bestand hat.
20 Athina Lexutt
Vom Kern der Nuss zur ganzen Frucht Grundzüge der Theologie Martin Luthers und ihre Verankerung im Lutherischen Bekenntnis 1. Einleitung – Von der Frucht zum Kern Das Reformationsjubiläum 2017 macht’s möglich: Allerorten wird an die Reformation, an die Reformatoren und an die reformatorische Theologie gedacht, es werden Tagungen abgehalten und Ausstellungen gestaltet, die Reformationsstätten werden aufgehübscht – und der Büchermarkt wird nach dem Jubiläum um viele, viele Titel reicher sein. Gut so! Die Theologin, die als solche der historischen Perspektive nachdenkt, freut sich über dieses starke Interesse und vor allem darüber, dass dieses Interesse in der Regel weder einen historisch-musealen noch einen heroisierenden Charakter hat, sondern vielmehr danach fragt, wie dieses Jubiläum und die erinnerten Personen, Ereignisse und Inhalte heutigen Menschen helfen können, sich in einer zunehmend verwirrend-bunten Welt zu orientieren. Diese zunehmend verwirrend-bunte Welt bringt es auch mit sich, dass wir große Schwierigkeiten damit haben, Spezifisches, Originelles, Charakteristisches, Besonderes, vor allem Bewahrenswertes, Nachhaltiges, Wertvolles auszumachen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Religion, denn religiöses, gar konfessionelles Bewusstsein ist eher spärlich vorhanden, und angesichts multikultureller und multireligiöser Wirklichkeit wird dieses Bewusstsein gar nicht immer gewünscht und infolgedessen auch nicht gefördert. Umso gewichtiger ist das, was im Blick auf das 16. Jahrhundert als zentral und Marksteine setzend konstatiert und formuliert wird. Die EKD hat dies jüngst unter dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“1 versucht und sich dazu an den Exklusivpartikeln orientiert, den „sola“-, den „allein“-Formeln, die in besonderer Weise dazu prädestiniert scheinen, das Eigene und Nicht-Vergleichbare der Reformation zum Ausdruck zu bringen. Dieser Grundlagentext ist heftiger Kritik ausgesetzt.2 Man kann über die bereits bestehenden Anfragen hinaus auch die folgende an den Text richten, nämlich ob das zugegebenermaßen attraktive und aktuell immer reizvolle Stichwort der Freiheit wirklich den Kern des Reformatorischen trifft oder eine Spitze eines Kerns neben anderen ist; und ob die Exklusivpartikel wirklich dazu geeignet sind, auch heute noch, salopp formuliert, irgendeinen Hund hinter dem Ofen hervorzulocken, trotz aller (im übrigen durchaus gelungenen!) Bemühungen, sie ins 21. Jahrhundert zu transponieren. Hier soll nun ein anderer Weg gewählt werden. Kein besserer. Ein anderer. Und zwar ein solcher, der von einer Beobachtung ausgeht, die mit einem Bild beschrieben wird, das Luther selbst gebraucht hat. Da schreibt er in einem Brief, es sei ihm um die
Theologie gegangen, die „den Kern der Nuss, das Innere des Weizens und das Mark des Knochens“ erforscht.3 Luther wollte sich also nicht mit den Äußerlichkeiten und dem, was man von außen von der Theologie wahrnehmen konnte, auseinandersetzen; er wollte ans Innerste, an die Wahrheit, an das, worum es wirklich geht. Und er wollte sich daran gerne die Zähne ausbeißen, selbst der Sache auf den Grund gehen und nicht einen bequemen Nussknacker benutzen, den ihm die Tradition zur Verfügung stellte. Nun haben wir heute wieder eine Frucht, eine Nuss vor Augen, die 500 Jahre Zeit zu wachsen und zu reifen hatte. Mit viel Tradition um den Kern herum. Und Tradition bedeutet immer auch: Veränderung, Anpassung an neue Kontexte, eine andere Sprache, die manchmal auch – gewollt oder ungewollt – zu neuen Inhalten führt. Heute soll der Weg weit ins 16. Jahrhundert gegangen werden: hinter den Luther, den man meint, getrost in die Schublade des Vergessens einordnen zu können und durch moderne Ansätze ersetzen zu können; hinter den national-verzerrten Denkmal-Luther des 19. Jahrhunderts; hinter Schleiermacher; hinter Kant und die Aufklärung; und hinter das Luthertum des 17. Jahrhunderts. Und auch hinter die „Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche“, die gar nicht diesen Kern darstellen können: Von den zehn unter diesem Titel versammelten Texten sind überhaupt nur drei von Luther selbst (die beiden Katechismen und die Schmalkaldischen Artikel), die übrigen Bekenntnistexte sind jeweils vor einer ganz konkreten historischen Kontroverse entstanden und versuchten das in dieser Kontroverse jeweils festzuhalten, was sie für lutherisch hielten. Sie sind also Zeugnisse einer bestimmten Auseinandersetzung geschuldeten, geronnenen Form der Luther’schen Theologie – nicht mehr und nicht weniger. Und in solche geronnene Form gehören auch die Exklusivpartikel und die berühmte Aussage, der Rechtfertigungsartikel sei der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. Natürlich ist das alles in keiner Weise unlutherisch oder gegen die Theologie Luthers. Aber ist das Luther im Kern? 2. Der Kern Luther4 wollte den Kern aus der Nuss herausschälen. Denn er hatte den Eindruck, dass die Theologie, wie er sie in Studium und Praxis kennengelernt hatte, nicht in der Lage war, den Menschen das zu geben, was sie am dringendsten brauchten und was ihnen vor allem vom Evangelium versprochen war: Trost, Gewissheit, Freiheit. Sein eigener Kampf im Kloster sowie der gegen die Ablasspra-
21 xis hatte sich vor allem daran entzündet, dass die Heilsgewissheit auf dem Spiel stand, wenn das eigene Werk darüber entscheiden sollte, ob am Ende mit ewigem Heil oder ewiger Verdammnis gerechnet werden kann, und wenn die Buße, an deren Beginn die Erschütterung des eigenen Herzens, die Erkenntnis der Sünde steht, verdrängt wird von käuflich zu erwerbender Straffreiheit. Damit ist aber bereits das Innerste der Theologie, wie Luther sie verstand, berührt: Eine Theologie nämlich, die nicht den Menschen in seinen Sorgen, Nöten, Fragen und Anfechtungen im Blick hat, in seinen Möglichkeiten und seinen Grenzen, seinen Stärken und seinen Schwächen – das ist keine Theologie im Vollsinne des Wortes, denn die geht am biblischen Befund über das Sosein des Menschen vorbei. Was heißt und bedeutet das nun im Einzelnen? 2.1 Grundzüge der Theologie Martin Luthers Es wird gerne vergessen. Wer sich mit Luthers Theologie beschäftigt, der neigt dazu, ihn in das Korsett der Dogmatiken zu sperren, nach den Themenfeldern einer Normaldogmatik vorzugehen und Luther eine Systematik überzustülpen, die so nirgends in seinen Texten zu finden ist. Denn Luther war zweierlei zuallererst: Schriftausleger und Seelsorger. Nie hat er vergessen, woher die Theologie stammt; und nie hat er vergessen, wozu Theologie da ist. Theologie im Elfenbeinturm wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, die nicht mehr weiß, dass die Erkenntnisse dem Menschen dienen sollen, ist ebenso verkehrt wie eine sich im Aktionismus verlierende Theologie, die nicht mehr weiß, wer und was ihr Grund ist. Luther als Schriftausleger und Seelsorger wusste indes darum, dass diese beiden Aufgaben seiner eigenen irdischen Existenz zugleich das Spannungsfeld eröffnen, in dem sich Theologie zu bewegen hat: zwischen dem Wort Gottes, dessen Zeugnis die Schrift sein will, und der Lebenswirklichkeit dieser Welt, in der der Mensch weiteren Spannungen ausgesetzt ist. Diese Grundeinsicht in das (vorläufig einmal so genannte) Dialektisch-Dialogische ist der strukturelle Kern Luther’scher Theologie. Denn diese Grundstruktur wird immer wieder begegnen, in allen Bereichen seines Denkens. Der inhaltliche Kern ist damit aufs Engste verbunden. Und zwar so sehr, dass die Frage „Was war zuerst da?“ der berühmten Frage nach Henne und Ei entspräche. Es ist nicht zu klären, ob das Dialogisch-Dialektische, in das der Mensch gestellt ist, inhaltlich vorgegeben ist und von daher die Struktur bestimmt oder umgekehrt. Vielleicht geht das auch nicht anders bei einem Gott, der als trinitarischer Gott begegnet und damit Inhalt und Struktur von Dialektik und Dialog gleichermaßen vorgibt. Was bedeutet dies nun alles aber für den Menschen? Zunächst und vor allem: Das Sosein des Menschen ist wesentlich gegründet in seiner Geschöpflichkeit. Er kann sich nicht selbst machen, er
kann nicht von sich aus wollen zu sein, und dann ist er. Er ist darauf angewiesen, dass ein anderer ihn will und ihm sein Leben schenkt. Dies geschieht durch die Anrede Gottes. Gottes Anrede „Dich, Dich meine ich, Dich und keinen anderen“ macht den Angeredeten unverwechselbar und verleiht ihm seine Würde. Dadurch ist er ins Leben und zum Leben Berufener. Aber es geschieht dadurch auch eine besondere Konstituierung des Menschen, die ihn von anderen Geschöpfen unterscheidet. Durch diese Anrede nämlich ist er konstituiert zu einem Wesen, das in einem Beziehungs- und Kommunikationsgeschehen existiert – oder es ist kein Mensch. Zunächst ist damit die Beziehung zu und die Kommunikation mit Gott gemeint, die vertikale Ebene. Gott hat sich den Menschen zu seinem Gegenüber geschaffen, sie gehören zueinander. Für Gott folgt daraus, dem Menschen alles zum Leben Notwendige zur Verfügung zu stellen, ihm sein Leben zu ermöglichen und zu erhalten und in Gemeinschaft mit ihm für diese Welt zu sorgen. Der Mensch umgekehrt darf diesem Gott bedingungslos vertrauen, der nichts anderes will als sein Leben, und aus diesem Vertrauen heraus gehorcht er ihm, er tut, was er ihm aufträgt, und er lässt sein, was er ihm verbietet. Der Mensch existiert nicht für sich allein, sondern stets und überall im Verhältnis zu seinem Schöpfer, zu Gott. Als Angeredeter ist er ihm gegenüber verantwortlich, sein Leben als Ganzes ist eine Antwort auf diese Anrede. Das schließt den nächsten Schritt indes sofort mit ein. Denn das einzige Mal in der Schöpfungsgeschichte hören wir ein „nicht gut“ von Gott in dem Augenblick, als der Mensch noch allein ist (Gen 2, 18). Diesem ersten Menschen wird von Gott ein zweiter Mensch beigesellt, damit der Mensch ein unmittelbares Gegenüber hat, das ihm gleich ist. Damit ist die zweite Beziehungs- und Kommunikationsebene konstituiert: die zwischen den Geschöpfen, die horizontale. Aus der vertikalen Beziehung heraus ist der Mensch dazu angeredet, über seine Mitgeschöpfe so zu denken, mit ihnen so zu reden und so an ihnen zu handeln, dass der Lebenswille Gottes in der Welt zum Ausdruck kommt. Dazu gehört als erstes, Beziehung und Kommunikation zu pflegen; wer sich dem verweigert, hat seine Bestimmung verfehlt; ebenso derjenige, der irgendjemanden davon ausschließt. Da jedes Geschöpf Gottes Geschöpf ist, gilt Liebe und Fürsorge jedem Geschöpf, auch und gerade dem schwachen und kranken, dem hilfsbedürftigen und demjenigen, das der Gesellschaft aufgrund einer Beeinträchtigung nicht oder nicht mehr dienlich sein kann. Dieses Mitgeschöpf gilt es dann zu tragen. Der Mensch hat alles zu tun – das ist seine Bestimmung und seine Aufgabe –, dass die göttliche Ordnung in der Welt aufrechterhalten bleibt, dass Leben geschützt, gefördert, bewahrt wird. Alles, was Leben hindert, ihm schadet oder es gar zerstört, ist widergöttlich. Der kleinste Bereich, in dem dieses Miteinander gelebt
22 werden soll, ist die Ehe; der nächste die Familie. Und so ist es nur konsequent, wenn Luther beiden Bereichen einen großen Platz in seinen ethischen Überlegungen einräumt. Luther drückt diese Existenz des Menschen in zwei Beziehungsebenen durch die sogenannten Hierarchien aus5: Die vertikale Ebene nennt er ecclesia, die horizontale oikonomia. Dass diese Bezeichnungen natürlich auch für die klassische ecclesia, also die Kirche, und die klassische oikonomia, die Wirtschaft stehen, hat dann Auswirkungen auf deren Wesens- und Funktionsbestimmungen. Diesen beiden Hierarchien oder besser: Ordnungsgefügen gesellt Luther noch die politia zu, wir würden sagen: den Staat, also die Ebene, die wie die vertikale und horizontale Ebene auch von gegenseitigem Vertrauen und vom Auftrag und Erfüllen-Wollen der Lebensermöglichung bestimmt ist, was allerdings auf eine nunmehr indirekte, unpersönliche Weise geschieht. Jedenfalls resultieren daraus, dass die politia zu diesen die Welt in Ordnung haltenden Gefügen gehört, Luthers Einsichten in die Unterscheidung der beiden Regierweisen Gottes und die Aufgabenbestimmungen des weltlichen und des geistlichen Reichs. Dieser Schöpfungszustand, der in der Ordnung Gottes ein guter und heilvoller ist, wird nun gestört durch die Sünde. Ohne die schwierige Frage beantworten zu können, woher die Sünde kommt, wenn doch Gott und seine Schöpfung gut sind, steht fest, dass die Sünde in ihrer ursprünglichen und wesentlichen Gestalt meint, dass – so Luther an einer Stelle radikal – der Mensch nicht will, dass Gott Gott ist.6 Der Mensch kann es nicht ertragen, nicht sich selbst zu gehören und über sich selbst zu herrschen, er möchte sich aus der Hand Gottes befreien – e manu capere = emanzipieren – und sein eigener Herr sein. Im Moment der Gebotsübertretung, so lehrt es die Schöpfungsgeschichte, hört er nicht mehr auf Gott, weil das Vertrauen gestört ist, dass Gott mit seinem Verbot, von des Baumes Frucht zu essen, dem Menschen etwas Gutes und Lebensdienliches will. Der nächste Schritt der Sünde und der Schuld besteht dann darin, dass er diese seine Schuld nicht eingesteht, sondern sie auf einen anderen schiebt: Adam auf Eva, Eva auf die Schlange. Sünde stört also zum Ersten die Beziehung zwischen Mensch und Gott und zum Zweiten die zwischen den Geschöpfen. Die ursprüngliche Ordnung ist aufgebrochen, das, was diese Ordnung bestimmte, nämlich Vertrauen, Liebe, Gerechtigkeit, Frieden, Sorge für und um den Nächsten, Bewahrung der Lebensumstände und darin Schutz des Lebens aller Geschöpfe – all dies ist gestört, ständig gefährdet und bedroht, es muss darum gekämpft werden, es muss begründet werden und wird an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten, von unterschiedlichen Personen und Personengruppen unterschiedlich definiert. Der Mensch – zuvor dialektisch-dialogisch positiv
bestimmt durch die beiden Beziehungen zu Gott und zu den Mitgeschöpfen – muss nun erfahren, dass aus diesen Beziehungsgefügen Spannungen geworden sind, die ihn in seiner persönlichen Geschichte und die Geschichte der Menschheit stets vor neue Zerreißproben stellen. Er wird hin- und hergerissen sein zwischen Leben und Tod – wobei beide Begriffe nicht rein biologisch zu verstehen sind, sondern als Beziehung und Kommunikation (Leben) und Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit (Tod). Und wenn es um Leben und Tod geht, dann geht es auch um Liebe und Hass, Nächstenliebe und Selbstliebe, Freiheit und Gebundenheit, Freude und Trauer usw. Diese Spannungen führen zu Angst, Kummer, Ungewissheit, Trostlosigkeit. Daraus resultieren sündhafte Taten, mit denen der Mensch an sich und anderen schuldig wird. Aus dieser Spirale gibt es für den Menschen kein Entkommen. Der Mensch ist – so sagt es Luther mit Paulus – Knecht der Sünde. Er leidet unter der Spannung, in die er gestellt ist, und kann sie nicht ertragen. Das einzige Mittel, von dieser Knechtschaft frei zu werden, ist die Befreiung durch Jesus Christus. Mit Jesus Christus ändert sich diese verzweifelte Situation des Menschen fundamental. Luther verdeutlicht dies gleich mit mehreren Begriffspaaren, die erneut das Spannungsvolle, das DialektischDialogische markieren, das aber nunmehr, durch das neue Prae durch Jesu Christi Werk am Menschen, für diesen zu ertragen, auszuhalten – und zu gestalten ist. Diese Begriffspaare sind: Gesetz und Evangelium, Gerechter und Sünder, Knechtschaft und Freiheit, Person und Werk. Für alle ist gleichermaßen zu sagen: Sie sind in keiner Weise als Alternativen im Gegenüber zu verstehen, sondern als zwei Pole, in deren Mitte der Mensch gestellt ist. Sie sind nur recht zu interpretieren im unterschiedenen Beieinander, nur im Zugleich dieser ihrer Pole. Grundunterscheidung ist dabei diejenige, die das Wort Gottes bzw. das Wahrnehmen und Erfahren des Wortes Gottes betrifft: die zwischen Gesetz und Evangelium. Im Gesetz begegnet das Wort Gottes dem Menschen als forderndes: „Du sollst“. Auch dieses „Du sollst“ kann allerdings nicht ohne das „Ich bin der Herr, Dein Gott“ (Ex 20, 2; Dtn 5,6) verstanden werden. Wie stets gehen dem Auftrag an den Menschen auch in diesen gesetzlichen Formulierungen das Wesen und Wirken Gottes voraus, der Treue hält sowie wahrhaftig und daher zuverlässig ist in seinem Tun. Doch der Mensch wird diesen Zusammenhang aufgrund der Sünde nicht erkennen können und wollen und versteht das Gesetz darum in doppelter Weise falsch. Einmal erfährt er es als drückende und ihn zwingende, versklavende Macht, das ihn zu einem Tun bringen will, das er aus sich heraus nicht wirken kann; und damit verbunden wird er es dann missdeuten als Möglichkeit, sich von der Sünde zu befreien. Gerade weil er es als Befehl Gottes hört, lässt er sich von dem trüge-
23 rischen Gedanken leiten, das Gesetz zu befolgen. Das würde ihn in den Augen Gottes zu der Gerechtigkeit zurückführen, die er mit der Sünde verloren hat. In Wirklichkeit aber treibt ihn das Gesetz bzw. der Versuch, über den Weg des Gesetzes heil zu werden, immer weiter in die Sünde hinein. Anstatt Heilsgewissheit zu erlangen, verzweifelt er immer mehr, weil er nie sicher sein kann, genug geleistet zu haben. Und so entfernt er sich auf dem Gesetzesweg immer weiter von Gott, anstatt ihm näher zu kommen. Aus dieser Todesspirale kann ihn einzig und allein das Evangelium befreien. Dort erfährt der Mensch Gottes Wort als zusagendes. Das Zeugnis von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi, der als wahrer Gott und wahrer Mensch das erfüllt, was kein Mensch aufgrund der Sünde erfüllen kann, nämlich den Gehorsam, das Vertrauen in Gottes Wort bis in den Tod hinein, zeigt dem verzweifelten Menschen, woher ihm Erlösung widerfährt. Im Kreuz kulminiert dieses Geschehen, und daher ist für Luther nur der ein wahrer Theologe, der auf das Kreuz schaut.7 Auf zahlreichen Gemälden hat die Reformationszeit diese Aussage ins Bild gebracht und damit auch den Leseunkundigen verdeutlicht: Wer dem Kreuz vertraut, wer Christus vertraut, der ist heil, der ist heilig, der ist gerecht, weil ihm die Heiligkeit, die Gerechtigkeit Christi angerechnet wird, als wäre es seine eigene. Der Mensch wird niemals in dieser Weise gerecht sein können, solange diese Welt ist; aber wenn er Christus zugehört, auf ihn und seine Botschaft, sein Evangelium hört, wenn er ihn als seinen Herrn im Leben und im Sterben anerkennt, ihm glaubt, dann haben Sünde, Tod und Teufel keine Macht mehr über ihn. Damit ist die zweite Fundamentalunterscheidung angesprochen. Durch dieses Geschehen an ihm ist der Mensch gerecht und Sünder zugleich, simuliustus et peccator. Ihm ist die fremde Gerechtigkeit Christi angerechnet als eigene; er selbst indes ist weiterhin von der Sünde bedroht, Versuchungen ausgeliefert, Verführungen hingegeben. Und er wird es weiterhin nicht wollen, dass jemand, nunmehr Jesus Christus, Herr über sein Leben ist, er wird weiterhin sein eigener Herr sein wollen und vor diesem neuen Herrn, der sein Leben gerettet hat, ebenso fliehen wie vor dem, der ihn ins Leben gerufen hat. Die Sünde ist nicht fort, auch wenn sie beherrscht wird von der Gerechtigkeit Christi. In der Erfahrung des Menschen ist sie so virulent wie zuvor. Und daher hat auch das Gesetz weiterhin Bedeutung für den Menschen, wie Luther nicht müde wird, besonders den Antinomern gegenüber zu betonen: Zum einen soll das Gesetz in der Welt dafür sorgen, die Folgen der weiterhin aktiven Sünde einzudämmen (ususpoliticus); zum anderen soll es auf Christus hintreiben (ususelenchticus): Wer merkt und daran verzweifelt, dass er das Gesetz erfüllen soll, aber nicht erfüllen kann, wird sich Christus zuwenden. Für den Menschen ergibt sich daraus nun
die schwierige Aufgabe, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden und seine Existenz als simuliustus et peccator auszuhalten. Die Kunst, Gesetz und Evangelium unterscheiden zu können, ist für Luther diejenige, die den Theologen vom Nicht-Theologen unterscheidet.8 Nur derjenige, der begriffen hat, was die Funktion des Gesetzes ist, kann Erlösung erfahren, indem er demjenigen vertraut, der für ihn das Gesetz erfüllt hat. Nur der gebraucht das Gesetz so, wie es gebraucht werden soll. Und nur der hört Gottes Wort als gesetzlich und evangelisch zugleich, denn die Zusage des „Du bist gerettet“ schließt das „Du sollst, Du kannst aber nicht“ ein, nicht aus. Gottes Zusage gilt dem Schwachen und Unfähigen. In der Heidelberger Disputation spitzt Luther diese Auffassung auf unnachahmliche und klare Weise zu: Gottes Liebe entzündet sich nicht an dem, was liebenswert ist; Gottes Liebe macht das, was nicht liebenswert ist, durch diese Liebe allererst liebenswert. Das ist eine Wahrheit, die jeder Lebens- und Erfahrungswirklichkeit des Menschen so sehr widerspricht, dass er sie buchstäblich kaum glauben kann. Diese Gerechtigkeit Gottes ist so anders als der menschliche Begriff von Gerechtigkeit, dass der Mensch immer wieder misstrauisch sein wird, sein Glauben und sein Vertrauen immer wieder angefochten sein werden, seine Gewissheit immer wieder getrübt sein wird. Immer wieder wird er Gott nicht als so nah erfahren, wie der erfahren sein will, und die Sünde wird ihn infrage stellen lassen, ob das alles wirklich wahr sein kann. Insbesondere werden Erfahrungen von Verlust, Tod, Trauer, Sorge, Not, Leid in der Welt, Katastrophen, Kriege etc. ihn an Gottes Existenz und an Gottes Gerechtigkeit zweifeln lassen. Das Besondere an der Theologie, wie sie in der Schrift bezeugt wird und wie Luther sie auslegt, ist, dass all diese Fragen, Zweifel und Anfechtungen nicht verleugnet, versteckt, verdammt oder euphemistisch umbenannt werden, sondern im Gegenteil beim Namen genannt und damit ernst genommen werden, ja, vielleicht sogar erstmals in der Theologie so ihren eigenen Raum erhalten und zugelassen werden. Sie werden nicht mit einem zynischen „Es hat alles seinen Sinn“ weggewischt, sondern diese für den Menschen zu Recht so unglaublich mächtigen Momente werden aufgehoben in dem noch mächtigeren Trostwort Gottes. So wird etwa der Tod nicht als freudiges Ereignis auf dem Weg zur Seligkeit gepriesen, sondern in seiner ganzen Hässlichkeit zugelassen, der Sterbende und die Trauernden werden nicht darüber hinweg, sondern hindurch getragen. Aus diesen beiden Fundamentalunterscheidungen – Gesetz und Evangelium und gerecht und Sünder zugleich – resultiert die dritte, die Luther in seinem Freiheitstraktat ausführt: die zwischen Knechtschaft und Freiheit. Es ist unbedingt nötig, an dieser Stelle noch einmal besonders darauf hinzuweisen, dass sich hinter diesem Begriffspaar keine Alternative verbirgt, im Gegenteil: Vom Menschen ist zu sagen,
24 dass beides für ihn gilt, und zwar beides ganz und gar für den ganzen Menschen. Der Mensch, so Luther, ist zu unterscheiden in Leib und Seele, Fleisch und Geist, Innen und Außen. Diese Bezeichnungen sprechen jeweils eine Perspektive auf den Menschen an, nicht einen Teil von ihm. Er ist immer beides zugleich, er ist als ganzer Mensch Leib und Seele usw. Er kann sich nicht von einer Perspektive lossagen, befreien, sie verleugnen; er darf nicht eine Perspektive verdammen oder sich einer hingeben. Dies alles würde das Schöpfungswerk Gottes zerteilen, der den Menschen als Leib und Seele geschaffen hat. Monastische Enthaltsamkeit ist daher nach Luther genauso ein Schlag in das Gesicht, das Gott seiner Schöpfung gegeben hat, wie ein verschwenderisches Leben in Saus und Braus. Das Großartige und in der Tat Revolutionäre an dieser Sicht Luthers ist die Welt- und Leibbejahung, die daraus spricht und daraus folgen darf. Freude an gutem Essen, an gutem Trinken und auch Freude an Sexualität sind nicht weniger gut als Fasten und Ehelosigkeit – solange sich nicht mit dem einen wie dem anderen die Hoffnung verbindet, dadurch Gott wohlgefällig zu leben. Gott gegenüber gilt nämlich Freiheit; er legt dem Menschen keine neue Gefangenschaft auf durch Fastengebote, durch Gelübde (wie Luther infolge seines Freiheitstraktats über die Mönchsgelübde urteilt) o.ä., er knechtet den Menschen nicht durch ein neues Gesetz, sondern er schenkt dem Menschen die christliche Freiheit, aus der heraus er sich neu in der Liebe zum Nächsten binden kann. Denn gegenüber dem Nächsten gilt die neue Knechtschaft der Gerechtigkeit, von der Paulus in Rö 6 spricht. Dem aufs engste verknüpft ist die Unterscheidung von Person und Werk. Als Person ist der Mensch frei in seinem Glauben vor Gott. Gott gegenüber ist er in seinem Gewissen verantwortlich, das nicht in der Lage ist, den Menschen von der bösen Tat abzuhalten oder zur guten Tat anzuleiten, wohl aber, über geschehene Taten zu urteilen. Damit findet im Gewissen als Ort der Gottesbegegnung so etwas wie ein vorweggenommenes Gericht statt. In der Unterscheidung der beiden Regimente wird Luther 1523 herausheben, dass die weltliche Gewalt auf dieses Gewissen keinerlei Zugriff hat – damit hatte Luther schon in Worms seine persönliche Freiheit gegen den Versuch der weltlichen Obrigkeit begründet, ohne Schriftargumente gegen seine Glaubensüberzeugung vorzugehen. Als Person gehört der Mensch nur Christus, und zwar im Glauben. Dabei ist der Glaube (lateinisch: fides) nicht mit der Meinung (lateinisch: opinio) zu verwechseln, was in der Konsequenz bedeutet, dass sich Glaube und Vernunft keineswegs widersprechen (im heutigen Sprachgebrauch kommt es leider häufig zu diesem Missverständnis, woraus eine Degradierung des Glaubens folgt). Und der Glaube ist vor allem nicht einerseits mit einem Superwerk zu verwechseln, das alle anderen Werke in den Schatten
stellte, und andererseits nicht mit einer unvollkommenen Tugend, die erst durch die Liebe vollkommen würde (fidescaritateformata). Glaube ist vielmehr die Eröffnung der Erfahrung einer Wirklichkeit (nämlich der Zusage der Erlösung), die gilt, auch wenn nicht geglaubt würde. Diesem Glauben korrespondiert als Einladung anderer in diesen Erfahrungsraum die Liebe, das Werk, das nunmehr aber wirklich und ausschließlich dem Nächsten dient und nicht mehr von ihm die Aufmerksamkeit abzieht, weil es letztlich doch darum ginge, über das Werk die Gnade Gottes zu verdienen. Die Gnade Gottes kann durch nichts verdient werden, auch durch kein noch so gutes und selbstloses Werk der Nächstenliebe. Hierin unterscheidet sich Luther ganz und gar von der Tradition, ob sie nun scholastisch oder mystisch geprägt war, denn auch dort galt zwar, dass allein Gottes Gnade den Menschen retten kann (solagratia), doch setzt diese Gnade die bei dem Menschen durch die Sünde verschütteten Kräfte, insbesondere die Vernunft und das freie Willensvermögen, wieder so frei, dass nunmehr der Mensch in der Lage ist, sich mit seinen guten Werken auf diesem eingeschlagenen Weg der Gnade weiter zu bewegen. Das Werk versteht sich traditionell also gewissermaßen als die Antwort auf bzw. die Entsprechung zum Gnadenhandeln Gottes, und gemäß dieser Entsprechung wird im Gericht geurteilt werden. Für Luther ist die einzige Antwort auf das Gnadenhandeln Gottes indes nicht das Werk, sondern der Glaube (solafide); er ist die Entsprechung zur Rechtfertigung, allerdings wiederum nicht so, dass damit erst die Wirkung der Gnade freigesetzt würde, sondern so, dass der Mensch diese Wirkung nunmehr im Glauben erfahren kann und aus dieser Erfahrung heraus zum guten Werk kommt. Die Begründung der Ethik liegt demnach nicht darin, dass gute Werke zur Rechtfertigung oder Heiligung notwendig wären, sondern darin, dass der Nächste, das Mitgeschöpf Werke der Liebe nötig hat. Insofern ist das gute Werk also durchaus notwendig – aber nicht heilsnotwendig. Und aus dieser Begründung heraus nimmt Luther zu vielen Themen der Ethik Stellung, etwa zu Ehe und Familie, zur Bildung, zu Krieg und Frieden, zur Wirtschaft. Ohne jetzt auf diese einzelnen Bereiche eingehen zu können und zu wollen, kann für alle konstatiert werden, dass Luthers Grundstruktur des Dialektisch-Dialogischen und der doppelten Verantwortlichkeit gegenüber Gott und dem Mitgeschöpf seine Überlegungen bestimmt. Daraus – und das zu erwähnen ist doch noch ausgesprochen wichtig, weil dies meistens in einer falsch oder besser: zu kurz verstandenen Interpretation der Zwei-RegimenteLehre in den Hintergrund gerückt wird – resultiert für den Christenmenschen auch eine politische Verantwortung, in der diese Welt in Politik, Gesellschaft und Kultur gestaltet werden soll und will.
25 Eine letzte Unterscheidung, die für Luthers Theologie maßgeblich ist, sei an diesen Komplex noch angeschlossen: die zwischen Stand und Amt. Sie hängt aufs engste mit derjenigen zwischen Person und Werk zusammen. Jede Person ist in bestimmter Hinsicht Theologe, und zwar in dieser, dass Theologie das Wahrnehmen, Erfahren und Gestalten des dialektisch-dialogischen Konstituens menschlicher Existenz ist. Luther formuliert an berühmter Stelle, dass jeder, der aus der Taufe gekrochen kommt, Priester, Bischof und Papst ist.9 Jeder Mensch ist, weil er von Gott angeredet und in diesen heilsamen Zusammenhang gestellt ist, Theologe; jeder Mensch ist, so Luthers Aussage, geistlichen Standes. Nicht jeder Mensch aber wird auch einen geistlichen Beruf, ein geistliches Amt ergreifen. Versetzt nach traditionellem Verständnis die Weihe zu einem geistlichen Amt den Amtsinhaber in einen anderen Stand, nämlich den geistlichen, der ihn vom Laien unterscheidet, so unterscheidet sich nach Luthers Verständnis derjenige, der in ein geistliches Amt berufen wird, hinsichtlich dieses Berufes von anderen Menschen; der Bäcker oder Kaufmann oder Arzt ist aber genauso geistlichen Standes wie der Pfarrer. Das Werk des Pfarrers unterscheidet sich durchaus von dem des Bäckers, Kaufmanns oder Arztes. Es bringt ihn aber nicht näher zu Gott; denn in dieser Hinsicht sieht Gott die Person an, die er gerechtfertigt hat, nicht das Werk. Dass dies Auswirkungen auf das Verständnis von Kirche in ihrer sichtbaren Gestalt hat, vor allem auf die Frage, wer die Sakramente verwalten darf, das ist bis in unsere Gegenwart hinein evident. Damit wäre nun – ohne jeden Anspruch darauf, auch nur annähernd alles angesprochen zu haben – ein erster Einblick in die Grundstrukturen Luther’scher Theologie versucht. Nun soll ein ebensolcher, allerdings weit knapperer Einblick gegeben werden in den innersten Ring um diesen Kern: die lutherischen Bekenntnisschriften. 2.2 Die Bekenntnisschriften als innerster Ring um den Kern Statt „innerster Ring“ hätte hier auch gut stehen können „innerstes Ringen“. Denn was im 21. Jahrhundert natürlich noch mal um einiges schwerer ist, war auch schon im 16. Jahrhundert nicht ganz einfach, nämlich den innersten Kern – und alles drumherum – der Theologie Luthers zu erfassen. Luther war, wie eingangs gesagt, Schrifttheologe und Seelsorger. Seine Aussagen sind daher immer selbst das Ergebnis eines exegetischen Kampfes einerseits und getragen von einer seelsorgerlichen Absicht andererseits. Sie sind zu einem großen Teil ganz konkrete Antworten auf ganz konkrete Fragen in ganz konkreten Situationen. Luthers Prinzip, sich in der Theologie immer ganz und gar und stets neu von der Schrift leiten zu lassen, hätte es indes widersprochen, eine Dogmatik zu verfassen, um ein für allemal eine Luther’sche Wahrheit festzuhalten.
In der Vorrede zur Gesamtausgabe seiner deutschen Schriften 1539 schreibt Luther, es sei gar nicht so viel daran, Theologie zu treiben und solche Texte zu verfassen; jeder könne das, der sich in Gebet (oratio), intensivem Nachdenken (meditatio) und Anfechtung (tentatio) übe10 – das zu analysieren, wäre noch einmal ein eigener Punkt, aber jetzt geht es um etwas anderes. Dieses Prinzip, sich von der Schrift stets neu leiten zu lassen, hat Luther nie in einem bestimmten Sinn zum Systematiker werden lassen. Das heißt nicht, dass seine Theologie nicht systematisch wäre – aber er hat selbst weder explizit die Systematik, die seinen Überlegungen zugrunde liegt, thematisiert und erklärt noch hat er an irgendeiner Stelle geschlossen und nach einer bestimmten Struktur gliedernd alle Themen der Theologie aus seiner Sicht dargelegt. So sehr diese Vorgehensweise für Luther selbst und seine Fundamentaleinsichten stimmig ist, so sehr muss auf der anderen Seite festgehalten werden, dass dies im Alltag nur bedingt funktioniert; es braucht Orientierung und Klarheit, Eindeutigkeit und Sicherheit. Erst recht in einer Zeit, in der die neue Bewegung gefragt wurde: Wofür steht Ihr denn eigentlich? Denken wir an unsere Tage, dann können wir das gut mit neu aufkommenden Parteien vergleichen: Eine für eine bestimmte Klientel attraktive Idee reicht nicht, um in einer Welt konkurrierender Ideen und Programme zu bestehen, da muss ein eigenes Programm entworfen werden, hinter dem alle Mitglieder gleichermaßen stehen, das die Unterscheidbarkeit markiert und das in sich stimmig ist. Aus genau einer solchen Situation heraus sind die Bekenntnisschriften entstanden. Sobald aus den Gedanken eines einzelnen Mönchs aus Wittenberg eine Bewegung wurde, die weit über die Provinz hinausragte, sobald die reformatorische Sache den Hörsaal verließ und in die Gemeinden schwappte, sobald sich die weltlichen Obrigkeiten dafür zu interessieren begannen und Juristen sich daran setzten, auf diesen Gedanken fußend Kirchenordnungen zu entwerfen, mit denen der kirchliche Alltag gestaltet werden sollte – sobald dies alles eintraf, war es nötig geworden, in die Öffentlichkeit zu gehen und sich mit einem solchen Programm vorzustellen und zu empfehlen. Das Konkordienbuch von 1580 demonstriert dabei das Selbstverständnis der lutherischen Bekenntnisse aufs Trefflichste.11 Und damit ist die für heute letzte Fundamentalunterscheidung angesprochen: die zwischen normanormans und normanormata. Diese Unterscheidung zu treffen ist nötig, um die Fragen nach der Lehrautorität und der Messschnur sowie der Kriterien für theologische Urteile beantworten zu können. Luther hatte schon 1519 in der Leipziger Disputation mit Johannes Eck herausgestellt, dass sowohl der Papst als auch die Konzilien irren können; diese beiden traditionellen Institutionen fielen also als Autoritäten – jedenfalls im
26 Hinblick auf die Letztgültigkeit – weg. An ihre Stelle setzte Luther einzig und allein die Schrift. Sie, die ihre eigene Auslegerin ist, darf befragt werden und muss als Richterin über jedes menschlich-theologische Urteil hinzugezogen werden. Sie ist die normanormans, die normierende Norm, das heißt, sie allein gibt Auskunft darüber, was die Wahrheit ist, in ihr allein ist das göttliche Wort im geschriebenen Menschenwort verborgen und zu finden, sie allein ist die Richtschnur in allen Glaubensfragen. Ohne jetzt die vielfältigen Probleme anzusprechen, die sich mit diesem Prinzip verbinden, muss dabei doch eins hervorgehoben werden: Dieses Prinzip versteht sich nämlich nicht als Formalprinzip, sondern als Materialprinzip, das solascriptura (allein die Schrift) ist die hermeneutische Pointe des „allein Christus“ (solus Christus).Dem Menschen bleibt, weil er die Schrift immer mit den Augen des gerecht und Sünder zugleich liest, oft die Wahrheit, die dort klar und offen begegnet, verborgen. Auch die Auslegungen sind fehlbar, deshalb muss immer wieder neu ausgelegt werden. In der Auslegung ist zu beachten, dass die Schrift dabei beides ist: Gottes Wort und daher heiliger, unantastbarer Text, und doch Gottes Wort verborgen unter dem Menschenwort und daher wie jeder andere literarische Text auch zu behandeln. Daraus resultiert ein freier Umgang mit der Schrift. Diese Freiheit könnte nun leicht in Beliebigkeit umschlagen. Damit dies nicht geschieht, gibt es die normanormata, die normierte Norm. Damit sind solche Texte gemeint, die in Lehre und Leben der Kirche einen hohen Rang einnehmen. Denn sie wollen einerseits als ganz konkrete Zeitansagen verstanden werden, weil sie – wie Luthers Texte selbst – in ganz bestimmten Situationen entstanden sind und auf Herausforderungen reagieren. Und doch nicht nur. Sie wollen genauso demonstrieren, dass die göttliche Wahrheit sich ihren Weg zu jeder Zeit sucht und sich in zeitgebundenen Texten manifestiert. Sie erheben keinen geringeren Anspruch, als dieser göttlichen Wahrheit zu entsprechen. Solche Texte sind die Bekenntnisse, die im Konkordienwerk versammelt sind. Damit haben die Bekenntnisse zwei Funktionen: Sie wollen in einer bestimmten historischen Situation sagen, „was Sache ist“, und sie wollen eine zukünftige Marschrichtung festlegen. Darin verbergen sich sowohl ein politisches als auch ein theologisches Moment. Das politische liegt darin, nach außen zu demonstrieren, was man glaubt; ein solcher Bekenntnistext konnte dann als Diskussionsgrundlage dienen oder auch als Rechtsdokument. Das theologische liegt – wie schon in der Alten Kirche – in der Abgrenzung und Identitätsfindung. So erklärt es sich, warum im Konkordienwerk Texte unterschiedlichster Art zu finden sind. Das Augsburger Bekenntnis ist dem Genre nach etwas anderes als die Katechismen, das Apostolikum etwas anderes als die Schmalkaldischen Artikel. Am beeindruckendsten und verwunderlichsten ist die Auf-
nahme dreier Bekenntnistexte, die nicht dem aktuellen Zeitrahmen entspringen, sondern in die junge Zeit der Kirche gehören: das Apostolikum (8. Jh., allerdings unhistorisch viel früher datiert), das Nicänum (325), das Athanasium (6. Jh.). Die dahinter stehende Absicht ist evident: Was die Reformation lehrt, ist nichts Neues, schon gar nichts Ketzerisches und Anti-Kirchliches; vielmehr befindet sich die Lehre auf dem Boden der Schrift und der ihr entsprechenden Tradition – die allerdings mit dem Mittelalter abreißt und neu gefunden werden will. Die Inhalte der Texte verkündigen keine neuen Ideen, sie knüpfen an Altes und Bewährtes an und sind von daher nicht zu hinterfragen. Ob man von dort aus wird sagen können, ja vielleicht sogar müssen, dass die Bekenntnisbildung im strengen Sinn nicht abgeschlossen ist und sich zu den hier versammelten weitere gesellen können (man denke etwa an die Barmer Theologische Erklärung, die jedenfalls in manchen Ordinationsformularen einen entsprechenden Rang erworben hat), ob auch ganz andere Texte (Gedichte, Lieder zum Beispiel) in bestimmter Hinsicht als Bekenntnistexte gelten können – das ist hier nicht mehr zu erörtern. Stattdessen sei der Versuch unternommen, in einigen Thesen zu pointieren, welche Bedeutung die getroffenen Beobachtungen für die Theologie heute haben können. 3. Schluss – Vom Kern zur Frucht Luther wollte zum Kern der Nuss vordringen. Im Vorangehenden sollte durch die Nuss, die wir heute „Protestantismus“ nennen, hindurch zu diesem Kern zurückgefunden und mit dem kurzen Blick auf die Bekenntnisbildung verdeutlicht werden, wie Theologie immer nur unter historischen Bedingungen geschehen kann und darum immer wieder neu getrieben werden muss. Das, was wir heute für Wahrheit halten, muss immer wieder hinterfragt werden und bedarf solcher Formulierungen, welche den suchenden Menschen in ihrer Zeit und ihren spezifischen Fragen Orientierung und Antwort geben. Theologische Begriffe und Sätze dürfen nicht zu Floskeln werden, die schnell als inhaltsleer entlarvt werden. Umgekehrt dürfen aber nicht mit Begriffen und Sätzen die Inhalte beliebig ausgetauscht werden. Beides begegnet heute leider oft und dürfte viel dazu beitragen, dass Theologie nicht mehr verstanden und angenommen wird und so wenig Kraft entwickeln kann. Um im Bild zu bleiben: Ein Nusskern ohne wohlschmeckendes und ansehnliches Fruchtfleisch dient höchstens dazu, sich die Zähne für nichts und wieder nichts auszubeißen; umgekehrt zerfällt ein noch so appetitliches Fruchtfleisch beim ersten Biss, bei der ersten Bewährungsprobe, wenn kein Kern darin ist, der das Ganze zusammenhält. Es braucht also den Kern und die Frucht: Der Kern muss Fruchtfleisch um sich sammeln, um in der Gegenwart appetitlich zu sein und zum Hineinbeißen einzuladen; das Fruchtfleisch muss sich
27 seines Kernes bewusst sein und wird ohne ihn zu einem künstlichen und ungesunden Produkt. Dieser Kern ist nicht so sehr in den berühmten vier Exklusivpartikeln zu suchen (sola scriptura, sola gratia, sola fide, solus Christus), sondern vielmehr in dem Dialektisch-Dialogischen, das in der Schöpfung begründet ist und den Menschen als ein doppelt relationales Geschöpf konstituiert. Dieses Dialektisch-Dialogische eröffnet, wie zu sehen war, mehrere Spannungsbögen, in die der Mensch gestellt ist. An diesen Spannungsbögen sei nun entlanggegangen um zu überlegen, wie eine protestantische Theologie in Lehre und Praxis heute aufgestellt sein muss, um im Sinne der frühen Bekenntnisbildung Gottes Wort in Luther’schem Verständnis zur Geltung kommen zu lassen. Daraus ergäben sich in aller Kürze folgende Anregungen (die sich freilich nur beispielhaft verstehen): 1. Schöpfer und Geschöpf. Eine Theologie, die sich auf diese vertikale Grundstruktur menschlicher Existenz gründet, wird die Beziehung zwischen Gott und Mensch, wird Religion als etwas nicht Zufälliges, Beliebiges, sondern als etwas den Menschen wie Sprache und Geschichte Konstituierendes in den Diskurs einbringen und sich in dieser Weise als unverzichtbar verstehen und darstellen, wenn über den Menschen und die Welt nachzudenken ist. Sie wird in einer Zeit, in der die Würde des Menschen davon abhängig gemacht wird, ob dieser Mensch in der Gesellschaft funktioniert und wie wichtig ihm selbst sein Funktionieren ist (Stichwort: in Würde sterben), den Begriff der Würde aus der Anrede Gottes definieren und den Wert des Menschen an seiner Geschöpflichkeit festmachen, die bleibt, auch wenn das Funktionieren nicht mehr gewährleistet ist. Leben wird zu einem Wert an sich, und dies gilt dann für eingeschränktes, behindertes, scheiterndes Leben genauso wie für jedes andere auch. Eine solche Theologie wird alles dafür tun, das Leben zu schützen und zu fördern. 2. Geschöpf und Mitgeschöpf. Eine Theologie, die sich auf diese horizontale Grundstruktur menschlicher Existenz gründet, wird sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einsetzen, und zwar in zukunftstragender Weise. Gegen kurzfristige Lösungen wird sie auf nachhaltige setzen, um auch nachfolgenden Generationen das Leben zu erhalten, das geschenkt und anvertraut ist. Ihr Handeln wird von Liebe bestimmt sein, die nicht blind ist gegen menschliches Fehlverhalten und alles hinnimmt oder entschuldigt, sondern konstruktiv damit umzugehen sich bemüht. Sie wird Ehe und Familie schützen, ohne sich gegen neue Formen von liebevollem Zusammenleben und familiären Strukturen aus Prinzip abzuschotten. Sie wird sich vor allem um den Schutz von Kindern und Alten mühen, die keine Lobby in der Gesellschaft haben, weil sie noch nicht oder nicht mehr im oben
genannten Sinn funktionieren und oftmals eher ein logistisches Problem darstellen, als dass in ihnen eine Chance gesehen wird, und die genauso oft zum Spielball machtpolitischen Gerangels werden. Eine solche Theologie wird ihre politische, gesellschaftliche und kulturelle Aufgabe wahrnehmen und sich „einmischen“, wo immer es die Umstände erfordern. Sie wird die politische Obrigkeit unterstützen in ihrem schwierigen Amt, angefangen im Fürbittengebet, und sie wird sich ihr entgegenstellen, wenn diese Obrigkeit ihr Amt missbraucht und nicht lebensdienlich wirkt. 3. Gesetz und Evangelium. Eine Theologie, die sich auf diese doppelte Weise des Modus’ und der Wahrnehmung des Wortes Gottes gründet, wird die entlarvende Kraft des Gesetzes und die tröstende Kraft des Evangeliums gleichsam zur Gestaltung ihrer eigenen Sprache nutzen. Diese Sprache wird kein Blatt vor den Mund nehmen und die Dinge bei ihrem wirklichen Namen nennen. Dabei wird sie notwendig auch dem ein oder anderen auf die Füße treten. Und sie wird immer reden in seelsorgerlicher Absicht, den Menschen zu trösten, gewiss zu machen und zu befreien. Die Sprache ist dessen gewiss, was sie sagt – zugleich aber auch demütig vor der größeren Wahrheit des Wortes Gottes. Sie ist so klar und eindeutig wie nötig und so selbstkritisch wie möglich. Sie ist – wie Luther das nennt – assertorisch. 4. Zugleich gerecht und Sünder. Eine Theologie, die sich auf diesen innerlich erfahrbaren und äußerlich wirksamen Grundriss menschlicher Existenz in dieser Welt gründet, wird den Menschen nehmen, wie er ist, ohne es einerseits gutzuheißen, dass er ist, wie er ist, und ohne ihm andererseits die Vergebung zu verwehren, mit der Gott ihm in der Gnade bereits begegnet ist. Sie wird aus Hoffnung heraus lehren und leben und in der Gewissheit der Barmherzigkeit Gottes aushalten, was ihr begegnet. Sie wird dem Menschen Scheitern und Misslingen zugestehen und – allem voran – die Anfechtung und die Klage. Sie wird wachsam sein, wenn alle sich zufrieden über das Erreichte zurücklehnen. Sie wird die Sünde beim Namen nennen und dem auf den ersten Blick Liebensunwerten einen zweiten Blick schenken. Sie wird die Wahrheit Gottes in aller Wirklichkeit dieser Welt zu Wort kommen lassen. 5. Knechtschaft und Freiheit. Eine Theologie, die sich auf die Freiheit des Menschen und die Bindung zugleich gründet, wird helfen, die Rechtfertigung im Glauben erfahrbar zu machen, und sie wird den Menschen an seine Aufgabe in der Welt mahnen. Sie wird den schmalen Grat nicht scheuen, der zwischen Freiheit und Beliebigkeit liegt, sie wird darum ringen, was der Glaube für ein Werk fordert. Sie wird dem Menschen sagen, was sie für richtig hält, ohne einen Absolutheitsanspruch zu stellen.
28 Sie wird die göttliche Wahrheit nicht mit ihrer zur Sprache zu bringenden Meinung über die Wahrheit verwechseln. Und sie wird auch nicht den schmalen Grat scheuen, der zwischen Liebe zur Welt und Hingabe an die Welt liegt, sie wird auch darum ringen, dieser Welt mit ausgestreckter Hand entgegenzugehen, sie als den Lebensraum zu gestalten, der den Menschen geschenkt ist, sich ihr aber nicht auszuliefern. Sie wird verstehen und weitersagen, dass die im Glauben geschenkte Freiheit keine Freiheit „von“ im Sinne einer Anarchie ist, sondern eine Freiheit „in“ und „zu“. 6. Person und Werk. Eine Theologie, die sich auf die Unterscheidung dessen gründet, was vor Gott zu bringen ist, und dessen, was daraus zu folgen hat, wird zu ethischen Urteilen gelangen und ein Ethos gestalten, die in der Situation den Herausforderungen standhalten kann und darum weiß, dass sie damit schuldig werden kann. Sie weiß darum, dass die Freiheit zum Werk, von der eben die Rede war, eine Freiheit zur Schuld ist, die sie nicht um Gottes Gnade bringt, sondern zum Handeln befähigt. Sie wird dem Schuldeingeständnis einen angemessenen Raum geben – etwa im Gottesdienst –, sie wird ebenso der Hoffnung auf Vergebung einen angemessenen Raum geben, und sie, die auf Vergebung angewiesen ist, wird schließlich selbst Vergebung zusprechen in der Vollmacht des Geistes Gottes. Sie wird den Einzelnen ebenso wie die Gemeinschaft der Geheiligten an die Verantwortung erinnern und an das Gewissen mahnen; sie wird zur Buße rufen und jedem sagen, wo allein Erlösung zu finden ist. Dazu wird gottesdienstlich zum Beispiel die Feier des Abendmahls einladen oder die Tauferinnerung. 7. Stand und Amt. Eine Theologie, die sich auf das Priestertum aller Getauften gründet, wird immer wieder kenntlich machen müssen, was es heißt, dass alle Getauften in gewisser Weise Theologen und damit verantwortlich sind dafür, wie Gottes Wort in der Welt erfahrbar wird. Sie wird dem Amt die nötige Aufmerksamkeit widmen und den Vorbildcharakter derjenigen bedenken, die selbst gerecht und Sünder zugleich sind und dennoch darüber predigen und lehren sollen. Sie wird der Diskrepanz zwischen „Ehre“ und „Amt“ im Ehrenamt nachdenken müssen und den nächsten schmalen Grat zwischen theologischen Aufgaben und wirtschaftlichen Möglichkeiten gestalten. Sie wird die Kirche in ihrer äußerlichen Gestalt nicht mit dem Wesen der Kirche verwechseln und anderen christlichen Gemeinschaften nicht das Kirche-Sein absprechen. 8. Schrift und Bekenntnis. Eine Theologie, die sich keiner anderen Autorität zugehörig weiß als der Schrift bzw. des in ihr begegnenden Wortes Gottes, wird allen anderen, die für sich Autorität beanspruchen, die nötige Skepsis und Wachsamkeit ent-
gegen bringen. Sie wird sich selbst immer wieder kritisch überprüfen und ihre Überzeugungen zur Debatte stellen. Sie bleibt wandelbar, wenn neue Erkenntnisse aus dem Studium der Schrift dazu zwingen; sie bleibt standhaft, wenn anderes sie zum Wandel zwingen will. Sie wird sich bemühen um Vergegenwärtigung des Kerns der biblischen Erzählungen und der biblischen Theologie und im Bekenntnis den angemessenen, dauerhaften Ausdruck ihres Verständnisses der Schrift suchen. In einem Bekenntnis, das keines zu Luther oder einem anderen Großen der Theologie ist, sondern das zu Jesus Christus. In einem Bekenntnis, das den Kern der Nuss sucht und die Frucht dieses Kerns sein will. Literatur 1
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Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014. Prominent verdeutlicht dies der Streit zwischen Heinz Schilling und Thomas Kaufmann auf der einen und Christoph Markschies auf der anderen Seite, der in der Zeitung „Die Welt“ geführt wurde [Schilling / Kaufmann am 24.5.2014 (vgl. http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article128360988/Luther-Ideologie.html, aufgerufen am 28.10.2014), Markschies in Reaktion darauf am 7.6.2014 (vgl. http://www.welt.de/print/die_ welt/debatte/article128818286/Blick-auf-die-Theologie.html, aufgerufen am 28.10.2014)]. Während Heinz Schilling und Thomas Kaufmann dem Text der EKD, der von einer Ad-Hoc-Kommission unter Federführung Markschies’ erarbeitet wurde, eine neue Luther-Ideologie vorwerfen, welche die Ergebnisse der jüngeren Reformationsforschung zu wenig bis gar nicht beachte, hebt Markschies unter anderem hervor, dass den EKD-Texten der letzten Jahrzehnte oftmals der Vorwurf gemacht wurde, zu wenig theologisch zu sein, und daher der Einwand der beiden nicht treffe. An dieser Stelle scheint der schon länger schwelende (Kirchen-)Historikerstreit aufzubrechen, der die Frage nach Theologizität und Historizität der Kirchengeschichte mit aller Vehemenz stellt und unterschiedlich beantwortet bzw. die Schwerpunkte jeweils anders setzt. WA.B 1, Nr. 5, 17/43f. Anstatt Fußnote an Fußnote und Verweis an Verweis zu heften, soll hier summarisch auf wenige, auch im Blick auf Sekundärtitel weiterführende Literatur hingewiesen werden, die zur Begleitung und Vertiefung, vor allem auch für zusätzliche Quellenverweise herangezogen werden kann: Bayer, Oswald: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3., neu durchges. Aufl. Tübingen 2007; Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken, mit einem Nachwort von Albrecht Beutel, 5. Aufl. Tübingen 2006; Lehmann, Hartmut:
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Luthergedächtnis 1817-2017 (Refo 500 Academic Studies 8), Göttingen 2012; Leppin, Volker: Martin Luther, Darmstadt 2006; Lexutt, Athina: Luther (UTBProfile 3021), Köln/Weimar u.a. 2008; Lohse, Bernhard: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. Vgl. zu diesem eher etwas unbekannten Stück seiner Theologie WA 42, 79/3-19. „Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott ist; er möchte vielmehr, dass er Gott und Gott nicht Gott ist.“ (WA 1, 225/1f.). „19. Der ist nicht wert, ein Theologe zu heißen, der Gottes unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt. [...] 20. Sondern nur der, der Gottes sichtbares und (den Menschen) zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt und erkennt. [...] 21. Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Böse gut und Gutes böse, der Theologe
des Kreuzes sagt, was Sache ist.“ (WA 1, 361/32362/22). 8 „Beinahe die gesamte Schrift aber und die Kenntnis der ganzen Theologie hängt an der rechten Kenntnis von Gesetz und Evangelium.“ (WA 7, 502/34f). 9 Vgl. WA 6, 408/11f. 10 Vgl. WA 50, 658/29-32: „Uber das will ich dir anzeigen eine rechte weise in der Theologia zu studirn, denn ich mich geübet habe, wo du dieselbigenheltest, soltu also gelert werden, das du selbsköennest (wo es not were) ia so gute Bücher machen als die Veter und Concilia“. 11 Zum Konkordienbuch und seinen Texten vgl. einleitend und als ersten, knappen Zugang Lexutt, Athina: Die lutherischen Bekenntnisschriften eine kurze historische Einführung, in: Grünwaldt, Klaus (Hg.): Konfession: Ev.-luth. Eine kurze Einführung in die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, Rheinbach und Gütersloh 2004, S. 29-43.
30 Reinhold Rieger
Luthers Hauptschriften von 1520 und seine Freiheitsidee Wenn die Evangelische Kirche in Deutschland sich als Kirche der Freiheit bezeichnet: tut sie dies mit Recht? Erscheinen dann nicht die anderen Kirchen als Kirchen der Unfreiheit? Steht diese Selbstprofilierung oder Profilökumene nicht in Widerspruch zum universalen Anspruch des Christlichen? Kann sich die Kirche der Freiheit, die aber keine Freikirche ist, zu Recht auf Luther berufen? Das Jahr 1520 war jedenfalls für Luther ein Jahr der Freiheit. Dies jedoch, obwohl er durch den römischen Prozess und die im Juni ergangene Bannandrohungsbulle Roms gegen ihn unter äußeren Druck geriet, der sogar sein Leben bedrohte. Aber war das vielleicht gerade ein Anstoß zur Befreiung? Zur Befreiung aus schon vorher empfundenen kirchlichen und geistlichen Zwängen, die ihn als Mönch, als Christ in einem Verhältnis der Abhängigkeit und Unfreiheit äußeren Autoritäten und inneren Bindungen gegenüber gefangen hielten. Augenfälliger Ausdruck der Befreiung von diesen Zwängen war die öffentliche Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des Corpus iuriscanonici, des kirchlichen Rechts, vor dem Elstertor in Wittenberg im Dezember 1520. Dieser Befreiung entsprach die innere Entwicklung des sich seit 1517 vom griechischen Wort „eleutherios“, „der Freie“, „Luther“ nennenden Mönchs, der sich von den Gelübden befreit wusste, ohne sie zu übertreten. Drei Jahre nach seiner Kritik am Ablass und an einem irreführenden Bußverständnis, zwei Jahre nach seiner an den Psalmen bewährten neuartigen Auslegung der Rechtfertigungslehre des Paulus, ein Jahr nach der Leipziger Disputation, bei der er die kirchliche Autorität in Frage gestellt hatte, spitzte Luther seine befreiende Glaubenseinsicht mit dem Begriff der Freiheit zu und formulierte Konsequenzen für Glaube, Kirche, Ethik und Politik. Er veröffentlichte drei Schriften, in denen er dieses Programm darlegte, die Adelsschrift („An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“), die Sakramentenschrift („De captivitate Babylonica ecclesiae, praeludium“) und die Freiheitsschrift („De libertatechristiana/Von der Freiheit eines Christenmenschen“). Die erste dieser Schriften verfasste er auf Deutsch, da sie alle, besonders aber die weltliche Obrigkeit zu Kenntnis nehmen sollten, die zweite auf Latein, weil sie an die Theologen gerichtet war, die dritte in beiden Sprachen, denn diese Schrift sollte die Grundlage für die beiden anderen bieten. Diese drei Schriften können alle, nicht nur die dritte, als Freiheitsschriften Luthers bezeichnet werden, da jede von ihnen das Thema Freiheit in variiert.1 1. Neues Verständnis der Freiheit Die eigentlich so genannte Freiheitsschrift ist dabei die grundlegende, weil sie den Freiheitsbegriff
Luthers in ausdrücklicher und prägnanter Weise entwickelt, der in den beiden anderen Schriften zur Anwendung gekommen war. Luther entfaltet hier ein umstürzend neues Verständnis der Freiheit, das sich von allen bisherigen Verständnisweisen unterscheidet und das seine gesamte Theologie prägt. Dabei ändert er nicht die Semantik des Wortes Freiheit, das die Abwesenheit von Zwang und die Möglichkeit der Entscheidung und des Handelns bedeutet, sondern er stellt den Begriff in einen Zusammenhang, der ihm eine neue Qualität und eine die anderen Begriffe von Freiheit fundierende und korrigierende Funktion gibt. In der bisherigen Geschichte des Begriffs Freiheit war seit der Antike von Willensfreiheit (liberumarbitrium), von politischer Freiheit (libertaspolitica), von kirchlicher Freiheit (libertasecclesiae), von Handlungsfreiheit die Rede, Arten von Freiheit, die die Unabhängigkeit von Individuen oder Kollektiven von Notwendigkeit, äußerem Zwang und innerer Abhängigkeit meinten. Luther stellt diesen ein neues Verständnis von Freiheit gegenüber, an dem sie gemessen und durch das sie begründet werden können. Er eröffnet damit eine Dimension von Freiheit, die tiefer liegt als die Arten von Freiheit, die sie begründet oder infragestellt. 1.1 Der innere und der äußere Mensch Voraussetzung für Luthers Neubestimmung der Freiheit ist die Unterscheidung von Innerem und Äußerem, von Gottesbezug und Weltbezug. Anthropologisch bedeutet dies, dass der Mensch zwei Dimensionen, zwei Relationssphären, zwei Gesichter hat, das Innere (auch Geist oder Seele genannt) und das Äußere (auch Leib oder Fleisch genannt). Diese teilweise metaphorische und durch paulinische Begriffe geprägte Ausdrucksweise meint keine ontologische Bestimmung des Menschen, sondern einen spezifisch theologischen Sachverhalt. Sie gehört deshalb nicht zur philosophischen Anthropologie, sondern zur theologischen. Die philosophische Anthropologie versucht den Menschen mit wissenschaftlichen und spekulativen Methoden der Vernunft in seinem Sein und Wesen zu bestimmen und rational zu definieren. Dabei muss sie die Frage nach dem ersten und letzten Grund, Sinn und Ziel des Menschen offenlassen, soll sie ihn nicht ideologisch festlegen. Die Theologie hingegen beansprucht, diese Offenheit der Frage nach Grund, Sinn und Ziel des Menschen und der Welt zu gewährleisten, indem sie den Menschen auf einen philosophisch nicht fassbaren ersten und letzten Grund bezieht oder bezogen sieht. Insofern geht es bei Luthers Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen, zwischen Geist und Leib, nicht um den philosophisch-anthropologischen Dualismus, vielmehr um eine Unterscheidung, die
31 quer dazu liegt und sie unterfängt. Das Äußere des Menschen ist theologisch betrachtet seine Beziehung zum Bedingten, zur Welt, zu sich selbst, sei sie sinnlich, körperlich-materiell oder auch geistig oder seelisch. Das Innere hingegen, der Geist, ist die Beziehung zu Gott, dem Grund und Sinn des Seins, die auch das Körperlich-Materielle umfasst und trägt. Wenn nun die Beziehung zum Äußeren nicht durch die Beziehung zum Inneren bestimmt ist, sondern das Äußere um seiner selbst willen sucht, dann verkehrt sie sich in einen Selbstwiderspruch, insofern sie erst durch das Innere ihr Sein und Wesen erhält. Diese Verkehrung ist die Sünde, die den Menschen auf sich selbst zurückwirft und ihn an sich selbst zugrundegehen lässt, weil er sich nicht auf den ihn begründenden Grund und Sinn beziehen kann. Der Mensch kann aber nicht aus eigener Kraft diese ihn begründende Beziehung herstellen. Deshalb nennt Luther den äußeren Menschen auch den alten Menschen, der seiner Natur nach, wenn er tut, was in ihm angelegt ist (facerequod in se est), nur sündigen kann. Dieses Müssen ist eine Unfreiheit, eine Knechtschaft, aus der sich der äußere Mensch nicht selbst befreien kann. In der Vorbereitung zur Heidelberger Disputation von 1518 hatte Luther schon behauptet, der Wille des Menschen sei außerhalb der Gnade Gottes nicht frei, sondern notwendig gebunden und unfrei, wenn er auch nicht gezwungen werde. Denn sogar der Gerechte sündige in seinen guten Taten, wenn er sie aus sich hervorbringe.2 1.2 Freiheit aus Glauben Wenn der Versuch der Selbstbegründung des äußeren Menschen an seiner Selbstwidersprüchlichkeit scheitert, dann kann nur der innere Mensch, der sich auf seinen radikal externen Grund bezieht, Begründung und Rechtfertigung erfahren. Durch diesen dem Menschen nicht aus sich zu gewinnenden, sondern von außen gegebenen Grund wird er frei von jeder äußeren Begründung, die aus ihm selbst oder der Welt stammt. Weder die äußeren Umstände, in denen der Mensch lebt, noch seine Taten, die er in guter Absicht tut, noch sein guter Wille oder seine geistige Kraft, seine weltliche Freiheit, können das Innere des Menschen bestimmen. Er ist innerlich frei von allem Äußeren, und sei es auch das eigene Innere und das von ihm selbst Hervorgebrachte. Die weltliche Freiheit im Äußeren kann das Innere des Menschen nicht berühren, sie kann ihn nicht innerlich frei machen von der Verfangenheit in sich selbst. Frei machen kann den Menschen im radikalen, tiefen Sinn nur die Beziehung, die ihm durch ein ihm radikal Äußeres, das nicht zur weltlichen Äußerlichkeit gehört, geschenkt wird, und zwar die Beziehung zu gerade diesem radikal Äußeren, das sein unhintergehbarer Grund, seine Begründung und Rechtfertigung ist. Luther nennt diese Beziehung in religiöser Sprache die Gnade Gottes. Diese wird dem Menschen verheißen, zu-
gesagt und geschenkt durch das Evangelium, das Wort Gottes. „So müssen wir nun gewiss sein, dass die Seele aller Dinge entbehren kann außer dem Wort Gottes, und ohne das Wort Gottes ist ihr mit keinem Ding geholfen. Wo sie aber das Wort hat, so bedarf sie auch keines anderen Dinges mehr, sondern sie hat in dem Wort genug, Speise, Freude, Friede, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute überschwenglich.“3 Das schöpferische und erlösende Wort Gottes, das Christus selbst ist, schenkt dem Menschen alles, wessen er bedarf, Leben, Erkenntnis, Freiheit. Durch das Wort wird der Mensch frei von sich selbst, frei von Handlungsdruck, Rechtfertigungsdruck, frei von Selbstbegründungszwang. Das Wort Gottes ist die objektive Voraussetzung der christlichen Freiheit, der Glaube die subjektive. Ist die Gnade die ungeschaffene Beziehung des Wortes zum Glaubenden, so ist der Glaube die vom Wort Gottes geschaffene Beziehung des Glaubenden zu Gott. Der Glaube ist keine rationale Erkenntnis oder willentliche Zustimmung zum Wort, sondern eine Beziehung, das Vertrauen auf die Person, Christus, die das Wort verkörpert. So wie allein das Wort Gottes den Menschen befreit, so erfährt er diese Befreiung allein im Glauben: „Der Glaube allein ist der wirksame und heilsame Gebrauch des Wortes Gottes.“4 So wie das Wort Gottes das menschliche Wort ausschließt, so schließt der Glaube die menschlichen Werke aus, etwas zur Begründung und Rechtfertigung des Menschen beizutragen. Im Prolog zur lateinischen Fassung der Freiheitsschrift hatte Luther von der großen Kraft (virtus) des Glaubens gesprochen, die ihn von den Tugenden (virtutes) unterscheidet, zu der ihn die scholastischen Theologen gerechnet hätten.5 Die Kraft des Glaubens besteht darin, den Menschen, der glaubt, allein frei zu machen. „So sollen dir um desselben Glaubens willen alle deine Sünden vergeben, alle dein Verderben überwunden sein, und du gerecht, wahrhaftig, befriedet, fromm und alle Gebote erfüllt sein, von allen Dingen frei sein.“6 Die Freiheit, zu der der Glaube befreit, ist (negativ) die Befreiung von der Last der Schuld durch Sünde, von dem Zwang, das Gesetz Gottes aus eigener Kraft zu erfüllen, und (positiv) die Befreiung zu einem Leben in Gerechtigkeit und Wahrheit. Dies erweist sich für den Christen daran, dass er in einen Austausch mit Christus, dem Wort Gottes, das seinen Glauben erweckt hat, tritt und ihm die Eigenschaften, die Christus zueigen sind, zugesprochen werden. Luther spricht von einem „fröhlichen Wechsel und Streit“ und anderswo von dem „admirabilecommercium“ zwischen Christus und der glaubenden Seele.7 Da Christus mit Gott eins ist, kommen ihm die göttlichen Eigenschaften der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Freiheit ursprünglich zu. Durch den Glauben aber werden sie auch dem Glaubenden zuteil, wird er gerecht, wahrhaftig, frei. Das doppelte Wort Gottes in Gesetz und Evangelium, moralischem Anspruch und
32 Zuspruch der Gnade, führt dem Menschen einerseits sein Scheitern am Gesetz, seine Nichtigkeit, vor Augen, andererseits sein Angewiesensein auf die Zusage des Wortes Gottes, die Vereinigung mit Christus, die den Menschen allein frei macht und ihm das verlorene Sein, den zerbrochenen Sinn neu schenkt. „Glaube an Christus, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit, glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht.“8 Der Glaube ist die allein wirksame befreiende Beziehung des Menschen zu Gott, wodurch alle anderen Wege, wie die gute Gesinnung, der gute Wille, die guten Taten, nicht für sich wertlos, aber für die Beziehung zu Gott wirkungslos werden. Der Glaube befreit demnach von dem Versuch, sich durch eigene Kräfte selbst zu begründen und zu rechtfertigen. Er öffnet den Menschen auf das hin, was ihm allein Grund und Sinn geben kann. „Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht dass wir müßig gehen oder Übel tun mögen, sondern dass wir keines Werkes bedürfen, um Gerechtigkeit und Seligkeit zu erlangen“.9 Christliche Freiheit ist also der Glaube, aber nicht im Sinne eines Fürwahrhaltens oder einer Willensanstrengung, sondern der nicht selbst aufzubauenden, sondern widerfahrenen Beziehung zu dem allein begründenden Grund, Gott, wie er sich in seinem Wort, in Christus mitteilt. Der Glaube vereinigt den Menschen mit dem Wort und verleiht ihm Worthaftigkeit, aus der heraus er erst Vernunft und Wille entfalten kann. Die Konsequenzen der Freiheit aus Glauben stellt Luther mit Hilfe der Lehre der Ämter Christi dar, des Priesteramts und des Königtums. So wie Christus König der Welt ist, nicht mit weltlicher Macht, sondern geistlich durch Gerechtigkeit und Wahrheit als Erlöser und Befreier, so wird der Christ „durch den Glauben so über alles erhöht, dass er mit der geistlichen Macht über alles und jedes Herr ist, so dass überhaupt kein Ding ihm in irgendeiner Weise schaden kann, ja alle ihm unterworfenen Dinge ihm zum Heil dienen müssen.“10 So wie Christus der einzige Priester vor Gott ist, der frei vor ihn treten kann, so ist jeder Christ Priester für die anderen, kann für die anderen vor Gott bitten und sie belehren. „Daraus man klar sieht, wie ein Christenmensch frei ist von allen Dingen und über alle Dinge, also dass er keiner guter Werke dazu bedarf, dass er fromm und selig sei, sondern der Glaube bringt es ihm alles überflüssig.“11 1.3 Glaube und Liebe Die im Glauben erlangte geistliche Freiheit setzt eine radikale Unterscheidung von Glaube und Liebe voraus, die zu einer konsequenten Zuordnung von Glaube und Liebe führt. Im Unterschied zur scholastischen Auffassung, der Glaube vollende sich erst in der Liebe (fidescaritateformata), unterscheidet Luther den Glauben als der Beziehung zu Gott
strikt von der Liebe als einer menschlichen Tugend. Da der Glaube von der unerfüllbaren Forderung der Liebe zu Gott und den Menschen befreit, könnte das Missverständnis entstehen, die christliche Freiheit wäre eine Lizenz zur Passivität und das Handeln des Glaubenden wäre gleichgültig. Diesem Missverständnis christlicher Freiheit wehrt Luther, indem der klarmacht, dass die Liebe und das Tun des Guten, wenn auch nicht Voraussetzungen, so doch notwendige Folgen des Glaubens und seiner Freiheit sind. Gerade der vom Zwang zur guten Tat Befreite kann und muss Gutes tun. Er braucht die gute Tat nicht mehr für sich selbst als Grund der Rechtfertigung, sondern er kann sie frei für den anderen und um des anderen willen tun. „Dass kein Werk, kein Gebot einem Christen not sei zur Seligkeit, sondern er frei ist von allen Geboten und aus lauterer Freiheit umsonst tut alles, was er tut, nichts damit gesucht seines Nutzens oder Seligkeit, denn er schon satt und selig ist durch seinen Glauben und Gottes Gnade“.12 Christus ist, obwohl und gerade weil er frei ist, für uns zum Knecht geworden. Seine göttliche Freiheit ist Grund seines Dienstes am Menschen. Wie Christus sich dem Menschen frei geschenkt hat und ihn von sich selbst befreit hat, so kann der Glaubende dem anderen ein Christus werden und ihm dienen. Die christliche Freiheit ist transitiv: sie vollzieht sich nicht in sich selbst und für sich selbst, sondern für andere. Durch den Christen hindurch wirkt Christus für die Menschen. „Also soll ein Christenmensch, wie Christus sein Haupt, voll und satt, sich auch genügen lassen an seinem Glauben … und ob er nun ganz frei ist, sich wiederum williglich einen Diener machen seinem Nächsten zu helfen, mit ihm verfahren und handeln, wie Gott mit ihm durch Christus gehandelt hat, und das alles umsonst“.13 Der Glaube ist das Prinzip der Liebe, nicht umgekehrt. „Siehe also fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben dem Nächsten zu dienen umsonst.“14 Damit ist die berühmte Doppelthese des Freiheitstraktats begründet, mit dem er einsetzt: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“15 Der Schein des Widerspruchs zwischen diesen beiden Behauptungen erweist sich als Täuschung, denn die Dienstbarkeit des Christen ist die Folge seiner Freiheit. Die beiden Thesen sind komplementär. Die innere Freiheit des Glaubens führt gerade zur Verpflichtung verantwortlichen Handelns. Bliebe das Handeln allein auf das Gesetz gegründet, würde der Mensch um des Gesetzes willen handeln, beriefe sich auf diese Bindung durch das Gesetz und wäre unfrei. Ein solches unfreies Handeln wäre letztlich selbstbezogen. Das im Glauben freie Handeln hingegen kann sich ganz auf den anderen, für den
33 gehandelt wird, einlassen und um dessen willen handeln. „Aus dem allen folgt der Schluss, dass ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe: durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe. … Siehe, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere Freiheit übertrifft, wie der Himmel die Erde“.16 Von dieser Freiheit bekommen die anderen Arten von Freiheit erst ihren Sinn und ihren Maßstab. 1.4 Luther und die Neuzeit War Luthers Freiheitsbegriff ein Impuls für die Ausbildung des neuzeitlichen Freiheitsverständnisses? Jedenfalls kann die Ethik Immanuel Kants als ein Widerhall der Lutherschen Bestimmung der christlichen Freiheit aufgefasst werden, wenn Kant das Prinzip des Handelns in der Autonomie der praktischen Vernunft sieht, die nicht um eines äußeren Zwecks willen, sei er der Gehorsam einem Gesetz gegenüber, sei er die eigene Glückseligkeit, also heteronom bestimmt handelt, sondern sich selbst das Gesetz des Handelns gibt. Diese Freiheit ist für Kant kein Gegenstand der Wissenschaft, sie ist ein Gegenstand des Glaubens, des vernünftigen Glaubens. Wurde Kant also zu Recht der Philosoph des Protestantismus genannt? Theologisch schlägt sich Luthers Freiheitsverständnis nieder in Schleiermachers Definition der Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, der nur scheinbar einen Gegenbegriff zur Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Denn für Schleiermacher gibt dieses Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit dem Glaubenden erst die Freiheit des Handelns und Erkennens in der Welt, so wie für Luther die alleinige Abhängigkeit von Gott frei macht. Ja sogar der neuzeitliche Atheismus kann sich in gewisser Hinsicht auf Luther berufen, der sicher das Gegenteil eines Atheisten war, und zwar dann kann er das, wenn der Atheismus einen Gott leugnet, der nicht Gott ist, und von einer Gottesvorstellung befreit, die den Menschen versklavt und unfrei macht. Luthers Theologie enthält den Impuls der Befreiung von falschen Göttern, von einem selbstgefertigten Gott, den sich die Vernunft, der Wille, die Phantasie, das Bedürfnis schaffen. 2. De captivitate Babylonica ecclesiae, praeludium Die Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ führt den Gegenbegriff zur Freiheit im Titel. Veranlasst durch Angriffe päpstlicher Theologen auf seine Abendmahlslehre wandte Luther sein neues Freiheitsverständnis, wie es in einem
Monat später verfassten Freiheitstraktat zu klarem Ausdruck kam, auf die Lehre von den Sakramenten an. Denn er musste feststellen, dass sie von der römischen Kirche gebraucht wurden, um die Christen abhängig und unfrei zu halten: Die Sakramente „sind uns durch die römische Kirche in elende Gefangenschaft geraten, und die Kirche ist all ihrer Freiheit beraubt“.17 Die Sakramente sind also ein Feld, auf dem sich die christliche Freiheit zu bewähren hat. Luther definiert den Begriff des Sakraments neu, indem er sein Verständnis von Glaube und christlicher Freiheit auf ihn anwendet. Er setzt damit ein, die im Konzil von Florenz 1439 dogmatisierte Siebenzahl der Sakramente und überhaupt ein Zählen in Frage zu stellen, denn er kennt nur ein einziges Sakrament, Christus selbst, und davon abgeleitete sakramentale Zeichen. Die erste Gefangenschaft des Sakraments des Abendmahls sei die Verweigerung des Laienkelches durch die römische Kirche, die Substanz und Ganzheit auflöse. Die Unfreiheit liegt dabei nicht in der bloßen Handlung als solcher, sondern darin, dass sich die Priester anmaßen, über das Sakrament mit Gesetzen zu herrschen und die Laien geistlich abhängig zu halten. Die Freiheit des Glaubens aber wird von der äußeren Verweigerung des Sakraments nicht beeinträchtigt, solange der Glaubende es begehrt. Diese Freiheit geht so weit, dass sie nicht mit Gewalt sich Recht verschaffen darf, sondern die Entbehrung erleiden soll wegen der Sünde. Die römische Tyrannei sei allerdings nicht zu rechtfertigen und es wäre schön, wenn ein Konzil diese Gefangenschaft aufheben und die christliche Freiheit wiederherstellen würde. Die zweite Gefangenschaft des Sakraments des Abendmahls sei für das Gewissen nicht so schwerwiegend, aber dennoch eine Unfreiheit: die Transsubstantiationslehre. In aristotelisch-thomistischer Tradition habe die römische Kirche dogmatisiert, dass im Abendmahl die Elemente Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt werden und dies philosophisch als Wesensverwandlung erklärt. Luther hält diese Lehre nicht für grundsätzlich verwerflich, obwohl sie weder mit der hl. Schrift noch mit der Vernunft begründet werden könne, aber er wehrt sich gegen die Bindung des christlichen Gewissens an sie. Die Philosophie könne nichts zur Erklärung der Gegenwart Christi im Abendmahl beitragen, da sie menschliches Denken sei, wohl aber der Glaube. Der Glaube dürfe aber nicht gezwungen werden, eine philosophische Erklärung anzunehmen. Die dritte Gefangenschaft sei die schwerwiegendste, ein gottloser Missbrauch, die Auffassung nämlich, das Abendmahl, die Messe, sei ein gutes Werk und ein Opfer. Dadurch werde das Gewissen gefangen genommen und unfrei gemacht, weil es
34 dazu gezwungen werde, selbst etwas zu seinem Heil, zu seiner Rechtfertigung und Erlösung beizutragen. Das Abendmahl hingegen sei die von Gott gegebene Verheißung der Vergebung der Sünden, das Wort Gottes, das Evangelium, das nicht mit eigenen Werken und Verdiensten verwirklicht, sondern nur mit dem Glauben aufgenommen werden könne. Dem Wort entspricht allein der Glaube. „Das Wort Gottes ist das allererste; dem folgt der Glaube, dem Glauben die Liebe. Die Liebe endlich tut jedes gute Werk“.18 Die Ausschließlichkeit des Wortes der Verheißung Gottes und des ihm allein entsprechenden Glaubens befreit den Menschen von vermeintlichen Mitteln seiner Rechtfertigung und Begründung wie der Notwendigkeit einer guten Gesinnung, eines guten Handelns, eines korrekten Kultes. Gottesdienst kann allein der Glaube sein, nicht ein Kult oder das Tun des Guten. Daraus ergibt sich eine neue Definition des Sakraments: es ist mit einem Zeichen verbundenes Wort der Verheißung, dem allein der Glaube entspricht. Dabei ist das Zeichen für die Wirkung nicht notwendig, der Glaube ist auch vom Zeichen frei. „Der Mensch kann das Wort oder das Testament haben und gebrauchen ohne das Zeichen oder ohne das Sakrament.“19 Die christliche Freiheit bindet den Glauben nicht an ein äußerliches Zeichen, deshalb ist das Sakrament nicht heilsnotwendig, sondern allein das Wort Gottes. Dieses neue Sakramentsverständnis befreit das Gewissen von einer vermeintlichen Bindung an die Sakramente als gute Werke, die nach römischer Lehre auch noch durch sich selbst wirken (opusoperatum). 3. An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung Als erste seiner drei reformatorischen Befreiungsschriften hat Luther 1520 die Schrift an den Adel20 verfasst in der Hoffnung, dass dieser, nachdem der eigentlich geforderte geistliche Stand bei der Reform der Kirche versagt habe, dieses Anliegen betreiben würde. Die Befreiung der Kirche und der Glaubenden von dem Joch der päpstlichen Gesetze sollte durch die weltliche Obrigkeit erfolgen, obwohl Luther später dieser eine geistliche Funktion absprach. Die erlangte innere christliche Freiheit verlangte aber nach äußeren Konsequenzen. Mit drei Mauern, so Luther, hätten die römischen Theologen sich gegen das Ansinnen einer Reformation der Kirche geschützt, die es jetzt gelte anzugreifen und zu schleifen. Diese drei Mauern dienten der Kirche dazu, die Glaubenden unfrei zu machen und an sich zu binden. Die erste Mauer sei die Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Stand, zwischen Laien und Priestern, wodurch die Laien von den Priestern abhängig gemacht werden konnten. Aber „alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und ist unter ihnen kein Unterschied denn des Amts halben allein“.21 Denn alle Christen
hätten eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben, die alle gleich geistlich machten. Die Freiheit im Glauben hat zur Konsequenz, dass alle Glaubenden Priester sind und der Unterschied zwischen Priestern und Laien hinfällig wird. Das allgemeine Priestertum ist eine Folge der christlichen Freiheit. „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof, Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen ziemt, solches Amt zu üben.“22 In Bezug auf die christliche Obrigkeit bedeutet dies, dass sie ihre Macht auch über den Klerus ausüben soll, der ihr nicht mehr entzogen ist, also seine traditionelle Immunität verlieren muss. Die christliche Freiheit führt zur Freiheit und Allgemeinheit der weltlichen Gewalt. „Zumal weltliche Herrschaft ist ein Mitglied geworden des christlichen Körpers und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes ist, darum ihr Werk soll frei unverhindert gehen in alle Gliedmaßen des ganzen Körpers“.23 Die kirchliche Hierarchie dem Recht der weltlichen Obrigkeit zu entziehen, heißt, die christliche Freiheit beschneiden. Die zweite Mauer dieser Unfreiheit ist der Anspruch, es gebühre niemandem als dem Papst die Schrift auszulegen, also die allgemeine Verbindlichkeit der Lehre des Papstes. „Daher kommt es, dass soviel ketzerische und unchristliche, ja unnatürliche Gesetze stehen im geistlichen Recht“.24 Damit machen die Römer die Schrift überflüssig. „Darum ist es eine erdichtete Fabel und mögen auch keinen Buchstaben aufbringen, damit sie bewähren, dass des Papstes allein sei die Schrift auszulegen oder ihre Auslegung zu bestätigen.“25 Die eine heilige christliche Kirche auf den Papst zu beschränken, hieße, den Glauben verleugnen. Aus dem allgemeinen Priestertum ergibt sich die Freiheit der Glaubenserkenntnis: „So sind wir ja alle Priester … alle einen Glauben, ein Evangelium, einerlei Sakrament haben, wie sollten wir denn nicht auch haben Macht zu schmecken und urteilen, was da recht oder unrecht im Glauben wäre.“26 Damit ist das kirchliche Lehramt hinfällig, das sich anmaßt, zu bestimmen, was die Christen glauben sollen. Dagegen gelte es „mutig und frei“ zu werden und „den Geist der Freiheit (wie ihn Paulus nennt) nicht lassen mit erdichteten Worten der Päpste abschrecken, sondern frisch hindurch alles, was sie tun oder lassen, nach unserem gläubigen Verstand der Schrift richten und sie zwingen zu folgen dem besseren und nicht ihrem eigenen Verstand.“27 Die dritte Mauer der geistlichen Unfreiheit falle mit den beiden anderen. Sie sei die Überordnung des Papstes über das Konzil, so dass nicht mehr von einem päpstlichen Urteil an ein Konzil appelliert werden könnte. Dem gegenüber solle die christliche weltliche Obrigkeit ein freies Konzil einberufen können, wenn der Papst versage. Der Papst dürfe sich nicht gegen die Freiheit des Konzils stellen.
35 Die Reformvorschläge, die Luther macht und die die Fürsten aufgreifen und durchführen sollen, dienen der Befreiung der Kirche von der angemaßten Macht des Papstes. Das beginnt mit der finanziellen Ausbeutung der Kirche durch den Papst, geht über angeeignete Rechte des Papstes, über dem Papsttum zugutekommende Frömmigkeitsübungen wie Wallfahrten, Messstiftungen, Seelenmessen, Ablässe, über das Zölibat, die Klöster, bis zu den Universitäten mit der Theologie. 4. Torgau28 Die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Glaubenden wandte Luther immer wieder auf die kirchliche Praxis an, so noch 1544, wenige Jahre vor seinem Tod, in der Predigt zur Einweihung der Schlosskirche zu Torgau über Lk 14, wo es um den Bruch des Sabbats durch Christus geht. „Wir, so im Reich unseres Herrn Christus sind, sind nicht also an ein Geschlecht oder Stätte gebunden, dass wir allein an einem Ort und aus einerlei Geschlecht oder einerlei ausgesonderte Personen haben müssten, sondern wir sind alle Priester …, dass wir aller Zeit und an allerlei Orten Gottes Wort und Werk verkündigen sollen und aus allerlei Personen, Geschlecht und Ständen mögen sonderlich zum Predigtamt berufen werden, so die Gnade und Verstand der Schrift haben, andere zu lehren, also sind wir auch Herrn des Sabbats mit Christus und durch Christus. … wir Christen … haben die Freiheit, so uns der Sabbat oder Sonntag nicht gefällt, mögen wir den Montag oder einen anderen Tag in der Woche nehmen und einen Sonntag daraus machen.“29 Durch Christus ist der Christ ein freier Herr über alle Dinge, auch die kirchlichen Feiertage. Aber auch diese Freiheit ist zugleich gebunden durch ihren Sinn, der Gemeinde zu dienen, weshalb sie nicht in Willkür verfallen darf, sondern in Gemeinschaft wirken soll. Dies gilt auch für die Schlosskirche zu Torgau: „Also soll dies Haus solcher Freiheit nach gebaut und geordnet sein für die, so allhier im Schloss und zu Hofe sind oder die sonst hereingehen wollen. Nicht dass man daraus eine besondere Kirche mache, als wäre sie besser denn andere Häuser, da man Gottes Wort predigt, fiele aber die Not vor, dass man nicht wollte oder könnte hierin zusammen kommen, so möchte man wohl draußen beim Brunnen oder anderswo predigen.“30 „Wir wissen, … dass wir ihm [Gott] keine besondere Kirche noch Tempel dürfen bauen mit großen Kosten oder Beschwerung und an keine Stätte noch Zeit aus Not gebunden sein, sondern
dass er uns die Freiheit gönnt, dass wir solches tun mögen, wenn, wie und wie oft wir können, und dessen uns vereinigen, damit, wie wir sonst im ganzen christlichen Leben schuldig, unsere Freiheit in solchen äußerlichen Dingen in der Liebe zum Dienst unseres Nächsten zu brauchen, also auch hierin einträchtiglich und mit andern Gleichheit halten.“31 So hat das neue Freiheitsverständnis Luthers, wie er es erstmals 1520 entfaltete, auch noch 1544 in Torgau Nachhall gefunden. Literatur
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Vgl. Volker Leppin, Die Reformation, Darmstadt 2013, 26. Weimarer Ausgabe der Schriften Martin Luthers (= WA) 1, 365-367. WA 7, 22, 10-14. Die Zitate sind unserer Schreibweise angepasst. WA 7, 51, 17. WA 7, 49, 7–9. WA 7, 23, 1–3. WA 7, 25, 34. 5, 608, 6. WA 7, 24, 12–14. WA 7, 25, 1–4. WA 7, 57, 3–6. Übersetzung nach Reinhold Rieger, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertatechristiana (Kommentare zu Schriften Luthers= KSchL1), Tübingen 2007, 204. WA 7, 28, 19–21. WA 7, 32, 30–34. WA 7, 35, 20–27. WA 7, 36, 3f. WA 7, 21, 1–4. WA 7, 38, 6–14. Luther Deutsch, Hg. von Kurt Aland (=LD), 2, 172. LD 2, 187. LD 2, 192. Vgl. Thomas Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (KSchL 3), Tübingen 2014. WA 6, 407. WA 6, 408. WA 6, 410. WA 6, 411. Ebd. WA 6, 412. Ebd. Die Idee zum Blick auf Torgau verdanke ich Theresia Maier. WA 49, 590f. WA 49, 592. WA 49, 594.
36 Klaus Berger
Martin Luther und Bernhard von Clairvaux Zisterziensische Theologie im Römerbrief Kommentar Wilhelms von Saint-Thierry Den seligen Wilhelm von Saint Thierry (1075– 1149), den Freund des hl. Bernhard, kannte Luther nicht. Aber Wilhelm hat den größten Römerbriefkommentar des Mittelalters geschrieben. Meine Frau und ich übersetzen diesen Kommentar zum ersten Mal ins Deutsche (Klaus Berger, Christiane Nord, Wilhelm von Saint-Thierry: Kommentar zum Römerbrief. Erstmalige deutsche Übersetzung mit Kommentar, Patrimonium, Abtei Mariawald/Eifel 2012). Man kann nur sagen: Hätte Luther ihn gekannt, so hätte er einen guten Freund gehabt. Was ist das Besondere an diesem Kommentar? Wilhelm ist ein Mönch wie Luther. Der Mentalität nach ist ein Mönch jemand, der alle anderen Fluchtmöglichkeiten in der Frage nach dem Sinn des Lebens verstopft hat und dem daher nur die eine Richtung bleibt, nur die eine Öffnung in der Richtung der zentralen Frage nach Gott. Wir fliehen immer vor Gott und mogeln uns um die entscheidende Frage herum. Ein Mönch stellt sich der entscheidenden Frage. Und er vertraut darauf, mit Gottes Hilfe dieser Frage nicht auszuweichen. Alle Wahrheit über den Menschen und Gott fällt dem Mönch, wenn er ehrlich bleibt, jeden Tag neu auf die Füße. Schon als wir Wilhelms „Gebete und Meditationen“ übersetzten, fiel uns dieser schonungslos konfrontative Stil Wilhelms auf. Sein Römerbrief ist zum allerwenigsten Philologie. Er ist Meditation und Gebet. Immer wieder nimmt Wilhelm neue Anläufe, um Paulus nahezukommen. So antwortet Wilhelm auf Röm 5 in einem Dialog, in dem er Gott sagen läßt: Du hast einen Bürgen für dich, als du noch fern warst von Gott, meinen sterbenden Sohn. Gerechtfertigt aber wirst du als Unterpfand meinen Heiligen Geist erhalten. Und Wilhelm bittet daraufhin: Schenk, Herr, schenk Vater der Lichter, was du befiehlst. Erst als ich die Nöte des Mönches Wilhelm kennen lernte, habe ich auch, so meine ich, etwas von Luthers Nöten begreifen können. Wir verteilen immer nur die Antwort Luthers, ohne die Fragen zu kennen. Wir nehmen seine Probleme am Schreibtisch zur Kenntnis, aber nicht auf Knien. Wir servieren Antworten in Fülle, wo die Menschen vielleicht ganz andere Fragen hatten. Kurzum, unser Zugang ist Theorie, bei Wilhelm und Luther ist sie Praxis. Bei uns wird daraus eine Frage der Lehre, hier ist es ein Problem des Lebens. Wir schreiben darüber Bücher und beraten in gut gemästeten Kommissionen mit Kaffepause alle anderthalb Stunden. Wilhelm, Bernhard und Luther kämpfen mit dem Dunkel in der menschlichen Seele oder mit dem Teufel auf der Bettkante. Diese Schonungslosigkeit kennen wir auch von Luther. Wilhelm sagt das so: „‚Verkauft unter die Sün-
de.‘ Wer hat dich, Paulus, verkauft? Ach Mensch, wird Paulus sagen, ich bin ein Mensch. Der Mensch hat sich selbst verkauft, um unter der Sünde Sklave zu sein. Ich habe mich selbst verkauft, weil ich dem Verführer zugestimmt habe. Verkaufen konnte ich mich, loskaufen kann ich mich nicht. Ich habe mich verkauft, als ich der Sünde zustimmte und den Tod akzeptierte.“ In dieser verzweifelten Not ist die Antwort bei Wilhelm wie bei Luther: Solus Christus, sola fide, sola gratia. Eigentlich nur ein Mönch kann so alles auf eine Karte setzen, eigentlich nur ein Mönch kann so wahrhaftig mit sich umgehen. Denn sonst würde ihm die Luft zum Atmen vergehen. Weil es für einen Mönch nur auf das eine ankommt, weil er alles auf eine Karte setzen muß, weil es Licht nur durch das eine Zellenfenster gibt, ist hier und kaum irgendwo anders eine Antwort zu erwarten auf die Frage, was es denn eigentlich sei mit dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch in der Frage nach Gott, dem Geheimnis aller Geheimnisse. Das meiste bleibt Dunkel, bleibt Ungewissheit und Wagnis. Aber eben auch das zu wissen, lohnt sich. Und zu ahnen, drei- oder viermal im Leben, wie Luther sagt, dass es nur ein Licht gibt, nämlich Jesus Christus, alles andere sei Anfechtung, Kampf, Dunkel. Es mag erkennbar werden, dass es hier um eine gewaltige Sache geht, um ein gewaltiges Drama und nicht um Protokollfragen zwischen den Konfessionen. Was heißt denn hier Profil, wo Gott so unfassbar groß ist und unsere Differenzen so lächerlich klein? So klein, dass sie in der neueren Exegese des Neuen Testaments unter den Fachleuten gar keine Rolle mehr spielen. Dass Wilhelm im 12. Jahrhundert katholisch war und Luther im 16. Jh. protestantisch, tut für dieses Drama und die Antwort darin überhaupt nichts zur Sache. Es ändert nichts darin, dass wir Sünder sind und auf die Gnade Gottes sichtbar angewiesen. Es ist jedenfalls ein radikal christliches Profil, und das ist angesichts der gegebenen Sache das Einzige, das zur Verfügung steht. Es ist wahr, dass ich Luther erst zu begreifen anfing, als ich die Zisterzienser näher kennenlernte und daher Witterung aufnehmen konnte, woher bei Luther der Wind weht. Für mich ist ganz klar: Nur ein radikales Christentum kann man überhaupt anzubieten wagen. Und radikal ist es gewiss, wenn man mit Wilhelm und Luther sagt: Allein die Gnade, allein der Glaube, allein Jesus Christus. Indem ich an dieser monastischen Option festhalte, bin ich gewiß ein „vorkonziliarer Eiferer“ (W. Huber, über mich), aber ich fühle mich in guter Gesellschaft mit Paulus, Augustinus,
37 Wilhelm und Luther. So was von vorkonziliar gibt es nicht noch einmal wie diese Typen. Können und sollen wir mit unserem Tun die Welt retten? Fragt Wilhelm. Und er antwortet: Nein, aber wir können so wach sein, wenn die Sonne aufgeht. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Kann man der Jugend Christentum nahebringen? Die Zisterzienser waren eine Jugendbewegung des 12. Jahrhunderts. In kürzester Zeit waren 1200 Klöster gegründet. Denn es ging um das Thema Nr.1, Liebe. Ungeteilte seelische, geistige, körperliche Sehnsucht und Liebe – und das alles im Kloster? Ja. Aber damit sind wir wieder bei der Sache. Wenn der normale Mensch das Wort Rechtfertigungslehre hört, schwindet ihm schon Sekunden nach dem Hören auch der letzte Mut. Und nicht gerade selten beschleicht mich der Verdacht, dass Glaube, der doch allein selig macht, der kein Werk sein soll, leicht zum kompliziertesten und anstrengendsten Werk werden kann. Dann nämlich, wenn Menschen anfangen, Punkte abzufragen, um die Rechtgläubigkeit zu kontrollieren. Ach lieber Gott, mach die bösen Leute gut und die frommen Leute nett. Fragt man Menschen von der Straße oder den Pastor/Pfarrer von nebenan, so ist die Antwort, dieses Thema sei ebenso uninteressant wie kontrovers wie schwierig, kurzum unerbaulich und heute unwichtig. Ich finde: Man müsste einen Preis für den aussetzen, der den Nährwert dieser „Lehre“ erklären kann. Vielleicht wäre der heilige Bernhard ein Aspirant für diesen Preis. Folgt man seinem Ansatz, dann muß man nicht von juristischen Konstruktionen ausgehen, wie etwa von der Frage, ob die Gerechtigkeit dem Sünder bloß angerechnet wird, oder ob er wirklich „gerecht“ gemacht wurde. Man muss auch nicht darauf achten, daß der positive Anteil des Menschen an seiner Rettung möglichst klein zu halten sei, weil nur das wirklich fromm sei, wenn man Gott alles tun lässt. Sondern man darf von der Sehnsucht des Menschen ausgehen. Es ist die Sehnsucht, die nur Gott stillen kann. Gleichzeitig hat aber auch Gott Sehnsucht nach den Menschen, und er bietet ihm deshalb Vergebung, Liebe und Freundschaft an. – Die Sehnsucht des Menschen bedeutet für ihn Eingeständnis, dass ihm das allein selig Machende mangelt. Es kann nur von Gott kommen und ist dem Wesen nach Liebe. Diese Lösung hat gegenüber den herkömmlichen dogmatischen den Vorteil, dass jeder Gedanke an irgendeine Leistung des Menschen, sei es durch Werke, sei es durch Glauben (für viele Menschen oft ein besonders schwieriges Werk!) als abwegig erscheint. Sehnsucht ist kein Werk, sondern lebhaft beklagter Mangel, beklagt in bestimmter Richtung, deren Ziel vielen freilich nicht von Anfang an klar ist. Selbst noch ein Theologe wie Karl Rahner, der mit Paulus nicht viel im Sinn hatte, konnte sagen, für ihn
bestehe Glaube wesentlich im Aushalten der Verborgenheit Gottes. Von Mutter Theresa wissen wir, dass diese Erfahrung der Abwesenheit Gottes eben sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Rechtfertigung aus Glauben heißt für mich: Meine unstillbare Sehnsucht kann allein Gott im Gekreuzigten erfüllen. Sehnsucht aber bringt Liebe und Freundschaft hervor. Dass diese ihre eigenen Regeln haben, weiß jeder, und Paulus verlangt auch deren Einhaltung von den Christen. Aber Stolz auf gute Werke oder das Bestreben, sich durch Werke als gerecht zu qualifizieren, sich dabei auch noch am alttestamentlichen Gesetz zu messen, das alles waren eben auch nicht die Probleme des Apostels. Er war nicht gegen Werke und nicht gegen das Gesetz, sondern der Glaube hatte für ihn eine neue Mitte bekommen, an der alles zu messen war und um die kein Weg herumführte. Und auch diese Mitte ist nur biographisch zu verstehen: Es ist die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn. Und so fügt sich unsere Beobachtung zu einem Entwurf in Kreuzform. In der senkrechten Linie steht ganz oben die Heiligkeit Gottes, die zugleich verschenkt wird als Gnade. Und unten steht der Mensch in der Finsternis der Schuld. Denken Sie an die zisterziensische Architektur, die eben dieses großartig darstellt, oben das Licht, sehr viel mehr Licht als in den kleinen bunten Fenstern der Romanik, und am unteren Ende der Schlucht die Finsternis als Raum des Kreatürlichen. Seit der frühen Gotik erlaubten es die oberen Fenster, mehr Licht hereinzulassen. Daher geht es bei Bernhard und Wilhelm immer wieder um das Licht. Aber dieses Kreuz hat einen Querbalken. Auf dessen einer Seite steht die Sehnsucht Gottes, auf dessen anderer die Sehnsucht des Menschen. In Licht und Dunkel sind Gott und Mensch unvergleichbar. Aber in der Sehnsucht sind sie möglicherweise einander etwas ähnlich. Denn die Sehnsucht ist die Vorbereitung auf die Liebe. Die Sehnsucht gibt die Richtung an, das Nicht-zufrieden-sein allein mit sich selbst ohne den anderen. Die Sehnsucht meint Bernhard, wenn er sagt: Wenn ihr nicht Sehnsucht habt, werdet ihr nicht vollkommen lieben. Beides ist in der Radikalität unüberbietbar: Die Zuwendung des Lichts zur Finsternis und die bedingungslose Liebe als Lebenszeichen Gottes, der eben ein Herz hat. Stärker als der Tod ist die Liebe, lautet die neutestamentliche Auskunft. Auf das Thema Sehnsucht ohne Grenzen kann man jeden jungen Menschen ansprechen. Denn gerade die zahlreichen Kontakte und auch deren mangelnde Stabilität weisen eindeutig auf die Sehnsucht nach verlässlicher Treue. Was Rechtfertigung meint, kann man heute nicht mit dem umständlichen juristischen Wort wiedergeben, sondern mit dem viel persönlicheren Wort Sehnsucht. Und das heißt: Herr, ohne dich kann ich nichts tun, ohne dich ist alles nur leer. Du allein bist die Erfüllung. Du liebst mich um Jesu willen.
38 Was das praktisch bedeutet: Nur dort von Profil zu reden, wo es nicht dummes Geschwätz ist. Nicht auf Kosten anderer, sondern in der Tiefe unseres Herzens. Ehe wir uns an der Psycho-Soße mit leichtem buddhistischem Touch versuchen, das Schwarzbrot unserer alten Choräle singen oder beten. Oder anders: Für mich gibt es eine Rangordnung: Erstens Anbetung und Gottesdienst, zweitens Nächstenliebe (Diakonie oder Caritas), drittens Theologie. Der Witz an dieser Rangordnung ist: Im Christentum hat die Wahrheit Vorrang vor der Liebe. Und das will sagen: Liebe wird definiert durch den Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu Christi – und nicht durch Erich Mielke. Wenn hier jemand oder etwas Profil hat, dann die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen und die Sehnsucht des Menschen nach Gott. Unsere reformierten Freunde würden das Resultat der Sehnsucht einen Bund nennen. Das ist nicht falsch, aber wieder zu amtlich, zu juristisch; es meint immerhin die Gegenseitigkeit. Profil kann nicht Sache eines Einzelnen sein, weder eines einzelnen Menschen noch einer Konfession. Das wiese immer nur auf Identitätsängste hin. Das gilt insbesondere für eine Christenheit, die um Gottes willen eins sein soll. Denn jede Spaltung ist Verrat an Gottes eigenstem Willen. Und weil es um eine Gemeinschaft geht, deshalb besteht das überragende Alleinstellungsmerkmal, ganz schlicht gesagt, in Freude. Sie ist die psychische Innenseite Gottes, sie entsteht immer dort, wo etwas gefunden wird. Aber mir geht es um mehr, und das möchte ich in einem Gebet zum Ausdruck bringen: Mit sich identisch sein, Herr, das ist eine Frage der Stärke. Das einzige Feld in dem wir Stärke zeigen können, besteht dann, wenn wir uns radikal dir anvertrauen. Das wäre dann christliche Identität, und sie unterschiede sich von nicht-christlichen auf dem Markt der Möglichkeiten dadurch, dass Jesus der Welt Gott gebracht hat. Eben diesen Gott, der sein Profil gegenüber allen Götzen darin hat, dass er von Anfang an mit seinem Volk zusammengedacht wird, bei diesem Volk sein will, bei Israel und bei dem neuen Gottesvolk aus Juden und Heiden. Theologische Merkmale von Wilhelms Römerbrief 1. Wilhelm beruft sich ausdrücklich auf Augustinus und bestreitet, Originelles hinzugefügt zu haben. Die Abhängigkeit von Augustinus führt, Luther vergleichbar, zur Priorität der Gnade 2. Im Unterschied zu P. Abaelard legt W. das Gewicht keineswegs auf theologische Spezialfragen. Statt dessen finden sich bei W. eingestreute Gebete und meditative Wiederholungen. 3. Die Rolle des hl. Geistes betont W. auch gegenüber Paulus. So etwa zu Röm 5,18: „Alle kreatürlich gezeugten Menschen stammen von
Adam ab, und alle durch den Heiligen Geist neu erzeugten Menschen verdanken das Christus.“ Die Betonung des hl. Geistes in der Theologie hätte M. Luther von Wilhelm lernen können. Die Rolle des hl. Geistes in der Systematik Wilhelms entspricht der des Gebets in der Praxis. – Gott liebt in uns durch den Heiligen Geist, er liebt dabei sich selbst, und nur diese Form der Selbstliebe ist gestattet; er liebt sich aus uns. Er betet in uns durch den Heiligen Geist (Röm 8,26-28). Vgl. aus Buch IV zu Röm 5,5: So lautet das Gebet, das du, o Herr, für uns an den Vater gerichtet hast: „Ich will, daß sie so, wie ich und du eins sind, auch in uns eins sind.“ Denn das willst du, und du wünschst dir mit aller Macht, uns durch deinen Geist, durch deine Liebe, in dir zu lieben und dich aus uns und in uns zu lieben. Denn diese kostbare Kraft, mit der wir dich lieben, haben wir nicht aus uns selbst, sondern vom heiligen Geist, den du uns gibst. Schenke uns also deinen heiligen Geist, und wenn du so in uns wohnst, o Gott, liebe dich selbst aus uns. Bewege uns und lass uns in Liebe zu dir entbrennen, indem du uns erleuchtest und begeisterst. Und weil wir in unseren Sünden nicht mehr wissen, wie es ist, die wahren Güter zu besitzen, soll deine liebevolle Zuwendung unsere vielen Sünden zudecken. Wenn du dafür sorgst, du sanfter und freundlicher Herr, dann sind wir nicht mehr Sklaven, sondern deine Kinder, die genau so freundlich und sanft über dich nachdenken und reden sollen. Und während sie so reden und nachdenken, beginnt ihr Herz nach dir zu brennen. Noch heißer brennt es, wenn sie dich mit durch Liebe erleuchteten Augen betrachten und zu dir sprechen, und lichterloh brennt es, wenn du freundlich zu dem Herzen sprichst, das dich liebt. Denn wenn du zu ihm sprichst, gießt du gleichsam Öl ins Feuer, so dass der, der liebt, noch mehr liebt und der, der brennt, noch mehr brennt. Wenn du zu diesem Herzen sprichst , tief drinnen in seinem Gewissen, versteht es aus der Erleuchtung durch deinen heiligen Geist, wie Hiob sagt, etwas von deinem inneren Flüstern: Warum ist Christus, als ihr noch schwach und elend wart, in der Zeit für euch Gottlose gestorben?1 Ja, Herr, warum? 4. Dem Glauben entgegen ist nicht der Unglaube, sondern die Angst. Das deutet auf eine Psychologisierung wie in den Orationes meditativae. „Solange du keine Freude an Gott hast, handelst du noch als Sklave. Er (sc. Gott) soll dich erfreuen, dann bist du frei.“ 5. Aus Gnade kommt der Glaube, aus Glaube das gute Werk. Aber auch aus Glaube kommt die Gnade. Typisch ist die Sequenz Gnade- Glaube- Rechtfertigung 6. Im Rahmen der augustinischen Tradition wird das Jonglieren zwischen Glaube, Gnade, Verdienst, Werk, Rechtfertigung, Gerechtsein, Ge-
39 setz, Freiheit des Willens, Geschenk und Begierde vorbereitet. – In theologischen Aporien hat das Gebet eine vermittelnde Rolle. 7. Typisch zisterziensisch ist dabei die Radikalität sowohl in den Aussagen über die Verlorenheit („allein durch Erbsünde beherrscht“) als auch in den Aussagen über den einzigen Weg zur Rettung („nur“, „allein“). Vgl. z.B. zu Röm 7,17F: Wollen ist machtlos ohne die Hilfe der Gnade. Denn selbst das Wollen ist ein Werk der Gnade: „Alles, was du hast, hast du empfangen“ (zu Röm 5,1). – „Das Gesetz ist nur insofern nützlich, als es die Sünde nachweist. Denn besiegt werden kann die Sünde nur durch die Gnade Gottes (sola gratia), indem die Sorge über seine Schuld den Sünder dazu bekehrt, die Gnade anzunehmen.“ 8. Alles auf die Gnade zu setzen, bedeutet indes weder ein Kleiner machen des Menschen (pessimistische Anthropologie) noch eine Bestreitung der Mitwirkung des Menschen (dogmatisch). Die Konsequenz liegt auf der praktisch-spirituellen Ebene, sie ist realistische Demut und eine Offenheit für das Wirken Gottes. Gemeint ist das im Sinne emphatischer Frömmigkeit und nicht im Sinne scholastischer Erbsenzählerei. 9. Das Wirken der Gnade wird als Heilung des kranken Willens verstanden („sana quod est saucium“) 10. Der Mensch soll den Glauben fruchtbar werden lassen und lieben, nicht auf der Stelle treten. – An die Stelle des Gläubig-Werdens im Neuen Testament und in jeder Mission ist im Mönchtum die Profess getreten. Hier werden die frühchristlichen Aussagen über das Gläubigwerden in eine gelebte Frömmigkeit umgesetzt. 11. W. löst die Gesetzesfrage von ihrem jüdischen Hintergrund, den sie bei Paulus hat, auch vom Thema „alter“/“neuer Heilsweg“. Die Fragen werden bereits anthropologisiert, und damit werden sie nicht speziell christologisch bestimmt. Was hat Paulus den Zisterziensern zu sagen? a) Bestimmte geistliche Erfahrungen (Sünde, Gnade, Liebe) sind die Voraussetzung für die liebevolle Annahme b) Maria ist die klassische Leitfigur. Sie ist „voll der Gnade“ und Spenderin c) Der schonungslose psychische Realismus äußert sich auch in Kreuz- und Blutfrömmigkeit. Man kann sagen: In den zisterziensischen Formen der Spiritualität ist paulinische Theologie wirklich Frömmigkeit geworden. Gerade auch die neue Theodizee-Sensibilität von J.B.Metz könnte hier christologischen Tiefgang gewinnen. d) Die monastische Antwort auf die TheodizeeFrage besteht in Demut. Fazit: Das zisterziensische Mönchtum ist die Form, in der Paulus Frömmigkeit wird.
Texte aus Wilhelm v. St Thierry, Römerbrief (Übers. Berger/Nord) (1) Zu Röm 5,3-5 Steh bei mir, sagt dir Gott, und ich adoptiere dich als Sohn. Alles, was mir gehört, gehört auch dir. Du wirst mein Reich sein und ich dein Gut. Du hast einen Bürgen für dich, als du noch fern warst von Gott, meinen sterbenden Sohn. Gerechtfertigt aber wirst du als Unterpfand meinen Heiligen Geist erhalten. Schenk, Herr, schenk Vater der Lichter, was du befiehlst Schenk, was du verheisst, nämlich deinen Sklaven die Hoffnung auf die Herrlichkeit deiner Kinder. Nicht nur das, sondern auch sich zu rühmen in Drangsalen, die ich für dich durchstehe. Wecke in uns den Impuls der Geduld, damit wir als bewährt erwiesen werden und voranschreiten in der heiligen Hoffnung. [III,21-22] Gerechtheit Gottes, sagt Paulus. Der Glaube bewirkt, was das Gesetz vorschreibt: Gerechtheit Gottes, nicht Gerechtheit von Menschen, nicht von Werken, nicht des eigenen Willens. Allerdings ist Gerechtheit Gottes nicht ohne unseren eigenen Willen möglich. Das Gesetz hatte unseren Willen als krank erwiesen, aber durch die Gnade, die aus einem geheilten Glauben kommt, konnte er dann doch das Gesetz erfüllen. Dabei wird das Gesetz auch als nützlich erfahren: Weil es selbst nicht den Willen heilen kann, schickt es die, die Heilung nötig haben, zur Gnade und befreit sie von allen Zeichen und Spuren ihrer Krankheit. Es schickt sie aber nicht nur zur Gnade, sondern auch zum lebendigmachenden Heiligen Geist, wo alle Sünden vergeben werden und die Liebe zum guten Handeln geweckt wird. (2) [III,23-24] Denn alle haben gesündigt und haben keinen Funken von Gottes Herrlichkeit. Gott hat es nicht nötig, dass ihn irgendjemand verherrlichen müsste. Aber alle Menschen leiden an dem Mangel, dass Gott in ihnen nicht verherrlicht wird. Seine Herrlichkeit besteht darin, dass er ohne Gegenleistung durch seine Gnade gerecht spricht. Wo die Gnade ist, da ist auch die Herrlichkeit. (3) [III 27] Denn weil der Glaube die Rechtfertigung erwirkt und Gott jedem Einzelnen sein Maß an Glauben zumisst, setzt die Gnade Gottes keinerlei menschliches Verdienst voraus. Aber allein dadurch, dass sie verdienen könnte, vollendet zu werden, verdient die Gnade auch, vermehrt zu werden. Denn auch über den Glauben heißt es: Alles, was man hat, hat man geschenkt bekommen (1 Kor 4,7) Daher sagt auch der Apostel selbst an einer anderen Stelle: Ich habe Erbarmen erlangt, so dass ich glauben kann (1 Kor 7,25). Er sagt nicht: weil ich
40 glauben kann. Glaube ist ja nicht Sache des eigenen Verdiensts oder des eigenen Willens. Es ist ein freies Geschenk Gottes, und so nimmt von Gott alles Gute seinen Anfang. Die guten Werke tut der Mensch, aber der Glaube geschieht im Menschen, und ohne Glauben bringt der Mensch kein gutes Werk zustande. Denn alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde. Nicht einmal das Gebet darf man sich als Verdienst anrechnen, selbst wenn es nur um Gott geht oder um das, wofür Gott zuständig ist. Wenn der Beter Hilfe bekommt, dann betet der Glaube, der dem Nichtglaubenden geschenkt wird. Wenn kein Glaube da ist, kann man nicht beten. (4) [III,28] Es ist jedoch keineswegs anzunehmen, dass der Apostel meinte, der Mensch könne überhaupt ohne Werke von Gott gerecht gesprochen werden, das heißt, dass es für einen Glaubenden, der Zeit zum Handeln habe, nicht darauf ankomme, gut zu handeln. Es kommt vielmehr sehr wohl darauf an, aber niemand soll glauben, er könne wegen der Verdienste von Taten aus der Zeit vor seiner Bekehrung die Rechtfertigung erlangen, die doch durch den Glauben geschieht. Wenn Paulus also sagt, der Mensch könne ohne Werke gerecht gesprochen werden, meint er, dass Werke nicht die Voraussetzung für die Rechtfertigung seien. Gerecht werde der Mensch durch Glauben und Gnade, er dürfe sich aber, wenn er Zeit zum Handeln hat, nicht darauf ausruhen. Wenn das geschehe, trete die Gerechtheit durch Glauben bei ihm auf der Stelle. Denn wenn jemand die Zeit zum Handeln habe, nütze ihm ein unfruchtbarer Glaube nichts. Daher sagt Paulus an einer anderen Stelle: Wenn ich allen Glauben hätte und Berge versetzen könnte, hätte aber keine Liebe, dann wäre ich nichts (1 Kor 13,2). Eine im Glauben gegründete Liebe ist immer Handeln, und in ihr lebt man ohne Zweifel gut, denn die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes. (5) [III,31] Untergraben wir also durch den Glauben das Gesetz? Das kommt nicht in Frage. Vielmehr untermauern wir das Gesetz. Durch das Gesetz kommt ja die Erkenntnis der Sünde. Durch den Glauben setzt sich die Gnade gegen die Sünde durch. Durch die Gnade wird die Seele vom Fehler der Sünde geheilt. Durch die Heilung der Seele kommt die Freiheit des Willens. Durch die Freiheit des Willens kommt die Liebe zur Gerechtheit. Durch die Liebe zur Gerechtheit wird das Gesetz erfüllt. So wird durch den Glauben das Gesetz nicht untergraben, sondern untermauert, weil der Glaube die Gnade bewirkt, durch die ihrerseits das Gesetz erfüllt wird. (6) [IV,5] Dagegen wird dem, der nicht auf Werke setzt, aber an den glaubt, der die Gottlosen als gerecht annimmt, sein Glaube als Gerechtheit gewertet.
Dass dieser überhaupt glauben kann, ist das Werk der Gnade. Denn dieses Glauben wirkt Christus in uns, aber es geschieht nicht völlig ohne unsere Mitwirkung. Denn das, was ich tue, sagt Jesus (Joh 14,12), tut auch mein Jünger, weil ich es tue, damit er es tut und so aus dem Ungerechten ein Gerechter wird. Deshalb handelt die Liebe des Glaubenden [nachahmend], und dann lebt man zweifellos als Gerechter. Er sagt auch, auf welche Weise jemand Gott Glauben schenkt bzw. an Gott glaubt. (7) [VII 12] Hier aber sagt er: Das Gesetz ist heilig, das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Also nimm das Gebot. Du sollst wissen: Es ist deine Waffe. Es ist nicht dazu da, dich zu Fall zu bringen, sondern dass dein Feind zu Fall gebracht wird, wenn du demütig bist wie der kleine David. Wenn du aber groß bist wie Goliath und stolz, wirst du durch deine eigenen Waffen zu Fall gebracht. Goliath steht da in Panzer und Lanze, Pharao mit Kriegswagen und Pferden, du aber (stehst) im Namen des Herrn. Das Gesetz also schadet entweder denen, die keine Gnade haben (aus der Gnade herausgefallen sind) oder es nützt denen, die voller Gnade sind. Das Gesetz ist immer gut, so wie die Sonne immer gut ist, ganz gleich, ob sie schmerzenden Augen wehtut oder gesunde Augen streichelt. Daher also gilt: Was die Gesundheit für die Augen zum Sehen der Sonne ist, das ist die Gnade für die Herzen bei der Erfüllung des Gesetzes. Und gesunde Augen sterben nicht, wenn die Sonne sie erfreut, sondern sie werden hell, kranke Augen aber werden durch die harten Stiche der Strahlen getroffen und in tiefe Finsternis getrieben. So wird das Herz, gesund durch die Liebe des Heiligen Geistes, nicht „tot für die Gerechtigkeit“ heißen, das gilt nur für die, die schuldig und voll Übertretung sind, was das Gesetz durch den Buchstaben gemacht hat und solange die Gnade fehlt. (8) [VII,24f] O Herr! Deine Gnade befreit uns. Der Prophet hat gesagt: Du bist meine Hoffnung (Ps 70,5), und das hat er nicht ohne Grund gesagt, denn du bist auch seine Geduld. Uns aber treiben der Leib des Todes, die Gefangenschaft der Seele unter dem Gesetz der Sünde, die Welt, die im Machtbereich des Teufels liegt und all das Böse dieses Lebens zu dir, dem höchsten Gut, wo kein Böses ist. Und auch du versprichst uns dich selbst, aber wann wir dich haben werden, das sagst du uns nicht. Du erschaffst das Böse, das uns von hier wegdrängt, du machst die Zeit des Hoffens lang und quälst damit die Unglücklichen. Und wenn wir bei dem allem sagen „ Ach, ich unglücklicher Mensch, wer befreit mich bloß vom Leib dieses Todes?“, dann antwortet uns deine Gnade: Ich. Wenn wir fragen, wann das sein wird, wirft man uns Ungeduld vor; wenn wir uns darüber hinaus etwas vorstellen wollen, dann sind
41 wir mutlos, weil wir deinen Plan nicht kennen. Daher werden die, die im Gebiet deiner Gnade wohnen, durch deine Zeichen verwirrt. Denn sie freuen sich über alle Maßen darauf, durch das, was aus deiner Gnade kommt, dort zu sein, wo es keinen Morgen und keinen Abend mehr gibt und sie nichts anderes mehr fürchten müssen, als dass sie in ih-
rem Bemühen um weitere Fortschritte nachlassen, wo es für sie doch nur die Vollkommenheit gibt, in der du alles in allem sein wirst. Herr, gib ihnen Frieden und für die Zwischenzeit Geduld.” Literatur 1
Röm 5,6.
42 Hansjochen Hancke
Torgau – die sächsische Stadt Torgau an der Elbe, Stadt der Reformation und Renaissance – und beides nicht trennbar, aber auch Festungsstadt. Der heute nur noch gut 20.000 Einwohner zählende Ort hat sein Tausendjähriges längst hinter sich. Eine Kaiserurkunde Ottos II. erwähnt Torgau im Jahr 973 gelegentlich der Verleihung eines Honigzehnten. Vermutlich wurde jedoch bei dem Daleminzierzug König Heinrichs I. um 929 ein Burgward gleich neben der Furt über die Elbe begründet. Der bevorzugte Elbübergang garantierte eine rasche Entwicklung der späteren Burg- und Kaufmannssiedlung, seit nahezu 750 Jahren besteht Stadtrecht. 1979 wurde die Stadt Flächendenkmal, nunmehr städtebauliches Denkmal internationalen Ranges. Torgau hat den Ruf der am besten überkommenen Renaissancestadt in Deutschland. Dargestellt wird der rote Faden historischer Stadtentwicklung – Schwerpunkte wie Reformation, Festung und allgemeine Entwicklung bis zur Gegenwart. Mit der Erlangung der Kurwürde durch die Wettiner 1423 beginnt zugleich der Aufstieg der Stadt Torgau. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts nahmen Schloss und Stadt Torgau im wettinischen Herrschaftssystem eine wichtige Stellung ein. Die Elblinie von Wittenberg über Torgau nach Meißen und Dresden war „das politisch-strategische Rückgrat der wettinischen Macht“ (Karlheinz Blaschke). Bei der Leipziger Teilung zwischen den Brüdern Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht im Jahre 1485 fiel Torgau an die ernestinische Linie des Kurfürsten. Blüte der Kunst unter Kurfürst Friedrich dem Weisen und große dynastische Festlichkeiten der Wettiner stärkten die wirtschaftliche Situation der Stadt. Mit dem Regierungsantritt Kurfürst Johann des Beständigen 1525 und unter seinem Sohn und Nachfolger Johann Friedrich der Großmütige wurde Torgau zur wichtigsten Residenz und zur Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen. Lucas Cranach des Älteren Ansichten von Torgau dokumentieren diese große Blütezeit der Stadt im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts. Wittenberg war das geistige Zentrum, Torgau das politische Zentrum der Lutherischen Reformation. Genau dieser politische Aspekt ist es, der etwas gefühlsbetont seit dem 19. Jahrhundert mit „Torgau – Amme der Reformation“ angesprochen wird. Es sind die Residenzfunktion und aus dieser resultierendes politisches Geschehen, was die Solitärstellung von Torgau in der Reformationszeit ausmacht. Die Reformation wurde in Sachsen hervorgebracht, sie ist Beitrag zur Weltgeschichte. Die ernestinischen Kurfürsten haben Luther und der jungen Reformation Schutz gewährt: In die-
sem Freiraum konnte sich die neue Theologie entwickeln, auch ohne institutionelle Förderung in der Frühzeit. Die bereits von Friedrich dem Weisen seit 1522 geführte Devise VDMIAE wurde schließlich zur Devise der Reformation schlechthin. Der Aufbau einer Evangelischen Landeskirche in den scheinbar ruhigen Jahren ab 1526 wurde zum Modellfall. Die Torgauer Artikel als Grundlage der Confessio Augustana und die Torgauer Wende in der entscheidenden Frage des Widerstandsrechts 1530 markieren Ecksteine. Die Sprache der Kursächsischen Kanzlei, diese seit 1485 in Torgau, als normierende Hilfe bei Luthers Bibelübersetzung neben seiner eigenen schier unvorstellbaren sprachbildnerischen Leistung hat zumindest seit 1534 über die Gesamtausgabe der Bibel Einfluss auf die Ausbildung der deutschen Einheitssprache. Und in der Dedikationstafel von 1545 in der Torgauer Schlosskapelle ist das wohl früheste Denkmal der Reformation zu sehen. Überhaupt ist der Schlossflügel B1 mit Schlosskapelle, Wohnräumen des Kurfürsten und Schönem Erker, dem architektonischen Glanzstück neben dem Großen Wendelstein, der für die Reformation wichtigste Teil des Torgauer Schlosses. Dieser Schlossbereich mit dem einzigen von Luther geweihten Kirchenbau, den Kurfürstlichen Gemächern und dem zuzurechnenden Flaschenturm ist die einzige wieder herstellbare Nutzungseinheit bei den Frührenaissancebauten des Schlosses. Hier kommt nur museale, also reformationsbezogene Präsentation als dauernde Nutzung in Frage, im Flaschenturm dazu mit ausgesprochen touristisch relevanten Attraktionen. Im Jahre 2003 hat der Initiativkreis Schloß Hartenfels dieses in einem Arbeitspapier untersucht. Hier Themen beispielhaft: Gottesdienst in neuer Gestalt, Musik der Reformationszeit, Bibelübersetzung und Glaubensverkündung in ihrem normierenden Einfluß auf die sich herausbildenden Nationalsprachen, Verlauf der Reformation in den deutschsprachigen Ländern und in Europa, die welthistorisch bedeutsamen Veränderungen infolge der reformatorischen Entwicklungen – auch in Übersee, nachhaltige Wirksamkeit in der Gegenwart von Verfassung bis Gesellschaft u.a.m. Die Einbeziehung des Schlosses in das Weltkulturerbe der UNESCO wird gegenwärtig erörtert. In der Zeit von 1505 bis 1551 verdoppelte sich die Einwohnerzahl von etwa 3000 auf annähernd 6000. Insgesamt war dies für die Zeit ein ungeheurer Entwicklungssprung. Die Stadt war bedeutender und größer als Dresden und näherte sich eher der Einwohnerzahl von Leipzig. Die Ereignisse der Reformation fanden Widerhall in der Bürgerschaft und
43 sorgten bereits 1523 für den Übergang zur neuen Lehre. Der Aufschwung ging weiter bis 1631. Der Eintritt Sachsens in den bereits im 13. Jahr laufenden und schließlich Dreißigjährigen Krieg auf schwedischer Seite und danach der Frontwechsel veränderten die Verhältnisse jedoch grundlegend. Die zum Feind gewordene schwedische Armee unter Feldmarschall Banér besetzte Torgau 1637 für etwa ein halbes Jahr. Danach war der Wohlstand der Stadt vernichtet und infolge ausbrechender Seuchen die Einwohnerschaft von über 6000 auf annähernd 2000 geschrumpft, darunter unzählige Vollwaisen. Die Zeit der Gnade war mit der Halbzeit des Dreißigjährigen Krieges zu Ende. Die zumindest teilweise ausgebaute Festung blieb immer wieder umkämpft, die Brücke über die Elbe wurde vernichtet, die weitere Umgebung auch durch Barbarei verödet; etwa die Hälfte der Torgauer Häuser war zerstört oder verlassen. Von 1485 bis zum Ende des großen Religionskrieges 1648 war Torgau unter wechselnden Bedingungen ein Mittelpunkt sächsischer Landesgeschichte mit zeitweise weit über diese hinausragender Ausstrahlung. Danach aber galt Festung als Schicksal und dies in Auswirkung bis in die Gegenwart! Die strategisch günstige Lage an einem der wichtigsten Elbübergänge in Sachsen bescherte der Stadt auch später in Zeiten kriegerischer Verwicklungen besondere Aufmerksamkeit. Vornehmlich der Siebenjährige Krieg (1756–1763) wirkte sich für die Stadt verhängnisvoll aus. Torgau war eben nicht nur ein wichtiger Elbübergang, „sondern die Schlüsselstellung für die Beherrschung der Elbstraße nach Böhmen und der sich über Meißen nach Freiberg erstreckenden Hochebene“ (Rudolf Mielsch). Der Besitz der Stadt wechselte im Verlauf des Krieges, vornehmlich ab 1759. Die kriegerische und politische Gesamtsituation zwang den König von Preußen im Herbst 1760, die Entscheidungsschlacht zu suchen: Der preußische Sieg am 3. November 1760 galt der modernsten, aber wohl auch opferreichsten Schlacht des 18. Jahrhunderts. Bei Kriegsende war die Stadt auch durch die lange Dauer der Einquartierungen wirtschaftlich ruiniert; das in desolatem Zustand befindliche Schloss wurde zum Zucht- und Armenhaus. Bei der für Sachsen insgesamt zu konstatierenden Verarmung reichten anschließende vier Jahrzehnte des Friedens zur wirtschaftlichen Erholung nicht aus – als auch schon die Napoleonischen Kriege Torgau erneut belasteten. 1806 wurde das nunmehrige Königreich Sachsen durch Napoleon in den Rheinbund gezwungen. Als Ausgleich für die Entfestigung von Dresden wird Torgau ausersehen. Am 29. November 1810 ergeht das Königliche Dekret zur Errichtung der Säch-
sischen Elb- und Landesfestung in Torgau. Nach zweijähriger Bauzeit unter Anspannung aller nur etwa im Lande verfügbaren Kräfte wird die junge Festung vorzeitig im Frühjahr 1813 in den Verteidigungsstand versetzt, alsbald unter französischen Oberbefehl gestellt und nach der Völkerschlacht bei Leipzig von einer preußischen Belagerungsarmee umschlossen. Zuvor waren die französischen Lazarette im Lande in die kleine Festung mit nur 4500 Einwohnern gebracht worden, obwohl jegliche Voraussetzungen fehlten – wohl aus Besorgnis vor russischen Truppen. Eine Typhus-Epidemie steigerte die Todesrate in’s Ungemessene: in viereinhalb Monaten 30 000 Tote, darunter 1100 Bürger. Durch Beschluss des Wiener Kongresses 1815 verliert Sachsen nahezu zwei Drittel seines Staatsgebietes an Preußen und erhält etwa seine albertinische Ausdehnung zurück: Torgau wird preußisch! Die Sächsische Festung erfährt durch das Königreich Preußen einen überlegenen Ausbau zur Preußischen Elbfestung. Aus der neuen Grenzfestung gegen Sachsen ist jedoch bis zur Entfestigung 1889 kein einziger Schuss abgegeben worden. Die enge Verbindung mit einer starken Garnison – zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar drei Regimenter, die weit überwiegend auch in Torgau standen – brachte Wohlstand und söhnte mit Preußen aus. Die Garnison wird zur Wirtschaftsgrundlage der Stadt, die insgesamt dienstleistungsorientiert war. Das Kulturleben, auch die Musikpflege, konnte sich mit weit größeren Städten messen. Durchaus liebevoll gemeint war der Volksname „Klein-Potsdam“. Die Beschränkung auf den Festungsgürtel hatte fast das gesamte 19. Jahrhundert über nicht nur die Altstadt erhalten, sondern Industrialisierung ausgeschlossen. Für den Anschluss an das entstehende Eisenbahnnetz 1872 mussten wegen der Führung der Bahnstrecke durch eine Festung erhebliche Bedenken ausgeräumt und aufwendige technische Lösungen gefunden werden. Vom großen Verkehrsnetz blieb die Stadt seit Jahrhunderten ausgeschlossen. Die mit der Entfestigung mögliche Öffnung der Stadt und Planung einer mehr eigenständigen Entwicklung mündeten in den Stadtentwicklungsplan von 1895, der den Festungsgrundriss erhält, schließlich selbst den Villengürtel an Ravelins ausrichtet. Wohngebiete und Industrieflächen wurden gleichermaßen ausgewiesen. Beigezogener Gutachter war der auch an französischer Stadtplanung des 19. Jahrhunderts orientierte Kölner Baurat Josef Stübben, seit 1919 Präsident der Preußischen Bauakademie in Berlin. Auf dieser Grundlage sind auch in den letzten Jahrzehnten kaum Missgriffe vorgekommen.
44 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wird verstärkt Bemühen um Ansiedlung von Industrie notwendig. Bis dahin bestanden lediglich einige bedeutende mittelständische Unternehmen. Den Anfang macht das berühmte Werk Lauchhammer, das nach Errichten einer hohen Gießhalle im alten Zuckerwerk am Hafenbecken Tausende von Stahlglocken herstellt – bis etwa 1925: Ersatz für im Kriege eingeschmolzene Bronzeglocken. Glockenopfer aus Materialnot gab es über die Jahrhunderte, aber umgekehrt auch das Einschmelzen von Geschützrohren zugunsten neuer Glocken nach einem Kriege. So waren Glockengießer und Stückmeister durchaus verwandt. „Schwerter zu Pflugscharen“ ist also nicht grundsätzlich neu ! 1926 kamen das Glaswerk und auch Villeroy & Boch, 1939 bereits modernstes Steingutwerk in Europa mit 1200 Mitarbeitern: hier griff nach dem Zweiten Weltkrieg Reparation im vollen Wortsinn mit Zwang zum Neuanfang, die Restitution als Fayencerie aber erfolgte noch vor der Einheit Anfang Oktober 1990. Bei der weiteren industriellen Entwicklung ragt das Glaswerk heraus, das in den Nachkriegsjahrzehnten zum größten Hersteller von Flachglas in der DDR avanciert, heute dem bedeutenden französischen Konzern St. Gobain zugehörig. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges findet Torgau die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, woran jährlich der ELBE-DAY mit Volksfestcharakter erinnert. Es ist die Gleichzeitigkeit zweier an sich voneinander unabhängiger Ereignisse, die auf die Bedeutung von Torgau zum Kriegsende Einfluss haben: Das Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Soldaten am 25. April 1945 und die Eröffnung der Konferenz von San Francisco am 25. April, die mit Erarbeitung der Charta der Vereinten Nationen am 26. Juni endet. Die Nachricht von diesem Zusammentreffen beflügelte den Beginn der Arbeit des neuen Völkerbundes und führte zu dem nachgestellten Soldatenbild vom 26. April, das um die Welt ging und sich weit übernational in vielen Schulbüchern findet. Verbunden durch eine neue Elbbrücke liegen Schloss Hartenfels als politisches Zentrum der Reformation und Brückenkopf als Ort der nachfolgenden Erstbegegnung der militärischen Führungskräfte 1945 einander gegenüber. Mehr Symbolträchtigkeit lässt sich nicht aufbieten. Zudem der schönste Blick auf Schloss und Stadt überhaupt, ganz abgesehen von der Einmaligkeit der Grundstückslage „Brückenkopf“ im Freistaat Sachsen !
Die Stadt, zunächst allein amerikanisch besetzt, erlebte am 3. Mai 1945 das nicht abgestimmte Übersetzen der Roten Armee über die Elbe, worauf sich die Amerikaner bis an den Schwarzen Graben zurückzogen, dort Kontrollstellen errichteten und eine Unternehmer-Villa als Kommandantur bezogen. So wurde Torgau vorübergehend gleichsam die erste geteilte Stadt in Deutschland, beinahe ein Vorzeichen künftiger Teilung in Europa. Die über Jahrzehnte starke sowjetische Garnison in Torgau wurde – zeitlich vorgezogen gegenüber der zwischen Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl ursprünglich vereinbarten Terminplanung – vom russischen Oberkommandierenden mit einer Abschlussparade 1994 verabschiedet. Damit endet die militärische Prägung der Stadt. Die Einrichtung der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland bewirkte auch in Torgau die Veränderung aller Grundlagen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens: Aufhebung des Landgerichts und fast aller tragenden Institutionen, Auflösung sämtlicher Vereine, Bodenreform und unterschiedlichste Maßnahmen gegen Unternehmen, Besitz- und Bildungsbürger – letztere auch fortwirkend bis in die frühen fünfziger Jahre. Dieses und integrative Maßnahmen in der Landwirtschaft förderten Bevölkerungsschwund bis zu Anzeichen der Entvölkerung. Vor dem Aufbauhintergrund des Flachglaskombinats kamen Ende der sechziger Jahre tausende neue Einwohner in die Stadt. In der Volksabstimmung 1990 entschied sich die Bevölkerung des Kreises Torgau für Sachsen und korrigierte damit nach 175 Jahren den Dynastenentscheid des Wiener Kongresses, durch den das Torgauer Land gewaltsam von Sachsen getrennt worden war. Die Lage der Stadt Torgau unmittelbar an der Elbe, einem deutschen Schicksalsstrom, steht mit den ernestinischen Kurfürsten für das Zeitalter der Lutherischen Reformation, jedoch auch für die im Ausmaß unfassbare Vernichtung im Schwedenjahr 1637 und in der französischen Festung 1813. Die vom Schloss und den Bürgerbauten des 16./17. Jahrhunderts geprägte Stadtgestalt aber war bedeutend und damit robust genug, die Zeiten zu überstehen. „Das gesamtdeutsche Schicksal hat in glücklichen und unglücklichen Zeiten über der Stadt geleuchtet.“ (Rudolf Mielsch)
45 Hansjochen Hancke
Die Reformation und Torgau Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Name Torgau Klang: durch die Rolle im Sachsen der Reformationszeit, durch die Schöpfungen auf dem Gebiete der Baukunst und der evangelischen Kirchenmusik. Zum letzten großen Auszug der Geharnischten 1938 kamen 10.000 Gäste in die Stadt, die amerikanische Botschaft in Berlin reiste mit 240 Personen in einem Sonderzug an. Das änderte sich nach dem Kriege hinsichtlich der Wertung der Reformation zugunsten der Begegnung der amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte. Die Altstadt Torgau wurde 1979 Flächendenkmal, heute städtebauliches Denkmal internationalen Ranges. Inzwischen führt die Stadt Torgau an der Elbe den Hinweis: Stadt der Reformation und Renaissance. Wittenberg war das Geistige Zentrum, Torgau das Politische Zentrum der Lutherischen Reformation. Torgau war Kursächsische Hauptresidenz vor Dresden in den entscheidenden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Die Verbindung zwischen Wittenberg und Torgau war eng in dieser Zeit und Philipp Melanchthon hat dieses sogar gefeiert, indem er gleichsam in einem Hymnus die beiden Orte als Schwestern auftreten lässt. Torgau ist die einzige vollständig erhaltene kursächsische Residenzstadt des 16. Jahrhunderts und gilt als die wohl am besten überkommene Renaissancestadt in Deutschland (Gerhard Glaser). Gegen Ende des Mittelalters nahmen Burg und Stadt Torgau im wettinischen Herrschaftsbereich eine wichtige Stellung ein. Die Elblinie von Wittenberg über Torgau nach Meißen und Dresden war ‚das politisch-strategische Rückgrat der wettinischen Macht‘ (Karlheinz Blaschke).1 Seit dem 14. Jahrhundert hatten die Markgrafen und Kurfürsten die Burg zeitweise bewohnt und im 15. Jahrhundert zum Schloss ausgebaut. Mit dem Regierungsantritt Kurfürst Johanns des Beständigen 1525 und unter seinem Sohn und Nachfolger Johann Friedrich der Großmütige wurde Torgau zur wichtigsten Residenz und zur Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen. Starke Bautätigkeit nach dem zweiten großen Stadtbrand 1482, Blüte der Kunst unter Friedrich dem Weisen und große dynastische Festlichkeiten der Wettiner stärkten die wirtschaftliche Situation der Stadt. Es entstand eine steinerne Stadt mit auf die Stadttore ausgerichteten großzügigen Straßen, die den gleichzeitigen Einzug vieler, auch berittener Gäste ermöglichten. In der Zeit von 1505 bis 1551 verdoppelte sich die Einwohnerzahl von etwa 3.000 auf annähernd 6.000. Insgesamt war dies für die Zeit ein ungeheuerer Entwicklungssprung. Cranachs Ansichten von Torgau dokumentieren diese große Blütezeit der Stadt im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts. Die große Stadtansicht von Lucas Cranach dem Älteren von 1545 in Madrid ist be-
sonders beeindruckend: Die Lage der Stadt direkt am Fluss wird deutlich und auch die durch das Porphyrmassiv bedingte Entwicklung des Stadtgrundrisses in die Tiefe des Raumes hinein, weg von der Elbe. Ähnlich erlebt man auch heute den Blick vom anderen Elbufer. Die dargestellten Kernbereiche der Stadt vom Schloss über die Kirchen zum Franziskanerkloster und der Stadtbefestigung sind noch immer charakteristisch und machen es leicht, in der Gegenwart die Stadt Cranachs wiederzufinden. Es handelt sich um Realarchitektur in nachvollziehbarer Darstellung und dieses aus einer Zeit, die nach der Natur gezeichnete Ortsansichten gerade in ihren Anfängen erlebte. Die Ansichten von Schloss und Stadt Torgau erscheinen jeweils im Hintergrund detailgetreuer Jagdszenen, offensichtlich herausragende Repräsentationsgeschenke mit politisch-diplomatischem Bezug. Eindrucksvolle Architektur wie auch prächtige Wappen zeichnen gleichermaßen den Schenker aus. Sowohl Einladung wie Erinnerungswert erfahren dadurch eine Steigerung. Gemälde mit Torgau-Ansichten befinden sich heute in Oslo, Dublin, Cleveland, Madrid und Wien. Gerade die großformatigen Jagdbilder in Madrid und Wien mit eindrucksvollen Personendarstellungen von Kaiser Karl V. und seinem Bruder König Ferdinand I. lassen sich sehr wohl in die diplomatischen Bemühungen des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen um friedvollen Ausgleich mit den Habsburgern einordnen. Vergegenwärtigen wir uns vor diesem Hintergrund unseres Probanden, eben der Stadt Torgau, eine Entwicklung, die wir insgesamt als Reformation bezeichnen – fast so, als sei diese geplant oder zumindest planbar gewesen. Bei der Torgauer Bürgerschaft hatte sie bereits 1523 zum Übergang zur neuen Lehre geführt. Was Martin Luther am 31. Oktober 1517 mit seinen Thesen in Gang setzte, wurde bei Kardinal Albrecht von Brandenburg zur folgenreichsten Briefschuld und blieb für Papst Leo X. ‚Mönchsgezänk‘. Nach Luthers Grunderkenntnis von der Gerechtigkeit Gottes verloren alle Anstrengungen ihren Wert, Gottes Gnade durch gute Wer ke zu verdienen: Heilsgewissheit ist allein durch Glauben (sola fide) zu erlangen. Die für Luther erwartbare Verteidigung vor Kaiser und Reich wie auch die unmittelbare Gefährdung seiner Person erzeugten für ihn einen Rechtfertigungszwang. Der Buchdruck ermöglichte ihm den Zugang zur Öffentlichkeit und erzeugte Breitenwirkung ohnegleichen. Seine drei Hauptschriften erschienen in kurzer Folge 1520: im August ‚An den christlichen Adel Deutscher Nation‘,
46 im Oktober ‚Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche‘, im November ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘. Die Möglichkeit zudem, durch rasche Übersetzungen auch Sprachbarrieren zu überwinden, übersteigt jegliche Vorstellung. Die Leipziger Disputation hatte bereits 1519 die beiden sächsischen Länder auf unterschiedliche konfessionelle Wege gebracht. Im Kurfürstentum gestattete Kurfürst Friedrich der Weise nicht die Publikation der Bannandrohungsbulle; am 10. Dezember 1520 verbrannte Luther angeblich diese vor dem Elstertor in Wittenberg. Am 3. Januar 1521 wird die Bannbulle dann tatsächlich ausgefertigt. Zum Reichstag in Worms reist Luther mit freiem Geleit. In ‚Schutzhaft‘ auf der Wartburg beginnt er mit der Bibelübersetzung. Es erscheint das September-Testament. Die Durchsetzung des Wormser Edikts erwies sich generell als unmöglich. Etwa 1524 beginnt in Deutschland die Spaltung in zwei konfessionelle Lager. Die Reformation wurde in Sachsen hervorgebracht, im ernestinischen Sachsen. Den sächsischen Kurfürsten und den in ihrem Bereich wirkenden Kräften gebührt daher besondere Beachtung. Die Reformation ist Beitrag Sachsens zur Weltgeschichte. Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, den man schon zu Lebzeiten den Weisen nannte, wurde am 17. Januar 1463 im Torgauer Schloss geboren – mitten im härtesten Winter: die Beheizung muss also funktioniert haben, das war damals ein wichtiges Kriterium für die Qualität eines Schlossbaues. Friedrich hat Torgau nach Wittenberg lebenslang besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Bereits dreiundzwanzigjährig kam er nach frühem Tod seines Vaters 1486 zur Regierung. Ein Jahr zuvor hatte Kurfürst Ernst in die so genannte Leipziger Teilung gewilligt, die Sachsen seine Vorrangstellung als größtes innerdeutsches Territorium kostete und häufigen Streit mit dem Herzogtum auslöste. Von nachhaltiger Wirkung waren die Gründung der Universität Wittenberg 1502 als Ersatz für die nun albertinische Universität Leipzig und später die von Friedrich gestaltete Schutzfunktion für die aufkeimende reformatorische Bewegung. So kam es zwar zur Spaltung der abendländischen Christenheit, aber letztlich auch zu deren Reformfähigkeit. Reichstreue und Vermittlungsgeschick sicherten ihm reichsweit hohes Ansehen. Sein Verzicht auf die Kaiserwahl 1519 machte den Weg frei für die Wahl Karls V., was sich faktisch zur Erbmonarchie für die Habsburger auswirkte. Auf eine von ihm getroffene Personalentscheidung will ich etwas näher eingehen, weil sie von durchschlagender Bedeutung wurde für die frühe Möglichkeit der reformatorischen Bewegung, sich zu
entwickeln: die Berufung nämlich von Georg Spalatin zu seinem Geheimsekretär! Spalatin, humanistisch und historisch gebildet, hatte ein Rechtsstudium absolviert, ehe ihn Kurfürst Friedrich der Weise 1508 zum Lehrer des Kurprinzen Johann Friedrich und später zum Betreuer weiterer Verwandter bestellte und schließlich 1516 zu seinem Sekretär berief. 1517 schon übertrug ihm der Kurfürst die Kirchen- und Universitätsangelegenheiten. Er wurde der Reisebegleiter des Kurfürsten bei allen Reichstagen ab 1518, sein Vertrauter und Seelsorger, bereits 1518 durch Papst Leo X. mit besonderen Beichtvollmachten ausgestattet. Während einiger Jahre in Wittenberg hatte er eine persönliche Verbindung zu Luther aufgebaut, die ihn später zum einflussreichen Vermittler zwischen diesem und dem Kurfürsten werden ließ. 1522 wurde er Hofkaplan und Hofprediger, woraus sich durchaus eine Zuneigung des kursächsischen Hofes zur lutherischen Predigt ableiten lässt. Außerordentliche Leistungen liegen bei Universitätsreform und Neuordnung der Kirche, die er bereits frühzeitig als Aufgabe der Landesherrschaft ansah. Von historischer Dimension bleibt, dass Spalatin den Kurfürsten dafür gewann, Luther gegen Rom und Kaiser Schutz zu gewähren und umgekehrt Luther in einigen Fällen bewog, bei seiner Polemik auf den Kurfürsten Rücksicht zu nehmen. 1522 hatte Spalatin dem Kurfürsten eine Reihe von Vorschlägen für eine Devise unterbreitet, welche dieser auf eine Medaille setzen wollte, die er als Geschenk für seine Aufenthalte beim Reichsregiment plante. Friedrich der Weise entschied sich für ‚Verbum Domini manet in aeternum‘ (Jes. 40,8; Ps. 119,89). Spalatin korrespondierte mit Melanchthon sogar wegen der Schreibweise ‚in aeternum‘. Luther wünschte im August 1522 die fertige Medaille zu sehen und erhielt nahezu postwendend ein Exemplar als Geschenk des Kurfürsten. In ihrer eingeführten Abkürzung in Versalien wurde die Devise verpflichtend für die Hofkleidung bereits im Winter 1522. Beim Reichstag zu Speyer 1526 schlugen die evangelisch gesonnenen Reichsstände die Devise an ihre Herberge. Daraus wurde schließlich die Devise für die Reformation in ganz Europa. Von der Gesamtübersetzung der Bibel durch Martin Luther an stand sie in den Bibelausgaben über dem Druckschutzprivileg des Kurfürsten Johann Friedrich vom Jahre 1534 – und dies über Jahrhunderte. Die Devise steht über den BronzeEpitaphen der Kurfürsten Friedrich und Johann in der Schlosskirche zu Wittenberg und im Seitenbild des von Lucas Cranach dem Jüngeren gemalten Epitaphs für Kurfürst Johann Friedrich den Großmütigen und seine Gemahlin Sibylle in der Herderkirche in Weimar. Einige Häuser in Torgau tragen die Devise in ihrer markanten Abkürzung VDMIAE. Spalatins Wohnhaus in Torgau wird noch heute gezeigt.
47 Die Verwendung der Devise durch den Kurfürsten in den frühen Jahren der Reformation ist ein überzeugendes Merkmal für seine persönliche Haltung. Friedrich der Weise vermied jede institutionelle Förderung der reformatorischen Bewegung, ließ sie jedoch gewähren: in diesem Freiraum konnte sich die neue Theologie ungehindert entwickeln und sich ausbreiten (Günther Wartenberg).2 Mit dem Tode Friedrichs des Weisen am 5. Mai 1525 übernahm sein mit ihm gemeinsam regierender Bruder Johann die Regierungsgeschäfte für das gesamte Kurfürstentum allein und verlegte die Residenz dauernd nach Torgau, wo sich seit 1485 die Kursächsische Kanzlei befand. Johann, fünf Jahre jünger als sein Bruder, hatte im Jahre 1500 mit großem Aufwand in Torgau geheiratet, verlor aber nach drei Jahren bei Geburt des Kurprinzen Johann Friedrich seine Gemahlin Herzogin Sophia von Mecklenburg. Aus seiner zweiten Ehe, die zehn Jahre später wiederum in Torgau gefeiert wurde, stammte auch die Tochter Maria, die Luther 1536 in Torgau mit Herzog Philipp I. von Pommern traute. Nach der Befriedung der Bauernunruhen, die wegen der in Sachsen besseren Situation der bäuerlichen Bevölkerung ruhiger verliefen, schloss Kurfürst Johann zur Absicherung gegenüber der Bedrängnis seitens des Kaisers ein Verteidigungsbündnis mit Landgraf Philipp von Hessen, das am 2. Mai 1526 in Torgau ratifiziert wurde. Dem ‚Torgauer Bund‘ traten später weitere Mitglieder bei. Vor dem Hintergrund der schwierigen außenpolitischen Lage des Reiches und insbesondere der Türkengefahr kam es beim Reichstag zu Speyer 1526 zu einem einstimmigen Reichstagsabschied, mit dem Wormser Edikt gegen Luther und seine Anhänger so zu leben, wie es jeder gegenüber Gott und dem Kaiser zu verantworten hoffe. Die scheinbare Ruhe der Jahre ab 1526 wurde im Kurfürstentum Sachsen für den Aufbau einer Evangelischen Landeskirche genutzt. Im gesamten Land sollten Kirchen- und Schulvisitationen stattfinden, für die Spalatin erste Instruktionen für die Visitationsherren entworfen hatte. Sorge war dafür zu tragen, dass Adel und Städte sich nicht am Kirchengut bereicherten und wirtschaftliche Grundlagen geschaffen werden für die Pfarrbesoldung, die Unterhaltung von Schulen und die Wahrnehmung von Sozialaufgaben. Die geistlich wie weltlich gleichsam paritätisch besetzten Visitationskommissionen stellten erschreckende Unkenntnis in Glaubensdingen bei Pfarrern und Gemeindegliedern fest. Die Antwort von Luther kam prompt: Großer Katechismus für die Pfarrer, Kleiner Katechismus für die Hausväter und zum Auswendiglernen. Noch im Jahre 1529 werden die ersten Superintendenten eingesetzt. Torgau erhält die erste Su-
perintendentur. Die Kirchen- und Schulvisitation im Kurfürstentum Sachsen 1529 gilt als das öffentliche Bekenntnis zur Reformation. Diese Entwicklung in Kursachsen und eine entsprechende Planung für Hessen als unübersehbare Zeichen für den Fortgang der Reformation veranlassten König Ferdinand I. auf dem zweiten Reichstag zu Speyer 1529, die Aufhebung des Reichstagsabschieds von 1526 zu betreiben. Auf den erwartbaren Beschluss der altkatholischen Reichstagsmehrheit antworten die evangelisch gesonnenen Reichsstände unter Führung des sächsischen Kurfürsten mit einer feierlichen Protestation: in der Frage des Glaubens könne es einen Mehrheitsbeschluss nicht geben, auch sei ein Reichstagsabschied nicht durch einen einfachen Mehrheitsbeschluss aufhebbar. Seither wird der Ehrenname ‚Protestanten‘ geführt. Da der eher ausgleichend formulierte Beschluss aber ankündigte, beim nächsten Reichstag in Augsburg 1530 schlichten zu wollen, hoffte man protestantischerseits, durch überzeugende Darstellung die Schriftgemäßheit der eigenen Glaubenshaltung dartun zu können. Kurfürst Johann begehrte von den Wittenberger Theologen eine für den Reichstag geeignete entsprechende Darstellung und außerdem eine Positionierung zu einem möglichen Widerstandsrecht. Bei einer Tagung in der Torgauer Superintendentur brachten Luther, Melanchthon, Jonas und Bugenhagen die Torgauer Artikel, Grundlage der Augsburgischen Konfession, zur Überreichung an den Kurfürsten zum Abschluss. Melanchthon überarbeitete diese zur Vortragsfassung auf dem Reichstag zu Augsburg. Im Anschluss an die Verlesung durch den Kursächsischen Kanzler Beyer ließ der Kaiser durch Johann Eck, Luthers theologischen Hauptgegner, die Confutatio (Widerlegung) vortragen und betrachtete die Angelegenheit damit als erledigt. Nach der Entscheidung von Kaiser und Reichstagsmehrheit sollten die Evangelischen binnen eines halben Jahres in die alte Kirche zurückkehren. Mit der Wiederaufnahme der Gewaltandrohung stellte sich für Kurfürst Johann nunmehr die Frage nach dem Widerstandsrecht erneut. Nachdem im März 1530 in Torgau ein Einvernehmen in dieser Frage nicht hatte bewirkt werden können, wurden die Wittenberger Theologen im Oktober 1530 erneut nach Torgau berufen, um mit den sächsischen Politikern unter Beteiligung von Altkanzler Gregor Brück und Georg Spalatin die rechtlichen Aspekte eines Widerstandsrechts gegenüber dem Kaiser erneut zu beraten. Die dominierende Persönlichkeit dieser Debatte war zweifelsohne der ‚Reformationskanzler‘ Dr. Gregor Brück, von 1520 bis 1529 Kursächsischer Kanzler, danach ‚Rat von Haus aus‘.
48 Seinen Nachfolger, den Wittenberger Professor Dr. Christian Beyer, hatte er zuvor über Jahre eingearbeitet. Beyer trug 1530 beim Augsburger Reichstag die Confessio Augustana vor, weil der Kaiser sich für den Vortrag der deutschen Fassung entschieden hatte. Die lateinische Fassung hätte Brück vorgetragen. Das bekannte Reformatorenbild von Lucas Cranach dem Älteren, um 1532/39, zeigt den Altkanzler unmittelbar neben dem Kurfürsten Johann Friedrich. Von über 1.600 von Brück überlieferten Briefen sind 740 an Johann Friedrich gerichtet. Das reich gestaltete Portal seines Torgauer Hauses mit Darstellung von Kurschwertern und Sachsenraute ist vorzüglich erhalten. In der Glaubensfrage hatte der Kaiser zur Wiederherstellung der Einheit der Kirche eindeutig mit Gewaltanwendung gedroht. Zur Rechtfertigung eines Widerstandsrechts mussten also die gegen ein solches gerichteten Zweifel ausgeräumt werden. Luther hatte noch im Frühjahr 1530 darauf verwiesen, dass keine Obrigkeit sei ohne von Gott und der Obrigkeit Gehorsam geschuldet werde. Es kam allenfalls der passive Ungehorsam in Betracht, dessen Folgen aber dann zu tragen waren. Kurfürst Johann hatte diese Auffassung Luthers für sich persönlich übernommen. Von den Wittenberger Theologen vertrat nur Bugenhagen eine andere Auffasssung, doch war er im Oktober 1530 im Zusammenhang mit der Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in Lübeck. Wollte man also Kurfürst Johann gewinnen, musste man seinen theologischen Hauptratgeber, nämlich Luther, umstimmen. So hatte Landgraf Philipp von Hessen als aktiver Gegenpart von Luther in dieser Frage das direkte Gespräch mit dem Reformator aufgenommen: Gewaltanwendung in Glaubensfragen ist Unrecht! Gegen Unrechtstaten des Kaisers ist Widerstand zulässig. Die kaiserliche Gewalt ist weniger legitimiert als die der Fürsten; denn der Kaiser kommt durch Wahl der Fürsten ins Amt, diese aber durch Erbfolge. Zwar stimmte Philipp mit Luther in der Überzeugung überein, dass Gott die Seinen nicht im Stich lassen werde, doch sei das Vertrauen auf Gott mit der Nutzung der von Gott bereitgehaltenen Mittel nicht unvereinbar. Genau dieses war die Auffassung der kursächsischen Juristen mit Altkanzler Brück an der Spitze. Mit der verfassungsrechtlichen Argumentation wurde Luther schließlich überzeugt, da das kaiserliche Recht bei offenkundigem Unrecht (notoria iniustitia) Gegenwehr zulasse. Als ‚Torgauer Wende‘ ist dieses Ergebnis in die Geschichte eingegangen. Die so in Torgau erlangte Auffassung wurde in den dreißiger Jahren von den Wittenberger Theologen weiter ausgebaut. Die Ableitung des Widerstandsrechts ergab sich zunehmend aus der cura religionis, der Sorge für die rechte Kirche, die zur vornehmsten Aufgabe des Fürsten erklärt wurde:
‚Christliche Untertanen, dazu auch christliche Lehre und äußerlich rechte Gottesdienste zu schützen und zu handhaben‘ (1536). So wurde Widerstandsrecht zur Widerstandspflicht, allerdings immer verstanden als Verteidigung, nicht als Angriff oder als Präventivkrieg (Eike Wolgast).3 Als Antwort auf die Kriegsdrohung des Kaisers kommt es 1531 zum Schmalkaldischen Bund protestantischer Fürsten und Reichsstädte als Verteidigungsbündnis. Im Nürnberger Anstand von 1532 wird nochmals Aufschub gewährt, diesmal bis zu einem Konzil. Als Kurfürst Johann am 16. August 1532 stirbt, hat er zumindest einen zeitlichen Ausgleich mit dem Kaiser bewirkt. Wenigstens einundvierzigmal ist Luther in Torgau gewesen. Daß er bei solcher Gelegenheit bei Hofe predigte, war die Regel, mitunter nicht nur einmal. Darüber hinaus ist in vielen Fällen eine weitere Predigt in der Stadtpfarrkirche St. Marien belegt, Luthers ‚großer Scheune‘. Gegen Ende der zwanziger Jahre ist die seit dem 14. Jahrhundert nachgewiesene Burgkapelle St. Martin nicht mehr zu gottesdienstlichen Handlungen benutzt worden. Ein Zusammenhang mit der großen Kirchenvisitation und der 1529 offiziell durchgeführten Reformation in Kursachsen wäre einleuchtend. Für 1531 sind Tischlerarbeiten für einen Altar bekundet, der in der Hofstube aufgestellt wird, also in einem nie für gottesdienstliche Zwecke bestimmten Raum. So ist während einiger wichtiger Jahre des reformatorischen Umbruchs in Kursachsen die Obere Hofstube Raum für den Gottesdienst des bewusst evangelischen kursächsischen Hofes gewesen. Die an sich original erhaltene gotische Halle ist seit dem 19. Jahrhundert in ihrem nördlichen Drittel um ein Treppenhaus verkleinert, aber mit ihrem schönen Kreuzgratgewölbe immer noch von eindrucksvoller Ausstrahlung. In Torgau hatte Luther seinen musikalischen Berater: Johann Walter, den ‚Urkantor‘ der evangelischen Kirche. Mit Auflösung der Hofkapelle Friedrichs des Weisen 1526, in der er Sänger gewesen war, hatte Walter eine Kantorei begründet, in der Mitglieder der Gemeinde und Knaben der Lateinschule sangen. Die musikalische Tradition der Lateinschule ist bereits für das Jahr 1371 nachgewiesen. Johann Walter und die Kantorei haben auch bei Gottesdiensten des Hofes mitgewirkt – wie auch das Engagement Walters 1547 bis zur Sicherstellung des Chorbuchs der Schlosskapelle reicht. Die Mitwirkung der Kantorei bei Luthers Kirchweihe der Schlosskapelle 1544 geriet gar zu einer Art ‚musikalischen Staatsakts‘ (Joachim Stalmann)4; die Huldigungstexte betreffen den Kurfürsten wie auch die beiden Reformatoren Luther und Melanchthon. Paul Hofmann, Superintendent in Torgau, hat in seiner 1671 veröffentlichten Nutzungsgeschichte
49 des Schlosses den von Johann Walter in seine Einweihungsmotette eingefügten lateinischen Lobgesang auf Luther und Melanchthon ins Deutsche übertragen.5 Als ein Beispiel für die Nachwirkung sei diese Übersetzung hier mitgeteilt: Es lebe Lutherus, Melanchthon ingleichen. Ihr müsset des Nestoris Jahre erreichen, Ihr brennenden Lichter des Sächsischen Landes, Ihr edelste Zierden des geistlichen Standes: Durch eure Bemühungen können wir hören In Unseren Kirchen die göttlichen Lehren. Ihr habet die finsteren Wolken vertrieben, Die Menschengesetze, die mußten verstieben. Die Lehre, dadurch wir den Himmel erlangen, Die ist durch euch lieblich und herrlich aufgegangen. Es lebe Lutherus, Melanchthon ingleichen. Ihr müsset des Nestoris Jahre erreichen. Die Musik wird zur Lieblingskunst des Protestantismus. Gemeindegesang und Wortverkündigung erscheinen gleichbedeutend. Und ein Weiteres ist für Torgau von nachwirkender Bedeutung. Als 1534 die erste Gesamtausgabe von Luthers Bibelübersetzung erscheint, kommt das kursächsische Druckschutzprivileg mit der Unterschrift Johann Friedrichs aus der Torgauer Kanzlei. Über Jahrhunderte wird es immer wieder beigedruckt. Das Torgauer Land inmitten der Mark Meißen lag in einem über Jahrhunderte wirksamen Kolonisationsgebiet, in dem aus oberdeutscher, mitteldeutscher und niederdeutscher Siedlungsherkunft >im Zeitraum weniger Generationen eine Sprachform entstand, die als Verkehrssprache integrierende Kraft erhielt, erfaßte sie doch alle wesentlichen Merkmale des gesamten deutschen Sprachraums< (Heinz Endermann).6 Luther fand hier Anfang des 16. Jahrhunderts Bedingungen vor, die eine rasche Verbreitung seiner Schriften sicherten. Eine seiner Tischreden enthält dazu eindeutige Aussagen: ‚(Ich habe keine besondere Sprache im Deutschen, sondern eine allgemeine, daß mich sowohl Oberdeutsche wie Niederdeutsche verstehen können.) Ich rede nach der Sechsischen cantzley, (welcher alle Fürsten und Könige folgen); alle reichstette, fürsten höfe schreiben nach der Sechsischen cantzeleien vnser churfürsten. (Deshalb ist es auch die allgemeinste deutsche Sprache.) (Kaiser Maximilian und Kurfürst Friedrich haben so für das Reich eine bestimmte Sprache festgelegt), haben also alle sprachen in eine gezogen.‘ Gerade die Bibelübersetzung Luthers hat somit Einfluß auf die Ausbildung der deutschen Einheitssprache. Seit 1485 war die Kursächsische Kanzlei in Torgau untergebracht: bis etwa 1533/34 in der Alten Kanzlei im Flügel D des Schlosses, danach
in der neu erbauten Kurfürstlichen Kanzlei vor dem Schloss, dem ersten für diese Behörde errichteten zentralen Verwaltungsbau in Kursachsen. Als mit dem Tode Kurfürst Johanns sein Sohn Johann Friedrich die Regierung des Kurfürstentums übernahm, fand er bereits eine intakte Evangelische Landeskirche vor. Kurz zuvor hatten die von ihm wahrgenommenen Ausgleichsverhandlungen mit dem Kaiser im Nürnberger Anstand eine befristete Sicherheit vor kriegerischen Angriffen aus Glaubensgründen bewirkt. Mit der kursächsischen Politik war er rundum vertraut. Auf sein Amt war er mit Sorgfalt vorbereitet worden, ruhten doch die ernestinischen Erwartungen ganz auf seiner Person. Kaum ein anderer Reichsfürst war mit der Entwicklung der Reformation so verbunden wie er. Schon als junger Mann nahm er an der schließlich ganz Europa erfassenden und verändernden geistigen Entwicklung und an Martin Luthers persönlichem Schicksal Anteil. Der Reformator war ihm ein ‚geistlicher Vater‘. Das Augsburger Bekenntnis und später die Schmalkaldener Artikel Luthers waren ihm Richtschnur. Außenpolitische Risikospiele wie Bündnispläne mit Frankreich oder England waren ihm suspekt, auch wegen seiner Reichstreue. Dem diplomatischen Ränkespiel der habsburgischen Politik war er allerdings nicht gewachsen. Gegenüber seinem Vetter Moritz von Sachsen versagten ihm Einfühlungsvermögen und Urteilsfähigkeit. Die Rolle Kursachsens im Reich und im Kreis von dessen Territorien war ihm geläufig. ‚Für sein Amt als erster Fürst unter den reformatorischen Reichsständen war Johann Friedrich geradezu optimal vorbereitet. Er war theologisch gebildet sowie sensibilisiert, und dies auch hinsichtlich der kontroversen Materien‘ (Martin Brecht).7 Er war erklärter Förderer der Universität Wittenberg, den Aufbau der Universitätsbibliothek betrieb er mit Engagement. Er war Schirmherr der Reformation aus Überzeugung – glaubensstark und geradlinig. Sein Schicksal 1547 und seine Haltung in der mehrjährigen kaiserlichen Gefangenschaft machten ihn zum Märtyrer des Protestantismus, seinen Vetter Moritz in den Augen der Zeitgenossen aber zum ‚Judas von Meißen‘. Die besondere Rolle von Torgau im Reformationszeitalter findet mit der Schlacht bei Mühlberg am 24. April 1547 ein jähes Ende. Herzog Moritz von Sachsen, mit dem Kaiser verbündet, hatte die mögliche Übertragung der sächsischen Kurwürde seines Vetters Johann Friedrich schon vorher abgesichert und regierte danach das um zwei Drittel ernestinischen Gebietes vergrößerte Land von Dresden aus. Torgau wird Nebenresidenz mit häufigen Aufenthalten der nunmehr albertinischen kurfürstlichen Familie und zahllosen Landtagen in der Stadt. Eine Fürstenzusammenkunft im Mai
50 1551 auf Schloß Hartenfels diente ihm zur Vorbereitung eines Bündnisses mit König Heinrich II. von Frankreich gegen den Kaiser; im Oktober 1551 tritt der französische König dem Bündnis bei. Gegen Abtretung der zum Reich gehörigen Städte Metz, Toul und Verdun fließen die erbetenen französischen Hilfsgelder! Bei dem Feldzug von Moritz gegen den Kaiser im Frühjahr 1552 entgeht dieser mit Mühe der Gefangennahme. Den Passauer Vertrag vom 2. August 1552 mit König Ferdinand I. bestimmen die evangelischen Fürsten. Es ist dies die Vorbereitung des Augsburger Religionsfriedens vom 25. September 1555, durch den ‚Verwandte der Confessio Augustana‘ rechtlich anerkannt werden: cuius regio, eius religio. Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige, wie er schon alsbald nach seinem Tode am 3. März 1554 genannt wurde, war am 30. Juni 1503 im Torgauer Schloss zur Welt gekommen. Er hat, wie er später sagte, Torgau mehr geliebt als alle seine anderen Besitzungen zusammen. Seine glückliche Ehe mit Prinzessin Sibylle von Jülich-Cleve wurde 1526 auf Schloss Burg an der Wupper getraut; am 2. Juni 1527 erfolgte die feierliche Heimholung nach Torgau. Dem Kurfürsten wurden drei Söhne geboren. Alsbald nach seinem Regierungsantritt hatte Johann Friedrich 1533 mit der großzügigen Neugestaltung der Schlossbebauung begonnen. Der Große Wendelstein des Baumeisters Conrad Krebs gilt als Treppenwunder der Weltarchitektur. Der die Schlosskapelle mit dem Wohnbau des Kurfürsten architektonisch verbindende Schöne Erker von Stefan Hermsdorf zeigt szenische Reliefs und pflanzliche Ornamente in feinster Sandsteinarbeit: Das Bildprogramm bietet eine Art fürstlicher Tugendspiegel – Tapferkeit, Opfermut, Klugheit und Selbstüberwindung allegorisch zum Ausdruck gebracht. Johann Friedrich wurde der Bauherr des ersten großen Schlosses der Frührenaissance in Deutschland. Mit seinem Baumeister Conrad Krebs verbanden ihn nahezu freundschaftliche Beziehungen: der Kurfürst hatte ein Gespür für die Größe dieses Mannes, der weit mehr war als ein herausgehobener Hofbeamter, setzte er doch ein bautheoretisches Konzept um, das den Torgauer Schlossbau einreiht unter die herausragenden europäischen Schlossbauten der Zeit. Zur Vollendung seiner umfangreichen Bautätigkeit hatte Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige 1544 einen gottesdienstlichen Raum neu errichten lassen. Ganz in die Fassadengestaltung eines Schlossflügels einbezogen, ist die Kirche des Baumeisters Nickel Gromann äußerlich nur durch das plastisch reiche Portal des Torgauer Bildhauers Simon Schröter als sakraler Bau zu erkennen. Zwischen mittelalterlichen Bergfried und Hofstubenbau mit den kurfürstlichen Wohngemächern eingeschoben sollte diese Kirche ganz bewusst kein beson-
deres Haus sein, ‚als wäre sie besser denn andere Häuser, wo man Gottes Wort predigt‘; so sagt es Luther in seiner Kirchweihpredigt. Im Innern zeigt sich eine dreigeschossige überwölbte Halle umzogen von steinernen Emporen. Unmittelbar gegenüber dem Eingang die Kanzel in der Mitte der streng symmetrisch aufgebauten Längsempore; an der linken Schmalseite mit Ausrichtung nach Nordwesten der Altar und darüber die Orgel; an der rechten Schmalseite übereinander die beiden kurfürstlichen Emporen. Die Schlosskapelle ist mit Ausnahme der Empore des Kurfürsten in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten.8 Luther hat seine Predigt zur Kirchweihe am 5. Oktober 1544 mit einem Segenswunsch für dieses neue Gotteshaus beschlossen: ‚Das sei jetzt genug gesagt von dem Evangelio zu Einweihung dieses Hauses. Und nun ihr es, lieben Freunde, habt helfen besprengen mit dem rechten Weihwasser Gottes Worts; so greifet nun auch mit mir an das Räuchfaß, das ist zum Gebet, und laßt uns Gott anrufen und beten für seine heilige Kirche, daß er sein heiliges Wort bei uns erhalte und allenthalben ausbreiten wolle, auch dieses Haus rein erhalte, wie es jetzt, Gott Lob, eingeweihet in der Heiligung durch Gottes Wort, daß es nicht durch den Teufel entheiliget oder verunreiniget werde, mit seiner Lügen und falschen Lehre‘. Kasper Cruziger besorgte 1546 den Druck dieser Predigt bei Georg Rhau in Wittenberg: mit Widmung an die beiden ältesten Söhne des Kurfürsten, Johann Friedrich und Johann Wilhelm. Alsbald nach dem Tode Luthers veröffentlicht wirkt die Weihe-Predigt wie ein Vermächtnis: ‚Einweyhung eines Newen Hauses zum Predigampt Göttlichs Worts erbawet‘. Johann Walter widmete dem außergewöhnlichen Ereignis eine siebenstimmige Motette zum 119. Psalm, die von seiner Kantorei in großer Besetzung im Einweihungsgottesdienst gesungen wurde. Luthers Torgauer Kirchweihe bedeutet eine eindeutige Abkehr von dem seit Jahrhunderten überkommenen Ritus einer Kirchweihe, ohne Konsekration und ohne Bischof. Predigt, Gebet und Lobgesang stehen im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Die bauliche Gestaltung der neuen Kirche folgt Luthers Liturgievorstellungen, die künstlerische Ausgestaltung ist von Cranach mitbestimmt. Es erstaunt nicht, dass die Torgauer Schlosskapelle weltweit am Anfang des protestantischen Kirchenbaus steht und diesen nachhaltig beeinflusst hat. Selten haben reformatorische Bekenntnisse eine derart ausstrahlende kulturelle Umsetzung erfahren. Eine 1545 bei den Gebrüdern Hillger in Freiberg gegossene Bronzetafel feiert das Ereignis in lateinischen Versen von Johannes Stigel, Professor in Wittenberg. Die Veröffentlichungen zum Kirchweih-
51 Jubiläum 1994 enthalten auch eine Übersetzung ins Deutsche (Gottfried Nuschke), die hier mitgeteilt sei9: ‚Erbaut und geschenkt worden ist diese Kirche im Jahre 1544 n. Chr. Geb. von dem hochangesehenen Herrscher, dem Kurfürsten Johann Friedrich, Herzog von Sachsen, Landgraf von Thüringen, Markgrafen zu Meißen und Burggraf zu Magdeburg. Auf diese Weise schenkt Gott uns die Vorfreude auf das ewige Leben, will, daß der Ruf des Evangeliums überall gehört werde, und erwartet, daß die Menschen sich in großer Zahl in die Kirche rufen lassen, damit sie dort in frommer Andacht oft und aufrichtig beten. Deshalb ließ Fürst Johann Friedrich, edler Spross aus hohem sächsischen Geschlecht, – damit auch hier die christliche Lehre verkündet werden könne – diese Kirche in seiner Vaterstadt errichten, jetzt, da Gott erwägt, daß von Sachsen aus die wahre christliche Lehre über seinen Sohn wieder deutlich hervortreten soll. Zuallererst für Gott ist dieser Bau aus reiner Liebe hier errichtet worden, der alle Kirchen an Bedeutung zu übertreffen vermag, und in der Tat bis heute sogar alle, die es auf der ganzen Welt gibt. Sie sind unter der verderblichen obersten Kirchengewalt des Papstes errichtet worden: so entartet zeigte sich die Ausübung der Lehre niemals zuvor; völlig neu ist jetzt: zum erstenmal zeichnet sie sich durch eine ganz lautere Frömmigkeit aus. Indem Luther die Wahrheit lehrte, machte er durch seine Predigt in dieser Kirche die Grundlage von Christi Lehre den Menschen lieb. Lob sei Dir, Allerhöchster! Dir, Fürst, sei in aller Demut Dank, der du nicht unerschütterlich tust, was jener (der Papst) befiehlt. Laß deine Kirche, die sich in jener jammervollen Lage befindet und wie ein schwankendes Schiff in der Brandung erzittert, dir, Herr Jesus anbefohlen sein. Gib Frieden! Beschütze die Deinen, auf daß dir allezeit die ganze Nachwelt hier und an allen Orten lobsinge!‘ Erinnern wir uns: Die ernestinischen Kurfürsten haben Luther und der jungen Reformation Schutz gewährt: In diesem Freiraum konnte sich die neue Theologie entwickeln, auch ohne institutionelle Förderung in der Frühzeit. Die Torgauer Artikel als Grundlage der Confessio Augustana und die Torgauer Wende in der entscheidenden Frage des Widerstandsrechts markieren Ecksteine. Die Devise VDMIAE wurde schließlich zur Devise der Reformation in ganz Europa. Die Sprache der Kursächsischen Kanzlei als normierende Hilfe bei Luthers Bibelübersetzung neben seiner eigenen schier unvorstellbaren sprachbild-
nerischen Leistung hat zumindest seit 1534 über die Gesamtsausgabe der Bibel Einfluss auf die Ausbildung der deutschen Einheitssprache. Und in der Dedikationstafel von 1545 in der Schlosskapelle haben wir das wohl früheste Denkmal der Reformation zu sehen. Überhaupt ist der Schlossflügel B1 mit Schlosskapelle, Wohnräumen und Schönem Erker, dem architektonischen Glanzstück neben dem Großen Wendelstein, der für die Reformation wichtigste Teil des Torgauer Schlosses, europaweit ohne Beispiel und schließlich in seiner Bedeutung für Sachsen unvergleichlich. Bei den Frührenaissancebauten des Schlosses ist nur der Reformationsflügel B1 neben seiner äußeren Gestalt auch in seinem Inneren im Wesentlichen erhalten. Er ermöglicht in besonderer Weise die Erlebbarkeit der historischen Raumsituation und ist somit weit mehr als nur ein Exponat an sich! Dieser Schlossbereich mit dem ersten protestantischen Kirchenneubau, den Kurfürstlichen Gemächern und dem zuzurechnenden Flaschenturm ist also die einzige wieder herstellbare Nutzungseinheit im Schloss. Die räumliche Verbindung der von Luther geweihten Kapelle mit den persönlichen Räumen des Kurfürstenpaares und dem Flaschenturm ermöglicht an einem wirklichen Brennpunkt die Darstellung historischen Geschehens. Der Flaschenturm beinhaltet zudem unterschiedliche – durchaus touristisch relevante – Attraktionen: Weinkeller, Reit- und Fahrspindel, Trinkstube mit Flaschenzug und schließlich zwei Wendeltreppen zur Kapelle und zu den Gemächern. Für das in seiner historischen Wertigkeit einmalige Raumensemble im Anschluss an die Schlosskapelle kommt nur museale, hier reformationsbezogene Präsentation als dauernde Nutzung in Frage. Im Jahre 2003 hat der Initiativkreis Schloss Hartenfels dieses in einem Arbeitspapier untersucht. Hier Themen beispielhaft: Gottesdienst in neuer Gestalt, Musik der Reformationszeit, Bibelübersetzung und Glaubensverkündigung in ihrem normierenden Einfluß auf die sich herausbildenden Nationalsprachen, Verlauf der Reformation in den deutschsprachigen Ländern und in Europa, die welthistorisch bedeutsamen Veränderungen infolge der reformatorischen Entwicklungen – auch in Übersee, nachhaltige Wirksamkeit in der Gegenwart von Verfassung bis Gesellschaft u.a.m. Die historische Ausgangslage der Reformation in Sachsen kann unter Auswertung der Visitationsprotokolle von Klöstern aus katholischer Zeit verdeutlicht werden. Die mit der Säkularisierung der Klöster einhergehende Veränderung der Aufgabenwahrnehmung bei Unterhaltung der Schulen, der Gesundheitsvorsorge oder Sozialaufgaben ließe sich an kommunalen Beispielen wie auch Torgau darstellen. Wittenberg war das geistige Zentrum, Torgau das politische Zentrum der Lutherischen Reformation.
52 Genau dieser politische Aspekt ist es, der etwas gefühlsbetont seit dem 19. Jahrhundert mit „Torgau – Amme der Reformation“ angesprochen wird. Unter den ernestinischen Kurfürsten war Torgau zur Kursächsischen Hauptresidenz und zur Hauptstadt des Kurfürstentums Sachsen geworden. Es sind die Residenzfunktion und aus dieser resultierendes politisches Geschehen, was die Solitärstellung von Torgau in der Reformationszeit ausmacht. Sowohl der Rang wie die letztendlich europäische Dimension der von hier beeinflussten reformatorischen Fortentwicklung bestimmen die nachhaltige Bewertung von Torgau in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Torgau als wichtigster historischer Schauplatz der Reformation im heutigen Sachsen war im Jahre 2004 Ort der Zweiten Sächsischen Landesausstellung ‚Glaube & Macht – Sachsen im Europa der Reformationszeit‘. Während viereinhalb Monaten Ausstellungszeit kamen 226.000 Besucher in die Stadt; der Anteil ausländischer Reisender war hoch. Mehr als 500 Exponate aus Museen und Sammlungen weltweit kehrten noch einmal an ihren Ursprungsbereich zurück. Schloss und Stadt zeigten nach vielfältiger Restaurierung ‚das heitere Gesicht der Reformation‘: so Dieter Bartetzko in der FAZ bei Erscheinen des Begleitbandes zur Ausstellung: ‚Torgau – Stadt der Renaissance‘.10
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Ein Vorspiel für das Fünfhundertjährige im Jahre 2017 – gemeinsam mit Wittenberg? Literatur
1 Blaschke, Karlheinz: Torgau, in: Deutscher Städteatlas Lieferung II Nr. 14, Dortmund 1979, Sp. 1–4, zit. Sp. 3. 2 Wartenberg, Günther: Die reformatorische Veränderung von Kirche und Gesellschaft. Das Werden der Wittenberger Reformation, in: Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, hg. von Harald Marx und Cecilie Hollberg für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2004, S. 16–26.
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Wolgast, Eike: Die Torgauer Wende von 1530 – zum protestantischen Widerstandsrecht im 16. Jahrhundert, in: Torgau – Stadt der Reformation, hg. von Martin Brecht und Hansjochen Hancke, o.O. 1996, S. 70–86. Stalmann, Joachim: Der erste Musiker der Reformation Johann Walter, Beiheft zu Viue Luthere. Musik der Reformation, hg. von Armin Schneiderheinze, Altenburg 1996, S. 2–25, zit. S. 8 = CD – VKJK – 9506. Hofmann, Paul: Christliches und Torgauisches Jubilate oder Predigt in der Churfürstl. Sächs. SchloßCapelle zu Torgau, 1671, Torgau: Hofbuchdrucker Johann Reinhardt. Zitiert nach dem Wiederabdruck des Vorspanns des Predigtdrucks: Kurze Erzählung der Denkwürdigkeiten der durchlauchtigsten Besitzer des Schlosses zu Torgau, seit den Zeiten Alberts, von Doktor Paul Hofmann, Superintendenten zu Torgau, in: Journal für Sachsen, Dresden, H. 8 (November 1792) – H. 12 (März 1793), hier S. 784 f. Endermann, Heinz: Martin Luthers Bibelübersetzung, in: Zu Martin Luther: Biblia, Leipzig 1983, S. 23–34, zit. S. 24 f. Brecht, Martin: Martin Luther und Kurfürst Johann Friedrich I., in: Sächsische Heimatblätter 50 (2004) S. 32 – 41, zit. S. 39. Krause, Hans-Joachim: Die Emporenanlage der Torgauer Schloßkapelle in ihrer ursprünglichen Gestalt und Funktion, in: Bau- und Bildkunst im Spiegel internationaler Forschung, Festschrift zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Edgar Lehmann, Berlin 1989, S. 233 – 245. Hancke, Hansjochen: Spektakulärer Fund zur Architekturgestalt der Torgauer Schloßkapelle. Bedeutende Bildhauerarbeit von Simon Schröter gesichert, in: Sächsische Heimatblätter 51 (2005) S. 71–73. Übersetzung von Gottfried Nuschke, zitiert bei Andreas Rothe: Theologie in Stein und Bild, in: Die Schloßkirche zu Torgau, Torgau 1994, S. 26. Bartetzko, Dieter: Serenus Zeitblom sah nicht alles. Das heitere Gesicht der Reformation: Ein Prachtband lässt die Renaissance-Stadt Torgau aufleben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.11.2003 Nr. 267/S. 37.
53 Uwe Niedersen
Kurfürstliche Residenz Torgau und Szenen der Lutherischen Reformation 1. Zur „religiösen Rückbindung“ sächsischer Kurfürsten an Luthers Kirche Die damaligen sächsischen Kurfürsten waren gottesfürchtige, christlich-moralische Politiker, die auch aus dem neuen Glauben heraus in der ihnen gewohnten Weise ihr herrschaftliches Selbstverständnis anzeigten und eine gesuchte RegentenSelbstdarstellung betrieben.1 Beim Verschleifen von „Kirche“ und „Staat“, d.h. beim Konfessionalisieren entwickelten sie auch Zusammenhänge, die in ihrer Bestimmung als „Regentenethik“ benannt werden kann. Was ist „Regentenethik“?2 „Regentenethik“ ist Ausdruck einer religiösen Rückbindung damaliger Kurfürsten an die Kirche. Der Staat wollte ein Konfessionsstaat sein. In der Residenzstadt Torgau war es das gesamte Schloss, das unter Johann Friedrich I. ab 1532 als grandioser Um- und Neubau gestaltet worden war. Der Bau zeigte sich den damaligen Menschen besonders augenfällig und einprägsam. Mit dem Schloss Hartenfels und dem, was dort in Stein gemeißelt wurde, stellte sich neben dem weltlichen Machtanspruch auch die nicht zu übersehende „Regentenethik“ aus (Abb. 1).
Dabei half die Kirche durch ihren direkten Einfluss auf die damalige Staatlichkeit. Dieser war von der Herrschaftlichkeit willkommen, mitunter erwünscht. Luthers Rat wurde gesucht eingeholt. Ein Beispiel: Die gesamte Außen- und Innenarchitektur der Kapelle im Schloss Hartenfels in Torgau sowie der darin vollzogene Gottesdienst folgte deutlich dem, was Luther als einen „Willen zur Einfachheit“ bezüglich der Darstellung des Verhältnisses zwischen „Gott“ und „Mensch“ postulierte. Die neu erbaute Schlosskapelle, so bestimmte es Luther, habe ein einheitlicher Raum zu sein, ohne Säulen und Pfeiler, welche den Glaubenden nur die Sicht verstellen und die Forderung nach Licht und Offenheit nicht erfüllen würden (Abb. 2). Dem Eintretenden hatte der Raum einen freien Blick zu ermöglichen. Eine große Menge Volk sollte aufgenommen werden. Der im nördlichen Teil stehende Altar war ein einfacher Tisch, dahinter eine fassliche kirchenthematische Darstellung, ohne eine Chorschranke. Bilder und Skulpturen waren im Vergleich zu den ausgeschmückteren und beladeneren alten Kirchen im gesamten Raum eher spärlich vorhanden.
Abb. 1: Der Schlossbau, die Hofansicht (Flügel C) mit dem Großen Wendelstein in der Bildmitte, 1533–1536. (Ulrici 1720); Repro Förderverein Europa Begegnungen e.V.
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Abb. 2: Die Weihe der Schlosskapelle durch Martin Luther, 5. Oktober 1544, nach einem Gemälde von V. Pohlenz, um 2012 (Repro Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
Luther hatte (wahrscheinlich) Lucas Cranach d. J. empfohlen, ein Bild zum Thema „Elias und die Baalspriester“ zu fertigen. Anzunehmen ist, dass dieses bereits ein Jahr später (1545) seinen Platz dem Kanzelkorb direkt gegenüber gefunden hat. (Über „Elias und die Baalspriester“ wird unten gesondert ausgeführt.) Weitere, vor allem Passionsbilder, gelangten dann in den Jahren darauf in die Torgauer Schlosskapelle. Freilich sollte kein überschwenglicher Schmuck vorhanden sein, da es keiner Zutaten oder besonderer Leistungen bedurfte, um ein Fürsprechen bei Gott zu erreichen. Alles in der Schlosskapelle in Torgau war einfach und überschaubar angelegt. Durch das Mitwirken Martin Luthers bei der Bauausführung und des von ihm selbst am 5. Oktober 1544 geweihten Kapellenbaus und darüber hinaus bei den herrschaftlichen Saalbauten und Räumen des Schlosses, ist hier in Torgau wahrlich das Berühren von „Glaube“ und „Macht“ vollzogen. Luthers konzeptionell-theologisches Interesse fand eine (weltliche) architektonisch-bauliche Berücksichtigung. Der Komponist der Reformation, Johann Walter, übertrug das Wort Gottes, das Evangelium, im Raum der Schlosskapelle während der Weihefeierlichkeit in Musik. Es waren zu Klang umgewandelte Worte, welche während der Gottesdienste in allen lutherischen Kirchen zu hören waren. Der
Gottesdienst lud die Herrschaftlichkeit und die Gemeinde zum wiederholenden Gesang mit „ohrenfälliger Klangharmonie“ ein.3 Selbst das nacheinander einsetzende Glockengeläut von Türmen in der Stadt und im Schloss (Nikolaikirche, Marienkirche und Glockenturm im Schloss) sorgte in Torgau in der Reformationszeit für eine einprägsame Klanglandschaft. Die genannte Klanglandschaft hat sich Torgau bis in die Gegenwart erhalten. Den uns heute vertrauten Klang der Glocken von St. Nikolai (Markt) hatte bereits ein Martin Luther im Ohr. Wir haben hier einen Beleg dafür, wie breit gefächert der Konfessionalisierungs-Begriff zu verstehen ist. Das Ganze, beide Bereiche, „Kirche“ und „Staat“, waren konfessionalisiert worden. Somit kann Konfessionalisierung, neben den üblichen landesherrlichen Verordnungen und Anweisungen, auch in Form eines Kirchenbaus, also mittels Architektur und auch durch Bilder, Reliefs, Schriften (Devisen) sowie durch Gesang und Musik in Erscheinung treten und erfolgreich sein. Mit anderen Worten, über Leistungen der Architektur, Bildhauerei, Malerei sowie über die Musik erfolgte eine anschauliche christlich-moralische Rückbindung der Landesherrlichkeit an die neue Lutherische Kirche. Eine solche religiöse Rückbindung geschah in einem anderen Rahmen und zeitlich versetzt auch innerhalb der wohlhabenderen Bürgerschaft.
55 2. Der Wendelstein im Schloss Hartenfels. Dem Geheimnis seiner Rötel-Inschriften näherkommen Rötel, eine eisenoxidhaltige Mineralfarbe, war auch im Mittelalter weit verbreitet. An besonderen Bauten wurden durch berufene Personen Sinnsprüche mittels Rötelschrift aufgeschrieben. Solche Sinnsprüche wurden (u.a.) den Texten der Evangelisten aus der Bibel oder der Adagia entnommen. Letztere ist eine Sammlung von Sprüchen des Erasmus von Rotterdam, die den Humanisten dabei bis in die Antike zurück führten. Die Sinnsprüche des Wendelsteins in Torgau wurden von den damaligen Schreibern so ausgewählt, dass sie eine Sinnhaftigkeit zu markanten Situationen im ernestinischen Herrscherhaus des Kurfürsten Johann Friedrich I. wiedergegeben haben. Das Verhältnis von Glaube und Macht in der Lutherzeit, so wie es sich im kursächsischen Konfessionsstaat im Einzelnen auftat, konnten Sinnsprüche in Rötel nachbezeichnen. Aus dieser Sicht erreichen einige Rötelschrift-Sinnsprüche des Wendelsteins die für unsere Stadt wichtige Aussage, „Torgau, politisches Zentrum der Lutherischen Reformation“. Wenn wir heute im Schlosshof stehen, dann haben wir vor uns den ganz konkreten Beleg, nämlich, dass der 1536 durch den Baumeister Conrad Krebs im Auftrag des sächsisch-ernestinischen Kurfürsten Johann Friedrich I. fertig gestellte Wendelstein (Abb. 1) auf seinen Innenwänden durch mehrere Personen aufgeschriebene Sinnsprüche in rotbrauner Rötelschrift trägt. Diesen bestehenden Tatsachen wollen wir uns nähern. Bis in die Gegenwart hinein wurde versucht, die Bedeutung der Sinnsprüche aufzuklären, was bisher nur unzureichend gelang. Zwei der Sinnsprüche wurden lediglich aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Andere Rötel-Textzeilen des Wendelsteins sind bisher gar nicht beachtet worden. Sie harren einer Übersetzung. Aber noch wichtiger ist es, danach zu fragen, wer die Röteltexte aufgeschrieben hat und welchen Sinn sie zu den Zeitereignissen von vor 500 Jahren aufweisen. Das wurde bisher gar nicht bedacht.
Die mitunter umhergeisternde These, dass mittelalterliche Erasmus von Rotterdam-Verehrer AdagiaSprüche in den Wendelstein schrieben, um so eine Art von „Anti-Thesen“ gegen Martin Luther aufzustellen, halten wir für wenig wahrscheinlich. Dafür gibt es auch gar keine Belege. Die gefundenen Tatsachen und Fakten, im Torgauer Schloss das politische Zentrum der Reformation zu sehen, scheinen das bestehende „Geheimnis“ um die Rötelschrift-Sinnsprüche im Wendelstein mit aufzuhellen. Wir fanden u.a. einen Schriftzug im dortigen Sandstein, der von der Anzahl der Worte her eher als unbedeutend einzustufen war. Nach der Übersetzung aus dem Lateinischen zeigte er jedoch seinen enormen Sinnwert. Das soll folgend erläutert werden: Im Inneren des Wendelsteins findet sich der Schriftzug (Abb. 3): Gloria soli deo NB, auf Deutsch: Ehre sei allein Gott oder auch: Ehre sei Gott als Einzigem. Das NB steht für Nota Bene und bedeutet: „Merke wohl!“ oder „Beherzige das!“ „NB“ war eben nicht das Namenskürzel des Schreibers. Auch dieser genannte Schriftzug in rotbraunem Rötel entstammt, wie viele der Torgauer WendelsteinSprüche, etwa der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das war die Zeit der anhebenden und sich dann ausbreitenden Lutherischen Reformation. Was sollte nun ein solcher Sinnspruch zum Ausdruck bringen? Martin Luther und die Reformatoren hatten damals, in Abgrenzung zur alten Kirche, welche darauf bestand, die einzig wahre Kirche zu sein und die einzig gültige Autorität im Christentum zu besitzen, dieser ein neues Verständnis von Kirche entgegengesetzt. Dabei wurden von ihnen fünf theologische Prinzipien erarbeitet, auf die die neue Lutherische Kirche baute. Diese fünf „Mottos“ (Solas) lauten: Allein der Glaube (Sola Fide); allein die Schrift (Sola Scriptum); allein Christus (Solus Christus); allein die Gnade (Sola Gratia) und Gott allein die Ehre (Soli Deo Gloria).
Abb. 3: Links: Gloria Soli deo NB, so im Wendelstein. Die originalen Buchstaben sind 7 cm und 2,5 cm hoch; Länge des Sinnspruchs 28 cm. Rechts: Computertechnische Verstärkungen, durch M. Kater vorgenommen. (Foto: U. Niedersen)
56 Das zuletzt genannte Motto entspricht dem o.g. Torgauer Wendelstein-Schriftzug: Gloria soli deo. Wie man sieht, ist die verbreitete Wortfolge etwas verschieden von dem Sinnspruch im Wendelstein. Das ist aber unwichtig, da die Gewohnheit, die jeweilige Wesenheit stets mit „Soli“ beginnen zulassen, erst später üblich wurde. Das Torgauer „Gloria soli deo NB“ ist als Schriftzug eine wesentliche Aussage der Lutherischen Reformation. Das Hineinschreiben des Mottos in den Wendelstein des Schlosses Hartenfels stellt etwas Besonderes dar. Was ist das Konkrete dieses Sinnspruches? Gott allein ist der Erlöser. Ihm gehört die ganze Ehre. Er teilt sie nicht mit ersonnenen Schutzheiligen (Schutzpatronen). Im Brief des Apostels Paulus an die Römer (11,36) steht:„Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“. Mit dem beigefügten NB (Nota Bene) wird die Aussage auch noch so richtig spannend. Warum spannend? Das „NB“ fügte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zweite Person dem „Torgauer Gloria“ hinzu. Diese wollte anderen ein Zeichen geben, doch die Wichtigkeit des Spruchs zu beachten. Warum ist es so, dass das angefügte „NB“ als Hinweis für die Bedeutsamkeit des Spruches gelten kann? Im 16. Jahrhundert war es üblich, dass Personen, die Textpassagen für hervorhebenswert hielten, unter oder neben diesen ein „NB“ setzten. (Heute werden solche Zeilen üblicherweise unterstrichen.) Das hier direkt hinzugefügte „Merke wohl!“ will mit Nachdruck auf den neuen Glauben aufmerksam machen. Jeder solle sich daran halten und die neue Konfession verbreiten und ausbilden helfen. Das wiederum ist eindeutig ein Beleg dafür, wie Konfessionsbildung damals in Erscheinung trat. So kann man sich auch die damaligen Visitatoren vorstellen. Das waren Staats- und Kirchenleute, welche bei ihren Überprüfungen und Erläuterungen den Gemeindepfarrern, Schulmeistern und anderen Personen der Öffentlichkeit auch ein „Nota Bene“ zuriefen. Ein „Merke wohl!“, vielleicht sogar die vorzunehmenden Erneuerungen mit erhobenem Zeigefinger bekräftigend, um die Konfessionsbildung voran zu bringen. Geschrieben wurde das „Torgauer Gloria“ eher nicht von einem Kirchenmann. Es ist wahrscheinlich, dass hier einer dem kurfürstlichen Umfeld Entstammender mit „Rötel-Tinte“ und „Griffel“ am Werke gewesen war. Die Forschungen darüber werden durch uns weiter mit wissenschaftlich-kritischer Verantwortlichkeit vorgenommen. Was bleibt? Wir gehen bei unseren Untersuchungen nunmehr davon aus, dass die Inhalte der vor beinahe 500 Jahren geschriebenen Rötel-Sinnsprüche im Wendelstein mithelfen, als Beleg für eine Bekräftigung und Bewahrheitung der These vom Torgauer
Schloss Hartenfels als politisches und konfessionsbildendes Zentrum der Lutherischen Reformation zu dienen. Denn aus einem politischen Zentrum der Reformation kamen solche Weisungen und Anordnungen von der Obrigkeit, die die Verbreitung und Umsetzung des neuen Glaubens (Konfession) im Staat mit vollziehen halfen. Und auch weitere Untersuchungen unseres Vereins (Förderverein Europa Begegnungen e.V.) belegen die These vom „politischen Zentrum“, verortet in der Residenz „Schloss Hartenfels“. 3. V.D.M.I.Æ., die Devise der Lutherischen Reformation findet sich auch am Schloss Hartenfels. Wir beginnen diesbezüglich aber mit der Stadt Torgau. Es sind wohl fünf Häuser in Torgau, die den bedeutenden Wahlspruch (die Devise) der Lutherischen Reformation „Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ tragen. Die Devise lautet in Latein: „Verbum Domini Manet In Aeternum“; in Kurzform: V.D.M.I.Æ. Letzteres sind die auf die Reformation hinweisenden markanten Versalbuchstaben. Diese Buchstabenfolge findet sich für Jedermann sichtbar an folgenden Häusern in Torgau: Breite Straße 2 (Abb. 4); Pfarrstraße 5 (Abb. 5); Fleischmarkt 6/Ecke Nonnenstraße (Abb. 6); außerdem (Innen) im Haus Markt 4 (Abb. 7) und Pfarrstraße 6, im Inneren des Hauses (Parterre-Zimmer) (Abb. 8).
Abb. 4: Breite Straße
Abb. 5: Pfarrstraße 5
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Abb. 6: Fleischmarkt
Abb. 7: Markt 4
Abb. 8: Pfarrstraße 6 (Fotos: U. Niedersen)
Peter Findeisen hatte vor Jahren gelegentlich einer Festungstagung des Förderverein Europa Begegnungen e.V. so nebenbei erwähnt, dass auch am Schloss Hartenfels der genannte, abgekürzte Wahlspruch der Lutherischen Reformation vermerkt sei.4 Die Suche gestaltete sich erfolgreich, wie man den beigefügten Fotos (siehe unten) entnehmen kann.
Einige Bemerkungen zu der Devise V.D.M.I.Æ.: Der ernestinische Kurfürst Friedrich der Weise wählte 1522 einen durch Spalatin vorgeschlagenen Kurztext, dem Alten Testament entstammend, für die Beschriftung einer Medaille aus. Es war der oben genannte Spruch, der nachfolgend an Bedeutung gewann und sich in der Kurzform rasant ausbreitete. V.D.M.I.Æ. fand sich auf Gegenständen des Hofes. Alle Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes verwendeten die Versalien des Wahlspruchs. So fanden sich die Buchstaben sogar auf dem (rechten) Puff-Ärmel der Kleidung der Herrscher und der Hofleute der Reformation zuneigenden Adelshäuser. Der Wahlspruch wurde schließlich europaweit die Devise der Reformation. Was aber ist der tiefe Sinn der Devise? Nun, „Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ kommt ja einem der fünf Mottos (Solas) der neuen Lutherischen Kirche, nämlich dem „Allein das Wort“ sehr nahe, siehe oben, die Ausführungen zur Rötelschrift. „Allein das Wort!“ Oder: „Es ist das Wort Gottes, das ewig bleibt“. Beides verweist auf ein reformatorisches Zurück zu dem Wort Gottes in der Bibel, ohne päpstliche oder anderweitige Zutat. So wie die geschriebenen Rötel-Inschriften im Wendelstein, so war auch das Einmeißeln von V.D.M.I.Æ. an bevorzugter Stelle im Torgauer Schloss Hartenfels Ausdruck und Beleg dafür, den neuen Glauben (die neue Konfession) „in Abbildung zu bringen“: In Stein gemeißelt; von anderen wahrgenommen, dann nachgeahmt und somit Verbreitung erlangend. Die Bürgerschaft, das Kirchenvolk überhaupt, sie waren im neuen Glauben Partner der Kurfürsten und Reformatoren. Auch die weiter „unten“ halfen bei der Verbreitung der lutherischen Glaubensrichtung. Geistige Eliten (Luther; Melanchthon) waren hierbei die Ideengeber und solche im weltlichen Bereich (Kanzler Brück; Sekretär Spalatin) brachten Ordnung und Organisation hinein. Alle standen sie zu V.D.M.I.Æ. Natürlich wurde das V.D.M.I.Æ. den Gegnern der Reformation sichtbar und gesucht entgegen gehalten. Man wollte damit schon aufhorchen lassen und bei den Anderen Achtung und Respekt erzeugen. Und, was tat Torgau als politisches Zentrum der Lutherischen Reformation? Es war mit einer Vielfalt an Maßnahmen zur Verbreitung und Verinnerlichung der neuen Konfession befasst. Wenn auch nicht so „wuchtig“ in Erscheinung tretend, so sind doch das gemeißelte „Torgauer V.D.M.I.Æ.“ und das geschriebene „Torgauer Gloria soli deo NB“ mit Beleg dafür. Nun ein Hinweis für Denjenigen, der nach Torgau kommt und aus südlicher Himmelsrichtung auf das Schloss schaut. Also, wo wird heute der am Schloss Suchende in Sachen V.D.M.I.Æ. fündig? Man stelle sich gegen-
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Abb. 12: V.D.M.I.Æ., 1534, beides eingemeißelt unterhalb des Übergangserkers, Schloss Hartenfels Torgau (Fotos: U. Niedersen)
Abb. 9: Übergangserker von Flügel B zu C
Abb. 10: Einige Reliefs des Erkers
Abb. 11: Am Ende des unteren Erkerreliefs: V.D.M.I.Æ
über dem Cielasschen „Zollhaus“ auf die andere Straßenseite. Dann richte man den Fernglas-Blick auf das Schloss, außen, auf den ocker-braunen Übergangserker (Brückenerker), der die Flügel B und C verbindet. Unterhalb der Profile (Reliefs) des Erkers, auf einem Sandsteinblock findet man V.D.M.I.Æ. (Abb. 9, 10, 11). Darüber steht noch das Steinmetzzeichen des damals „Schaffenden“ und etwas nach rechts geschaut, die interessante Jahreszahl 1534 (Abb. 12). 4. Martin Luther und Cranachs Elias-Bild Das Elias-Bild von Lucas Cranach d.J. diente der in Torgau, 2004, abgehaltenen 2. Sächsischen Landesausstellung als durchgehendes Orientierungssymbol; ein Ausschnitt davon wurde der Werbeträger des Projekts. Die Fertigung des Bildes, ein Thema aus dem Alten Testament, hatte Martin Luther zu jener Zeit (etwa in den Tischreden), auch gelegentlich seiner Weihepredigt der Torgauer Schosskapelle, 1544, zumindest indirekt mit angeregt. Cranach (der Jüngere) malte das Bild, und es wurde in der Schlosskapelle gegenüber dem Kanzelkorb, somit an ausgezeichneter Stelle angebracht. Das Gemälde gelangte im Verlaufe der Jahrhunderte von Torgau nach Dresden und ist heute im Depot der Gemäldegalerie Alte Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden aufbewahrt. Ungünstige raum-klimatische Verhältnisse und Sicherheitsprobleme in der Torgauer Schlosskapelle lassen es nicht zu, das originale Bild zurück zu holen, um es an der genannten Stelle wieder anzubringen. Die Kopie des Malers Volker Pohlenz (Abb. 13) könnte dafür aber schon genutzt werden. Zwei Fragen sind es, die in diesem Zusammenhang zu beantworten sind:
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Abb. 13: Elias und die Baalspriester (1545, Cranach d. J.), Kopie von V. Pohlenz (Foto: Pohlenz)
Warum hatte Luther um 1540 wiederholt in seinen Gesprächen gerade das „Elias-Thema“ aus dem Alten Testament mit eingebracht und somit dem Wittenberger Maler Cranach eine Empfehlung gegeben, es bildlich umzusetzen? Und schließlich, einen ganz anderen Bereich ansprechend sei noch gefragt: Wie gelingt es, unter dem Thema „Luther und das Elias-Bild“, die wichtige Aussage „Torgau, politisches Zentrum der Lutherischen Reformation“ so spannend zu erzählen, dass Interessierte und Gäste Torgaus daran einen Gefallen finden? Zur ersten Frage: Einen Sinn für genau diese Bild-Empfehlung Luthers war mit der kirchlich und weltlich aufgeladenen Situation in Kursachsen sowie in anderen protestantischen Ländern während der Reformationszeit, besonders der nach 1530, schon gegeben. Denn, mit der zunehmenden Bedrohung durch den altgläubigen Kaiser Karl V. und den alles lenkenden Papst im Hintergrund stellte sich die Existenzfrage für die Protestanten und ihrer neu geschaffenen Kirche. Es war das Ganze in dem jetzt Neuen, nämlich die Zusammenbindung von Kirche und Staat, die auf dem Spiel stand. In der Geschichte, die über „Elias und die Baalspriester“ im Alten Testament erzählt wird, ging es in weit zurück liegender Zeit auch schon einmal um die Existenz, nämlich um die Frage nach dem Fortbestehen Israels. Diese alttestamentarische Elias-Geschichte, die Cranach bildlich darzustellen gedachte, sei zum besseren Verständnis kurz in anschaulich-fasslicher Weise erzählt:
Ahab, der damalige Herrscher Israels, regierte ein Volk, das gleich mehreren Gottheiten Glauben schenkte. Und just in jener Zeit war eine vieljährige Dürre über das Land gekommen. Ahabs Gott-Favorit war Baal, der angesichts der Dürre diese Spitzenstellung mit seinen Priestern aber schlechterdings beibehalten konnte. Enttäuscht von Baal gab der König Ahab dem Elias, einem, der trotz des großen Tötens durch die Baalsleute übrig gebliebenen Propheten des Gottes Jahwe (der wahren Gottheit) eine Chance. Es kam zum Wettstreit, welcher Opferaltar, der von Elias oder jener der Baalspriester, würde sich wohl durch ein vom Himmel herab fallendes Feuer entzünden. Jahwe war es, der den Opferaltar entzündete. Jahwe war es auch, der den ersehnten Regen über das Land brachte. Und nochmals: Jahwe war es, der von da ab schließlich zum einzigen, zum wahren Gott anerkannt wurde, übrigens bis zum heutigen Tag. Cranachs Bild zeigt die verschiedenen Episoden der genannten Geschichte um „Elias und die Baalspriester“. Nun aber etwas besonders Bedenkenswertes: Der Maler lässt uns auf seinem Bild auch sehen, wie der Prophet Elias, angesichts der Existenzfrage für Israel, die Schuld für diesen extremen Fall um den Staat, den Baalspriestern gab. Außerdem war man gewillt, grundsätzlich Vorkehrungen dafür zu treffen, den Extremfall sich nicht wiederholen zu lassen. Elias begann die Baalspriester zu töten. Die Soldaten des Ahab, die Elias beim Töten flankierten, wurden auf dem Cranach-Gemälde als Lanzenträger dargestellt. Mit der Nähe Martin Luthers am Elias-Thema und dem bildlichen Festhalten der Elias-Geschichte
60 durch Cranach wollten Reformator und Maler einen Fingerzeig geben, wie sie angesichts der damals heraufziehenden Existenzfrage um die Neue Kirche und Staat dachten. Diese stellte sich nämlich um 1544 erneut. Wenn es um die Existenz der evangelischen Christen, der Neuen Kirche und des Staates, wenn es somit um alles geht, wie Martin Luther es ausdrückte, dann wäre eben für deren Erhalt alles aufzubieten, auch Soldaten und Waffen. Das war vor allem des Reformators Standpunkt, den er öffentlichkeitswirksam wiederholt zum Ausdruck brachte. Der militärische Schmalkaldische Bund der Protestanten war ja als eine Defensionsmaßnahme (1531) längst installiert worden. Ein Jahr vor der Bündnisschließung, um das hier noch mitzuteilen, hatten sich in Torgau, im politischen Zentrum der Reformation, Luther und einige Reformatoren mit den Geheimen Räten des Kurfürsten um Kanzler Brück in Sachen „Militärbündnis“ in Klausur begeben. Diese endete damit, dass nach intensiver Debatte auch Luther, ein Mann der Kirche, obgleich nach einigem Hin und Her und eher einige Bedenken tragend, dem zu organisierenden Militärbündnis gegen den katholischen Kaiser zustimmte. Die Reformationsgeschichte benutzt für diesen bedeutsamen Schwenk des Reformators die Aussage: „Luthers Torgauer Wende“. Bringen wir die Angelegenheit „Kirche und Militär“ auf den Punkt: Gott gab den Christen „Das Wort“, um das Evangelium zu verbreiten bzw. es zu predigen. Gott gab hingegen dem weltlichen Herrscher „Das Schwert“, um die Ordnung überhaupt und im extremen Fall die Existenz der Neuen Kirche und die des dazugehörigen Staates zu gewährleisten. Kurzum, Luther sprach sich in seiner Schrift „Ob Kriegsleut auch in seligem Stande sein können“ (ob jene auch ewiges Leben erfahren können), 1526, deutlich für die Soldaten, für das Kriegshandwerk als ein Instrument des Staates aus (neben den Gesetzen), wenn es denn in rechter Gesinnung (gerecht) gehandhabt und die Soldaten nicht aus Mutwillen, Räuberei und Eroberung vorgehen würden.5 Wortwörtlich vermerkte der Reformator in der genannten Schrift, dass, wenn es um die Existenz geht, doch nicht einfach „alles fahren zu lassen“ sei. Es sei an dieser Stelle an die Ausstellung der Sächsischen Kunstsammlungen Dresden im Torgauer Schloss Hartenfels, 2014 erinnert. Sie stand damals unter dem Motto, „Das Wort im Bild: Biblische Darstellungen an Prunkwaffen und Kunstgegenständen der Kurfürsten von Sachsen zur Reformationszeit“.6 Für uns wird jetzt im Nachhinein viel verständlicher, warum religiöse Motive und biblische Worte aus dem Neuen Testament auf den in der Ausstellung zu findenden (mitunter schon Furcht einflößenden)
Abb. 14: Rapier und Dolch des Kurfürsten August von Sachsen mit Darstellungen und Texten aus dem 2. Buch Mose, Meister Franz, Torgau, um 1560–1567, vgl. Kat.Nr. III/8 Quelle: (14) und (15) in: Beiheft (Katalog) zur Ausstellung Das Wort im Bild, Torgau 2014
Waffen aus der damaligen Zeit einen Sinn machten (Abb. 14, 15). Das von Gott Geschaffene war grundsätzlich (auch militärisch) zu erhalten, so Martin Luther u.a. Reformatoren und zwar durch einen starken Staat und dies unterstreichend durch militärische Bündnisse. Die Lektüre genau dieser o.g. „Kriegsleut-Schrift“ sei vor allem denen empfohlen, die sich heute so gebärden, als ob oder wie wenn das Evangelium einen Staat (oder Staatenbund) regieren könnte. Martin Luther lehrte, dass Kirche und Staat zwei verschiedene Reiche sind, mit eigenen Wesenheiten. Übrigens, die besagte Schrift über die „Kriegsleut“ entstand als Antwort Luthers auf Gewissenszweifel des sächsischen Reiterkommandeurs Aschwin von Kram, als der Reformator 1526 mit jener Militärperson zusammen in Torgau Taufpate eines Sohnes des Pfarrers Gabriel Zwilling wurde. Soweit einige Argumente zur Beantwortung der oben gestellten ersten Frage. Wenden wir uns folgend der Beantwortung der zweiten Frage zu. Um wirklich eine spannende Geschichte über Torgau und die Reformation im Zusammenhang mit dem Bild „Elias und die Baalspriester“ erzählen zu
61 grundsätzlich militärisch zu schützen, malten beide Cranachs zur gleichen Zeit, 1544/45, große Jagdszenen, die das Erlegen „wilder Tiere“ auf der ostelbischen Seite, vor dem Torgauer Residenzschlosses eindrucksvoll abbildeten (Abb. 16) Alle diese Jagd-Bilder der Cranachs zeigen den evangelisch-lutherischen Kurfürsten Johann Friedrich, welcher gemeinsam mit seinem Widersacher, dem altgläubig-katholischen Kaiser Karl V. Jagdglück erleben wollte. In dem Jagd-Bild finden sich (unten links) der Kurfürst mit grünlichem Wams und der Kaiser Karl V. (etwas davor), ganz in Schwarz gekleidet. Solche Jagdszenen auf der ostelbischen Seite, welche den Kurfürsten gemeinsam mit dem Kaiser zeigen, hat es aber in Wirklichkeit gar nicht gegeben. Kaiser und Kurfürst waren nie vor dem Schloss Hartenfels zusammen jagen. Die Cranachs malten auf Veranlassung des Kurfürsten und Luther, dieser wusste sehr wahrscheinlich davon, wenn man so will „Wunschbilder“, auch Fiktionen genannt. Man könnte aus inhaltlicher Sicht sagen, „Als-Ob-Gemälde“.
Abb. 15: oben: Schweizerdolch, Nürnberg um 1540– 1550, vgl. Kat.-Nr. I/12 An der Klinge die Inschrift: „Er macht meinne fuß gleich denn hirssen [Hirschen] vnnd stelet mich auff meine höhe Psalma am XVI“ (Psalm 18, Vers 34) Mitte und unten: Dolch, Nürnberg, um 1540–1550, vgl. Kat.-Nr. I/14 Mitte: Vorderseite: „Züchtige deynen son weil hoffnung da ist/ aber laß deyn seel nicht bewegt werdenn In zu todtenn“ (Sprüche, Jesus Sirach, Kapitel 19, Vers 18) Unten: Rückseite: „wer die sundt zudecket, der sucht liebe/ wer aber die sach aber vn [d] abermal meldet / d macht furste [n] vneinß“ (Sprüche, Salomo, Kapitel 17, Vers 9)
können, müssen wir noch auf eine andere situationsspezifische Gruppe von Cranach-Bildern verweisen, die fast zur gleichen Zeit wie das EliasGemälde entstanden waren. Diese Bilder-Gruppe baut mit ihrer inhaltlichen Aussage, die wir folgend darlegen werden, einen Gegenpol zum „Elias-Bild“ auf. Diese anderen Bilder erzeugen eben in einer Gegenüberstellung zu dem „Elias-Bild“ die Spannung in der großen Geschichte über Torgau als politisches Zentrum der Lutherischen Reformation. Was meinen wir, wenn wir von anderen Bildern als Gegenpol zum „Elias-Bild“ und von dadurch erzeugten Spannungen sprechen? Neben dem Elias-Bild, welches dem Betrachter die Sendung offerierte, im Extremfall „Kirche und Staat“
Was wurde von protestantischer Seite her gewünscht, „Als ob“ oder „Wie wenn“ es dafür eine Wirklichkeit geben sollte? Der sächsische Kurfürst in Torgau und Martin Luther meinten offensichtlich, dass für den Bestand der Reformation, für die Beantwortung der Existenzfrage nicht Krieg das alleinige Mittel sein sollte, vielmehr wären Frieden, Ausgleich, gegenseitiges Respektieren eine Alternative, um die hochgefährliche Lage in jener Zeit zu entschärfen. Das war der tiefe Wunsch auf der Seite der Protestanten um Luther und um den Kurfürsten Johann Friedrich. So sind die Jagd-Bilder Cranachs auch wie „Große Flugschriften“ anzusehen, die im anderen Lager ein nochmaliges Bedenken veranlassen sollten, nämlich den aufziehenden Konflikt durch „Das Wort“ (möglichst ohne „Das Schwert“) beizulegen. Vertiefen wir uns doch einmal in die zwei so verschiedenen Bildinhalte, in die Geschichte um Elias und in die des fiktiven gemeinsamen Jagdglücks, welches Kaiser und Kurfürst genießen sollten. Ist das nicht eine wunderbar spannende Geschichte, die wir letztendlich für die gesamte große Geschichtsschreibung erzählen können? Nämlich, zuerst einzeln über das Elias-Bild und dann über das Jagd-Bild für sich eine Erzählung zu gestalten. Die Zusammenbindungen der Sinngehalte der beiden so verschiedenen Bilder sind es dann, die in Form einer weiteren Erzählung die Spannung und Aufmerksamkeit von Interessierten noch erhöhen würden. Eine ähnliche wunderbare Erhellung lässt sich übrigens ebenso erzeugen, wenn einer Betrachter-
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Abb. 16: Hofjagd zu Ehren Karls V. vor Schloss Hartenfels (1544, Cranach d.Ä.), 2. Sächsische Landesausstellung, Nr. 218, Torgau, 2004 (Repro: Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
gruppe, im Torgauer Schlosshof stehend, das Zusammenbinden von Kirche und Staat aus jener Zeit beim Anblick des Schlossflügels B, als eine kontinuierlich übergehende Baugruppe, Schlosskapelle (Kirche) und Kurfürstliche Gemächer (Staat) erzählt wird. Das Erlebnis von der Verschleifung steigert sich dann noch beim Betreten der beiden „Reiche“. Besonders dann, wenn die Kurfürstlichen Gemächer demnächst ihre museale Ausstattung im Inneren bekommen haben. Wie der Leser längst bemerkt hat, ist das von uns hier angesprochene Thema so hoch aktuell, dass wir die Geschichte der Reformation, in der es auch um Krieg und Frieden ging, fortdauernd bei gleich anhaltendem Interesse erzählen könnten. Wenn sich auch Geschichte nicht wiederholt, reimt sie sich doch mitunter. Kurzum: Es ist unser Ansinnen, dass, wann immer in Torgau die genannten Cranach-Gemälde, eben das Elias-Bild und eines der Jagd-Bilder (wahrscheinlich beide in Kopie) gezeigt werden, dann sollte der Betrachter beiden Stücken entgegen treten können.
Lassen Sie uns beide Bilder im Schloss Hartenfels unterbringen, um Torgaus Gästen vom Evangelium, das einst am Abgrund stand, zu erzählen. Literatur 1 Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation. Aufsatzband 2014; Hg. Dirk Syndram u.a. Dresden 2015. 2 Matthias Müller, Die Konfessionalisierung höfischer Innenräume. Beobachtungen zur bildlichen Raumausstattung in den Schlössern von Wittenberg und Torgau, in: siehe 1. 3 Thomas Da Costa Kaufmann, Architektur und Reformation. Die Schlosskapelle und die Frage nach der protestantischen Architektur, in: siehe 1. 4 P. Findeisen und H. Magirius, Die Denkmale der Stadt Torgau, Leipzig 1976. 5 Kurt Aland (Hg.) Die Werke Martin Luthers, Bd. 7. Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526. Berlin 1954. 6 Das Wort im Bild, Beiheft zur Ausstellung im Schloss Hartenfels, Torgau 2014.
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Johann Walter (1496–1570): Das „Urbild des protestantischen Kantors“ (Walter Blankenburg) und der Wandel eines musikhistorischen Mythos Vor knapp einem halben Jahrhundert – 1968 – erschien in Band 14 der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart Walter Blankenburgs (1903–1986) Artikel „Johann Walter“, in dem er nicht nur den damaligen Forschungsstand über Martin Luthers musikalischen Berater und Freund zusammenfasste, sondern auch im Anschluss an Friedrich Blume (1893–1975) Walter als das „mit Recht“ charakterisierte „Urbild der über Jahrhunderte sich erstreckenden, überaus segensreichen Geschichte des protestantischen Schulkantors“ beschrieb.1 Blume selbst hatte in der drei Jahre zuvor publizierten Zweitauflage seiner Geschichte der evangelischen Kirchenmusik den treuen Torgauer Wegbegleiter des Wittenberger Reformators als „protestantischen Urkantor“ bezeichnet, der in Verbindung mit Georg Rhau (1488–1548), „dem ersten und größten Musikverleger der Reformation“, Luther ermöglicht habe, dessen „umfassende musikalische und liturgische Bildung“ „sowohl nach der Seite der ein- und mehrstimmigen Komposition als auch nach der Seite der Musikanschauung hin“ weiter auszubauen.2 Blankenburg blieb in seiner 1991 aus dem Nachlass herausgegebenen und bis heute (2017) nach wie vor grundlegenden WalterMonographie bei seiner Wortwahl und übertrug sie auf die von Johann Walter gegründete erste Schulund Stadtkantorei in Torgau als „Ur- und Vorbild des lutherischen Kantoreiwesens“.3 Das noch von Wilibald Gurlitts Darstellung „Johannes Walter und die Musik der Reformationszeit“ im Luther-Jahrbuch 19334 geprägte Walter-Bild Blankenburgs ist allerdings in den letzten Jahren in einigen wesentlichen Details korrigiert bzw. präzisiert worden, die das Berufsbild des frühprotestantischen Kantors oder Fragen der Entstehung und Entwicklung der Torgauer „Ur-Kantorei“ ebenso betreffen wie Johann Walters Haltung als Komponist und als strenger Lutheraner. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse der neueren Walter-Forschung, die bereits 2016 in einem Beitrag für die Zeitschrift Musik und Kirche publiziert wurden, in überarbeiteter und ergänzter Form noch einmal zusammengefasst und mit neuen Aspekten erweitert.5 Korrekturen der Walter-Biographie Der 1496 außerhalb der Stadtmauer von Kahla in der Blanckenmühle geborene Johann Walter kam nach Schulbesuch in Kahla und Rochlitz sowie einem begonnenen Universitätsstudium in Leipzig, wo er wahrscheinlich Georg Rhau kennenlernte, der später auch Werke von Walter verlegen sollte, vermutlich 1524, vielleicht sogar erst 1525, jedoch nicht früher in die kursächsische Hofkapelle. Der erste Beleg hierfür ist eine Vergütung von Kurfürst
Friedrich dem Weisen (1463–1525) vom 31. Dezember 1524 für ein oder mehrere Exemplare der ersten Ausgabe des „eigenständig (bzw. in Verbindung mit Martin Luther) erarbeiteten“ Geystliche Gesangbüchlin von 1524 (s. Abb. 1), mit dem sich Walter um eine Stelle als Bassist und „componist in der churfurstlichen cantorey“ beworben hatte.6 Als diese 1526 aufgelöst wurde, geriet Walter in finanzielle Schwierigkeiten, so dass sich Philipp Melanchthon bei dem neuen Kurfürsten Johann dem Beständigen (1468–1532) für ihn einsetzen musste.7 Doch erst am 12. Januar 1530 wurde Johann Walter durch den Torgauer Stadtrat als Schulkantor bestätigt, wobei jedoch – und dies ist für die Professionalismusforschung des lutherischen Kantors von Bedeutung – keine Rede von einer Befreiung vom Latein- und Religionsunterricht sein kann, denn es gibt nach Richter „keinen einzigen konkreten Hinweis darauf, dass Walter jemals etwas anderes als Musik unterrichtet hat“.8 Die ersten Jahre bis 1531 sieht die Musikhistorikerin „als Zeit des Improvisierens und Experimentierens“ mit der neuen Stadtkantorei an und äußert Skepsis bezüglich der Qualität dieser „bürgerlichen Hofkantorei“ (J. Stalmann) für die Ansprüche einer Hofgesellschaft, so dass die Kantorei vermutlich nicht in Anspruch genommen wurde, zumal Kurfürst Johann der Beständige (1468–1532) „gar kein Interesse an gottesdienstlicher Figuralmusik zeigte“.9 Erst seit 1535 bzw. 1536 erhielt die Kantorei von kurfürstlicher Seite Unterstützung und vermutlich seit 1536, „spätestens seit 1540 könnten einige Kantoreimitglieder, zumindest Walter und der Schul-
Abb. 1: Johann Walter, Geystliche Gsangbüchlin, Titelblatt des Tenor-Stimmbuches des Zweitdruckes Worms 1525, nach dem Faksimile-Nachdruck Johann Walter, Das geistliche Gesangbüchlein „Chorgesangbuch“, hg. von Walter Blankenburg, Kassel 1979.
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Abb 2.: Johann Walter, Das Christlich Kinderlied D. Martini Lutheri / Erhalt vns Herr etc., Titelblatt des Druckes Wittenberg 1566, nach dem Faksimile in: Johann Walter, Sämtliche Werke Band 6, hg. von Joachim Stalmann, Kassel 1970, S. XXVIII.
meister, zusammen mit dem Organisten zu besonderen Anlässen im Schloss musiziert haben“.10 Ein erster Höhepunkt dürfte die fürstliche Vermählung 1542 gewesen sein, dann jedoch die 1544 erfolgte Weihe der neuen Torgauer Schlosskapelle.11 Aufschlussreich ist eine Information aus dem Jahre 1546, wonach außer dem Organisten und Walter als Leiter neun namentlich nicht genannte Sänger vom kursächsischen Hof für ein Vierteljahr besoldet wurden: je zwei Tenoristen, Altisten und Bassisten sowie drei Diskantisten, Chorknaben der Schule, die eigens von einem Baccalaureus für die versäumten Schulstunden unterrichtet wurden.12 Doch das tägliche Singen der Kantorei im Schloss endete bereits wieder Ende Juni 1546 wegen des Schmalkaldischen Krieges. Die am 22. September 1548 von Kurfürst Moritz (1521–1553) erlassene, in der Literatur häufig zitierte, in Details allerdings vielfach ungenau wiedergegebene Kantoreiordnung für die kursächsische Hofkapelle, in der Johann Walter als „vnser cappelmeister“ und sein Sohn Johann Walter d.J. (1527–1578) als Bassist namentlich genannt werden, sah elf erwachsene Sänger für Bass, Alt und Tenor sowie neun Diskantknaben vor.13 Walters neuer Titel „Dresdner Hofkapellmeister“ ab 1548 trifft nach Richter in dieser Formulierung nicht ganz zu, da die Hofkantorei erst 1550, möglicherweise erst 1552 nach Dresden zog.14 Für 1553/54 wurden drei von der Walter-Forschung bisher unbeachtete besondere Feierlichkeiten archivalisch belegt, „bei denen (unbekannte) festliche Gottesdienstmusiken zur Aufführung kamen, die mit Johann Walter in Verbindung gebracht werden können“ und von denen „gerade die musikalisch prächtig ausgestalteten Gottesdienste in der neuen Dresdner Schlosskapelle 1554 unter Walters Leitung den Beginn der musikgeschichtlich bedeutenden Hofgottesdienste in der evangelischen Schlosskapelle“ markieren.15 Infolge schwerer innerer Konflikte wegen des Interims suchte Walter 1554 um seine Pensionierung
nach und zog sich nach Torgau zurück, so er sich in seinen letzten Lebensjahren ungeachtet seiner beruflichen Belastungen und seines kirchenpolitischen Engagements besonders intensiv der Musik und der Dichtung widmete. Dabei brachte er seine Dankbarkeit den alten ernestinischen Landesherren gegenüber „gerade jetzt durch diverse Widmungen von Kompositionen und Dichtungen“ in gedruckter oder handschriftlicher Form zum Ausdruck. Hierzu zählt auch der aufwendige Druck Erhalt uns, Herr (s. Abb. 2) zum Gedenken an Martin Luther und dessen Ermahnungen, von dem er am 8. Januar 1567 Herzog Johann Wilhelm I. von Sachsen-Weimar (1530–1573) ein Exemplar übersandte.16 Zwar konnten noch nicht das korrekte Geburtsdatum Walters im Jahre 1496 eruiert und das verschollene Porträt wiedergefunden werden, doch für das Todesjahr ist nun ein korrigiertes Datum zu beachten: Johann Walter starb in Torgau nicht am bisher vermuteten 25. März, sondern am 10. April 1570.17 Walter als Luthers Berater und als Komponist Johann Walters musikhistorische Leistung als Publizist des ersten, mehrfach aufgelegten sogenannten Chorgesangbuchs 1524, als Mitarbeiter an Luthers Deutscher Messe seit 1525/26, als anerkannter Schöpfer von Kirchenliedern sowie als Komponist, der bei allen eher konservativen Zügen etwa in seiner Vorliebe für Cantus-firmus-Konstruktionen oder den Tenorliedsatz den – von Blankenburg in dem Zyklus Erhalt uns, Herr gesehenen – historisch bedeutsamen „Schritt vom Liedsatz zur Liedmotette“ vollzogen und mit der Herausgabe seiner in Dresden komponierten Magnificat octo tonorum (1557) ein weiteres umfangreiches Werk vorgelegt hatte, ist unbestritten.18 Zu welch eigenständigen kunstvollen Lösungen Walter fähig war, belegen eindrucksvoll die siebenstimmige Psalmmotette Beati immaculati (Ps. 118 [119]) zur Einweihung der Torgauer Schlosskapelle 1544 und deren Pendant Levavi oculos (Ps. 120 [121]) aus dem Jahre 1545. Die „Kirchweih-Motette“ Beati immaculati in der Manier einer „Staatsmotette“ ist zudem nicht nur ein bemerkenswertes Zeugnis für die humanistische Bildung Johann Walters,19 sondern auch für sein symbolisches Denken, wie Joachim Stalmann zusammenfassend beschreibt: „Das fünfteilige Werk spiegelt Luthers Zwei-Reiche-Lehre: Einen vierstimmigen Tenor-Kanon mit Versen aus dem 119. Psalm umgeben zwei akklamatorische Huldigungstexte: im Alt auf den Kurfürsten (ausschließlich auf g1 rezitiert) und im Bass auf die Reformatoren Luther und Melanchthon (ostinat auf c und g). Darüber schwingt sich eine freie Diskantstimme, wiederum mit dem Psalmtext.“20 Auf mögliche zahlensymbolische Aspekte hat auch Franz Krautwurst bei Erhalt uns, Herr aufmerksam gemacht (s. Abb. 3).21 Zu den wichtigen Impulsen, die Walter Blankenburg aufgrund seiner Werkanalysen gegeben hat, zählt der Hinweis auf Walters „Wille, das
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Abb. 3: Johann Walter, Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, Anfang der sechsstimmigen Motette, in: Johann Walter, Sämtliche Werke Band 6, hg. von Joachim Stalmann, Kassel 1970, S. 3 (Nr. I). Der Discantus (primus) beginnt in Mensur 1-10 mit zwei jeweils aus 14 Noten bestehenden Abschnitten, der Secundus Discantus in Mensur 1-6 ebenfalls mit einer aus 14 Noten gebildeten Linie (in zwei Phrasen). Krautwurst, „Erhalt uns, Herr“, S. 439.
66 aussagende, verkündende Wort zu unbedingter Geltung zu bringen, es nachdrücklich auszusprechen und ständig zu unterstreichen und eben darin sich als echt reformatorische Musik erweisend“.22 Gerade mit seinem Spätwerk habe der Torgauer Musiker „vor allem durch die enge Wort-Ton-Beziehung ein stark in die Zukunft weisendes Opus geschaffen“ und sich noch einmal als „ein Komponist von großem Ausdrucksvermögen im Sinne der Reformation“ profiliert.23 Wirkungsgeschichtlich sind in diesem Zusammenhang auch Johann Walters Gemeindelieder zu beachten, vor allem Wach auf, wach auf, du deutsches Land, Herzlich tut mich erfreuen, Allein auf Gottes Wort und All Morgen ist ganz frisch und neu, und zwar nicht nur in textlicher und musikalischer, sondern auch in intermedialen Kontexten.24 Walter als Lutheraner Einerseits blieb Johann Walter ein kompromissloser Anhänger und Verfechter der lutherischen Lehre,25 andererseits vertrat er in seinen musikalischen Lehrgedichten Lob und Preis der löblichen Kunst Musica (1538) sowie Lob und Preis der himmlischen Kunst Musica (1564) ebenso standhaft gegenüber Luther seine Überzeugung, dass die Musik nicht der Theologie nachgeordnet, sondern dass beide gleichberechtigt seien.26 1545 stellte Walter einem Chorbuch, das er für die Schlosskapelle in Torgau, den ersten evangelischen Kirchenbau überhaupt, angelegt hatte, folgendes lateinisches Motto voran: „Si nescis Christum et vincis Ariona cantu Debetur Musis nulla Gloria tuis.“ Joachim Stalmann sah bereits 1970 in dieser Formel Johann Walters „musikalisches Credo“, das „in gewissem Sinne für sein gesamtes Leben und Schaffen gelten“ könne und übersetzte ins Deutsche: „Kennst du Christus nicht und siegst vor Arion im Singen, Ziemt deinen Musen nicht irgend ein Kranz des Ruhms.“ Was hier zur kurzen „Devise“ verdichtet sei, habe Walter dann in seinen zwei großen Preisgedichten auf die Musik von 1538 und 1564 „breit entfaltet“: „Radikaler als selbst Luther, den Walter als „heiligen teuren Mann Gottes“ lebenslang bewunderte und verteidigte, brach Walter mit der Musikanschauung des Altertums und des Mittelalters. Wie diese war noch Luther der Meinung, Musik sei Spiegel göttlicher Seinsordnung, ‚ab initio mundi indita sei concreata‘, also ‚von Anfang der Welt eingegeben und mitgeschaffen‘. Für Johann Walter dagegen ist sie die Gabe, die Gott dem Menschen schenkt, nachdem zwischen beiden ein Bruch entstanden ist. […] Musik wird also jetzt anthropologisch begründet. Dieser reformatorische Neuansatz hat freilich ein christlich-theologisches Fundament in der Begründung der menschlichen Aktion als göttliche Gabe,
als Begabung, und in der Bindung von Musik an das Evangelium als die frohe Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes. Walter reimt deshalb: ‚Die Music braucht Gott stets also Beim heilgen Evangelio.‘“27 Diese Feststellung Walters aus seinem Lobgedicht von 153828 fasst Stalmann zusammen in dem Stichwort „Musik beim Evangelium“ und verweist darauf, dass bei dem Torgauer Kantor die Menschenfreundlichkeit Gottes für den christlichen Glauben Gestalt annahm in dem Menschen Jesus Christus. Eben deshalb denke Walter „bei aller Freiheit von Metaphysik nun doch so streng christologisch, wie es in jenem Chorbuchmotto zum Ausdruck kam“ und habe von hier aus, zweihundert Jahre vor Bach, bereits einen „doppelten Endzweck“ von Musik definieren können: „Aufs erst zu Gottes Lob und Ehr danach dem Leib zu Nutz und Lehr.“29 In diesem Sinne verweist auch Jochen Arnold in seinen Ausführungen zu „Kirchenmusik als Dienst des Heiligen Geistes in Kirche und Gesellschaft“ darauf, dass Gottes Geist „nicht nur unterschiedliche Menschen mit vielfältigen Gaben“ befähige und „verschiedene Generationen und Milieus beim Musizieren“ zusammenbringe, er benütze „auch unterschiedlichste Töne und Klänge, Rhythmen und Musikstile, um uns zu bewegen und zu berühren: von der archaischen Gregorianik bis zum komplexen Jazz, von der barocken Polyphonie bis zum begeisternden Gospel, vom meditativen Choral bis zum „abgefahreren Rap“. Es gebe keinen Musikstil, der in dieser Hinsicht sakrosankt oder völlig ungeeignet wäre. Als einziges (theologisches) Kriterium einer Gott und Menschen dienlichen Musik scheine ihm Johann Walters „doppelter Endzweck“ der Musik hilfreich und bis heute aktuell zu sein. Damit sei die gottesdienstliche Dimension der Musik auf die denkbar knappste Formel gebracht und alles Wesentliche über ihre Bestimmung gesagt.30 Als „wichtiger für das Reformationswerk“ und „noch deutlicher persönlich geprägt“ als die „aus Bildungstradition und musikalischem Erleben gemischten Anschauungen“ ist nach Friedrich Blumes Auffassung Luthers Verbindung von Theologie und Musik, wobei der Reformator der Musica nach der Theologia „den nähesten Locum und höchste Ehr“ gebe: „Einerseits ist sie das ständig ertönende Lob Gottes und seiner Schöpfung, andererseits führt sie den Menschen, der sie ausübt, zu Gott hin, lehrt ihn (als geistliche Vokalmusik, die Luther stets und vor allem meint) Gottes Wort besser zu begreifen und bereitet ihn zum Empfang der göttlichen Gnade vor, indem sie ihn zu einem besseren Menschen und fröhlichen Christen macht, den Teufel und alle Laster vertreibt. Steht diese Deutung der Musik als einer ‚ancilla theologiae‘ in unreflektiertem Gegensatz zu den Ansätzen einer immanenten Musik-‚Ästhetik‘ des Musikers Luther, so führt sie andererseits konsequent zu einer sehr hohen Einschätzung
67 nicht so sehr der quadrivialen musica speculativa als der ‚optima scientia‘, sondern vor allem der trivialen musica practica als der ‚optima ars‘, und gerade in dieser Verschiebung des Wertakzents von der scientia zur ars, in der nun zentralen Stellung der musizierenden Musik liegt der eigentlich reformatorische Ansatz in Luthers Musikanschauung. Wahre Musik ist die, die Gott, Christum und das Evangelium lobt; indirekt leistet das schon die ‚Musik‘ der sprachlosen Creatur, direkt jedoch nur der singende, musizierende Mensch, dessen ‚cantus ex abundantia gaudentis cordis oritur‘ […]. Der Mensch steht damit im Mittelpunkt dieser Musikanschauung, die aus reformatorischem Ansatz die ‚Entsymbolisierung der realen Klangwelt‘ (Birtner) zu leisten beginnt, die von humanistischer Seite Erasmus von Rotterdam vorantrieb.“31 Johann Walter selbst sah in seinem Lobgedicht von 1538 die „Kunst Musica“ allein von Gott gegeben an und „mit der Theologie zugleich gegeben“, Gott habe die Musik „fein bedeckt in der Theologie versteckt“, beide „im Fried geschmückt“, damit keine der anderen Ehre verrücke, sie seien „in Freundschaft nahe verwandt“ und würden als Schwestern angesehen.32 Und diese Haltung vertrat Walter auch in seiner zweiten Version Lob und Preis der himmlischen Kunst Musica von 1564: „Music-Kunst ist in hohem Stand / Und der Theologie verwandt. / Schwestern sind sie billig genannt, / In Gottes Wort solchs wird erkannt. / Christliche Gesänge und Psalmen / Am Tage solchs klar beweisen.“33 Auch wenn es müßig erscheinen mag, sich die Folgen für die Entwicklung der evangelischen Schulund Kirchenmusik vorzustellen, wenn Luther die Sicht seines musikalischen Beraters geteilt hätte, es bleibt das historische Faktum, dass mit seiner Prioritätensetzung zu Gunsten der Theologie eine für das Ansehen und die Stellung der Kirchenmusik bis in die Gegenwart wirkmächtige Entscheidung getroffen wurde. So gesehen ist auch Johann Walters „musico-theologisches“ Vermächtnis mit Konrad Küster im lutherischen Sinne nach- und be-denkenswert: „Musik verkörpert einen Grundgedanken christlicher Heilslehre in deren lutherischer Auslegung; sie selbst ist Ewigkeit, daher ein Zentralstück eschatologischer Botschaft. Musik in lutherischer Auffassung hat daher eine so starke Jenseits-Funktion, dass dadurch die Diesseits-Bewertung als Adiaphoron gesprengt wird. In der lutherischen Lebensanschauung spiegelt sich diese Sichtweise schon in Johann Walters Gedicht Lob und Preis der löblichen Kunst Musica von 1538. Dort heißt es am Ende: Die Music mit Gott ewig bleibt Die andern Künst sie all vertreibt. / Im Himmel nach dem Jüngsten Tag Wird sie erst gehen in rechter Waag. /
Itzt hat man Hülsen nur davon Dort wird der Kern recht aufgetan. / Im Himmel gar man nicht bedarf Der Kunst Grammatik, Logik scharf, / Geometrie, Astronomei, Kein Medizin, Juristerei, / Philosophei, Rhetorika. Allein die schöne Musica. / Da werdens all Cantores sein, Gebrauchen dieser Kunst allein. / Sie werden all mit Ruhm und Preis Gott loben hoch mit ganzem Fleiß / Und danken seiner großen Gnad.“34 Literatur
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Walter Blankenburg, Walter, Johann, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Band 14, hg. von Friedrich Blume, Kassel etc. 1968, Sp. 192–201, hier Sp. 197. Friedrich Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, zweite, neubearbeitete Auflage, hg. unter Mitarbeit von Ludwig Finscher, Georg Feder, Adam Adrio und Walter Blankenburg, Kassel etc. 1965, S. 6; die Erstauflage (ohne die Bezeichnung Walters als „Urkantor“) erschien unter dem Titel Die evangelische Kirchenmusik, Potsdam 1931 (Handbuch der Musikwissenschaft). Walter Blankenburg, Johann Walter. Leben und Werk, aus dem Nachlass hg. von Friedhelm Brusniak, Tutzing 1991, S. 6, 59. Wilibald Gurlitt, Johannes Walter und die Musik der Reformationszeit, in: Luther-Jahrbuch 15 (1933), S. 1–112. Im Folgenden nach Friedhelm Brusniak, „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“. Zur Biographie Johann Walters (1596–1570) und zu seiner „Bekenntnismusik“ von 1566, in: Musik und Kirche 86 (2016), S. 360–363, hier S. 360–362. – Zwar wurden bereits 1996 bisher unbekannte Quellen zu Leben und Werk publiziert, die in die Übersichtsartikel von Joachim Stalmann im Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 1999 und der Zweitauflage der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart 2007eingeflossen sind, doch erst neuere Archivstudien von Christa Maria Richter 2012 haben Walters Mitgliedschaft in der ernestinischen Hofkapelle, sein Kantorat in Torgau, das Kapellmeisteramt in der albertinischen Hofkapelle und den Lebensabend in einem neuen Licht erscheinen lassen. Friedhelm Brusniak, Einführung, in: Johann-Walter-Studien. Tagungsbericht Torgau 1996, hg. von Friedhelm Brusniak, Tutzing 1998, S. 9–13; Joachim Stalmann, Walter, Johann, in: Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs, hg. von Wolfgang Herbst, Göttingen 1999 (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 2), S. 337–339; Joachim Stalmann, Walter, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Personenteil Band 17, hg. von Ludwig Finscher, Kassel etc. 2007, Sp. 430–
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437; Christa Maria Richter, Johann Walter aus der Sicht der neu entdeckten Textdokumente, in: Johann Walter, Torgau und die evangelische Kirchenmusik, hg. von Matthias Herrmann, Altenburg 2013, S. 127–165, zugleich Einführung zur Edition Walter-Dokumente, S. 167– 316; Jürgen Herzog, Vorreformatorische Kirche und Reformation in Torgau, Magdeburg 2016, S. 480f.; Kai Marius Schabram, Die Ernestiner und der protestantische ‚Urkantor‘ Johann Walter, in: Die Welt der Ernestiner. Ein Lesebuch, hg. von Siegrid Westphal, Hans-Werner Hahn und Georg Schmidt, Köln etc. 2016, S. 64-71. Richter, S. 128, zu Dok. 3, S. 174. Richter, S. 128, zu Dok. 8, S. 178f. Richter, S. 133, zu Dok. 16, S. 188, 134. Richter, S. 135. Richter, S. 137. Richter, S. 137f. Richter, S. 138, zu Dok. 50, S. 238. Richter, S. 142, zu Dok. 51, S. 238–254 (mit Faks.). Richter, S. 142. Richter, S. 155, zu Dok. 60, 62 und 63, S. 262f., 267–272. Richter, S. 153, zu Dok. 73, S. 296–300 (mit Faks.). Richter, S. 155, zu Dok. 76, S. 304f. Blankenburg/Brusniak, Walter, S. 237; Friedhelm Brusniak, Anmerkungen zur „Liedmotette“ im 16. Jahrhundert, in: Traditionen in der mitteldeutschen Musik des 16. Jahrhunderts. Symposiumsbericht Göttingen 1997, hg. von Jürgen Heidrich und Ulrich Konrad, Göttingen 1999, S. 27–35; Kai Marius Schabram, Johann Walter und das Magnificat. Gattungsgeschichtliche und musikanschauliche Aspekte der Magnificat octo tonorum (1557), in: Maria ‚inter‘ confessiones: Das Magnificat in der frühen Neuzeit, hg. von Sabine Feinen und Christiane Wiesenfeldt (in Vorb.). Jürgen Heidrich, Bemerkungen zu den Psalmkompositionen Johann Walters. Über humanistische Züge im nichtliturgischen Schaffen des ‚protestantischen Urkantors‘, in: Brusniak, Johann-Walter-Studien, S. 113–139. Joachim Stalmann, Johann Walter (1496–1570), in: Geschichte der Kirchenmusik Band 1, hg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher, Laaber 2011, S. 335–337, hier S. 336. Franz Krautwurst, „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort!“ Zahlensymbolisches Komponieren bei Jo-
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hann Walter und Leonhard Paminger, in: Musik des Mittelalters und der Renaissance. Festschrift Klaus-Jürgen Sachs zum 80. Geb., hg. von Reiner Kleinertz, Christoph Flamm und Wolfgang Frobenius, Hildesheim u.a. 2010, S. 435–441. Blankenburg/Brusniak, Walter, S. 242f. Blankenburg/Brusniak, Walter, S. 252; Matthias Herrmann, ‚die Musica […] ym dienst des, der sie geben und geschaffen hat […]‘. Über das altkirchlich-konservative Element in der Musik der Reformation, in: Glaube & Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, hg. von Harald Marx und Cecilie Hollberg, Dresden 2004, S. 256– 262, hier S. 261. Johann Anselm Steiger, Der Orgelprospekt im Kloster Lüne als Zeugnis barock-lutherischer Bild- und Musiktheologie. Zur Intermedialität von Wort, Bild und Musik im 17. Jahrhundert, Regensburg 2015, S. 50f. Armin Brinzing, Johann Walter und der Streit um Luthers Erbe, in: Musik und Kirche 66 (1969), S. 362–470; Armin Brinzing, ‚Ein neues Dokument zur theologischen Position des späten Johann Walter‘, in: Brusniak, Johann-Walter-Studien, S. 73–112. Die Texte sind veröffentlicht in: Johann Walter, Sämtliche Werke Band 6, hg. von Joachim Stalmann, Kassel 1970, S. 153–156 bzw. S. 157–160. Joachim Stalmann, Musik beim Evangelium. Gedanke und Gestalt einer protestantischen Kirchenmusik im Leben und Schaffen Johann Walters, in: Musik und Kirche 66 (1996), S. 356-361, hier S. 356. Walter, Sämtliche Werke Band 6, S. 155, Z. 105. Stalmann, Musik, S. 357; Walter, Sämtliche Werke Band 6, S. 154, Z. 38. Jochen Arnold, „We only win, when we are singing“. Musik als Gottesdienst, Musik im Gottesdienst, in: Musik und Kirche 78 (2008), S. 22-30, hier S. 30, unter Hinweis auf Joachim Stalmann, Musik beim Evangelium, in: Für den Gottesdienst 48 (1996), S. 36–43. Blume, Geschichte, S. 9. Walter, Sämtliche Werke Band 6, S. 154, Z. 39–44. Walter, Sämtliche Werke Band 6, S. 157. Konrad Küster, ‚Mein Schall aufs Ewig weist‘: Das Jenseits und die Kirchenmusik der lutherischen Orthodoxie, in: Schütz-Jahrbuch 33 (2011), S. 75-90, hier S. 76 f., das dort wiedergegebene Walter-Zitat ist hier angeglichen an die Übertragung in: Walter, Sämtliche Werke Band 6, S. 156, Z. 154–153.
69 Matthias Müller
Die Gottesburg des protestantischen Fürsten Schloss Torgau als ‚Bekenntnis-Architektur‘ Johann Friedrichs I. von Sachsen 1. Schloss Torgau als Gottesburg in einem Tapisserieentwurf von Lucas Cranach In den Sammlungen des Leipziger Museums für bildende Künste wird ein Karton aufbewahrt, auf dessen Vorderseite – eingerahmt zwischen zwei Säulen und hinterfangen von einem Schloss – die Kindersegnung Christi abgebildet ist (Abb. 1). Der künstlerische Stil der Darstellung verweist eindeutig auf die Cranach-Werkstatt als Urheber, während die eingezeichneten Quadrierungen darauf hindeuten, dass dieser Karton ursprünglich als Vorlage für eine kostbare Tapisserie dienen sollte.1 Sowohl der stilistische Befund als auch die spezifisch protestantische Thematik der Kindersegnung lassen eine Datierung des Kartonentwurfs in die Zeit um 1540 zu, ganz abgesehen von der im Hinter-
grund befindlichen Schlossdarstellung, die in dieser Weise nicht vor den 1540er Jahren möglich war, zeigt sie doch den Neuen Saalbau bzw. Flügel C von Schloss Torgau, der erst 1532/33 zu bauen begonnen wurde. Damit lässt sich auch mit großer Sicherheit der Auftraggeber des Bildes benennen: Es war ganz offensichtlich Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen, der mit seinen dynastischen und machtpolitischen Insignien – zum einen das kursächsische Wappen und zum anderen das Wappen des Reichserzmarschalls – auf den Postamenten der rahmenden Säulen präsent ist. Mit Johann Friedrich I. verbindet sich in besonderer Weise aber auch der Neubau des monumentalen, zur Elbe hin gelegenen Saalbaus von Schloss Torgau, das mit diesem Saalbau und dem älteren Hausmannsturm
Abb. 1: Lucas Cranach d. Ä.: Kindersegnung Christi (vermutlich Entwurf für eine Tapisserie) (um 1540, Leipzig, Museum für bildende Künste)
70 genau auf der Mittelachse des Kartonentwurfs erscheint. Hoch hinauf an den Horizont gerückt, überragt das damals prächtigste Residenzschloss der sächsischen Kurfürsten wie eine Schutzburg die Szene der Kindersegnung im Vordergrund des Bildes und verbindet sich dabei kompositionell vielsagend mit der Gestalt Christi: Obwohl Christus mit den ihn umringenden Menschen eng verbunden ist, bleibt sein Kopf dem menschlichen Zugriff doch gleichzeitig enthoben und ragt mit seinem Strahlennimbus hinein in jene Sphäre, in der das Torgauer Schloss am Himmel erscheint. Welchen Sinn besitzt Schloss Torgau in diesem Bildentwurf, der mit der Kindersegnung Christi eines der zentralsten Themen der lutherischen Theologie veranschaulicht? Ich möchte zwei miteinander verbundene Antworten geben. Auf der einen Seite verkörpert es – neben Wittenberg – die Hauptresidenz des damals wichtigsten protestantischen Fürstenhauses im Reich, dessen Familienoberhäupter sich seit Friedrich dem Weisen als Förderer und Beschützer der Reformation profiliert hatten. Damit wird Schloss Torgau auf der anderen Seite aber selbst zum Sinnbild der Schutzburg des lutherischen Protestantismus, was unweigerlich Martin Luthers berühmtes Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ in Erinnerung ruft und uns auf die biblische, nicht zuletzt in den Psalmtexten König Davids vorgenommene Allegorisierung von Burg und Schloss als „Gottesburg“ und „Burg Zion“ verweist. Denn auch Luther ließ sich von den Psalmen zu seinem Lied und seinem Vergleich Gottes mit einer rettenden und schützenden Burg inspirieren. So wird beispielsweise in Psalm 18, Vers 1-4, von König David berichtet, dass dieser nach dem Sieg über seine Feinde und über König Saul an Gott in tiefer Dankbarkeit die Worte eines Liedes gerichtet habe, in dem es heißt: „Herzlich lieb habe ich dich, HERR, meine Stärke! HERR, mein Fels, meine Burg, mein Erretter; mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Berg meines Heils und mein Schutz! Ich rufe an den HERRN, den Hochgelobten, so werde ich vor meinen Feinden erettet.“2 Vor diesem Hintergrund kann der Cranachsche Bildentwurf als kongenialer Versuch bewertet werden, Schloss Torgau zum Sinnbild der von König David und Martin Luther besungenen Gottesburg zu erheben, wodurch aus der Perspektive Kurfürst Johann Friedrichs I. das Torgauer Schloss gewissermaßen zu einem „Palatium sacrum“, einem heiligen bzw. unter Gottes Schutz und Heil stehenden Palast für den Anführer der protestantischen Fürstenliga erhöht wurde. 2. Zur jahrhundertealten Tradition der Allegorisierung des Schlosses als Gottesburg Die in Cranachs Tapisserieentwurf vorgenommene Allegorisierung von Schloss Torgau baut auf einer Tradition auf, die bereits spätestens seit dem 14. Jahrhundert und damit weit vor der Reformations-
zeit Burgen und Schlösser in bildlichen Darstellungen als Bauwerke von besonderem spirituell-religiösem Rang auszeichneten, die – als Sitz eines mit sakraler Autorität und Aura ausgestatteten christlichen Regenten – unmittelbaren Anteil haben an der Aura göttlicher Transzendenz. Diese bildliche Tradition wiederum scheint sich – soweit dies beim gegenwärtigen Stand der Forschung festgestellt werden kann – auf eine noch wesentlich ältere Deutungsgeschichte zu stützen, die in der weströmischchristlichen Kultur mindestens bis zu Karl dem Großen und von dort weiter über die byzantinischen und spätantiken Kaiser bis in die Zeit der biblischen Könige zurückreicht. So wird die Aachener Pfalz Karls des Großen in den Quellen der Karolingerzeit – so von Alkuin, Walahfrid Strabo und Notker Balbulus – explizit als sacrum palatium bezeichnet,3 genauso wie 794 der Frankfurter Königshof durch italienische Delegierte der dort tagenden Synode.4 Die Zeitgenossen Karls greifen hier wiederum eine ältere, spätantike und byzantinische Tradition auf, nach der bereits die Paläste von Kaiser Konstantin und Justinian in Konstantinopel und Ravenna die Bezeichnung sacrum palatium trugen. Der ideelle wie materielle Bezugspunkt dieser Zuschreibung von Sakralität an einen christlichen Herrscherpalast liegt noch weiter in der Geschichte zurück: Es ist der Palast des alttestamentlichen Königs David auf dem Jerusalemer Tempelberg, der als sacrum, als geheiligt, galt und den sich auch Karl der Große – mitsamt der Disposition aus Palast und Tempel, der wiederum auf König Salomon zurückging – für seine Aachener Pfalz zum Vorbild nahm.5 Mit diesen Bezügen auf die biblischen Könige David und Salomon, die ja zugleich als Vorläufer Christi und des christlichen Königtums galten, und mit der Attributisierung der Herrscherpaläste als „heilig“ versuchten die Zeitgenossen Konstantins, Justinians und Karls des Großen unverkennbar, den Sitz der Regentschaft ihrer Zeit in die Tradition der Vorläufer Christi zu stellen und mit deren heilsgeschichtlicher Autorität auszustatten. Bemerkenswerterweise werden solche heilsgeschichtlichen und sakralen Zuschreibungen an irdische Regierungspaläste schon in der Nachkarolingerzeit immer seltener, um schließlich im hohen und späten Mittelalter ganz zu versiegen.6 In den schriftlichen Quellen, soweit sie uns bekannt sind, finden sich jedenfalls keine Titulierungen eines spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Palastes bzw. Schlosses als palatium sacrum und auch keine anderen, ähnlich konnotierten Adjektivierungen.7 Dies gilt auch für solche Orte herrschaftlicher Repräsentation, an denen sich – wie etwa auf dem Wawel in Krakau oder dem Hradschin in Prag – besondere Erinnerungsstätten eines sakral aufgefassten Königtums herausbildeten, wo jedoch nur die Sakralbauten selbst – im Falle von Krakau und Prag die mit dem Schlossbezirk verbundenen Ka-
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Abb. 2: Die Erscheinung des Himmlischen Jerusalem in der Offenbarung des Johannes (Szene aus dem Tapisserie-Zyklus der Apokalypse von Angers, 1373-1382, Schloss Angers)
thedralen, Stiftskirchen und Kapellen – als geheiligte Orte und Bauten verstanden wurden.8 Auch wenn die Schriftquellen seit dem hohen und späten Mittelalter im Bereich der westlich-lateinischen König- und Fürstenreiche die Definition eines Herrschaftssitzes als sacrum palatium bzw. als „Gottesburg“ vermeiden, so belegt doch Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon von 1743, dass selbst in der ausgehenden Frühen Neuzeit das Wissen um diese Zusammenhänge nicht vollkommen verloren gegangen war.9 So heißt es bei Zedler in dem Artikel „Schloß, Arx, Castrum, Chateau“: In der Heil. Schrifft wird Gott selbst ein Schloß genennet, wie er eine Burg zu seyn genennet wird, weil man bey selbigem am besten beschirmet und sicher ist. Und hat dahin jeder das Gnaden-Oeffnungs-Recht, da auf löblichen Schlössern und Burgen das Oeffnungs-Recht, um dahin zu fliehen, und allda eingelassen zu werden, nur ein- und anderem, Krafft deshalben errichteter Verträge u.s.w. zugestanden hat.“10 Der Hinweis auf die biblische Gleichsetzung Gottes mit einer schützenden Burg bzw. einem Schloss wird im Lexikonartikel unmittelbar mit dem für die Sicherheit der Bevölkerung einer frühneuzeitlichen Landesherrschaft so wichtigen „Gnaden-Öffnungsrecht“ verknüpft. Das „Gnaden-Öffnungsrecht“ stellt somit eine aus ethischen Gründen und daher im Lexikonartikel auch mit der aus dem Alten Testament abgeleiteten Sinnbildlichkeit des Schlosses als Gottesburg11 verbundene Erweiterung des juristisch gebotenen und daher vertraglich geregelten „Öffnungs-Rechts“ dar, das
dem fürstlichen Landesherrn und seinem Gefolge den jederzeitigen Zugang und Aufenthalt auf einem Schloss ermöglichte.12 Noch mehr aber geben die bildlichen Quellen deutliche Hinweise darauf, dass die in der Zeit Konstantins des Großen, Justinians und Karls des Großen entwickelte Vorstellung einer besonderen sakralen Aura von Burgen und Schlössern regierender Herrscherhäuser und damit ihre Rückbindung an die legendären Paläste der biblischen Könige Salomon und David auch im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit immer noch lebendig gewesen war. Diese bildliche, Cranachs Darstellung des Torgauer Schlosses vorausgehende Tradition soll hier anhand eines besonders eindrucksvollen frühen Beispiels veranschaulicht werden.13 Es ist eine Schlossdarstellung aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Medium der Tapisserie (Abb. 2), die zu einem der größten jemals geschaffenen Tapisseriezyklen mit einem Umfang von sechs Teppichen mit insgesamt 84 Szenen auf einer Gesamtlänge von über 140 Metern gehört. Konzipiert wurde dieser monumentale Zyklus zwischen 1373 und 1382 im Auftrag von Herzog Ludwig I. von Anjou und wurde nahezu komplett in der Pariser Teppichweberwerkstatt von Robert Poisson angefertigt.14 Das hier gezeigte Teppichbild gibt in recht detaillierter Weise die Grundform und die wichtigsten Elemente eines zeitgenössischen französischen Schlosses wieder: Vom Torhaus und Saalbau über die Kapelle und den Wehrturm bis hin zum repräsentativen Donjon sind alle Elemente formal und in der Anordnung korrekt
72 veranschaulicht. Doch nicht diese Detailgenauigkeit macht die Darstellung für unsere Fragestellung interessant, sondern ihr ikonographischer Kontext: Diese Schlossdarstellung ist Bestandteil des in Angers aufbewahrten bekannten Tapisserie-Zyklus‘ der Apokalypse15 und erscheint in der Szene der Johannes-Offenbarung, in der Johannes die Vision der Himmelsstadt zuteil wird. Diesen Moment arbeitet die Tapisseriedarstellung sehr genau heraus, indem sie Johannes in einem gewölbten Innenraum zeigt, dessen Wände sich im Augenblick der Vision auflösen und den spirituellen Blick auf die Erscheinung des Himmlischen Jerusalem freigeben. Doch schwebt vom Himmel keine Stadt,16 sondern – wie beschrieben – ein zeitgenössisches französisches Schloss. Dass in der Apokalypse von Angers das Himmlische Jerusalem als Königsschloss aufgefasst oder umgekehrt das französische Schloss zum Synonym für die Himmelsstadt als Zentrum göttlicher Regentschaft wurde, ist m.E. keine Äußerlichkeit. Vielmehr kommt darin der Anspruch zum Ausdruck, eine unmittelbare ideelle Verbindung herzustellen zwischen der real existierenden, materiell fassbaren Form irdischer Regentensitze und dem verborgen in der himmlischen Transzendenz existierenden und sich erst am Ende der Geschichte im Moment des Jüngsten Gerichts enthüllenden Sitz des Weltenherrschers und der ihn umgebenden 24 Ältesten und biblischen Könige, darunter auch David und Salomon. Anders als die Schriftquellen, die eine solche Auratisierung und eschatologische Aufladung irdischer Schlösser und Paläste seit dem hohen Mittelalter vermeiden, findet der Gedanke einer typologischen Beziehung zwischen irdischem Königsschloss und überirdischer Himmelsstadt in der Tapisserie-Darstellung von Angers seinen pointierten bildlichen Ausdruck. Letztlich gelangt in dieser Darstellung auf einer typologischen Ebene der gleiche Anspruch zu bildlicher Evidenz, der bereits die Zeitgenossen Karls des Großen – allen voran Alkuin – veranlasst hat, die Aachener Pfalz als Abbild des Palastes Davids und die Aachener Pfalzkapelle als Tempel Salomos zu deuten und den Regierungssitz Karls des Großen damit zum Nachfolger des Prototypus aller irdischen Regentensitze und zu einem irdischen Abbild des Wohnsitzes Gottes zu erklären.17 Darüber hinaus erinnert die in der Tapisserie vorgeführte Figuration des Himmlischen Jerusalems in der Gestalt eines französischen Schlosses an die anfangs erwähnten Psalmen und Sprüche Davids und Salomons, in denen die Himmelsstadt Zion mit einer Burg gleichgesetzt und explizit als Burg bzw. Palast Gottes bezeichnet wird.18 Mit der Schlossdarstellung in der Apokalypse von Angers prinzipiell vergleichbar ist eine Reihe von Schlossdarstellungen in spätmittelalterlichen Stundenbüchern, aus denen hier beispielhaft eine Schlossansicht in den Très Belles Heures, die von
Herzog Jean de Berry, einem Bruder Ludwigs I. von Anjou, um 1409 in Auftrag gegeben wurden, herausgegriffen sei. Das Schloss befindet sich auf dem Blatt der Heilig-Geist-Prim (p. 169) (Abb. 3), das die Auferstehung der Toten schildert.
Abb. 3: Stundenbuch Très Belles Heures des Herzogs von Berry, Blatt der Heilig-Geist-Prim (p. 169), Auferstehung der Toten (um 1409, New York, The Cloisters)
Am rechten Bildrand steht raumbeherrschend ein turm- und zinnenreiches Schloss und zerteilt zusammen mit einem Flusslauf eine Berg- und Wiesenlandschaft, in der die Toten sich aus ihren Gräbern erheben.19 Die Szenerie wird von einem tiefblauen Himmel überwölbt, aus dem eine Lichterscheinung mit der Taube des Heiligen Geistes Strahlen auf die Erde sendet. In diesen Himmel ragt auch der Hauptturm des Schlosses, dessen reich verzierter und durchfensterter Aufbau mit seiner fahnenbesetzten Spitze sogar den Rahmen des Miniaturbildes durchstößt und dadurch mit den Realitätsebenen und der Medialität der Buchseite spielt.20 Die motivische Nähe zum Himmlischen Jerusalem der Apokalypse von Angers ist evident. Zwar verzichtet die Miniatur in den Très Belles Heures auf die Darstellung des Weltgerichts, doch musste jedem Betrachter die Fortsetzung des Geschehens bekannt sein: Beim anschließenden Weltgericht, das die zuvor noch vereinigten Seelen in die Seligen und die Verdammten scheiden wird, erhalten bekanntermaßen einzig die Seligen Zutritt in die Himmelsstadt, die in der Miniatur – wie in der Tapisserie von Angers – als zeitgenössisches französisches Schloss erscheint.
73 3. Schloss Torgau als Gottesburg des protestantischen Fürsten und Bekenntnisarchitektur Johann Friedrichs I. von Sachsen Kehren wir von hier aus wieder zurück zu Cranachs Tapisserieentwurf mit der Kindersegnung Christi (vgl. Abb. 1), dann wird deutlich, wie sehr das Bildmotiv aus der weit zurückreichenden Tradition sowohl der Deutung von Palästen, Burgen und Schlössern als „palatia sacra“ bzw. „Gottesburgen“ als auch der bildlichen Umsetzung dieser Allegorisierung in der spätmittelalterlichen Tapisseriekunst, Buchmalerei sowie Tafelmalerei schöpft. Lucas Cranach und seine Berater haben ganz offensichtlich bewusst an diese bekannte Tradition anzuknüpfen versucht und in einer gewissermaßen protestantischen Neudeutung das Torgauer Schloss mit dem Kinder segnenden Christus im Vordergrund in besonderer Weise als Wohn- und Regierungssitz eines nach dem Evangelium Christi handelnden protestantischen Landesherrn gedeutet. Für den Auftraggeber dieses Entwurfs, Kurfürst Johann Friedrich I., reflektierte die Verbindung des Torgauer Residenzschlosses mit der in den Evangelien berichteten Zuwendung Christi zu den Kindern in besonderer Weise seine Rolle als weltlicher Schutzherr der lutherischen Kirche und Theologie, die in der Kindersegnung ein Sinnbild für die von dogmatischen und machtpolitischen Interessen freie, ursprüngliche Kraft des Evangeliums und die bedingungslose, allein aus der Gnade erwachsende Zuwendung Gottes zu allen Menschen erkannte. In welchem Maße das Torgauer Residenzschloss für Kurfürst Johann Friedrich I. einen symbolischen Ort seiner durch das lutherische Bekenntnis bestimmten Landesherrschaft verkörperte und das Schloss in seiner äußeren und inneren Gestalt dieses Selbstverständnis öffentlich bezeugen und dadurch als eine Art Bekenntnisarchitektur wirken sollte, belegt die unter Johann Friedrich I. beauftragte bildliche Ausstattung. Sie kennzeichnet eine dezidiert protestantisch-lutherische Programmatik, die in dieser Weise erstmals an einem fürstlichen Residenzschloss im Alten Reich erscheint und als eine Reaktion auf eine andere, nur wenig frühere Inkunabel konfessioneller Bildpropaganda im deutschen Schlossbau, den Georgenbau in Dresden, verstanden werden muss. Als Herzog Georg von Sachsen, der ein Vetter zweiten Grades des Kurfürsten Johann Friedrich I. war, um 1530 in Dresden mit dem Neubau des sog. Georgenschlosses als Erweiterung des bestehenden Residenzschlosses begann21 und die Fassaden des Neubaus (Abb. 4) vom Sockel bis zur Giebelspitze mit Bildwerken und Inschriftentafeln ausstatten ließ, die in pointierter Weise die katholische Heilslehre vertraten, war diese in der Schlossarchitektur des Alten Reichs bis dahin unübliche Instrumentalisierung der Fassaden für politisch-konfessionelle Zwecke ein Novum. Niemals zuvor war die Fassade eines deutschen Schlosses mit einem solch ausgeklügelten theolo-
Abb. 4: Georgenbau („Georgenschloss“) des Dresdner Residenzschlosses, Ansicht der Süd- und Nordfassade (Kupferstich von Antonius Weck, 1680)
gisch-politischen Bildprogramm versehen worden, ein Umstand, der sich nur aus den besonderen politischen Umständen erklären lässt, unter denen Herzog Georg agieren musste. Denn während seine Verwandten in Wittenberg und Torgau längst zum Luthertum übergetreten waren und dieses im ganzen Reich durchzusetzen versuchten, sah Herzog Georg in diesem Abfall von Rom und der katholischen Kirche nicht nur einen religiösen, sondern – mit Blick auf den Zusammenhalt des deutschen Reichs – auch einen politischen Irrtum, den er mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchte. Die bildbesetzten Fassaden des Dresdner Georgenschlosses markieren im deutschen Schlossbau daher eine Zäsur, deren Ursachen die konfessionelle Uneinigkeit in den deutschen Fürstentümern bildete, wobei die religiösen Differenzen sich in Sachsen sogar innerhalb des wettinischen Fürstenhauses auswirkten. Diese das Alte Reich in seiner Grundstruktur erschütternden und sowohl zwischen den Fürstenhäusern als auch innerhalb der Fürstenhäuser ausgetragenen konfessionellen Auseinandersetzungen sind wesentlich dafür verantwortlich, dass ab den 1530er-Jahren vor allem protestantische Fürsten (so auch Ottheinrich von der Pfalz in Neuburg a. D. und Heidelberg) die Fassaden ihrer Residenzschlösser als Medien einer konfessionellen und dynastischen Bildpropaganda nutzten und die Residenzschlösser dadurch in regelrechte Bekenntnisarchitekturen verwandelten. 3.1 Landesherrschaft auf dynastischem und lutherischem Fundament: das Bildprogramm des Großen Wendelsteins und des Hauptportals am Neuen Saalbau Die Gelegenheit, auf die programmatischen, katholischen Schlossfassaden Herzog Georgs in Dres-
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Abb. 5: Schloss Torgau: Hofansicht des Neuen Saalbaus (Zustand 2015)
Abb. 7: Schloss Torgau, Relief mit Samson als Löwenbezwinger am Treppenpodest des Großen Wendelsteins
Abb. 6: Schloss Torgau, Treppenpodest des Großen Wendelsteins vor dem Neuen Saalbau (Zustand 2015)
Abb. 8: Schloss Torgau, Relief mit Davids Sieg über Goliath am Treppenpodest des Großen Wendelsteins
den eine protestantische Antwort zu geben, bot der Um- und Neubau des Torgauer Schlosses durch Johann Friedrich I. Als erste Baumaßnahme ließ dieser ab 1532/33 den bereits genannten neuen Saalbau errichten, dessen Hofseite als monumentale, prachtvolle Schaufassade konzipiert wurde (Abb. 5). Ihren Mittelpunkt bildet der berühmte, von Konrad Krebs entworfene Treppenturm mit seiner konstruktiv spektakulären, schneckenförmigen Treppenanlage. Der Treppenturm ist aber zugleich auch das Zentrum eines komplexen Bildprogramms, das sich aus vielen Einzelelementen in Form von Wappen- und Bildreliefs, Bildnisbüsten und freiplastischen Statuen zusammensetzt. Als inhaltlicher Leitfaden dient dabei der Gedanke, die dynastische Geschichte des sächsischen Kurfürstenhauses mit dessen politisch-religiösem Auftrag zur Unterstützung der von Martin Luther und Philipp Melanchthon angestoßenen Reformation zu verbinden. Dynastie und konfessionelles Bekenntnis werden in den Bildwerken daher als unauflösbare Einheit veranschaulicht. Den Mittelpunkt dieses Bildprogramms markiert der podestartige Unter-
bau des Treppenturms (Abb. 6), dessen vordere Brüstung in der Mitte das Wappen des regierenden sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. trägt. Links und rechts schließen sich die Wappenbilder seiner Ururgroßeltern väterlicher- und mütterlicherseits an, um auf diese Weise unübersehbar an die Altehrwürdigkeit und Dignität der kurfürstlichen Dynastie zu erinnern.22 An den Treppenaufgängen links und rechts vom Podest stehen nahezu in Lebensgröße Kurfürst Johann Friedrich selbst und sein mitregierender Halbbruder Johann Ernst und bewachen mit ihren Rüstungen und Standarten den Zugang zum hochaufragenden Treppenturm. Wer die seitlichen Treppen zum Podest hinaufsteigt, erblickt auf Höhe der Podestbrüstungen nicht nur die dynastischen Wappen, sondern auch zwei Bildreliefs mit den Darstellungen von Samson als Löwenbezwinger (Abb. 7) und von Davids Sieg über Goliath (Abb. 8). Beide Szenen waren seit der Reformation zu Sinnbildern für den Kampf der Protestanten gegen die Katholiken geworden, sodass der Besucher des Torgauer Schlosses spätestens beim Hinaufsteigen zum
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Abb. 9: Schloss Torgau, Hauptportal des Neuen Saalbaus
Abb. 10: Schloss Torgau, Hauptportal des Neuen Saalbaus, Balüstersäulchen im Portalgewände mit einem Bildnismedaillon Martin Luthers
Abb. 11: Schloss Torgau, Hauptportal des Neuen Saalbaus, Rundmedaillons mit den Porträts von Kurfürst Johann Friedrich I. und seiner Gemahlin Sibylle von Kleve (die Abb. zeigen die heute im Schlossmuseum Weimar aufbewahrten Originale)
Haupteingang des Neuen Saalbaus mit dem konfessionellen Bekenntnis der sächsischen Kurfürsten konfrontiert wurde. Das protestantische Bekenntnis ist dann auch das Leitthema des Hauptportals selbst, das früher direkt in den großen Festsaal führte (Abb. 9). Nahezu in Augenhöhe erscheinen auf den Balustersäulchen des Portalgewändes die Bildnisse von Luther (Abb. 10) und Melanchthon, deren Köpfe den darüber liegenden Portalarchitrav regelrecht zu tragen scheinen.23 Dabei zitieren die beiden Säulchen zugleich das seit dem Frühchristentum bekannte Motiv der Säule als Sinnbild der Apostel24 und verstärken damit die auch in der übrigen Bildausstattung grundsätzlich sichtbar werdende religiöse Allegorisierung des Torgauer Schlosses. In den darüber liegenden Architrav wurden zwei künstlerisch fein gearbeitete Kalkschiefertondi (heute Kopien) eingelassen, die nach Entwürfen Lucas Cranachs d. Ä. und vermutlich ausgeführt von Hans Reinhardt d. Ä.25 in Form von Rundmedaillons die Porträts von Kurfürst Johann Friedrich I. und seiner Gemahlin Sibylle von Kleve zeigen (Abb. 11). Grundsätzlich handelt es sich um das tradierte Konzept des Doppelporträts eines Fürstenpaares, doch verweisen sowohl die Form der Rundmedaillons als auch ihre optische Verbindung zu den kleinen Rundmedaillons mit den Bildnissen Martin Luthers und Philipp Melanchthons auf den veränderten Bedeutungskontext, in dem sich das fürstliche Doppelporträt befindet. Nicht nur wird – erstmals am Außenbau eines deutschen Schlosses an zentraler und quasi öffentlicher Stelle – das Doppelporträt eines regierenden Fürstenpaares angebracht, sondern darüber hinaus explizit auf das konfessionelle, lutherische Fundament seiner Regentschaft hingewiesen.26 Auch die Form der von Lucas Cranach gestalteten Bildnisse ist bedeutsam, denn mit den Rundmedaillons wurde eine Bildnisform gewählt, die unverkennbar Anleihen an der Würdeform des antikisierenden Medaillenbildnisses nimmt und von der Cranach-Werkstatt im Alten Reich zunächst vor allem für die Darstellung der Reformatoren und ihrer fürstlichen Beschützer eingesetzt wurde.27 Die große Übereinstimmung mit solchen Medaillenbildnissen vermag der Vergleich des reliefierten Rundbildnisses Johann Friedrichs I. am Portal des Torgauer Neuen Saalbaus mit einer von Hans Reinhart d. Ä. 1535 und damit zeitgleich hergestellten Porträtmedaille Johann Friedrichs von Sachsen zu belegen.28 Ungewöhnlich ist auch die Kombination der Bildnismedaillons des regierenden Kurfürstenpaars mit einem weiteren Fürstenbildnis in der Mitte des Architravs, wo eine bronzene Porträtbüste Kurfürst Friedrichs des Weisen (Abb. 12), des Beschützers Martin Luthers und der sächsischen Reformation, sitzt (heute als Kopie; das Original befindet sich in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden).29 Mit diesem bildlichen Arrangement, das die bedeu-
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Abb. 12: Schloss Torgau, Hauptportal des Neuen Saalbaus, Bildnisbüste Kurfürst Friedrichs des Weisen von Adriano Fiorentino (1498), flankiert von den Bildnismedaillons Johann Friedrichs I. und Sybilles von Kleve (die Abb. zeigt die aktuelle Rekonstruktion mit Kopien)
tende, vom italienischen Bildhauer Adriano Fiorentino um 1498 ursprünglich für das Wittenberger Schloss entworfene und zu ihrer Zeit nördlich der Alpen vollkommen ungewöhnliche Bronzebüste30 des berühmten sächsischen Kurfürsten zum Point de vue der repräsentativsten Portalanlage des Torgauer Schlosses werden lässt und sie zugleich zum programmatischen Bezugspunkt für die Porträtmedaillons Johann Friedrichs von Sachsen und seiner Gemahlin Sibylle von Cleve erhebt, ist das Hauptportal des Neuen Saalbaus der wichtigste Bildort am Außenbau des Torgauer Schlosses. Und es ist zugleich der politischste Bildort im Außenbereich des Schlosses, da er nicht nur das politisch-konfessionelle Bekenntnis der sächsischen Kurfürsten aus der ernestinischen Linie und die politisch-religiöse Verantwortung des regierenden Kurfürstenpaars demonstrativ und mit ausgesuchter künstlerischer Pracht allen Besuchern vor Augen stellte, sondern diese Besucher beim Durchschreiten des Festsaalportals auch noch zwingt, diesem damals hochpolitischen Bekenntnis in Gestalt der bildlich präsenten Reformatoren und ihrer fürstlichen Beschützer zumindest symbolisch Referenz zu erweisen. 3.2 Fürstliche und konfessionelle Standhaftigkeit nach dem Vorbild Judiths: das Bildprogramm des Schönen Erkers an den kurfürstlichen Gemächern des Kapellenflügels An den Innenhoffassaden des Torgauer Schlosses wird das Thema des entschlossenen und wehrhaften protestantischen Bekenntnisses der sächsischen Kurfürsten noch an einer anderen prominenten Stelle aufgegriffen. Diese Stelle markiert ein großer, doppelstöckiger Erker (Abb. 13), der sich an der Fassade der 1544 vollendeten kurfürstlichen Wohnappartements befindet. Das Äußere dieses repräsentativen Erkers ist überaus reich mit
Abb. 13: Schloss Torgau, sog. Schöner Erker vor den ehem. kurfürstlichen Gemächern im sog. Kapellenflügel
Abb. 14: Schloss Torgau, Rundmedaillon mit Judith und Holofernes am sog. Schönen Erker vor den ehem. kurfürstlichen Gemächern im sog. Kapellenflügel
Dekorum im italianisierenden Renaissancestil und mit verschiedenen Bildreliefarbeiten verziert, deren größter Teil sich im Obergeschoss auf den Brüstungsplatten unterhalb der beiden Fenster befindet. Hier erblicken wir oberhalb eines zweigeteilten Figurenfrieses mit kämpfenden und sich niedermetzelnden Männern zwei medaillonartige Rundbilder, die auf der linken Seite den Selbstmord der Lucretia und auf der rechten Seite Judith mit gezücktem Schwert und dem abgeschlagenen Kopf des Ho-
77 lofernes zeigen (Abb. 14). Bemerkenswert an der Darstellung ist die Kleidung der beiden Tugendheldinnen. Denn während Lucretia in einem antikisierenden, einfachen Gewand erscheint, wird Judith im prachtvollen Ornat einer deutschen Fürstin aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgeführt. Und während Lucretia mit einer labilen Körperhaltung die Tragödie ihrer Verzweiflungstat anzeigt, signalisiert Judith durch die Frontalstellung ihres Oberkörpers und den ins Profil gewendeten Kopf ein Höchstmaß an entschlossenem Kampfesmut, der durch das gezückte Schwert zusätzlich unterstrichen wird. In der Literatur sind diese Darstellungen der beiden allegorischen Frauengestalten aus ihrem historischen Entstehungskontext heraus immer wieder als Sinnbilder für das mit kämpferischer Entschlossenheit agierende protestantische Kurfürstentum Sachsen interpretiert worden und – besonders Judith – auch als Sinnbilder für den Siegeswillen des Schmalkaldischen Bundes gegenüber den Angriffen der kaiserlichen, katholischen Partei.31 Diese Lesart trifft sicherlich einen wesentlichen Kern der Bildaussage, avancierte doch nicht zuletzt Judith seit den 1530er-Jahren im Alten Reich zur allegorischen Figur der Reformation und der sie stützenden Fürstenhäuser.32 So versteckt beispielsweise Lucas Cranach auf seinem bekannten, heute im Gothaer Schlossmuseum aufbewahrten Gemälde von Judith an der Tafel des Holofernes (1531) (Abb. 15) mindestens ein Kryptoporträt eines regierenden protestantischen Fürsten, wobei das Porträt des hessischen Landgrafen Philipps des Großmütigen in der fürstlich gekleideten Person vermutet wird, die im Bildvordergrund zusammen mit dem Hund vor dem Tisch steht und seinen Blick konzentriert auf den Mundschenk richtet.33 Dieser schenkt gerade Holofernes den sinnenbetörenden Wein ein und schafft damit gewissermaßen die Voraussetzungen für die im Bildhintergrund gezeigte Tötung des persischen Feldherren durch Judiths Schwerthieb. Der konzentrierte Blick des fürstlichen Gastes alias Landgraf Philipp I. von Hessen im Vordergrund ist somit ein versteckter Hinweis auf die komplizenhafte Zustimmung des hessischen Landgrafen und Mitbegründers des Schmalkaldischen Bundes zum bevorstehenden Tyrannenmord Judiths, die an der gegenüberliegenden Tischseite gerade dabei ist, Holofernes durch die Darreichung von Wildbrett von ihren wahren Absichten abzulenken. Selbst wenn die Gesichtszüge des Holofernes keine Merkmale einer Individualisierung besitzen, so kann man angesichts des Kryptoporträts Philipps des Großmütigen und des Entstehungsjahres des Gemäldes im Gründungsjahr des Schmalkaldischen Bundes in seiner Gestalt eine allegorisch verhüllte Darstellung Kaiser Karls V. sehen. So zutreffend daher die Deutung der Judith als Heroine des Protestantischen Fürstenbundes auch ist, so sehr verstellt sie uns andererseits den Blick
Abb. 15: Lucas Cranach d. Ä.: Judith an der Tafel des Holofernes (1531, Gotha, Herzogliches Museum Schloss Friedenstein)
auf die Bedeutung, die Judith als Projektions- und Identifikationsfigur speziell für das Selbstverständnis der protestantischen Fürstin als lutherisch gesinnte Landesmutter besaß und für die die Bildnisse der Judith zu einer besonderen Form des allegorischen Fürstinnenporträts werden konnten.34 Am sog. Schönen Erker des Torgauer Schlosses verweist auf diese spezifische Bedeutungsebene zum einen die Kleidung der Judith (vgl. Abb. 14), die der zeitgenössischen Mode einer deutschen Fürstin folgt, und zum anderen der Anbringungsort der Lucretia- und der Judith-Darstellungen am oberen Erkergeschoss. Denn auf dieser Ebene befand sich möglicherweise auch die Wohnung der sächsischen Kurfürstin35 – zur Entstehungszeit Sibylle von Cleve – zu deren Wohnstube das obere Erkergeschoss gehörte und hinter dessen Brüstung mit dem Rundbild der Judith die Kurfürstin unbemerkt das Geschehen im Schlosshof beobachten konnte. Nicht zufällig erscheint die Judith-Thematik an einem reich durchfensterten Erker, der im Kontext der frühneuzeitlichen Schlossallegorese von den Zeitgenossen als Sinnbild des wachen, kontrollierenden und zugleich fürsorglichen Fürstenblicks gedeutet wurde.36 Damit liegt es nahe, dem spezifisch auf die protestantische Fürstin gemünzten Sinngehalt auch bei anderen Judith-Darstellungen nachzugehen, die im Alten Reich während der Reformationszeit entstanden. Hierzu gehören vor allem
78 und einer hieraus abgeleiteten Regentenethik verknüpften und auf diese Weise eine verbindende Klammer zwischen dem außenräumlichen und dem innenräumlichen Bildkonzept bestand.40
Abb. 16: Lucas Cranach d. Ä.: Judith mit dem Kopf des Holofernes (ca. 1530, Kassel, Schloss Wilhelmshöhe, Gemäldegalerie)
eine Reihe von Gemälden von Lucas Cranach d. Ä. und seiner Werkstatt (Abb. 16), die bis auf wenige Ausnahmen allesamt 1530/31, der Gründungszeit des Schmalkaldischen Bundes, entstanden und die den Bildtypus der kämpferisch-tugendhaften Judith durch die Herauslösung aus dem Format des Historienbildes und seine Übertragung in das Format des Halbfigurenporträts in geradezu ikonischer Qualität prägten und propagierten.37 Solche Judith-Bilder hingen im übrigen auch in den Innenräumen des Torgauer Schlosses, darunter bemerkenswerterweise auch in den Räumen, die sich hinter dem Schönen Erker mit dem Bildnisrelief der Judith befinden.38 Das am Außenbau des Torgauer Schlosses außergewöhnlich pointiert vorgetragene protestantische Bekenntnis wurde somit ursprünglich in der bildlichen Ausstattung der Innenräume systematisch fortgeführt, worauf an anderer Stelle bereits ausführlich eingegangen wurde, weshalb hier nur ein kurzer Hinweis erfolgen soll.39 So lässt die Auswertung der für Schloss Torgau erhaltenen Inventare von 1546, 1548 und 1610 deutlich werden, dass auch im Inneren die an den Wänden einstmals aufgehängten Bildwerke die großen Leitthemen von Dynastie, Genealogie und Herrschergeschichte mit dem religiösen Bekenntnis zur Lehre Martin Luthers und Philipp Melanchthons
4. Nach der Katastrophe von Mühlberg 1547: die Umwandlung des Dresdner Schlosses zu einer Bekenntnisarchitektur des neuen Kurfürsten Moritz von Sachsen Das politische und religiöse Selbstbewusstsein, das sich in den Bildprogrammen der Torgauer Schlossfassaden artikuliert und ursprünglich auch in der Bildausstattung der Schlossinnenräume zum Ausdruck kam, sollte die konfessionelle Zukunft Sachsens nachhaltig bestimmen und ab 1539, nach dem Tode des in Dresden residierenden katholischen Herzogs Georg, schließlich auch dessen Landesteil in ein protestantisches Territorium verwandeln. Der Weg dorthin aber war voller Konflikte, die teilweise auch militärisch ausgetragen wurden und auf dem Höhepunkt der Entwicklung sogar zu einer politischen wie militärischen Konfrontation zwischen dem sächsischen Kurfürst Johann Friedrich I., dem Erbauer des Torgauer Schlosses, und seinem Vetter Herzog Moritz, dem Nachfolger Herzog Georgs in Dresden, führte. Mithilfe Kaiser Karls V. konnte Moritz in der legendären Schlacht bei Mühlberg 1547 Johann Friedrich besiegen und politisch entmachten und anschließend durch den Kaiser sogar die sächsische Kurwürde auf sich selbst übertragen lassen. Von seinen Gegnern wurde der neue Kurfürst Moritz daraufhin in einer beispiellosen Medienkampagne als „Verräter“ und „Judas“ beschimpft, was wiederum Moritz veranlasste, sein aufwendig vergrößertes Residenzschloss in Dresden mit bildlich argumentierenden Fassaden zu versehen. Diese zwischen 1550 und 1554 von den italienischen Künstlern Gabriele und Benedetto Tola realisierten Fassaden waren an den Außen- und Innenseiten des Dresdner Schlosses vollständig mit Sgrafitto-Bildern bemalt (Abb. 17). In ihrer Opulenz und künstlerischen Qualität setzten sie völlig neue Standards im Schlossbau des Alten Reichs. Auf das umfangreiche Bildprogramm dieser Sgrafitto-Fassaden soll im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. Stattdessen soll das Augenmerk auf die Bildausstattung der Loggia im Innenhof des Dresdner Schlosses gerichtet werden, da diese Loggia im Zentrum des gesamten Fassadenprogramms stand. Die bildliche Ausschmückung der Loggia umfasste sowohl den Loggienbau als solchen, der mit Bildreliefs geschmückt wurde, als auch die dahinter liegende, mit farbigen Fresken bemalte Rückwand. Leider sind diese Fresken bereits seit dem späten 19. Jahrhundert vollständig verschwunden und nur noch skizzenhaft in einem Kupferstich von 1680 abgebildet (Abb. 18). Dekorum und Bildschmuck der Loggia und das anspruchsvolle politisch-religiöse Bildprogramm machen sie in den Worten
79 talen Gleichförmigkeit der Sgrafittomalerei an den Außen- und Hoffassaden auf die theatralisch-bunt leuchtende Loggia im Mittelpunkt der nördlichen Hoffassade. Die Themen ihrer Fresken behandelten einst biblische Geschichten mit einem hohen politisch-religiösen Symbolgehalt: In der untersten Loggia war die Bekehrung des Saulus zum Paulus zu sehen, im nächsten Geschoss darüber die Anbetung der Hll. Drei Könige und abschließend im dritten Loggiengeschoss der Besuch der Königin von Saba bei König Salomon.
Abb. 17: Residenzschloss Dresden, Innenhof mit Loggia und Rekonstruktion der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Sgrafitto-Fassaden (Zustand 2013)
Abb. 18: Residenzschloss Dresden, Innenhof mit Loggia vor dem Schlossturm („Hausmannturm“) (Kupferstich von Gabriel Tzschimmer, 1680)
von Ulrike Heckner zu einem „Kernstück und Höhepunkt der Schloßdekoration“.41 „Hier kulminierte die Selbstdarstellung von Moritz als Fürst und Herrscher, die durch die Dekoration des Schlosses zum Ausdruck gebracht wurde.“42 Der herausgehobene Stellenwert des hier versammelten Bildprogramms wurde bereits durch die Farbigkeit der auf die Loggienrückwand gemalten Fresken angezeigt: Im Unterschied zur übrigen Fassadenmalerei des Schlosses, die ausschließlich in schwarzweißer Sgrafittotechnik ausgeführt wurde, besaßen die Fresken ein buntfarbiges Kolorit. Der hierdurch hervorgerufene Kontrasteffekt lenkte unweigerlich die Aufmerksamkeit der Betrachter von der monumen-
In ihrer grundlegenden Studie zur Fassadendekoration des Dresdner und Neuburger Schlosses vermochte Ulrike Heckner den ikonologischen Gehalt dieser Fresken plausibel zu rekonstruieren.43 Leitgedanke war das Herrscherbild von Moritz von Sachsen als eines Fürsten, der auch in seinem protestantischen Bekenntnis, ein rechtmäßiger Stellvertreter Christi auf Erden und Nachfolger Salomonis zu sein, beanspruchte. Damit präsentierte er sich zugleich als legitimer Nachfolger des mit seiner Hilfe gestürzten Kurfürsten Johann Friedrich I. und als Erbe seines politisch-religiösen Bekenntnisses. Vermutlich sollte hierauf das Bild der Verwandlung des Saulus zum Paulus anspielen. Dieses Motiv propagiert den ursprünglich katholisch erzogenen Moritz als zum Protestantismus bekehrten Fürsten, dessen militärischer Sieg über seinen Cousin Johann Friedrich I., der mit Kaiser Karl V. verfeindet war, die politische Position der Protestanten gegenüber dem Kaiser stärkte. Als Anspielung auf die in den Augen von Moritz berechtigte Entmachtung seines Vetters, der mit seiner unnachgiebigen Politik gegen den Kaiser den Zusammenhalt des Reiches, das sächsische Kurfürstentum und die evangelische Konfession zu gefährden schien, kann das Bildprogramm der Loggienbrüstung gedeutet werden. Die Brüstung zwischen den Arkaden im ersten Obergeschoß setzte sich aus sieben Relieftafeln zusammen, auf denen die Kämpfe Josuas gegen die Amoriter zu sehen waren. Durch die Gleichsetzung der Bekämpfung des Schmalkaldischen Bundes durch die Reichsheere mit dem Kampf der Israeliten gegen die abtrünnigen Amoriter44 versuchte Moritz offensichtlich seiner Rolle im Schmalkaldischen Krieg eine positive Deutung zu geben und sich im Medium der Bilder von dem Makel des Verräters und Usurpators zu befreien. Auf diese Weise schuf Moritz von Sachsen aus seiner eigenen politisch-konfessionellen Zwangssituation heraus mit dem Umbau und der bildlichen Ausgestaltung des Dresdner Residenzschlosses eine dem Torgauer Schloss gewissermaßen entgegengerichtete albertinisch-protestantische ‚Bekenntnisarchitektur“. Deren Sinnbildlichkeit konnte aber letztlich nur deshalb ihre Wirkung entfalten, da auch das Dresdner Schloss die ihm zugedachte konfessionell-politische Sinnstiftung nur auf der Grundlage der bis in die Zeit König Davids und
80 Salomons zurückreichenden Tradition der „Gottesburg“ leisten konnte, wie sie in Cranachs zu Beginn dieses Beitrags thematisiertem Tapisserieentwurf der Kindersegnung Christi mit dem Torgauer Schloss im Hintergrund so eindrucksvoll bildlichen Ausdruck gefunden hat. Abbildungsnachweise:
Abb. 5–14, 17: Matthias Müller (IKM, Universität Mainz) Alle anderen Abbildungen: Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Universität Mainz sowie des Verfassers
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Siehe zu diesem Karton zuletzt Gunnar Heydenreich/Daniel Görres/Beat Wismer (Hrsg.), Lucas Cranach der Ältere. Meister, Marke, Moderne, München 2017, Kat. Nr. 180, S. 288. Zitiert nach Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1971, S. 611. Zu den Quellenangaben siehe Judith Ley/Marc Wietheger, Der karolingische Palast König Davids in Aachen. Neue bauhistorische Untersuchungen zu Königshalle und Granusturm, in: Karl charlemagne der Große. Orte der Macht: Essays, hrsg. im Auftrag der Stadt Aachen von Frank Pohle, Dresden 2014, S. 236–245, hier: S. 242; Ulrike Heckner, Der Tempel Salomos in Aachen. Neues zur Baugeschichte der Marienkirche, in: ebd., S. 354– 363, hier: S. 354–356. Vgl. hierzu den Beitrag von Wolfram Drews, Die gelehrte Konstruktion von Sakralität in der Karolingerzeit, in: Manfred Luchterhandt/Heike Röckelein (Hrsg.), Palatium sacrum. Sakralität am Hof des Mittelalters. Orte – Dinge – Rituale (Druck in Vorbereitung). Ley/Wietheger (wie Anm. 3), S. 242. Siehe hierzu Drews (wie Anm. 4). Siehe hierzu auch Matthias Müller, Paläste des Heils. Die Vorstellung vom „palatium sacrum“ als Gegenstand französischer Schlossdarstellungen in Tapisserie und Buchmalerei des späten Mittelalters, in: Manfred Luchterhandt/Heike Röckelein (Druck in Vorbereitung) (wie Anm. 4). Zum Krakauer Wawel und seiner Bedeutung als politisch-religiöser Erinnerungsort siehe Wojciech Bałus, Der Wawel - Dom und Königsgräber, in: Joachim Bahlcke/Stefan Rohdewald/Thomas Wünsch (Hrsg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationenund epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. 271–278; zur politischen Ikonographie des Königsschlosses auf dem Krakauer Wawel siehe die grundlegende neue Studie von Tomasz Torbus, Das Königsschloss in Krakau und die Residenzarchitektur unter den Jagiellonen in Polen und Litauen (1499–1548). Baugeschichte, Funktion, Rezeption,
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Ostfildern 2014. Zum Prager Hradschin als Teil einer durch Kaiser Karl IV. geplanten Neukonzeption Prags als heiliger Stadt und neuem Rom siehe Jiří Kuthan, Praga sacra. Kaiser Karls IV. Vision vom heiligen Prag, in: Ders., Splendor et Gloria Regni Bohemiae. Kunstwerke als Herrschaftszeichen und Symbole der Staatsidentität (Opera Facultatis Theologiae catholicae Universitatis Carolinae Pragensis, Historia et historia artium, vol. VI), Prag 2007, S. 349–382, hier bes. S. 362f. Zur Entstehungsgeschichte, Artikelstruktur und den Autoren von Zedlers Universal-Lexicon sowie zur bestehenden Forschungsliteratur siehe http://www. zedleriana.de. J. H. Zedler, Großes vollständiges Universal Lexicon, Bd. 1–64, Halle und Leipzig 1732–1754, hier: Bd. 35, Halle und Leipzig 1743, Art. „Schloß“, Sp. 210–211. Ihre Symbolkraft als irdische Sinnbilder für das Himmlische Jerusalem bzw. die Gottesburg Zion beziehen die Schlösser dabei u.a. aus Psalmtexten, in denen verschiedentlich Gott bzw. Christus mit einer beschützenden, rettenden Burg verglichen werden, was auch Martin Luther zu seinem berühmten Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ inspiriert hat (vgl. Ps 18,3-4; Ps 31,3-4; Ps 91,2-3; Ps 144,1-2 oder 2 Sam 22, 1-2; siehe hierzu auch Martin Feltes, Architektur und Landschaft als Orte christlicher Ikonographie, Aachen 1987). Siehe hierzu Matthias Müller, Schloss – Körper – Territorium. Aspekte der Visualität und Materialität legitimer Herrschaft im französischen und deutschen Schlossbau des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Joachim Ganzert/Inge Nielsen (Hrsg.), Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftslegitimation. Bau- und Gartenkultur als historische Quellengattung hinsichtlich Manifestation und Legitimation von Herrschaft (Sonderband von Hephaistos. Kritische Zeitschrift zu Theorie und Praxis der Archäologie und angrenzender Gebiete), Berlin 2015, S. 201–218. Zum Nachfolgenden siehe ausführlich Müller (Druck in Vorbereitung) (wie Anm. 7). Zum historischen Kontext und zur Provenienz siehe jüngst die Beiträge in: Cailleteau/Muel (wie Anm. 15). Siehe auch Hansmann (wie Anm. 15), S. 12–27 (mit fälschlicher Benennung des Kaufmanns und königlichen Geldgebers Nicolas Bataille als Teppichwirker, ebd., S. 20); Auzas/Maupeou/Mérindol (wie Anm. 15), S. 24–28; Delwasse (wie Anm. 15), S. 3–5 (franz. Originalausgabe). Zu diesem Tapisseriezyklus siehe zuletzt die Beiträge in: Jacques Cailleteau/Francis Muel (Hrsg.), Apocalypse. La tenture de Louis d‘Anjou, Paris 2015. Zur älteren Forschung siehe Wilfried Hansmann, Die Apokalypse von Angers, Köln 1981; Pierre-Marie Auzas/Catherine de Maupeou/Christian de Mérindol (Hrsg.), Die Apokalypse von Angers. Ein Meisterwerk mittelalterlicher Teppichwirkerei, München 1985; Liliane Delwasse, Der Zyklus der
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Apokalypse von Angers, übers. von Karin Merkin (Éditions du Patrimoine, Centre des Monuments Nationaux), Paris 2008 (franz. Originaltitel: Dies., La tenture de l’Apocalypse d’Angers, Paris 2007). So anhand der architektonischen Elemente gedeutet von Hansmann (wie Anm. 15), S. 118, Auzas/Maupeou/Mérindol (wie Anm. 15), S. 186, oder Paul von Naredi-Rainer, Die Stadtmauer in der Ikonographie der christlichen Kunst, in: ArchitekturGeschichten, Festschrift für Günther Binding zum 60. Geburtstag, hrsg. von Udo Mainzer und Petra Leser, Köln 1996, S. 124. Delwasse (wie Anm. 15), bemerken die besondere Gestalt der Stadt, „qui a tout d’une forteresse moyenâgeuse avec ses tours crénelées, ses échauguette et son donjon“ (ebd., franz. Originalausgabe, S. 58) und folgen damit der vom Verfasser bereits vor einigen Jahren erstmals vorgeschlagenen Deutung der Darstellung als Burg bzw. Schloss (siehe Matthias Müller, Das irdische Territorium als Abbild eines himmlischen. Überlegungen zu den Monatsbildern in den Très Riches Heures des Herzogs Jean de Berry, in: Bildnis, Fürst und Territorium, hrsg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, bearb. von Andreas Beyer/Ulrich Schütte (Rudolstädter Forschungen zur Residenzkultur, Bd. 2), München/Berlin 2000, S. 11–29, hier: S. 17). Zu den Quellen siehe Anm. 3. Ps 18,3-4; Ps 31,3-4; Ps 91,2-3; Ps 144,1-2 oder 2 Sam 22, 1-2. Siehe hierzu auch Feltes (wie Anm. 11). Siehe zu diesem Blatt Eberhard König, Die Très Belles Heures von Jean de France Duc de Berry. Ein Meisterwerk an der Schwelle zur Neuzeit, München 1998, S. 46f. Eberhard König geht in seiner Monographie zu den Très Belles Heures auf die Schlossdarstellungen in den Bildhintergründen nicht näher ein und verweist beim Blatt der Heilig-Geist-Prim lediglich auf die Architekturansichten in den Trés Riches Heures (König, wie Anm. 19, S. 46f.). Inwieweit die von Arndt Kiesewetter erwogene wenig spätere Datierung des Dresdner Georgenbaus zutrifft und dadurch der Georgenbau zeitgleich mit dem 1533 begonnenen Torgauer Neuen Saalbau errichtet wurde, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden (Arndt Kiesewetter, Der Einfluss Augsburgs auf die Kunst der Frührenaissance in Sachsen. Ein Beitrag zur Ausbreitung der Renaissance im albertinischen Herrschaftsbereich Sachsens zwischen 1520 und 1535, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 64 (2010), S. 202–242., hier: S. 239–240). Für die nachfolgenden Überlegungen ist die Beantwortung dieser Frage nicht von zentraler Bedeutung. Siehe hierzu ausführlich Matthias Müller, Das Schloß als Bild des Fürsten. Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618) (Historische Semantik, Bd. 6), Göttingen 2004, S. 71f.
23 Zu diesen Medaillons siehe jüngst Ruth Slenczka, Die Reformation als Gegenstand der Herrschaftsrepräsentation. Luther und die Fürsten in der Bildausstattung von Schloss Hartenfels, in: Dirk Syndram/ Yvonne Wirth/Doreen Zerbe (Hrsg.), Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, Aufsatzband, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2015, S. 159–169, hier: S. 161–164. 24 Siehe hierzu grundlegend Bruno Reudenbach, Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Bd. 14 (1980), S. 310– 351. 25 Diese Vermutung äußert unter Verweis auf die Ähnlichkeit der Ausführung mit entsprechenden Medaillenbildnissen Reinharts und quellenkundlichen Hinweisen auf das Wirken Reinharts in Torgau Kathrin Meukow, Hans Reinhart d. Ä. – Ein sächsischer Medailleur am Schloss in Torgau, in: Anke Neugebauer/Franz Jäger (Hrsg.), Auff welsche Manier gebauet. Zur Architektur der mitteldeutschen Frührenaissance (Hallesche Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. 10), Bielefeld 2010, S. 277–286, hier: S. 283f. Siehe auch Jeffrey Chipps Smith, in: Matthias Müller/Klaus Weschenfelder u.a. (Hrsg.), Apelles am Fürstenhof. Facetten der Hofkunst um 1500 im Alten Reich, Berlin 2010, Kat.-Nr. 1.1.28, S. 162f. 26 Siehe hierzu Matthias Müller, Das Schloss als Bild(nis)träger. Zum Wechselverhältnis von Bild und Architektur als Medien höfischer Repräsentation im frühneuzeitlichen Residenzbau des Alten Reichs, in: Helmut-Eberhard Paulus (Hrsg.), Das Kunstwerk in der Residenz. Grenzen und Möglichkeiten der Präsentation höfischer Kultur (Jahrbuch der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten, Bd. 14 [2010]), Regensburg 2011, S. 16–30, hier: S. 23f. Siehe auch Peter Findeisen, Der Große Wendelstein des Schlosses Hartenfels, in: Harald Marx (Hrsg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit, Ausst.-Kat. Torgau, Bd. 2: Aufsätze, Dresden 2004, S. 205–219, hier: S. 211–214. 27 Sabine Schwarz-Hermanns, Die Rundbildnisse Lucas Cranachs des Älteren. Mediale Innovation im Spannungsfeld unternehmerischer Strategie, in: Andreas Tacke (Hrsg.), Lucas Cranach d. Ä. 15532003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, Leipzig 2007, 121–133. 28 Ein Exemplar dieser Porträtmedaille wird heute in der Universitätsbibliothek Leipzig aufbewahrt, ein anderes, leicht modifiziertes und teilvergoldetes Exemplar befindet sich in den Kunstsammlungen der Veste Coburg (siehe zu diesem Exemplar zuletzt Jeffrey Chipps Smith, in: Müller/Weschenfelder, wie Anm. 23, Kat.-Nr. 1.1.28, S. 162f.). Diese
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Porträtmedaille Johann Friedrichs des Großmütigen (und auch die Rundmedaillons Johann Friedrichs und Sibylles von Kleve am Portal des Neuen Saalbaus) gehen wiederum auf gemalte und druckgraphische Porträts des Kurfürstenpaares zurück, die zwei Jahre zuvor, 1533, in der Cranach-Werkstatt in Auftrag gegeben worden waren (vgl. z.B. die Exemplare in den Kunstsammlungen Stiftung Schloss Friedenstein Gotha). Peter Findeisen hat dieses originale Szenario bereits in den 1970er Jahren in einer Fotomontage rekonstruiert: Peter Findeisen, Zur Struktur des Johann-Friedrich-Baues im Schloß Hartenfels zu Torgau, in: Sächsische Heimatblätter, 20. Jg., 1/1974, S. 1–12, hier: S. 3ff.; Ders./Heinrich Magirius (Bearb.), Die Denkmale der Stadt Torgau, Leipzig 1976, S. 159. Zu dieser Büste siehe zuletzt Müller/Weschenfelder (wie Anm. 23), Kat.-Nr. 1.1.02, S. 131–133, sowie Keith Christiansen/Stefan Weppelmann (Hrsg.), Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, München 2011, Kat.-Nr. 108, S. 267f. Siehe hierzu Martin Sommerfeld, Judith-Dramen des 16./17. Jahrhunderts, nebst Luthers Vorrede zum Buch Judith (Literarhistorische Bibliothek, Bd. 8), Berlin 1933; Adelheid Straten, Das JudithThema in Deutschland im 16. Jahrhundert: Studien zur Ikonographie. Materialien u. Beiträge, München 1983, S. 27–29; Ina-Maria Conzen, Die Wandlung des Judith- und Holofernes-Themas in der Deutschen und Niederländischen Kunst von 1500 – 1700, in: Das Münster, 37 (1984), S. 243–245 (Zusammenfassung der 1982 an der Universität Heidelberg eingereichten Magisterarbeit der Verfasserin). Zur entsprechenden Interpretation der ab ca. 1530 in der Cranach-Werkstatt produzierten Judith-Bilder, die auch im Folgenden eingehender analysiert werden, siehe Werner Schade, Das unbekannte Selbstbildnis Cranachs, in: Dezennium, 2 (1972), S. 368–375; Peter Gorsen, Venus oder Judith? Zur Heroisierung des Weiblichkeitsbildes bei Lucas Cranach und Artemisia Gentileschi, in: Artibus et historiae, Bd. 1 (1980), S. 69–81, hier: S. 73ff. Zur Rezeptionsgeschichte der Judith-Figur siehe auch Marion Kobelt-Groch, Judith macht Geschichte. Zur Rezeption einer mythischen Gestalt vom 16. bis 19. Jahrhundert, München 2005. Zur Bedeutung Lucretias in der Reformationszeit siehe Kristin Eldyss Sorensen Zapalac, „In His Image and Likeness“. Political Iconography and Religious Change in Regensburg 1500–1600, Ithaca 1990, S. 108–134. Dabei konnte die moralische Autorität der JudithFigur in den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen nach dem Schmalkaldischen Krieg sogar von widerstreitenden protestantischen Parteien gegeneinander gerichtet werden, so wie 1551 in den Verhandlungen zwischen der Stadt Magdeburg und dem durch ein Bündnis mit Kaiser Karl V.
an die Macht gelangten sächsischen Kurfürsten Moritz geschehen. So verweigerten die lutheranischen Prediger Magdeburgs die Kapitulation ihrer Stadt gegenüber dem kaisertreuen und im Schmalkaldischen Krieg siegreichen sächsischen Kurfürsten mit dem Hinweis, dass jetzt vielmehr „eine gute Judith sehre nötig [were], die da riehte, das man wie zu Bethulia die Stadt so baldt nicht auffgeben solt (Elias Pomarius, Wahrhafftige grundtliche und eygentliche Beschreibung der Belagerung der Stadt Magdeburg, Magdeburg 1662, S. 377; siehe hierzu auch Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation [Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 123], Tübingen 2003, Anm. 38, S. 173). 33 Zum Gemälde und seiner Deutung siehe Cranach der Ältere, Ausst.-Kat. Frankfurt a. M. 2007, Kat. Nr. 45, S. 202 (mit weiteren Literaturangaben). 34 Siehe zu diesem Thema ausführlich Matthias Müller, Die mythische Heldin als Fürstin – die Fürstin als mythische Heldin. Spuren eines Rollenbildes protestantischer Fürstinnen in Bildkonzepten Lucas Cranachs, in: Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken u.a. (Hrsg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Supplement, Bd. 104: Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte), Göttingen 2015, S. 63– 105. 35 Bei diesem Appartement besteht weiterer Klärungsbedarf zur ursprünglich intendierten Nutzung durch den Kurfürsten und die Kurfürstin (nachdem sich Stephan Hoppe mit guten Argumenten auf eine Nutzung durch die Kurfürstin festgelegt hat: Stephan Hoppe, Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schlossbaus in Mitteldeutschland. Untersucht an Beispielen landesherrlicher Bauten der Zeit zwischen 1470 und 1570, Köln 1996, S. 214, Nr. 108/109). Denn während das Inventar von 1546, fol. 56v (Barbara Marx/J. Vötsch, Ein albertinisches Schlossinventar der Residenz Torgau von 1546 [mit Edition], in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 75 [2005], S. 253–274, hier: S. 267), das Appartement als „Meins gnedigsten herrn gemach“ bezeichnet und damit eher auf den Kurfürsten verweist, beschreibt das Inventar von 1563, SächsHStA Dresden, Rep. A 25 a I, I, Nr. 2336, fol. 5r, dasselbe Appartement als „M. Gndsn frauen der Churfürstin gemach“. Konsequenterweise wird das darunter, im ersten Obergeschoss gelegene Appartement im selben Inventar (fol. 4v) als „M. Gndst. H. des Churfürsten stube“ benannt. Selbst wenn es sich 1563 um eine deutlich spätere und damit möglicherweise veränderte Raumsituation handelt, bleibt als Tatsache festzuhalten, dass es sich bei den übereinander im ersten und zweiten Obergeschoss des Kapellenflügels liegenden Appartements um identische Raumfolgen mit jeweils einem eigenen Zugang zur angrenzenden Schlosskapelle handelte, deren Nutzung alleine
83 durch den Kurfürsten keinen Sinn ergibt und daher ausgeschlossen werden kann. Sofern eines der beiden Obergeschosse des Kapellenflügels ursprünglich für die Kurfürstin vorgesehen war, dann kann es sich traditionellerweise nur um das höher gelegene und daher besser zu sichernde zweite Obergeschoss gehandelt haben. Die Klärung der Frage wird überdies dadurch erschwert, dass sich der Wohnbereich des weiblichen Gefolges der Kurfürstin, die sog. Frauenzimmer, seit 1534 im zweiten Obergeschoss des Neuen Saalbaus nachweisen lassen (siehe Hoppe, wie oben, S. 390) und das Inventar von 1546 im dritten Obergeschoss des Neuen Saalbaus (Nr. 66 bei Hoppe, wie oben) ausdrücklich eine „kurfurstin stuben“ aufführt (Inventar Torgau 1546, fol. 51r: „In der kurfurstin stuben). Eine mögliche Erklärung für die verwirrende Raumsituation könnten gegenüber der Ursprungsplanung veränderte Raumnutzungen sein, die bereits kurze Zeit nach der Fertigstellung der Bautrakte erfolgten. Hinweise darauf geben die bereits im Inventar von 1546 immer wieder verwendeten Bezeichnungen „alt“ für einzelne Räume. Das Problem sollte durch die Forschung weiter diskutiert werden! 36 Müller (wie Anm. 21), S. 273–279.
37 Siehe hierzu meine Überlegungen an anderer Stelle: Müller (wie Anm. 32). 38 „Ain gemalt brust pild Judit“ (Inventar 1546, fol. 57r, vgl. Marx/Vötsch, wie Anm. 33, S. 268). 39 Matthias Müller, Die Konfessionalisierung höfischer Innenräume. Beobachtungen zur bildlichen Raumausstattung in den Schlössern von Wittenberg und Torgau, in: Dirk Syndram / Yvonne Wirth / Doreen Zerbe (Hrsg.), Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, Aufsatzband, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Dresden 2015, S. 139–157. 40 Siehe hierzu ausführlich und mit Quellennachweisen Müller (wie Anm. 37). 41 Ulrike Heckner, Im Dienst von Fürsten und Reformation. Fassadenmalerei an den Schlössern in Dresden und Neuburg an der Donau im 16. Jahrhundert, München/Berlin 1995, S. 52. 42 Heckner (wie Anm. 39), S. 52. 43 Heckner (wie Anm. 39), S. 50ff.; eine Zusammenfassung findet sich bei Ulrike Heckner, Die Fassadendekoration des Dresdner Schlosses, in: Dresdner Hefte 52, 4/1997, S. 36-43. 44 Siehe hierzu Heckner (wie Anm. 39), S. 47.
84 Johannes Burkhardt
Die Bedeutung von Reformation und Konfessionsbildung für die Geschichte der Neuzeit Die EKD, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat im Jahr 2014 eine recht umfangreiche Broschüre vorgelegt – gut 100 Seiten – als Grundlagenschrift, was zum 500jährigen Jubiläum der Thesenpublikation Martin Luthers eigentlich zu feiern wäre.1 Das ist ihr gutes Recht und vielleicht sogar ihre Pflicht ihrem Gründungsvater und Religionsstifter der evangelisch-lutherischen Kirche gegenüber. „Leider muss gefeiert werden“, ironisierte eine Zeitung das etwas angestrengte Bemühen, etwas noch heute Lobwürdiges für den Jubilar herauszustellen.2 Der Anspruch ist dabei durchaus, die Bedeutung Luthers einer nicht nur innerkirchlichen Öffentlichkeit zu erklären, aber man ist doch verblüfft, dass dies über fast den ganzen Text ausgerechnet Luthers Rechtfertigungslehre sein soll! Wer kennt die denn überhaupt noch in der deutschen Öffentlichkeit? Oder hat Lust, sich über etwas zu informieren, worüber vor einigen Jahren in der Zeitung zu lesen war, dass evangelische und katholische Theologen sich darüber (wie übrigens schon einmal im 16. Jahrhundert!) als doch nicht so trennend geeinigt hätten? Hier wird nun geradezu ein kleiner Katechismus der lutherischen „solas“ aufgeblättert, durch die man zur Rechtfertigung vor Gott gelange: allein durch die „Schrift“, allein durch die Gnade und allein durch den Glauben. Alle guten Dinge sind drei, und mehr wollen wir Historiker der Fassungskraft selbst der Studierenden der Reformationsgeschichte nicht zumuten, doch hier kommen noch solus Christus und solo verbo hinzu, sodass es ein „großer“ Katechismus wurde, der nun diese Theologumena der lutherischen Orthodoxie durchdekliniert und interpretiert – fünf an der Zahl. Eine Reihe maßgeblicher Reformationshistoriker erhoben Einspruch. Thomas Kaufmann, selbst evangelischer Kirchenhistoriker und Lutherbuchautor, stellt klar: Das ist „Lutherideologie“, das gehört in den reformationsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, und dort ist anderes viel wichtiger. Weiterer Einspruch kam von Heinz Schilling, Historiker und auch Lutherbuchautor: Das sei zu innerreligiös, zu deutsch, und so in der europäischen Geschichte kaum relevant.3 Und Wolfgang Reinhard, ebenfalls Historiker und Kenner der Konfessionen, hat in Übereinstimmung mit meiner gleichzeitigen EKD-Kritik, aber in sarkastischer Zuspitzung, die Berufung auf Luthers sogenannte Freiheitsschrift ad absurdum geführt, die für uns nicht brauchbarer wird, wenn sie theologiegeschichtliche Experten entwirren.4 Die Replik eines EKD-Verteidigers stellte gegen all das: In ihrem Amt dürfe die Kirche ja wohl auch einmal religiös werden.5
Das ist richtig, aber es ist nicht der Punkt: Denn es bleibt gerade nicht innerreligiös. „Rechtfertigung und Freiheit“ sind die erst religiös, dann politisch gewendeten Titelbegriffe, und in der Tat: Hier soll aus den Inhalten der lutherischen Dogmatik unser heutiges Wertesystem und Menschenbild und fast alles, was heute politisch korrekt ist und Konjunktur hat, abgeleitet werden. Das ist gut gemeint, aber sehr problematisch, denn was sollen die anderen Religionen zu dieser Vereinnahmung sagen? Die Katholiken werden gleichsam als auch ziemlich bibelgläubig integriert, am Ende aber als „alte“ Religion in den evangelischen Jubel hineingenommen, weil „die reformatorische Freiheitsbotschaft“ zur Entstehung eben dieses (unseres!) Rechtsstaates beigetragen habe. Der hat freilich nach historischer Einsicht ganz andere Wurzeln, und das ist schlicht Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts, der die ganze moderne Kultur aus einer einzigen Religionspartei ableiten wollte, nur erscheint es diesmal mehr religiös unterfüttert. So wie die evangelische Schriftauslegung in der Predigt wird hier Luther selbst ausgelegt und direkt in unsere Lebenswirklichkeit übersetzt – unter Umgehung der Geschichte dazwischen. Nur wo das nicht geht, wie gerade bei Luthers Freiheitsbegriff, der, soweit überhaupt verständlich, so ungefähr das Gegenteil dessen fordert, was für uns individuelle, gesellschaftliche und politische Freiheit ist, wird auf einen langen Entwicklungsdiskurs verwiesen, der aber nicht verfolgt wird. Laut der Planung unserer Veranstaltungsreihe soll er nachgeliefert und zwischen Staat und Kirche problematisiert werden. Man wird auch hier über religiöse Inhalte der Reformation und ihrer Schriften sprechen, aber wenn wie in der EKD nach der „Bedeutung“ der Reformation gefragt wird, dann würde ich anderes in dem Jubiläumsjahr für noch denkwürdiger, in Fortsetzung und Widerspruch wirkungsvoller und bis heute prägend halten. Als Kontrastprogramm zur fachreligiösen Innenperspektive als Ursprungsmythos unserer Welt setze ich darum als Historiker an allen Sichtbarem an und hebe einige Punkte hervor, in denen Reformation und Konfessionsbildung in der Geschichte wirklich Bedeutung erlangten – sagen wir nach dem Muster der Sola-Pentarchie eine Handvoll, nämlich die mediale, konfessionelle, toleranzpolitische, föderale und kulturelle Wirkung. 1. Chefredakteur Luther – die Medienrevolution Schaut man in die Jubiläumspublizistik der Lutherdekade, so schiebt sich in dem Versuch, etwas noch heute Aktuelles herauszustellen, die mediale Bedeutung des Reformators immer stärker in den
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Abb. 1: Chronologische Verteilung der Flugschriften zwischen 1500 und 1530 in einer überregionalen Gesammtmenge von 356 erfaßten Titeln oder Ausgaben. Die untere Kurve zeigt den Anteil der lateinischen Drucke. Nach Hans- Joachim Köhler, Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit, in: Martin Luther, Probleme seiner Zeit, hg. v. Volker Press und Dieter Stievermann, Stuttgart 1986, S. 200–281.
Vordergrund. „Am Anfang war die Druckerpresse“ ist ein Besprechungsartikel des jüngsten Werkes von Thomas Kaufmann überschrieben.6 Von der Medien- oder Kommunikationsrevolution sprechen allenthalben auch die Reformationsartikel der Tagespresse und erkennen in ihr auch den einzigartigen Ausnahmerang des Wittenberger Autors. Ein informiertes Feuilleton fand aus gegebenem Anlass eine wahrhaft monumentale, geradezu die ehemaligen weltgeschichtlichen Hammerschläge ersetzende Schlagzeile. „Der Mediengigant“ ist es nunmehr, der sein Jubiläumsjahr eröffnet.7 Diese mediale Interpretationskonjunktur ist eigentlich der historischen Sache wie heutigen Interessen gemäß und nicht überraschend. Eher kann überraschen, dass sie nicht schon länger das allgemeine Reformationsverständnis geprägt zu haben scheint. Eigentlich hat schon bald nach der Jahrtausendwende ein führendes Blatt unter dem leicht ironisch zugespitzten Titel „Chefredakteur Luther“ ein Buch begrüßt, das ein einschlägiges Geschichtsbild aus einem „hundertjährigen Schlaf“ wecke mit der Einsicht, dass die ganze Reformation als eine „Medienrevolution ersten Ranges“ zu begreifen sei, in der nicht das inhaltliche Was, sondern das Wie der Verbreitung und Kommunikation das eigentliche Neue und Neuzeitliche gewesen sei.8 In der Tat hat dessen Autor durch eine Neuvermessung der Luther- und Reformationsgeschichte mit einem
geschärften Blick durch inspirierte historisch-theoretische Grundlagenwerke, durch die führende Tübinger Flugschriftenforschung und anhand von Entdeckungen der Augsburger Druckgeschichtsforschung Einsichten und Perspektiven gewinnen können, die jetzt mit oder ohne Zitierung auf direkten oder indirekten Wegen in die Jubiläumspublizistik eingegangen sind, siehe auch Abb. 1. Jenes Buch erschien 2002 unter dem Titel „Das Reformationsjahrhundert“ und erschließt zur Hälfte die schon in seinem Untertitel angekündigte „Medienrevolution“. Es ist von mir verfasst.9 In der Tat ist Luthers einzigartige Stellung in der neuzeitlichen Medienrevolution von höchster Bedeutung für die ganze Geschichte der Neuzeit. Dass sich die reformatorischen Ideen aus Wittenberg nur durch die damals noch neuen Druckmedien so schnell und durchschlagend verbreiten konnten, ist bekannt, eine neue Entdeckung aber ist, was sie umgekehrt für die Etablierung des Mediums geleistet haben. Denn die aufwendige Spitzentechnologie der Textreproduktion mit beweglichen Lettern war in eine existenzbedrohende Krise geraten, weil man nach Typographisierung der handschriftlich überlieferten Werke nicht mehr recht wusste, was man noch drucken und verkaufen könnte. In dieser Situation veränderte das Auftreten Luthers alles und führte mit einem Schlag die Druckwerkstätten aus der Krise heraus. Das neue aktuelle Flugschriftengenre schnellte in den Jahren des reformatorischen Durchbruchs von der Thesenpublikation 1517 bis 1525 von nahezu Null auf einen einsamen Gipfel, allein in Augsburg auf 300 Titel und Ausgaben von Luther selbst und noch einmal so viele von zwanzig weiteren reformatorischen Autoren. Eine Hochrechnung kommt für die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts auf 10 000 Flugschriftenausgaben mit 10 Millionen Exemplaren ganz überwiegend auf Deutsch. Mit der Reformation avancierte so die druckgestützte Schriftlichkeit zum fortwirkenden Leitmedium der deutschen Gesamtkultur. Die weitreichendste Bedeutungserhöhung von Schriftlichkeit aber brachte die Lutherbibel, wie sie schon damals hieß. Auf sie hatte der Professor für Altes und Neues Testament seine reformatorischen Forderungen gegründet, und dieses Buch der Bücher sollte nun allen zugänglich werden. Es war nicht die erste Übersetzung, aber die beste, die sofort alle anderen vom Markt fegte. Bekanntlich hat sie zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache beigetragen, wenn auch erst schrittweise, bedurfte doch Luthers mitteldeutsche Sprache noch eines süddeutschen Glossars und für ein Drittel der Bibeldrucke noch eine niederdeutsche Variante. Entscheidend war, dass der Reformator von der sächsischen Kanzleisprache ausging und so die damals dominante und auch katholische Kanzleien mitziehende Amtssprache des ganzen Reichs nutzte, die auch für die maßgeblichen Druckersprachen kom-
86 patibel war. Dass er dem Volk „aufs Maul schaute“, obwohl er doch zugleich poetische Wendungen und Neologismen wie „friedfertig“ oder das elaborierte „Siehe“ prägte, ist so zu verstehen, dass seine rythmische Bibelsprache auch im mündlichen Vortrag ins Ohr ging, auch für öffentlichkeitswirksame Predigten. Denn zur Schrift traten Bildpublizistik und Kanzel. Sie bildeten einen Medienverbund, der mit der reformatorischen die erste moderne Öffentlichkeit herstellte. Die Bibel aber war darin kein theologisches Fachbuch über Gott, sondern mit einem neuen Leitbegriff das Evangelium, durch das Gott selbst zu den Menschen sprach und das nun für alle freigeschaltet war. Aber anders als Luther mit seiner Glaubens- und Gnadentheologie – die weiteren Solas – fanden andere Surfer in der Schöpfungsgeschichte und im Neuen Testament so viele sozialkritische Botschaften, dass es eine Massenbewegung auslöste, die im Bauernkrieg endete. Das war das erste, aber es blieb nicht das einzige Mal, dass die Druckmedien so etwas im Guten wie im Schlechten vermochten. Die um die Bibel kreisende reformatorische Uröffentlichkeit wurde ergänzt durch die politische Öffentlichkeit des Reiches und schließlich durch die um die Vernunft kreisende Öffentlichkeit der Aufklärung. Diese medien- und kommunikationsgeschichtliche Langzeitwirkung gehört sicher zu den nichtintendierten Folgen der Reformation. Luther würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass sein theologischer Ansatz am Schriftprinzip gleichsam in säkularisierter Form so unverkennbare Spuren in unserer Kultur hinterlassen hat. Mit Sinn für weltgeschichtliche Ironie ließe sich einem allein medial verstandenen „sola scriptura“ sogar die nachhaltigste Wirkung zuschreiben, die es trotz zusätzlicher auditiver Telekommunikation und Bildmedien sogar ins digitale Zeitalter geschafft hat. Über dieser medientheoretisch zu erschließenden Fernwirkung soll jedoch nicht übergangen werden, dass das medientheologische Verständnis der SolaScriptura-Formel erst einmal auch für die anstehende evangelische Konfessionsbildung von Bedeutung wurde. 2. Von gleich zu gleich – die Konfessionsbildung Eine weitere und wohl die handgreiflichste und bis heute sichtbarste Folge der Reformation ist die Entstehung von Konfessionen. Die Pluralisierung der Religion wurde und wird noch immer als Verlust der Einheit der Christenheit bedauert, wenn es die denn je gegeben hat, und allenfalls als Preis für die Wohltaten der Reformation hingenommen oder ökumenisch zu überwinden gesehen. Demgegenüber hat schon Ernst Walter Zeeden die aufbauende Leistung der „Konfessionsbildung“ aller Seiten gewürdigt, der evangelischen wie auch der katholischen, der reformierten, anglikanischen und weiterer, und damit ein ganzes Forschungsfeld über
ihre Wege und Formen eröffnet.10 Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling haben mit dem analytisch geschärften und sozialwissenschaftlich erweiterten Begriff „Konfessionalisierung“ auch die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungszusammenhänge und Gewinne für die Staatsbildung herausgearbeitet. Ohne dem dies noch einmal ausdifferenzierenden Beitrag eines der Protagonisten in diesem Band ins Wort fallen zu wollen, bevorzuge ich doch den Begriff der Konfessionsbildung, der den konfessionellen Institutionalisierungsprozess stärker als einen zunächst eigenständigen erfasst. Konfessionsbildung und Konfessionalisierung eint jedoch die Erkenntnis der grundlegenden Parallelität und Gleichartigkeit des ganzen Vorgangs auf allen Seiten. Hier nämlich trennt sich nicht mehr eine evangelische Kirche von einer vermeintlich durchlaufenden katholischen, und es gilt auch keine zeitliche Abfolge von Reformation und Gegenreformation mehr, sondern hier setzen sich parallel drei Konfessionen durch, die evangelische, die katholische und die reformierte, der Sache nach wie auch recht besehen gleichzeitig zwischen 1520 und 1580 und länger. Die Frühdatierung bezieht den reformierten Vorlauf Zwinglis in Zürich ein, und die Gleichzeitigkeit von evangelischer wie auch katholischer Konfessionsbildung konnte soeben erst im zwischen Wittenberg und Torgau sowie Dresden und Leipzig zweigeteilten Sachsen nachgewiesen werden. Denn auch Herzog Georg der Bärtige nutzte – mit der Sorge um die Bekenntnisgrundlagen, mit Heiligenpropaganda um Bischof Benno und Verbot auswärtiger Studien in Wittenberg – für eine katholische Konfessionsbildung schon von der Konfessionalisierungsforschung herausgestellte Mittel. Für diese von allen Seiten eingesetzten Grundlagen und Instrumente zur Herstellung und Durchsetzung konfessioneller Einheitlichkeit gibt es einen viel genutzten Katalog, der sieben Punkte enthält: Glaubensbekenntnis, Multiplikatoren, Bildungswesen, Propaganda, Kontrollverfahren, Unterscheidungsriten, Sprachregelungen. Da man etwas Gutes nicht oft genug verbreiten kann, habe ich ihn auch hier zitiert, aber die Erläuterungen und alles Weitere bleibt dem Beitrag von Wolfgang Reinhard überlassen, denn authentischer geht es nicht – er ist der Urheber des in der Forschung bereits als Reinhard-Katalog bekannten Standardwerkzeugs der Konfessionalisierungsforschung. In einer einzigen wirklich relevanten Frage ist die Diskussion jedoch noch weitergegangen. Denn gewiss arbeiteten alle Konfessionsbildner mit denselben oder austauschbaren Mitteln, haben am Ende auch alles, was zu einem konfessionalisierten Kirchenwesen gehört, wie ein Lehrbekenntnis, Religionspraktiken, multiplizierendes Personal und eine kontrollierende Kirchenorganisation. Aber nicht nur die modale Ausgestaltung, sondern der Ausgangspunkt und Stellenwert dieser einzelnen Positionen
87 war unterschiedlich, ja konträr. Das Lehrbekenntnis war für die evangelische Konfessionsbildung die erste und zentrale Sorge, wie die Reihe der fünf Bekenntnisse von der Confessio Augustana von 1530 auf der Grundlage der Torgauer Artikel aus dem sächsischen Kernland der Reformation bis zu Konkordienformel und Konkordienbuch von 1580, mit 4000 Unterschriften des evangelischen Pfarrpersonals deutschlandweit bezeugt. Für die katholische Konfessionsbildung aber war das Lehrbekenntnis eher die letzte Sorge, der sich das Konzil von Trient zwar stellte, doch vor allem unter dem Betreff Reform ihre Kirche ausbaute. Ob aber die Kirche vom heilig gehaltenen Text oder anders herum von der heilig gehaltenen Kirche ausging, war konstitutiv für die Ausgestaltung aller weiteren Elemente. Die nicht umsonst „evangelische“ Konfessionskirche wie hier ähnlich die reformierte rückten die textauslegende Predigt ins Zentrum der Religionsausübung – sicht- und hörbar durch Hervorhebung der Kanzel bis hin zu Kanzelaltären –, begriff entsprechend ihr Pfarrpersonal in der Ständegesellschaft als „Lehrstand“ und entwickelte erst aus der Verlegenheitslösung eines fürstlichen Summepiskopats ihre Kirchenorganisation. Die geheiligte katholische Amtskirche ließ hinwiederum auch auf ihr Personal einen sakralen Abglanz fallen – Priesterweihe, Zölibat, neue Orden –, rückte alte wie neue Kultformen und magische Rituale ins Zentrum der Religionsausübung und lehrte die unbedingte Autorität der Kirche – „es mag in den heiligen Schriften enthalten sein oder nit“ (Canisius). Diese Primate, wie ich die gegensätzlichen Ansätze der ganzen Konfessionsbildung genannt habe11, hatten aber nicht allein für diesen inneren Aufbau, sondern für ihre Friedensfähigkeit eine verhängnisvolle Auswirkung. 3. Christen und Antichristen – das Toleranzproblem Schon Martin Luther selbst war von der Wahrheit und Alleingültigkeit seiner religiösen Einsichten so tief durchdrungen, dass man ihn eher als Fundamentalisten denn als Helden der Gewissensfreiheit und einer daraus abgeleiteten Toleranz sehen kann. Er nahm die Gewissensfreiheit für sich in Anspruch, weil er recht zu haben glaubte, und schloss alle anderen, selbst die „Sakramentierer“ in Zürich und vor allem die „Papisten“, aus der Christenheit aus. Das sahen die umgekehrt genauso, und so wurde es ein scheltwortreiches Jahrhundert.12 Die Konfessionsbildung wurde noch nicht als Pluralisierung von Religion erkannt und anerkannt. Die Gegner wurden als abtrünnige Neuerer diffamiert, die Evangelischen und Reformierten als Ketzer, die Katholischen als Anhänger des in den letzten Zeiten erwarteten „Antichrist“, als den Luther den Papst zu erkennen meinte. Der alle anderen ausschließende Wahrheitsanspruch dieser Streitkultur ist jedoch nicht allein den Akteuren anzulasten, sondern von mir als eine schwer zu überwindende
„strukturelle Intoleranz“ bestimmt worden. Denn unter der Vorgabe einer noch unteilbaren Christenheit galten eben die Primate auch als die Wahrheitsbürgen und einander ausschließende allein richtige Zugänge des ganzen christlichen Religionssystems. Aus diesem Antagonismus erklärt sich diese spezifische Intoleranz der frühen Konfessionsbildung, denn es ging um die allein richtige Auslegung ein und derselben Religion. Alle glaubten, mit ihrem konfessionsbildenden Primat den einzig richtigen Zugang zur christlichen Wahrheit zu kennen. Die biblische Lehre oder die Kirchenorganisation schienen den exklusiven Einblick in die ganze Wahrheit zu garantieren. Alle sahen sich als die einzig legitimen Alleinerben der alten Christenheit an – und sprachen damit den anderen das religiöse Daseinsrecht ab. Religionsgespräche halfen da nicht, man einigte sich allenfalls in Nebensächlichkeiten, alle sahen die eigene Konfessionsbildung als Vorleistung für die Wiederherstellung der Einheit der Christenheit, der sich alle anzuschließen hatten. Das konnte zu Kriegen wie dem Schmalkaldischen und dem Dreißigjährigen Krieg führen, die nach neuer Einsicht in Deutschland nicht allein und nicht einmal primär, aber doch auch Religionskriege waren. Die sich bildenden einander ausschließenden Religionen mit ihrem militanten Alleinvertretungsanspruch waren ein kaum lösbares Problem. Es gehört fast zu den Wundern der deutschen Geschichte, dass man unter der Herausforderung der religiösen Intoleranz nach einigen Anläufen 1555 einen Ausweg fand, der die politische Kultur Deutschlands bis heute mitbestimmt. 4. Die Staatslösung nach Art des Reiches – der Föderalismus Und damit sind wir beim Staat angekommen, der hier eine zwiespältige Rolle spielte. Die Fürstenstaaten und Stadtregimente haben, auch wenn sie nicht die alleinigen Akteure waren, von der von ihnen betreuten und begleiteten Konfessionsbildung einerseits profitiert durch Stärkung ihrer Zuständigkeiten, Identitäten und Inbesitznahme der Kirchengüter. Auf der anderen Seite war die intellektuelle Elite der eigentlichen Konfessionsbildner auch diejenige Gruppe, die mit ihrer strukturellen Intoleranz dem Staat oft lästig fiel, ja zu kriegerischen Handlungen treiben konnte, die eigentlich der wahren Staatsräson widersprachen. So waren es denn doch die Fürsten, Stadtmagistrate, Politiker, Räte und Juristen, die eine Lösung für das Problem fanden und herbeiführten, das die Theologen nicht zu lösen vermochten. Das gelang nicht zufällig zuerst und am nachhaltigsten in dem Land, dessen politisches System einzigartige Voraussetzungen dafür bot. Im Reich Deutscher Nation nämlich hatte schon vor der Reformation eine große, erfolgreiche politische Reform auf dem Wormser Reichstag von 1495 mit der Aushandlung und Verkündigung eines Ewigen
88 Landfriedens das Gewaltmonopol des Staates früh hergestellt. Die bis dahin mit Einschränkungen legitime Fehde oder andere Waffengewalt unter Reichsgliedern wurde ein für allemal für nicht mehr zulässig erklärt und Konflikte auf den Rechtsweg verwiesen, für die neben Reichsoberhaupt und Reichstag eine eigene höchste Reichsgerichtsbarkeit errichtet und ausgebaut wurde. Die noch etwas mageren Ausführungsbestimmungen nahm sich der Augsburger Reichstag von 1555 vor und erweiterte sie durch eine Exekutionsordnung für die zur Ausführung und Friedenswahrung herangezogenen zehn Reichskreise. Das aber war die Gelegenheit, nach dem zuvor im Wesentlichen zwischen Moritz von Sachsen und Kaiserbruder Ferdinand ausgehandelten Passauer Vertrag, der nach Schmalkaldischem Krieg und Fürstenerhebung für die noch unbefriedigenden Interims- und Kompromisslösungen des Konfessionskonfliktes bereits die richtige Richtung vorgab, nun auch die große Lösung für die Religionsfrage einzubeziehen, die als „Augsburger Religionsfrieden“ in die Geschichte eingegangen ist.13 Da man nämlich erkannt habe, dass man eine Wiedervereinigung der „spaltigen Religion“ so schnell nicht zuwege bringen werde, wie es auf vorigen Reichstagen mithilfe theologischer Experten durchaus versucht worden ist, heißt es in dem Reichsabschied mit einem geschickten Dreh, habe man sich zunächst einen anderen Punkt vorgenommen, den ergänzungsbedürftigen Landfrieden, bei dessen Errichtung 1495 das Religionsproblem noch gar nicht absehbar war, das nun einbezogen werden sollte. Und so versprachen sich mit der bewährten Landfriedensformel die evangelischen und die katholischen Reichsstände und Herrschaftsträger, einander nicht mit Gewalt zu überziehen, sondern ruhig und friedlich nebeneinander leben zu lassen. Elegant wurde so die theologisch nicht mehr lösbare Frage auf die bereits hochentwickelte politischrechtliche Ebene verlagert. Als Fernziel nannte der Reichsabschied zwar noch die aufgeschobene Wiederherstellung der christlichen Einheit, aber gerade um zu betonen, dass die Augsburger Lösung bis zu diesem unbekannten Termin gelten solle – also für immer. So konnte dank der Rechtsgrundlage des Ewigen Landfriedens die strukturelle Intoleranz politisch entschärft und die Konfessionsbildung in die Reichsverfassung eingebaut werden. Wie das praktisch möglich war, erklärt sich erst aus einer weiteren und ganz entscheidenden Eigenart des Reichssystems: aus der Tradition des deutschen Föderalismus.14 Die plurale Staatsbildung erlaubte die Auslagerung und Verteilung der in der gesamtstaatlichen Einheit noch nicht koexistenzfähigen Religionsbildungen auf die einzelnen Territorien. Die in den Ländern und Herrschaften Verantwortung Tragenden hatten jeweils selbst zu entscheiden, nach welcher der beiden und später drei unvereinbaren Konfessionen sie ihr Kirchen-
wesen einrichten oder reformieren wollten. Das ist der Sinn des nachträglich von den Juristen auf den Begriff gebrachten „Jus reformandi“, das nicht die Anfänge politischer Freiheitsrechte beschneiden sollte – einige Schutzbestimmungen für Minderheiten und ein generelles Emigrationsrecht für Dissidenten sind für damalige Verhältnisse geradezu wegweisend –, sondern die friedwirkende Lösung für ein sonst unlösbares Problem darstellte. Diese Religionszuständigkeit, die in der Konsequenz des vorreformatorischen landes- und stadtherrlichen Kirchenregiments nun auch rechtlich erweitert wurde, hat die Landesherrschaft sicher insgesamt gestärkt und endgültig irreversibel gemacht. Das ist oft bemerkt worden, bleibt richtig, ist aber nicht alles. Dabei wird nämlich übersehen, dass gleichzeitig und gleichermaßen durch den Augsburger Religionsfrieden auch die gesamtstaatliche Reichsebene weiter ausgebaut wurde. Denn es war ja die oberste Reichsgewalt in Gestalt von Reichsoberhaupt und Reichstag, die diese pluralistische Lösung und das ganze Regelwerk ausgehandelt hatte, beschloss und auch weiterhin gewährleistete und so ihre eigene Position stärkte. Gerade die neuen Reichsinstitutionen wie das Reichskammergericht, der Reichshofrat und auch die territorial übergreifenden exekutiven Reichskreise erlebten in der nunmehr rechtlichen Regelung der Konfessionskonflikte einen Kompetenzzuwachs. Ausnahmebestimmungen vom Jus reformandi wie der Bestandsschutz für die geistlichen Staaten und die konfessionellen Minderheiten in den Reichsstädten wurden von Reichs wegen überwacht. Das war für anders strukturierte Landesstaaten wie Sachsen weniger relevant als für den Süden und Westen des Reiches15, aber das hielt gerade das evangelische Sachsen nicht davon ab, sich selbst, gestützt auf die Kurfürstenstellung die Führung im Obersächsischen Reichskreis und später im Corpus Evangelicorum, dezidiert in der Reichspolitik zu engagieren und eine ganz entscheidende Rolle bei der Friedenssuche im Dreißigjährigen Krieg und bei der nötigen Nachbesserung des Augsburger Reichsreligionsrechtes im Westfälischen Frieden zu übernehmen.16 Die Weichenstellung zur politischen Bewältigung der strukturellen Intoleranz von Reformation und Konfessionsbildung aber war 1555 mithilfe des doppelstaatlichen Föderalismus gelungen, der dadurch wiederum verfassungsrechtlich weiter gestärkt wurde. 5. Kultur des Religionsfriedens Dieser spezifisch deutsche Weg zur Überwindung von Intoleranz und Religionskriegsgefahr hat tiefe Spuren in der politischen Kultur hinterlassen. Der Föderalismus, der nicht mit Partikularismus zu verwechseln ist, sondern zwei staatliche Ebenen ausgebildet hat, war und blieb eine jahrhundertelange Kernkompetenz der deutschen Geschichte, bekam aber durch die Verquickung mit dem Religionsplu-
89 ralismus eine weitere Sinndimension. Und anders als in Ländern wie Frankreich, in denen in der Frühen Neuzeit eine einzige Konfession durchgesetzt wurde, und nur durch eine revolutionäre Trennung von laizistischem Staat und Kirche Religionsfreiheit möglich wurde, verfolgte das mehrkonfessionelle Deutschland eine andere Strategie. Hier garantierte und regelte gerade der Staat das Nebeneinander mehrerer Religionen als Körperschaften öffentlichen Rechts bis heute. Die Einwanderung neuer nichtchristlicher Religionen erfordert da keinen kulturpolitischen Systemwechsel, wohl aber eine der deutschen Tradition gerade entsprechende Einbeziehung in die staatsbegleiteten privilegierten Religionsvereine. Die christlichen Konfessionen haben untereinander kein militantes Toleranzproblem mehr, das der Staatskontrolle bedürfte, aber mit Blick auf die historische Erfahrung wäre zu überlegen, ob die abfedernde Wirkung verfassungsstaatlicher Integration nicht auch anderen Religionen zugutekommen könnte. Auf dieser Grundlage des Religionsfriedens konnten sich auch die nichtstaatlichen deutschen Konfessionskulturen entfalten und an Bedeutung gewinnen. Der Vorsprung in der Druckmedienkompetenz und die Wortreligion prägten lange eine protestantische Literalität. Das evangelische Pfarrhaus mit Familie hat durch diese Literalität und seine weitgehende Selbstrekrutierung eine Bildungsakkumulation gefördert, die nicht zuletzt in die Kultur der Aufklärung eingegangen ist und am Geistesleben besonderen Anteil nahm, während andererseits der Zölibat eine ständige Neurekrutierung des Pfarrpersonals erforderte, die auch andere Schichten an den Bildungsberuf heranführte. Der akademische Bildungsschub war ziemlich interkonfessionell, aber die Kulturfertigkeit des Umgangs mit deutschen Texten rührt aus dem Erbe evangelischer Konfessionskultur. Auf katholischer Seite wurde bei aller hierarchischen Verengung die Einseitigkeit der evangelischen Medientheologie, nach der Gottes Wort allein im Text steckt, durch die Überordnung der kirchlichen Kommunikationsgemeinschaft konterkariert. Zu ihr gehört auch ein Himmel voller Heiliger, der den Menschen ihre Marienpatronate, Nothelfer und Wallfahrten gab. Die anschauliche Sinnlichkeit als Kommunikationsform spiegelt sich auch in der ursprünglich katholischen Barockarchitektur, die sich von den Kirchen auf die Schlösser ausbreitete, die Konfessionsgrenzen überwand und in ihren raumgreifenden und landschaftsprägenden Formen bis heute ein Kulturdenkmal ersten Ranges darstellt. Auch die bis auf Luther selbst zurückgehende protestantische Musikkultur des gesungenen Wortes weitete sich und fand über die Ausgestaltung der lateinischen Messe eine sich zu großen musikalischen Formen entwickelnde Entsprechung. Beide Konfessionskulturen, die über die Religion hinaus auf Wort und Text setzende und die der Kommunikationsgemeinschaft der Anschaulichkeit,
haben die deutsche Kultur mit bestimmt. Ihre Konkurrenz hat sie belebt, und es kam auch ständig zu interkonfessionellem Austausch. Was aber in wechselnden Impulsen als je spezifischer Akzent der Konfessionen eingebracht wurde, erscheint heute als arbeitsteilige Bereicherung der deutschen Gesamtkultur und Mitbegründung ihrer Vielfalt. Resümee – Worin liegt also die Bedeutung der Reformation für die deutsche Geschichte? 1. Die Reformation – und hier allen voran Luther selbst – hat den entscheidenden Anstoß für die erste neuzeitliche Medienrevolution gegeben, die eine frühmoderne Öffentlichkeit hergestellt hat und die Schriftkultur zu einem weithin ausstrahlenden europäischen Leitphänomen gemacht hat. 2. Die von der Reformation angestoßene Konfessionsbildung ist eine eigene, grundsätzlich auf allen Seiten gleichartige und parallele Aufbauund Institutionalisierungsleistung, die jedoch mit dem evangelischen Primat der Lehre und dem katholischen Primat der Kirche einander ausschließende Gesamtgeltung einforderte, während eine weltanschauliche Toleranz als positive Folge erst in der Aufklärung nachgeliefert und zurückprojiziert wurde 3. Der Preis war die ebenfalls von Luther selbst ausgehende strukturelle Intoleranz, die aus den gegensätzlichen Primaten des Konfessionsaufbaus und dem exklusiven Wahrheits- und Altersanspruch aller rührte, und zur Militanz der Konfessionsbildner bis hin zu Religionskriegen führen konnte. 4. Der Staat profitierte von der Konfessionalisierung, seine größte Leistung in Deutschland war jedoch, dass er im Rückgriff auf die politischrechtliche Ebene der Landfriedenswahrung und den doppelstaatlichen Föderalismus das Toleranzproblem politisch bewältigen konnte und im Unterschied zu Westeuropa 1555 mittelfristig und mit der Nachbesserung 1648 langfristig gerade im Ursprungsland der Reformation Religionsfrieden herstellen konnte. 5. Die politische Kultur ist anders als anderswo in Europa nicht von einer strikten Trennung von Staat und Kirche bestimmt, sondern von einer friedenswahrenden politisch-rechtlichen Einbindung der Konfessionen in das politische System bis heute. Auf dieser gesicherten Grundlage konnten sich konkurrierende Konfessionskulturen entfalten, die in Arbeitsteilung und Austausch zu Vielfalt und Reichtum der Gesamtkultur beitrugen17, vielleicht die nachhaltigste Wirkung von Reformation und Konfessionsbildung. Das war´s – der Rest ist, nein, nicht Schweigen, sondern Diskussion: Die ersten beiden Punkte, Medien und Konfessionsbildung, sollten vielleicht noch
90 stärker, vielleicht auch in die weitere Programmplanung einbezogen werden. Über die Rolle des Staates werden wir sicher noch zu diskutieren haben, aber dazu sind wir ja hier.
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Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014. Dirk Pilz, Leider muss gefeiert werden. Ein heikler, etwas angestrengter Grundlagentext zum nahenden Reformationsjubiläum, vorgelegt von der EKD, in: Frankfurter Rundschau vom 26. Mai 2014. Thomas Kaufmann und Heinz Schilling, LutherIdeologie, in: Die Welt vom 24. Mai 2014. Vgl. den Beitrag von Reinhard in diesem Band. Christoph Markschies, Blick auf die Theologie, in: Die Welt vom 7. Juni 2014. Johann Hinrich Claussen, Am Anfang war die Druckerpresse, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 275 vom 28. Nov. 2016, S. 14 (= Rezension von Th. Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016). Hendrik Tieke, Der Mediengigant. Martin Luther nutzte für seinen raschen Aufstieg wie kein anderer vor ihm Print-Produkte – Seine Gegner konterten zu spät, um ihn noch aufhalten zu können, in: Frankfurter Rundschau 72. Jahrgang, Nr. 306, Silvester 2016, S. 32f. (keine Rezension und kein Herkunftsnachweis). Michael Jeismann, Chefredakteur Luther. Die Macht der Presse war enorm: Johannes Burkhardt zeigt, dass die Reformation eine Revolution war, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Okt. 2002.
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Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zw. Medienrevolution u. Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002. Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen, München 1965 sowie Ernst Walter Zeeden, Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, Stuttgart 1985. Vgl. Burkhardt, Reformationsjahrhundert, S. 81131. Vgl. Bent Jörgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert (Colloquia Augustana, hg. v. Johannes Burkhardt, Theo Stammen und Wolfgang E.J. Weber, Bd. 32), Berlin 2014, S. 49–128. Vgl. zum Folgenden die ausführliche Darstellung bei Johannes Burkhardt, Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, München 2009 (Beck Wissen), S. 43–53. Vgl. Albert Funk, Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010. Vgl. dazu zuletzt Johannes Burkhardt, Föderalismus als Erbe von Reformation und Konfessionsbildung? Die doppelte Staatsbildung und er Südwesten, in: Staat und Kirche im Südwesten, hg. von Reinhold Weber und Hans-Georg Wehling, Stuttgart 2017 (im Druck). Vgl. meinen Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. dazu ausführlicher Johannes Burkhardt, Arbeitsteilige Bereicherung. Was Reformation und Konfessionsbildung in die deutsche Kultur einbrachten, in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 15. Jahrg., Nr. 3/2014, S. 27–30.
91 Wolfgang Reinhard
Glaube und Macht – Zwei Reiche? Auch ein Beitrag zur Luther-Dekade Mit ihrer kürzlich veröffentlichten, umstrittenen Denkschrift Rechtfertigung und Freiheit möchte sich die Evangelische Kirche in Deutschland als Kirche der Freiheit im einundzwanzigsten Jahrhundert vorstellen. Dieser Anspruch soll mit den angeblichen reformatorischen Wurzeln der Freiheit als Verheißung des Projekts Moderne begründet werden,1 obwohl die Wurzeln dieser modernen Freiheit mit mehr Recht in der Aufklärung, ja sogar der antichristlichen Aufklärung gesucht werden können. Zur Begründung dieses Anspruchs wird Luthers programmatische Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen von 15202 herangezogen, was höchstens indirekt und mit erheblichen hermeneutischen Kunststücken möglich ist. Schon die aufständischen Bauern hatten sich für ihre Forderungen in den Zwölf Artikeln 1525 auf die evangelische Freiheit berufen und speziell im 3. Artikel die Abschaffung der Leibeigenschaft damit begründet, dass Christus alle Menschen mit seinem Blut freigekauft habe. Damit sei biblisch begründet, dass wir frei sind und sein wollen.3 Luther hat die sachlichen Beschwerden der Bauern teilweise durchaus gebilligt, aber ihren Freiheitsanspruch, vor allem als er gewaltsam durchgesetzt werden sollte, als von des Teufels Tücke bewirkte Verdrehung seiner Lehre verstanden und mit blutrünstiger Hetze gegen die aufständischen Bauern beantwortet. Wir sollten uns fragen, ob ihm die Inanspruchnahme seiner christlichen Freiheit für unser Freiheitsprojekt der Moderne nicht auch als satanische Verwirrung erscheinen würde, so dass wir froh sein müssen, dass er keine Fürsten mehr auf uns hetzen kann. Zu unserem Freiheitsprojekt gehört auch die Trennung von Kirche und Staat, selbst wenn sie „hinkend“ ist wie hierzulande. Beide verzichten dabei auf Beherrschung oder auch nur Bevormundung der anderen Seite, wie sie früher in der einen oder der anderen Richtung allgemein üblich war. Das ist heute möglich, weil Kirche und Staat inzwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen und Normen folgen, die unabhängig voneinander gelten. Auf den ersten Blick sieht das aus wie die Verwirklichung der Lehre Luthers von den zwei Reichen, die er 1523 mit der Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei 4 und erneut 1526 in dem Traktat Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können5 begründet hat. Doch auch hier lässt sich Luther für unsere heutigen Zwecke nur ziemlich gewaltsam heranziehen, denn er ist erstens weit entfernt davon, Kirche und Staat auf getrennte Werte zu gründen. Und wenn er zweitens das Reich Gottes vom Reich der Welt unterscheidet, so ist der Herr dieser Welt nicht
etwa der Staat oder sein Vorläufer, der Fürst, sondern ganz einfach Satan selbst. Diese Vorstellung zweier entgegengesetzter Reiche Gottes und des Teufels hat Luther bereits bei seinem Ordensvater Augustinus gefunden.6 Wenn aber für Luther das Reich Gottes, die Kirche, aus den wenigen wahren Christen besteht, die aber nur Gott selbst kennt, dann besteht das Reich der Welt aus der Mehrheit der übrigen Menschen, die einfach böse sind. Staat und Politik dienen nach Luther zwar durchaus den Absichten Gottes, sind aber dennoch in ihrer Vorgehensweise unvermeidlicherweise des Teufels, zumindest vorläufig, bis zum Endsieg Gottes. Dennoch kann ich der EKD nicht das Recht bestreiten, Luther für die moderne Selbstverantwortlichkeit des Individuums und die moderne Trennung von Kirche und Staat in Anspruch zu nehmen. Denn es ist allgemein üblich und deswegen bis zu einem gewissen Grad auch legitim, dass Erinnerungskulturen aller Art sich den historischen Rohstoff jeweils für ihre Zwecke hermeneutisch zurechtschneidern. Geschichte wird insofern pausenlos recycled. Auch die Wissenschaft von der Geschichte interessiert sich heutzutage kaum mehr für das, was – mit Ranke gesprochen – wirklich gewesen ist, sondern für die Bedeutung, die historischen Ereignissen und Tatsachen von den Nachwelten verliehen wurden. Die Bedeutung von Geschichte wird heute weitgehend auf Geschichte von Bedeutung reduziert. Dabei geben die InhaberInnen von Deutungshoheit den Ton an und bestimmen, was die richtige Deutung ist. Die Jubiläumsindustrie spielt eine wichtige Rolle, denn nur so wurde es z. B. sinnvoll, im Jahr 2014 unzählige neue Veröffentlichungen über den Ersten Weltkrieg zu produzieren. Hat es unter solchen Umständen aber überhaupt Sinn, wider den Stachel zu löcken und sich auf die Suche nach der historischen Wirklichkeit zu machen? Denn diese ist uns an und für sich nämlich ohnehin nicht zugänglich, sondern höchstens näherungsweise. Herauszufinden, wie es wirklich gewesen ist, kann deshalb nur als regulative Idee, nicht aber als erreichbares Ziel gelten. Dennoch dürfen wir mit der Geschichte nicht nach Belieben machen, wonach uns der Sinn steht. Außerdem lohnt es sich, erstens herauszufinden, was Luther wirklich gemeint und geschrieben hat, und zweitens seine Lehre und Praxis und die Reformation als Ganze nicht isoliert zu betrachten, sondern in den überaus komplexen Zusammenhang der langfristigen Entwicklung der Beziehungen zwischen Glaube und Macht einzuordnen. Dabei kann es durchaus passieren, dass Luther sich aus einem urdeutschen schöpferischen Originalgenie in einen Meister der Umdeutung und Vermarktung verwan-
92 delt, und dass die Reformation aus einem kreativen Ursprungsereignis zu einer bloßen Folgeerscheinung oder auch nur zu einer Etappe auf einem langen Weg gerät. Derartige Kritik am übereindeutigen Weltbild der Inhaber der Deutungshoheit ist keineswegs bloß besserwisserische Nörgelei oder – erhabener ausgedrückt – Selbstzweck im Dienst wissenschaftlicher Wahrheit – was immer das sein mag -, sondern beschert uns darüber hinaus neue Einsichten, die ihrerseits bedeutsam für die Gegenwart sind. Vielleicht hat uns ein genauer besehener Luther ganz neue wichtige Dinge zu sagen.7 Wenden wir uns jetzt zunächst Luther und seinen Texten zu. Hier ist erstens festzustellen, dass es sich bei den drei Schriften, die in unserem Zusammenhang herangezogen werden, keineswegs um grundsätzliche Ausarbeitungen handelt, sondern um Gelegenheitsprodukte, deren dadurch bedingte Engführung von modernen Lesern gerne übersehen wird. Auch wenn Luthers Grundgedanken selbstverständlich darin enthalten sind,8 so kommt durch eine verallgemeinernde Sicht doch leicht eine Überinterpretation zustande. Von der Freiheit eines Christenmenschen9 entstand im Oktober 1520, als der pfiffige Sachse und päpstliche Kämmerer Karl von Miltitz Luther dazu bewegen konnte, noch einmal einen Versuch zu machen, Papst Leo X. für sich zu gewinnen. Obwohl Luther den Papst bereits zum Antichrist erklärt hatte, schrieb er ihm jetzt einen ehrfurchtsvollen Brief und fügte einen Traktat bei, der durchaus kompromisslos, aber unpolemisch die Essenz seiner Lehre darlegt. Beides wurde veröffentlich, aber vordatiert, um den Eindruck zu vermeiden, es handle sich bloß um eine Reaktion auf die Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle durch Luthers Gegner Johann Eck im September. Luther stellt eine seiner paradoxen dialektischen Thesen voran (eine formal entsprechende wäre: gerecht und Sünder zugleich): Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / und niemand underthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht allerding und yderman underthan. Diese beruht auf der traditionellen Vorstellung einer menschlichen Doppelnatur: die Seele ist frei, der Leib aber untertan. Die Freiheit der Seele besteht in der Rechtfertigung durch den gottgewirkten, durch Christus vermittelten, mittels Bibel und Predigt verbreiteten Glauben. Denn dadurch wird der Mensch nicht nur von der Sünde, sondern vor allem auch vom Zwang zu religiösen Leistungen befreit, nämlich das Gesetz einzuhalten und gute Werke zu vollbringen: Das ist die Christlich freiheit / der eynige glaub / der do macht / nit das wir mueßig gahn oder u(e)bel thun mugen / sondern das wir keynis wercks bedurffen zur frumkeit und seligkeyt zu erlangen.10 Die Knechtschaft des Leibes als des real existierenden Menschen ergibt sich daraus, denn in diesem Sinne machen gute Werke zwar keinen
guten Menschen, wohl aber verrichtet ein guter Mensch zwingend gute Werke der Selbstzucht und vor allem der Nächstenliebe.11 Insofern ist er freiwillig jedermanns Knecht wie Christus um unseretwillen Knecht geworden ist: eyn Christen mensch lebet nit ynn yhm selb / sondern ynn Christo un(d) seynem nehstenn / ynn Christo durch den glauben / ym nehsten / durch die liebe.12 Natürlich lässt sich unter Nächstenliebe Vieles unterbringen, unter anderem mit etwas hermeneutischem Geschick jede beliebige politische Theorie. Politische Freiheit ist hier aber auf keinen Fall gemeint. Die Bauern haben Luther tatsächlich nicht richtig gelesen. Die meisten von ihnen konnten sowieso nicht lesen, immerhin aber ihre Vordenker. Allerdings machte Luthers Rechtfertigung durch den Glauben allein und die damit verbundene verstärkte Spiritualisierung des Christentums die Kirche als organisierten Heilsvermittlungsapparat insgesamt überflüssig – keineswegs nur die berüchtigten Ablässe. Streng genommen war jetzt jeder Christ Priester – allerdings keineswegs jede Christin; dafür sind zusätzliche hermeneutische Kunststücke nötig. Den Amtsträgern mit den Bischöfen an der Spitze sollte nur noch die spirituelle Macht der Worte zur Verfügung stehen, aber keinerlei Zwangsgewalt wie bisher. Sogar Ketzerei galt ihm als ein geistliches Ding, das sich nicht mit dem Schwert bekämpfen ließ. Diese revolutionäre Negation der Verbindung geistlicher und weltlicher Macht vor allem in der Hand von Fürstbischöfen steht hinter der Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. Wie bereits der Titel zeigt, hatte sich aber 1523, als sie entstand, die Stoßrichtung aus aktuellem Anlass verschoben. Denn Herzog Georg von Sachsen hatte die Lutherbibeln verboten und ihre Ablieferung geboten13 – angeblich immerhin gegen Erstattung des Kaufpreises. Dazu schreibt Luther: die Fürsten und Bischöfe (die jetzt nur nebenher erwähnt werden) sind toll und närrisch, wenn sie den Gewissen gebieten wollen, denn sie haben keine Gewalt über die Seelen, sondern nur über den Leib. Daher ist bei ihren Übergriffen auf das geistliche Gebiet Gehorsamsverweigerung angesagt, allerdings mit der Bereitschaft, dafür ungerechte Sanktionen in Kauf zu nehmen. Denn es handelt sich zwar um Tyrannei, aber auch einer tyrannischen Obrigkeit darf der Christ keinen Widerstand entgegensetzen. Grundlage bildet die so genannte Zwei-ReicheLehre, die allerdings von einer nicht ganz parallelen Zwei-Regimente-Lehre überlagert und kompliziert wird. Am deutlichsten wird letztere aus gegebenem Anlass in der Schrift Ob Kriegsleut auch in seligem
93 Stande sein können. Darin antwortet Luther auf Gewissenszweifel des sächsischen Reiterkommandeurs Aschwin von Kram, als er 1526 mit ihm zusammen in Torgau Taufpate eines Sohnes des Pfarrers Gabriel Zwilling wurde. Denn traditionell galt Töten im Krieg in jedem Fall als schwere Sünde. Luther wird hier deswegen besonders deutlich, weil er darlegen möchte, dass auch Brennen und Würgen im Krieg wie jeder Gewalteinsatz der Obrigkeit ein Werk der Nächstenliebe ist, wenn es in rechter Gesinnung und nicht aus Mutwillen geschieht.14 Die Christen im Reich Gottes, der Kirche, bräuchten an sich keine Obrigkeit, denn bei ihnen herrscht die Nächstenliebe. Weil es aber nur wenige davon gibt, die meisten Menschen schlecht sind und das Reich der Welt dem Herrn der Welt, dem Teufel, gehört, muss es zwei Regimente geben, die nichtsdestoweniger beide im Dienste Gottes stehen. Gott hat zweyerley regiment unter den Menschen auff gericht / Eins geistlich / durchs wort und ohn schwerd / da durch die menschen sollen frum und gerecht werden / also das sie mit derselben gerechtigkeit / das ewige Leben erlangen / Und solche gerechtigkeit handhabet er durchs wort / wilchs er den predigern befolhen hat. Das ander ist ein weltlich regiment durchs schwerd / auff das die ienigen / so durchs wort nicht wollen frum und gerecht werden zum ewigen leben / dennoch durch solch weltlich regiment gedrungen werden frum und gerecht zu sein fu(e)r der welt / Und solche gerechtigkeit handhabet er durchs schwerd. Dafür gibt es zwar kein ewiges Leben, aber Frieden und irdischen Lohn.15 Die Welt lässt sich eben nicht mit dem Evangelium regieren, sondern nur mit ihren eigenen abscheulichen Methoden. Aber der Christ ist gegebenenfalls verpflichtet, in diesem Sinn das Schwert zu führen, im Auftrag Gottes und als Dienst am Nächsten. Freilich liegt der Missbrauch dabei nur allzu nahe, so dass Fürst und Soldat sein gefährlich fürs Seelenheil ist. Ein Fürst hingegen, der kein Dasein in Luxus pflegt, sondern diese seine Aufgabe ernst nimmt, wobei er aber laut Luthers gesundem Menschenverstand niemandem trauen darf, hat ein schweres Leben: der fursten standt [ist] der elendist […] auff erden.16 Auf der anderen Seite ist der Christ als Untertan der Obrigkeit zu uneingeschränktem Gehorsam verpflichtet. Zwar muss er Gott mehr gehorchen als den Menschen und ungerechtem Verlangen der Obrigkeit den Gehorsam verweigern. Er darf ihr auch nicht in einem ungerechten Krieg dienen. Aber im Zweifelsfall, der als Normalfall gelten darf, genießt die Obrigkeit Vertrauensvorschuss und es herrscht Gehorsampflicht – eine überaus praktische Lösung für die Obrigkeiten! Vor allem berechtigt Gehorsamsverweigerung nicht zum Widerstand! Zwar darf ein wahnsinniger Fürst abgesetzt
werden, aber einen Tyrannen muss der Christ ertragen, sogar wenn er Herrschaftsverträge verletzt. Schließlich ist es besser, von der Obrigkeit Unrecht zu leiden als vom Pöbel. Dass Tyrannei dem Bürgerkrieg vorzuziehen sei, war eine Binsenweisheit der damaligen politischen Theorie. Von weltlicher Freiheit und Freiheitskampf hält Luther überhaupt nichts. Er geht mit den freiheitsdurstigen Schweizern ebenso streng ins Gericht wie mit den aufständischen Bauern: wir Deutschen sind und bleiben eben Säue und unvernünftige Bestien! Dass Luther sich nicht zum Vorläufer moderner politischer Freiheit eignet, dürfte damit evident sein. Auch sein Bestehen auf der Gewissensfreiheit führte nicht zu politischen Konsequenzen; es versuchte viel mehr ausdrücklich, sie unmöglich zu machen. Außerdem spitzte er hier nur die traditionelle kirchliche Lehre vom Gewissen als letzter Instanz weiter zu – was auch für vieles Andere in seiner Theologie gelten dürfte.17 Auf der anderen Seite widerspricht seine starke These, dass die Obrigkeit den Gewissen nicht gebieten dürfe und könne, dem modernen Politikverständnis, nachdem der Staat durchaus die richtige Gesinnung von seinen Untertanen verlangt und erzwingt.18 Weiter verträgt sich seine Lehre von den zwei Reichen und Regimenten überhaupt nicht mit der modernen Trennung von Glaube und Macht. Denn einerseits sind beide Regimente im Gegensatz zur Moderne nach wie vor in ein und dieselbe christliche Wertewelt eingebunden, andererseits hat er eine finstere Vorstellung von der Abscheulichkeit des politischen Geschäfts, die mit pflichtgemäßem demokratischem Optimismus unvereinbar ist. Man versteht sein pessimistisches und für sich allein genommen kaum weiterführendes politisches Weltbild aber nur, wenn man eine bestimmte doppelte Hintergrundprämisse seiner Theologie mitberücksichtigt, die sein Denken grundsätzlich vom unserigen trennt und damit für uns nicht mehr ohne weiteres so verfügbar macht, wie es manche gerne hätten. Deshalb wird gerne ignoriert, wie sehr Luther von Teufelsfurcht und Naherwartung bestimmt war. Ähnlich wie die frühen Christen, nicht zuletzt sein Gewährsmann Paulus, rechnete Luther mit dem baldigen Eintreten des Jüngsten Tages. Das bedeutete aber eine erhöhte Aktivität Satans und seines Dieners, des Antichrist, der sich sogar im Zentrum der Kirche als Papst etabliert hatte. Demgemäß wusste sich Luther theologisch wie politisch in ständigem Kampf mit dem Teufel. So richtete sich zum Beispiel sein Ausspruch: entweder sie oder wir müssen Satanspfaffen sein19 keineswegs gegen die Papisten, sondern gegen Evangelische wie Martin Butzer, die ihm wegen Abweichung von seiner eigenen Linie verdächtig waren. Selbst bei ihnen witterte er teuflische Unterwanderung seines Lebenswerkes.
94 Die Naherwartung hatte zur Folge, dass er sich kaum für institutionelle Probleme von Kirche und Staat interessierte. Wozu auch, wenn die Welt bald zu Ende sein würde! Anders Johannes Calvin, der eine biblisch begründete Ämterverfassung für seine Gemeinden entwickelte, die aber hinreichend elastisch war und inzwischen auch auf die lutherischen Kirchen abgefärbt hat. Luthers Desinteresse an Institutionen hingegen zwang ihn zur Improvisation, als nicht nur seine Naherwartung wie einst bei den frühen Christen enttäuscht wurde, sondern auch seine ursprüngliche spiritualistische Ekklesiologie autonomer und egalitärer Gemeinden im Chaos von Bauernkrieg und Schwärmertum untergegangen war. Seine improvisierte Notlösung, den Fürsten und anderen Obrigkeiten die Rolle von Notbischöfen zuzuweisen, führte allerdings dazu, dass sich statt der angestrebten Trennung der beiden Regimente allenthalben ein strammes Staats- und Landeskirchentum durchsetzte, in dem freilich nicht mehr der Machtwille von Päpsten und Bischöfen den Ton angab, sondern derjenige von Königen und Fürsten. Dieses Regime konnte unterschiedlich legitimiert werden, etwa indem man den Fürsten zum Hüter beider Tafeln des Gesetzes, das heißt der drei geistlichen und der sieben weltlichen der zehn Gebote machte oder ihn zum Amtmann Gottes oder zum Landesvater erklärte, eine politische Metapher, aus der dann der „Vater Staat“ werden sollte, ein entlarvender Sprachgebrauch, den es meines Wissens nur in Deutschland gibt. Jetzt erst wurde das Luthertum autoritär, nicht ohne Grund, aber nicht zwingend, sondern infolge einer kontingenten Entwicklung. Luther selbst verwendete in den 1530er und 40er Jahren nicht mehr die Formeln seiner Jugend von den zwei Reichen und Regimenten, sondern schrieb lieber von drei Hierarchien oder Ständen, was mehr den je die Einheit eines konservativen Gemeinwesens voraussetzt: Tres enim hierarchiasordinavit Deus contra diabolum, scilicet oeconomiam, politiam et ecclesiam;20 oder auf Deutsch ebenfalls 1539/40: Es gibt drej Stende in der welt, als die kirche, weltlich regiment und haushaltung.21 Mit oeconomia ist im traditionellen antiken Sinn zunächst nicht das Wirtschaftsleben, sondern die Familie und ihre Hauswirtschaft gemeint. Von moderneren Wirtschaftsformen hielt Luther bekanntlich sowieso nichts. Aus der Sicht der politischen Geschichte kamen Luthers Rechtfertigungslehre und seine anschließende konservative Schwenkung den Vertretern der am eigenen Wachstum arbeitenden Staatsgewalt wie gerufen. Zuerst delegitimierte er für sie den kirchlichen Apparat mit seinem Machtanspruch, um ihnen anschließend dessen Befugnisse ohne jede Sicherung zu übertragen. Zwar experimentierte Luther zunächst mit evangelischen Bischöfen, aber
vergebens, denn die deutschen Fürsten wollten davon nichts wissen.22 Sie übernahmen nämlich nur zu gerne die neue Rolle des summus episcopus, auch wenn man diese Bezeichnung eher im griechischen Sinn als Oberaufseher statt als Oberbischof traditioneller Art übersetzen sollte. Denn ihm unterstanden andere Superintendenten, die in seinem Auftrag die Aufsicht über die Pfarrer führten. Aber auch in Schweden und England, wo es weiter evangelische Bischöfe gab, wurden diese jeder autonomen Macht beraubt und zu fügsamen Staatsdienern gemacht, im Extremfall zu bloßem Stimmvieh im britischen Oberhaus. Die hochmittelalterliche Kirche kann mit guten Gründen als der erste Staat Europas bezeichnet werden. Denn während es im weltlichen Bereich fast nur erbliche personale Herrschaft über Personenverbände und damit streng genommen noch gar keinen Staat gab, kannte die Kirche mit ihren Bistümern, Archdiakonaten und Pfarreien bereits das Territorialprinzip. Ihre Priester wurden von dem katholischer Sympathien unverdächtigen Preußenhistoriker Otto Hintze zurecht als die ersten Beamten Europas bezeichnet, weil sie ihre Stellung nicht erbten, sondern nach Qualifikation bestellt wurden, wenn auch zunächst sehr bescheidener. Dazu bewahrte die römische Kirche nicht nur die lateinische Bildung, sondern auch das römische Recht, dessen Wiederbelebung und Professionalisierung ein als Jude ebenfalls unverdächtiger Rechtshistoriker daher die „päpstliche Revolution“ Europas genannt hat. Die römische Kirche mit ihrem Oberherrschaftsanspruch war in der hergebrachten Symbiose der beiden Gewalten, der geistlichen und der weltlichen, also zunächst eindeutig der stärkere Teil. Allerdings holte die Gegenseite rasch auf, als das Papsttum im 14. Jahrhundert in Avignon unter französische Kontrolle geriet und anschließend durch das große Schisma 1378-1417 und den damit verbundenen Konziliarismus entscheidend geschwächt wurde. Zwei, dann drei rivalisierende Päpste waren damals darauf angewiesen, um die weltlichen Mächte zu werben, was nicht zum Nachteil der letzteren ausschlagen konnte. Im Ergebnis war die Kirche des 15. Jahrhunderts zur Juniorpartnerin der entstehenden Staaten geworden, nicht zuletzt auch durch Ent-Universalisierung und Partikularisierung. Überall bildeten sich National- oder Landeskirchen, so dass die Trennung der Ecclesia Anglicana von Rom 1533 eigentlich weniger erstaunlich war als dass die Ecclesia Gallicana trotz häufiger Konflikte diesen Weg nicht ging. Überall spielte sich fürstliche Kirchenherrschaft ein oder auch solche von Stadtmagistraten. Nicht nur der Herzog von Kleve konnte von sich behaupten, in seinen Landen Papst zu sein. Sogar die immer wieder geforderte Reform der Kirche wurde in manchen Ländern er-
95 folgreich von der weltlichen Obrigkeit in die Hand genommen, zum Beispiel in Kastilien. Unter diesen Umständen kam die Delegitimation des kirchlichen Machtanspruchs durch die Theologie Martin Luthers mit ihren geschilderten Folgen wie gerufen und eigentlich nicht einmal unerwartet. Die Partikularisierung der nunmehr drei Kirchen, der alten, der lutherischen und der reformierten setzte sich weiter fort, so dass von der nach wie vor beanspruchten uneingeschränkten Kirchenhoheit des Papsttums in der frühen Neuzeit eigentlich nur noch in dessen eigenem Kirchenstaat die Rede sein konnte. Denn auch die katholischen Machthaber machten sich die Notlage der unter Konkurrenzdruck geratenen alten Kirche ihrer Territorien zu nutze, um sie ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Die Kirchen waren auf die weltlichen Gewalten angewiesen, um sich zu behaupten. Heinz Schilling und ich haben in den 1980er Jahren herausgearbeitet, dass kirchliche und weltliche Gewalten aller drei Konfessionen vom 16. bis 18. Jahrhundert gemeinsam mit denselben sozialen Techniken daran gearbeitet haben, die Untertanen zu korrektem christlichem Verhalten im Sinne der betreffenden Kirche zu erziehen.23 [1] Das Einschwören, manchmal sogar ausdrücklich, auf das jeweilige Glaubensbekenntnis war der Ausgangs- wie der Brennpunkt. Daher die Bezeichnung „Konfessionalisierung“ für den Gesamtvorgang! [2] Dazu mussten geeignete Multiplikatoren ausgebildet und eingesetzt werden, während es nach Glauben und Leben ungeeignete zu eliminieren galt. [3] Zu diesem Zweck, aber nicht nur dafür spielte der Ausbau des konfessionellen Bildungswesens eine strategische Rolle. Hier hatte der Katholizismus mit dem weltweiten System der Jesuitenkollegien einen Wettbewerbsvorteil. [4] Das Ganze wurde durch Propaganda mit Druckmedien, Kunst und Musik gestützt. Bereits Luthers Reformation wäre ohne den Buchdruck nicht möglich gewesen und hatte auch der Holzschnitt- und Gemäldeproduktion einiges zu verdanken. Kurz vor Luthers Zeiten man Druckerei erfand, Gotts Wort schnell auszubreiten rein ohn Menschenhand reimte ein sächsischer Lutheraner noch 1640,24 um diesen als providentiell empfundenen Sachverhalt auf den Punkt zu bringen. Die Propaganda wurde zusätzlich überall von Zensur flankiert. [5] Verschiedene Kontrollverfahren, von denen die Visitation durch die Obrigkeit, nicht selten durch gemischte Kommissionen aus Vertretern der Kirche und der Fürsten, besonders wichtig war, sollten die Untertanen religiös disziplinieren. Aber auch die reformierte Kirchenzucht wäre zu nennen. Dazu gehörte als ergänzende Maßnahme die Entfernung von Dissidenten und die Abschließung der „Hürde“ für die eigenen „Schäflein“ zum Beispiel durch Verbot des
Studiums im Ausland, vor allem im andersgläubigen Ausland. [6] Die bewusste Konfessionalisierung der Differenzener, vor allem wurde der Vollzug religiöser Riten intensiviert, kontrolliert und möglichst attraktiv gemacht. Dazu gehörte bezeichnenderweise die Betonung so genannter „Unterscheidungseiten“, zwischen Evangelischen und Katholiken der Sakraments- und der Heiligenkult mit ihren Prozessionen und Wallfahrten, zwischen Lutheranern und Reformierten der Vollzug des Abendmahls und die Beibehaltung oder Abschaffung von Bildern und Orgeln. [7] Auch eine gewisse Sprachregelung gehört dazu, etwa Latein oder die Volkssprache im Gottesdienst oder die offizielle oder stillschweigende Festlegung auf bestimmte Taufnamen. Für die politischen Machthaber konnten sich aus der Mitwirkung an der Konfessionalisierung verschiedene Vorteile ergeben, die zum weiteren Wachstum der jeweiligen Staatsgewalt beitrugen. Erstens wäre die Bereicherung durch Kirchengut zu nennen, das in evangelischen Ländern ganz oder teilweise enteignet wurde. Bisweilen wurde es weiter für kirchliche, soziale und Bildungszwecke eingesetzt, oft genug diente es aber nur der Füllung der fürstlichen Kasse.25 Man sollte aber nicht übersehen, das auch in katholischen Ländern Kirchengut säkularisiert, etwa in Frankreich zur Finanzierung der Hugenottenkriege, und der Klerus entgegen dem Kirchenrecht zu Abgaben herangezogen wurde, beides ohne oder mit widerwilliger Zustimmung der Päpste. Zweitens konnte die Konfessionalisierung zur Disziplinierung der Untertanen beitragen, bevor Schule, Militärdienst und Fabrikarbeit diese Aufgabe übernahmen. Drittens bewirkte, dank der kirchlichen Partikularisierung die konfessionelle Identität eine Verstärkung der nationalen bzw. territorialen, nicht zuletzt durch Konfrontation mit konfessioneller Alterität. Dem katholischen Spanien oder Polen stand das protestantische England oder Schweden gegenüber. In deutschen Fürstentümern, wo die territoriale Identität weniger stark ausgebildet sein mochte, verband sich der konfessionelle Gegensatz statt dessen mit dynastischer Rivalität. Es gab zuerst protestantische und katholische Wettiner, dann philippistische und gnesiolutherische, es gab katholische, lutherische und reformierte Wittelsbacher sowie lutherische und reformierte Hessen. Diese so genannte Konfessionalisierungsthese ist natürlich heftig kritisiert worden. Einerseits unterstelle sie eine Einheitlichkeit, die so nicht gegeben gewesen sei, anderseits lasse der Erfolg zu wünschen übrig. Allerdings ist eine These in der Historie im Gegensatz zu den Naturwissenschaften noch nicht falsifiziert, wenn der eine oder andere Fall nachgewiesen wird, auf den sie nicht zutrifft. Vor allem aber ging es uns nicht darum, alles auf einmal abschließend zu erklären, sondern nur einen Trend
96 zu charakterisieren, der ausgelöst durch die Reformation das Verhältnis von Glaube und Macht lange Zeit entscheidend geprägt hat. Luther hat das europäische Staats- und Landeskirchentum hervorgebracht, von dem sich die meisten Kirchen erst in jüngster Zeit verabschieden konnten. Insofern kann eigentlich erst heute von einer Trennung von Kirche und Staat die Rede sein, und sei es, wie gesagt, in Deutschland von einer „hinkenden“.26 Martin Luther hat zwar den Dualismus geistlicher und weltlicher Macht inhaltlich konsequent bis zum letzten radikalisiert, ist aber an der politischen Wirklichkeit gescheitert, so dass die letzten Dinge schlimmer waren als die ersten, will heißen das nachreformatorische Staatskirchentum weit strenger ausfiel als das spätmittelalterliche. Allerdings ist dieser basale Dualismus von geistlich und weltlich keineswegs selbstverständlich, so dass wir uns fragen müssen, ob seine Radikalisierung durch Luther überhaupt mehr sein konnte als ein Gedankenspiel und nicht vielmehr das nachreformatorische konfessionelle Staatskirchentum eine Rückkehr zum weltgeschichtlichen Normalfall religiös-politischer Einheit ohne Unterscheidung von geistlich und weltlich darstellt. Schließlich werden wir heute vom militanten Islam und zwar keineswegs nur solchem terroristischer Provenienz massiv mit diesem Normalfall konfrontiert! Paradoxerweise sind die Wurzeln der Unterscheidung von geistlich und weltlich in einer Grundvorstellung der monotheistischen Religionen zu suchen, die der Islam mit dem Judentum und dem Christentum teilt. Es handelt sich um die Vorstellung eines radikal transzendenten Gottes, die einst vom biblischen Judentum erfunden wurde. Überall sonst ist die Welt insofern „vergottet“, als die Götter und Geister irgendwo in ihr wohnen, sie geheimnisvoll mit ihrer Präsenz durchdringen, selbst den Gesetzen des Universums unterliegen oder auch einmal die Welt als Ganze Gott ist. Demgegenüber ist der Gott der drei monotheistischen Religionen so radikal anders und „weltfremd“, dass er sich jeder konkretisierenden Vorstellung entzieht. Er war vor der Welt und hat sie aus dem Nichts erschaffen. Transzendenz bedeutet in seinem Fall ein metaphorisches „draußen“ jenseits der Welt. Weil Gott radikal transzendent ist, kann er die Welt ihren eigenen Gesetzen, die er ihr ein für alle Mal gegeben hat, anvertrauen, das heißt, sie radikal weltlich sein lassen. Darin ist die Trennung von geistlich und weltlich angelegt, die sich freilich weder bei den Juden, noch bei den Moslems und auch nicht bei allen Christen ausgebildet hat. Dafür musste dreierlei hinzukommen, erstens der platonische Dualismus von Geistseele und fleischlichem Leib, der im Christentum wiederkehrt, vor allem aber zweitens eine soziale Gruppe wie die spätantik-frühmittelalterli-
che römische Kirche, in deren Interesse diese Unterscheidung lag, und schließlich drittens das juristisch-konkrete Denken eben dieser Kirchenmänner, das diese Vorstellung in Rechtsgestalt goss und damit stabilisierte. Der Schlüsseltext stammt vom römischen Bischof Gelasius I. (492–496), der sich gegen das Kirchenregiment oströmischer Kaiser behaupten musste, dieses aber nicht ignorieren konnte. Demgemäß schuf er die Lehre von zwei Gewalten, dem Regnum und dem Sacerdotium, die mit getrennter Zuständigkeit für den weltlichen und den geistlichen Bereich die Welt regieren. Bemerkenswerterweise stammt der Text aus einem Traktat gegen den Monophysitismus, der nur die göttliche Natur Christi anerkennen will, so dass bei Gelasius das theologische Interesse an der Verteidigung der Zwei-Naturen-Lehre, nach der Christus sowohl Gott als Mensch war, mit dem politischen an der eigenen Machtrolle einhergeht.27 Mittels einer aus heutiger Sicht willkürlichen Interpretation von Lukas 22, 38 wurde im Mittelalter daraus die Zwei-Schwerter-Lehre gemacht. Der bereits bei Gelasius angelegte Vorrang der geistlichen Gewalt, weil sie für die wichtigeren Dinge zuständig war, wurde dabei, wie gesagt, zum päpstlichen Oberhoheitsanspruch gesteigert. Danach hat Gott dem Papst beide Schwerter, das geistliche wie das weltliche verliehen, der dann das weltliche an den Kaiser weiterreichte. Römische Kirchenrechtler haben daraus die Unterscheidung von Klerus und Laien in einem Personenrecht mit besonderen Privilegien für die Geistlichen und die Trennung von Spiritualia und Temporalia im Sachenrecht entwickelt. Luther hat bekanntlich dieses Kirchenrecht verbrannt und das Wort „Schwert“ bezeichnenderweise konsequent nur noch für die weltliche Gewalt verwendet. Durch vollständige Spiritualisierung des geistlichen Amtes hat er die Unterscheidung der beiden Regimente in nicht mehr zu überbietender Weise radikalisiert und sie gleichzeitig durch die Lehre vom allgemeinen Priestertum aufgehoben. Dieser religionspolitische Dualismus ist ein weltgeschichtliches Alleinstellungsmerkmal des lateinischen Europa, des so genannten Abendlandes, westlich einer Linie von St. Petersburg nach Triest, das von der lateinischen Kultur geprägt ist, die ihm zunächst von der römischen Kirche vermittelt wurde. Bereits das orthodoxe Christentum kennt ihn nicht, sondern ist in Byzanz wie in Russland vom Cäsaropapismus, das heißt der Kirchenherrschaft des Kaisers bzw. des Zaren geprägt. Patriarchen spielten höchstens die zweite Geige; in Russland wurde das Patriarchat sogar für 200 Jahre durch eine staatliche Behörde ersetzt. Noch heute weht vor griechischen Kirchen eine gelbe Fahne mit dem schwarzen doppelköpfigen Adler der einstigen byzantinischen Kaiser. Im Bereich nicht-christlicher Religionen und Weltanschauungen kommt Dua-
97 lismus ohnehin nicht vor. Hier und da kam es zur Integration von Religion und Politik unter der Herrschaft religiöser Amtsträger wie in Tibet. Der Regelfall aber war die Kontrolle der Religionen durch die politischen Instanzen, die sie meistens auch zu ihrer Legitimation heranzogen. Das eine wie das andere trat natürlich auch im Abendland auf. Die Libertas Ecclesiae musste im Früh- und Hochmittelalter erst einmal gegen die massive Kirchenherrschaft der Kaiser und Könige erkämpft werden. Das war der Sinn des Investiturund des Immunitätsstreits. Dann schien Europa im Hochmittelalter vorübergehend Priesterherrschaft ins Haus zu stehen, bis es in der oben geschilderten Weise mit dem älteren und jüngeren Staatskirchentum zum weltgeschichtlichen Normalzustand fand. Als Herrscher von Gottes Gnaden nahmen die Fürsten sogar eine von den Kirchen unabhängige Sakralität in Anspruch. Der erste preußische König und Napoleon krönten sich selbst und wiesen den Geistlichen bloße Nebenrollen bei dieser Zeremonie zu. Noch Kaiser Wilhelm II. versuchte 1918 seine wankende Stellung durch das preußische Königtum von Gottes Gnaden zu sichern. Dennoch war und ist der Dualismus zumindest potentiell stets präsent geblieben. Zwar haben sich die Fürsten und Staaten wie die Kirchen stets für die eigene Freiheit interessiert, aber kaum für die der Anderen oder gar der Untertanen. Nichtsdestoweniger dürfte der religionspolitische Dualismus den auch aus anderen Gründen besonders widerspenstigen Europäern zusätzlichen mentalen oder sogar realen Freiheitsspielraum verschafft haben, der Angehörigen anderer Kulturen fremd bleiben musste. Im günstigsten Fall konnte der Europäer zwischen zwei Herren wählen und sie zum eigenen Vorteil gegeneinander ausspielen. Die europäische Geschichte ist voll von großen Jurisdiktionskonflikten und kleinen Prozessen zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Bereich. Im ungünstigsten Fall konnten Abendländer Gott mehr gehorchen wollen als den Menschen wie die Hugenotten oder sich auf göttliches Recht berufen wie die deutschen Bauern und den wirklichen oder vorgeblichen Tyrannen bewaffneten Widerstand leisten. Die Grundund Menschenrechte sind ja aus dem Widerstand gegen die Staatsgewalt hervorgegangen, auch wenn diese sie sich inzwischen angeeignet hat. Zwar ist die Religions- und Gewissensfreiheit nicht das Ur-Menschenrecht gewesen, wie kürzlich wieder behauptet wurde. Aber damit wird ihre religiöse Verstärkung nicht ausgeschlossen. Luthers Radikalisierung des religionspolitischen Dualismus ist erfolglos geblieben und in der Praxis beim Gegenteil gelandet. Zwar hat er den notorischen Schmutz des weltlichen Machtgeschäfts durchschaut und trefflich charakterisiert, ist aber
mit dem Versuch gescheitert, die Kirche durch konsequente Spiritualisierung davor zu bewahren. Mir scheint, dass er damit das Dilemma von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik vorwegnimmt, das zwar erst nach Immanuel Kant stärker aufscheint, aber Kant war schließlich ein protestantischer Philosoph! Max Weber hat am 25. Januar 1919 vor Münchener Studenten seine Rede Politik als Beruf gehalten und darin die Protagonisten der dortigen Räterepublik kritisiert, denen es vor allem darauf angekommen sei, die Flamme der reinen Gesinnung am Brennen zu halten. Demgegenüber müsse der Politiker verantwortungsethisch die möglichen Folgen seines Handelns bei seiner Entscheidung mitbedenken.28 Tatsächlich kommt auch bei Luther alles darauf an, mit gutem Gewissen zu handeln. Die Handlung selbst oder gar ihre Folgen spielen kaum eine Rolle. Das ist unschwer mit seiner eschatologischen Naherwartung zu erklären, gewinnt aber dadurch Aktualität, dass die Komplexität der Welt eine erfolgversprechende Abschätzung von Handlungsfolgen im Sinne Max Webers heutzutage kaum mehr gestattet. Wir sind geradezu gezwungen, zur Gesinnungsethik zurückzukehren, allenfalls einer solchen weiten Grades, die mögliche Folgen gewissenhaft bedenkt, obwohl sie um die voraussichtliche Erfolglosigkeit dieser Anstrengung weiß. Vielleicht ist Luthers Fürst, der mit verzweifeltem Heroismus seinen abscheulichen Dienst tut, deshalb trotz allem ein Leitbild für moderne Politiker? Die spiritualistische Abschottung der Kirche allerdings ist grundsätzlich unmöglich, weil auch religiöse Bewegungen den Spielregeln sozialer Interaktion unterliegen und Interessen zu vertreten haben. Damit handeln sie politisch, in der Politik aber geht es um Macht. Und Macht ist nun einmal nicht wertneutral, wie uns Generationen von Philosophen und Politikern weiszumachen versuchten. Gewiss, sie kann wunderbare Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, aber nur um den Preis der Vergewaltigung der Freiheit von Dritten und oft genug nur mit sittlich zweifelhaften oder verwerflichen Methoden. Außerdem ist evident, dass ihr und ihrer Früchte Genuss den Menschen korrumpiert. Warum wohl haben unsere Politiker nach Versicherungsvertretern das geringste Ansehen bei der Bevölkerung? Kirchen sind aber bereits kraft ihrer bloßen Existenz im politischen Geschäft mit allen Folgen und können sich nicht in ein geistliches Reich flüchten, das von der Politik unbeschmutzt bliebe. Wahrscheinlich handelt es sich nicht nur um eine peinliche Schnittmenge der zwei Reiche, sondern es gibt überhaupt keine zwei real existierenden Reiche und infolgedessen auch nur begrenzte Unterschiede zwischen den Regimenten, etwa den, dass unsere Kirchen im Gegensatz zum Staat keine physische Gewalt einsetzen dürfen.
98 Freilich, so wenig Religion ohne Politik auskommen kann, so wenig ist ein Staat möglich, der im Sinne Luthers auf die materielle Sphäre der menschlichen Leiblichkeit und ihre Ordnungsaufgaben beschränkt bliebe. Politik von Staaten und vor allem von Nationalstaaten hat eine selbstverständliche religiöse Dimension. Ich habe das früher provozierend so formuliert: wenn die Kirche der erste Staat war, dann wird der Staat die letzte Kirche sein, wenn die Religion verschwunden sein wird. Allerdings hatte ich damals noch nicht die heute viel berufene Wiederkehr der Religion zur Kenntnis genommen. Das ändert aber nichts daran, dass jeder Staat in zweifacher Hinsicht Glaubensache ist. Erstens gilt das bereits für seine bloße Existenz, denn er ist eine Fiktion, die niemand sehen kann. Wir sehen seine Polizisten, sein Finanzamt, seine Minister, aber nie den Staat selbst. Seine Existenz lässt sich nur glauben. Diese Feststellung ist weniger absurd, als es scheinen mag, denn wir wissen inzwischen, was die Folge ist, wenn in manchen Ländern mangelnde Präsenz des Staates dazu führt, dass niemand mehr an sein Vorhandensein glaubt. Zweitens müssen wir an den Staat glauben, an seine Notwendigkeit und seinen Nutzen für uns. Auch hier ist bekannt, was in Ländern geschieht oder nicht geschieht, wo die Bevölkerungsmehrheit latentem Anarchismus huldigt und den Staat ignoriert oder als Gegner betrachtet. Das eigentliche religiöse und emotionale Stützkorsett für den modernen Staat ist aber bekanntlich die Nation. Dem Staat opfert niemand sein Leben, wohl aber der Nation. Daher wird die Nation seit der französischen Revolution mit vielerlei Riten gefeiert, die ihren religiösen Charakter und oft sogar ihr kirchliches Vorbild nicht verleugnen können. Die Nation hat ihre Märtyrer, ihre Reliquien, ihr ewiges Licht usf. Ein interessantes Beispiel ist die Entwicklung des Zentralkuppelbaus von der kirchlichen Beeindruckungsarchitektur der Peterskuppel zur politischen Beeindruckungsarchitektur der großen Halle Albert Speers oder der bayerischen Staatskanzlei. Denn nachdem den Deutschen ihre große Ernüchterung von 1945 allmählich vergangen ist, werden Nation und Nationalismus auch hierzulande wieder gepflegt. Bemerkenswerterweise kehren Nation und Religion heute nicht nur parallel, sondern bisweilen sogar gemeinsam zurück. Es sei nur an die Rolle der orthodoxen Kirche in Russland oder Rumänien oder Serbien nach dem Ende des Kommunismus erinnert. Vielleicht können Politik und Religion sogar leichter konvergieren als je zuvor, weil die wiederkehrende Religion nach meinem Eindruck ihren Charakter gewechselt hat. Paradox formuliert: ihre Transzendenz ist immanent geworden und damit leichter politisch verfügbar, was sich zum Beispiel an der katholischen Theologie der Befreiung de-
monstrieren ließe. Möglicherweise ist uns nämlich unterschwellig der Glaube an einen transzendenten Gott in einem metaphorischen „draußen“ ebenso abhanden gekommen wie der Glaube an ein Leben nach dem Tode in einem metaphorischen „Jenseits“. Doch wie dem auch sei, auf alle Fälle geht es auch der wiederbelebten Religion in erster Linie um das Diesseits, um menschliche Grundbedürfnisse, um die Sakralität der Person und die persönliche Transzendenzerfahrung. Die wuchtige Botschaft der Reformatoren, dass Glaube nicht auf Bedürfnisbefriedigung für den Menschen hinausläuft, sondern auf rücksichtslose Indienstnahme durch und für einen Gott von „draußen“, scheint vergessen zu sein. Merkwürdigerweise scheint trotz aller historischer wie aktueller Völkermorde und Verbrechen der Politik auch niemand mehr an den Teufel zu glauben. [Ich komme zum Schluss, denn] damit, aber nicht nur damit hat sich die ursprüngliche augustinische theologische Denkfigur von den beiden antagonistischen Reiche von selbst erledigt. Was demgegenüber die beiden Regimente angeht, so hat der weltgeschichtlich einmalige religionspolitische Dualismus des lateinischen Europa zwar in der Geschichte im Gegensatz zu anderen Kulturen eine überaus kreative Rolle gespielt. Aber sein Auf und Ab in dieser Geschichte hat auch gezeigt, dass dieser Entwurf gegenüber dem menschlichen Machtwillen auf die Dauer nicht durchzuhalten ist. Glaube und Macht sind nicht reinlich zu scheiden, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich wechselseitig instrumentalisieren. Diese Einsicht fällt uns aber leichter als Martin Luther, weil wir inzwischen von einer grundlegenden anthropologischen Voraussetzung dieses dualistischen Modells abgekommen sind, die in der Freiheit eines Christenmenschen noch ausdrücklich angesprochen wird, nämlich dem Leib-Seele-Dualismus nach Plato, Paulus und Descartes. Literatur 1 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2014, 23. 2 Hans-Ulrich Delius (Hg.), Martin Luther Studienausgabe, Bd. 2, Berlin 1982, 260-309 [D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe, hinfortzitiert: WA)Bd. 7, (12)20–38, (39)49–78]. 3 de.wikipedia.org/wiki/Zwölf _Artikel. 4 Hans-Ulrich Delius (Hg.), Martin Luther Studienausgabe, Bd. 3, Berlin 1983, 27–71 [WA Bd. 11, (229)245–281]. 5 Ebd. 357–401 [WA Bd. 19, (616)623–662]. 6 Zur augustinischen und mittelalterlichen Tradition vgl. den Beitrag von Klaus Berger im Buch. 7 Wir könnten, mit dem Beitrag von Reiner Groß gesprochen, mit Luther witzig werden.
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Vgl. dazu den Beitrag von Athina Lexutt. Vgl. dazu den Beitrag von Reinhold Rieger. Delius, Bd. 2, 273. Mit Athina Lexutt gesprochen: gute Werke sind zwar notwendig, aber nicht heilsnotwendig. Ebd., 305. Vgl. dazu den Beitrag von Reiner Groß. Damit werden auch die biblischen Motive auf den im Schloss ausgestellten kurfürstlich-sächsischen Mordwaffen sinnvoll! Delius, Bd. 3, 368. Ebd., 64. Zur Tradition vergleiche abermals den Beitrag von Klaus Berger sowie die vorreformatorische „Gebetsnuss“, die im Schloss ausgestellt ist. Zum Beispiel mit der sächsischen Demokratieerklärung, die ich gerade unterschreiben musste. WA Briefe 3, 603–607. WA Bd. 39 II, 127, 15 (These 52 der Zirkulardisputation über Matthäus 1921 von 1539). WA Bd. 47, 124, 41 (Auslegung des 3. und 4. Kapitels Johannis 1539-40). Vgl. den Beitrag von Reiner Groß sowie Irmgard Höss, Episcopus evangelicus.Versuche mit dem
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Bischofsamt im deutschen Luthertum des 16. Jahrhunderts, in: Erwin Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio, Augsburg 1980, 499-516. Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Burkhardt sowie u. a. Wolfgang Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: ders. (Hg.), Bekenntnis und Geschichte, München 1981, 165– 189, und in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, 103-125. Otto Clemen, Die lutherische Reformation und der Buchdruck, Leipzig 1939, 4 f. Vgl. den Beitrag von Reiner Groß. Die weiteren Ausführungen zu Staat und Kirche nach Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Auflage, München 2002 und: ders., Geschichte des modernen Staates, München 2007. Vgl. zusätzlich Wolfgang Reinhard, Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas. Ein Versuch in historischer Anthropologie, in: Saeculum 43 (1992) 231– 255. Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, 2. Auflage, Tübingen 1958, 493–548.
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Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen) Einleitende Bemerkungen Die in den vergangenen Jahren absolvierten Tagungsserien des Fördervereins Europa Begegnungen e.V., etwa die zu „Sachsen, Preußen und Napoleon. Europa in der Zeit von 1806 bis 1815“, hatten während der Podiumsdiskussionen schon mehrmals die Frage nach der Methode der Geschichtsschreibung, dem Bewerten von Geschichte, dem Aufnehmen historischer Zusammenhänge und Positionen zu historischem Gedenken aufwerfen lassen. Prof. Höbelt (Wien) vertrat etwa 2012 die Meinung, „Geschichte hängt mit Geschichten zusammen, und das heißt auch: Sie soll lesbar sein, Spaß machen und Interesse wecken. Wenn sie das tut, wird die Geschichtswissenschaft florieren, so wie sie das z.B. in den angelsächsischen Ländern tut. Auf philosophische oder gar politdidaktische Begründungen kann man dabei gerne verzichten. Das Bild von Personen und Ereignissen in einer breiteren Öffentlichkeit wird sich auch fast nie mit den jüngsten Ergebnissen der Forschung decken. Richelieu wird den meisten aus den „Drei Musketieren“ bekannt sein, nicht aus der Edition seiner Korrespondenz. Gerade daraus kann sich eine produktive Spannung ergeben. Denn nichts ist langweiliger als Nonstop Konsens und verbindliche Sprachregelungen.“ Prof. Stamm-Kuhlmann (Greifswald) vertrat damals zum „historischen Gedenken“ die Meinung, „dass eine Tendenz in der Ausgestaltung eines Gedenkens legitim sei und zwar dann, wenn diese Tendenz sichtbar gemacht wird und keine wesentlichen Geschichtstatsachen unterschlagen werden. Die Forderung, man möge Personen „in ihrer Zeit“ verstehen, ist hingegen dann gerechtfertigt, wenn Maßstäbe drohen, an diese Personen angelegt zu werden, die zu ihren Lebzeiten noch nicht zur Verfügung standen. Hierin befindet man sich allerdings oft im Irrtum, zu beachten wären die schon zu der damaligen Zeit durchaus bestehenden Alternativen zu den tatsächlichen Haltungen der historischen Personen. Prof. Höbelt gab dem gegenüber jedoch zu bedenken, „dass man mitunter der Eindruck haben kann, wie wenn es die Geschichte der Nachwelt nie recht machen konnte.“ Hieraus ergab sich schon damals die Frage: Kann man aus der Geschichte lernen? Die Diskussion dazu offenbarte: Wohl eher nicht! Aus der Geschichte lernt man nur das, was man lernen will. Heute haben wir die Tagungsserie „Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat“ eröffnet und mitunter gab es wiederum in der dazu
gehörenden Podiumsdiskussion Wortmeldungen zu dem genannten „alten Thema“, nämlich zur Frage nach dem Umgang mit der Geschichte. Über das Schreiben von Kirchengeschichte Prof. K. Berger (Heidelberg) „Der Sinn der Beschäftigung mit Theologie ist vor allem, dass man kritisch wird gegenüber allen möglichen Ideologien, die sich in der Theologie und daher auch in der Verkündigung leicht einnisten. Deshalb ist aus meiner Sicht eine grundlegende Reform des Umgangs mit der Bibel notwendig. Die historisch-kritische Exegese hat die Schrift nicht näher gebracht, sondern sie zerstört. Denn wie andere Ideologien auch hat sie versucht, mit sachfremden Kriterien die Aussagen der Schrift zu manipulieren. So hat man die Schrift durch die Brille von Ökofeminismus, Sozialismus und Psychologie zu lesen versucht. Dabei kam nur das heraus, was man hineinlas, nämlich Zeitgeist. Besonders verheerend ist das für die Evangelien und in der Apostelgeschichte angewandte Verfahren, den Berichten den Boden der Geschichte unter den Füßen wegzuziehen. Damit machte man den materialistischen Positivismus des 19.Jahrhunderts zur Basis der Erklärungen. So aber wurden die Leser nicht befreit, sondern durch Zerstörung der Geschichte belastet. Doch die Bibel lebt in Wahrheit von dem, was fremd an ihr ist oder zu sein scheint.“ Berger weiter: „Die Übereinstimmungen zwischen Luther und den frühen Zisterziensern weisen in diese Richtung: Spiritualität ist der Weg in die Weite, in die Freiheit. Denn für jeden Text ist neu zu fragen: Was sagt er über Gott, über Jesus Christus als die Mitte?“ Luther und Mitmenschlichkeit Im Anschluss an den Vortrag von Prof. A. Lexutt „Vom Kern der Nuss zur ganzen Frucht – Grundzüge der Theologie Martin Luthers und ihre Verankerung im Lutherischen Bekenntnis“ gab es durch Prof. W. Reinhard (Freiburg i. Br.) folgende Anfragen: „a) wie Luther identifizieren Sie „Mitgeschöpf“ kurzerhand als „Mitmensch“. Wir haben heute aber einen sehr viel weiteren Begriff von „Mitgeschöpf“, „Verantwortung für die Schöpfung“ etc., b) Luthers Mitmenschlichkeit hielt sich bisweilen sehr in Grenzen, etwa, wenn er von Behinderten schrieb, da sie nur fressen und saufen täten, sollte man sie einfach ertränken.“ Prof. A. Lexutt (Gießen) bemerkte dazu: „Zunächst ist es sicher richtig, dass Luther selbst noch nicht in der Weise vom Mitgeschöpf sprach, wie wir das heute selbstverständlich tun. An Tiere und Pflan-
101 zen zu denken, wenn von der Schöpfung die Rede ist, ist eine Entwicklung, die erst mit der Aufklärung aufkommt (in nahezu absurder Weise dann in der Physikotheologie) und dann vor allem (im Blick auf das Tier) mit Albert Schweitzer Einzug in die Theologie hält. Selbst wenn nun aber Luther noch nicht so weit war, ist dies kein Denken, das nicht mit seinen Grundüberzeugungen in Übereinstimmung zu bringen wäre. Zum Zweiten ist es ebenfalls richtig, dass Luther in der Tat gegenüber behindertem Leben nicht nachsichtig war – das er allerdings für vom Teufel geschaffenes oder besessenes Leben hielt. Schließlich ist festzuhalten, dass Luther keineswegs alle Mitmenschen achtete und ihnen als Mitgeschöpf freundlich begegnete. Ist manches davon verständlich und nachvollziehbar, so anderes unsäglich (etwa seine späte Polemik gegen die Juden). Ohne jedoch nun zynisch sein zu wollen, gilt dafür aber auch: Man darf sich über jedes Fehlverhalten Luthers durchaus freuen – zeigt es doch, dass es eben nie um Luther gehen darf, sondern um das gehen muss, auf das Luther hinweisen wollte: um Jesus Christus und seine Botschaft.“ Freiheitsverständnis Prof. R. Rieger (Tübingen): „Auf Ihre Frage (die von U. Niedersen) nach dem Freiheitsverständnis der friedlichen Revolution in der DDR meine ich, dass dazu die Quellen, die davon zeugen, genauer betrachtet werden müssten. Bei evangelischen Christen könnte Luthers Freiheitsverständnis einen Hintergrund gebildet haben, das jedoch auch (wie schon öfter in der Geschichte, z.B. in Bauernkriegen) jedenfalls teilweise missverstanden worden sein könnte. Daneben könnte das Freiheitsverständnis der Aufklärung oder das marxistischer Herkunft (z.B. bei Rosa Luxemburg u.a.) eine Rolle gespielt haben. Vielleicht gibt es noch andere Quellen, z.B. bestimmte Vorstellungen von „westlicher (Konsum-)Freiheit“. Aber das sind rein theoretische Erwägungen. Gut wäre es, zu dieser Frage Zeitzeugen der friedlichen Revolution und noch lebende Beteiligte zu befragen.“ Religion, Gesellschaft und Zukunft im Zeichen des Reformationsgedenkens Zielvorstellungen in der Geschichte. Lässt sich Religion ausstellen? Rainer Haschke (Dresden) bemerkte aus dem Auditorium heraus, dass die in Torgau für 2015 geplante 1. Nationale Sonderausstellung „Luther und die Fürsten“ der Öffentlichkeit außerhalb Torgaus zu wenig bekannt sei. Außerdem wurde der Wunsch geäußert, in der 1. Nationalen Sonderaustellung in Torgau doch nicht zu viele religiöse Themen zu berücksichtigen, da diese nicht verstanden und auf geringes Interesse stoßen würden.
Prof. R. Rieger versuchte hinsichtlich dieser Bemerkung klarzumachen, „dass es der christlichen Religion nicht um eine jenseitige Überwelt geht, die man annehmen oder ablehnen könne, sondern um das Sein, Wesen und Schicksal des Menschen im Allgemeinen und der Menschen im Einzelnen. Deshalb sei es Aufgabe der Theologie und des Theologiestudiums, die religiösen Texte der Bibel und der Kirchengeschichte, auch die Luthers, so zu verstehen und zu übersetzen, dass diese Zielrichtung deutlich werde.“ Des Weiteren gab es Bemerkungen über das Fehlen von Zielvorstellungen in der Geschichte. Prof. K. Berger bemerkte: „Auf die Klage über das Fehlen von Zielvorstellungen in der Geschichte ist zu antworten: Der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore (+ 1202) liefert ein Geschichtsbild, dem man Faszination und Stringenz nicht absprechen kann. Nach Abt Joachim gibt es ein Reich des Vaters (Altes Testament), ein Reich des Sohnes (Neues Testament bis ca. 1200 n.Chr.) und ein Reich des Heiligen Geistes (von Abt Joachim an). Das Letztgenannte ist das wahre „dritte Reich“, von dem die Nazis nur den Namen entwendet haben. Das sollte man sich als Christ nicht dauerhaft gefallen lassen. Denn das „dritte Reich“ sc, das Reich des Heiligen Geistes ist diejenige Epoche, in der Bischöfe und Päpste in ihrer Autorität in den Hintergrund treten. An die Stelle von engem Recht und engen Dogmen tritt umfassend das Wirken des Heiligen Geistes. In der Kirche herrscht der Geist der Geschwisterlichkeit. In der Kirche regiert eine intellektuelle und spirituelle, monastische Elite.- Da ein solches Geschichtsbild von Herz und Verstand der Menschen ausgeht, ist es weitaus chancenreicher als materialistische oder militaristische Geschichtsbilder.“ Prof. A. Lexutt wies darauf hin, dass der „theologischen Perspektive“ als eigenständige Wesenheit ein angemessener Raum zu geben sei. Sie fragte: „Wie lässt sich im Blick auf 2017 neben der zu Recht sehr stark gemachten allgemeinhistorischen Perspektive die theologische in angemessener Weise zur Sprache bringen? Wie „bringen wir“ diese Perspektive „ins Museum“? Bei aller durchaus berechtigten Kritik am EKD-Papier (Evangelische Kirche in Deutschland) „Rechtfertigung und Freiheit“ ist ja dies das Anliegen des Papiers gewesen: der Theologie in diesem ganzen Gedanken einen angemessenen Raum zu geben. Und wir können an die Reformation beileibe nicht ohne ihre theologischen Implikate denken!“ Prof. J. Burkhardt (Augsburg) würdigte den oft die Augen öffnenden Erkenntnisgewinn durch die Auslegung der Lutherschriften durch die theologischen Experten auf der Tagung in Torgau, aber es waren doch hochkomplexe Texte für heutige Leser, und in ihrer Tiefendimension auch für damalige Menschen kaum rezipierbar. „Es gibt übrigens auch verständlichere“, meinte Burkhardt und verwies auf von ihm
102 edierte und kommentierte Lutherschriften („Von Kaufshandel und Wucher“, in: Burkhardt/Priddat: Geschichte der Ökonomie, oder auch die glasklare Schrift „Wider Hans Worst“, vgl. Burkhardt, Reformationsjahrhundert). Die auf den Punkt gebrachte Bemerkung von Frau Lexutt, dass man Religion nicht ausstellen könne (siehe deren Beitrag unten, unter Konfessionsbildung; Konfessionalisierung), nahm Burkhardt in der Museumsdebatte zum Anlass für den Vorschlag, doch bei Ausstellungen von der heute mehr Aufmerksamkeit findenden mediengeschichtlichen Seite heranzugehen, die in der Reformationszeit ja gerade mit dem religiösen Kernansatz am „Evangelium“ zusammenfalle. Burkhardt verwies auf den anschaulich vor Augen zu führenden „Flugschriftenberg“ 1517–1525, bei dem es fast ausschließlich um Luther und die Bibel ging, und natürlich die massenhafte Verbreitung der „Lutherbibel“ selbst. Torgau war allerdings kein herausragender Druckort, sondern Wittenberg und Augsburg (bzw. für die Gegenschriften Leipzig und Dresden), aber die Residenzstadt und Torgauer Kanzlei kommen durch die Visitationsinstruktionen und –protokolle ins Spiel, die geradezu moderne Fragebogentechniken entwickelten. Auf Rückfragen nach der Reichweite dieser regional-deutschen Kommunikationszentrale verwies Burkhardt auf die europaweit wirkenden lateinischen Schriften Luthers (z.B. auf Calvin) und später die stark literarisch unterfütterte pietistische wie jesuitische weltweite Missionstätigkeit. Perspektiven der Gesellschaft Claus-Peter Grobe (Mühlberg) stellte ebenfalls aus dem Auditorium heraus eine komplexe Frage und zwar die nach den Perspektiven, nach der Zukunft unserer Welt. Prof. W. Reinhard gab zu bedenken, dass „1. Historiker für Zukunftsprognosen nicht kompetent sind, dass aber 2. andere Sozialwissenschaften, die das beanspruchen, dabei bisher eher versagt haben, etwa beim Ende der DDR und dass 3. nichtsdestoweniger einiges darauf hindeutet, dass wir eine dezentrale, diffuse Welt bekommen werden, die nicht mehr eindeutig organisiert, sondern uneindeutig vernetzt ist.“ Auf die o.g. Bemerkungen aus dem Auditorium, die teils die größere Wichtigkeit materieller Probleme heute geltend machten, teils aber gerade den Verlust von Religion beklagten und nach Zukunftsperspektiven fragten, meinte Prof. J. Burkhardt: „Im Blick auf die Geschichte sollten wir trotz aller Probleme dankbar sein für die Epoche, in der wir in Europa leben. Die meisten von uns säßen hier gar nicht mehr, wenn wir in Luthers Zeiten oder auch nur im 19. oder frühen 20. Jahrhundert gelebt hätten, ja selbst die schlechter Gestellten leben besser als je zuvor die schlechter Gestellten, und auch mehr Freiheit als jetzt gab es
in Mitteleuropa nie, von Frieden und Recht ganz zu schweigen. Die ganz großen gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven (ein Diskutant sprach auch den Marxismus an) bringen nichts oder gar Schlechteres, ist eine Lehre der Geschichte. Die Bewahrung und wirkliche Durchführung des europäischen Wertesystems, die Wachsamkeit und Korrekturen gegenüber Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Bewahrung der Natur, oder religiös gesprochen der Schöpfung, sind Aufgabe genug. Dazu gehört auch das kulturelle Angebot unserer Gesellschaft, zu dem für die einen die Religion existentiell dazugehört, für die anderen die Achtung vor der kulturstiftenden Wirkung von Religion, an die uns die Reformationszeit nachdrücklich erinnern kann, die aber heute auch auf den Umgang mit anderen Religionen auszudehnen ist.“ Konfessionsbildung; Konfessionalisierung Prof. W. Reinhard definierte die eigene Herangehensweise im Unterschied zu der von Ernst Walter Zeeden. Dieser war der Begründer der Idee von der „Konfessionsbildung“ (1956): „Im Gegensatz zu diesem und seinen SchülerInnen habe ich mich bei der Lektüre der Quelle und der Arbeiten der Zeeden-Schule von sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten inspirieren lassen, u. a. von Luhmann und eine Art systematisches Raster erstellt (siehe meinen Vortrag hier und (u.a.) den an den Veranstalter übersandten Aufsatz „Konfession und Konfessionalisierung in Europa“, in: W. Reinhard (Hg.): Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, München 1981, 165–189).“ Prof. W. Reinhard gab dann folgende Beispiele für die langfristige Allgegenwart des konfessionellen Gesichtspunkts: „Die Kontrolle von Beichte und Gottesdienstbesuch, die bei Herzog Georg von Sachsen zuerst auftaucht, wurde bald bei allen Konfessionen üblich – der von Papst Gregor XIII. 1582 reformierte Kalender wurde von den deutschen Evangelischen erst 1700, von England und Schweden erst um 1750, von Russland erst 1917, von Griechenland erst 1922 angenommen, eben weil er papistisch war – im Ersten Weltkrieg wurde heftig mit christlich-konfessionellen Argumenten gestritten (Kriegspredigten, Äußerungen von Theologen), aber paradoxerweise auf beiden Seiten („Gott mit uns“ stand auf dem preußischen Koppelschloss, aber die anderen hatten ihn ebenso auf ihrer Seite) – Kollege (Heinz) Schilling faltete als Protestant im katholischen Kindergarten beim Gebet die Hände auf evangelische Weise und bekam dafür eine Ohrfeige, in den 1950er Jahren in Köln – heute noch sind Protestanten und ehemalige Protestanten daran zu erkennen, dass sie „die Maria“ schreiben, während Katholiken aus unbekannten Gründen den Artikel wegzulassen pflegen.“
103 Prof. J. Burkhardt übernimmt anders als Reinhard den ursprünglichen, von Ernst Walter Zeeden eingeführten Begriff „Konfessionsbildung“, um den frühen, direkt aus Luthers Reformation hervorgehenden Entstehungsprozess der evangelischen und dann auch der anderen Konfessionen zu betonen – einschließlich der neu gegründeten katholischen Konfessionskirche! Der von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling in die Geschichtswissenschaft eingeführte Begriff „Konfessionalisierung“ tendiert zur Spätdatierung, akzentuiert die konfessionalisierende Rolle des Staates, setzt aber – wie Reinhard Burkhardts verkürzenden Vortragsbeitrag diskret korrigierte – analytischer mit einem sozialwissenschaftlichen „Raster“ der gleichartigen konfessionellen Gruppenbildung an. Burkhardt betonte, dass er diesen viel beachteten „Reinhard-Katalog“ weitgehend übernommen, aber weitergeführt habe: Die Mittel sind gleich, aber ihr Stellenwert in den jeweiligen Konfessionsbildungen verschieden (z.B. ist das klare Lehrbekenntnis evangelisch die erste, katholisch die letzte Sorge) mit den im Burkhardt-Vortrag bezeichneten Folgen für Toleranz und Kultur. Über solchen unterschiedlichen Forschungsakzenten sollte man (nach Burkhardt) das gemeinsame Anliegen der Überwindung einseitiger Kontinuitäts- oder Innovationsansprüche im Reformationszeitalter durch die Nebenordnung mehrerer Konfessionen nicht vergessen. Prof. A. Lexutt äußerte sich zur Konfessionalisierungsdebatte: „Ist „Konfession“ und „nicht gelingende Ökumene“ ein Fluch? Meiner Ansicht nach schärfen die verschiedenen Konfessionen auch das Bewusstsein dafür, worum es in der Theologie eigentlich geht. Würde man über das Abendmahl öffentlich nachdenken, wenn wir darin einig wären? Die Konfessionalisierungsdebatte hat etwas sehr Wichtiges und Richtiges herausgearbeitet: Die Reformation war eine Medienrevolution, mindestens ein Medienereignis. Das könnte (und sollte!) ein Anstoß für heute sein, die Kraft der Medien viel stärker zu nutzen – auch und gerade für die theologische Botschaft, die mit Luther aus der Schrift zu erfahren ist. Dafür allerdings braucht es Menschen, die in der Theologie und in den Medien gut „zu Hause“ sind.“ Prof. W. Reinhard gab hinsichtlich „Reformation und Medienrevolution“ allgemein zu bedenken, „ob man nicht die historische Abfolge und sogar die Kausalität umkehren müsse: nicht die Reformation hat die Medienrevolution und das landesherrliche Kirchenregiment hervorgebracht, sondern beides war vorher da, konvergierte nur mit der Reformation oder brachte sie sogar mit hervor, verallgemeinert: nicht die Moderne ist ein Produkt der Reformation, sondern die Reformation ein Ergebnis der Moderne!“
Wettinische Länder im 16. Jahrhundert und das gegenwärtige historische Verständnis in der Reformationsdekade Prof. R. Groß (Kreischa): „Als die zwei ersten Problemkreise des Podiumsgesprächs wurden die territoriale Situation der wettinischen Länder im 16. Jahrhundert und deren Entwicklung in Bezug auf das gegenwärtige historische Verständnis in der Reformationsdekade sowie die mögliche Dokumentation in der in Vorbereitung befindlichen Ausstellung „Luther und die Fürsten“ im Jahre 2015 in Torgau angesprochen. Bei der Darstellung der territorialstaatlichen Situation ist streng darauf zu achten, dass Luther in dem 1485 entstandenen ernestinischen Kurfürstentum Sachsen lebte und wirkte. Dementsprechend steht sein Verhältnis zu den ernestinischen Kurfürsten Friedrich III. (der Weise), Johann (der Beständige) und Johann Friedrich (der Großmütige) im Vordergrund. Der Albertiner Georg (der Bärtige) verhinderte bis zu seinem Tod 1539 als ein entschiedener Gegner Luthers die Einführung der Reformation im albertinischen Herzogtum Sachsen. Erst unter seinem jüngeren Bruder Heinrich (der Fromme) setzte sich die lutherische Lehre im albertinischen Herzogtum Sachsen durch. Nach der Wittenberger Kapitulation 1547 und der damit erfolgten Bildung des albertinischen Kurfürstentums Sachsen wurde dann dieser neue frühneuzeitliche Staat, in welchem Torgau die Rolle einer Nebenresidenz zugewiesen war, der Träger der Reformation in Deutschland und Europa. Da 1815 knapp zwei Drittel dieses Kurfürstentums, ab 1806 Königreiches, in den preußischen Staat einverleibt wurden und damit Torgau preußisch wurde, trat in der offiziellen Geschichtsschreibung die Bedeutung Torgaus im 16. Jahrhundert in den Hintergrund. Zum zweiten Problemkreis. Aus der vorstehend geschilderten Situation ergeben sich objektiv die Möglichkeiten einer Dokumentation in Bezug auf die schriftliche Überlieferung. Für das ernestinische Kurfürstentum Sachsen wird die archivalische Überlieferung im Thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar aufbewahrt, wobei vor allem der Archivbestand Ernestinisches Gesamtarchiv in Frage kommt. Für das albertinische Herzogtum / Kurfürstentum Sachsen ist das Sächsische Hauptstaatsarchiv in Dresden zuständig. Nach dem Jahr 1815 musste ein Teil der archivalischen Überlieferung an Preußen abgegeben werden. Dieser Teil wird heute im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg aufbewahrt. Eine nahezu vollständige Druckschriftensammlung der Lutherzeit findet sich in der Staatlichen Lutherhalle Wittenberg. Einen Überblick zu dieser schriftlichen und gedruckten Überlieferung gibt die Publikation „Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens. Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weinar 1983“. Ebenso geben die Veröffentlichungen zur 2. Sächsischen
104 Landesausstellung „Glaube und Macht“ durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden weitergehende Informationen.“ Torgau – die sächsische Stadt Dr. H. Hancke (Torgau) gab während des Podiumsgespräch dazu folgendes Statement: „Als Torgau 1815 zusammen mit fast zwei Dritteln sächsischen Staatsgebietes durch Beschluss des Wiener Kongresses an das Königreich Preußen fiel, hatten die Stadt und das Torgauer Land rund 900 Jahre Zugehörigkeit zum Sächsischen Kulturraum hinter sich. Die Lage der Stadt unmittelbar an der Elbe hatte
innerhalb der alten Mark Meißen und im späteren Kurfürstentum sowohl die Bedeutung als auch das Selbstbewusstsein geprägt. Darauf wurde weder 1815 Rücksicht genommen noch 1952 bei Auflösung der Länder und Einrichtung der Bezirke in der DDR. Im Vorfeld des Beitritts der wieder zu begründenden Länder zur Bundesrepublik Deutschland korrigierte das Votum der Bürger des Kreises Torgau mit hoch über 93 % für Sachsen den Entscheid von 1815 mit historischer Dimension. Im „Restsachsen“ von 1815 wirkte dies merkwürdigerweise mancherorts jedoch gewöhnungsbedürftig.“
105 Reiner Groß
Von der Zweiten Reformation zum Westfälischen Frieden – Kursachsen zwischen Union und Liga Seit dem Augsburger Reichstag von 1555 mit den im Reichstagsabschied formulierten Beschlüssen zur reichsrechtlichen Sicherung der Glaubensverhältnisse und zur Reichsexekutionsordnung mit der Bildung von zehn Reichskreisen galt das 1547 neu gebildete albertinische Kurfürstentum Sachsen als die protestantische Führungsmacht im Reich (Abb. 1). Das bestimmte maßgeblich die Innenpolitik wie auch die Außenpolitik der sächsischen Kurfürsten bis weit in das 17. Jahrhundert hinein. Innenpolitisch waren es vor allem die Auseinandersetzungen zwischen den zwei Lagern der Erben der lutherischen Reformation. Auf der einen Seite die sogenannten Gnesio-Lutheraner unter Führung des aus Istrien stammenden Matthias Flacius, die für sich den Anspruch erhoben, allein das Erbe Luthers zu bewahren, was in letzter Konsequenz zum orthodoxen Luthertum führte. Auf der anderen Seite standen die Anhänger Philipp Melanchthons, die „Philippisten“, mit ihrer ständigen Kompromissbereitschaft in theologischen Fragen und ihrer eigenen Abendmahlslehre sowie die Rivalität mit den Anhängern der calvinistischen reformierten Kirche. Kurfürst August hatte 1574 den in seinen Landen sich aus-
breitenden calvinistischen Gedanken mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen die sogenannten Kryptocalvinisten Einhalt geboten und anschließend mit der Konkordienformel von 1577 und dem Konkordienbuch von 1580 die lutherische Glaubensausübung festgeschrieben. Zur gleichen Zeit hatte sich außerhalb Kursachsens ein gesellschaftlicher Prozess vollzogen, der als Zweite Reformation bezeichnet worden ist. Es war eine aus der Schweizer Reformation von Zwingli und Calvin hervorgegangene Bewegung zur Abwehr der militanten Gegenreformation nach dem Konzil von Trient 1564. Diese sogenannte Zweite Reformation erreichte Kursachsen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Das ist verbunden mit der Regierungszeit von Kurfürst Christian I. von 1586 bis 1591 und seines Kanzlers Nikolaus Krell.1 Mit dem Tod von Kurfürst Christian I. am 24. September 1591 endete der Versuch, in den kursächsischen Landen ein reformiertes Kirchen- und Staatswesen aufzubauen. Einen Monat später wurden Krell und seine engsten Mitarbeiter verhaftet, in Dresden, Leipzig und auf dem Königstein eingeker-
Abb. 1: Wettinische Lande 1554 bis 1813. Albertiner, aus: F.W. Putzgers, Historischer Schul-Atlas (44. Ausgabe, 1925).
106 kert, verhört und gefoltert, die bekannten Vertreter des Calvinismus in Kursachsen des Landes verwiesen. Dieses geschah unter der für den minderjährigen Kurfürsten Christian II. durch seinen Vormund Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen-Altenburg, der ernestinische Verwandte des unmündigen Albertiners. Unter dessen Vor-mundschaftsregierung, für die er jährlich 100 000 Gulden aus der kursächsischen Staatskasse erhielt, wurden der Prozess gegen Kanzler Krell geführt, der Calvinismus im Lande bekämpft und das orthodoxe Luthertum gefestigt, die Stiftsgebiete für Kursachsen gesichert, weitere Gerechtsame für den Kurstaat erworben, die Hennebergische Sukzessionsangelegenheit einer Klärung nähergebracht und die Verhältnisse der Ballei Thüringen des Deutschen Ordens geordnet. Das geschah in Abkehr von der Politik des dem Calvinismus zugeneigten Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz sowie von Frankreich mit einer Rückkehr zur kaisertreuen Politik. Als dann der Ernestiner am 23. September 1601 die Administration des albertinischen Kurfürstentums niederlegte und der 18 Jahre alt gewordene Christian II (Abb. 2). die Regentschaft in seinem Kurfürstentum übernahm, setzte er diese Politik fort.
Abb. 2: Kurfürst Christian II. (1583 – 1611)
Bereits eine Woche später wurde Krell am 29. September 1601 auf dem Dresdner Neumarkt öffentlich mit dem Schwert hingerichtet. Als das blutende Haupt in den Sand rollte, soll der Scharfrichter gerufen haben: „Das war ein calvinischer Streich!“ und auf das noch heute in der Dresdner Rüstkam-
mer aufbewahrte Richtschwert wurde die Inschrift „Cave Calviniane“ eingraviert.2 Mit dieser öffentlichen Hinrichtung war die Zweite Reformation in Kursachsen zwar endgültig besiegt, aber die Auseinandersetzung mit den reformierten Reichsständen und den gegenreformatorischen Bestrebungen im Reich noch lange nicht beendet.3 In den drei Jahrzehnten vor dem Prager Fenstersturz 1618 hätte es bei den innen- und außenpolitischen Problemen, die es für Kursachsen gab, eines solch tatkräftigen und politisch weitblickenden Kurfürsten, wie es Moritz gewesen war, bedurft. Das war aber mit Christian II., der am 23. Juni 1611 an den Folgen unmäßigen Trinkens durch einen Schlaganfall im 28. Lebensjahr starb, überhaupt nicht und mit seinem ihm in der Regentschaft nachfolgenden jüngeren Bruder Johann Georg I. nur bedingt der Fall. In diesen Jahrzehnten hatten sich die Differenzen zwischen dem orthodoxen Luthertum und den Reformierten verstärkt, was wiederum von den gegenreformatorischen Kräften mit Kaiser, katholischen Reichsständen und römischer Kirche geschickt ausgenutzt wurde. In diesem Kräftespiel war Kursachsen darauf bedacht, unter versuchter Wahrung seiner eigenen politischen Ziele, als Friedensstifter aufzutreten, indem man zwischen den Parteien zu vermitteln suchte. Ein im April 1603 auf Kurfürst Christian II. bei einer Auerhahnjagd im Amt Gräfenhainichen verübter Anschlag verschärfte die Spannungen zur Kurpfalz. Bei der Achtserklärung gegen die Reichsstadt Donauwörth 1607 stellte sich Kursachsen demonstrativ an die Seite der Habsburger. Auf dem dazu nach Regensburg einberufenen Reichstag 1608 erklärte der kursächsische Gesandte, der Anschlag sei von Kurpfalz ausgegangen. Es führte dazu, dass Kursachsen für eine zusätzliche Türkenhilfe für den Kaiser stimmte. Nach viermonatigen ergebnislosen Verhandlungen verließen unter Führung von Kurpfalz die protestantischen Reichsstände den Reichstag und schlossen sich wenig später in Ahausen zur evangelischen Union zusammen. Diesem Bündnis trat das protestantische Kursachsen nicht bei. Auf dem Kurfürstentag zu Fulda 1608 erklärte Christian II. seine Neutralität, beklagte sich über den Ausgang des Regensburger Reichstages von 1608 und stellte sich an die Seite des Kaisers. Aber auch der Bildung der katholischen Liga 1609 in München blieb er fern. Damit stand Kursachsen zwischen den beiden konfessionell geprägten politischen Bündnissen im Reich am Vorabend der dann mit Waffengewalt ausgetragenen machtpolitischen Interessengegensätze. Die kursächsische Politik wurde in jenen Monaten der Bildung von Union und Liga durch den ausbrechenden Jülich-Klevischen Erbfolgestreit wesentlich bestimmt.4 Am 25. März 1609 war Herzog Johann Wilhelm von Kleve kinderlos gestorben, womit das
107 Herzogtum im Mannesstamme erlosch. Damit wurden die seit 1483 bei der albertinischen Linie und seit 1526 bei der ernestinischen Linie der Wettiner reichsrechtlich bestehenden Erbansprüche auf die niederrheinischen Herzogtümer relevant. Auf einer Zusammenkunft von Albertinern und Ernestinern am 26. August 1609 in Naumburg wurde Kurfürst Christian II. mit der Vertretung der wettinischen Interessen beauftragt. Auf einem Landtag am 4. September 1609 in Torgau stimmten die Landstände der Wahrnehmung dieser Ansprüche zu. Solche Ansprüche erhoben aber auch der Kaiser, Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg. Am schnellsten reagierten die Hohenzollern und die Pfälzer, denn beide besetzten in Konkurrenz die niederrheinischen Herzogtümer. Im Vertrag von Dortmund am 10. Juni 1609 einigten sich beide über die territoriale Verteilung. Für die Wettiner blieb nach langwierigen Verhandlungen mit Kaiser und Reichskammergericht die Belehnung von Kurfürst Christian II. mit den Herzogtümern Jülich und Kleve am 7. Juli 1610 durch Kaiser Rudolf II. Aber durchsetzbar war dies nicht mehr, auch wenn diese Belehnung als Rechtsanspruch bis zum Ende des Reiches bestehen blieb. So führten die wettinischen Linien die Wappen der niederrheinischen Herrschaftsgebiete als Anspruchswappen in ihrem Gesamtwappen. Noch heute kann man dies am Fürstenzug in Dresden nachvollziehen. In Nachfolge des am 23. Juni 1611 verstorbenen Christian II. trat dessen zwei Jahre jüngerer Bruder Johann Georg (Abb. 3) die Regentschaft an, die er
Abb. 3: Kurfürst Johann Georg I. (1585 – 1656)
für 45 Jahre bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1656 ausübte.5 Er war die Person, die die kursächsische Politik am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, in dessen gesamten Verlauf und nach dem Friedensschluss von 1648 verkörperte. In dieser Position war Kurfürst Johann Georg I. neben dem Habsburger Ferdinand von Steiermark als Nachfolger von Kaiser Matthias II., dem Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz und dem Herzog Maximilian I. von Bayern einer der deutschen Fürsten, die entscheidenden Einfluss auf die politischen Entwicklungen im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges nahmen, wobei der Wittelsbacher und der Wettiner versuchten, die deutschen Angelegenheiten zu vertreten. Beider Entscheidungen für die eine oder die andere Seite gaben dann den Ausschlag. Dabei blieb manche Entscheidung von Johann Georg auch für seine persönliche Umgebung ein Rätsel, zumal wenn er sie in einem nicht mehr nüchternen Zustand getroffen hatte. Niemand konnte voraussagen, welche Partei er ergreifen würde. So kennt ihn die Geschichte als einen Landesfürsten, der 1620 die protestantischen Reichsstände in der böhmischen Sache verriet, dann 1631 den Kaiser und 1635 die Schweden. Aber immer wieder zog er daraus wohl im Abwägen von Notwendigkeiten und Möglichkeiten für sich und sein Kurfürstentum Vorteile.6 Seine Klage auf dem Nürnberger Fürstentag im Oktober 1611 in der Jülich-Klevischen Erbangelegenheit blieb erfolglos. Trotzdem nahm er bei der Wahl des Habsburgers Matthias zum deutschen König eine Vermittlerrolle zwischen Union und Liga ein. Zuvor hatte er ein indirektes Angebot der Kaiserkrone nach Rücksprache mit seinen engsten Ratgebern abgelehnt. Die Bedeutung, die man der Haltung des sächsischen Kurfürsten im Reich beimaß, wurde im Sommer 1617 deutlich, als Kaiser Matthias II. alles daran setzte, Johann Georg I. für die Wahl seines Neffen Ferdinand von Steiermark zum deutschen König zu gewinnen. Vom 25. Juli bis 13. August 1617 weilte der Kaiser mit großem Gefolge in Dresden. Mit Hilfe des aus Wien stammenden und zum Oberhofprediger in Dresden bestallten Matthias Hoe von Hoenegg erreichte der Kaiser sein Ziel, denn er gewann die sächsische Kurstimme für die Wahl von Ferdinand zum römischen König. Auch bei der Kaiserwahl am 28. August 1619 nach dem Tod von Matthias II. stimmte Kursachsen für Ferdinand. Noch bevor Matthias II. am 13. August Dresden verlassen hatte, erschien das kurfürstliche Ausschreiben vom 12. August, mit welchem die Feier zum einhundertjährigen Jubiläum der Reformation für die Tage vom 31. Oktober bis 2. November 1617 festgesetzt wurde. Im Gegensatz dazu hatte Papst Paul V. zum 10. November 1617 ein Jubeljahr angeordnet. Die dadurch ausgelösten theologischen
108 Streitigkeiten heizten die politische Stimmung bei protestantischen und katholischen Reichsständen weiter an. Dieses zunächst in Böhmen liegende Zentrum der Auseinandersetzungen dehnte sich bald auch auf Kursachsen aus. Als nach dem Fenstersturz von Prag am 23. Mai 1618 der offene Konflikt zwischen dem Kaiser und den protestantischen böhmischen Landständen ausbrach, trat Kursachsen, als seine Neutralitätspolitik nicht erfolgreich verlief, auf die Seite des katholischen Kaisers. Vorher hatte Johann Georg I. das Angebot der böhmischen Königskrone durch die böhmischen Landstände, die in dem Kurfürsten von Sachsen „einen gar gnädigen Herrn“ haben wollten, abgelehnt. Damit war die Chance eines weiteren Macht- und Territorialzuwachses für Kursachsen vertan. Mit der Annahme der böhmischen Krone wären Kursachsen, das Königreich Böhmen mit den Markgraftümern Nieder- und Oberlausitz sowie das Herzogtum Schlesien in einer Hand vereinigt gewesen. Es wäre ein Territorialkomplex in der Mitte des Reiches entstanden, das vermutlich zwangsläufig zur Wahl des Wettiners zum deutschen König und Kaiser geführt hätte. Dazu hätte es aber auch der Überwindung des Gegensatzes zwischen Lutheranern und Calvinisten, der Ausschaltung der Ständearistokratie in Böhmen sowie der Eliminierung des Hauses Habsburg als europäischer Macht bedurft. Da das höchstwahrscheinlich nicht zu erreichen war, sollte man wohl nicht vom Auslassen einer Chance, sondern besser vom Erkennen politischer Realitäten sprechen. Das gilt für Johann Georg I. ebenso wie für seine Räte Caspar von Schönberg, Elias von Brandenstein, Christoph von Loß, Joachim von Loß und Abraham von Sebottendorf. Das gilt für die gesamte Zeit des Dreißigjährigen Krieges.7 Nach dem Beginn der militärischen Aktionen in Böhmen blieb Kursachsen noch zwei Jahre neutral. Mit dem ab 1612 aufgebauten Defensionswerk, womit der Kurfürst über ein militärisches Kontingent von knapp 14 000 Mann verfügte, wurde nach 1619 versucht, die Landesgrenzen zu schützen. Sie besetzten die Grenzpässe auf dem Erzgebirgskamm nach Böhmen. Allerdings war die militärische Wirksamkeit dieser Truppe stark eingeschränkt.8 Dann trat Kursachsen auf dem Kurfürstentag zu Nürnberg im Februar 1620 auf die Seite des Kaisers. Als Belohnung erhielt Johann Georg die Zusage, dass die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erfolgte Säkularisation der geistlichen Stifte nicht in Frage gestellt würde, und die entstehenden Kriegskosten angemessen durch Landzuweisungen erstattet würden. Im März 1620 wurde Johann Georg bei Verhandlungen in Mühlhausen die Verpfändung der Lausitzen und die Belehnung mit einem ansehnlichen Fürstentum, vermutlich Anhalt, in Aussicht gestellt. Nachdem Bayern dem Kaiser mit Waffengewalt in Österreich zu Hilfe gekommen war, rückte am 26. August 1620 der sächsische
Kurfürst mit seinen angeworbenen Söldnertruppen in die Lausitzen ein. Bautzen wurde belagert und nach mehrfacher Beschießung ergab sich die Stadt am 25. September 1620. 80 Prozent der Stadt waren zerstört. Der Schaden wurde auf vier Millionen Taler geschätzt.9 Danach folgte die Besetzung der Ober- und Niederlausitz. Wenig später wurde das Herzogtum Schlesien besetzt, das jedoch wieder den Habsburgern übergeben wurde. Anders die Lausitzen. Vom 25. Januar bis 2. Februar 1621 verhandelten die Lausitzer Stände in Dresden mit dem Kurfürsten und seinen Räten. Das endete mit dem sogenannten Dresdner Akkord vom 21. Februar 1621. Die Lausitzen wurden als Nebenländer der böhmischen Krone dem sächsischen Kurfürstentum unter Beibehaltung ihrer ständischen Verfassung angegliedert. Diesem Territorialgewinn im Verlauf des Böhmisch-Pfälzischen Krieges 1618– 1623 folgten erneut Jahre neutralen Verhaltens von Kursachsen zwischen den kriegführenden Parteien in den Jahren des Niedersächsisch – Dänischen Krieges bis 1630. In Sachsens relativ kaisertreuer Politik trat eine entscheidende Wende ein, als Ferdinand II. (Abb. 4), entgegen Wallensteins Warnungen, am 6. März 1629 das Restitutionsedikt erließ.
Abb. 4: Kaiser Ferdinand II. (1578 – 1637)
Darin wurde u.a. bestimmt, dass der gesamte geistliche Besitz, der nach dem Augsburger Religions-
109 bieten der ehemaligen Bistümer Merseburg, Naumburg und Meißen gefährdet. Dies führte zur Abkehr Kursachsens von seiner kaisertreuen Politik und zur Aufgabe seiner neutralen Haltung.
Abb. 5: Kursächsische Truppenfahnen des Dreißigjährigen Krieges aus zwei Fahnenbüchern. Sächsisches Hauptstaatsarchiv: Loc. 9119, Fahnenbuch
frieden von 1555 säkularisiert worden war, an die katholische Kirche zurückgegeben werden sollte. Durch diese Bestimmung sah sich Johann Georg I. in seinem territorialen Besitzstand mit den Stiftsge-
Abb. 6: Auf dem Höhepunkt des Krieges. Karte
Bald wurde der sächsische Kurstaat aktiver Teilnehmer des Schwedischen Krieges. Nach der Landung von Gustav Adolf II. von Schweden auf der Insel Usedom am 26. Juni 1630 und der baldigen Einnahme des norddeutschen Raumes trat Sachsen auf die Seite des schwedisch-protestantischen Lagers. Unter dem Druck der protestantischen Reichsstände und den realen Gegebenheiten sowie nach längeren Verhandlungen schloss man ein Bündnis mit dem Schwedenkönig, das am 11. September 1631 in Coswig bei Dessau unterzeichnet wurde. Auf dieser Grundlage nahmen neu aufgestellte kursächsische Truppenverbände (Abb. 5), die Johann Georg I. hatte anwerben lassen, auf der Seite der Union an der Schlacht von Breitenfeld am 17. September 1631 und der von Lützen am
110 16. November 1632 teil, in der Gustav Adolf zwar den militärischen Sieg davontrug, aber selbst den Tod fand (Abb. 6).
ger Burg den Friedensvertrag mit dem Kaiser, der als Prager Frieden in die Geschichte eingegangen ist (Abb. 7).
Als nach der Schlacht von Lützen das Hauptheer Wallensteins Sachsen verlassen hatte, folgten sächsischerseits erneut Verhandlungen mit den Kriegsparteien, einerseits mit Schweden, das nun von Kanzler Axel Oxenstierna repräsentiert wurde, und Frankreich, andererseits mit dem Kaiser. Das Ziel der kursächsischen Politik bestand darin, die Kriegshandlungen zu beenden und wieder friedliche Zustände im Reich zu erlangen. Letztlich scheiterten all diese Bemühungen an den machtpolitischen Konstellationen in Europa. Die englische Historikerin Wedgwood urteilte in ihrem Werk über den Dreißigjährigen Krieg: „Richelieu, Oxenstierna und Olivarez waren es, die die Fortsetzung des Krieges wollten. … Oxenstierna und Richelieu genügten, um die Friedenspartei im protestantischen Deutschland und im übrigen Europa zu vernichten;“10 Die Verhandlungen, die die kurfürstlichen Räte im Auftrag Johann Georgs I. mit Frankreich und Schweden führten, blieben ergebnislos. Als dann Wallenstein im Herbst 1633 den zweiten Waffenstillstand, der nach Lützen mit den Schweden und der Union geschlossen worden war, aufkündigte, begannen die Kriegshandlungen wieder. Die kaiserlichen Truppen zogen über Schlesien in die Lausitzen, besetzten im Oktober 1633 Görlitz und Bautzen. Nach der Ermordung Wallensteins am 25. Februar 1634 in Eger wurde auch Kursachsen wieder als eine Kriegspartei aktiv. Die kursächsischen Söldnertruppen rückten in die Oberlausitz ein und eroberten am 4. Mai 1634 zum zweiten Mal Bautzen. Dieses Mal war die Stadt eine einzige Brandstätte, da der kaiserliche Oberst von der Goltz beim Abrücken seiner Truppen die Stadt, das heißt was von ihr 1620 noch übrig geblieben war, abbrennen ließ. Vorher hatte er die Brunnen zuschütten lassen.11
Abb. 7: Urkunde des Prager Friedens zwischen Kaiser Ferdinand II. und Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen vom 30. Mai 1635. Sächsisches Hauptstaatsarchiv
Nach der erneuten Besetzung der Lausitzen durch Kursachsen begannen noch im Mai 1634 Verhandlungen zwischen dem Kaiser und Kursachsen, um zu einem Frieden zu gelangen. Zuerst trafen sich die Unterhändler in Leitmeritz, aber bald wurden die Verhandlungen nach Pirna verlegt, um dem Zugriff der schwedischen Armee unter Baner zu entgehen. Diese Verhandlungen, in deren Verlauf den Sachsen der dauernde Besitz der Lausitzen in Aussicht gestellt wurde, führten zur Ausarbeitung eines Separatfriedens. Am 24. November 1634 wurde der Entwurf dieses Friedensvertrages mit Kaiser Ferdinand II. paraphiert. Danach folgten in Kursachsen langwierige Beratungen und Auseinandersetzungen von Kurfürst Johann Georg I. mit seinen Landständen. Letztlich setzte der Kurfürst die Annahme des Friedens durch.12 Am 30. Mai 1635 unterzeichneten die kursächsischen Gesandten auf der Pra-
Das Erzbistum Magdeburg wurde Kursachsen zugesprochen und die vier zum Erzstift gehörenden Ämter Querfurt, Jüterbog, Dahme und Burg dem Kurfürstentum direkt überlassen. Die Ober- und Niederlausitz verblieben als böhmische Lehen dauerhaft bei Kursachsen. Das war ein beträchtlicher territorialer Gewinn, der damit dem sächsischen Kurfürsten gelungen war. Es sollte der letzte bis 1815 bleiben. Darüber hinaus war der Teilfrieden von Prag ein Religions- und Verfassungskompromiss, der den Reichsfrieden wiederherstellte. Mit der Aufforderung an alle Reichsstände, sich diesem Reichsfrieden anzuschließen, gelangte Kursachsen auf den Höhepunkt seiner Reichspolitik und wurde zum Signalgeber für die Wiederherstellung des Friedens im Reich.13 Trotzdem brachte dieser Frieden Kursachsen mehr Nachteile als Vorteile. Das Land, schon seit 1630 ein Kriegsschauplatz, wurde nach 1635 zu einem der Hauptkriegsschauplätze mit vielfachen Plünderungen, Verwüstungen und Drangsalierungen sowohl durch die schwedischen Truppen unter Baner, später unter Torstenson, als auch durch kaiserliche Söldner. Man kann dies nicht besser schildern, als dies Gustav Freytag in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ getan hat. „Fast alle Völker Europas sandten ihre schlechtesten Söhne in den langen Krieg. Nicht nur einzeln zogen fremde Söldner den Werbetrommeln zu wie Krähen einer Wallstatt; das ganze christliche Europa wurde in den Kampf hineingerissen, in Kompanien und Regimentern zertraten die Fremden den deutschen Acker. Engländer und Schotten, Dänen, Schwe-
111 den, Finnen fochten außer den Niederländern, die vom Volk noch als Landgenossen betrachtet wurden, auf Seite der Protestanten. Sogar die Lappländer fuhren mit ihren Rentieren an die deutschen Küsten, drei Kompanien derselben brachten im Wintermonat 1630 auf ihren Schlitten Pelze für die schwedische Armee über das Eis. Aber noch bunter sah es in den kaiserlichen Heeren aus. Die romanischen Wallonen, irische Abenteurer, Spanier, Italiener, fast jeder slawische Volksstamm brach in das Land, am greulichsten die leichte Reiterei: Kosaken (1620 polnische Hilfstruppen, sie wurden größtenteils vom Landvolk erschlagen), Stradioten (unter ihnen auch Mohammedaner), und am meisten verhasst die Kroaten. Es ist bezeichnend für die Stellung des Kaisers beim Beginn des Krieges, daß er fast nur slawische und romanische Krieger und nur romanisches Geld gegen die Deutschen zu setzen hatte. Durch sie wurde die nationale Erhebung niedergeschlagen; auch die Truppen der Liga bestanden vielleicht zur Hälfte aus Fremden. Fast jedes Heer war eine Musterkarte verschiedener Nationalitäten, fast in jedem ein Durcheinander vieler Sprachen und Dialekte. Und der Haß der Nationen ruhte selten, während die Fahne flatterte. Zumal im Lager mußten die Regimenter sorgfältig nach Beschaffenheit ihrer kameradschaftlichen Gefühle zusammengelegt werden, Deutsche und Welsche immer auseinander. …. In solchem Lager hauste das wilde Volk in zügellosem Haushalt, auch in Freundesland eine unerträgliche Plage der Umgegend. Die Landschaften, Städte und Dörfer mußten Holz, Stroh, Lebensmittel und Futter herbeischaffen, auf allen Wegen rollten die Lastwagen heran, wurden Herden Schlachtvieh eingetrieben. Schnell verschwanden die nächsten Dörfer vom Erdboden, alles Holzwerk und Dachstroh wurde von den Soldaten abgerissen und zum Bau der Hütten verwendet, nur die zertrümmerten Lehmwände blieben zurück. Die Soldaten und ihre Buben strichen plündernd in der Umgegend umher, die Marketender fuhren mit ihren Karren ab und zu. Im Lager aber drängten sich die Kriegsleute vor ihren Hütten und auf den Plätzen zusammen; unterdessen kochten die Weiber, wuschen, besserten Kleider aus und haderten untereinander. Häufig war Tumult und Auflauf, ein Kampf mit blanken Waffen, eine blutige Untat, Schlägereien zwischen den verschiedenen Waffen oder Nationen. … War gute Zeit gewesen, eine Schlacht gewonnen, eine reiche Stadt geplündert, eine wohlhabende Landschaft in Kontribution gesetzt, dann war alles vollauf, Speisen und Getränke billig; es kam ausnahmsweise noch in den letzten Jahren des Krieges vor, daß man im bayrischen Heer einmal eine Kuh um eine Pfeife Tabak kaufen konnte. Dann saß in den Marketenderbuden Kopf an Kopf eine gedrängte Schar singender, prahlender, schwatzender Helden, dann hatten die Handelsleute gute Zeit, der Soldat staf-
fierte sich neu aus –, er kaufte teure Federn auf seinen Hut, Scharlachhosen mit goldenen Galonen, bunte Röcke und runde Maulesel für seine Dirne, dann prangte er in Zobel und Marder, Stallknechte ritten ganz in Samt gekleidet. Die Kroaten der kaiserlichen Armee in Pommern hatten im Winter 1630–31 die Gürtel mit Gold überfüllt und ganze Platten von Gold und Silber geschlagen vor der Brust. Paul Stockmann, Pfarrer in Lützen, erzählt, daß in der kaiserlichen Armee vor der Lützener Schlacht ein Reiter sein Pferd mit etlichen Schock goldener Sterne, ein anderer mit 300 silbernen Monden bekleidet hatte, daß Soldatendirnen die schönsten Kirchengewänder und Meßornate trugen; einige Stradioten ritten in geraubten Priesterröcken zum Jubel ihrer Kameraden. In solchen Zeiten tranken die Zecher einander teuren Wein aus Altarkelchen zu und ließen aus dem erbeuteten Gold lange Ketten machen, von denen sie nach altem Reiterbrauch einzelne Glieder ablösen, wenn sie eine Zeche zu bezahlen hatten. Aber je länger der Krieg dauerte, desto seltener wurde solche goldene Zeit. Häufiger als Überfluß war Mangel und Armseligkeit. Die Verwüstung der Landschaften rächte sich furchtbar an den Heeren selbst, das bleiche Gespenst des Hungers, Vorbote der Pest, schlich durch die Lagergassen und hob die knöcherne Hand gegen jede Strohhütte. Dann hörte die Zufuhr aus der Umgegend auf, die Preise der Lebensmittel wurden unerschwinglich, der Laib Brot wurde z.B. 1640 bei der schwedischen Armee in der Nähe von Gotha mit einem Dukaten bezahlt. Dann wurde der Aufenthalt im Feldlager auch für den abgehärteten Soldaten unerträglich. Überall hohläugige, bleiche Gesichter, in jeder Hüttenreihe Kranke und Sterbende, Gassen und Umgebung des Lagers verpestet durch die verwesenden Leiber der gefallenen Tiere. Dann war ringsum eine Wüste von unbebauten Äckern und geschwärzten Dorftrümmern, und das Lager selbst eine grause Totenstatt; der Troß des Heeres, Dirnen und Knaben verlor sich plötzlich in den Totengruben, nur die grimmigsten Hunde erhielten sich von ekliger Nahrung, die andern wurden geschlachtet und verzehrt. In solcher Zeit schmolzen die Heere schnell dahin, und keine Kunst der harten Führer vermochte das Verderben abzuwenden.“14 Kursachsen gehörte zu den am ärgsten durch die Kriegswirren heimgesuchten Gebieten des Reiches. Aber es ist noch immer schwer, die von 1630 bis 1648 eingetretenen Kriegsschäden im Kurfürstentum exakt anzugeben. Mehrere Aspekte sind dabei zu beachten. Zum einen waren es die realen Zerstörungen und Schäden, die in den Städten und Dörfern eingetreten sind, so bei der Belagerung und Einnahme von Leipzig, Zwickau, Chemnitz und Freiberg.15 Städte und Dörfer wurden von kaiserlichen und schwedischen Truppen bei ihren Durchzügen niedergebrannt, so u.a. am 21. August 1632 Bärenstein und Königswalde, am 8. Novem-
112 ber 1632 Grünhain, am 4. August 1633 Aue, am 24. Oktober 1634 Glashütte, am 21. November 1634 Zschopau, am 28. März 1639 Walthersdorf und am 11./12. April 1639 Zöblitz. Die Bauerndörfer Skassa bei Großenhain, Meuscha bei Pirna, Tronitz bei Pirna, Bräunsdorf bei Freiberg und Zweenfurth bei Leipzig wurden verwüstet, niedergebrannt und entvölkert. In Torgau waren zwei Drittel der Häuser, in Eilenburg die Hälfte der Häuser zerstört. In Schneeberg waren von 600 Häusern noch 100 übrig geblieben und Wittenberg hatte neben seinen Vorstädten 167 Häuser in der Innenstadt verloren. Bautzen, 1634 nur noch eine Brandstätte, wurde 1639 ein drittes Mal umkämpft. Bischofswerda erlebte schwere Plünderungen, 1631 durch Kroaten und 1639 durch die Schweden. Gleiches geschah Görlitz. Löbau wurde wie Bautzen 1620 von Johann Georg belagert und eingenommen. 1632 geschah der Stadt Gleiches. In seiner „Wirtschaftsgeschichte der Oberlausitz“ versucht Erhard Hartstock, eine Gesamtbilanz der durch die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges eingetretenen Schäden und Verluste an Menschen, Vieh und materiellen Werten zu geben.16 Er kommt zu dem Ergebnis: „Die Höhe aller Schäden in der Oberlausitz während des gesamten Dreißigjährigen Krieges wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben, sie muß aber gigantisch gewesen sein.“17 Er errechnete einen Schadensbetrag für das platte Land von ca. 1.250.000 Talern allein für die von den Schweden zwischen 1639 und 1648 verursachten Schäden. Die nicht minder gigantischen Schäden in den Oberlausitzer Städten sind da noch nicht mit dabei, d.h. sie sind bis heute noch nicht von der Forschung ermittelt. Dazu kommen die jährlichen Steuerleistungen, die sich im Verlauf der Kriegsjahrzehnte mehr als verdoppelt hatten. Leider fehlt für die kursächsischen Erblande eine solche zusammenfassende Untersuchung. Man ist deshalb noch immer auf Einzeluntersuchungen für einzelne Städte und Ortschaften angewiesen. Vor wenigen Jahren ist dies für die Stadt Chemnitz, die mehrfach belagert worden ist, und die Region Chemnitz in einer musealen Ausstellung und einem dazugehörigen Katalog versucht worden.18 Zwickau wurde zwischen 1632 und 1641 sieben Mal belagert und eingenommen. Leipzig, vier Mal belagert und drei Mal eingenommen, galt trotzdem noch als „des Landes bestes Asylum und armer Verjagter, Dürftiger und Kranker Apothek und Brotkammer“. Neben den unmittelbaren Schäden und Zerstörungen an Haus und Hof mußten an die durchziehenden Truppen Kontributionen in beträchtlicher Höhe gezahlt werden. Dazu mußten Einquartierungen getragen werden und wo man auf Widerstand traf, wurden Häuser und Schlösser geplündert. Zu den Kriegsfolgen gehören auch die erheblichen Bevölkerungsverluste, die vor allem in den Pestjahren 1625, 1626, 1632, 1633, 1637, 1639, 1641 und
1644 eintraten. Die Bevölkerung Sachsens hatte sich im Vergleich zum Beginn des 17. Jahrhunderts am Ende des Krieges um knapp die Hälfte verringert. Nach den Berechnungen von Karlheinz Blaschke in seiner Bevölkerungsgeschichte von Sachsen19 hatte das Land im Jahre 1630 eine Einwohnerzahl von 920 000 Menschen. 1650 waren es noch 535 000 Einwohner, womit sich im Verlauf des Krieges die Einwohnerzahl um etwa 400 000 Menschen verringert hatte.20 Dies allerdings in unterschiedlicher Dichte in den einzelnen Landesteilen (Abb.8).
Abb. 8: Bevölkerungsverlust im Dreißigjährigen Kriege. Aus: Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 94
Dabei waren die ländlichen Gebiete im Allgemeinen weniger betroffen als die Städte. Dresden, das wenig vom Krieg berührt worden war, wurde von der Pest dermaßen heimgesucht, dass bereits 1634 kaum noch jeder fünfzehnte Hauswirt am Leben war. Freiberg konnte 1628 noch 4000 wehrhafte Männer stellen, 1649 waren es nur noch 500 Männer. Dies alles schlug sich in einem Rückgang der finanziellen Leistungen der Einwohner nieder. Das wird vor allem an den möglichen gangbaren Steuerschocken sichtbar. Im Vergleich der Steuerkataster von 1628 und 1646 ist eine Verminderung der Steuerleistung um 11 Prozent in den Ämtern, um 24 Prozent in den Städten und um 6 Prozent in den Grundherrschaften, also insgesamt um 15 Prozent zu registrieren. Die schlimmsten Drangsale und größten Verluste erlitt Kursachsen und seine Bevölkerung nach dem Prager Friedensschluss. Dies vor allem durch die schwedischen Truppen, da sich Kursachsen nach wie vor mit Schweden im Kriegszustand befand. Nachdem Schweden 1641 mit Kurbrandenburg einen Frieden geschlossen hatte, hatte sich die schwedische Armee voll auf Kursachsen konzentriert. Es sollte ebenso wie Brandenburg aus der Front der gegen Schweden kriegführenden Partei herausgebrochen werden. Nach der Schlacht bei Leipzig im November 1642, die Stadt wurde an
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Abb. 9: Urkunde des Friedensvertrages von Osnabrück als Teil des Westfälischen Friedens vom 24. Oktober 1648. Sächsisches Hauptstaatsarchiv: OU 13164
die Schweden übergeben und erst in den Sommermonaten des Jahre 1650 zogen sie aus der Stadt endgültig ab, begannen zwischen Schweden und Kursachsen Verhandlungen, die für Sachsen schmerzlich waren. Die Schweden verlangten einen festen Elbeplatz, hohe Kontributionszahlungen und ständigen freien Durchzug durch das kursächsische Territorium. Als 1644 die militärische Situation auch für Kursachsen immer auswegloser wurde und nach der Schlacht bei Jankau in der Nähe von Tabor in Südböhmen Ende Februar 1645 absolut keine kaiserliche Hilfe mehr zu erwarten war, nahm Johann Georg I. im August 1645 zügige Verhandlungen mit Torstenson in Cossebaude bei Dresden auf, die zum Waffenstillstand von Kötzschenbroda führten, geschlossen am 6. September 1645 im Pfarrhaus dieses Ortes. Kursachsen blieb auf der Seite des Kaisers, gewährte aber den schwedischen Truppen freien Durchzug, zahlte ihnen monatlich 11 000 Taler Kontributionsgeld, verzichtete auf eine Verstärkung seiner Truppen und überließ Leipzig und Torgau, damit den festen Elbeplatz, den Schweden. Über die Verlängerung des auf sechs Monate befristeten Waffenstillstandes wurde ab 20. Februar 1646 in Eilenburg weiter verhandelt. Mit dem am 31. März 1646 unterschriebenen Vertrag schied Kursachsen dann endgültig vorzeitig als Kriegspartei aus.21 Der Waffenstillstand von Kötzschenbroda brachte aber nicht die erhoffte Ruhe im Land. Erst der
Westfälische Frieden von 1648 stellte die Waffenruhe her (Abb. 9). Die Verhandlungen für Kursachsen in Osnabrück führten der 1639 in kursächsische Dienste getretene Geheime Rat Dr. Johannes Leuber gemeinsam mit Hanns Ernst Pistoris. Die ihnen von Kurfürst Johann Georg I. unter dem 24. März 1646 erteilten Instruktionen konnten sie in den schwierigen und langwierigen Beratungen durchsetzen.22 Am Ende gehörte Kursachsen zu den Gewinnern des Dreißigjährigen Krieges, sowohl was den territorialen Zugewinn mit den Markgraftümern Niederund Oberlausitz betraf, als auch was die Erhaltung des Reiches, seine föderale Verfassung sowie die Festigung der Rechte der Landesfürsten betraf. Zudem erhielt es im immerwährenden Regensburger Reichstag, der 1653 erstmals zusammentrat, den Vorsitz im paritätisch zusammengesetzten Corpus Evangelicorum (Abb. 10). Einige Themenbereiche konnten im Rahmen dieses Beitrages nicht angesprochen werden, so u.a. die Rolle des Oberhofpredigers Hoe von Hoenegg23, die böhmischen Exulanten, das Testament von Kurfürst Johann Georg I., die Pflege von Kunst und Musik mit Heinrich Schütz, die philosophisch-weltanschaulichen Entwicklungen, das religiös-literarische Schaffen von Paul Gerhardt. Dazu wird auf Gesamtdarstellungen zur sächsischen Geschichte verwiesen.24 Zum Schluß noch ein Blick auf die Hauptereignisse des Dreißigjährigen Krieges in einer kartographischen Überblicksdarstellung (Abb. 11).
114 1620 · Defensioner bewachen die Erzgebirgspässe · erste böhmische Exulanten in Grenzorten Sachsens 1621 · Bedrohung der Grenze durch Graf von Mansfeld · Defensioner besetzen den Preßnitzer und Wiesenthaler Paß · Zwickau von Mai bis Oktober Garnison · ab 4. April sächsische Truppen ziehen ins Egerland 1623 · Kaiserliche Werbungen im Erzgebirge · Verlegung von Söldnertruppen über Zwickau nach Preßnitz · Kriegsbereitschaft im Kurfürstentum Sachsen 1624 · Entlassung angeworbener Söldner in Kursachsen · Marienberg und Annaberg mit finanziellen Abgaben belastet 1625 · Vertriebene Bauern aus Österreich im Erzgebirge 1626 · Über den Preßnitzer Paß werden Siegestrophäen der kaiserlichen Truppen nach Wien gebracht Abb. 10: Kupferstich zur Eröffnung des immerwährenden Reichstages am 20. Juni 1653 im großen Saal des Regensburger Rathauses. Sächsisches Hauptstaatsarchiv: Loc. 10224, Reichstagssachen 1652, Zweites Buch, fol. 258
Anhang Überblick über die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges im Erzgebirge und seinem Vorland 1618 · 13. August – Musterung der Defensioner in Marienberg · 14. August – Musterung der Defensioner in Annaberg · 28. August – Musterung der Defensioner in Chemnitz · ab 18. August – Besichtigung der Grenze im Erzgebirge zu Böhmen 1619 · Grenzbesetzungen ab 2. Januar · bis 1. August Preßnitzer Paß (Annaberg) · für 1 Jahr Reitzenhainer Paß (Marienberg) · vom 12. Juli bis 17. August 1620 Frauensteiner Paß (Freiberg) · vom 18. August bia 24. Juli 1626 Zwickau
1627 · Zusammenkunft der Liga in Mühlhausen 1629 · Restitutionsedikt u. Zusicherungen an Kursachsen 1630 · Kurfürstentag in Regensburg · Entlassung von Wallenstein als Oberbefehlshaber der Truppen der Liga · Landung von Gustav Adolf II. von Schweden auf Usedom am 26. Juni 1631 · Konvent zu Leipzig und Beitritt Kursachsens zur Union · Einberufung der erzgebirgischen Defensioner · Bewachung der Erzgebirgspässe von Reitzenhain, Preßnitz, Wiesenthal und Rittersgrün · Kaiserliche Besatzung von Leipzig wird von schwedischen Truppen zum Reitzenhainer Paß geleitet · Verhauung der Pässe auf dem Erzgebirgskamm · Sächsische Truppen ziehen nach Böhmen und besetzen Prag · Bündnis Kursachsens mit Schweden am 1. September · Schlacht von Breitenfeld am 7. September
Abb. 11: Karte „Der Dreißigjährige Krieg“
115
116 1632 · die sächsischen Truppen räumen Böhmen · Einfall kaiserlicher Truppen von Böhmen nach Sachsen · ab August kämpfen Holck‘sche Truppen in Sachsen · Beschießung von Zwickau und Plünderung der Stadt am 18. und 19. August · Gesamtes Erzgebirge besetzt mit Plünderungen von Oberwiesenthal, Annaberg, Schneeberg, Marienberg, Scharfenstein und Wolkenstein · Wallenstein in Sachsen im November · Schlacht von Lützen am 16. November · im Dezember zweiter Holck‘scher Einfall in Sachsen 1633 · im Frühsommer dritter Einfall Holck‘s in Sachsen, bei dem die Städte Aue, Schwarzenberg, Schneeberg, Frauenstein und Stollberg niedergebrannt, Chemnitz, Leipzig, Zwickau und das Vogtland besetzt und geplündert werden 1634 · kursächsische Truppen in Schlesien und Böhmen · in Reaktion darauf Streifzüge kaiserlicher Truppen durch Sachsen · im Oktober Niederbrennung von Glashütte · am 27. November beginnen Vorverhandlungen zwischen Kursachsen und dem Kaiser in Pirna 1635 · Unterzeichnung des Prager Friedens am 30. Mai · Abzug der kaiserlichen Truppen aus Kursachsen · am 16. Oktober Kriegserklärung Kursachsens an Schweden · Niederlage kursächsischer Truppen gegen Schweden in Mecklenburg 1636 · Durchzug kaiserlicher Truppen durch Kursachsen · am 4. Oktober Schlacht bei Wittstock 1637 · Schwedische Truppen unter Baner fallen in Kursachsen ein und richten große Verwüstungen an 1638 · keine militärischen Aktionen · vollständige Erschöpfung der kursächsischen Lande · Vertrag von Leitmeritz als Bündnis zwischen Kursachsen und dem Kaiser 1639 · ab Februar erneut schwedische Truppen unter Baner in Kursachsen · im März Belagerung von Freiberg durch schwedische Truppen
· am 14. April Schlacht bei Chemnitz und Besetzung der Stadt durch die Schweden · Kriegszug der Schweden über Pirna nach Prag 1640 · große Verwüstungen durch schwedische Truppen in Kursachsen, vor allem im Erzgebirge · die Städte Chemnitz, Zwickau, Leipzig, Grimma und Oschatz werden besetzt und geplündert · dieses Jahr geht als „Qualjahr“ in die sächsische Geschichte ein 1641 · ständige militärische Auseinandersetzungen von schwedischen Verbänden mit sächsischen und kaiserlichen Truppen in Kursachsen · die sächsische Bevölkerung leidet unter Durchzügen, Belagerungen und Plünderungen 1642 · Bedrückungen und Plünderungen durch schwedische Truppen, die zum weiteren Ruin des kursächsischen Landes führten · am 2. November Schlacht bei Leipzig mit einem Sieg der Schweden unter Torstenson über kaiserliche und kursächsische Truppen · am 27. November Beginn der erneuten Belagerung Freibergs durch die Schweden 1643 · im Februar Aufgabe der erfolglosen Belagerung Freibergs durch die Schweden · die Bedrückungen und Plünderungen durch die Schweden in Kursachsen gehen weiter 1644 · erneute Bedrückungen und Plünderungen durch die Schweden · ab 27. Juni ist Chemnitz in schwedischem Besitz die schwedische Armee bezieht Winterquartiere in Sachsen und Thüringen 1645 · die schwedische Armee fällt von Kursachsen aus in Böhmen ein · am 6.September Waffenstillstand von Kötzschenbroda zwischen Schweden und Kursachsen 1646 · ab Februar ziehen schwedische Truppen aus Böhmen kommend durch Sachsen · am 10. April Abschluss des Eilenburger Vertrages 1647 · Durchzüge kaiserlicher und schwedischer Truppen mit militärischen Aktionen 1648 · weitere Durchzüge kaiserlicher und schwedischer Truppenverbände
117 · am 15. Oktober Publikation des Westfälischen Friedens · am 26. November Friedensdankfeste im ganzen Land
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1650 · endgültiger Abzug der schwedischen Truppen aus Kursachsen
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Literatur 1
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Müller, Frank:Kursachsen und der Böhmische Aufstand 1618 – 1622. Münster 1997. Ruhland, Volker: Der Dreißigjährige Krieg und Kursachsen. In: Sächsische Heimatblätter. Jahrgang 40 (1994), S. 325 – 334. Schulz, Hagen: Bautzen im Krieg – Drangsale einer Oberlausitzer Stadt. In: Dresdner Hefte. 16. Jahrgang. Heft r6, S. 28–36. Wedgwood, a.a.O., S. 294. Schulz, Hagen, a.a.O. Böttiger, a.a.O., S. 91 – 112. Burkhardt, Einluß der sächsischen Politik, a.a.O. Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 2. Band. Von der Besiedlung des Ostens bis zum Dreißigjährigen Kriege. Berlin o.J., S. 636–637, 638, 641–642. Geschichte der Bergstadt Freiberg. Hrsg. v. H.-H. Kasper und E. Wächtler. Weimar 1986, S. 115–119. Hartstock, Erhard: Wirtschaftsgeschichte der Oberlausitz 1547–1945. Bautzen 2007, S. 71–95. Hartstock, a.a.O., S. 90. Der Kelch der bittersten Leiden. Chemnitz im Zeitalter von Wallenstein und Gryphius. Hrsg. v. Uwe Fiedler. Chemnitz 2008. Blaschke, Karlheinz: Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur Industriellen Revolution. Weimar 1967, S. 92–97. Ebd., S. 106. Der Waffenstillstand zu Kötzschenbroda zwischen Sachsen und Schweden im Jahre 1645. Festschrift zum 350. Jahrestag am 27. August 1995. Radebeul 1995. Blaschke, Karlheinz: Sachsen im Dreißigjährigen Krieg. In: Sächsische Heimatblätter 41. (1995), S. 329–333. Schreckenbach, Hans-Joachim: Kursachsen auf dem Westfälischen Friedenskongress. Leipzig. Phil. Diss. 1952. Blanckmeister, Franz: Sächsische Kirchengeschichte. 2. Auflage. Dresden 1906, S. 202–203. Groß, Reiner: Geschichte Sachsens, a.a.O., S. 95 ff. Menzhausen, Joachim: Kulturgeschichte Sachsens. Leipzig 2008, S. 83 ff.
118 Athina Lexutt
Ein Kern und mehrere Früchte – Die nachreformatorische Theologie zwischen Freiheit und Anpassung 1. Der Kern Da dieser Beitrag sich als Fortsetzung des ersten versteht, sei kurz an das Bisherige erinnert: Als Kern der Theologie Martin Luthers wurde herausgeschält, dass es Luthers Anliegen war, sich nicht mit Oberflächlichem zu begnügen und in seichten theologischen Gewässern zu dümpeln, sondern den Kern der Nuss zu finden, wie er selbst formuliert hat. Dieser Kern wurde einmal nicht über die immer wieder bemühten vier Exklusivpartikel „allein durch Christus“, „allein die Schrift“, „allein durch Glauben“, „allein durch Gnade“ bestimmt, sondern über das Spannungsvolle, das – in aller Vorläufigkeit so genannte – Dialektisch-Dialogische seiner Theologie, welches als deren Grundstruktur zu betonen ist. Dazu wurden folgende bei Luther begegnende Begriffspaare erläutert, die diese Grundstruktur abbilden: Schöpfer und Geschöpf, Geschöpf und Mitgeschöpf, Gesetz und Evangelium, zugleich gerecht und Sünder, Knechtschaft und Freiheit, Person und Werk, Stand und Amt, Schrift und Bekenntnis. Es muss deutlich sein, dass es sich bei diesen Begriffspaaren nicht um Alternativen handelt, so als könnte das eine sein und das andere nicht; es handelt sich vielmehr um zwei Perspektiven auf ein und dasselbe, welche eben diese Spannung beschreiben, in der dieses ein und dasselbe sich befindet. Diese Spannung muss an dieser Stelle nicht erneut durchdekliniert werden. Im Blick auf den zweiten Teil der Tagungsreihe gilt es, noch einmal zwei Dinge klar herauszustellen. Erstens ist ohne eine Einsicht in diese Grundstruktur Luthers Theologie nicht verstanden und nicht denkbar; nimmt man sie weg, dann bricht das gesamte Gebäude, das darüber errichtet ist, zusammen. Und zweitens, was vielleicht noch wichtiger ist: Die bezeichnete Spannung ist nicht eine, aus der sich der Mensch herauslösen könnte; er muss sie als seine Existenzgrundlage wahr- und ernstnehmen, manchmal muss er sie aushalten, vor allem aber muss er sie gestalten. Das ist eine große und schwere Aufgabe, und zwar von der Einsicht in das Dass bis hin zum Gestalten und damit zur Frage des Wie. Der Kern der Nuss war durchaus dazu geeignet, dass man sich an ihm „die Zähne ausbiss“, und wie Luther selbst um das eine und das andere gerungen und immer wieder von Neuem bedacht hat, zeigt, dass ihn selbst dieses Wahrnehmen, Ernstnehmen, Aushalten und Gestalten einige Zähne gekostet haben dürfte (um im Bild zu bleiben). Es verwundert daher wenig, dass sich die ihm nachfolgende Theologie nicht immer als so „bissfest“ erweisen konnte und wollte wie der Reformator selbst. Sie suchte bei aller Verschiedenheit, die uns dort begegnet, einen weniger spannungsvollen Weg. Ich würde sogar
behaupten: Sie tut das bis heute. Und ich würde weiter behaupten, sie täte besser daran, wieder zu alter, reformatorischer Beißkraft und Spannung zurückzufinden, will sie in dieser Welt ihre Aufgabe in Kirche und Gesellschaft wirklich ernstnehmen. Mit der diesjährigen Tagung bewegen wir uns in zwei Jahrhunderte hinein, die von ganz anderen Rahmenbedingungen geprägt waren als die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts und damit Luthers Lebens- und Kampfzeit. Im Kontext der anderen Beiträge kann im Folgenden die Konzentration ganz darauf liegen, die Veränderungen auf theologischer Ebene nachzuzeichnen. Ein nahezu unmögliches Unterfangen, denn es werden – wie schon der Titel des Beitrages verrät – viele unterschiedliche Früchte begegnen. Wollten die alle aufgezählt und auch nur ansatzweise beschrieben sein, würde das den Rahmen weit sprengen. Daher sei in vergegenwärtigender Absicht gefragt, ob das, was die nachreformatorische Theologie bei aller Unterschiedlichkeit dann doch gemeinschaftlich getan hat, sich nämlich von dieser spannungsreichen und schwer zu gestaltenden Aufgabe lutherischer Theologie herauszulösen bzw. sie auf andere Ebenen zu verlagern, bequem oder notwendig war. Ist das Reformatorische zwischen den Herausforderungen der Zeiten zerrieben worden oder hat es eine veränderte, aber immer noch eindeutig identifizierbare Gestalt angenommen? Das heißt, es wird zuerst darzulegen sein, welche Theologie, methodisch und inhaltlich, die jeweiligen Rahmenbedingungen erforderten, bevor dann daran der Versuch unternommen werden soll, exemplarisch einige Antworten auf diese Erfordernisse darzustellen. Schließlich sind in einigen Thesen die Ergebnisse zusammenzufassen und mit ihnen auch die Herausforderungen zu benennen, die sich für heute daraus ergeben. Gehen wir also nun den ersten Schritt und beobachten das Klima und die Wachstumsbedingungen für die theologischen Früchte. 2. Klima und Umwelt Jeder, der sich mit Epocheneinteilungen schon einmal befasst hat, wird wissen, wie schwer es ist, die nach der Reformation folgenden Jahrhunderte sinnvoll in zusammenhängende Zeiträume zu teilen und unter bestimmte Schlagwörter und Phänomene zu subsummieren, die einen solchen Zeitraum treffend charakterisieren, sozusagen auf den Begriff bringen. Will man dies für die beiden uns nun interessierenden Jahrhunderte, das 17. und das 18., tun, so wäre diese Zeit als solche zu bezeichnen, in der die Suche danach begann, die Welt zu deuten und zu gestalten, ohne dass dabei die Religion
119 selbstverständliche Deutungshoheit beanspruchen konnte und sollte. Die konfessionellen Auseinandersetzungen und ihr Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg hatten viel Vertrauen verspielt, das man in die Kraft der Religion gesetzt hatte. Damit war die zweite Universalmacht nach der kaiserlichen weggebrochen. Was sich in der Krise von Kaisertum und Papsttum im Spätmittelalter bereits angedeutet hatte, brach sich nun endgültig Bahn und stellte die Notwendigkeit vor Augen, die gesellschaftlichen Grundstrukturen auf neue Füße zu stellen. Nicht, dass es niemanden gegeben hätte, der nur allzu bereit war, in die entstehende Lücken zu preschen. Auf politischer Ebene waren dies die Territorialfürsten und die Nationen, welche die Macht und den Herrschaftsbereich des ehemaligen Kaisertums aufteilten und die Ansprüche im Kleinen weiterführten, nicht ohne damit dann wiederum den Blick über den eigenen Tellerrand zu wagen und neue Hegemonialbestrebungen zu entwickeln. Und auf geistlicher Ebene waren das die drei großen Konfessionen und die kleineren Splittergruppen, welche einen erbitterten Kampf darum ausfochten, welche Gruppierung sich mit Recht in der Nachfolge der alten ecclesia universalis wähnen darf. Für die Bevölkerung bedeutete dies zunächst eine mehr oder weniger große Verunsicherung. Vor allem aber hatte dies im Zusammenhang des landesherrlichen Kirchenregiments nicht selten und nicht unmaßgeblich zur Folge, dass die „falsche“ Religionszugehörigkeit mit sozialen und wirtschaftlichen Repressalien bis hin zu Vertreibung und Verfolgung verbunden sein konnte. Im Kontext der Entwicklung zu absolutistischen Herrschaftsformen verstärkt sich die religiöse Not Einzelner oder ganzer Gruppen, wenn die Religionspolitik Teil eines willkürlichen Machtapparates wird. Der aufgeklärte Absolutismus löst dieses Problem unter dem Mode werdenden Stichwort der Toleranz, öffnet damit aber gleichzeitig auch das Einfallstor, dass die Verdrängung des Religiösen in den Raum des Privaten und Individuellen (und damit auch Unverbindlichen und die Gesellschaft nicht mehr grundlegend Prägenden) voranschreiten kann. Dass in einer solchen, hier notwendigerweise nur sehr grob skizzierbaren Atmosphäre keine Zeit auch noch für eine so fundamental spannungsreiche Theologie war, wie sie Luther und die Reformation in ihren Anfängen aufgeworfen hatte, drängt sich nahezu auf. Eine Welt, die sich auf die Suche macht, braucht ein klar vorgestecktes Ziel und nicht zahllose Wegweiser, welche die Suchenden bei ihrer persönlichen Verantwortung im Blick auf den reflektierten Umgang mit Schrift und Tradition behaften und zur Beherrschung schwieriger theologischer Fundamentalunterscheidungen zwingen. Es bedarf klarer Ansagen; oder es bedarf einer innerlichen Pflege recht einfach gestrickter Religiosität, welche die akademische Theologie als Gelehrtengezänk verspottet und letztlich preisgibt; oder es
bedarf einer grundsätzlichen Infragestellung der Bedeutung von Religion und Theologie insgesamt. Es bedarf keiner neuerlichen Spannung, sondern einer wie auch immer gestalteten und wie auch immer zu erreichenden Ruhe. Eben diese drei vorgestellten Möglichkeiten, inmitten der äußeren Unruhe und Suchbewegung zu einer einfachen und handhabbaren Antwort auf die Fragen des Lebens zu kommen, begegnen uns auf der theologischen und kirchlichen Ebene im 17. und 18. Jahrhundert. Wohl wissend, dass es zwischen den Bewegungen, welche diese Möglichkeiten gewissermaßen repräsentieren, Interdependenzen zu verzeichnen gibt, werden im Folgenden der Einfachheit und Übersichtlichkeit halber Bewegung und Möglichkeit schematisch zugeordnet. Ferner wird, ebenso der Einfachheit halber, so getan, als gebe es „die“ Orthodoxie, „den“ Pietismus und „die“ Aufklärung. Das ist historisch und theologisch in keiner Weise im Letzten verantwortbar, aber aus pragmatischen Gründen unerlässlich.1 3. Wege aus einer spannungsvollen Theologie Dass es kein Missverständnis gibt: Natürlich sind alle drei im Folgenden zu beschreibenden Bewegungen durchaus spannend, und zwar in eben diesem Sinne, dass sie selbst in einer Spannung stehen und Spannungen provozieren. Johannes Wallmann hat seine Aufsätze zu diesem Zeitraum unter den Titel „Theologie im Zeitalter des Barock“2 versammelt, und die Barockkunst veranschaulicht eindrücklich, wie wir uns das bewusste Gestalten dieser spannungsvollen Atmosphäre vorstellen müssen: Wenn man einen barocken Altar betrachtet, dann sind dort vielfältige, z.T. gegenläufige Bewegungen zu sehen. Die Welt wird in Literatur, Musik, Architektur, Plastik und Malerei zu einer Theaterbühne, auf der Schauspieler vorübergehen, ein Stück des Lebens geben und dann wieder verschwinden. Auch ein Theaterstück ist nicht von Dauer, die Menschen gehen hinein, schauen es sich an, finden es gut oder weniger gut, gehen wieder nach Hause, am nächsten Tag gibt es noch ein paar Kritiken, und dann gerät das Stück in Vergessenheit. Und die Stücke, die den Augenblick überdauern, sind nicht davor gefeit, dass ihnen ein moderner Regisseur irgendwelche Veränderungen angedeihen lässt. So muss auch dieses Zeitalter, das jetzt zur Betrachtung ansteht, verstanden werden. Für Augenblicke werden hier und dort Vorhänge aufgezogen, der Blick wird freigegeben auf bestimmte Phänomene, und dann wechselt der Schauplatz zum nächsten Phänomen. Das aber ist eine ganz andere Bewegung, eine ganz andere Spannung, als wie Luther sie gemeint hat, denn in all dem passiert für unseren Zusammenhang etwas Entscheidendes: Die theologischen Bewegungen der Orthodoxie, des Pietismus und der Aufklärung lösen sich von Luthers komplex-kompliziertem Theologieverständnis, das
120 die Spannung in fundamentaler Hinsicht zum Prinzip der Theologie erhebt. Sie lösen den Kern auf ihre je eigene Weise aus der Schale und geben der Schale ein je spezifisches, aber von Luthers Frucht selbst durchaus unterschiedenes Aussehen. Um es einmal etwas plakativ auszudrücken: Nicht überall, wo in den beiden uns interessierenden Jahrhunderten „Luthertum“ oder „lutherisch“ draufsteht, ist auch Luther drin. Der Kern hat sich geändert. Wie sehen nun diese Früchte jeweils aus 3.1 Die orthodoxe Frucht – fest, genormt und garantiert ohne Würmer Die Streitigkeiten nach Luthers Tod hatten es an den Tag gebracht: Luthers in Bewegung und Spannung befindliches theologisches Denken war mitunter wenig geeignet, klare Antworten zu produzieren; stattdessen wurden immer neue Fragen aufgeworfen, und nicht selten schien es beinahe sachnotwendig, dass die Diskussionen in der Aporie enden mussten. Luthers Einsicht, dass es eine klare und ein für allemal gültige Lehre so nicht geben kann, konnte nicht befriedigen. Es war nahezu unvermeidlich, dass ab Mitte der 1540er-Jahre die Diskussionen um die Rolle der guten Werke, um das Mitwirken der menschlichen Kräfte beim Heil, um das Abendmahl usw. wieder auflebten; und es war ebenso unvermeidlich, dass irgendein Weg gefunden werden musste, diese Streitigkeiten zu einem Abschluss zu bringen, denn selbstverständlich boten sie in diesen Zeiten eine Angriffsfläche für altgläubige Vorwürfe, was das denn für eine merkwürdige Religionspartei sei, die nicht mal in den eigenen Reihen für Klarheit und Eindeutigkeit sorgen konnte. Die Bekenntnisse sollten mindestens einen vorläufigen Schlussstrich unter die theologischen Debatten ziehen. In unserem Zusammenhang ist da vor allem an die Konkordienformel zu denken, an deren Vorläufer Jakob Andreä in Torgau intensiv gearbeitet und der auf einem Konvent ebendaselbst 1576 diskutiert wurde. Sie ist auf politischen Wunsch und fürstliche Anregung hin entstanden, um die Einheit der neuen Religion nach außen zu demonstrieren. Ihr Zustandekommen und das erbitterte Ringen sowohl politischer als auch theologischer Kräfte um die Größe ihres jeweiligen Einflusses zeigen jedoch, eine wie instabile und vorläufige Angelegenheit selbst so ein Bekenntnistext auf Dauer sein musste. War er ein Kompromiss, so galt das allemal; war er keiner, waren die nächsten Debatten bereits vorprogrammiert. Auch das Konkordienbuch mit der Versammlung der altkirchlichen sowie der lutherischen Bekenntnisse setzte zwar einen tiefen Schnitt zwischen dem, was man für rechtgläubig, und dem, was man für Irrlehre hielt, aber es vermochte nicht mehr die Kraft zu entwickeln, welche die einzelnen Texte selbst in ihrer Zeit sehr wohl hatten. Es scheint viel eher so, dass mit dem Konkordienbuch die Tradition der protestantischen Jubiläen (50 Jahre Confessio Augustana
galt es 1580 zu feiern) einen ersten Höhepunkt zu verzeichnen hatte und dass man mit einer Jubiläumskultur gut über mangelndes Inhaltsbewusstsein hinwegtäuschen konnte – und kann, wie unser verzweifeltes Ringen um das Begehen des Jubiläums 2017 leidvoll verdeutlicht. Jedenfalls war offensichtlich, dass die protestantische Seite gewissermaßen mit der altgläubigen gleichziehen und ein Lehrgebäude über die Bekenntnisse errichten musste, wollte sie nicht an etwas sofort wieder zerbrechen, das eigentlich zu ihrem Selbstverständnis dazugehörte: eine stets zu hinterfragende und neu zu bestimmende Weise, die Schrift zu verstehen, zu lehren und zu leben. Der Name „Orthodoxie“ verrät schon, was man sich unter diesem Phänomen vorzustellen hat. Die Orthodoxie versucht eine gerade Linie in die Lehrwirren der letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts zu bringen. Das, was dort in den Bekenntnissen formuliert wurde, sollte jetzt, wo der konfessionelle Status quo feststand und ebenso feststand, dass man auf irgendwelche und etwaige Einigungsversuche keine Rücksichten mehr nehmen musste, in ein Lehrgerüst gebracht werden, das an den Universitäten gelehrt und von den Kanzeln herab gepredigt werden sollte. Hier ändert sich etwas sehr Entscheidendes gegenüber der Reformation: Nicht mehr die historische Situation und das zu tröstende Gewissen des Christen standen im Vordergrund, sondern die von beidem erst einmal zu lösende Lehre. Man bemühte sich, nach bestimmten Schemata das Ganze der Theologie zu erfassen und darzustellen. Nicht umsonst spricht man von einer gewissen Neoscholastik in der protestantischen Theologie, die unter Aufnahme der einstmals verpönten aristotelischen Methodik und Begrifflichkeit dieses Gesamt zu durchdringen versuchte. Die Wiederentdeckung der Vernunft und ihre Indienstnahme für die Theologie als Wissenschaft spielen dabei eine große Rolle. Dass sich die Texte, die Früchte dieses Bemühens waren und meist in ziemlich dicken Folianten begegnen, nicht gerade leicht lesen, ist evident. Das ist trockener Stoff, nüchtern und meist leidenschaftslos abgehandelt, gründlich und nicht selten langatmig. Der Esprit und die Lebendigkeit der Texte der Reformatoren ist weitgehend aufgegeben, was nicht so sehr auf Kosten der Verständlichkeit als auf Kosten der angefochtenen Gewissen geht. Man darf freilich nicht zu kurz denken und muss auch das durch die Forschung geisternde Bild von dem Gelehrten korrigieren, der mit bleichem Gesicht seinen dogmatisch spitzen Finger genüsslich in die Weichteile des Gegners bohrt. Wir haben in den orthodoxen Theologen auch Seelsorger vor Augen, denen ihre Gemeinden am Herzen lagen und die nebenbei wunderbare, meditative Texte, sogenannte „Betrachtungen“, auf den Markt gebracht haben. Da aber diese der Nachwelt nicht im Gedächtnis geblieben sind, wurden sie ihretwegen nicht berühmt
121 – und so entstehen die Trugbilder der Geschichte. Gleichwohl stimmt es natürlich auch, dass die orthodoxe Schulgelehrsamkeit nicht mehr viel mit der Herzensfrömmigkeit der Reformation und den dort gefochtenen Kämpfen gemein hatte. Tatsächlich erstarrt die Theologie bisweilen in der Methode. Ebenso ist es richtig, dass sich die Orthodoxie, jedenfalls in der Rückschau, in Schulstreitigkeiten ergießt. Zwischen den Universitäten tobten erbitterte Kämpfe um die rechten theologischen Aussagen, und diese Streitigkeiten spielten sich dabei vor allem zwischen der lutherischen und der reformierten Orthodoxie ab. Kennzeichen der lutherischen Orthodoxie war die Verquickung von Offenbarungswahrheit und Lehre. Sie war dementsprechend um logische und vernunftgemäße Argumentation bemüht, nicht selten aber auch von großer Schärfe und Polemik. Ein weiteres zentrales Element war die Ausbildung der Christologie. Die Konzentration auf die Erlösung durch Christus, wie Luther sie in seiner rechtfertigungstheologischen Entdeckung neu und radikal auf den Punkt gebracht hat, sollte nun aus der persönlichen Erfahrung herausgelöst und vielmehr metaphysisch begründet werden. Damit war das Rechtfertigungsgeschehen unangreifbar geworden als „immer schon so gedacht“, und die Rede vom gnädigen Gott konnte nicht mehr als Lösung eines am richtenden Gott verzweifelnden, psychisch gestörten Mönchs verunglimpft werden. So getrennt von der Person Luthers wurde aus Luthers Rechtfertigungserkenntnis und Rechtfertigungserfahrung eine Rechtfertigungslehre, die als articulus stantis et cadentis ecclesiae, als Hauptartikel, mit dem die Kirche steht und fällt, zum Zentrum des protestantischen Lehrgebäudes wurde, an der sich alles andere und alle anderen messen lassen mussten. Ferner wurde sie streng forensisch verstanden, das heißt, der Hauptakzent wurde auf den Zuspruch der Gnade gelegt, nicht darauf, was dieser Zuspruch im Wiedergeborenen bewirkt (effektives Verständnis). Das sollte ein Problem für das Luthertum werden, weil sich von dort aus leicht eine Vernachlässigung des christlichen Lebens ergeben konnte. Zentrum der lutherischen Orthodoxie war aus leicht nachvollziehbaren Gründen die Universität Wittenberg, wo so bedeutende Theologen wie Leonhard Hutter (1563–1616), Ägidius Hunnius (1550–1603), Abraham Calov (1612–1686) und Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) lehrten. Daneben etablierten sich Tübingen mit Jakob Herrbrand (1521– 1600) und Matthias Haffenreffer (1561-1619), Jena mit Johann Gerhard (1582–1637) und Johannes Musäus (1613–1681) und Helmstedt mit Georg Calixt (1586–1656) als Hochburgen lutherischer Gelehrsamkeit. Alle verfassten umfangreiche Texte, die sie „Loci theologici“ oder „Dogmatik“ nannten und in denen alles wahrhaft schulmäßig durchdekliniert wurde, was für theologisches Denken unabdingbar war. Während uns die Gedanken Luthers
in Predigten, Traktaten, Briefen, Tischreden begegnen, in je konkrete Situationen hinein gesprochen und geschrieben, und damit einen geschichtlichen Charakter haben, und während noch die Confessio Augustana eine Geschichte Gottes mit den Menschen im Bekenntnis abbildet, werden hier übergeschichtliche Systeme entworfen. Damit ist der Kern des Lutherschen Denkens preisgegeben, der noch in der Disputation über den Menschen 1536 die Theologie deshalb als die Wissenschaft bezeichnet hat, die den ganzen Menschen beschreibt, welche die ganze Wahrheit sagen kann, weil sie dessen geschichtliche Dimension erfasst, wenn sie ihn als zu rechtfertigenden beschreibt. Wenigstens erwähnt sei, dass es neben der lutherischen Orthodoxie die reformierte Richtung gab, deren Zentren dem europäischen Zug des Calvinismus entsprechend in der Schweiz, den Niederlanden, Frankreich und England lagen. Die Universitäten Heidelberg, Leiden, Groningen, Basel und die Hohe Schule in Herborn wurden zu Hauptstätten reformierter Gelehrsamkeit, waren jedoch insgesamt ärmer an herausragenden Namen. Eines der wichtigsten gemeinsamen Lehrstücke der Orthodoxie war das von der sogenannten Verbalinspiration der Heiligen Schrift. Das bedeutet, dass Heilige Schrift und Wort Gottes schlechthin identisch sind. Der Heilige Geist selbst hat Propheten und Apostel angehaucht, inspiriert, sie waren seine Werkzeuge und haben Gottes Wort und Willen detailgetreu in den Buchstaben gebracht. Damit sollten sowohl die römisch-katholische Auffassung von der Gleichberechtigung von Schrift und Tradition klar und deutlich abgelehnt werden als auch alle spiritualistische oder frührationalistische Meinung, die Offenbarung geschehe durch irgendetwas anderes als durch die Schrift. Wenn man in dieser Weise eine Identität von Gott und Schrift behauptet, dann ist es nur ein kleiner Schritt, auch von göttlichen Eigenschaften der Schrift zu sprechen, was tatsächlich auch geschehen ist. Die Schrift galt als unmittelbar evident, als sachlich vollkommen und als irrtumslos. Das reformatorische Prinzip des sola scriptura wurde somit auf die Spitze getrieben und musste mit der rationalistischen Bibelkritik der Aufklärung ebenso notwendig kollidieren wie mit den Tendenzen zur Innerlichkeit, wie wir sie im Pietismus finden werden. Wichtiger für unseren Zusammenhang indes ist, dass dies auch nicht mehr der Überzeugung Luthers entspricht, der in der Unterscheidung von Geist und Buchstaben klarer gefasst hat, was für ein spannungsreiches Unternehmen es ist, sich mit der Schrift, die Gottes Wort und Menschenwort zugleich ist, auseinanderzusetzen. 3.2 Die pietistische Frucht – zarte Blüten, zum Verzehr geeignet Jenseits aller Vorurteile, die sich vielleicht weniger auf den historischen Pietismus als auf eine die Zeiträume überdauernde pietistische Frömmigkeit
122 richten, muss man festhalten, dass der Pietismus in seiner Blütezeit eine in vielerlei Hinsicht notwendige und segensreiche Bewegung war. Er hat dem Protestantismus auf seine Art das Überleben gesichert und ihn nachhaltig gemahnt, über der Lehre die Praxis nicht zu vergessen. Die Betonung einer praxis pietatis, einer Praxis der Frömmigkeit, war eines seiner Hauptmerkmale und wendete sich gegen eine reine Gelehrtentheologie, die den Menschen mit seinen Nöten und Sorgen aus dem Blick zu verlieren drohte. Beginnend mit Johann Arndt, den man vielleicht als so etwas wie den Großvater des Pietismus bezeichnen kann, richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Diesseits des sündigen Menschen, der eine Bekehrung erleben muss und soll, die ihn zu einem gottgefälligen Leben führen und ihm das ewige Leben sichern soll. Zu diesem gottgefälligen Leben gehören das intensive Gebet, das Studium und die Meditation der Schrift allein und im Kreise Gleichgesinnter sowie das tätige Liebeswerk am bedürftigen Nächsten. Dass über diese Fokussierung auf das fromme Handeln auch eine gewisse Gesetzlichkeit Einzug gehalten hat, die nach Luthers Rechtfertigungserkenntnis verabschiedet schien, liegt auf der Hand. Wie oft sich ein „Du sollst“ oder „Du musst“ findet, müsste einmal nachgeprüft werden, genauso, wie oft in diesem Zusammenhang die Vorstellung eines zürnenden, richtenden Gottes, der ein Leben, das nicht in der praxis pietatis angesiedelt ist, entsprechend negativ bedenken wird, fröhliche Wiederauferstehung feiert. Ebenfalls etablierte sich eine bestimmte Kritik am bestehenden Kirchenwesen, die Bildung von Konventikeln sollte die neue Frömmigkeit vor schädlichem Einfluss und obrigkeitlicher Einmischung schützen. Selbst eine recht unverdächtige Vorstellung wie die Philipp Jakob Speners von einer ecclesiola in ecclesia, einer kleinen Kirche innerhalb der bestehenden Großkirche, stand nicht außerhalb der Gefahr, zum Separatismus zumindest einzuladen, auch wenn Speners Absicht selbst es nur war, die lutherische Lehre wieder sensibler für eine innere Gottesfurcht und das gute Werk zu machen. So wurden Vertreter des Pietismus relativ schnell der Heterodoxie und des Separatismus bezichtigt und hatten meist keinen leichten Stand; mehrfach mussten sie die Region ihrer Tätigkeit wechseln. Dabei hat auf dieser gemeinsamen Basis der Pietismus ganz verschiedene Formen entwickelt. Der Pietismus ist kein einheitliches Phänomen, weder geographisch noch zeitlich noch inhaltlich. Er trat vereinzelt auf und muss eigentlich auch einzeln betrachtet werden. Man unterscheidet in der Regel den lutherischen Pietismus, der sich mit dem Namen des bereits genannten Philipp Jakob Spener verbindet, den Halleschen Pietismus (verbunden mit August Hermann Francke), den Herrnhutischen Pietismus (Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf), den württembergischen Pietismus (Johann Albrecht Bengel, 1687–1752, und Friedrich Christoph Oetin-
ger, 1702–1782), den reformierten Pietismus (Gerhard Tersteegen) und den radikalen Pietismus (z.B. Eva von Buttlar). Von diesen Richtungen sollen in unserem Zusammenhang nur drei etwas näher betrachtet werden. Zunächst der lutherische Pietismus. Wenn Johann Arndt mit seinen „Büchern vom wahren Christentum“ der Großvater des Pietismus genannt werden kann, dann ist Philipp Jakob Spener (1634–1705) dessen Vater. In Straßburg hatte er eine reformfreudige und weltweite Form der Orthodoxie kennengelernt und diese Ideen in seine Stellung als Senior (leitender Geistlicher) der Frankfurter Lutherischen Kirche mitgebracht. In diesem Sinne gründete er die Collegia pietatis, wo religiöse Texte miteinander gelesen wurden. Als Programmschrift des Pietismus gelten seine „Pia desideria“ („Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“), wo er zunächst den Zustand der Kirche diagnostiziert und darauf fußend sechs Vorschläge zur Besserung macht. August Hermann Francke (1663–1727) kann gewissermaßen als der Vollender des Spenerschen Pietismus gelten, da er den Praxisbezug in den Vordergrund seiner Bemühungen stellte. Diesem Bemühen ging ein Bekehrungserlebnis voraus, das von dort an zu so etwas wie einem Erkennungszeichen für Pietisten und Erweckte wurde: Wer ein solches Erlebnis nicht vorweisen konnte, wurde erst einmal skeptisch beäugt. Herausragend sind Franckes Leistungen im Bildungs- und Sozialbereich. Nach etlichen Zusammenstößen mit der Obrigkeit kam er als Pfarrer nach Glaucha bei Halle; während er als Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an der Universität Halle lehrte, suchte er gleichzeitig das soziale Elend durch die Einrichtung von Schulen, eines Waisenhauses sowie einer Bibelanstalt (die nach dem Sponsor Cansteinsche Bibelanstalt hieß) zu mindern und das Wort Gottes zu verbreiten; hierin ist auch das Fundament für den missionarischen Zug des Pietismus zu entdecken. Dass dies alles funktionierte, sah er als Beweis der Wirksamkeit und Gegenwart Gottes an. Franckes Einfluss reichte weit über seine Zeit hinaus; vor allem der wachsende und gedeihende Preußische Staat übernahm viel von seinen Ideen: So mussten alle preußischen Feldprediger in Halle studiert haben. Noch entscheidender ist, dass in Nachfolge der Franckeschen Gedanken in Preußen die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde und nach dem Vorbild Halles vor allem Lehrmittel und „Realien“ eingesetzt wurden. Der württembergische Pietismus schließlich zeichnet sich dadurch aus, dass er von der weltlichen Obrigkeit nicht nur er- und getragen, sondern auch gefördert wurde. Das ist bis heute dafür verantwortlich, dass in dem Land, das auch schon mal als lutherisches Spanien bezeichnet wurde, um die Vorherrschaft der Konfession zu pointieren, der Pietismus sozusagen zum guten Ton gehört. Sepa-
123 ratistische Tendenzen wurden früh ausgeschaltet, so dass sich ein kirchlich gebundener Pietismus durchsetzen konnte. Die Spannung der Lutherischen Theologie hat auch der Pietismus nicht aushalten können, in keiner seiner vielen Erscheinungsformen. Neigte sich die Orthodoxie zu sehr der Seite der Glaubenslehre zu, so der Pietismus zu sehr derjenigen des Glaubenslebens. Die Klarheit und Eindeutigkeit des Weges stand im Zentrum, ein gottesfürchtiges Leben, das weder die Anfechtung noch den Zweifel oder gar die Verzweiflung ertragen konnte, erlaubte kein Schwanken, keine Rückschritte auf dem Weg. So segensreich der Pietismus also in seiner Betonung des wiedergeborenen, diesseitigen Lebens und seiner Wegbereitung für diakonisches, pädagogisches und missionarisches Handeln auch war, so sehr spielte die Heraushebung der Innerlichkeit und des notwendigen Separatismus den neuen Tendenzen in die Hände, welche den Rückzug der Religion ins Private vorantrieben. 3.3 Die aufklärerische Frucht – weich, bunt und vielseitig verwendbar Die Aufklärung ist – gerade auch im Blick auf das hier am meisten interessierende Feld, nämlich das Verhältnis von Kirche und Staat – die einschneidendste Bewegung und diejenige mit den weitreichendsten Folgen. Gerne wird gesagt: „Hinter die Aufklärung können wir nicht mehr zurück.“ Das meint vor allem: „Hinter den kritischen Kant können wir nicht mehr zurück“ und soll ausdrücken, dass die mit Kant ihren unangezweifelten Höhepunkt erreicht habende Erledigung jeder metaphysischen Verankerung einer Theologie eine ebensolche nicht mehr zulässt und daher gegen die nicht mehr hinzunehmende, weil bloß behauptete Offenbarungswahrheit die individuelle religiöse Befindlichkeit zu setzen ist. Etwas plakativ ausgedrückt: Religion ist schön und gut, wenn sie sich im stillen Kämmerlein abspielt und nicht mehr versucht, die Gesellschaft zu gestalten. Kants immer noch treffende Definition von „Aufklärung“ („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“) verdeutlicht: Die Fesseln vorgegebener Ordnungen sollten abgestreift werden, es galt, sich mittels eigenen Verstandes und der Vernunft selbst zu verwirklichen und zu behaupten. Das hat eine mehr oder weniger radikale Absage an traditionelles Gedankengut zur Konsequenz. Und zwar, weil dieses Gedankengut möglicherweise den strengen Maßstäben der Vernunft nicht standhalten kann. Auf allen Ebenen haben wir es von dort aus mit Bestrebungen zu tun, mittels des Verstandes den Weg aus der Unmündigkeit zu suchen: durch Beobachtung und Erforschung der Natur; durch Literatur, die auf populärwissenschaftlicher Basis dem breiten Volk Wissen zu vermitteln und es so zur Urteilsfähigkeit zu führen sich bemüht; in der Philosophie ist
natürlich vor allem Kant zu nennen, der mit seinen Kritiken den Weg zu einem an Moralität orientierten Denken (kategorischer Imperativ) geebnet hat; in der Politik finden wir Staatstheorien ohne jede religiöse Rückbindungen vor, also säkulare Systeme (etwa Thomas Hobbes mit seiner Vertragstheorie, dass im Krieg aller gegen alle ein Gesellschaftsvertrag das Schlimmste verhindern soll – so ähnlich auch später Jean Jaques Rousseau –, oder John Locke mit seinem Gedanken der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung), wodurch endgültig die Vorstellungen abgelöst werden, Gott selbst greife irgendwie durch auserwählte Instrumente in die Geschicke der Welt und der Nationen ein. Der englische Deismus (Gott stößt das Weltgeschehen an, zieht sich dann aber aus der Geschichte zurück) ist dafür ein sprechendes Beispiel. In Deutschland entwickelte Samuel Freiherr von Pufendorf (1632–1694) ein in sich geschlossenes System des Naturrechts. Darauf fußend behauptete Christian Thomasius (1655–1728) eine strikte Trennung zwischen dem der Vernunft einsichtigen Naturrecht und in der Bibel geoffenbartem, göttlichen Recht. Den Höhepunkt dieses Staatsverständnisses kann man natürlich in der Französischen Revolution erblicken, die mit ihrem Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit diese Ideale auf die Spitze und letztlich auch in ihr Verderben trieb. Dass diese geistesgeschichtliche Entwicklung die Kirchen und die Theologie vor eine besondere Herausforderung stellte, ist evident. Der Katholizismus zeigte wenig Interesse an aufklärerischen Tendenzen, was in den Grundzügen der Aufklärung begründet ist, die denen des römisch-katholischen Selbstverständnisses diametral entgegenstehen. Es gab aber durchaus fruchtbare Verknüpfungen, vor allem dort, wo die Aufklärung vom Staat ebenso wie die Kirche gefördert wurde, etwa in Österreich unter Joseph II. Der Protestantismus dagegen zeigte sich den neuen Ideen gegenüber weit aufgeschlossener, was vor allem in seinem Vernunftund seinem Freiheitsbegriff seine Ursachen haben dürfte. Um dies noch einmal in Erinnerung zu rufen: Luther hatte der Vernunft 1536 einen herausragenden Platz in diesem Leben eingeräumt; keine andere Kraft erhebe den Menschen so sehr über alle Kreaturen und sei so sehr in der Lage, schöpferisch, gestaltend, lenkend und klug mit dem, was sie vorfindet, umzugehen. Jedoch ist die Vernunft nicht der ganze Mensch, und insofern braucht es die Definition dessen, was die Schrift in ihrer Mitte über Gott und Mensch aussagt und was den Menschen in seiner Geschöpflichkeit in seiner Beziehung zu seinem Schöpfer definiert. Insofern ist der Mensch als auf Rechtfertigung durch Gottes Gnade angewiesenes Geschöpf zu sehen. Und nur in diesem Kontext ist auch zu verstehen, was Luther unter Freiheit versteht, nämlich die Freiheit im Glauben vor Gott, welche die Gebundenheit in der Liebe zum Nächsten einschließt. Zwei „Freiheiten“ wa-
124 ren von dieser Freiheitsdefinition ausgeschlossen, auf die jedoch gerade die Aufklärung großen Wert legte: die Freiheit des menschlichen Willensvermögens und die politische Freiheit. Dennoch gab es natürlich Anknüpfungspunkte, die den Protestantismus näher an die Aufklärung heranzuführen vermochten. So haben sich mehrere Wege ergeben, Religiosität zu leben und Theologie wissenschaftlich zu betreiben. Ein Weg war eine Blüte religiöser Geheimgesellschaften, etwa der Freimaurer (1737 in Hamburg) oder der Rosenkreuzer. Das Entscheidende an diesen Gesellschaften war, dass sie relativ großen Einfluss auf die Kultur hatten: zu ihnen zu gehören, war eine Frage des guten Tons und zeigte an, ob jemand zur gehobenen Schicht gehörte oder nicht. Einen Zwischenweg gingen die Physikotheologen, die genau die Natur untersuchten und dabei Gottes geheimste Pläne, und seien es nur Baupläne, zu erkennen meinten. Oft waren es an der Natur interessierte Pfarrer, die auf der Basis der Ordnung der Natur erbauliche Texte verfassten, die Freude über solche Ordnung und den klugen und genialen Schöpfergott erwecken sollten. Der dritte Weg schließlich bemühte sich darum, die souveränen und autonomen Vorstellungen mit den theologischen in einen Einklang zu bringen. Und hier gibt es gleich mehrere Möglichkeiten und mehrere Stufen. Die erste stellt der dem Rationalismus nahestehende Christian Wolff (1679–1754) dar, der versuchte, das Naturgesetz als Maßstab für die Ethik zu postulieren, dem kein weiteres Gesetz hinzuzufügen sei. Die Inhalte der Offenbarungswahrheit seien über-, jedoch nicht widervernünftig, insofern sie der philosophischen Erkenntnis nicht zugänglich seien. Wolff hat eine starke und einflussreiche Schülerschaft gehabt, die ihren Lehrer in der Rationalität noch übertroffen hat; man spricht vom Wolffianismus. In gewisser Weise abgelöst wurde dieser Wolffianismus durch die sogenannte Neologie. Bezeichnete dieser Begriff ursprünglich das Bemühen und die Methode, neue Wörter zu bilden und gebräuchliche umzudeuten (was eine Vielzahl von Lexika hervorbrachte), so werden unter diesem Begriff seit dem 20. Jahrhundert die reiferen Gestalten der Aufklärungstheologie gefasst. Ihr Ziel war es, sich von der metaphysisch verankerten, orthodoxen Dogmatik ebenso zu lösen wie von der pietistischen Bekehrungsschematik. Dazu wurde namentlich das Schriftverständnis einer kritischen Würdigung unterzogen. Die Lehre von der Verbalinspiriertheit, die in der Orthodoxie eine so prominente Rolle gespielt hatte, war passé und man begann, sich auf die historische Gestalt des Jesus von Nazareth und seine Rolle als moralisch-ethisches Vorbild zu konzentrieren. Ein zweites, daraus resultierendes Moment war die Differenzierung zwischen Religion und Theologie. Während die Religion mündige Frömmigkeitspraxis meine, bezeichne „Theologie“
die professionelle Berufswahrnehmung. Im Bereich der Religion wird dann noch einmal unterschieden zwischen privater = freier und individueller und öffentlicher = normativ-lehrhafter Religion. Dass aus dieser Unterscheidung leicht eine Trennung werden kann und Religiosität insgesamt zu einer reinen Privatsache wird, die Welt als solche aber säkular, also ohne religiöse Elemente verstanden sein will, liegt auf der Hand. Die wichtigsten, jedenfalls die bekanntesten Vertreter der Neologie sind u.a. Johann Joachim Spalding (1714–1804) und Johann Salomo Semler (1725–1791). Der Rationalismus – vertreten u.a. durch Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) – versuchte einerseits, den Offenbarungsbegriff durchgehend zu problematisieren, andererseits aber hielt er relativ unkritisch am Dass und Wie des Gottessohnes fest, allerdings verstand er ihn als Inbegriff vernunftbegründeter Moralität. Die Philosophie Kants bedeutete auch für die Theologie eine Wendemarke insofern, als dessen erkenntnistheoretische Grundlagen auch sie an die Begriffe der praktischen Vernunft verwiesen. Der nachkantische Rationalismus sah sich von dort aus weniger mit dem Althergebrachten aus Orthodoxie und Pietismus konfrontiert als vielmehr mit der neuen Religiosität eines Schleiermacher, einer Erweckungsbewegung, einer spekulativen Theologie usw. Die meisten Vertreter dieser Form des Rationalismus waren kirchlich stark eingebunden, wiesen aber durch ihre Lehre über eine binnenkirchliche Grenze hinaus. Vertreter waren u.a. Karl Gottlieb Bretschneider (1776–1848) und Julius August Ludwig Wegscheider (1771–1849), der bereits deutlich literarisch in Auseinandersetzung vor allem mit Schleiermacher eintrat. Als Gegenüber zum nachkantischen Rationalismus entwickelte sich der Supranaturalismus, der den Wissens- und Wahrheitsanspruch an die Offenbarung knüpfte. Im strengen Sinne ist also der Supranaturalismus eigentlich keine aufklärerische, vielmehr eine antiaufklärerische Position. Es gab allerdings im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch einen religiösen Antirationalismus, der – anders etwa als der Supranaturalismus – sich der Methoden und Argumente der Aufklärung bediente, um gleichsam gegen sie bzw. ihre Extreme und die in ihr lauernden Gefahren im Blick auf Christentum und Frömmigkeit zu schießen. Der Glaube wurde vor dem menschlichen Verstand postuliert als Gegebenes und daher in bestimmtem Sinne nicht Hinterfragbares. Die bedeutendsten Vertreter waren Johann Georg Hamann (1730–1788), Johann Caspar Lavater (1741–1801) und schließlich Matthias Claudius (1740–1815). Fragt man nach den bleibenden Folgen der Aufklärung für die Theologie, so ist an erster Stelle sicher der Beginn der modernen, historisch-kritischen Exegese zu nennen. Die Auffassung, in den Texten der Heiligen Schrift nicht von Gott selbst eingehauchte Weisheiten zu lesen, ermöglichte es, mit
125 den Texten in literaturwissenschaftlicher Hinsicht umzugehen, die Texte zu interpretieren, ohne befürchten zu müssen, das Seelenheil zu verlieren. Bei so viel Wert, den man der Historie beimaß, ist es auch kein Wunder, dass die Kirchengeschichte sich nach und nach als selbstständige Disziplin zu etablieren begann. Doch auch die Aufklärung und die Theologie, die ihre Denkanstöße konstruktiv aufgenommen hat, entfernten sich von dem reformatorischen Kern. Das Spannungsvolle der Theologie war hier dem Drang preisgegeben, aus einem falsch verstandenen Glauben ein Wissen zu machen, dass der Vernunfteinsicht jederzeit standhalten kann. Denn Glaube (fides) ist ja nicht bloße Meinung (opinio), sondern ist ein anderer Begriff für ein bedingungsloses Vertrauen und Gottesfurcht. Die Alternative, welche zwischen Glaube und Vernunft aufgemacht wurde (und heute vor allem immer wieder und allerorts aufgemacht wird), ist eine falsche, welche den Kern der Frucht aufweicht. Die Rezeption aufklärerischen Gedankenguts und die Wandlungen, die dieses dann noch einmal durch den Idealismus und andere geistesgeschichtliche Strömungen durchgemacht hat, in der neueren protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert zeigen nur allzu gut, dass und wie der Kern mehr und mehr abhanden gekommen ist und sehr viel weiches, kaum standfestes und in viel zu viele Richtungen dehnbares Fruchtfleisch übrig gelassen hat. 4. Kern-Thesen für die Zukunft Noch einmal sei betont: Das 17. und 18. Jahrhundert erweisen sich im Blick auf die Theologie als wahres Kaleidoskop, das hier im Detail einerseits und in seiner Fülle andererseits nicht darstellbar ist. Mehr als eine Skizze ist nicht möglich gewesen. Zu dieser Skizze ist noch eines unbedingt hinzuzufügen: Viele der Protagonisten aus allen drei Bewegungen standen als Hofprediger in enger Verbindung zur jeweiligen weltlichen Obrigkeit. Insofern ist die jeweilige Gestaltung der Frucht um den Kern nicht immer in der akademischen Unabhängigkeit und Freiheit angesiedelt, die wir uns aus heutiger Sicht und bei der klaren Trennung von Kirche und Staat idealiter vorstellen wollen. Doch soll uns das nicht von der Beobachtung ablenken oder diese „entschuldigen“, dass Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung es nicht vermochten, Luther ins Luthertum zu retten. Seine Fundamentaleinsicht, dass Theologie bedeutet, den Menschen in Spannungen wahrzunehmen, zu beschreiben und ihm in diesen Spannungen zu helfen, eine Orientierung beizubehalten und sie zu gestalten – die wurde als gerade in den Bedingungen der Zeit schwierig bis unmöglich zu lehren und zu leben erkannt und mehr oder weniger und in verschiedene Richtungen preisgegeben. Nun stellt sich die Frage, ob dieser Lutherische Kern etwas wäre, was heute – just im Angesicht des Re-
formationsjubiläums – neu gesagt werden müsste oder nicht. Kann man mit Luther noch Theologie treiben? Um nicht auch zu sagen: Staat machen? Schon im letzten Beitrag wurden die Spannungsfelder im Blick auf die Frage nach ihrer Bedeutung heute durchdekliniert, und es gibt gute Gründe zu behaupten, dass wir diesen Luther genau so brauchen. Wie kann man aber, wenn es stimmt, dass wir „hinter die Aufklärung nicht zurück“ können, die Errungenschaften von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung in Bezug zu diesem Spannungsvollen setzen und daraus neue Impulse für die Theologie heute gewinnen? Dazu sechs kurze Thesen: 1. Der Kern der Lutherischen Theologie ist unaufgebbar, wenn Gott ernstgenommen werden soll, wie er in Wort und Sakrament begegnet; wenn die Schrift, in ihrer Mitte Jesus Christus, ernstgenommen werden soll; und wenn der Mensch in all seinen Fragen, Sorgen, Gefährdungen und Problemen ernstgenommen werden soll, unabhängig von der Zeit, in der er lebt. Dieser Kern ist die einzige Möglichkeit, über Krisen keinen Deckmantel des „Es hat doch alles seinen Sinn“ oder anderer seelsorgerlicher Ungeheuerlichkeiten zu legen; ist die einzige Möglichkeit, Gott als den Schöpfer und den Menschen als sein geliebtes, gefallenes und zu rettendes Geschöpf angemessen und in allen Konsequenzen zur Sprache zu bringen; ist die einzige Möglichkeit, dem Christentum sein christologisches Woher und Wohin aufzuzeigen und es stets bei allen notwendigen „Religionsgesprächen“ daran zu mahnen, wer sein Haupt ist; ist die einzige Möglichkeit, den Menschen Trost, Gewissheit und Freiheit zuzusagen, ohne sie zu vertrösten, ohne sie selbstsicher zu machen, ohne sie in die selbstherrliche Emanzipation zu entlassen. Der Kern der Lutherischen Theologie ist unaufgebbar, wenn Protestantismus eine glaubwürdige Form gelebten Christentums sein will und man am Fruchtfleisch erkennen soll, warum der christlichen Botschaft Vertrauen geschenkt werden darf. 2. Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung haben sich auf ihre je eigene Weise bemüht, eine besondere und wichtige, ebenso unaufgebbare Seite der Frucht ins Licht zu rücken. Die Orthodoxie bemühte sich darum, die Lehre verständlich zu machen und im Detail zu durchdenken, bemühte sich, Antworten auf alle Fragen zu geben. Der Pietismus bemühte sich, die praktische Frömmigkeit, aus einem inneren Gottesbezug erwachsen, in den Fokus zu rücken, um den Glaubenden und den Nächsten zu retten. Die Aufklärung bemühte sich, das durch Vernunft Erkennbare und daraufhin unabänderlich zu Sagende mit den Aussagen der Schrift und des Glaubens ins Gespräch zu bringen. Wo die Spannungen Fragen um Fragen provozierten und Unruhe stiften konnten, versuchten diese drei Bewegungen, Ordnung und Ruhe und Weiterkommen zu schaffen. Es braucht diese Korrekturen, damit man
126 die Spannungen aushalten kann, ohne dass dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. 3. Es braucht heute wieder und ganz dringend eine klare und verlässliche Lehre und Lehrer. Bei allem Lob des Pluralismus und aller Notwendigkeit des Diskurses und bei aller Gefahr des gewaltbereiten Dogmatismus: Wir brauchen eine gute Streitkultur, die nur dann gut sein kann, wenn Positionen bezogen werden. Blinde Rechthaberei muss dabei ebenso vermieden werden wie Drückebergertum. „Profil“ ist das Zauberwort, denn eine unprofilierte Theologie, die nicht mehr weiß, was ihr Kern ist, schaufelt sich ihr eigenes Grab. Es entsteht der Eindruck, zu Zweidrittel sei das Grab schon ausgehoben, wenn sich vermeintlich „moderne“ und um „Anschlussfähigkeit“ bemühte Theologie nicht mehr mit der Wahrheitsfrage auseinandersetzen will. 4. Es braucht genauso eine Theologie, die um ihre diakonische und seelsorgerliche Funktion weiß und diese lehrt und lebt. „Frömmigkeit“ meint ursprünglich „Nützlichkeit“ – sollte in eben diesem Sinne eine Theologie nicht alles daran setzen, „fromm“ zu sein? Dafür braucht es ein Herz in der Theologie, das immer dort schlägt, wo der Herzschlag anderer zu schwach geworden ist. Dafür braucht es den Austausch im kleinen Kreis und die kritischen Fragen an die Kirche. Dafür braucht es das Ohr am bedürftigen Menschen und die Phantasie, wie man mit wenigen Mitteln diakonisch, pädagogisch und in einem bestimmten Sinne auch missionarisch tätig werden kann. Den Menschen aus der Überzeugung heraus dienen zu wollen, dass sie Geschöpfe Gottes sind und dieser Gott will, dass sie leben, vergrößert nicht den Mitgliederbestand der Kirche – es wird Gesellschaft gestaltet, Politik gemacht, Kultur geschaffen. 5. Es braucht schließlich das Wissen darum, dass Theologie eine Wissenschaft ist, dass sie sich darum an wissenschaftliche Methoden zu halten und das Gespräch mit den anderen Wissenschaften zu suchen hat. Es braucht die Aufklärung, damit die Gemeinde mündig ist und die Botschaft nicht nur hören, sondern auch verstehen kann. Es braucht den Verstand, damit die Kirche als Institution immer wieder gemessen werden kann an dem, was in der Schrift gesagt wird, damit die Lehre immer relativ dazu bleibt und sich nicht verselbständigt und
Herrschaftsansprüche stellt. Herrschaftsansprüche zu stellen ist immer ein Zeichen von gewissenloser Dummheit – oder dummer Gewissenlosigkeit. Und es braucht auch die Infragestellung von Vernunft und Verstand, die sonst in hybrider Vermessenheit ebenso Herrschaftsansprüche stellen und Deutungshoheit beanspruchen. 6. Es braucht, damit der Lutherische Kern sichtbar und schmeckbar bleibt, den Mut zu orthodoxer Gelehrsamkeit, pietistischer Frömmigkeit und aufklärerischer Vernunftarbeit – im Dienste dieses Kerns. Nur so kann sich der Protestantismus auch über das Event 2017 als Kraft erweisen, die für den Menschen in der Welt äußere und innere Lebensräume bereitstellt, schafft und darum kämpft – ad maiorem Dei gloriam Literatur 1
2
Zur wissenschaftlich fundierten Korrektur dieser durchaus wissenschaftlich verantworteten Kurzfassung vgl. summarisch (in alphabetischer Reihenfolge und verstanden als Multiplikatoren für weitere Literatur) unter anderem Beutel, Albrecht / Leppin Volker u.a. (Hg.): Christentum in Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 19), Leipzig 2006; Beutel, Albrecht / Leppin, Volker u.a. (Hgg.): Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 31), Leipzig 2010; Beutel, Albrecht: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (utb 3180), Göttingen 2009; Brecht, Martin / Deppermann, Klaus (Hg.): Geschichte des Pietismus Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993; Hornig, Gottfried: Lehre und Bekenntnis im Protestantismus I/1: Die altprotestantische Orthodoxie, in: HDThG III, S. 71–96; Wallmann, Johannes: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 2010; Weber, Hans Emil: Reformation, Orthodoxie und Rationalismus I/1, Gütersloh 1937 und I/2 1940: Der Geist der Orthodoxie, Neudruck 1966. Wallmann, Johannes: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1995
127 Martin Treu
Welthistorische Momente – Die Torgauer Wende vom Oktober 15301 1. Einleitung: Ereignisgeschichte und Kontingenz Im Ablauf der Geschichte gibt es immer wieder Ereignisse, die sich scheinbar vor einem rein lokalen Hintergrund abspielen und doch welthistorische Konsequenzen nach sich ziehen. Als Beispiele seien hier nur der Sturm auf die Bastille in Paris vom 14. Juli 1789 und die sogenannte Bostoner Teaparty vom 4. Juli 1776 genannt. Allerdings handelte es sich in beiden Fällen um öffentliche Vorgänge, die erhebliche Aufmerksamkeit auf sich zogen. Von anderer Qualität, um auf die Reformationsgeschichte zu kommen, sind Geschehnisse, die sich weitgehend der öffentlichen Wahrnehmung entzogen haben und bis heute entziehen, deren Wirkungsmacht sich für die Zukunft als umso entscheidender erweisen sollten. Gerade weil sie sich außerhalb der Öffentlichkeit abspielten, sind sie in ihrer Bedeutung zum einen nicht in das memoriale Narrativ der Reformationsgeschichte gerückt, zum anderen bleibt notwendigerweise ein Rest letzter Unerklärbarkeit, ein Grauschleier, der sich letzter Aufklärung verweigert. Um diese grundsätzlichen Erwägungen zu erläutern, gehe ich einleitend auf zwei Ereignisse ein, die in der Biographie Luthers gewöhnlich nur beiläufig behandelt werden, um dann zum eigentlichen Thema zu kommen. Als erstes ist hier Luthers Tätigkeit als Wittenberger Stadtprediger zu nennen. Erst im Rückblick und dann auch ohne eine genaue Datumsangabe ist aus einem Brief Luthers an den Magistrat zu erfahren, dass der Wittenberger Professor seit etwa 1513 auch als Prediger der Stadtkirche gedient hat. Der Rat verfügte dort über zwei Pfründen. Welche Luther innegehabt hat, ist bis heute nicht geklärt. Sicher ist, dass sie mit achteinhalb Gulden (neun alte Schock Groschen) pro Jahr miserabel dotiert war. Völlig unklar bleibt, wie der Rat auf Luther verfiel, der zwar in der Klosterkapelle, aber dort natürlich lateinisch predigte. Ebenso schlecht ist die Überlieferung der frühen Predigten, die nur zum Teil und dann in lateinischen Zusammenfassungen auf uns gekommen sind.2 Als entscheidend aber erwies sich, dass in der Stadtkirche der Mönch und Wissenschaftler zum ersten Mal mit den Sorgen und Nöten der normalen Bevölkerung konfrontiert wurde, die sich von der hermetisch abgeschlossenen Welt des Klosters und der Hochschule erheblich unterschieden. Hier wurde der Prediger und wohl auch Beichthörer Luther mit dem Problem des Ablasses bekannt gemacht, das er vorher so nicht wahrgenommen hatte. Bezeichnenderweise missriet Luthers Versuch, die Ablassfrage in wissenschaftlichen Zirkeln in der Form einer Disputation zu klären, völlig. Der Ablass stellte für die meisten seiner Standesgenossen kein wis-
senschaftliches Problem dar. Die Disputation fand mangels Teilnehmer nicht statt. Grundsätzlich änderte sich dies erst, als Luther im März 1518 mit seinem „Sermon von Ablass und Gnade“, der allerdings schon im Spätherbst 1517 geschrieben worden war, an die deutschsprachige Öffentlichkeit herantrat. Nun explodierten die Auflagezahlen in einem vorher nie gekannten Ausmaß. Innerhalb von zwei Jahren waren 23 Ausgaben deutschlandweit verkauft.3 Diese nicht umzukehrende Entwicklung wurde letztlich durch Luthers frühe Erfahrungen als Wittenberger Prediger in der Stadtkirche ausgelöst, wie er in einem wenig beachteten Rückblick selbst formulierte. Ein weiteres Beispiel solcher wirkmächtigen, aber verborgenen Ereignisse findet sich am Ende des Wormser Reichstags vom April 1521. Die öffentlichen Vorgänge sind bekannt. Luthers Verweigerung des Widerrufs katapultierte ihn an die Spitze seiner Popularität. Gut dokumentiert sind auch die anschließenden Verhandlungen zwischen den Reichsständen, um in der Luthersache, wenn auch vergeblich, zu einem Kompromiss zu kommen. Die Erklärung der Reichsacht, das sogenannte Wormser Edikt, ließ sich damit aber nicht verhindern. Weitgehend unbekannt, aber für den Fortgang entscheidend ist dagegen ein Gespräch zwischen dem Kaiser und dem sächsischen Kurfürsten Friedrich III., dem Weisen, bei dem der Sachse bat, man möge seine Lande mit diesem Reichstagsabschied nicht behelligen. Reichsrechtlich ist dies ein einmaliger Vorgang, zumal der Kaiser offensichtlich der Bitte nachkam. Das Edikt wurde in Kursachsen nie publiziert und damit dort auch formal nicht gültig. Wichtiger noch, Karl V. duldete diesen Rechtsbruch stillschweigend. Von entsprechenden Mahnungen seinerseits ist nichts bekannt, obwohl die Stände, allen voran der Albertiner Herzog Georg, immer wieder auf den Vollzug des Ediktes drang.4 Ein Erklärungsversuch aus jüngster Zeit besagt, dass sich Karl nicht nur wegen der Wahlhilfe für ihn durch Friedrich dem Sachsen verpflichtet fühlte, sondern sich durch die Verlobung des späteren Kurprinzen Johann Friedrich mit seiner Tochter, jedenfalls zu dieser Zeit, familiär mit ihm verbunden sah. Dies scheint ingeniös, aber nicht wirklich überzeugend. Welche Motive den Kaiser auch immer bewegten, mit seinem Schweigen ermöglichte er den Fortgang der Reformation erst überhaupt. 2. Die Torgauer Wende von 1530 Unter diesem Begriff soll es in diesem Beitrag um die grundsätzliche Änderung der Haltung Luthers und seiner Wittenberger Kollegen zur Frage des Widerstandsrechts der deutschen Fürsten gegen den Kaiser gehen. Damit wird das etwas sperrige
128 Thema „Wittenberg als theologisches und Torgau als politisches Zentrum zwischen 1512 und 1546“ nicht in einem historischen Längsschnitt, sondern anhand eines zentralen Ereignisses exemplarisch verdeutlicht. Das hat auch den Vorteil, einen weiteren oft nicht wahrgenommenen, aber entscheidenden Moment in Luthers Laufbahn zu thematisieren.5 2.1 Vorgeschichte Um die Bedeutung der Torgauer Tagung vom 26. bis 28. Oktober 1530 einordnen und würdigen zu können, muss die Entwicklung davor wenigstens im Überblick ins Gedächtnis gerufen werden. Im Nachherein erwies es sich als entscheidend, dass der Kaiser in den Jahren von 1522 bis 1529 aus politischen Gründen außerhalb des Reiches festgehalten wurde. Die Aufstände in Spanien, der Krieg mit Frankreich, der vor allem in Oberitalien geführt wurde, und der Vormarsch der Türken auf dem Balkan beanspruchten seine ganze Energie. Karls Bruder und Stellvertreter im Reich, Ferdinand, besaß nur einen vom Kaiser eng begrenzten Spielraum. Der erste Reichstag zu Speyer 1526 erbrachte einen Kompromiss in Bezug auf das Wormser Edikt. Die Reichsstände einigten sich auf die Formel, dass sich jedermann so halten solle, wie er es dem Kaiser gegenüber später zu verantworten glauben könnte.6 In der Folge wurde in Kursachsen und Hessen die Reformation formal eingeführt. Drei Jahre später war der Ton rauer geworden. Der immer noch großen altgläubigen Mehrheit stand nun eine gefestigte Minderheit gegenüber, die gegen einen Zwang in Glaubensfragen durch Mehrheitsentscheid protestierte. Der Reichstag zu Speyer 1529 bot den Rahmen für die Geburt des Protestantismus. Allerdings waren die Aussichten alles andere als rosig. Der Kaiser hatte seit 1521 zum ersten Mal wieder sein Erscheinen beim Reichstag 1530 in Augsburg angekündigt. Das Ausschreiben dazu fiel zwar moderat aus, wonach jedermanns „Gutdünken und opinion“ gehört werden sollte, aber die protestierenden Stände, allen voran Sachsen und Hessen, wussten doch sehr genau, dass sich die Meinung des Kaisers in der Luthersache nicht geändert hatte. Einzig die vom Kaiser dringend benötigte finanzielle Hilfe für einen Abwehrkampf gegen die Osmanen, die 1529 knapp an der Eroberung Wiens scheiterten, bot den Protestanten einen gewissen politischen Spielraum. Trotzdem schwebte die Drohung eines gewaltsamen Eingreifens des Kaisers mit Hilfe der altgläubigen Stände wie ein Damoklesschwert über den Fürsten auf Seiten der Reformation. Die Analyse der Ereignisse unter ausschließlich politischen Aspekten greift hier, wie in der gesamten deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, viel zu kurz. Schließlich ging es um den Glauben und damit um das ewige Heil jedes einzelnen Beteiligten. Man wird mit wenigen Ausnahmen allen Fürsten dieser Epoche persönliche
Frömmigkeit nicht absprechen können. Von einem selbstverständlichen Primat des Politischen kann keine Rede sein. Damit erklärt sich die überraschend starke Stellung Martin Luthers und seiner Mitstreiter in der Frage, wie künftige Politik zu gestalten sei. Der hatte sich in der Auslegung von Rm 13, 1-4 frühzeitig und eindeutig festgelegt: Die bestehenden hierarchischen Strukturen in Über- und Unterordnung, in Obrigkeit und Untertanen, wie es Luther formuliert, fließen unmittelbar aus Gottes Gebot und sind daher unumstößlich. Jeder Versuch eines Untertans, gegen seine Obrigkeit vorzugehen und sei er auch noch so gut begründet, ist unmittelbare Sünde gegen Gott und Aufruhr. Letzterer Begriff ist somit theologisch und nicht politisch geformt und daher grundsätzlich nicht verhandelbar. Eine gewaltsame Änderung der bestehenden Hierarchie war für Luther positiv ausgeschlossen. Das war seine Erfahrung aus dem Bauernkrieg und aus der politischen Theologie Thomas Müntzers, der die genannte Bibelstelle ganz anders ausgelegt hatte. Aus Rm 13,4 folgerte er in der sogenannten Fürstenpredigt von 1524, dass eine Obrigkeit, die nicht mehr als Dienerin Gottes angesehen werden kann, notwendigerweise das Schwertamt verlieren müsse. Mehr noch, etwaige Verteidigungsbündnisse gegen die altgläubigen Stände, zwischen Gleichgestellten sah Luther dies als erlaubt an, hatten von einem Primat der Theologie und nicht der Politik auszugehen. Luther verstand bis zu seinem Ende den Erfolg der Reformation als unmittelbare und direkte Wirkung von Gottes Handeln. Menschliche Aktivitäten grenzten für ihn daher immer an Unglaube, der sich nicht auf Gottes gnädige Fügung verlassen will. Wir sind hier also direkt im Zentrum von Luthers Theologie. Für die Gegenwart schwer nachvollziehbar bleibt, mit welcher Selbstverständlichkeit die politischen Akteure, allen voran der sächsische Kurfürst Johann, dieser Schwerpunktsetzung folgten. Schwierig wurde die Lage, als sich innerhalb der entstehenden reformatorischen Bewegung theologische Differenzen zeigten. 1523 begann in Zürich unter der Leitung von Ulrich Zwingli ein Reformprozess, der sich emphatisch von Wittenberg abgrenzte. Auch die süddeutschen Städte, allen voran Straßburg mit dem Reformator Martin Bucer, schienen eigene Wege gehen zu wollen. Das veranlasste den jungen und energischen Landgrafen Philipp von Hessen zu einem Versuch, die Differenzen durch ein Lehrgespräch in Marburg 1529 auszuräumen. Damit wird deutlich, dass auch Philipp als hervorragender politischer Kopf das Primat der Glaubenseinheit gegenüber den rein politischen Bündnissen respektierte. Zwar bestand nach intensiver Diskussion zwischen den Wittenbergern und den Schweizern ein Konsens in der Mehrzahl der offenen Fragen. Da man sich über das Verständnis des Abendmahls nicht einigen konnte, war das
129 Gespräch aber grundsätzlich gescheitert. Luther sah hier keinerlei Möglichkeiten für Kompromisse. Und das hieß für ihn in der Konsequenz, dass damit auch und gerade ein politisches Bündnis ausgeschlossen war. Die zuvor vom hessischen Landgrafen geschlossene Burgeinung mit Zürich, die Vorform eines Beistandspakts, erwies sich nun als Sackgasse. 2.2 Das Jahr 1530 Um sich auf den Reichstag vorzubereiten, entfaltete der Kurfürst eine intensive Beratungstätigkeit mit seinen Juristen und befragte zu einzelnen Themen immer wieder auch die Wittenberger Theologen. In diesem Zusammenhang entstanden die gerade in Torgau immer wieder angeführten Artikel als ein Vorentwurf zur späteren Confessio Augustana. Was den meisten Menschen, die von diesen Artikeln erzählen, wohl kaum bewusst sein dürfte, ist die Tatsache, dass sie von Philipp Melanchthon stammen. Luther war in Torgau gar nicht anwesend. Was sich dazu in der kritischen Ausgabe findet, ist eine gelehrte Rekonstruktion. Offensichtlich befassten sie sich vor allem mit der Rechtfertigung der vorgenommenen reformatorischen Maßnahmen. Für die positiven Glaubensinhalte hielt Luther die Schwabacher Artikel von 1529 für ausreichend.7 Bald war den Beteiligten klar, dass auch eine umfassende Darlegung der Lehrinhalte selbst unentbehrlich war. So stellten die Torgauer Artikel nur einen Schritt auf dem Weg zum endgültigen Bekenntnis dar und waren in gewisser Weise sehr bald überholt. Deshalb dürfte eine zurückhaltende Wertung bei der öffentlichen Meinungsabgabe zum Thema angebracht sein. Neben den inhaltlichen Fragen des Glaubens ging es den kursächsischen Räten natürlich auch um die politischen Konsequenzen. Auf eine entsprechende Anfrage erklärten die Wittenberger Theologen allerdings kategorisch und in lakonischer Kürze, dass jegliche Gegenwehr der Fürsten bei einem Angriff des Kaisers um der Religion willen mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren seien.8 Den Landesfürsten bleibt nur der leidende Gehorsam gegenüber dem Kaiser als Oberherren. In diesem Zusammenhang lässt sich ein bis jetzt ungelöstes Rätsel der Lutherforschung klären, die Herkunft und Bedeutung von Luthers Devise Jes 30,15b: „In Stille sein und Hoffen würdet ihr stark werden.“ Dieses Zitat findet sich auf Porträts Luthers, aber auch als Umschrift auf dem Sitznischenportal in Luthers Haus in Wittenberg von 1541. Denn genau dieser Spruch ist Luther einziges biblisches Argument gegen einen politischen Aktionismus des Kurfürsten mit Bezug auf den Kaiser.9 Hier ist das alte Recht der Notwehr „vim vi repellere“, Gewalt mit Gewalt abzuwehren, außer Kraft gesetzt. Dem Fürsten bleibe nichts übrig, als dem Kaiser „das Land offen stehen zu lassen“.10 Als einzigen Ausweg hatte Luther nur utopisches
zu bieten: „Sünde hebt die Obrigkeit nicht auf. Aber Strafe hebt sie auf, das ist wenn das Reich und die Kurfürsten eintrechtiglich den Kaiser absetzen.“11 Verständlich, dass Kurfürst Johann und seine Räte nicht begeistert waren. Zumindest der Fürst aber schien entschlossen, Luthers Rat, der in diesem Fall mehr einer Weisung glich, zu gehorchen. Die folgenden Ereignisse sind so weitgehend im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass wir hier nur eine kurze Übersicht zu geben brauchen. Die von Sachsen beabsichtigte öffentliche Rechtfertigung der vorgenommenen Veränderungen im kirchlichen Bereich erwies sich als erweiterungsbedürftig, um die gemeinsamen gesamtchristlichen Grundlagen darzustellen. Ihre Endform ist das Augsburger Bekenntnis, das letztlich von Philipp Melanchthon formuliert und von Luther gebilligt wurde. Dessen zustimmende Bemerkung, er könne nichts bessern, „weil er letztlich so leise nicht treten könne“, ist fälschlicherweise als Kritik aufgefasst worden.12 In Wirklichkeit meint Luther hier, dass Melanchthon die angemessene Darstellung, das von Luther so geliebte „aptum“, gefunden habe. Was Luther allerdings tatsächlich kritisierte ist Melanchthons „Ängstlichkeit“. Dessen Kompromissbereitschaft schien ihm auf einen Mangel an Gottvertrauen zu weisen. Melanchthon hatte in der Tat bei dem Versuch, beide Seiten einzubinden, für den Außenstehenden eine unklare Grundhaltung erkennen lassen. Auf der einen Seite versuchte er, den Kontakt mit den Oberdeutschen und den Schweizern nicht abreißen zu lassen. Es war für die Protestanten nicht hilfreich, dass sich die Oberdeutschen Städte, Straßburg allen voran, nicht in der Lage sahen, sich der Confessio Augustana anzuschließen, sondern viel mehr ihr eigenes Bekenntnis vorlegten. Zwinglis „Fidei ratio“ als Darlegung der Schweizer Theologie verschlimmerte die Lage scheinbar noch, spielte dann aber während der Verhandlungen keine Rolle mehr. Schließlich trug das Zögern des hessischen Landgrafen Philipp, die CA zu unterzeichnen, dazu bei, Melanchthon förmlich in Panik zu versetzen. In seinen Briefen nannte ihn der Wittenberger Professor nur den „Makedonen“, wobei die Reminiszenz wohl nicht auf Alexander den Großen, sondern vielmehr auf dessen Vater Philipp II. (um 382-336 v. Chr.) gemünzt ist, der als kriegerisch und halber Barbar in Melanchthons Geschichtskenntnissen erscheint. Auf der anderen Seite versuchte Melanchthon die Kontakte zur römischen Seite zu halten. Allerdings erregte sein Angebot, die Jurisdiktion der altgläubigen Bischöfe anzuerkennen, auch bei seinen eigenen Mitstreitern, die im Gegensatz zum kursächsischen Hof nicht in diesen Plan einbezogen waren, Kopfschütteln. Offenbar hatte er seine Kompetenzen überzogen. Der Fortgang ist schnell erzählt. Am 25. Juni 1530 trug der kursächsische Kanzler die Konfession vor. Das dauerte zwei Stunden, wo-
130 bei der Kaiser demonstrativ schlief. Am 3. August erfolgte die altgläubige Antwort, die sogenannte Confutatio oder Zurückweisung, die die Rückkehr zu den ursprünglichen Zuständen forderte. Hauptverfasser war der alte Luthergegner Johannes Eck. Allerdings ist interessant, dass auch er einige der Artikel der CA (1-3, 5, 8-14) für durchaus diskutierbar hält. Ein solches Gespräch verhinderte der Kaiser, da den Protestanten kein Exemplar ausgehändigt wurde. Eine vor allem von Melanchthon 1531 ausgearbeitete Verteidigung, die Apologie, spielte dann keine Rolle mehr. Für den Kaiser war die Sache erledigt. Beim Ende des Reichstags lag Gewalt in der Luft. Dabei war nicht entscheidend, ob es zur Reichsexekution gegen die protestierenden Stände wegen Landfriedensbruch oder „nur“ zur Intensivierung der schon anhängigen Prozesse wegen der Säkularisierungen beim Reichskammergericht kommen würde. Beides bedrohte die junge Reformation in ihren Wurzeln. Luther hatte den Ereignissen nur von der Veste Coburg, dem südlichsten Zipfel der wettinischen Besitzungen, folgen können, da er seit 1521 der Reichsacht unterlag. Die Entfernungen zu Augsburg und die bescheidenen Kommunikationsmöglichkeiten der Zeit führten dazu, dass sich Luther einerseits immer wieder schlecht informiert fühlte, zum Teil durchaus zu Recht, andererseits das Ende der Verhandlungen, von denen er sich grundsätzlich nichts versprach, herbeisehnte. Der Reichstagsabschied, also die schriftlich fixierten Ergebnisse, die dann Gesetzeskraft erlangten, wurde mit dem 19. November 1530 datiert, aber erst zu Beginn des Jahres 1531 in Sachsen bekannt. Verständlich, dass die Spannung vor allem auf der Seite der Protestanten wuchs. Aus ihrer Sicht war die Versammlung eine Niederlage, deren Konsequenzen einer genauen Analyse bedurften. Ein Entwurf des Reichstagsabschieds, der einen Glaubenskrieg gegen die Protestanten unausweichlich erschienen ließ, vom 19. Oktober 1530, drängte zur Lösung der wichtigsten Frage, nämlich eines Verteidigungsbündnisses aller Protestanten. Dabei galt es, Hürden auf zwei Seiten zu überwinden. Zum einen hatten Nürnberg und die Markgrafschaft Ansbach-Kulmbach schon im März kategorisch ein Widerstandsrecht gegen den Kaiser verneint, was Luthers erwähnte Stellungnahme erbrachte, zum anderen hatte der Landgraf in Form einer sogenannten Burgeinung schon ein militärisches Bündnis mit Zürich und den Schweizern abgeschlossen, was Luthers Forderung nach Lehreinheit unter Bündnispartnern zuwiderlief. Aus Sicht der politischen Hauptakteure Hessen und Sachsen hing nun alles an Luthers Haltung, um doch noch zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Das war der Hauptinhalt des Treffens der Wittenberger Theologen mit den sächsischen Räten und Juristen im Oktober 1530 in Torgau. Gleichzeitig versuchte der Landgraf Luther brieflich zu beeinflussen.
2.3 Die Torgauer Wende Über den Verlauf der Verhandlungen vom 26. bis 28. Oktober 1530 in Torgau sind wir schlecht informiert. Insofern passt dieser Vorgang in die eingangs erwähnten Beispiele, gerade auch weil sich eine fundamentale Wandlung vollzog. Offensichtlich legte man Luther, Melanchthon und Jonas einen „zetel“ vor, auf dem die Juristen Präzedenzfälle notiert hatten, unter welchen juristischen Voraussetzungen ein Widerstand gegen den Kaiser möglich sei. Dabei scheint es sich vor allem um Argumente aus dem kanonischen Recht gehandelt zu haben, dessen Gültigkeit Luther energisch bestritten hatte. Sicherheitshalber erfuhren die Theologen aber keine Angaben zu den Quellen. Wenn dies so zutrifft, spielten die sächsischen Juristen von Anfang an nicht mit offenen Karten. Das Resultat der Gespräche bildet eine schmallippige Erklärung der Theologen in Luthers Handschrift: „Denn das wir bisher geleret, stracks nicht widder zustehen der oberkeit, haben wir nicht gewust, das solchs der oberkeit rechte selbs geben. Wilchen wir doch allenthalben zu gehorchen vleissig geleret haben.“13 Vergleicht man dies mit seinem Diktum vom März desselben Jahres: „Aber nach der Schrift will sich in keinem weg ziemen, das sich jemand, wer ein Christ sein will, wider die Obrigkeit setze, Gott gebe, sie tue recht oder unrecht, sondern ein Christ soll Gewalt und Unrecht leiden, sonderlich von seiner Obrigkeit.“, so ist der Unterschied mit Händen zu greifen. Den Juristen war es also gelungen, Luther davon zu überzeugen, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Obrigkeitsbegriff des Apostel Paulus und dem Feudalsystem des Reiches mit seinen Territorialfürsten gebe. Historisch ist dies nicht völlig von der Hand zu weisen. Das Prinzipat des Augustus und seiner Nachfolger stellte ein anderes Verständnis von Herrschaft dar als das vielschichtig abgestufte Untertanengefüge, das zudem durch die Wahlkapitulation Karls von 1519 noch weiter begrenzt wurden. Trotzdem handelt es sich „um eine der erstaunlichsten Wendungen“ in Luthers Denken.14 Dass es Luther und seinen Kollegen selbst nicht recht wohl bei dieser Stellungnahme war, zeigt eine Protokollnotiz direkt nach Abgabe der Stellungnahme, in der weitere Verhandlungen mit dem Kaiser mit erneuerten Friedensbemühungen angemahnt werden. Das aber lehnen die Räte mit dem Hinweis ab, dies würde den Kaiser nur zu einem weiteren gewaltsamen Vorgehen ermutigen, wobei sie dieses Vorgehen in düstersten Farben ausmalten. Um die Torgauer Wende historisch sachgemäß einzuordnen, muss ein subjektiver und ein objektiver Aspekt geschieden bzw. die Sicht der Theologen und die der Politiker getrennt analysiert werden. Luthers Haltung in der Obrigkeitsfrage schon seit 1522 war von seinem Verständnis von Rm 13 geprägt. Widerstand ist keine christliche Option. Der
131 Konflikt mit Thomas Müntzer und der Bauernkrieg, zwei distinkte Vorgänge, die Luther aber als Einheit betrachtete, hatten den Reformator in seinem Bemühen, jeden „Aufruhr“ als widerchristlich zu brandmarken, noch bestärkt. Gleichzeitig musste er jede Vermischung der beiden Regimente, die er gerade der alten Kirche immer wieder vorgeworfen hatte, für seine eigene Position vermeiden. Wenn also seine eigene Obrigkeit, in diesem Fall die kursächsischen Räte, ihm erklärten, hier handele es sich um eine rein säkulare mit juristischen Argumenten zu fassende Angelegenheit, musste sich der Seelsorger und Theologe damit zufrieden geben. Dass ihm dies trotzdem nicht leicht gefallen ist, belegt ein späterer Brief Melanchthons, wonach Luther die Erklärung vom Kanzler Brück förmlich abgezwungen worden war.15 Andererseits konnte Luther später für sich in Anspruch nehmen, mit seiner Torgauer Erklärung nicht die bisherige Linie seiner Ratschläge verlassen zu haben. Inwieweit das objektiv zutrifft, ist bis heute strittig. Aus Sicht der Politik dagegen hatte Luther eine fundamentale Wende vollzogen. Die Räte hatten bei den Verhandlungen in Nürnberg am 11. November nichts Eiligeres zu tun, als Luthers Manuskript im Original den düpierten Nürnbergern vorzuhalten. Unter Federführung von Lazarus Spengler und dem Stadtpfarrer Wenzeslaus Link war man dort nämlich entschlossen, an der Verweigerung eines Widerstands gegen den Kaiser festzuhalten. Gleiches traf auch auf die Vertreter der Markgrafschaft Ansbach-Kulmbach zu. Unter dem Eindruck von Luthers Stellungnahme kamen aber nun Zweifel auf, die Spengler bewegten, mit Luther brieflich Kontakt aufzunehmen. Der bestritt eine inhaltliche Veränderung seiner Position vom März 1530. Stets habe er vom Widerstand gegen den Kaiser abgeraten. Er habe vielmehr zum Abwarten und zum Vertrauen auf Gottes Gnade aufgerufen. So richtig das ist, ändert es doch nichts an der Tatsache, dass Luthers Erklärung, wonach dem Kaiser mit Gründen aus dem weltlichen Recht Widerstand geleistet werden kann, sollte er die protestantischen Stände aus Gründen des Evangeliums angreifen, eine fundamentale Wende eingeleitet wurde. So wurde der Weg nach Schmalkalden frei. Der dort gegründete Bund sollte sich zum wichtigsten politischen Instrument der evangelischen Bewegung in den nächsten Jahren entwickeln. Durch die Anwesenheit von Luther und Melanchthon wurde unmissverständlich nach außen dokumentiert, dort mit dem Segen der Reformatoren gehandelt zu haben. Allerdings waren weder Nürnberg noch Ansbach-Kulmbach von Luthers Haltung überzeugt und traten dem Bündnis nicht bei. 3. Nachgeschichte Die Auseinandersetzungen um Luthers Wende in der Frage des Widerstandsrechts waren jedoch mit dem Bundesschluss nicht beendet. Die Anfra-
gen aus Nürnberg unter der Federführung des Lazarus Spengler und Luthers Antworten darauf belegen, dass unter seinen Anhängern eine gewisse Unruhe in dieser Frage verblieb. Dem suchte der Reformator mit zwei Schriften ein Ende zu bereiten. Seine „Warnung an seine lieben Deutschen“16, die er schon im Oktober 1530 verfasst hatte, die aber erst im April des Folgejahrs erschien, gehört nicht zum Besten, was Luther geschrieben hat. Unklar bleibt schon der Grund für das verzögerte Erscheinen. Die Argumente werden verbos und mit heftiger Polemik gegen die katholische Seite vorgetragen. Mehrfach betont der Autor, er habe seine Position in der Frage des Widerstandsrechts nicht geändert, um dann mit Hilfskonstruktionen genau diesen Widerstand einzufordern. Von entscheidender Bedeutung ist Luther dabei, klar aufzuzeigen, dass ein Abwehrkampf gegen die altgläubigen Stände keinesfalls Aufruhr bedeute.17 Wichtiger noch, niemand, der sich selbst als Christ verstehe, dürfe sich an einer Aggression gegen die Evangelischen beteiligen. Indirekt ruft Luther somit die Untertanen altgläubiger Gebiete zum Bruch ihrer Gehorsamkeitspflicht gegenüber ihrer Obrigkeit auf, ohne dies direkt zu formulieren. Seine Beurteilung des Kaisers als Exponent einer vermuteten anti-evangelischen Front schwankt. Einerseits erscheint der Herrscher als Führer solcher Front, schon weil er den Protestanten die Übergabe der Confutatio verweigert habe, andererseits sieht ihn Luther als Opfer einer gewissenlosen Clique aus römischen Kriegstreibern im Verein mit namentlich nicht genannten Ständen des Reichs. Dabei malt er die Verworfenheit seiner Gegner breit aus. Wer in einen solchen Krieg zieht, bricht seinen Taufeid vor Christus, er macht sich aller papistischen Gräuel mitschuldig und verteidigt die Homosexualität der Kardinäle.18 Allerdings findet er zu einem seiner Haltung angemessenen Schluss: „das ich nicht zu krieg noch auffrur noch gegen were will jemand hetzen,... sondern allein zu friede.“19 Auch die kurz danach erschienene „Glosse auf das vermeintliche Edikt des Kaisers“, die in der Sache kaum neue Argumente bringt, unterstreicht, welche inneren Anstrengungen es Luther kostet, seine neue Haltung zum Widerstandsrecht angemessen an die Öffentlichkeit zu bringen.20 Ironischerweise sollte Luther Recht behalten. Die von den Protestanten befürchtete Reichsexekution trat nicht ein. Der notorische Geldmangel des Kaiser erlaubte keinen Feldzug, die erhofften Subsidien bleiben aus. Zudem regte sich Widerstand innerhalb der altgläubigen Stände gegen eine vermeintliche Stärkung der kaiserlichen Macht. Bayern und die Pfalz suchten nun im Konflikt zu vermitteln, während Luther in immer neuen Anläufen seinen Fürsten zum Frieden und Nachgeben ermutigte. Hinzu kam die sich wieder verstärkende Türkengefahr, die Karl V. zwang, auf die evangelischen Stände Rücksicht zu nehmen. Mit dem Nürnberger
132 Anstand von 1532 konnte zwar kein förmlicher Friedensschluss erreicht werden, aber die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes verringert und durch die Sistierung der Prozesse vor dem Reichskammergericht die ökonomischen Probleme verschoben werden. In seinen Gutachten aus den Jahren 1531 und 1532, in denen Luther seinem Fürsten auch gegen dessen Verbündete mit ihren Maximalforderungen den Rücken stärkte, kam Luther wie nie zuvor oder später um des Friedens willen, der anderen Seite entgegen. 4. Wertung Im Rückblick muss den äußerlich unscheinbaren Verhandlungen in Torgau vom 26. bis zum 28. Oktober 1530 eine welthistorische Bedeutung zugesprochen werden. Unter den obwaltenden Verhältnissen wäre es zumindest dem sächsischen Kurfürsten als dem politisch wichtigsten Vertreter der Evangelischen im Reich gegen das ausdrückliche Votum Luthers nicht möglich gewesen, einem Schutzbündnis der Protestanten beizutreten, geschweige denn es anzuführen. Man hat Luthers Wende als die Einführung eines unangemessenen Primats der Politik über die Religion beklagt. Die Alternative wäre die Unterdrückung des Evangeliums im Reich oder ein Bürgerkrieg wie in Frankreich gewesen. Mit den Kategorien seiner Zwei-RegimenteLehre sah sich Luther aber eben doch in der Lage, theologisch verantwortbar und politisch zielführend zu handeln. Literatur 1 2 3
Der Vortragsstil wurde belassen und nur um die wichtigsten Belege ergänzt. Vgl. Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation, Berlin 1986, S. 150–154. WA 1, 239–247. Vgl. Josef Benzing/Helmut Claus (Bearb.), Lutherbibliographie, Bd. 1, Baden-Baden ²1989, Nr. 90–114.
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Brecht, wie Anm. 1, S. 452. „Offenbar wagte er (sc. der Kaiser) damals nicht, es auf einen Konflikt mit einem so mächtigen Reichsfürsten ankommen zu lassen.“ Zum Folgenden vgl. Gerhard Müller, Luthers Beziehungen zu Reich und Rom, in Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, im Auftrag des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschungen hrsg. Von Helmar Junghans, 2 Bde., Berlin 1983, S. 369–402 und S. 849–860. Immer noch grundsätzlich mit der älteren Literatur ist Eike Wollgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977, besonders S. 165–200. Grundlegend Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, Gütersloh 1977, ders. Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts, Heidelberg 1980. Müller, wie Anm. 3, S. 374. Vgl. BSKL S. XVI f. mit der einschlägigen Literatur. WABr 5, 258, Nr. 1536 vom 6. März 1530. Allerdings ist dies nicht Luthers erste Verwendung. So spielt das Zitat schon in seiner Schrift De instutiendis ministris evangelicis, von 1523 eine Rolle, vgl. WA 12, 160–196, hier 195. WABr 5, 259. Ebenda. WABr 5, 319, 5–8 (Nr. 1568) an Kurfürst Johann. WABr 5, 662. Martin Brecht, Martin Luther, Bd, 2, Berlin (=st) 1989, S. 307. CR 2, 471. WA 30.3, 252–320. WA 30.3., 278 WA 30.3., 303. WA 30.3., 320. WA 30.3, 321–388.
133 Wolfgang Flügel
Die Reformation als Schrittmacher der Erinnerungskultur – eine kurze Geschichte der Reformationsjubiläen Wieder einmal sind Martin Luther und die Reformation allgegenwärtig – dank des Reformationsjubiläums 2017.1 Sicherlich zu Recht: Schon längst ist bekannt, dass die am 31. Oktober 1517 mit dem sogenannten Thesenanschlag heraufgeführte Reformation nicht nur Theologie und Kirche nachhaltig verändert hat, sondern auch Wirkungen besitzt, die außerhalb der religiösen Sphäre von anhaltender Relevanz sind. Protestantische Frömmigkeit formte gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Wahrnehmungsmuster, Wissenschaftsdisziplinen oder habituelle Prägungen. Zugleich reagiert sie auf Veränderungen in diesen Bereichen. Von daher eignet der Protestantismus Deutungskompetenz in einer sich ständig wandelnden Welt.2 Ein bekanntes Beispiel dafür, dass reformatorischer Einfluss außerhalb der Kirchenmauern zur institutionellen Ausprägung sowie zur Stabilität sozialer Strukturen beiträgt, bildet eine kulturelle Praxis, die das Luthertum im 16. Jahrhundert entwickelt hat und die heute zum Grundrepertoire der Erinnerungskultur zählt. Gemeint ist der populäre Brauch, unter dem Zwang der runden Zahl ein Schlüsselereignis der eigenen Vergangenheit zu vergegenwärtigen, kurz: ein historisches Jubiläum zu begehen.3 Damit wird ein doppelter affirmativer Zweck verfolgt. Wie bei jeder Form der Geschichtspolitik geht es zunächst darum, ein zentrales Ereignis der eigenen Geschichte als Symbol zentraler Leitideen zu vergegenwärtigen und im Sinne der Identitätsstiftung die Festgemeinde auf diese Leitideen einzuschwören. Als besonderes jubiläumscharakteristisches Moment tritt die Stilisierung der seit dem Ereignis vergangenen Zeitspanne als Ausweis für Stabilität und Zukunftsfähigkeit hinzu. Die Jubiläumsfeier transportiert nicht nur, dass alle Herausforderungen der Vergangenheit gemeistert wurden, sondern drückt auch einen Zukunftsanspruch aus: Da das Stattfinden des nächsten historischen Jubiläums absehbar erscheint, wird zugleich optimistisch die Fortexistenz der ‚jubilierenden‘ Institution in der Zukunft prognostiziert.
1. Eine kulturelle Wirkung der Reformation – die Erfindung des historischen Jubiläums Anders als im modernen Sprachgebrauch üblich verwies noch im 16. Jahrhundert der Begriff Jubiläum nicht auf die historische Erinnerung, sondern mit dem Sündenstrafablass auf einen heilsgeschichtlichen Aspekt.4 Ursprünglich an kein Zeitintervall gekoppelt, erfolgte diese Bindung mit Einführung des Heiligen Jahres 1300 durch Papst Bonifaz VIII. Seitdem wurde der vorgegebene Jahrhundertrhythmus schrittweise verkürzt, bis im Jahr 1475 der noch heute gültige 25-Jahres-Zyklus etabliert wurde. Damit diese Intervallkonstruktion jedoch für die historische Erinnerung zur Verfügung stehen kann, musste sie von der religiösen Aufladung gelöst werden. Dies stellte einen gravierenden Eingriff in die päpstliche Deutungshoheit dar, der nur außerhalb des katholischen Bereichs gewagt werden konnte. Einen ersten Schritt hierfür leisteten die in Magdeburg tätigen Theologen um Matthias Flacius Illyricus, indem sie mit den Magdeburger Zenturien die erste Geschichtsschreibung vorlegten, die nach Jahrhunderten gegliedert ist.5 Die Bände erschienen seit 1559 bei Johannes Oporinus in Basel und bald darauf mehrten sich die Anzeichen dafür, dass nun zumindest in akademischen Kreisen die Vorstellung an Popularität gewonnen hatte, historische Zeitabläufe nach diesem Raster zu gliedern. So ist es sicher kein Zufall, dass ausgerechnet in Basel ein Glasfenster im Regenszimmer der Universität mit der Jahreszahl 1560 bezeichnet ist, was gleichermaßen auf die Entstehung des Kunstwerkes und die 100. Wiederkehr der Universitätsgründung verweist.6 Bald darauf kam es im universitären Bereich zu ersten Säkularfeiern, als die protestantischen Universitäten Tübingen und Heidelberg 1578 und 1587 – jeweils mit einjähriger Verspätung – ihren 100. bzw. 200. Gründungstag zelebrierten. Wenig später folgten 1602 und 1609 die beiden sächsischen Universitäten Wittenberg und Leipzig sowie weitere Hochschulen diesem Vorbild. Damit war das historische Jubiläum zumindest als Elitenphänomen in der protestantischen universitären Gedenkkultur etabliert.
Der Siegeszug dieser Jubiläumskultur begann mit den Reformationsjubiläen. Ihnen und der Ausbreitung dieses Konstrukts gilt das folgende Interesse. Dabei geraten jene Wechselverhältnisse in den Fokus der Aufmerksamkeit, die zwischen Säkularfeiern und ihrem kulturellen Umfeld bestehen: Wie deuteten die Reformationsjubiläen die Umwelt und umgekehrt wie reagierte der Jubiläumsmechanismus auf Veränderungen in dieser?
2. Populäre Matrixbildung – das Reformationsjubiläum 1617 Am 1. November 1527 schrieb Martin Luther in einem Brief an seinen Vertrauten Nikolaus von Amsdorf, er trinke mit Freunden zum Gedenken darauf, dass auf den Tag genau vor zehn Jahren der Ablass überwunden worden sei.7 Damit lieferte er den ersten Hinweis darauf, dass der sogenannte Thesenanschlag erinnerungswürdig sei, allerdings
134 gingen hiervon keine Impulse für ein besonderes Reformationsgedenken aus. Erst ab Ende 1616 mehrten sich die Stimmen, die auf den 31. Oktober 1517 und die Bedeutung des Jahres 1617 als Jubiläumsjahr der Reformation verwiesen. Eine besondere Rolle fällt hierbei den Wittenberger Universitätstheologen zu.8 Nachdem sie bereits während des Universitätsjubiläums 1602 die Reformation als zweiten, prestigeträchtigen Gründungsakt ihrer Alma Mater stilisiert hatten, starteten sie 1617 die Initiative für ein Reformationsjubiläum und übertrugen damit den Jubiläumsmechanismus auf andere historische Ereignisse. Am 27. März 1617 baten sie die oberste sächsische Kirchenbehörde, das Oberkonsistorium, um die Erlaubnis, am 31. Oktober 1617 ein „primus Jubilaeus christianus“ an der Universität abhalten zu dürfen.9 Als Begründung führten sie an, dass die Kirchenverbesserung ihren Anfang durch „Martinum Lutherum in dieser […] Universität“ genommen habe, wodurch diese zum Entstehungsort des Protestantismus und als neues Jerusalem zu einem Ort geradezu heilsgeschichtlicher Bedeutung avancierte. Es darf zugleich als symbolische Zuspitzung im konfessionellen Streit begriffen werden, dass die Theologieprofessoren das vom Ablassgedanken abgekoppelte Jubiläum gleichsam umgedreht und mit Verweis auf Luthers Ablassthesen historisch aufgeladen haben. Entscheidend für die Popularisierung des Jubiläumsmechanismus war, dass der sächsische Kurfürst Johann Georg I. nicht nur das Vorhaben genehmigte, sondern darüber hinausgehend auch eine landesweite Jubiläumsfeier nach dem formalen Vorbild hoher kirchlicher Feiertage anordnete. Seine detaillierten Vorgaben erstreckten sich gleichermaßen auf die dreitägige Dauer, die Anzahl der Festgottesdienste sowie die hier zu verwendenden Perikopen, Gesänge und Gebete. Sein Oberhofprediger Matthias Hoë von Hoënegg verfasste im Interesse einer größtmöglichen Homogenität der Feier sogar Musterpredigten, die als Druck an die Pfarrer verteilt wurden. Doch weder hier noch in den Anordnungen wurde der Jahrhundertzeitraum begründet! Offenkundig war er nicht zuletzt durch die Jahrhundertwende von 1600 endgültig als feste Größe etabliert.10 Die Vorgaben umsetzend, prägten von Glockengeläut und Festmusik gerahmte Festgottesdienste, feierliche Einzüge in die Kirchen sowie Kinderkatechese die Säkularfeier. Damit war die Blaupause für künftige Konfessionsjubiläen geschaffen. Die vollzogene Ausweitung des Reformationsjubiläums von der universitären Erinnerungsfeier hin zum landesweit begangenen Kirchenfest ist allerdings erklärungsbedürftig. Sie stellt eine Reaktion auf eine politische Gemengelage dar, die gerade in Kursachsen als Krise empfunden wurde. Seit dem Trienter Konzil gewann die katholische Kirche gegenüber dem Protestantismus an Handlungsoffensive. Zusätzlich spaltete sich das evangelische La-
ger in eine lutherische und eine reichsrechtlich nicht anerkannte reformierte Gruppierung. Auch hier geriet das Luthertum ins Hintertreffen, wobei Kursachsen eine ambivalente Stellung einnahm. Es blieb zwar Hochburg des Luthertums, suchte aber seine politischen Interessen im Schulterschluss mit dem katholischen Kaiserhaus durchzusetzen. Dadurch büßte es seine führende Stellung im evangelischen Lager ein: Einerseits beobachteten die lutherischen Reichsstände dieses Verhalten voller Argwohn, andererseits gewann die kalvinistische Kurpfalz Einfluss als Führungsmacht des protestantischem Kampfbündnisses, der Union, der Kursachsen ferngeblieben war. Von dieser Situation war zwar die sächsische Bevölkerung nicht unmittelbar betroffen, jedoch kam es zu einer Krisenstimmung, die von in den Jahren um 1600 gehäuft auftretenden Epidemien und Missernten evoziert wurde. Sie wurden von Theologen in einen Sinnzusammenhang mit der empfundenen Krisensituation des Luthertums gebracht und als Strafe Gottes für menschliches Fehlverhalten interpretiert. In dieser Situation diente das Reformationsjubiläum sowohl dem Kurfürsten als auch dem Oberkonsistorium als Medium der Krisenbekämpfung: Für Johann Georg I. war es erstens ein integratives staatliches Herrschaftsinstrument. Indem er als Inhaber des Summepiskopats das Jubiläum anordnete und selbst daran teilnahm, konnte er seine konfessionelle Zugehörigkeit demonstrieren. Indem er zweitens die Jubiläumsanordnung an alle evangelischen Reichsstände zur Nachahmung verschickte, stilisierte er sich prestigeträchtig zum Schutzfürsten des Luthertums und zielte zugleich auf eine Stärkung des kursächsischen Einflusses auf Reichsebene. In welchem Maße dieser Anspruch auch in protestantischen Reichsständen, die etwa in Hinblick auf das Reformationsjubiläum nicht auf die kursächsische Linie eingeschwenkt waren, Anklang fand, zeigt ein Nürnberger Gedenkblatt von 1617. Neben Martin Luther und den in Sachsen als Kryptokalvinisten verpönten Philipp Melanchthon zeigt es den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. aus der albertinischen Linie ungeachtet des dynastischen Bruches in der unmittelbaren Nachfolge des ernestinischen Kurfürsten Friedrichs III. als Schutzfürsten der Reformation (Abb. 1). Angesichts der Konkurrenzsituation zur Kurpfalz musste dies zusätzliche Bedeutung gewinnen, zumal Friedrich von der Pfalz auf einer Versammlung der Union am 11. April 1617 ebenfalls ein Reformationsgedenken angeregt hatte. Das Oberkonsistorium hingegen nutzte das Reformationsjubiläum für die Vertiefung der konfessionellen Identitätsausbildung: Mit Verweis auf einen Luther, der zum Engel und Werkzeug Gottes stilisiert wurde, sollte den Lutheranern die heilsgeschichtliche Bedeutung der Reformation eingeschärft und ihr Glaubenseifer angestachelt werden. Buße und Gebet sollten Gott zur Abwendung der Strafe be-
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Abb. 1: Georg Troschel: Flugblatt zum Reformationsjubiläum 1617: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur fl VIII 1176
136 wegen. An dieser Stelle traf das theologische Interesse der Theologen auf ein politisches des Kurfürsten. Da Buße als Mittel der Strafabwendung galt, musste es auf den Kurfürsten zurückwirken, wenn dieser seinen Untertanen die Bußübung mit dem Jubiläum anbot. Ging der Bußgedanke von einer negativ gedeuteten Situation aus, so war dem eine zweite Bedeutungsebene des Jubiläums entgegengesetzt: Zentrales Anliegen war es, Gott für die Reformation, die er mit seinem Werkzeug Luther heraufbeschworen hatte,11 zu loben und ihm zugleich für den Schutz des Luthertums vor den seit nunmehr 100 Jahren andauernden Angriffen aller Feinde zu danken. Der Begriff des Jubelfestes, der in fast allen zeitgenössischen Quellen die Bezeichnung Jubiläum ersetzt, verweist auf die Tätigkeit des freudigen ,Jubilierens‘ als die adäquate Form des Danksagens. Damit schloss das Konfessionsjubiläum inhaltlich an jene Lob-, Bet- und Dankfest genannten Kirchenfeiern an, die traditionell anlässlich überstandener Gefahrensituationen landesweit begangen wurden. Zugleich konnte die Säkularfeier mit Hinweis auf das Vorbild der Dankfeiern König Davids legitimiert und gegen das als Pervertierung des alttestamentarischen Jubeljahrs verstandene päpstliche Ablassjubiläum abgegrenzt werden. 3. Ausweitungen des historischen Jubiläums Das Reformationsjubiläum 1617 markiert die Blaupause in einer Traditionslinie, die ungebrochen über die Jahre 1717, 1817, 191712 und 2017 hinweg über die Gegenwart hinaus – so darf optimistisch angenommen werden – weiter in Richtung Zukunft reicht. Dies indiziert eine kulturelle Wirkung der Reformation auf die Erinnerungskultur, die im Folgenden zu hinterfragen ist. Das Interesse gilt dabei der Ausbreitung des Jubiläumsmechanismus innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirchen, die sich z. B. in einer Ausweitung der Anlässe und der verantwortlichen Personengruppen dokumentiert. Damit verbunden war eine Öffnung des Reformationsjubiläums für externe kulturelle Einflüsse. Dadurch wurde die lutherische Jubiläumskultur zum Indikator sozialer Zustände sowie der protestantischen Stellungnahme in der Gesellschaft. 3.1. Neue Anlässe und neue Sinnhorizonte Seit dem 17. Jahrhundert entstanden neue Traditionsstränge in der Jubiläumskultur, als in regionaler und konfessioneller Abstufung weitere Ereignisse der Reformationsgeschichte jubiläumswürdig wurden. So kopierten die Lutheraner während des Dreißigjährigen Krieges mit dem Confessio Augustana-Jubiläum (1630) die Säkularfeier von 1617, ähnlich ordneten verschiedene lutherische Landesherren 1655 ein Konfessionsfriedensjubiläum an. Schon zuvor im Jahr 1624 hatte in Magdeburg der Schulmeister Johannes Blocius die lokale Reformationsgeschichte in seinem Schuldrama „Eusebia
Magdeburgensis“ verarbeitet und damit – vielleicht sogar erstmals überhaupt? – gezeigt, dass auf regionaler Ebene die Einführung der Reformation (in Magdeburg stehen die Predigten Luthers im Juni 1524 für dieses Ereignis) als jubiläumswürdig betrachtet werden konnte.13 Zwar war 1624 in der Elbestadt im Gegensatz zu 1724 wohl noch keine Jubiläumsfeier inszeniert worden, doch begannen bereits wenige Jahre später Städte wie Hannover (1633), Berlin oder Leipzig (beide 1639), aber auch Territorien wie das Kurfürstentum Brandenburg (1639) tatsächlich, Jubiläen zu inszenieren, in denen sie grundlegende Ereignisse der lokalen Reformationsgeschichte vergegenwärtigten.14 Ging es bei den Konfessionsjubiläen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (auch) um eine Krisenbewältigung, so dienten sie nach dem Westfälischen Friedensschluss verstärkt der Apotheose der Dynastie. Beispielhaft hierfür sind das Religionsfriedensjubiläum von 1655 in Kursachsen und in den 1670er Jahren die Jahrhundertfeiern der Konkordienformel, die als Akt symbolischer Konkurrenz zwischen dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg II. und seinem Bruder August, Herzog der Sekundogenitur Sachsen-Weißenfels und zugleich Administrator des Erzstifts Magdeburgs, zu verstehen sind.15 Vor dem Hintergrund, dass die Reformierten vom Religionsfrieden 1555 ausgeschlossen, aber im Westfälischen Frieden 1648 als gleichberechtigte Konfession anerkannt worden waren, trug Johann Georg I. Bedenken, ein Religionsfriedensjubiläum anzuordnen. Doch einmal angeordnet, nutzte er die Feier, um seine dynastischen Vorfahren zu ehren: den „Heldengeist“16 Kurfürst Moritz, der mit dem Passauer Vertrag von 1552 den Religionsfrieden vorbereitet hatte; Kurfürst August, in dessen Regierungszeit dieser Friede geschlossen wurde. Zugleich erfolgte ein Verweis auf seine Nachkommen, die den Fortbestand der Dynastie sicherten. Johann Georg selbst wurde geehrt als der Fürst, dem die besondere göttliche Gnade zuteil geworden war, nach 1617 und 1630 nun bereits das dritte Konfessionsjubiläum angeordnet zu haben. Nach väterlichem Vorbild befahl Herzog August 1655 ebenfalls ein Religionsfriedensjubiläum im Erzstift Magdeburg.17 Aus eigener Machtvollkommenheit inszenierte er am 22. Juni 1675 mit dem Konkordienjubiläum eine Säkularfeier – symbolträchtig orientierte er sich an jenem Termin, an dem der sächsische Kurfürst August den ersten Vorschlag für die Konkordienverhandlungen vorgelegt haben soll (Abb. 2). Die Jahrhundertfeier, die anders als Reformations- und Augustanajubiläum in den folgenden Jahrhunderten bei den MainstreamLutheranern in Deutschland nur in einem Ausnahmefall Wiederholung finden sollte,18 bestand in einer Engführung lediglich aus einem öffentlichen Festgottesdienst mit anschließender Disputation im Dom von Halle (Saale) sowie einem Festmahl in
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Abb. 2: Medaille von Administrator August von Sachsen auf das Jubiläum der Konkordienformel am 22. Juni 1675 Vorderseite (links) und Rückseite (rechts)
der Moritzburg als der Residenz Augusts in ebendieser Stadt. Die Tatsache, dass August zu diesem Ereignis nur Würdenträger aus dem Herzogtum Sachsen-Weißenfels, das anders als Magdeburg erblicher Besitz war, einlud und ihnen die Konkordienformel zur Unterschrift vorlegte, trägt – ebenso wie der Rückgriff auf Kurfürst August – Verweischarakter: Obgleich der beim Ausbau seiner 1657 eingerichteten Sekundogenitur erfolgreiche Herzog ständig von seinem kurfürstlichen Bruder Johann Georg II. als Inhaber der Oberherrschaft gebremst wurde, versuchte er, sich gleichrangig als Souverän zu stilisieren.19 Kein Wunder, dass der Kurfürst mit einem ähnlichen, aber sehr viel aufwändiger inszenierten Konkurrenzjubiläum am 8. Juni 1676 in Torgau konterte: Die Vorbereitung dieser Feier lag nicht wie sonst in den Händen einer geistlichen Behörde, sondern beim Oberhofmarschallamt, das neben Festgottesdienst und Einweihung des Auditoriums im zur Schule umfunktionierten Torgauer Franziskanerkloster ein Festmahl und die Aufführung eines eigens komponierten Theaterstückes plante, in dem der Kurfürst als Glaubensheld verherrlicht wurde. Diese doppelte Entwicklungslinie eines Konfessionsjubiläums hin zum höfischen Fest endete jedoch abrupt, als Magdeburg entsprechend der Bestimmungen von 1648 an Brandenburg fiel, da dessen Regenten als Angehörige der reformierten Konfession die Reformationsfeierlichkeiten ‚kleinhielten‘, und die sächsischen Kurfürsten 1697/1712 zur alten Kirche konvertierten. In der Folge beschworen die Magdeburger Lutheraner in ihrem lokalen Reformationsjubiläum 1724 den Glanz einer glorreichen Vergangenheit. Um neue Zukunftsperspektiven zu gewinnen, luden sie zugleich ihre Niederlage im Kampf um die Reichsunmittelbarkeit und vor allem die Zerstörung von 1631 durch kaiserliche Truppen mit neuem Sinn
auf, indem sie beides zu Wundmalen ihres lutherischen Märtyrertums stilisierten.20 In Brandenburg und Sachsen war hingegen mit der Konversion der Landesherren eine neue Situation entstanden, die dem bisherigen, im Religionsfrieden 1555 festgelegten Grundsatz cuius regio, eius religio diametral entgegengesetzt war. Zwar behielten die Landesherren weiterhin die (formale) Anordnungskompetenz der lutherischen Säkularfeiern, die sie an die Landesbehörden delegiert hatten, sie standen aber nicht mehr als Träger der lutherischen Konfessionsjubiläen zur Verfügung. Diese konfessionelle Diskrepanz prägte die Jubiläumskultur in beiden Ländern: Fortan bildeten die Konfessionsjubiläen für die Lutheraner ein Medium, um gegenüber den Landesherren das Festhalten am eigenen Bekenntnis zu demonstrieren. Mit dieser Aufladung wurde in Kurbrandenburg bereits 1639 flächendeckend die Einführung der Reformation mit Säkularfeiern gewürdigt. Noch stärkere Aufladung erfuhr das Reformationsjubiläum 1717 in Kursachsen. Sowohl die Lutheraner als auch Kurfürst Friedrich August I., der vor allem aus dynastischen Gründen die Konversion der Dynastie betrieben hatte, inszenierten es als Signal des Status quo und der politischen Interessenbalance. Und als 1739 erstmals die Einführung der Reformation in Sachsen mit einem Jubiläum vergegenwärtigt wurde, zeigten insbesondere die Universitätstheologen, dass sie in Glaubensangelegenheiten dem als überzeugten Katholiken geltenden Kurfürsten Friedrich August II. keinen Jota nachgeben würden.21 Fortan bildeten die Konfessionsjubiläen in Sachsen eine zwischen lutherischen Initiatoren und katholischem Landesherren eine immer wieder neu auszuhandelnde Interessenbalance, die angesichts der Verknüpfung von lutherischer Kirche und Landesherrschaft auch deutliche politische Implikationen besaß. Dies verweist auf das allgemeine Phä-
138 nomen, wonach historische Jubiläen als Ausdruck des gesellschaftlichen, politischen und konfessionellen Status quo, als prinzipielles Symbol gegenseitiger Anerkennung zu begreifen sind. Dabei ist sowohl im Misslingen als auch im Erfolg der jeweiligen Jubiläumsfeier ein Indikator dafür zu sehen, in welchem Maß die jeweilige politische Ordnung einer sozialen Akzeptanz unterlag. Vor allem seit dem 18. Jahrhundert erhielt die lutherische Jubiläumskultur neue Facetten, als man biographische Daten als Anlass für Erinnerungsfeiern entdeckte. Dabei zählt Martin Luther zu den ersten historischen Persönlichkeiten, deren Verdienste in einem Personaljubiläum herausgestellt wurden. Nach vereinzelten Vorläufern, etwa Berlin 1646 und Erfurt 1746 anlässlich seines Todestages, galt seit dem 19. Jahrhundert auch sein Geburtstag als jubiläumswürdig. Hinzu trat Philipp Melanchthon: Nachdem ihn etwa die Universität Leipzig und einige wenige Gymnasien in Mitteldeutschland anlässlich seines Todestages 1760 vor allem als Humanisten gewürdigt hatten, fand im 19. Jahrhundert auch dieser im Luthertum oft sträflich vernachlässigte Reformator seinen Platz in der Erinnerungskultur als entscheidender Mitstreiter Luthers und als „Chefkoch der Reformation“.22 Zusätzlich gerieten Johannes Calvin und Huldrych Zwingli in den Sog des Jubiläums- und des bürgerlichen Personenkultes: Das Bürgertum okkupierte die Reformatoren! Bereits im Säkulargedenken des Jahres 1746 wurde Luther als Geistesheld inszeniert, der im göttlichen Auftrag evangelische Freiheit gebracht habe. Verbunden mit Hinweisen auf seine Verdienste um die Kirche wurde damit ein tätiges Christentum propagiert, in dem jeder Beruf an der göttlichen Weltordnung mitzuwirken habe. Deutlich wird die Vorstellung einer tätigen Pflichterfüllung im Einklang mit Gott, die letztendlich auf die in den folgenden Jahrzehnten sich herausbildenden bürgerlichen Vorstellungen vom Wert der Arbeit und des Engagements für das Gemeinwohl verweist. Letztendlich zeigt sich im Gedenken die normierende Steuerungsfunktion des Protestantismus in der formativen Phase des Bürgertums.23 Eine Abwandlung dieser Deutung transportierte das Jubiläum anlässlich des 400. Geburtstages Luthers im Jahr 1883.24 Gleichsam als Zusammenfassung der facettenreichen Lutherbilder des 19. Jahrhunderts galt der Reformator nun als bedeutender Theologe, als Idealtypus des Bürgers, etwas konservativ als Hausvater in einem idyllischen Familienleben, das von den Folgen der Industrialisierung bedroht schien, und vor dem Hintergrund der Reichseinigung unter protestantischem Vorzeichen als selbstbewusster Wegbereiter einer deutschen Freiheit. Seinen bisherigen Abschluss fand der Kanon der dem deutschen Luthertum jubiläumswürdig erscheinenden Anlässe in der ersten Hälfte der 1920er Jahre.25 Fast im Jahrestakt wurden die 400. Jahrestage etwa der Verbrennung der Bulle vor dem
Elstertor, der Übersetzung des Neuen Testaments oder der ,Erfindung‘ des protestantischen Kirchenliedes gefeiert. Mit dieser Jubiläumskulmination versuchte das deutsche Luthertum, erlittene Verluste zu kompensieren: Sie erscheint erstens als Reaktion auf den kriegsbedingten Ausfall der seit Frühsommer 1914 [sic!] geplanten protestantischen Weltfeier 1917, zu der Protestanten aus den USA, Kanada, Australien und den europäischen Nationen in Deutschland zusammenkommen sollten.26 Zweitens verweist sie auf einen Selbstheilungsprozess, in dem die Protestanten um einen Neuanfang rangen. Dieser war notwendig, weil die via Summepiskopat strukturell eng an die monarchische Ordnung gebundenen Protestanten mit Ende des Kaiserreichs ihre alte Verfasstheit verloren hatten. Mit Verweis auf die für 1917 geplante Weltfeier der Reformation sei zugleich angemerkt, dass die protestantische Jubiläumspraxis schon längst die deutschen Grenzen übersprungen hatte. Bereits das Reformationsjubiläum 1617 fand in England ein Echo: Im Folgejahr erschien in London eine Übersetzung der kursächsischen Jubiläumsanordnung im Druck, die allerdings allem Anschein nach nicht zum Ausgangspunkt einer anglikanische Jubiläumskultur geworden ist.27 In Skandinavien kann spätestens mit der Säkularfeier der Synode von Uppsala (1693) auf eine Jubiläumskultur verwiesen werden, in der Schwedens Lutheraner Reformation und eigene Nation affirmativ zusammenbanden. Für den Transfer des Jubiläumsgedankens könnten Kontakte mit Deutschland gesorgt haben – so hatte Axel Oxenstierna, schwedischer Kanzler und Universitätskanzler in Uppsala, während seines Studiums in Wittenberg das Universitätsjubiläum von 1602 erlebt, weiterhin war der Schwedenkönig Gustav II. Adolf mit seinem Heer pünktlich zum Augustana-Jubiläum im Juni 1630 an der pommerschen Küste gelandet. Für den Jubiläumstransfer in die USA sorgten schließlich deutsche Auswanderer wie die an den Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) ausgebildeten Pastoren Justus Henry Christian Helmuth und Frederick Henry Quitman. Sie initiierten mit dem Reformationsjubiläum 1817 das erste bislang bekannte historische Jubiläum in Nordamerika, das in breiter Öffentlichkeit inszeniert worden war.28 Da um 1800 die Lutheraner in den USA fast ausschließlich deutsche Migranten waren und somit eine religiöse und ethnische Minderheit formierten, war es für deren Identitätsbildung von Bedeutung, dass die Reformationsvergegenwärtigung einerseits auf die ethnischen und religiösen Wurzeln der Gemeindeglieder abzielte, andererseits einen Brückenschlag zwischen alter und neuer Welt bildetete. Dadurch erfüllte die Säkularfeier im Akkulturationsprozess eine doppelte Funktion: Einerseits lebten die deutschen Lutheraner zumeist schon in der dritten Generation in Amerika. Sie hatten sich gleichermaßen
139 sozial ausdifferenziert und dabei in englischsprachige German Lutherans und deutschsprachige deutsche Lutheraner aufgespalten. Der Verweis auf die gruppenspezifische lutherische Vergangenheit in Deutschland wirkte hier über soziale und sprachliche Binnengrenzen hinweg innerhalb der Gruppe homogenisierend. Andererseits wurde die Reformationsgeschichte in Deutschland antizipierend auf die Gemeinden in Amerika bezogen und vor dem Spiegel der eigenen Erfahrungen in der neuen Heimat ausgedeutet. Hiervon ausgehend konnten die Lutheraner für ihre Glaubensgruppe eine positive Geltungsbehauptung für Gegenwart und Zukunft ableiten. In dem Kontext konnten sie außerdem die neue amerikanische Heimat im Sinne einer Zivilreligion zum neuen ,gelobten Land‘ stilisieren, zu dessen Genese wesentlich auch ihre lutherische Frömmigkeit beigetragen habe. All dies half ihnen, ihren Platz in den USA positiv auszudeuten.29 Indizieren diese innerprotestantischen Entwicklungslinien eine hohe Anpassungsfähigkeit des Jubiläumsmechanismus an seine Umgebung, so liegt die wohl bedeutendste kulturelle Leistung, die der Protestantismus für die Gedenkkultur vollbracht hat, darin, diesen Mechanismus profaniert, d. h. ihn für nichtkirchliche Institutionen adaptierbar gemacht zu haben. Wegbereiter und Multiplikatoren waren jubiläumserprobte Theologen, die schon im 17. Jahrhundert ihre Amts- und Ehejubiläen zelebrierten, sowie die dem universitären Milieu nahe stehenden lutherischen Buchdrucker, wie z.B. Timotheus Ritzsch in Leipzig. Das Selbstverständnis dieser Berufsgruppe war geprägt von der Vorstellung, der um 1440 erfundene Buchdruck mit beweglichen Lettern habe entscheidend zur Ausbreitung der Reformation beigetragen. Mit Verweis auf diesen Sachverhalt und den Umstand, dass dies in den Säkularfeiern 1617 und 1630 kaum Würdigung gefunden hatte, initiierte sie deshalb 1640 ein Buchdruckerjubiläum. Im kulturellen Umfeld dieser gelehrten protestantischen Stadtbürger fiel schließlich die Entscheidung, den Jubiläumsmechanismus auf Ereignisse der kommunalen Geschichte zu übertragen, pars pro toto sei an die Erzgebirgsstadt Annaberg erinnert, die 1696 das erste bislang bekannte städtische Gründungsjubiläum beging. Am deutlichsten zeigt sich jedoch die kulturelle Prägekraft dieser protestantischen Erfindung darin, dass sie unter dem Druck der konfessionellen Konkurrenz auch Eingang in die katholische Kirche fand. Den Anfang machten ausgerechnet die Jesuiten, die 1617 und 1630 auf das heftigste gegen die lutherischen Säkularfeiern polemisiert hatten, indem sie im Jahr 1640 die 100. Wiederkehr der Ordensgründung feierten. Diesem Beispiel folgten in der zweiten Jahrhunderthälfte weitere Orden und Bistümer, die der vergleichsweise jungen evangelischen Kirche ihre oft 1000-jährige Geschichte gegenüberstellten und hieraus Geltungsbehauptungen ableiteten. Diese katholische Übernahme ist
umso bemerkenswerter, da, wie bereits erwähnt, mit dem Heiligen Jahr die eigene auf den Ablass verweisende Jubiläumstradition ungebrochen fortexistiert, die mit der evangelischen Neuschöpfung nicht viel zu tun hat. In welchem Maße auch hier eine konfessionelle Konkurrenz zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Jubiläumsgattungen besteht, zeigt sich wohl darin, dass Papst Johannes Paul II. zeitlich überlappend zum 500. Geburtstag Luthers ein Außerordentliches – d.h. nicht dem 25-Jahres-Zyklus unterworfenes – Jubiläum der Erlösung (Gründonnerstag 1983 – Ostersonntag 1984) ausgerufen hatte und Papst Franziskus dem Reformationsjubiläum 2017 ein Jubiläum „Misercordiae“ (vom 8. Dezember 2015 bis zum 20. November 2016) als außerordentliches Heiliges Jahr entgegengestellt hat. Dessen Beginn verweist zwar auf das Ende des Zweiten Vatikanums 50 Jahre zuvor, allerdings steht nicht die historische Erinnerung, sondern die vorbehaltlose Barmherzigkeit Gottes im Mittelpunkt (Abb. 3).
Abb. 3: Jubiläumskalender für das außerordentliche Heilige Jahr der Barmherzigkeit 2016
3.2. Anlagerungen an das Reformationsjubiläum Zeitgleich mit der vom Reformationsjubiläum ausgehenden Expansion des Jubiläumsmechanismus nach ,Außen‘ vollzog sich dessen ,innere‘ Ausweitung. Dieser auf die Trägergruppen und die Inszenierungen abzielende Prozess ist ein Indikator für den Grad der Teilhabe der Bevölkerung am öffentlichen Leben und zugleich für eine „Verbürgerlichung“30 der Jubiläumskultur. Wie bereits gezeigt wurde, konnten zwar schon im 17. Jahrhundert städtische geistliche Behörden lokale Reformationsjubiläen anordnen, aber aufgrund der landesherrlichen Anordnungshoheit der lutherischen Jubiläen konzentrierte sich die Zugriffsmöglichkeit der Bevölkerung vor allem auf die Jubiläumsinszenierungen, die zunehmend ein Feld der städtischen Kommunikation und Öffentlichkeit wurden. Dabei dehnte sich der Festraum von seinem ,Kernbereich‘, den Kirchen, auf den gesamten städtischen Raum aus und zeigte Inszenierungsfor-
140 men, welche die städtische Festkultur von der höfischen Sphäre übernommen hatte. Pars pro toto sei auf den feierlichen Einzug zum Festgottesdienst verwiesen. War ein solcher im 17. Jahrhundert dem Landesherrn und seinen Behörden, einigen höheren städtischen Amtsträgern und den Universitäten vorbehalten, so entstand daraus schrittweise ein Festzug, an dem im 19. Jahrhundert in festgelegter, der sozialen Rangordnung entsprechenden Abfolge ein Großteil der Bevölkerung teilnahm. Damit korreliert, dass neben der lokalen Geistlichkeit zunehmend bürgerliche Vereine und Festkomitees in die Jubiläumsorganisation eingebunden wurden. Zusammen mit der Ausbreitung der Festzüge drang ein ephemerer Festschmuck vom Kircheninneren in den öffentlichen Stadtraum vor. Zu emblematischen Sinnbildern an Wohngebäuden, mit denen die Bürger Stellung zur Reformation und der gegenwärtigen Situation bezogen, kam, wie in Wittenberg 1755, vereinzelt Feuerwerk hinzu (Abb. 4). Die Krönung der Inszenierungen wurde schließlich mit der Lutherfeier 1883 erreicht. Das Bild bestimmten feierliche Grundsteinlegungen für Luther-Kirchen oder Luther-Denkmäler, die vom zeitgenössischen Bürgertum überaus beliebten historischen Festzüge mit ihren szenischen Geschichtsdarstellungen und vor allem Illuminationen. Den mit Abstand größten Finanzposten im Etat der
Dresdner Säkularfeier 1883 bildete die Beleuchtung der Frauenkirche. Bei einem Gesamtetat von insgesamt 18.000 Mk. waren hierfür 10.000 Mk. veranschlagt.31 In diesen Inszenierungen und ebenso in den Geschenken zahlreicher Bürger an die Kirchen, z. B. Altargeräten oder Reformatorenporträts, verband sich im Sinne des Kulturprotestantismus bürgerliche Repräsentation und Bekenntnis zum Luthertum zu einem symbolisch aufgeladenen Amalgam.32 Die politische Brisanz dieser Symbolik zeigte sich in aller Schärfe 1830, als das Augustana-Jubiläum in Leipzig und Dresden in Aufruhr endete und den Fanal für jene Umwälzungen bildete, die in Sachsen zur Einführung der Verfassung 1831 führten. Die Unruhen brachen aus, weil seitens der verantwortlichen Lokalbehörden eine repräsentative Ausgestaltung der Säkularfeier unterbunden wurde. Doch das in der Ära der Restauration und des Vormärz aus politischen Gründen erfolgte Verbot eines studentischen Umzugs in Uniformen der Burschenschaften in Leipzig oder der mit der konfessionellen Neutralität begründete Verzicht auf eine Illumination des Rathauses in der Residenz stießen bei der mit den politischen Verhältnissen unzufriedenen lutherischen Bevölkerung nicht auf Akzeptanz. Sie sah sich um eine öffentliche Demonstration des eigenen Selbstbewusstseins betrogen und inter-
Abb. 4: J. M. Höroldt: Feuerwerk in Wittenberg zum Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens 1755, Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur ss 3415
141 pretierte den angeordneten Verzicht auf eine aufwendige Feier als Rücksichtnahme auf den katholischen Landesherrn und damit als Angriff auf die eigene Konfession. Der vorläufige Frieden wurde erst wieder hergestellt, als in einer Ersatzfeier am 31. Oktober 1830 das Bürgertum die geforderte Teilhabe an der Feiergestaltung erhielt.33 Mit der Zunahme der aufwendigen Inszenierungen entwickelte sich zugleich ein Phänomen, das noch in der Gegenwart das Bild öffentlicher Feiern stark prägt und das den Feieranlass zuweilen überdeckt: Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 1817 konnte die Leipziger Polizei noch verhindern, dass ein geschäftstüchtiger Bäcker seine Kuchen mit reformatorischer Symbolik verzierte. Doch schon 1839 nutzten Gastwirte Illuminationen mit Luthersymbolen, um für ihre Unternehmen zu werben und zum Lutherjubiläum anlässlich des 400. Geburtstags des Reformators 1883 bestimmten kommerzielle Interessen längst das Jubiläumsbild: Die Tageszeitungen druckten Annoncen etwa für „Luther-Attrappen [fett im Original] (Luther stehend auf dem Postament) gefüllt mit Pralinees [fett im Original] oder Schokolade [fett im Original], reizende Nippesfigur …“.34 Von hier aus lässt sich eine Entwicklungslinie bis in das Jahr 2017 ziehen: Martin Luther gibt es nun als Playmobil-Figur, als Räuchermännchen oder als Quietsche-Entchen für die Badewanne. Zudem ziert sein Porträt Magnete, die sich zumeist auf Kühlschranktüren wiederfinden, und er ist Held in einigen Heften des zumindest im Osten Deutschlands schon seit Generationen populären Comics „Mosaik“. Mit dieser Form der Kommerzialisierung, die auch andere Jubilare erfasst hat, korrespondiert, dass die Konfessionsjubiläen seit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes auch zu einem touristischen Ereignis geworden sind: Schon 1839 reisten dank der dezentralen Durchführung der Säkularfeiern Abordnungen des Rates und der Studentenschaft von Leipzig nach Dresden, und 1883 vermieteten Wohnungsinhaber Sitzplätze auf ihren Balkonen, von denen ein besonders guter Blick auf die Festzüge möglich war. In der Geschichte der reformatorischen Jubiläumskultur markiert die Säkularfeier 1917 auch in inszenatorischer Hinsicht einen Bruch. Grund zum Jubel war nicht vorhanden. Angesichts der geplatzten Weltfeier und der Kriegsfolgen, die seit dem Steckrübenwinter 1916/17 zunehmend die Zivilbevölkerung betrafen, kursierte die Idee, die eigentliche Jubiläumsfeier im Jahr 1921 – anlässlich des Auftritts Luthers in Worms 1521: „Hier stehe ich ...“ – nachzuholen und das Reformationsjubiläum lediglich als ein Vorgedenken zu verstehen.35 Diese Idee wurde zwar fallengelassen, aber kriegsbedingt wurden die aufwändigen Festformen ersetzt durch eine Flut von Publikationen, von Luther-Biographien über lokalhistorische Untersuchungen zur Reformationsgeschichte bis hin zu Abhandlungen zu
früheren Reformationsjubiläen, die vielleicht auch als Kompensation für die schlichte Feier der zeitgenössischen Gegenwart dienten. Oftmals wurden in diesen Drucken Durchhalteparolen verbreitet. Die doppelte Strategie bestand darin, erstens unter Rückgriff auf den Reformator den Krieg religiös aufzuladen, um so die sinkende Kriegsbegeisterung zu kompensieren sowie Durchhaltewillen und Siegeszuversicht zu generieren. Pars pro toto kann auf den Leipziger Historiker Erich Brandenburg verwiesen werden: Luther „hat den deutschen Geist befreit von der Vorherrschaft einer fremden Gefühlsund Gedankenwelt; wir müssen unser Volk, und damit auch die Erhaltung seiner geistigen Eigenart, verteidigen gegen den Versuch gewaltsamer Erdrosselung durch militärische und wirtschaftliche Machtmittel. Und so klingt uns Luthers mächtigstes Kampflied, obwohl es geistlich gemeint war, gerade heute als eine Mahnung auch für den weltlichen Streit, als stärkender Zuruf eines unserer größten Männer […]: ‚Und wenn die Welt voll Teufel wär / Und wollt uns gar verschlingen / so fürchten wir uns nicht so sehr: / es soll uns doch gelingen.‘“36 In diesem Sinn zeigt eine Postkarte einen ‚heroischen‘ Luther, der hammerschwingend in einer eigenartigen Doppelung einerseits die Züge des germanischen Gottes Thor annimmt, andererseits in Beziehung zu Erzengel Michael gesetzt wird (Abb. 5).
Abb. 5: Karl Bauer: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“, Erinnerungskarte zum Reformationsjubiläum 1917: Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur 4° XIII 8453
142 Hier schließt sich der Kreis, insofern dieser Bezwinger des Teufels Schutzpatron der Deutschen war und deshalb als Monumentalfigur am 1913 geweihten Leipziger Völkerschlachtdenkmal Platz gefunden hat. Von der Beschwörung der Kampfbereitschaft ausgehend konnte als zweite Lutherdeutung dessen Frömmigkeit mit einem deutschen Siegesglauben verschränkt werden: Glauben erschien so als Voraussetzung für den Sieg! Ein Beispiel dafür lieferte Emil Meißner, Schuldirektor in Kreischa, in seinem Schultheaterstück „Am Lutherstein“:37 Bereits im Prolog wird Luther als „großer Gottesstreiter“ charakterisiert und als solcher aufgefordert: „Zeige uns den Weg zum Siege: / Gottvertrauen führt zum Ziel; / Daß wir zagen nicht im Kriege / Bringt er auch an Leiden viel.“ Und weiter: „Luther, zieh durch deutsche Gauen; / Laß uns deines Geistes sein, / Daß wir deinen Glauben schauen, / Mit ihm siegen wir allein!“ Im Anschluss treten nach und nach Charaktere auf, die in ihrer Gesamtheit den Querschnitt der deutschen Bevölkerung darstellen. Sie verweisen auf Luthers Werk und erläutern, mit welchen Strategien sie in der Kriegssituation am Luthertum festhielten, um daraus Trost und Zuversicht zu generieren. So erzählen „2 feldgraue Krieger“, sie hätten während des Kampfes aus dem Lutherlied „Ein feste Burg“ Trost, Kraft und Zuversicht geschöpft, wobei das Lied zur Siegeshymne wurde: „Das deutsche Heer, das siegerprobte/ Drang vor mit diesem Luthersang.“ – Erscheint damit subkutan mangelnde Glaubensbereitschaft als verantwortlich für den festgefahrenen Krieg? Freilich gab es neben dem gefährlich national überzeichneten Luther zeitgenössisch weniger populäre Alternativen. Ernst Troeltsch etwa verwarf die Gleichsetzung von Luthertum und Deutschtum als Verfälschung von Luthers Anliegen und führte, sich vom Menschen Luther abwendend, den Reformator auf seine theologische Bedeutung zurück. Ähnlich artikulierten sich auch die Theologen aus dem Umkreis der für die liberalprotestantische Theologie bedeutenden „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“, etwa Martin Rade, Otto Scheel, Karl Holl oder Emanuel Hirsch.38 Doch diese Entwicklungslinien konnten erst ab 1921 in der sogenannten Luther-Renaissance modifiziert weiterwirken.39 Eine ähnlich gedrückte Stimmung wie 1917 prägte auch ein knappes Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Gedenken zu Luthers 400. Todestag im Februar 1946. Materielle Not legte ebenso eine ,stille‘ Feier nahe wie deren zentrale Fragestellung nach der eigenen Schuld und dem Sinn lutherischer Theologie für die Gegenwart.40 Die Antworten fielen nicht eben leichter, nachdem v. a. die angelsächsische Lutherrezeption, aber auch Thomas Mann, der 1917 in der Reformation noch „ein Ereignis von echter deutscher Majestät“ erblickt hatte, überaus problematisch eine direkte kausale Entwicklung von Luther hin zu Adolf Hitler behauptet hatten.41 Das Schuldbewusstsein, das
seitdem das Selbstverständnis des deutschen Luthertums mit geprägt hat, findet wohl einen Nachhall im Reformationsjubiläum zum 450. Jahrestag der Thesenpublikation 1967 und zu Luthers 500. Geburtstag 1983. Beide zeigen ein ambivalentes Bild: Einerseits waren zahlreiche, v.a. westdeutsche Vertreter der protestantischen Kirchen etwa mit Hinweisen auf eine mit dem Vaticanum II. vollzogene (partielle und temporäre?) Öffnung der katholischen Kirche gegenüber dem Protestantismus oder auf Luthers Äußerungen gegenüber den Juden verunsichert und verlegen, was und ob denn überhaupt gefeiert werden solle. Andererseits trugen wissenschaftliche Konferenzen, Ausstellungen und Filme Luthers Reformation – in welchen Facettierungen auch immer – in die breite Öffentlichkeit. 3.3. Grenzen Spätestens 1917 stellte sich den Zeitgenossen die Frage nach der Wirkmächtigkeit des Reformationsjubiläums. Dass ausgerechnet katholische Stimmen die Stilisierung Luthers zum Nationalheros nachvollzogen hatten, belegt, dass die Melange aus Propagandaschlacht und Kriegserfahrung tatsächlich eine gewisse affirmative Wirkung entfachen konnte.42 Aber dies war nur eine Seite der Medaille: Unverkennbar generierte das Übermaß zugleich eine gewisse Luthermüdigkeit, ja sogar Abscheu. Pastor Kuno Fiedler aus Oberplanitz bei Zwickau, der zeitweise zum engeren Freundeskreis von Thomas Mann gehörte, schrieb: „die plump-groteske und so unendlich ermüdende Verherrlichung, Verehrung und Anbetung des großen Kirchenvaters unserer Religion“ habe ihn an Luther und seiner Kirche irrewerden lassen. In einer Überreaktion, mit der er dem Reformator ebenso wenig gerecht wird, wie das 1917 populäre Lutherbild, warf er dem Wittenberger Theologen vor, dieser habe sich an Gottes Stelle gesetzt, die Religion an den Staat ausgeliefert und sie damit verbürgerlicht, nationalisiert und militarisiert.43 Doch das Paradebeispiel für das affirmative Scheitern von historischen Jubiläen liefern die in der DDR von der marxistische Staatspartei, der SED, aufwendig inszenierten Säkularfeiern zum 500. Geburtstag Luthers 1983.44 Dabei knüpft sich an die Analyse des Scheiterns die Frage nach den Voraussetzungen dafür, dass ein historisches Jubiläum seine Stabilitätsbehauptung einlösen kann. Dass die protestantischen Kirchen in der DDR mit einem historischen Jubiläum ihre eigene Geschichte vergegenwärtigten, erscheint als selbstverständlich. Ziel war es, angesichts der schwierigen Situation der Christen in der DDR, deren Selbstbewusstsein zu stabilisieren und das Verhältnis zum atheistischen Staat erträglicher zu gestalten. Erklärungsbedürftig ist jedoch, dass die SED ebenfalls ein eigenes Lutherjubiläum 1983 inszenierte und damit Luther für ihre Zwecke entstaubte und auf den Sockel stellte – nachdem sie wie auch die Kirchen
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Abb. 6: Matthias Klemm: Beitrag zu einem Jubiläum – Besinnungsplakat zum Luther-Jahr 1983: Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur grfl XVII 11516 Strehle Nr. 1
bereits 1967 eine Säkularfeier zum 450. Jahrestag der Reformation veranstaltet hatte (Abb. 6). Geplagt von einem chronischen Akzeptanzdefizit verfolgte sie mit diesen Säkularfeiern die Absicht, dem In- und Ausland ein tolerantes Regime zu suggerieren, auch um damit die der SED-Propaganda überdrüssigen DDR-Bürger wieder ihrer Herrschaft unterzuordnen zu können. Offenkundig hatten zumindest einige Kreise in der SED-Führung erkannt, dass hierfür das kommunistische Geschichtsbild ungeeignet war, weshalb sie mit Zugriff auf Luther, den Preußenkönig Friedrich II. oder Bismarck versuchten, eine national gefärbte Tradition mit Bezug zum DDR-Territorium zu etablieren. Nun lagen zwar fast alle Reformationsstätten auf DDR-Gebiet, dennoch geriet die SED mit dem Lutherjubiläum in eine Jubiläumsfalle: Während keine soziale Gruppe in der DDR existierte, die für ihre Identitätsbildung auf den Hohenzollernkönig oder den Reichskanzler zurückgriff, verwiesen Luther und Reformation auf eine Institution, in der die SED ihren ideologischen Hauptgegner erblickte. Aus diesem Grund erfuhren beide auch bis zum Ende der DDR eine Negativzeichnung. Mit dem Ziel, den kirchlichen Einfluss in der Gesellschaft zurückzudrängen, ließ die SED die Schulen und Massenmedien die traditionelle Vorstellung kommunistischer Vordenker verbreiten, Luther sei Fürstenknecht und Bauernverräter gewesen. Abstriche gab es lediglich bei der Reformation, die von führenden DDR-Historikern seit den 1960er
Jahren positiver – wenngleich aufgrund der Ausblendung des christlichen Kerns fragwürdig – als frühbürgerliche Revolution gedeutet und so für das offizielle Geschichtsbild okkupiert werden konnte. Demnach lag eine zwingende Voraussetzung für die Lutherehrung der DDR in einer radikalen Umdeutung Luthers. Vorgenommen von den Historikern des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR dokumentierte sich diese in den 15 „Thesen über Martin Luther“. Im Jahr 1981 zunächst in der SED-Zeitschrift „Einheit“ erschienen, galten sie vielen DDR-Bürgern als Hoffnungsschimmer dafür, dass die SED zumindest in engem Rahmen gesellschaftliche Pluralität tolerieren würde. Damit korrespondiert, dass die SED, weil sie angesichts der Zielsetzung ihrer Lutherehrung bei der Jubiläumsfrage auf eine Zusammenarbeit mit den Kirchen angewiesen war, diesen zunächst relativ freie Hand bei der Vorbereitung ihres Lutherjubiläums ließ. Subkutan mag hierbei eine Rolle gespielt haben, dass die Kirchen 1967 kurz davor waren, ihre Drohung zu erfüllen und die eigene Säkularfeier aufgrund massiver Behinderungen seitens der SED45 abzusagen, die internationale Öffentlichkeit darüber zu informieren und die SED so zu desavouieren. Die Staatspartei hatte dies nur durch Zugeständnisse in letzter Sekunde verhindern können. Die mit den Thesen angedeutete Abkehr vom traditionellen Geschichtsbild und die offizielle Kooperation des Staates mit den Kirchen bei der Jubiläumsvorbereitung führten bei den meisten SED-Genossen aller Hierarchieebenen zu Unruhe. Aus Furcht vor einer Übernahme neuer Werte zu Lasten des absoluten Machtanspruchs versagten sie dem neuen, nur von einem kleinen Teil der SED getragenem Lutherbild die Akzeptanz. Stattdessen demonstrierten diese konservativen SED-Kreise, dass sie keinesfalls bereit waren, jene Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung Andersdenkender, die sie mit ihrer Lutherehrung demonstrieren wollten, in ihrem Herrschaftsbereich zuzulassen. Dies zeigt sich in der anhaltenden Benachteiligung von Christen im öffentlichen Leben oder im harschen Auftreten der Staatsmacht gegenüber der (kirchlichen) Friedensbewegung. Dieser Widerspruch zwischen Symbolizität der staatlichen Jubiläumsveranstaltungen inklusive der aus propagandistischen Gründen gezeigten Akzeptanz gegenüber dem kirchlichen Jubiläum auf der einen und der Alltagspraxis auf der anderen Seite schreckte die umworbenen NichtGenossen ab. Zumal die Christen, die dem staatlichen Jubiläumsvorhaben von Anfang an misstrauisch gegenüberstanden, fühlten sich in ihrer Negativhaltung gegenüber der SED bestätigt. Das staatliche Lutherjubiläum konnte trotz aufwändiger Inszenierung keine affirmative Wirkung erzielen. Hinzu kam, dass die SED-Führung, um die eigene Klientel wieder fester an sich zu binden, sich selbst
144 Konkurrenz machte und äußerst kurzfristig ein Konterjubiläum zur eigenen Lutherehrung inszenierte: Im Herbst des Jahres 1982 rief sie für 1983 ein Karl-Marx-Jahr anlässlich dessen 100. Todestages aus. In diesem Zusammenhang ordnete Chefideologe Kurt Hager „propagandistische Großveranstaltungen“ an, „um breite Kreise der Bevölkerung der DDR und besonders der Jugend noch gründlicher mit den Lehren des Marxismus-Leninismus vertraut zu machen und eine weite Verbreitung der Werke von Marx zu gewährleisten.“46 Damit signalisierte die SED die Rückkehr zu jenen alten ideologischen Mustern und Verhaltensweisen, die eigentlich überwunden werden sollten. Die Bevölkerung reagierte mit einem ebenso verbreiteten wie subversiven Wortspiel: Luther feiert seinen 500. und Marx ist seit 100 Jahren tot. Abgesehen von dem subversiven Wortspiel um den Gegensatz vom Geburtstag des Kirchenmannes und dem Tod der kommunistischen Identifikationsfigur erfolgte hier zugleich eine Anspielung auf die Dignität des Alters, wobei erneut der Reformator im Vorteil war. Pointierter kann das Scheitern der SED im Jahr 1983 nicht zum Ausdruck gebracht werden. Luther war mehr als Marx in aller Munde, Genossen und Nicht-Genossen zeigten sich gleichermaßen misstrauisch gegenüber der SED-Führung und anstelle die Christen an sich binden zu können, gewannen die in ihrem Jubiläum die Missstände thematisierenden und sich dadurch der staatlichen Vereinnahmung entziehenden Kirchen als Oppositionsfaktor an gesellschaftlichem Einfluss. Die Jubiläumsfeier zeigte damit in aller Deutlichkeit, in welch geringem Maß die politische Ordnung der SED-Herrschaft sozialer Akzeptanz unterlag. 4. Zeitverständnis Die im historischen Jubiläum verwendeten Zeitkategorien ,Vergangenheit‘ und ,Zukunft‘ sind als soziale Konstrukte einem Entwicklungsprozess unterworfen.47 Daher stellt sich abschließend die Frage nach den Veränderungen, die daraus für den Jubiläumsmechanismus resultieren.48 Bereits das erste Reformationsjubiläum 1617 besitzt einen retrospektiven Blickwinkel. Demgegenüber fehlt der Optimismus einer langfristigen innerweltlichen Zukunftsperspektive. Verantwortlich dafür ist die Deutungsautorität, welche die Theologen der Bibel auch für ihre Gegenwart zuschrieben und deshalb die Reformation zur göttlichen Heilstat in kausalen Zusammenhang stellen konnten. Das bedeutet aber auch, dass sie alle apokalyptischen Vorzeichen der Offenbarung in der Reformation erfüllt sahen. Aufgrund dieser eschatologischen Naherwartung zielte die Stabilisierungsleistung der Säkularfeiern 1617 auf den Gegenwartshorizont: Die Lutheraner sollten bestärkt werden, im Interesse ihres Seelenheils am Glauben festzuhalten. Damit besaß das Reformationsjubiläum 1617 theologisch motivierten Memorialcharakter.
Eine Weichenstellung markiert der beginnende Wandel von einer auf theologischen Modellen fußenden Zeitauffassung hin zu einer naturwissenschaftlich-philosophischen. Er zeigt sich z. B. in der – vergeblichen – Initiative des Torgauer Superintendenten Paul Hofmann, 1680 mit einer Säkularfeier das Konkordienbuch zu vergegenwärtigen. Hierfür argumentierte er, dass 1680 nicht nur 100 Jahre seit dessen Vollendung, sondern auch 125 Jahre seit dem Augsburger Religionsfrieden und 150 Jahre seit der Übergabe der Confessio Augustana vergangen waren. Mit dieser Zusammenfassung verschiedener Zeitintervalle reflektierte er unbewusst das Gedankengut z. B. von Isaac Barrow und Gottfried Wilhelm Leibniz, wonach die Zeit in strenger, wertneutraler, unendlich andauernder Gleichförmigkeit verläuft. Ihre einzelnen Augenblicke bilden wie Punkte auf einer Geraden eine stetige Folge und können somit beliebig unterteilt werden. Diese Vorstellung der mathematischen Eigenschaften der Zeit – und vielleicht auch die pietistische Hoffnung auf bessere Zeiten – öffnete den Weg für die Etablierung einer innerweltlichen Zukunftsperspektive im historischen Jubiläum. Entscheidend hierfür war, dass aufgrund der im 18. Jahrhundert nunmehr 200-jährigen Eigengeschichte des Luthertums die Säkularfeiern der Jahre 1717, 1730 und 1755 symbolische Wiederholungen ihrer Vorgängerfeiern darstellten. Diese Rhythmisierung einerseits und der für die Festgemeinde positiv ausfallende Vergleich ihrer Gegenwart mit der Situation des Luthertums während des Vorgängerjubiläums andererseits generierte die Forderung, nach abermaligem Verlauf eines Säkulums erneut eine Säkularfeier zu begehen. Eine zusätzliche Stärkung erfuhr die Vorstellung einer positiven Entwicklungslinie im Jahr 1755, als die Festgemeinde im Rückblick auf die seit 1717 und 1730 persönlich erlebte, so glücklich verlaufene Zeit schlussfolgerte, dass der Protestantismus auch künftig keinen Schaden nehmen werde. Die eigene Geschichte und weniger der biblische Text erschien nun als Deutungsautorität für die positiv gedeutete Zukunft. Diese Adaption der Zukunftsperspektive bildete die entscheidende Grundlage des modernen Jubiläumsverständnisses, das in seiner endgültigen Form spätestens im AugustanaJubiläum 1830 vorlag. Neu war, dass die in die Vergangenheit und Zukunft reichenden Zeitschienen in jeweils zwei Zeitschichten unterschiedlicher Reichweite ausdifferenziert wurden. So verwiesen während der Säkularfeier öffentlich präsentierte Lutherdevotionalien auf das 16. Jahrhundert, während die als Ehrengäste an den Feiern teilnehmenden Luthernachkommen ein Weiterleben des Reformators und damit die Kontinuität des Luthertums symbolisierten. Auf dieser weiten Zeitschicht liegt eine zweite, die nur 100 Jahre zurückreicht, aber präzise ausgedeutet ist: Einige Festveteranen konnten sich aus eige-
145 nem Erleben bis zurück an das Augustana-Jubiläum von 1730 erinnern. Diese Zeitspanne beschreibt jenen drei Generationen umfassenden Überlieferungshorizont, der als kollektives Gedächtnis für die Funktion einer Gesellschaft überaus wichtig ist. Demgegenüber entspricht die Rückschau auf das Reformationsjahrhundert einer Reaktivierung des kulturellen Gedächtnisses der Lutheraner, das für die Stabilisierung der Gruppenidentität maßgeblich ist.49 Den beiden in die Vergangenheit reichenden Zeitschichten stellten die Festgemeinden in die Zukunft weisende Äquivalente spiegelbildlich entgegen. Eine erste Schicht wird durch Anbindung an die Lebenszeit der Enkel noch personal erfasst: Während die Festgemeinde von 1830 längst im Grabe ruht, wird die Enkelgeneration das Jubiläum 1930 begehen. Eine Klammer bilden die während der Säkularfeier 1830 gesetzten Denkmale, die die Kontinuität des Jubiläumsgedenkens erhalten. Der zweite Zeithorizont erscheint dagegen von unendlicher Ausdehnung und verweist auf die Reformationsjubiläen des 21. und 22. Jahrhunderts, von deren Stattfinden die Feiernden des 19. Jahrhunderts ausgingen. Mit diesen Zeitkonstrukten liegen im historischen Jubiläum jene Zeitvorstellungen vor, mit denen das Jubiläum Kontinuität und Stabilität der inszenierenden Institution bis in eine unbegrenzte Zukunft hinein signalisieren kann. 5. Fazit Der Jubiläumsmechanismus konnte sich etablieren als dauerhafte Wiederholungsstruktur, die sich in wesentlichen Teilen auch als nichtstatisch darstellt und die darüber hinaus für den jeweils Feiernden sogar den Charakter der Einmaligkeit annimmt. Die protestantische Leistung bestand darin, in einem Elitendiskurs einen bestehenden Zeitrhythmus unter Wahrung seines Begriffes der traditionellen sakralen-katholischen Aufladung entkleidet, ihn mit einem neuen Aspekt versehen und diese Konstruktion mit dem Reformationsjubiläum 1617 im gesamten deutschsprachigen protestantischen Bereich populär gemacht zu machen. Von Protestanten in ihren Lebenskontexten verbreitet, hat sich das historische Jubiläum, das bei seiner Popularisierung als Reformationsjubiläum noch nicht auf Zukunft angelegt war, zum Erfolgsmodell der Geschichtserinnerung entwickelt. Literatur 1
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Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Variante meines Textes: „Und der legendäre Thesenanschlag hatte seine ganz eigene Wirkungsgeschichte“. Eine Geschichte des Reformationsjubiläums, in: Berliner Theologische Zeitschrift 28,1 (2011), S. 28–43. Vgl. Harald Homann, ,Kulturprotestantismus‘ – zum Problem moderner Religion, in: Jörg Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann (Hg.): Re-
ligion und Kultur (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33), Köln, Opladen, S. 167–190, hier S. 179. 3 Vgl. Winfried Müller: Das historische Jubiläum. Zur Geschichte einer Zeitkonstruktion, in: ders. (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 3), Münster 2004, S. 1–75. 4 Für dieses Kapitel sofern nicht anders nachgewiesen vgl. Winfried Müller: Erinnern an die Gründung. Universitätsjubiläen, Universitätsgeschichte und die Entstehung der Jubiläumskultur in der frühen Neuzeit, Berichte zu Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 79–102. 5 Die Jahrhundertgliederung war die Folge dessen, dass im Luthertum ein Teil des etablierten bisherigen Personals, vor allem das Papsttum, seine periodisierende Leitfunktion verloren hatte und damit das bis dahin gebräuchliche chronologische Raster der Kirchengeschichte hinfällig geworden war, vgl. Arndt Brendecke: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 74–81; zu den Zenturien auch Martina Hartmann: Matthias Flacius Illyricus erforscht die mittelalterliche Geschichte. Seine fruchtbaren Magdeburger Jahre, in: Maren Ballerstedt, Gabriele Köster, Cornelia Poenicke (Hg.): Magdeburg und die Reformation, Teil 1: Eine Stadt folgt Martin Luther (Magdeburger Schriften, 7), Halle 2016, S. 443–455, sowie Harald Bollbuck: Die Magdeburger Zenturien: Arbeitsorganisation, Motivation und Konzept, in: ebd., S. 457–471. 6 Ein erster Hinweis findet sich im Matrikelbuch der Universität Erfurt. Die Seite für das Sommersemester 1492 ist nicht nur auffallend gestaltet, sondern trägt auch den Hinweis: „In secundo centenario primus monarcha“. 7 Witenbergae die omnium Sanctorum, anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibianus utrinque consolati“, WA.B 4,275, 25–27 (Nr. 1164). 8 Für dieses Kapitel sofern nicht anders nachgewiesen vgl. Wolfgang Flügel: Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617–1830 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 14), Leipzig 2005, S. 25–84. 9 Dies und das folgende: Theologische Fakultät Wittenberg an Oberkonsistorium Dresden, 27.3.1617, Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 1891, fol.1. 10 Vgl. Johannes Burkhardt: Die Entstehung der modernen Jahrhundertrechnung. Ursprung und Ausbildung einer historiographischen Technik von Flacius bis Ranke, Göppingen 1971; Arndt Brendecke: Vom Zählschritt zur Zäsur. Die Entstehung des modernen Jahrhundertbegriffs, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Sozialgeschichte und
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vergleichenden Gesellschaftsforschung 10 (2000), Heft 3, S. 21–37. Zu den Lutherbildern vgl. Heinrich Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970 sowie jüngst Hole Rößler (Hg.): Luthermania. Ansichten einer Kultfigur (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 99), Wiesbaden 2017. Vgl. etwa die Beiträge in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982). Zur Eusebia vgl. Carsten Nahrendorf: Magdeburgs Reformatoren auf der Bühne des Gymnasiums – das Jubiläumsdrama „Eusebia Magdeburgensis“ von Johannes Blocius (1624), in: Gabriele Köster/Cornelia Poenicke/Christoph Volkmar (Hg.): Magdeburg und die Reformation. Teil zwei: Von der Hochburg des Luthertums zum Erinnerungsort (Magdeburger Schriften, 8), Halle (Saale) 2017, S. 231–249. Eine Auflistung kommunaler Jubiläumsfeiern bei Ulrich Rosseaux: Das historische Jubiläum als kommunales Ereignis. Die Entstehung und Verbreitung städtischer Jubiläen in der Frühen Neuzeit, in: Ulrich Rosseaux/Wolfgang Flügel/Veit Damm (Hg.): Zeitrhythmen und performative Akte in der städtischen Erinnerungs- und Repräsentationskultur zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart (Bausteine aus dem Institut für sächsische Geschichte und Volkskunde, 6), Dresden 2005, S. 93–110, hier S. 96 f. Zu ergänzen wäre als Zufallsfund das Reformationsjubiläum in Halle (Saale) von 1641, vgl. Andrea Thiele: Mitra und Herzogshut. Funktion und Amtsverständnis der protestantischen Bischöfe des 17. Jahrhunderts am Beispiel des Magdeburger Administrators August von Sachsen, in: Boje E. Hans Schmuhl/Thomas BauerFriedrich (Hg.): Im Land der Palme. August von Sachsen (1614–1680). Erzbischof von Magdeburg und Fürst in Halle (Band 2 der Schriften für das Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)), Halle (Saale) 2014, S. 127–143, hier S. 137 sowie Anm. 60. Vgl. Flügel: Konfession (s. Anm. 8), S. 87–122. Ankündigungsformular 1655, abgedruckt in: Johann Erhard Kapp: Freudiges Andencken des den 25. Sept. 1655 im Churfürstenthum Sachsen und anderwerts gefeyerten ersten Religions-FriedensJubel-Fests […], Leipzig 1754, S. 92f. Vgl. Kapp: Andencken (s. Anm. 16), S. 243 f., hier auch die Anordnung. Allerdings inszenierten mit der Missouri-Synode eine lutherische Kirche in den USA, die auf jene sächsischen Lutheraner zurückgeht, die 1838 unter Führung von Pfarrer Martin Stephan (1777– 1846) ausgewandert waren, sowie die evangelisch-lutherische Freikirche v. a. in Sachsen 1877 ein Konkordienformel-Jubiläum, vgl. Denkmal der dritten Jubelfeier der Concordienformel im Jahr des Heils 1877. Enthaltend Beschreibungen dieser
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Feier, und auf dieselbe bezügliche Predigten, Auszüge aus solchen, Predigtdispositionen und Lieder, hg. im Namen der Evangelisch-lutherischen Synodalconferenz von Nordamerika, St. Louis 1877, S. 363–381 (hier die Berichte von vier Feiern in Sachsen und einer in Hessen). Zur Politik Herzog Augusts vgl. Frank Göse: Zwischen Brandenburg und Kursachsen. Die Außenpolitik des Administrators August von Sachsen, in: Schmuhl, Bauer-Friedrich (Hg.): Im Land der Palme (s. Anm. 14), S. 61–79. Allgemein zu diesem Sachverhalt vgl. Dieter Langewiesche: Der deutsche „Sonderweg“. Defizitgeschichte als geschichtspolitische Zukunftskonstruktion nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hg.): Kriegsniederlagen. Erfahrung und Erinnerung, Berlin 2004, S. 57–67, zu Magdeburg vgl. Wolfgang Flügel: Magdeburg und seine lutherischen Konfessionsjubiläen, in: Köster, Poenicke, Volkmar (Hg.): Magdeburg (s. Anm. 13), S. 319-337, hier S. 332. Zu 1739 vgl. Flügel: Konfession (s. Anm. 8), S. 172–192. Zitat Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 86. Zu den Melanchthon-Jubiläen vgl. Wolfgang Flügel: „Das stark verblasste Bild wieder etwas näher bringen.“ Melanchthonjubiläen im Mutterland der Reformation, in: Stefan Rhein/Martin Treu (Hg.): Philipp Melanchthon. Zur populären Rezeption des Reformators (Schriften und Kataloge der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 19), Leipzig 2016, S. 181–212. Vgl. Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 127), Göttingen 1996, 205ff.; Michael Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hg.): Sozialund Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986– 1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, 18), Göttingen 2000, S. 319–339. Vgl. Hans Düfel, Das Lutherjubiläum 1883, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), S. 1–94; Gottfried Maron: 1883 – 1917 – 1933 – 1983. Jubiläen eines Jahrhunderts, in: Gerhard Müller/Gottfried Seebaß (Hg.): Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung, Göttingen 1993, S. 188–208. Vgl. Acta sonstige Luthergedächtnisfeiern 1920– 1924, Evangelisches Zentralarchiv Berlin (folgend EZA), B3/410. Vgl. Aktenkonvolut Reformationsjubiläum 1917. Vorbereitungen Mai 1912 – Juni 1916, EZA, 1 A2, 431, Blatt 59 vom 17. Juni 1914.
147 27 Vgl. [Johann Georg I.]: The Duke of Saxony his jubilee: with a short chronologie. Both shewing the goodnesse of God, in blessing the Gospel of Christ, since Luther first opposed Popes pardons, London 1618. 28 Vgl. Jeremy Belknap: A discourse, intended to commemorate the discovery of America by Christopher Columbus: delivered at the request of the Historical Society in Massachusetts, on the 23d day of October, 1792, being thecompletion of the third century since that memorable event. Boston 1792. 29 Vgl. Wolfgang Flügel: Deutsche Lutheraner? Amerikanische Protestanten? Die Selbstdarstellung deutscher Einwanderer im Reformationsjubiläum 1817, in: Klaus Tanner/Jörg Ulrich (Hg.): Spurenlese. Reformationsvergegenwärtigung als Standortbestimmung (1717–1983), (Leucorea. Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie, 17), Leipzig 2012, S. 71–99. 30 Vgl. Johannes Burkhardt: Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul Münch (Hg.): Öffentliche Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek 1988, S. 212–236. 31 Vgl. Kostenübersicht, Stadtarchiv Dresden, RA, B.I. 80, Bl. 207. 32 Vgl. Harald Homann: Religion in der „bürgerlichen Kultur“. Das Problem des Kulturprotestantismus, in: Richard Ziegert (Hg.), Protestantismus als Kultur, Bielefeld 1991, S. 67–84. Ich danke Dr. Frank Schmidt, Leiter des Kunstdienstes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, für Auskünfte zu den Stiftungen. 33 Zu 1830 vgl. Flügel: Konfession (s. Anm. 8), S. 237–259. 34 Die entsprechende Annonce abgebildet in: Harald Baum: „Gewaltig wie er selber einst gewesen ...“ Zu Luther-Ehrungen im 19. Jahrhundert in Erfurt, in: Hardy Eidam/Gerhard Seib (Hg.): „Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch und fest umklammert er sein Bibelbuch ...“ Zum Lutherkult im 19. Jahrhundert, Berlin 1996, S, 132–140, hier S. 136. 35 Vgl. Gottfried Maron: Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des Reformationsjubiläums, in: ders.: Die ganze Christenheit auf Erden. Martin Luther und seine ökumenische Bedeutung. Zum 65. Geburtstag des Verfassers. Hg. von Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß, Göttingen 1993, S. 209–257, hier S. 211. 36 Zit. nach Christian Albrecht: Zwischen Kriegstheologie und Krisentheologie. Zur Lutherrezeption im Reformationsjubiläum 1917, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.): Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, S. 482–499, S. 491 37 Emil Meißner: Am Lutherstein. Ein schlichtes Lutherfestspiel zum Reformationsjubiläum 1917, Dresden 1917, hier das Folgende.
38 Vgl. Maron: 1883 (s. Anm. 24), S. 192, ders.: Luther 1917 (s. Anm. 35), S. 232–237. 39 Ausführlich vgl. Heinrich Assel: Der andere Aufbruch. Die Luther-Renaissance. Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994, passim. 40 Vgl. Friedrich Lau: Der lebendige Luther. Zur 400. Wiederkehr des Todestages Luthers am 18. Februar, in: Die Union. Zeitung der christlich-demokratischen Union Deutschlands, Landesverband Sachsen vom 16.2.1946. 41 Vgl. Uwe Simeon-Netto: Luther als Wegbereiter Hitlers? Zur Geschichte eines Vorurteils, Gütersloh 1991. 42 Barbara Hanke: Geschichtskultur an höheren Schulen von der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Beispiel Westfalen, Berlin 2011, S. 74. 43 [Kuno Fiedler]: Luthertum oder Christentum? Von einem Christen, Dresden 1920, zit. nach Maron: Luther 1917 (s. Anm. 35), S. 252. Zu Fiedler vgl. auch Friedhelm Marx: „Ich aber sage ihnen …“ Christuskonfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt/M. 2002, S. 84f. 44 Vgl. Robert F. Goeckel: The Luther Anniversary in East Germany, in: World Politics 37 (1984), S. 112–133; den Sammelband Horst Dähn/Joachim Heise (Hg.): Luther und die DDR. Der Reformator und das DDR-Fernsehen 1983, Berlin 1996; Martin Roy: Luther in der DDR. Zum Wandel des Lutherbildes in der DDR-Geschichtsschreibung (Studien zur Wissenschaftsgeschichte, 1), Bochum 2000. 45 Erstens verweigerte die SED den meisten Gästen aus dem westlichen Ausland die Einreise, vgl. R. Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands 1945–1990, Leipzig 2005, 91; zweitens hintertrieb sie kirchliche Festveranstaltungen, vgl. Kirchenstaatssekretär Hans Seigewasser an Rat des Bezirkes Leipzig, 23.6.1966, Bundesarchiv (BArch) DO 4/2428; drittens versuchte sie den Eindruck zu erwecken, die Kirchen würden ihr Reformationsbild mittragen, vgl. Bischof Johannes Jänicke an DDR-CDU-Chef Gerald Götting, 5.10.1967, SAPMO-BArch DY 30 J IV 2/2J/2703. 46 Zit. nach Rudolf Mau: Der Protestantismus im Osten Deutschlands 1945–1990 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, IV/3), Leipzig 2005, S. 154f. 47 Vgl. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999; Reinhart Koselleck (Hg.): Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000; Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 31985. 48 Vgl. Wolfgang Flügel: Zeitkonstrukte im Reformationsjubiläum, in: Müller (Hg.), Jubiläum (s. Anm. 3), S. 77–99. 49 Vgl. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders., Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19.
148 Bildnachweise
Abb. 4: J. M. Höroldt: Feuerwerk in Wittenberg zum Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens 1755: Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur ss 3415
Abb. 2: Konfession und Machtanspruch: Medaille von Administrator August von Sachsen auf das Jubiläum der Konkordienformel am 22. Juni 1675, Foto: Kulturhistorisches Museum Magdeburg/Charlen Christoph
Abb. 5: Karl Bauer: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“, Erinnerungskarte zum Reformationsjubiläum 1917: Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur 4° XIII 8453
Abb. 1: Foto: Georg Troschel: Flugblatt zum Reformationsjubiläum 1617: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur fl VIII 1176
Abb. 3: Jubiläumskalender für das außerordentliche Heilige Jahr der Barmherzigkeit 2016 Foto: Wolfgang Flügel
Abb. 6: Matthias Klemm: Beitrag zu einem Jubiläum – Besinnungsplakat zum Luther-Jahr 1983: Foto: Luthergedenkstätten Sachsen-Anhalt, Wittenberg Signatur grfl XVII 11516 Strehle Nr. 1
149 Rolf Decot
Konfessionsstaat – Mehrkonfessionalität. Von der Religion zum Recht als Staatsgrundlage Einleitung Die Reformation gilt zu Recht als eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen, der europäischen, ja der Weltgeschichte. Neuere Forschung hat zwar aufzeigen können, dass der Einschnitt, den die Reformation bedeutete, nicht so groß war, wie man lange vermutete, denn viele politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungen, die in der Reformationszeit zur Wirkung kamen, entstanden bereits im Spätmittelalter und überdauerten die Umwälzungen der Reformationszeit. Die Reformation war ein komplexes Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Kräfte. Eindeutig standen damals als auslösende Faktoren die theologischen Fragen der Zeit im Vordergrund. In diesem Zusammenhang ist es dann vor allem Martin Luther, der zu Recht mit den Anfängen der Reformation verbunden wird. Die Umgestaltung der Gesellschaft und der Kirche, die durch die Reformation ausgelöst worden ist, wäre in der einen oder anderen Form auch ohne Martin Luther zum Ausbruch gekommen, jedoch war er nun einmal die entscheidende Gestalt, und seine theologische Fragestellung bestimmte den Gang der Geschichte. Unterscheiden muss man zwischen dem theologischen Anliegen Martin Luthers und den politischen, sozialen und gesellschaftlichen Implikationen dieses Anliegens sowie der praktischen Durchsetzung der Reformation. In den Entscheidungsjahren der Reformation von 1517 bis 1525 wurden unterschiedliche Ansätze zur Veränderung von Luthers Impulsen und Ideen überlagert und gebündelt. Später löste sich diese geballte reformatorische Kraft in Einzelbewegungen auf und verlor viel von ihrem anfänglichen Schwung. Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist einerseits Abschluss eines über 200-jährigen Reformprozesses, besser gesagt einer seit so langer Zeit erhobenen Forderung nach Reform von Kirche und Staat, an Haupt und Gliedern, andererseits manifestiert sie das irreversible Zerbrechen der mittelalterlichen Einheit zugunsten einer Parzellierung zunächst der europäischen Staatenwelt, sodann auch der alten aus der Antike überkommenen Kirche. 1. Reformation und Politik Der Ruf nach Reformation, der mit der Theologie Luthers verknüpft war, bezog sich zunächst auf die innerkirchliche Situation. Luthers theologischer Erneuerungswille stützte sich ganz auf die Autorität der Heiligen Schrift. Im Zeitalter des Humanismus mit seinem Ruf „Zurück zu den Quellen“ hatte Luther hier eine Autorität ins Spiel gebracht, von der aus alle bestehenden kirchlichen und weltlichen Herrschaftsansprüche hinterfragt werden konnten.
Die sprachliche Überzeugungskraft seiner Schriften und die Autorität, die sie von der Schrift her gewannen, führten dazu, dass der Ruf nach Reform der Theologie und der Kirche zur Initialzündung für Reformbestrebungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wurde. Solche Reformbemühungen hatte es seit vielen Jahrzehnten gegeben. Im Streit um Luther fanden die unterschiedlichen Reformbestrebungen in den Jahren zwischen 1517 und etwa 1525/30 zu einer Bündelung, die zu der großen Durchschlagskraft führte, die die reformatorischen Ansätze gewannen. Martin Luther und seine Theologie waren der unverwechselbare und unersetzbare Ausgangspunkt der reformatorischen Bestrebung. Jedoch verbanden sich hiermit verschiedene, von Luther weder vorausgesehene noch gewollte Ansprüche. Wenn auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die theologische Frage beherrschend blieb, so gewannen doch in der praktischen Politik weitere Reform- und Veränderungswünsche zusehends die Oberhand. Die Reformation als theologisch-spirituelle Erneuerungsbewegung geriet von Anfang an in Konflikt mit der lange Jahrhunderte bestehenden kirchlichen Struktur. Diese Struktur war im Bereich der sogenannten abendländischen Christianitas nicht einheitlich, zeigte aber fast überall eine Verquickung mit den politischen Organisationsformen. Den Reformkonzilien in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war es zwar gelungen die äußere Einheit der Kirche nach den Papstschismen wiederherzustellen, dennoch nahm die Kirche eine neue Gestalt an. Obwohl die Hierarchie bestehen blieb und auch die Gliederung der Kirche fortexistierte, zerfiel sie faktisch in eine Vielfalt von rechtlich unterscheidbaren Einheiten. Dies geschah dadurch, dass die Päpste zur Behauptung ihrer neu gewonnenen Macht und zur Erhaltung der wiedergewonnenen Einheit der Kirche sich gezwungen sahen, mit den Einzelstaaten Konkordate abzuschließen. (Dazu gleich mehr). Die Kirche war nur noch der Idee nach eine Einheit. Es gab durch Konkordate voneinander abgegrenzte Gebilde, die unter sich nicht gleich waren. Hierin lag der Keim für eine geistige Spaltung. Noch vor der Kirchenspaltung in der Reformation hatte eine Regionalisierung der Kirche eingesetzt. Zwar strebten auch diese regionalen Kirchen weiterhin nach Reform, jedoch gab es in den unterschiedlichen Regionen jeweils besondere Reformziele. Diejenigen Kirchen, die gegenüber der Kurie den geringsten Grad an Selbständigkeit erreicht hatten, bewahrten am längsten das Bewusstsein der Einheit von Kirche und Christenheit. Dies gilt zunächst vor allem für die deutsche Reichskirche.
150 Im 16. Jahrhundert waren theologische und kirchliche Fragen nicht von der Politik zu trennen. Seit dem frühen Mittelalter galt der Kaiser als vicarius ecclesiae. Die Kirche war Teil des Staates und in Form der Geistlichen Staaten seit dem zehnten Jahrhundert selbst Trägerin staatlicher Gewalt. So ist es nicht verwunderlich, dass die von Wittenberg ausgehende Reformation aufgrund der ekklesiologischen Implikationen ihrer Theologie und deren Auswirkungen auf die Reichskirche und damit die Reichsverfassung von Anfang an als eine Auseinandersetzung auch auf der politischen Ebene begriffen wurde. Dies lässt sich leicht daran feststellen, dass die Verhandlungen über die Religionsfrage vornehmlich auf den Reichstagen der Zeit geführt wurden. Vom Augsburger Reichstag 1518 bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555 fanden 22 Reichstage statt.1 Bei den Verhandlungen ging es um mehrere unterscheidbare aber doch innerlich miteinander verknüpfte Problemkreise. Die theologische Frage nach der wahren Lehre, die verfassungspolitische und zugleich theologische Problematik der Einheit der Kirche im Reich und die juristische bzw. vermögensrechtliche Frage nach der Verfügungsgewalt über das Kirchengut. Den damals handelnden Personen ist es allmählich gelungen, diese Problemkreise aufzudröseln um so zu Übereinkünften zu kommen, die ein weiteres Zusammenleben im Reiche ermöglichten. 2. Außertheologische Wirkungen der Reformation Wenn man die religiöse und politische Lage im Reich und in der Kirche zur Zeit von Luthers Ablassthesen im Jahr 1517 mit der Situation 40 Jahre später vergleicht, als auf dem Wormser Religionsgespräch 1557 der letzte Versuch einer Religionsübereinkunft scheiterte,2 lassen sich fundamentale und bleibende Unterschiede feststellen. Wie alle kirchlichen Reformbewegungen zielte auch die durch Luther von Wittenberg ausgehende Erneuerung ihrem Anspruch nach auf eine Reform der Gesamtkirche. Um 1557 ist die Einheit der Kirche zerbrochen, im Reich gibt es zwei rechtlich anerkannte und abgesicherte „Konfessionen“. Die vom Augsburger Religionsfrieden nicht geschützten Calvinisten gewannen im Westen des Reiches immer mehr an Einfluss. Wenn sie auch erst durch den Westfälischen Frieden von 1648 als dritte Konfession im Reich anerkannt wurden, so mussten sie doch praktisch seit dem Reichstag von 1566 geduldet werden, als man sich nicht entschließen konnte, den inzwischen zum Calvinismus übergetretenen Kurfürsten der Pfalz aus dem Schutz des Augsburger Religionsfriedens zu entlassen.3 Statt zu der seit 200 Jahren erstrebten Kirchenreform war es im 16. Jahrhundert zur Konfessionalisierung bzw. zur Konfessionsbildung gekommen. Hierfür gab es primär theologische, vor allem ek-
klesiologische Gründe, aber auch politische, soziale und kulturelle Aspekte haben dazu beigetragen. Die Reformation steht gewissermaßen am Ende der mittelalterlichen Reformbewegungen, lieferte aber gleichzeitig wegen ihrer alle Lebensbereiche erfassenden Eigendynamik den Hintergrund für neue Entwicklungen, die das Reich bis zum Westfälischen Frieden von 1648 prägten. In jüngerer Zeit versucht die Forschung wieder intensiver, die Geschichte des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts mit den angedeuteten vielfältigen Aspekten als einheitliche Bewegung zu verstehen, und bedient sich zur Kennzeichnung dieses Prozesses des Begriffs der „Konfessionalisierung“.4 Über den Begriff selbst lässt sich streiten, weil er von seiner Aussage her nicht all das abdeckt, was zur Entstehungsgeschichte des frühneuzeitlichen Territorialstaates darunter subsumiert wird. Der Bezug zur Reformation und zur religiösen Grundlage des Zeitalters wird bisweilen sogar ausgeklammert und der Kirchengeschichte überlassen. Bei der Bedeutung, die der Reformation und ihren Wirkungen auch für die Erfassung der allgemeinen Geschichte dieser Zeit zukommt, scheint eine Trennung historischer Sparten wenig sinnvoll, vielmehr verspricht eine übergreifende Sicht weiteren Erkenntnisfortschritt. 2.1 Konfession und Ekklesiologie Politisch wirksam geworden ist die von Wittenberg ausgehende Reformation aufgrund der ekklesiologischen Implikationen ihrer Theologie und deren Auswirkungen auf die Reichskirche und damit auch auf die Reichsverfassung. Ausgangspunkt der Reformation war die Rechtfertigungslehre bzw. Gnadenlehre. Unabhängig aber von diesem engeren theologischen Problem ist das reformatorische Auftreten Luthers von der damaligen offiziellen Kirche im Sinne einer abweichenden ekklesiologischen Konzeption verstanden worden.5 Dies bezieht sich vor allem auf die Autoritäts- und Normenfrage.6 Neben dem Theologisch-Inhaltlichen kommt die Kirche eben immer dadurch ins Spiel, dass sie als Reichskirche einen untrennbaren Bezug zur Politik und zur staatlichen Entwicklung hatte. Seit dem Spätmittelalter hatte sich die Position verfestigt, die sie in den Reichsinstitutionen einnahm, nicht zuletzt durch ihre starke Präsens im Kurfürsten- und Fürstenrat auf den Reichstagen. Die entschieden biblische Grundlegung von Luthers Theologie und seine Auseinandersetzung mit der Amtskirche hatte bei großen Teilen der Bevölkerung, vornehmlich bei den Obrigkeiten das Bewusstsein gestärkt, dass man auch ohne die Unterordnung unter die bestehende kirchliche Jurisdiktion ein wahrer Christ sein könne. Spätmittelalterliche Tendenzen zur Parzellierung der Kirche im Sinne unterscheidbarer rechtlicher Institutionen erhielten durch die nunmehrige Absicherung durch die reformatorische Theologie neue Durchschlags-
151 kraft. Anfangs zögerlich, dann aber in großer Konsequenz wurden diese Möglichkeiten von den Obrigkeiten genutzt. In unserem Zusammenhang ist die Frage müßig, ob theologische oder politische Motive überwogen, wichtig war nur die Tatsache, dass die Reformation eingeführt wurde, verbunden mit neuen von weltlichen Obrigkeiten sanktionierten Kirchenordnungen unter gleichzeitiger Suspendierung der bisherigen bischöflichen Jurisdiktion. Dieses Vorgehen unterscheidet sich erheblich von den spätmittelalterlichen kirchlichen Reformmaßnahmen, die von Fürsten durchgeführt wurden, weil trotz landesherrlicher Übergriffe die Institution der Kirche als solche nicht tangiert war.7 Nachdem weltliche Obrigkeiten seit den frühen zwanziger Jahren zunächst in Reichsstädten,8 dann seit 1526 in Territorialstaaten wie Hessen und Kursachsen die bischöfliche Jurisdiktion suspendiert und eigene Kirchenordnungen9 aufgerichtet hatten, war aus der Reformation ein Politikum ersten Ranges geworden. Die Fragen der Ekklesiologie, die am Anfang der Reformation entscheidend waren, prägten auch den gesamten Prozess der Konfessionalisierung bis zum Augsburger Religionsfrieden und darüber hinaus. Die Katholiken und insbesondere der Kaiser verfolgten während der gesamten Reformationszeit die Idee, die Aufspaltung in verschiedene Kirchenwesen durch einen theologischen Vergleich zu erreichen. Alle Wege zu diesem Ziel, Religionsgespräche,10 Konzilsbesuch beider Parteien11 oder eine reichsrechtliche Lösung wie im Interim12 scheiterten. Der Kaiser wie auch die Fürsten hielten an der aus der Antike stammenden Grundüberzeugung fest, dass es in einem Staat nur eine Religion geben könne.13 Anders als der Kaiser waren die Fürsten jedoch zunehmend bereit, diesen Grundsatz zunächst nur auf ihr jeweiliges Territorium zu beziehen. Unterschiedliche ekklesiologische Konzepte verschärften den Prozess der Konfessionalisierung. 2.2 Konfessionalisierung und Reichsverfassung Wie erwähnt hat im Reich stärker noch als theologische Gründe die gleichsam in der Verfassung festgehaltene Existenz Geistlicher Staaten eine schnelle Gesamtreformation verhindert und so den Konfessionalisierungsprozess begünstigt. Nach mehrfachen vergeblichen Einigungsversuchen in den theologischen Sachfragen und den militärischen Auseinandersetzungen im Schmalkaldischen Krieg und dem Fürstenaufstand von 1552 wurde im Passauer Vertrag ein unbefristeter Friede in Aussicht genommen.14 So kam es zum Augsburger Reichstag von 1555. Nur aufgrund rechtlicher und staatlicher Entscheidungen konnte die katholische Kirche im Reich in der Mitte des 16. Jahrhunderts gesichert werden. Dass auch die protestantischen Reichsstände ihre
Lage damals als überaus günstig einschätzten, sieht man an ihrem über 30-jährigen Kampf gegen den Geistlichen Vorbehalt, dem von Ferdinand I. verfügten Zusatz zum Religionsfrieden, dass Geistliche Fürsten bei Religionswechsel ihr Amt aufgeben müssten, und für die „Freistellung“, die von den lutherischen Fürsten erhobenen gegenteiligen Forderungen, dass auch Geistliche Fürsten ohne Verlust ihres Amtes oder ihrer Territorien die Konfession wechseln dürften,15 d.h. dass ein geistlicher Reichsfürst mit seinem Territorium zum Protestantismus übertreten können sollte. Wie gefährdet die Reichskirche tatsächlich war, zeigt die Tatsache, dass trotz des Geistlichen Vorbehalts alle nord- und ostdeutschen Bistümer im Laufe der Zeit säkularisiert bzw. mediatisiert wurden. Die Sicherung reichte nur für die west- und süddeutschen Bistümer mit unbezweifelbarer Reichsstandschaft, die also fraglos Teil der Reichskirche und Mitglieder des Reichstags waren und nur dem Kaiser unterstanden.16 Am geistlichen Vorbehalt wird die rechtliche Einbindung der Reichskirche in die Institutionen des Reichs besonders augenfällig. Nach dem Augsburger Religionsfrieden werden die unterschiedlichen ekklesiologischen Grundlagen nicht mehr theologisch zwischen den Konfessionen diskutiert. Der Kampf um den Besitz und das Recht an der Reichskirche beherrscht die Politik bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein.17 2.3 Der Kampf um die Freistellung Schon auf dem Regensburger Reichstag 1556/57 verlangten die Protestanten die Freistellung der geistlichen Fürsten vom Geistlichen Vorbehalt (reservatum ecclesiasticum). So konziliant die katholische Partei bei der Abfassung des Reichsfriedens gewesen war, hier ging es um die Existenz. Sie lehnten es ab, über diese Frage auch nur zu verhandeln. Es gelang, im Kurfürstenrat eine konfessionsübergreifende Solidarität zur Erhaltung des Religionsfriedens herzustellen. Neben den geistlichen Kurfürsten trug vor allem Kursachsen hierzu bei. Auf diese Weise wurde der Religionsfrieden zur wichtigsten Grundlage für den Fortbestand des Reichs trotz zweier Konfessionen. Die Declaratio Ferdinandea sollte den landsässigen Rittern in geistlichen beziehungsweise katholischen Gebieten den Verbleib beim protestantischen Glauben sichern. Im Mainzer Erzstift beispielsweise beriefen sich zahlreiche Ritterfamilien des Eichsfelds auf ihr Recht, so dass es hier zu einer schleichenden Protestantisierung kam.18 Im Zuge der späteren gegenreformatorischen Maßnahmen wurde seitens der Mainzer Erzbischöfe auf diese Bestimmung keine Rücksicht mehr genommen. Das Problem der Freistellung erhielt im Umfeld des Reichstags von 1566 neue Aktualität, weil versucht wurde, Söhne protestantisch gewordener Grafenfamilien zu den Domkapiteln zuzulassen. Wiederum
152 war es der Kurfürst von Sachsen, der die Bemühungen um die Aufhebung des geistlichen Vorbehalts beziehungsweise um den Zugang protestantischer Adelssöhne zu den Domkapiteln für aussichtslos oder friedensgefährdend hielt. Dennoch versuchten die Grafen, auch auf den folgenden Reichstagen ihre Ansichten durchzusetzen.19 Die Diskussion um Friedrich III., der in der Kurpfalz das calvinistische Bekenntnis eingeführt hatte, und seinen möglichen Ausschluss aus der Augsburger Konfession und damit aus dem Religionsfrieden stand 1566 im Mittelpunkt der Überlegungen. Niemand wollte es wegen dieses Problems wirklich zum Bruch kommen lassen. Die calvinistische Kurpfalz hatte das protestantische Lager vorübergehend uneins werden lassen. Dieser Konflikt überlagerte kurzzeitig die Auseinandersetzung über die Freistellung. Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts lähmte dieser Streit die Verfassungsorgane und machte das Reich fast unregierbar. Zunächst überwog das überkonfessionelle Interesse am Erhalt des Reichs und seiner Funktionsfähigkeit. Testfälle waren die Kaiserwahlen 1558 und 1562. Nach dem Rücktritt Karls V. war die Wahl Ferdinands I. zum römischen Kaiser insofern ein gewisses Problem, als hier erstmals protestantische Kurfürsten an einer Kaiserwahl beteiligt waren. Es kam zu einer Einigung, Ferdinand wurde von katholischen und protestantischen Kurfürsten als „erwählter römischer Kaiser“ inthronisiert. Papst Paul IV. lehnte die Nachfolge Ferdinands im Kaisertum ab. An eine Krönung Ferdinands durch den Papst war überhaupt nicht zu denken. Von nun an wurden die Kaiser nicht mehr vom Papst gekrönt, sondern galten bereits durch die Wahl als Inhaber ihres Amtes. Das Kaisertum wurde fortan zu einer rein deutschen Angelegenheit. Erst Papst Pius IV. erkannte 1560 Ferdinand als Kaiser an. Die Kaiserkrönung fiel nun mit der Königskrönung zusammen und wurde gewöhnlich gleich nach der Wahl in Frankfurt und nicht mehr in Aachen durchgeführt.20 Als 1562 die nächste Kaiserwahl anstand, konnte sich der Sohn Ferdinands trotz Zweifeln an seiner religiösen Haltung durchsetzen. Eine einhellige Wahl Maximilians wurde dadurch relativ reibungslos ermöglicht, da ihn beide Religionsparteien für ihre Seite reklamiert hatten.21 Der Frankfurter Wahltag hatte insofern noch eine Besonderheit, als die Kurfürsten hier ihren Kurverein erneuerten und sich zu gegenseitiger Hilfe in Religions- und Profanangelegenheiten verpflichteten. Sie vereinbarten, allen Versuchen, das Kaisertum der Deutschen Nation zu entziehen, Widerstand entgegenzusetzen. Zudem wurde beschlossen, keinen Kurfürsten auf künftigen Wahl- und Krönungstagen wegen seiner Religionszugehörigkeit auszuschließen oder als unfähig zu erklären. Eine Absetzung eines Kurfürsten konnte nur wegen Verstößen gegen Reichsgesetze, nicht aber wegen seines Glaubens erfolgen.22 Dies hatte besondere Bedeutung für den Pfälzer Kur-
fürsten, der inzwischen zum Calvinismus übergetreten war, der nicht unter den Schutz des Religionsfriedens fiel. Für sich hatten die Kurfürsten auf diese Weise die Bestimmungen des Westfälischen Friedens vorweggenommen, der neben den Anhängern der Alten Kirche und der Confessio Augustana auch die reformierten Christen unter den Schutz des Landfriedens stellte. 3. Die Reichskirche im Konflikt der Politik 3.1 Anfänge der „Gegenreformation“ Die Declaratio Ferdinandea die im Kontext des Augsburger Religionsfriedens erlassen, aber nicht im Reichsabschied verankert worden war, gestand den landsässigen Rittern geistlichen beziehungsweise katholischen Gebieten diesen den Verbleib beim protestantischen Glauben zu. Da sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in vielen katholischen Territorien zahlreiche Ritterfamilien auf dieses Recht beriefen, kam es zu einer schleichenden Protestantisierung. Solange diese Gebiete schwach und politisch in der Defensive waren, war dieser Zustand nicht zu ändern. Im Mainzer Hochstift war vor allem das Eichsfeld betroffen. Im Zuge der späteren gegenreformatorischen Maßnahmen wurde seitens der Mainzer Erzbischöfe auf diese Bestimmung keine Rücksicht mehr genommen, vielmehr waren sie seit 1573 entschlossen, auch als katholische Reichsfürsten das ius reformandi in ihrem Stiftsgebiet umzusetzen. Dies war möglich, weil sich seit dem Religionsfrieden die Situation der katholischen Reichsstände stabilisiert hatte. Das mainzische Eichsfeld sollten im Oktober 1573 Jesuiten missionieren. Am 4. März 1574 teilte der Kurfürst dem Domkapitel mit, er wolle „durch seine Selbstgegenwärtigkeit den Sachen mit mehrer Frucht abhelfen“. Er zog noch im gleichen Monat persönlich ins Eichsfeld. Der eichsfeldische Adel war landsässig und unterstand allein der Jurisdiktion des Kurfürsten, so dass hier nicht mit so großer Widerstandskraft zu rechnen war wie bei der Reichsritterschaft am Rhein. Der Erzbischof lehnte es ab, mit Gewalt vorzugehen. Deshalb hatte er zunächst nur wenig Erfolg. Auf dem Regensburger Reichstag von 1576 beschwerten sich einige evangelische Reichsstände wegen des Bruchs des Religionsfriedens durch die Katholiken. Hierunter war auch eine Beschwerde der eichsfeldischen Ritterschaft und der Stadt Duderstadt wegen der Rekatholisierung. Die Eichsfelder Protestanten wurden auf dem Reichstag vom Kaiser abgewiesen. Weil diese Bestimmung nicht im Religionsfrieden selbst verankert war, wurde sie später kaum beachtet und war auch vor dem Reichskammergericht nicht einklagbar. Neben den Beschwerden über die Gegenreformation im Eichsfeld gab es Klagen über ähnliche Unternehmungen in Fulda. Es ging hierbei vor allem
153 um die Respektierung der Declaratio Ferdinandea, praktisch also um den Schutz evangelischer Minderheiten in geistlichen Gebieten. Die katholischen Fürsten bestritten die Verbindlichkeit oder überhaupt die Echtheit der Declaratio Ferdinandea. Die Gegenreformation in Fulda und im Eichsfeld wurde weitergeführt. Die protestantischen Reichsstände sahen sich zum ersten Mal seit 1555 in der Defensive und waren zu harten Verhandlungen bereit. Man erklärte, die Abstellung der Religionsbeschwerden sei eine Voraussetzung für die Bewilligung der Türkensteuer. Wie schon so oft sorgte Kursachsen für eine Entschärfung der Lage. In der entscheidenden Sitzung gaben sich die kursächsischen Räte mit Vertröstungen des Kaisers wegen der Religionsbeschwerden zufrieden und bewilligten die Türkenhilfe. Kurfürst August von Sachsen hielt strikt an einer Politik der Einhaltung des Religionsfriedens fest und versuchte, alle konfessionellen Konflikte zu vermeiden. Zusätzlich gelang es den Mainzer Räten, an ihrer Spitze Dompropst Wolfgang von Dalberg, sich erfolgreich gegen die Freistellung zu wehren. Die Katholiken lehnten es auf dem Reichstag ab, über dieses Anliegen der Protestanten überhaupt nur zu verhandeln, die ihrerseits mit einer Streichung der Türkensteuer drohten. Die gesamte Auseinandersetzung endete mit einem Sieg der Katholiken. Der Kampf um die Freistellung gewann damals einen neuen Aspekt, denn die Ritterschaft erkannte allmählich, dass es den Fürsten nur darum ging, die geistlichen Güter einzuziehen. In den säkularisierten Stiften erhielten sie keine Pfründen mehr. Die rheinische Ritterschaft wandte sich darum scharf gegen die Freistellung und forderte sogar die Restitution der geistlichen Stifte und Güter, die seit dem Religionsfrieden eingezogen worden waren.23 Da dies natürlich unmöglich war, wollte die mittelrheinische Reichsritterschaft sich wenigstens die Mainzer Pfründe sichern und versuchte, die Ritter aus anderen Gebieten von den Mainzer Pfründen auszuschließen. Dies ließen die Päpste nicht zu. Gregor XIII. verbot im Jahr 1579 jede Zulassungsbeschränkung, musste aber das Privileg des Adels auf die Mainzer Domherrenstellen und das Institut der Ahnenprobe anerkennen.24 Die Ritterschaft hatte sich in diesem Punkt durchgesetzt. Es erwies sich als unmöglich, auf dieser Ebene tüchtige Nichtadelige für die Reform der Kirche im Erzstift einzusetzen. Der Kampf um die Freistellung blieb zentrales Anliegen für die evangelischen Reichsstände, wobei die Verfügungsgewalt über das Kirchengut im Vordergrund stand. Den Religionsfrieden wollte niemand gefährden, so dass der katholische Widerstand dazu führt, dass gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Reichsinstitutionen wie das Reichskammergericht immer mehr lahmgelegt wurden. Reichstage fanden in immer größeren Abständen statt und erzielten kaum noch Ergebnisse.
1608 fand ein Reichstag in Regensburg statt. Die eigentlichen Verhandlungsgegenstände – Türkensteuer, Niederschlagung des Aufstandes in Siebenbürgen und Ungarn und das Justizwesen im Reich – konnten nicht beraten werden, da sich die Diskussion wiederum an der von den Protestanten aufgeworfenen Frage nach der Auslegung des Religionsfriedens festlief. Dank der kompromissbereiten Haltung Kursachsens einigte man sich im Kurfürstenrat darauf, noch einmal den Augsburger Religionsfrieden gemäß dem Passauer Vertrag von 1552 zu bestätigen.25 Da die anderen Kurien nicht mitzogen, ging der Reichstag von 1608 schließlich ohne Reichstagsabschied auseinander. Damit war das wichtigste Ausgleichsorgan der Reichsverfassung lahmgelegt.26 Die konfessionellen Gruppierungen im Reich hatten sich völlig zerstritten, so dass sie sich in dieser Situation des gegenseitigen Misstrauens in unterschiedlichen konfessionell geprägten Bündnissen organisierten. Protestantische Fürsten schlossen sich unter kurpfälzischer Führung nach dem gescheiterten Reichstag von Regensburg am 14. Mai 1608 in Auhausen zu einer protestantischen Union zusammen, der schließlich neun Fürsten und 17 Städte angehörten.27 Die katholischen Stände im Reich fühlten sich durch die Funktionsunfähigkeit des Reichskammergerichts bedroht, da es in Konfessionsangelegenheiten letztlich keinen Rechtsschutz mehr gab. Militärisch waren die katholischen Stände, vor allem die geistlichen Kurfürsten, den großen protestantischen Territorien hoffnungslos unterlegen. So entstand unter großen Schwierigkeiten ein katholisches Defensivbündnis, die Liga.28 Beide Bündnisse spielten im Dreißigjährigen Krieg eine Rolle. Dies kann hier im Detail nicht verfolgt werden. 3.2 Kampf ums Kirchengut – Konfessionelle Minderheiten Dass sich die Verwicklungen und kriegerischen Auseinandersetzungen um die Wahl des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum Böhmischen König zu einem dreißigjährigen Krieg ausweiten würden, war in den Jahren 1618/19 nicht abzusehen. Nachdem durch die Schlacht vom Weißen Berge die Macht Friedrichs V. von der Pfalz in Böhmen zusammengebrochen war, konzentrierte sich der Kampf auf die pfälzischen Gebiete. Spanischhabsburgische Truppen unter Ambrosio Spinola (1569–1630) hatten die linksrheinische Pfalz fast vollständig besetzt. In der ersten Phase des Krieges arbeiteten die beiden habsburgischen Linien in Österreich und Spanien eng zusammen, wobei sich die spanische Seite militärisch und finanziell stärker engagierte und versuchte, auch in Deutschland Einfluss zu gewinnen. Eine nicht unwichtige Frage war die Übertragung der Kurwürde von der Pfalz auf Bayern. Hier war das Kurkolleg betroffen. Das Hauptziel von Mainz,
154 als Direktor des Kurfürstenrates war es, die Aktionsfähigkeit des Kurkollegs zu erhalten.29 Die schwierige Lage, in der sich die Kurpfalz nach dem Sieg der katholischen Liga befand, führte auch zu Begehrlichkeiten der Nachbarn. Die Pfalz hatte vor allem von den geistlichen Reichsständen seiner Nachbarschaft etliche Gebiete teils okkupiert, teils als Pfandschaften übernommen. Mainz hatte insbesondere die Bergstraße an die Pfalz abtreten müssen.30 Nach dem Sieg der kaiserlich-spanischen Truppen 1623 schuf der Mainzer Kurfürst Johann Schweikard von Kronberg schnell vollendete Tatsachen. Im Oktober 1623 ließ er sich an der ganzen Bergstraße huldigen.31 Er begann sogar, gegenreformatorische Maßnahmen durchzuführen. Erst im Zusammenhang mit dem Westfälischen Frieden wurde der Verbleib der Bergstraße bei Kurmainz offiziell besiegelt.32 Ähnlich versuchten auch andere katholische Landesherren im Zuge der militärischen Erfolge der Liga, die infolge der Reformation verlorenen Gebiete zurückzuerhalten. 3.2.1 Das Restitutionsedikt von 1629 Das erste Jahrzehnt des später so genannten Dreißigjährigen Krieges verlief für den Kaiser und die katholischen Stände im Reich äußerst erfolgreich. Die kaiserlichen Siege in den zwanziger Jahren ließen Überlegungen wach werden, die Rückgabe aller geistlichen Rechte und Güter anzustreben, die den Katholiken seit 1555 entgegen den Bestimmungen des Religionsfriedens entzogen worden waren. Im Restitutionsedikt33 spiegelte sich der religiöse Aspekt des Krieges am deutlichsten. Das Edikt mit seiner nicht zweifelsfreien Interpretation des Religionsfriedens von 1555 verschaffte der katholischen Seite einen vermeintlichen Vorteil, jedoch entfremdete es dem Kaiser diejenigen protestantischen Fürsten, die bisher loyal zu ihm gestanden hatten. Letztlich wurden sie so auf die Seite Schwedens getrieben.34 Bereits 1623 und 1624 hatte der Reichshofrat Einzelfälle aufgegriffen, in denen eine Restitution säkularisierten katholischen Kirchenguts gefordert worden war. Nach dem großen Sieg bei Lutter am Barenberge versuchte die katholische Partei intensiver, die im protestantischen Besitz befindlichen Kirchengüter zurückzubekommen. Anfänglich waren es einige schwäbische Klöster und der Bischof von Augsburg, Heinrich von Knöringen, die die Restitution in Württemberg verlangten. Ein erster Prozess bezüglich der Abtei Reichenbach endete mit dem Befehl des Kaisers an den Herzog von Württemberg, diese Abtei den Katholiken zurückzugeben. Ein Urteil über sieben weitere Abteien stand an. Bevor Ferdinand II. jedoch hier entschied, holte er die Meinung der katholischen Kurfürsten ein. Ein Rechtsanspruch auf Restitution wurde als gegeben angesehen.35 Die gesamte Problematik war Verhandlungsgegenstand auf dem Kurfürstentag in Mühlhausen, der
am 14. Oktober 1627 begann. In einer Instruktion hatte der Kaiser seine Gesandten aufgefordert, sich für die vollständige Restitution aller seit 1555 säkularisierten Kirchengüter einzusetzen.36 Der Mainzer Kurfürst setzte sich trotz seiner eigenen positiven Neigung zur Restitution bei allen Schritten mit den anderen katholischen Fürsten, insbesondere mit Köln, Trier und Bayern, ins Benehmen. Zudem setzte er weiterhin auf die Kooperation mit Kursachsen im Kurfürstenrat.37 Die katholischen Kurfürsten unterzeichneten eine gemeinsame Stellungnahme, in der von Ferdinand II. die Restitution verlangt wurde. Mit ihrer Grundsatzentscheidung hatten sie einen zusätzlichen Anstoß zum Restitutionsedikt gegeben.38 Federführend war Kurmainz, dessen Kanzler Dr. Gereon den Entwurf lieferte;39 im Detail vorbereitet wurde das Restitutionsedikt durch den Reichshofrat. Wenn Papst Urban VIII. später erklärte, er habe dieses Edikt nie gebilligt, so entspricht dies wohl den Tatsachen. Der Papst fürchtete offensichtlich die steigende Macht des Kaisers. Möglicherweise wollte er auch nicht durch die Anerkennung eines solchen Edikts im Nachhinein indirekt den Augsburger Religionsfrieden akzeptieren.40 In einem Memorandum vom 17. September 1625 des Jesuiten Johann Reinhard Ziegler; der damals in kurmainzer Diensten stand, Hieß es: die Zeit sei gekommen, die Gerechtigkeit im Reich durch die Restauration des seit 1555 entfremdeten Kirchenbesitzes wiederherzustellen, und wörtlich: „dass es fast das ahnsehen habe obwollte der gütige Gott allgemach uns hierfür bequeme zeit und umbstende, dasselbig [die Restitution] desto füglicher zu suechen und leichter zu erlangen, vor sich selbsten anhandt geben, welche billich nicht zu versaumen sonder wohl undt vleissig in acht zu nehmen“41. Die Protestanten waren nicht bereit, dem Kaiser hier die alleinige Entscheidungsbefugnis zuzugestehen. Anders dachten die katholischen Kurfürsten. Für sie war die rechtliche Seite klar. Sie waren der Ansicht, dass der Kaiser die Rückgabe des gesamten seit 1555 säkularisierten Kirchengutes vornehmen könne.42 So kam es schließlich zum Restitutionsedikt vom 6. März 1629. Ferdinand II. beanspruchte sich das Recht, den Augsburger Religionsfrieden sachgemäß zu interpretieren. Alle nach 1552 eingezogenen Kirchengüter sollten zurückgegeben werden, die beiden Erzbistümer Bremen und Magdeburg, die Bistümer Verden, Minden, Halberstadt, Kammin, Lübeck, Ratzeburg und Schwerin, dazu über 500 Klöster.43 Dieser Versuch, die historische Entwicklung von fast achtzig Jahren zurückzudrehen, scheiterte, weil der eigentlich schon gewonnene Krieg sich durch das Eingreifen der auswärtigen Mächte Schweden und Frankreich um weitere achtzehn Jahre verlängerte und so zum Dreißigjährigen Krieg wurde.44
155 3.3 Regelung der Religionsfrage im Westfälischen Frieden „Das Reich blieb seiner Idee nach ein Sacrum Imperium. Auch nach der Reformation ist der mittelalterlich geprägte Reichsgedanke mit seiner sakralen Schau des Reiches und der Reichsgewalt Gemeingut der evangelischen und katholischen Jurisprudenz geblieben.“45 Zwar hat der Westfälische Friede eine neue Grundlage für die Reichsverfassung geschaffen, die für das Reich bis 1806 verbindlich blieb, jedoch spielte auch für die Zeit nach 1648 das Reichsherkommen, d.h. die spätmittelalterliche Handhabung der rechtlichen und traditionellen Gebräuche, eine wichtige Rolle.46 Das Reich unterschied sich von allen anderen europäischen Staaten dadurch, dass sein Grundcharakter weiterhin von der mittelalterlichen Reichsidee bestimmt blieb. „Das Reich war in seinem Kern ein Friedensverband nach innen, kein Machtstaat. Die Ausdehnung der Macht war nicht Staatszweck. Zweck des Reiches war das geordnete, friedliche und rechtliche Zusammenleben.“47 Innerhalb des Reichsverbandes war die Existenz von Konfessionen seit 1555 verankert. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 waren drei Konfessionen im Reich zugelassen. Ihr Verhältnis zueinander beruhte auf drei Bestimmungen: (1) Die Konfessionsgrenzen wurden festgeschrieben durch das sogenannte Normaljahr 1624. (2) Die itio in partes. Sie verhinderte im Anschluss an den Protest von 1529 Mehrheitsentscheidungen in Religionsangelegenheiten. Einschlägig ist hier der Artikel V § 52 IPO (Instrumentum Pacis Osnabrugensis). (3) Auftrag zur Vereinigung der Konfessionen. Dieser Auftrag ist ebenfalls in Artikel V IPO in mehreren Paragrafen enthalten. Er wird nicht theologisch begründet, sondern als Verfassungsauftrag formuliert. Seiner hat sich besonders der katholische Kaiser Leopold I. angenommen. Leibniz vertrat später die Idee, die Konfessionen institutionell zu vereinigen in Form der mit Rom unierten Kirchen. Diese Idee hatte ihre Wurzel in dem nichttheologischen, vielmehr juristischen Verfassungsauftrag.48 Als wichtigste Bestimmung erwies sich die Festschreibung des Normaljahres. Damit war festgelegt, was katholisch war und katholisch bleiben sollte, ebenso was evangelisch war und evangelisch bleiben sollte. Man hatte eine klare juristische Entscheidung getroffen, die weder theologisch noch kirchenrechtlich begründet wurde und auch mit Toleranz nichts zu tun hatte. Gemeinsam mit dem ius reformandi von 1555 ergaben sich drei verschiedene Kirchenrechtssysteme im Reich. In den katholischen Territorien galt das überkommene (römische) Kirchenrecht, in den evangelischen Landeskirchen waren durch die Territorialherren und Konsistorien landesspezifische Rechtsverhältnisse geschaffen worden und zusätzlich galt auf der politischen Ebene das juristisch formulierte Reichskir-
chenrecht, das alle theologischen Fragen ausgeklammert hatte. Nun bewährte sich die Einrichtung geistlicher Fürsten im Reich. Die geistlichen Fürsten waren durch das Verfassungssystem stärker in das Reich eingebunden, als es jeder Bischof ohne weltliches Amt hätte sein können. Dies blieb in der Zukunft nicht ohne Spannungen mit Rom. Ein Zusammenleben zweier Konfessionen ohne Klärung der theologischen und religiösen Probleme wäre nicht möglich gewesen, wenn die Reichskirche nicht in das von allen Ständen akzeptierte System der Reichsverfassung eingebunden gewesen wäre. „Als Maßstab des Rechts wurde die Wahrheit der Religion durch die Freiheit der Religion verdrängt.“49 Durch die juristische Lösung verzichteten die Religionsparteien darauf, dem je anderen Teil die eigene Religion aufzudrängen. Den geistlichen Fürsten auf katholischer Seite entsprachen die protestantischen Fürsten auf der anderen Seite mit ihrem Summepiskopat. Auf beiden Seiten war also geistliches und politisches Amt in einer Hand und beide waren daher in die Reichskirchenordnung eingebunden. Während die protestantische Kirchenorganisation an das jeweilige Territorium und den Landesherrn gebunden war und keine übergreifende Bedeutung besaß, die in der Reichsverfassung verankert war, blieben die Diözesaneinteilungen vieler Bistümer auch nach 1648 bestehen und griffen auch über Landesgrenzen hinaus. Der katholische Reichsteil besaß drei Kurfürsten und einen Erzbischof (Salzburg). Dazu gab es 21 bzw. am Ende des 18. Jahrhunderts 23 Fürstbischöfe. Hinzu kamen Fürstäbte (z.B. Kempten, Ellwangen, Berchtesgaden, Weißenburg, Prim, Stablo und die später zu Bistümern umgewandelten Abteien Fulda und Corvey). Dazu gab es zwei Kuriatsstimmen der Prälaten. Diese Verhältnisse sicherten den Katholiken die Mehrheit in den beiden oberen Gremien des Reichstags. Der Anteil von Prinzen aus regierenden Häusern in den Domkapiteln und auf den Bischofssitzen ging nach der Reformation und insbesondere nach 1648 zurück. Besonderen Gewinn aus der neuen Entwicklung zogen jedoch die bayrischen Wittelsbacher. Sie stellten von 1583 bis 1761 alle Kurerzbischöfe von Köln und daneben teilweise in Personalunion die Fürstbischöfe von Münster, Paderborn, Hildesheim, Osnabrück, Lüttich, Freising, Regensburg. Bemerkenswert ist der Aufstieg des katholischen Adels nach 1648. Den ehemaligen Reichsrittern gelang es, wichtige Positionen in den Domkapiteln zu besetzen und bis in die Position von Fürstbischöfen und Kurfürsten aufzusteigen. Dieser Weg war dem evangelischen Reichsadel nicht möglich. Die geistlichen Staaten im Reich insgesamt hatten einen Umfang von 94.650 km² mit 3.160.000 Einwohnern bei einer Einwohnerzahl des Reiches von insgesamt ca. 25.000.000 Einwohnern.50 Die Zahl
156 der Domherrenstellen im Reich wird angegeben mit 720 bis über 800.51 Die katholische Kirche hatte ihre verfassungsmäßige Stellung nach der Reformation gewahrt. Sie war auch Adelskirche geblieben. Dafür nahm sie im Vergleich zu anderen Ländern an der fortschreitenden Erneuerung der Kirche sehr geringen Anteil. Im Blick auf das Reich ist hervorzuheben, dass die evangelische Kirchenorganisation, da sie auf die Landesterritorien ausgerichtet war, zu einem wesentlichen Bestandteil der Landeshoheit wurde und damit zur Vereinheitlichung der Territorien beitrug. Die katholische Kirchenorganisation war eher in der Reichsverfassung verankert und stand häufig im Gegensatz zur Landeshoheit der katholischen Reichsstände. Der katholische Reichsteil war daher eher auf das Reich fixiert und fühlte sich selbst als „das Reich“. In den Protestanten sah man nur eine Minderheit, die das Funktionieren des Reiches störte. Die Protestanten waren aber nur auf dem Reichstag zahlenmäßig in der Minderheit. Aufgrund der Bedeutung ihrer Territorien waren sie den Katholiken weit überlegen. Drei protestantische Kurfürsten wurden später zu Königen in Gebieten außerhalb des Reiches, Brandenburg in Preußen, Sachsen in Polen und das später zum Kurfürstentum erhobene Hannover in England. Katholisch starke Reichsstände waren nur Österreich und Bayern. Die Festlegung auf das Normaljahr 1624 hatte zur Folge, dass die Mehrzahl der Territorien sich zu geschlossenen Konfessionsstaaten entwickelte, zugleich aber fast alle Staaten im Laufe der Zeit religiöse Minderheiten hatten. Hier kann man von einer erzwungenen Toleranz sprechen, insofern das religiöse Miteinander der verschiedenen Konfessionen auch zu einem besseren Verständnis führte.52 Den entstehenden Konfessionsparteien gelang es, ein Zusammenleben im Reich und das Funktionieren der Verfassungseinrichtungen zu bewerkstelligen. Das ius reformandi war faktisch nicht mehr anwendbar. Dies hatte Konsequenzen für die Konversion einiger Landesherren zum Katholizismus, wie des Kurfürsten von Sachsen oder des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel. In diesen Zusammenhang gehört auch das Problem des Simultaneums, d.h. die Frage, inwieweit ein konvertierender Landesherr berechtigt war, Einrichtungen seiner neuen Konfession auch über den persönlichen Bedarf hinaus in seinem Land aufzubauen.53 4. Die Reichskirche und die Konfessionen nach 1648 4.1 Gemischtkonfessionelle Einrichtungen Der Westfälische Friede führte dazu, dass es im Reich verschiedene Gebiete gab, in denen mehrere Konfessionen nebeneinander lebten. Ihr Verhältnis wurde im Artikel V IPO geregelt. Zu diesen Gebieten gehören die gemischtkonfessionellen
Reichsstädte Augsburg, Dinkelsbühl, Regensburg, Ravensburg und Biberach, die Stifte Osnabrück und Hildesheim, das kurmainzische Erfurt, die an Brandenburg gefallenen klevischen Provinzen, die schlesischen Fürstentümer Liegnitz, Brieg, Münsterberg, Oels und die Stadt Breslau. In einigen Gebieten gab es Simultanverhältnisse. Dies bedeutet den gemeinsamen Gebrauch von Gotteshäusern durch die reichsrechtlich garantierten Konfessionen. Aufgrund des Normaljahres gab es katholische Klöster in einigen sonst protestantischen Gebieten, so in Sachsen, Hannover, Ravensberg, Minden und in der Grafschaft Mark. Ein besonderer Fall war Halberstadt. Bei einer Minderheit von nur 750 katholischen Einwohnern gab es hier sechs katholische Klöster. Die Domkapitel von Straßburg und Osnabrück besaßen evangelische, das evangelische Domkapitel Lübeck vier katholische Domherren. Die mehrheitlich katholischen Domkapitel von Minden und Halberstadt besaßen keinen katholischen Domherren. In Halberstadt gab es vier katholische Domherrenstellen. In Minden gab es ursprünglich dreizehn evangelische und zwölf katholische Domherren. Dieses Verhältnis verschob sich durch die Einziehung evangelischer Präbenden durch Brandenburg zu dreizehn Katholiken und acht Protestanten. In Minden gab es in der Zeit von 1648 bis 1806 61 katholische Domherren.54 Einige Stiftskapitel in Halberstadt, Goslar, Minden, Höxter, Bielefeld, Herford, Lübbecke, und eine Reihe von Frauenstiften in Westfalen und am Niederrhein waren gemischtkonfessionell. Im Frauenstift Schildische bei Bielefeld gab es sechs katholische und je sechs evangelische und reformierte Stiftsdamen. Das Amt der Äbtissin wurde abwechselnd von je einer Konfession wahrgenommen. In Wetzlar gehörte der Dom einem katholischen Stiftskapitel, das Schiff des Domes war jedoch evangelisch. In evangelischen Stiften wurden teilweise alte Bestimmungen beibehalten, so galt für Lübeck beispielsweise die Zölibatsbestimmung. In vielen gemischtkonfessionellen Stiften wurde das gleiche Chorgebet gebetet. Der Westfälische Friede hatte die Suspendierung der kirchlichen Jurisdiktion in den protestantischen Ländern festgelegt. Für katholische Kirchen und Geistliche in diesen Gebieten galt ebenfalls der Summepiskopat des evangelischen Landesherrn. Umgekehrt hatten Protestanten in Erfurt und in einigen anderen evangelischen Gebieten, die innerhalb geistlicher Territorien lagen, einen geistlichen Fürsten und Bischof als Summepiskopus. In der römischen Kirche staunte man über diese komplizierten Verhältnisse im Reich, tolerierte sie aber schließlich, um das zu bewahren, was vorhanden war. Für diese komplizierten Gebiete war zunächst die Kölner Nuntiatur zuständig, später gründete man das Vikariat des Nordens.55
157 Schwierigkeiten gab es nur, wenn katholische Domherren nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens gezwungen waren, einen evangelischen Bischof zu wählen, der in den Augen Roms als Ketzer zu betrachten war. Dies galt für Osnabrück, wo sich jeweils ein katholischer und evangelischer Bischof abwechselten, und für Lübeck, das immer einen evangelischen Bischof hatte. Die Domherren, die sich an den Wahlen beteiligten, wurden exkommuniziert. Allerdings konnten sie davon ausgehen, auf Antrag nach kurzer Zeit wieder losgesprochen zu werden.56 Die komplizierten Verhältnisse sorgten möglicherweise dafür, dass die Konfessionen einander besser verstanden. Dies führte aber nicht zur Toleranz. Wie bei allen Privilegien war man auf die jeweiligen Besonderheiten stolz. Die gemischtkonfessionellen Einrichtungen hatten keine nennenswerten Auswirkungen auf das Verhältnis der Konfessionen im Reich.57 4.2 Normaljahr und Ausbildung der Konfessionsparteien Aufgrund des Westfälischen Friedens blieben die bis 1624 säkularisierten Bistümer aufgehoben. Dies betraf zwei Erzbistümer und neun Bistümer. Nach katholischem Kirchenrecht existierten diese allerdings weiter. Der Westfälische Friede hatte alle Rechte der katholischen Kirche, d.h. auch die Diözesanrechte, in den protestantischen Ländern für erloschen erklärt. Für den Erzbischof von Mainz bedeutete dies, dass er keine Rechte auf das ursprünglich zu seinem Metropolitanverband gehörende Bistum Halberstadt hatte. Gleiches galt für den Erzbischof von Köln in Bezug auf das Bistum Minden. Abgesehen von diesen Suspendierungen blieben die Diözesaneinteilungen und Rechte der Erzbischöfe erhalten, wie sie vor der Reformation bestanden hatten. Der Weiterbestand der nichtsäkularisierten Bistümer wurde durch den Westfälischen Frieden garantiert. Um auf dem Reichstag Mehrheitsbeschlüsse in Religionsfragen zu verhindern, bot der Westfälische Friede die Möglichkeit, dass sich die Reichstagsmitglieder durch die itio in partes in zwei konfessionelle Parteien aufspalteten. Die Bestimmungen des Artikels V § 52 IPO waren jedoch ungenau. Dies hätte zu einer Blockierung des Reichstags führen können, allerdings waren alle Beteiligten an Kompromissen interessiert. Das corpus catholicorum trat nur von Fall zu Fall zusammen und hat sich nicht als eigene Gruppe organisiert. Dies widersprach seinem Selbstverständnis. Nur dann trat es neben dem Kaiser eigenmächtig auf, wenn dieser aufgrund seines Amtes zu einer neutralen über den Konfessionen stehenden Haltung gezwungen war. Der mächtigste katholische Reichsstand nach dem Kaiser, Bayern, stand in der ständischen Politik ähnlich wie sein 1685 katholisch gewordener Kollege aus Kurpfalz dem pro-
testantischen Lager nahe. Haupt des corpus catholicorum war daher Kurmainz, obwohl es eigentlich ebenfalls wie der Kaiser eine neutrale Rolle spielen sollte. Alle wichtigen Ämter im Reich waren mit Katholiken besetzt: Kaiser, Erzkanzler, Kammerrichter, Präsident des Reichshofrats usw. Diese Situation führte dazu, dass sich die evangelischen Reichsstände im corpus evangelicorum zu einem festeren Verband zusammenschlossen, um ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Das corpus evangelicorum wählte ein Direktorium, das der Kurfürst von Sachsen innehatte, der als kaisertreu galt.58 Bis zum Frieden von Ryswick 1697 war der evangelische Reichsteil nur eine lockere Organisation. Danach fügte sich die Organisation des corpus evangelicorum enger zusammen, bestand jedoch bis zum Ende des Reiches immer als Zusammenschluss der evangelischen Reichstagsgesandten. Das corpus evangelicorum stieg im 18. Jahrhundert zum wichtigsten Reichsteil auf, wurde allerdings vom Kaiser und auch von den katholischen Ständen nie offiziell anerkannt. Das corpus evangelicorum legte die itio in partes weit aus, d.h. bezog sie nicht nur auf Religionsangelegenheiten, sondern setzte sie überall dort ein, wo es opportun erschien. Die Religionsfrage entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem politischen Instrumentarium.59 4.3 Konversionen und Simultaneum Der Westfälische Friede hatte die Konfessionsgrenzen des Jahres 1624 festgeschrieben. Dem stand das ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens von 1555 entgegen, das jedem Landesherrn das Recht auf Konfessionswechsel zugestand. Was sollte in diesem Fall mit den Untertanen werden? Nach dem Westfälischen Frieden wechselte als erster bedeutender Herrscher der Kurfürst der Pfalz die Konfession, und zwar im Jahr 1685, als die Kurpfalz an die katholische Linie Pfalz-Neuburg überging. Der zweite katholische Kurfürst Jan Willem betrieb eine aggressive Religionspolitik. Die katholische Stimmführung durch Kurpfalz wurde aber hingenommen. 1697 trat Kurfürst August der Starke von Sachsen, nachdem er zum König von Polen gewählt worden war, zum Katholizismus über. In Dresden hielt man aber an der evangelischen Stimmführung Sachsens fest. Dies vor allem deshalb, weil Sachsen das Direktorium des corpus evangelicorum innehatte. Als 1712 der Kurprinz August ebenfalls zum Katholizismus übertrat, regelte man die Stimmführung derart, dass sie einem evangelischen Ratsgremium übertragen wurde. Brandenburg, Preußen, Dänemark und Schweden garantierten die evangelische Reichspolitik Sachsens. Ähnliches wiederholte sich, als 1733 Württemberg einen katholischen Herrscher bekam. 1760 kam der 1749 zum Katholizismus konvertierte Friedrich II. von Hessen-Kassel an die Regierung. In bei-
158 den Fällen garantierten Preußen, Dänemark und Schweden und die württembergischen und hessen-kasselanischen Landstände die Führung der Reichspolitik dieser Territorien durch ein protestantisches Regierungsgremium. Das Problem des Simultaneums trat in Kursachsen auf, als Friedrich August II. von Sachsen für sich und seine Familie, aber auch für den katholischen Teil seines polnischen Hofstaates im Dresdner Schloss die prachtvolle Hofkirche erbauen ließ. Die Grafen von Hohenlohe-Schillingsfürst und die Fürsten von Wied schufen nicht nur ein Simultaneum nach ihrem Übertritt zum Katholizismus, sondern bedrängten auch die protestantischen Bewohner ihrer Territorien. Das corpus evangelicorum sah hierin eine Verletzung des Normaljahres. Die katholischen Reichsstände hielten die Einführung katholischer Einrichtungen durch den Landesherrn für gerechtfertigt, hatten aber Bedenken gegenüber einer Einschränkung der Ausübung der evangelischen Landeskonfession. Hiergegen ging auch der Reichshofrat mehrfach vor. Die Errichtung katholischer Kirchen und Klöster war aber vom katholischen Standpunkt aus legal. Der Westfälische Friede hatte dieses Problem nicht geregelt, deshalb blieb es bis zum Ende des Reichs ungelöst. 4.4 Unterschiedliche Konfessionen in einem Territorium Durch das Normaljahr von 1624 wurde das ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens praktisch außer Kraft gesetzt. Die konfessionelle Einheit der Territorialstaaten konnte daher nicht aufrechterhalten werden, sodass es im Laufe der Zeit in fast allen Territorien des Reiches religiöse Minderheiten gab. Ein einheitlich regierter Zentralstaat wie Frankreich löste das Problem, indem er 1685 die den Calvinern im Edikt von Nantes 1598 gewährten Zugeständnisse widerrief und dadurch die Auswanderung vieler Hugenotten verursachte.60 Dies war im föderativ organisierten Reich nicht möglich. Von daher gewann vor allem für die katholische Seite der Gedanke nach einer Wiedervereinigung der Konfessionen an Bedeutung. Die geistlichen Reichsfürsten konnten sich auf Artikel V § 1 IPO berufen, in dem es hieß, die Bestimmungen des Normaljahres würden gelten bis zu dem Zeitpunkt, „wo man sich wieder durch Gottes Gnade in der Religion vereinigt haben würde“. Die römische Kurie ging davon aus, dass die Ketzer in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren sollten. Dies hielten die deutschen geistlichen Fürsten für kaum möglich, sie waren an eine Zusammenarbeit mit den Protestanten gewöhnt und strebten eine Wiedervereinigung durch Anpassung an. Bis zur Säkularisation 1803 gab es in Deutschland immer wieder Projekte für eine Vereinigung der Konfessionen. Sie gingen häufig von katholischer Seite aus, weil die geistlichen Kurfürsten von einer Wiedervereinigung am meisten profitiert hätten. Sie zeigen meist
die Bereitschaft an, die Rechte des Papstes einzuschränken, und waren so ein Spiegelbild der Konflikte zwischen der Kurie und den vier deutschen Erzbischöfen. Die Vorschläge waren theologisch meist nicht fundiert. Dies hängt damit zusammen, dass die Koexistenz der Konfessionen im Westfälischen Frieden politisch und kaum theologisch begründet war.61 So ist es nicht verwunderlich, dass letztlich alle Versuche scheiterten. Was sich im Reich positiv auswirkte, das Nebeneinander der Konfessionen und ein geregeltes rechtliches Verhältnis, führte andererseits zu einem Konflikt zwischen Rom und der Reichskirche.62 Die Spannungen zwischen Rom und der Reichskirche begannen, als Ferdinand III. die Veröffentlichung des päpstlichen Protestes gegen den Westfälischen Frieden im Reich verbot. Die Konversion als Möglichkeit der Überwindung kirchlicher Spaltung blieb auf Einzelpersonen beschränkt, z.B. Fürsten, die, wie oben schon geschildert, die Herrschaft in einem Territorium mit abweichender Konfession antraten, oder Reichsritter, die, um am Kaiserhof reüssieren zu können, sich zum katholischen Glauben bekannten.63 Eine theologisch-inhaltliche religiöse Toleranz schien damals noch nicht möglich zu sein. So ist es nicht verwunderlich, dass allmählich der Gedanke an Einfluss gewann, dass nicht mehr eine einheitliche religiöse Überzeugung im Sinne einer Konfession die verbindliche Grundlage eines Territoriums sein konnte. 5. Politische Lösungen: Recht und Säkularisation Das Nebeneinander unterschiedlicher Konfessionen wurde für die sich entwickelnden frühneuzeitlichen Staaten und Territorien insofern zu einem Problem, als eine gemeinsame religiöse Überzeugung sich nicht länger als verbindliche Wertegrundlage anbot. Der niederländische Theologe und Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583–1645) beschreibt in seinem Hauptwerk De jure belli ac pacis (1625) zum einen das Recht, welches in Kriegs- und in Friedenszeiten zwischen den Völkern zu gelten habe, zum anderen geht er aber noch viel weiter und zeigt „das Recht der ganzen Menschheit, d.h. alle Rechtsverhältnisse – auch zwischen Einzelpersonen – innerhalb der magna generis humani societas“ auf, so dass das Werk als Abhandlung zum Naturrecht zu klassifizieren ist.64 Er beruft sich auf Francisco de Vitoria, der als Vater des Völkerrechts gilt, und greift eine alte, bereits aus der mittelalterlichen Scholastik stammende Denkformel auf, wonach gewisse Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit auch dann gelten würden, wenn Gott nicht existieren würde (etiamsi daremus ... non esse Deum. Bekannt ist die formelhafte Kurzfassung: etsi deus non daretur). Im Zuge der Aufklärung wurde immer mehr das Recht als verbindliche Grundlage eines Staatswe-
159 sens herausgearbeitet. Die religiöse Vielfalt vor allen in der „Neuen Welt“, d.h. in Amerika, erforderte religiöse Toleranz und allgemeine Religionsfreiheit. Diese Entwicklung führte zur Proklamation allgemeiner Menschenrechte (1776) auf der Grundlage der Überzeugung, dass alle Menschen von Natur gleich, frei und unabhängig seien. Politisch wirkte sich dies aus in der Unabhängigkeitserklärung der 13 Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776. In Europa setzte sich die Toleranz in England und Holland durch und danach im brandenburgisch-preußischen Staat. Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst, erließ 1685 das Potsdamer Edikt, durch das den aus Frankreich vertriebenen Hugenotten Asyl in seinem Lande gewährt wurde. Im Verlauf der Französischen Revolution beschloss die Nationalversammlung Anfang August 1789, eine Verfassung zu erarbeiten, an deren Spitze die Menschenrechte stehen sollten, die man aus den USA kannte. Verabschiedet wurden die Menschenrechte am 26. August 1789. In der Präambel ist ausdrücklich davon die Rede, dass es sich um die Rechte der Menschen, also nicht nur der Franzosen, handele. Der Schlusssatz der Präambel lautet: „Infolgedessen erkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem Schutz des Allerhöchsten folgende Menschen- und Bürgerrechte (en présence et sous les auspices de l’Être Suprême).“ Bemerkenswert ist hier die Anrufung des Schutzes des „Être Suprême“. Ursprünglich hatte man die „Gegenwart des höchsten Gesetzgebers des Universums“ postuliert. Viele Abgeordnete wollten aber von Gott und einer göttlichen Rechtsordnung nichts wissen.65 In Deutschland wirkten sich die Französische Revolution und die ihr folgenden Revolutionskriege so aus, dass die 1000-jährige Reichskirche nahezu völlig unterging. Seit 1795 arrangieren sich die betroffenen weltlichen Staaten (Preußen, Bayern, Nassau, Hessen-Kassel, Baden, Württemberg u.a.) in Geheimverträgen mit dem siegreichen Frankreich: Sie treten ihre linksrheinischen Gebiete ab, verzichten dort auf ihre Ansprüche, lassen sich jedoch rechtsrheinische Entschädigung aus den Gebieten der geistlichen Fürsten zusichern. Dies war der unmittelbare Anlass für die „Große Säkularisation“. Es war freilich nur der Anlass; denn seit Jahrzehnten war die Vereinigung von geistlicher und weltlicher Gewalt, nicht zuletzt auch innerhalb der geistlichen Fürstentümer selbst, zum Problem geworden. Die Zeit der Aufklärung empfand diese Vereinigung als mittelalterlichen Anachronismus. Immer wieder waren auch politische Säkularisationspläne erwogen worden; und von dem Moment an, wo große politische Verschiebungen auf Kosten von irgendjemand geschehen mussten, waren die geistlichen Fürstentümer die naturgegebenen Opfer. Auch in ihnen selbst herrschte weithin das Bewusstsein einer im Grunde überlebten Struktur. Dadurch ist es zu erklären, dass ein nennenswerter
kirchlicher Widerstand oder Protest bei dem Säkularisationsgeschehen ausblieb. Die überwiegende Haltung war die des Sich-Fügens ins Unvermeidliche. Die zu verteilende Herrschaftsmasse war die Reichskirche, die sich seit Otto I. im 10. Jahrhundert kontinuierlich entwickelt hatte. Die Strukturierung der reichskirchlichen Institutionen folgt der ständischen Gliederung des Reiches: Kurfürsten (Trier – Köln – Mainz, letzterer auch Reichserzkanzler; ihre Territorien = Kurfürstentum/Erzstift); Reichsfürsten (1791 insgesamt drei Erz- und zwanzig Bischöfe), weiterhin fünf fürstenrangige Prälaten; dazu auch die Hochmeister des Deutschen Ordens und der Malteser. Dem Grafenstand bzw. sonstiger Reichsstandschaft entsprechen die kleineren geistlichen Herrschaftsträger: Kollegiatstifte, Klöster (im Reichstag drei mit Virilstimmen; die 36 Prälaten der schwäbischen und die 37 der rheinischen Prälatenbank mit je einer Kuriatstimme). Für den Entschädigungsplan wurde eine Reichskommission eingesetzt, die dafür den am 25. Februar 1803 zu Regensburg verabschiedeten Reichsdeputationshauptschluss (RDHS) vorlegte, den Kaiser Franz II. am 27. April 1803 bestätigte. Vollzogen wurde der RDHS bereits vom 1. Dezember 1802 an. Der Regensburger RDHS erforderte eine umfassende Neuordnung des katholischen Kirchenwesens in den im Deutschen Bund nach 1815 zusammengefassten neuen Staaten des untergegangenen alten Reiches. Denn der RDHS hatte zur Folge: Die Zerschlagung der bisherigen (katholischen) Kirchenorganisation mit weitreichender Störung des Seelsorge- und Kultgefüges; einen weitgehenden Entzug der materiellen Grundlagen des katholischen Kult- und Kulturlebens; die Beseitigung der bisherigen rechtlichen Grundlagen der katholischen Konfessionspartei; eine tiefgreifende Erschütterung des bisherigen konfessionell geprägten Sozialgefüges zum Nachteil der katholischen Konfessionsverwandten; dem Ansatz nach jedoch auch bereits umrisshaft die Verkirchlichung der katholischen Konfessionspartei. Anders stellt sich die Entwicklung der evangelischen Kirchen dar, die in der Obhut ihrer jeweiligen Landesherren verblieben. Ein sich erst allmählich herausstellender Vorteil der katholischen Kirche in Deutschland sollte in der Folge ihre größere Staatsferne sein. Die Religion/Konfession wurde allmählich vom Recht als verbindlicher Staatsgrundlage abgelöst. Die Entscheidungen der Reichstage im 16. und 17. Jahrhundert ermöglichten den Zusammenhalt und das Funktionieren des Reiches trotz konfessioneller Verschiedenheit, weil hierin das gemeinsame Interesse der Stände lag.66 Zwar wurde diese Entwicklung durch die Reformation Martin Luthers ausgelöst, jedoch haben die Reichstagsentscheidungen des 16. und 17. Jahrhunderts wesentlich zur
160 Entstehung eines neuzeitlichen säkularen Staates beigetragen. All diese Entwicklungen sind nicht unmittelbare Folgen der Reformation. Sie liegen außerhalb der theologischen Intentionen, gehören aber zu den nicht unmittelbar intendierten politischen Konsequenzen. Die weitgehende Trennung von Staat und Kirche seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eröffnet neue Chancen für eine Verständigung der christlichen Kirchen auf theologischer bzw. religiöser Basis, die bis dahin nicht erprobt wurden, in der neuzeitlichen Ökumene aber noch weiter auszuloten wären. Literatur 1
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Religion und Politik im Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden Die deutsche und die europäische Dimension Der Friede galt schon im frühneuzeitlichen Europa als ein hoher Wert. Gewiss gab es entgegenstehende Normen und Tugenden wie Ruhm und Ehre, Tapferkeit und Treue sowie Ausnahmeregelungen aus der christlich-völkerrechtlichen Diskussion um den „gerechten Krieg“ (bellum iustum) und die Übertragung der moralischen Verantwortung auf den politisch berechtigten Kriegsherren. Wo immer aber sich ein mahnender Finger erhob, in Traktaten, Fürstenspiegeln und Politischen Testamenten, wurde vor leichtfertigen Kriegen gewarnt und für die Wahrung des „lieben Friedens“ (pax alma) plädiert. In der Bildpublizistik der Zeit wird das besonders anschaulich. In der Mitte eines Kupferstichs trennt ein Weinstock, links fruchttragend, rechts verdorrt, die helle Welt des Friedens von der verdüsterten des Krieges. Für die „Friedens-Freude“ zur Linken steht die allegorische Frauengestalt der Pax mit den Friedenszeichen Füllhorn, Palmenwedel und Lamm vor einer fruchtbaren und gewerbefleißigen Landschaft. Dem kontrastiert auf der anderen Seite das „Krieges-Leid“ in Gestalt des gerüsteten Kriegsgottes Mars, der Schwert und Brandfackel vor einer gerade erstürmten brennenden Stadt in die Höhe reckt. Die Parteinahme von Text und Bild für den Frieden ist unverkennbar und gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges auch zu erwarten.
Abb. 1: „Friedens=Freude und Krieges=Leid, 1644“
Das, was hier in der Situation und Gegenüberstellung fast überscharf hervortritt, gilt generell: Krieg wird als Unglück, Übel oder gar Strafe Gottes wahrgenommen und muss sich rechtfertigen; die zu wahrende und am Ende nur wiederherzustellende Norm ist der Frieden.1
Umso erklärungsbedürftiger ist angesichts der grundsätzlichen Friedensorientierung in dieser Zeit der Dreißigjährige Krieg.2 Wie konnten Menschen in Deutschland und Europa in eine solche Kriegskatastrophe hineingeraten und über drei Jahrzehnte nicht wieder herauskommen? Worum ging es überhaupt in einem solchen Dauerkonflikt? Die Kriegsherren und ihre Gesandten, zumeist schon aus der nächsten Generation, wussten es am Ende selbst nicht mehr so genau. Als nämlich 1643 in Frankfurt ein Vorbereitungstag für die Friedensverhandlungen zusammenkam, geriet man – wie ein zeitgeschichtlicher Beobachter und Kriegshistoriker der ersten Stunde berichtete3 – erst einmal in eine historische Debatte über die „rechten Ursachen des Krieges“, die zunächst gründlich erforscht werden müssten. Denn, „materia belli“ müsse ja doch wohl „materia pacis“ werden, also der Konfliktstoff des Krieges auch der Gegenstand der kommenden Friedensverhandlungen. Sonst müsste man ja eine Therapie ohne Diagnose verordnen. Hinter dieser frühen Kriegsursachenforschung steckten auch praktische politische Interessen der Reichsfürsten, nämlich die den Kaiser belastenden Anfangskonflikte nicht unter den Teppich zu kehren. Aber es ist auch ein Stück Ratlosigkeit spürbar, worum es in dem Krieg letztendlich gegangen sei. Nun werden heute viele denken, dass sie es mittlerweile wüssten – denn war es denn nicht in erster Linie ein Religionskrieg? 1. Der Dreißigjährige Krieg als Religionskrieg Über Ursachen und Charakter dieses Krieges sind sich die Experten bis heute nicht einig. Die einen sehen hier einen fast unausweichlichen Religionskrieg, und dafür spricht viel. Die strukturelle Intoleranz aller frühneuzeitlichen Konfessionsbildungen hat in den schweizerischen Kriegen, dem Schmalkaldischen Krieg im Reich und vor allem in der Serie der französischen Konfessionskriege, den englisch-spanischen Seekämpfen, im englischen Bürgerkrieg sowie im Niederländischen Unabhängigkeitskrieg in der Tat zu Religionskriegen geführt oder doch zu Konflikten, in denen Religion einen gewichtigen legitimierenden Anteil hatte.4 Der Dreißigjährige Krieg kann hier geradezu als der Höhepunkt eines Zeitalters der Religionskriege erscheinen. Gestützt wird das durch die Unklarheiten des Augsburger Religionsfriedens, durch eine Serie aufgelaufener Konflikte im Reich, eine militante Fürstengeneration und die Errichtung konfessioneller Kampfbünde, einer protestantischen Union und einer katholischen Liga, wie eine konfliktbedingte „Lähmung“ der Reichsorgane, oder in neuer Wendung eine interkonfessionelle „Kommunikations-
164 störung“ der Reichsstände, die zu diesem Krieg geführt habe, so Axel Gotthard.5 Mit dem Prager Fenstersturz und dem Eingreifen des „Glaubenshelden“ Gustav Adolf gegen das kaiserliche Restitutionsedikt zugunsten katholischer Besitzstände sollten die Evangelischen vor der „Gegenreformation“ geschützt werden. Freilich hat keiner dieser Konflikte wirklich direkt in den Krieg geführt oder seine Fortsetzung unausweichlich gemacht. Vielmehr war die Reichspolitik mit Beilegungsverhandlungen über die Anfangsprobleme wie später über das Restitutionsedikt bereits in einen Friedensprozess eingetreten. Ein weiteres Argument für die Religionskriegslesart ist die von mir selbst ins Spiel gebrachte Entdeckung der verhängnisvollen Wirkung zweier hundertjähriger Jubiläen.6 Im Herbst 1617 wurde erstmals tagelang ein großes Reformationsjubiläum begangen. Und damit nicht genug folgte 1630 das Jubiläum der evangelischen Bekenntnisschrift. Das waren an sich eher defensiv ausgerichtete Identitätsfeste zur konfessionellen Selbstvergewisserung, sie forderten aber eine kräftige Kontroverspolemik der konfessionellen Gegner heraus. Jeweils am Vorabend des Kriegsbeginns und seiner Fortsetzung durch Gustav Adolf wirkte das wie eine publizistische Mobilmachung. Die Bildpublizistik übernahm auch hier die Führung und färbte den ganzen Flugblattkrieg ein, griff mit Vorliebe auf die eingängige Reformationspolemik des Genres zurück und übertrug sie auf die aktu-
ellen Ereignisse. Da sah man auf evangelischen Blättern Papstsatiren oder nunmehr die Jesuiten, ausschwärmend wie die Heuschrecken, auf Kanonen sitzend oder als apokalyptische Monster auftretend, und Gustav Adolf als gottgesandten Retter eingreifen und in seinem Siegeslauf triumphieren. Aber war das nicht alles Propaganda? Die eingängig auf den Religionskrieg fixierte Pressekampagne hat die Wahrnehmung des Krieges zweifellos schon damals beeinflusst. Aber diese seit dem 19. Jahrhundert fleißig gesammelten und immer wieder nachgedruckten militanten Kupferstiche haben das Bild des Dreißigjährigen Krieges bis heute konfessionalistisch überformt. Sind wir auf die Macht der Bilder hereingefallen? Nicht ganz, denn natürlich zeigte die einseitige Darstellung damals auch Wirkung. Neben vielen anderen Konfliktpunkten spielte auch der Konfessionsgegensatz hinein, aber nur, wenn es gerade passte. Die Episode um Gustav Adolf in den Jahren 1630 bis 1632 ist jedoch die einzige, in der Religion und Politik wirklich übereinstimmten. In der ersten Hälfte des Krieges stand vielmehr das evangelische Sachsen auf der Seite des katholischen Kaisers gegen die glaubensverwandten Böhmen, in der zweiten griff das katholische Frankreich auf der konfessionell falschen Seite ein. Die Konfessionsfrage trägt nicht durch und kann nicht der Hauptkonflikt gewesen sein. Ich habe darum für den Religionsgegensatz den Begriff „Hauptnebenkonflikt“ eingeführt, wichtiger als andere, aber nicht der wichtigste. Welcher ist das? Wenn wir uns an den Rat der ersten Ursachenforscher halten und davon ausgehen, dass die „materia pacis“ wohl auch die „materia belli“ gewesen war, scheint zunächst doch vieles für die Religion zu sprechen. Denn fast die Hälfte der Bestimmungen des Westfälischen Friedens reguliert generell oder im Einzelnen die konfessionellen Verhältnisse. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass
Abb. 2a und b: „Kursächsisches Jubiläumsblatt, 1617“; „Jesuitenkanone“, satirisch, 1620
165 sich die Religionsbestimmungen ausschließlich auf das Reich beziehen, wie auch schon im ersten, hier nachgebesserten deutschen Religionsfrieden von Augsburg. Für das übrige Europa war es kein Religionsfrieden, denn für die eigentlich vertragsschließenden Parteien Frankreich, Schweden und selbst für die eigenen Erbstaaten des Kaisers wurde konfessionspolitisch gar nichts verfügt. Die eigentliche „materia pacis“ und „bellis“ lag auf einer ganz anderen, einer politischen Ebene. Im Zeichen des in dieser Zeit anstehenden Wachstums der Staatsgewalt wurde in dem langen Krieg um den rechten Weg dahin gekämpft – ein Grundkonflikt, der in einer Neuordnung Europas im Westfälischen Frieden die bleibende Lösung fand. 2. Die politische Dimension um die Staatenbildung Die politische Sache des Friedens gibt über die materiellen Bestimmungen zu Territorialverhältnissen und Finanzausgleich hinaus die Symbolkraft der ganzen Inszenierung zu erkennen. Auch hier kann die Bildpublizistik weiterhelfen. Denn während die Religionskriegspropaganda am Ende verstummte, gelangte die politische Dimension von Krieg und Frieden nun beredt zur Anschauung. Das gilt schon für den geradezu zum Logo gewordenen Friedensboten, der mit der guten Nachricht über eine europäische Landschaft reitet, die sich zwischen Wien, Paris und Stockholm erstreckt.
Abb. 4: „Europa Regina“, 16. Jahrhundert
Varianten wurde Europa zuvor gern als Frauengestalt dargestellt, deren Körper und Kleider zugleich eine Landkarte des Kontinents bilden. Es ist eine politische Karte, aber nicht mit Grenzen, sondern als eine Einheit gegeben, mit dem Herrschaftszeichen einer „Europa Regina“. Das gekrönte Haupt einer Königin Europa ist die spanische Halbinsel und ihr Herz der böhmische Waldkranz um die Residenzstadt Prag. Beides war unter den Habsburgern vereint, illustrierte den Herrschaftsanspruch dieser Dynastie über ganz Europa, ja war über halb Europa schon durchgesetzt. Dem konkurrierten aber mit ähnlichem Anspruch besonders unter dem Kardinalpremier Richelieu die französische Krone sowie der schwedische König, der, gestützt auf die Staatsidee eines erneuerten
Abb. 3: :„Postreiter 1648“
Das waren die Hauptstädte der nun friedenschließenden Kriegsparteien Europas. Was damit gesagt war, wird deutlich im Vergleich zu einem ganz andersartigen Typ von Europakarten, die in den Dreißigjährigen Krieg geführt hatten. In verschiedenen
Abb. 5: „Schwedischer Beruf“, dreiteilige Flugblattserie, Mittelblatt,1631/32
166 Gotenreiches („stör göticism“), eines evangelischen Kaisertums, und unterstützt von deutschen Fürsten als Überraschungskandidat eingriff. Hinter alldem stand das politische Ordnungsideal, dass Europa – als fortbestehendes Römisches Reich, als Christenheit oder als „Universalmonarchie“ – eine politische Einheit sei oder sein sollte, die unter den hierarchischen Vorstellungen der Zeit eine wie auch immer legitimierte höchste Gewalt benötigt. Es war eine gleichsam eingeplante Spitzenposition in Europa, bei der sich nur fragte, wer sie besetzen würde. Darum ging es im Dreißigjährigen Krieg. Der Friedensreiter von 1648 aber reitet nun über eine enthierarchisierte Landschaft. Denn keiner der drei universalistischen Kandidaten konnte in dreißig Jahren sein Ziel erreichen. Nicht der Kaiser in Hauseinheit mit der spanischen Militärmacht, nicht der „Allerchristlichste“ König von Frankreich und auch nicht Gustav Adolf und die politisch-militärischen Fortsetzer der schwedischen Großreichsidee um Oxenstierna. Ein Kompromiss wurde schließlich unausweichlich und führte zu einer neuen politischen Ordnung: zu einem mehrstaatlichen Europa. Was unter dem Vorzeichen eines einstaatlichen Europas fast als Anarchie wahrgenommen worden war, wurde nun zu einem neuen pluralen Ordnungsideal. Die ehemaligen Kombattanten um Europa erkannten sich gegenseitig als gleichberechtigt an. Das zeigen die „auf ewig“ geschlossenen – und in diesem Punkt trotz weiterer Kriege auch immer wieder bestätigten – Westfälischen Friedensverträge, nämlich des Kaisertums mit der französischen Krone in Münster (Instrumentum Pacis Monasteriensis) sowie des Kaisertums mit der schwedischen Krone in Osnabrück (Instrumentum Pacis Osnabrugensis), in denen der über zwei Herrschergenerationen gelaufene Krieg ohne Schuldzuweisung in genau paralleler Stilisierung memoriert und zur Anerkennung eines Nebeneinanders in Frieden geführt wird. Eben dieses Resultat verkündet die Bildpublizistik, der Friedensreiter zwischen den europäischen Residenzen, ein dreiblättriges Kleeblatt, die drei Herrscher als Gruppe, oder aber ihre drei Wappen, wie sie bereits als Kaiseradler, französische Lilie und schwedischer Löwe auf dem hier vorangestellten Friedensblatt erkennbar sind (siehe Abbildung 1). Dieses Mächtedreieck wurde zum Kern des europäischen Staatensystems und erfuhr auch gleich noch Erweiterung durch ein weiteres Wappen. Denn am Ende musste der Kaiser Frieden schließen, die den Krieg dominierende habsburgische Hauseinheit aber aufgeben, sodass Spanien nun als eigener Akteur wahrgenommen wurde und in der Tat seinen Frieden mit Frankreich erst 1659 erlangte. Vier Rosse ziehen denn auch in einer der kongenialsten Verbildlichungen den Wagen des Friedens über den Waffenmüll hinweg und an der
Säule der Staatsraison vorbei – durch das französische, schwedische, kaiserliche und nun auch spanische Wappen identifizierbar – ein europäisches Mächtegespann wie ein Logo des Staatensystems.
Abb. 6: „Augsburger Friedenswagen“, 1648 (Detailvergrößerung)
Neu dazu kamen die Niederlande, die sich in einem 80jährigen und am Ende mit dem 30jährigen zusammenfallenden Krieg aus dem habsburgischen Herrschaftssystem lösten, sowie weitere Staatsbildungen von unten, wie die Schweizer Eidgenossenschaft, während andere Staatsbildungsversuche, wie die mit dem Prager Fenstersturz in den Dreißigjährigen Krieg führende böhmische Erhebung, militärisch scheiterten.7 Trotz vieler weiterer Veränderungen im Einzelnen waren die Weichen für Europas staatliche Entwicklung nun gestellt. Die internationale Forschung spricht von einem bis an die Schwelle der Gegenwart führenden „Westphalian System“, und in der Tat gilt das in dem Sinne, dass in diesem Krieg unumkehrbar entschieden wurde, ob sich Europa als ein wie auch immer im einzelnen gestalteter einziger Staat oder in mehreren Staaten organisieren würde.8 Der Dreißigjährige Krieg war darum in der von mir eingeführten und vieldiskutierten Terminologie in erster und nachhaltigster Hinsicht ein Staatsbildungskrieg.9 3. Der doppelstaatliche Weg des Reichsföderalismus Wenn in Europa in Krieg und Frieden Staatsbildung angesagt war10, so fragt sich, wie die im Reich deutscher Nation aussehen sollte. Für eine direkte Gesamtadministration von oben zu groß, waren seine Teile für selbstständige Staatlichkeit in Europa denn doch zu klein. So hatte sich schon über Jahrhunderte eine einzigartige doppelstaatliche Lösung entwickelt, die Staatsrechtslehrer im 18. Jahrhundert als einen aus Staaten zusammengesetzten Staat bezeichneten und die wir heute als die Tradition des deutschen Föderalismus erkennen. Staatliche Aufgaben erledigten einerseits die Länder, damals Fürstentümer und Kurfürstentümer wie Sachsen oder andere Reichsstände und Reichs-
167 städte, aber darüber wölbte sich ein Gesamtstaat aus Reichsoberhaupt und den Reichsinstitutionen. Im Dreißigjährigen Krieg nun stand diese bereits bewährte politische Ordnung von der einen wie der anderen Seite zeitweise noch einmal zur Disposition. Im Zeichen des habsburgischen Universalismus versuchten der Kaiser und sein General Wallenstein auf dem Höhepunkt ihrer Kriegserfolge ihre direkte Herrschaft auch auf das föderal verfasste Reich auszudehnen, scheiterten aber schnell am Widerstand der Reichsfürsten, selbst der eigenen katholischen Verbündeten. Umgekehrt schlossen evangelische Reichsfürsten Bündnisse mit Gustav Adolf, die zu einem Reichsaustritt und staatlichen Sezessionen hätten führen können. Aber mit etwas mehr Entgegenkommen des Reichsoberhaupts und dem Prager Frieden von 1635 fanden alle wieder zu Kaiser und Reich zurück. Obwohl zwischen den europäischen Staaten abgeschlossen, beteiligten sich die Reichsstände bereits an Vorbereitung und Verhandlungen des Westfälischen Friedens, und berieten anschließend in Nürnberg noch über die Ausführungsbestimmungen und die Lastenverteilung der Geldzahlungen, die zur Abdankung der schwedischen Besatzungstruppen aufzubringen waren.
manchmal bis heute nachgeschriebene Irrlehre des 19. und 20. Jahrhunderts ist, die nicht zuletzt in die Welt gesetzt wurde, um den Verfassungsbruch des Preußenkönigs Friedrich des Großen zu bemänteln.11 Ebenso wenig war das Kaisertum schwach und ohnmächtig, und seine konstitutionelle Einschränkung wurde durch die Kooperation der Landesherren in den Reichsinstitutionen auch zu einer effektiven Gesamtstaatlichkeit gebündelt. So wird erst heute voll erkennbar, dass der aus dem Dreißigjährigen Krieg gerettete und mit dem Westfälischen Frieden irreversibel gewordene doppelstaatliche Föderalismus mit unguten Unterbrechungen die deutsche und neuerdings in manchem auch die europäische Geschichte bestimmt.
Abb. 8: Reichstag zu Regensburg, 1653
Abb. 7: „Geschlossenen Friedens=Unterschreibung in Nürnberg“, nach 1649
Der Verfassungsartikel VIII aber hat die doppelstaatliche Ordnung des Reiches wiederhergestellt und präzisiert. Die Landesherrschaft der einzelnen Reichsstände wurde in der bisherigen Form bestätigt, die Gesamtstaatlichkeit aber mit dem von den Kurfürsten zu wählenden Reichsoberhaupt und den erneuerten staatlichen Institutionen Reichskreise, Reichsgerichte sowie einem aufgewerteten, bald ständig präsenten Reichstag eine der entwickeltsten europäischen Staatsformen etabliert. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Behauptung, die deutschen Fürsten seien 1648 „souverän“ geworden, ohne jede Grundlage im Vertragstext, im Reichsrecht und in der Realität eine
Und die Religion, der Hauptnebenkonflikt in diesem nun endgültig wiederhergestellten doppelstaatlichen Reich? Die Konfessionen waren sich in diesem Krieg als Konfessionen kaum näher gekommen, oft im Gegenteil – wenn überhaupt, dann erst gegen Ende durch mehr Gelassenheit aus Kriegsmüdigkeit – und entwickelten alle erst in der Aufklärung ein Stück weltanschauliche Toleranz. Es war wiederum der Staat, der eine politisch-rechtliche Regelung finden musste, wie einst im Augsburger Religionsfrieden, von dem der Religionsartikel V des Osnabrücker Friedensvertrags ausdrücklich ausging. Im Prinzip wurde damit die nur in einem föderalen Staat mögliche Augsburger Befriedungslösung bestätigt, nach der die Landesherrschaft die Konfession bestimmt und die Reichsgewalt diese Regelungen mit einem System von Ausnahmen garantierte und überwachte. Nicht vor dem, wie immer wieder behauptet, sondern im und durch den Dreißigjährigen Krieg waren aber Religionsrechte gebeugt und die Konfessionsverteilung durcheinander geraten, und alles bedurfte einer neuen Sicherung zur Wiederherstellung des Religionsfriedens. Mit zwei genialen Zusatzregelungen gelang es 1648, den Religionsfrieden in Deutschland auf
168 Dauer wiederherzustellen und zu wahren. Zum einen galt nun in den Reichsgremien die konfessionelle Parität, wenn nicht der Zahl nach möglich, die Verfahrensparität, wobei sich im Reichstag in Konfessionsangelegenheiten die Religionsparteien – später organisiert als Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum – nicht überstimmen durften, sondern auf dem Verhandlungswege einigen mussten. Die andere Maßnahme war, dass man die vom kaiserlichen Restitutionsedikt infrage gestellten konfessionellen Besitzverhältnisse nach dem Stichjahr 1624 wiederherstellte (Art. V. § 30) und so auch zum Schutz der Untertanen vor neuerlichem Konfessionswechsel ihrer Herrschaft für die Zukunft festschrieb (Art. V. §31).12 Mit diesen beiden religionsrechtlichen Bestimmungen, der Parität und dem später „Normaljahr“ genannten Stichjahr, gelang es dem föderalen Reich, die Konfessionskarte weitgehend zu stabilisieren und den Religionskrieg in Deutschland für immer abzuschaffen. 4. Sächsische Friedenspolitik Nicht isoliert, sondern in diesem größeren europäischen, reichsföderalen und religionspolitischen Rahmen muss man auch die sächsische Politik im Dreißigjährigen Krieg sehen. Dann wird deutlich, dass Kursachsen auf allen drei Feldern beeinflusst, entscheidend mitgestaltet und immer wieder zum Frieden gelenkt hat.13 Im politisch-europäischen Rahmen hat sich das nach Land, Bevölkerung und Wirtschaft damals stärkste Kurfürstentum Kursachsen – anders als das mit dem habsburgischen Universalismus verquickte Kaisertum – aus der konfliktträchtigen europäischen Politik ganz herausgehalten. Die schon von Karlheinz Blaschke bedachte und von Reiner Groß aus anderen Gründen abgewiesene Alternative, ob nicht für Sachsen im Bunde mit der dem Kurfürsten angebotenen Böhmischen Krone eine europäische Staatsbildung möglich gewesen wäre, hätte gegen die zu dieser Zeit stärkste spanischflandrische Militärmacht der Habsburger wohl auch kaum eine Realisierungschance gehabt und nur in einer noch größeren Kriegskatastrophe enden können.14 Aber über die realpolitische Einsicht hinaus sah sich der kaisernahe Kurfürst Johann Georg I. als Teil des hochgeschätzten Reiches. Der Kurfürst wollte kein europäischer Akteur sein, wie später das friderizianische Brandenburg-Preußen, sondern agierte stets im Rahmen der Reichsverfassung. Ein Friedensbeitrag war so schon die strikte Enthaltsamkeit des Kurfürsten vom kriegstreibenden Wettlauf um die Spitzenstellung in Europa oder eine andere Form einer europäischen Staatsbildung von unten, wie sie selbst im gelungenen Fall der Niederlande mit einem 80jährigen Unabhängigkeitskrieg erkauft wurde. Hinter der anfänglichen Neutralität gegenüber der böhmischen Erhebung ist mittlerweile eine konstruktive sächsische Friedensdiplomatie entdeckt worden, die das Übergrei-
fen der an seinem Rande entstandenen Konflikte auf das Reich verhindern sollte und im Erfolgsfall den ganzen Krieg verhindert hätte.15 In der Religionsfrage hat Kursachsen entschlossen auf die gemäßigte, neutrale und zum Ausgleich drängende Seite gesetzt und einen Religionskrieg nicht gelten lassen. Obwohl als Haupt der evangelischen Religionspartei anerkannt, blieb es dem bewaffneten evangelischen Sonderbund, der Union, demonstrativ fern. Eine von den Böhmen eingeklagte konfessionelle Solidarität hat es konsequent mit der Begründung abgewiesen, es handle sich um keine Religionssache, sondern um einen politischen Konflikt. Diese auch von anderen im Reich übernommene Position erlaubte der sächsischen Führung eine überparteiliche Vermittlung. Wenn sich Sachsen nach deren Scheitern entscheiden musste und als evangelischer Reichsstand auf die Seite des Kaisers rückte, so war zwar der Krieg nicht verhindert, aber erst recht dementiert, dass es sich um einen Religionskrieg handelte. Als aber dann der Kaiser durch sein Restitutionsedikt 1629 eine katholische Auslegung des Augsburger Religionsfriedens durchsetzen wollte, war das Dementi nicht durchzuhalten. Bisher sei es kein Religionskrieg gewesen, meinte Kurfürst Johann Georg, nun aber doch. Das hat eine von Kursachsen mitgetragene politische Neuorientierung des Reiches erfordert. In dem verfassungspolitischen Konflikt zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen hat die sächsische Führung durch situationsangepasste Flexibilität als „Signalgeber“16 den Weg gewiesen. Die religionspolitische Fehlentscheidung des Kaisers war zugleich eine politische Überdehnung seines Herrschaftsanspruchs und begünstigte den Anschluss der evangelischen Fürstenopposition an die Intervention Gustav Adolfs. Aber Sachsens neues Signal war 1635 der Prager Frieden mit dem einsichtig gewordenen Kaiser, ein bilateraler Frieden zwischen Kaiser und Kursachsen, dem sich die anderen Fürsten und Reichsstände anschlossen. Es ging darum, das Reich von den fremden Mächten zu befreien, doch die schwedische Besatzung wurde man nicht los, und es gelang nicht, wie schon von Reiner Groß eindringlich dargelegt, die sächsische Bevölkerung vor den Kriegsverheerungen durch die nunmehrigen Gegner zu schützen.17 Reichspolitisch aber war es der richtige Entschluss, der über den Friedensschluss von Prag und den Waffenstillstand in der Kirche von Kötzschenbroda 1645 entscheidend zur Wiederherstellung der doppelstaatlichen Verfassung im Westfälischen Frieden beitrug.18 Eine besondere und noch wenig bekannte Pointe ist, dass Sachsen dabei auch das entscheidende Mittel fand, den Religionsfrieden zu erneuern. Im
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Abb. 9a und b: „Schwedischer Bundt“, Flugblatt 1632; „Deß H- Römischen Reichs von GOTT eingesegnete Friedens=Copulation“, Flugblatt auf den Prager Frieden 1635
Prager Frieden nämlich war das Restitutionsedikt von 1629 durch das günstigere Stichjahr 1627 ersetzt worden. Aber Sachsen hatte nicht nur eine Stichjahrsregelung überhaupt eingeführt, sondern dann am Ende auch das für die Evangelischen noch günstigere Datum. Als nämlich der sächsische Gesandte Johannes Leuber in Osnabrück eintraf, war der kaiserliche Gesandte Maximilian von Trauttmansdorff schon von endlosen Debatten um die richtige Zahl enerviert. So fragte er die für ihre gemäßigte Haltung schon bekannte sächsische Delegation vertraulich, welche Zahl sie denn als eine für beide Seiten gerade noch annehmbare halte, und erhielt die spontane Antwort: „1624“. Es war etwa die numerische Mitte zwischen dem für die Evangelischen günstigeren Vorkriegszustand von 1618 und dem die katholische Seite begünstigenden Restitutionsjahr 1629. Aber auch hier galt, dass die Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges gar nicht mehr so präsent war und niemand mehr so genau wusste, wie die Welt wohl just im Jahre 1624 ausgesehen hatte. Vorsichtshalber protestierten erst einmal beide Seiten und suchten nach Alternativen. Aber am Ende stand die sächsische Friedenszahl im Vertrag, im Zusammenhang mit anderen Regelungen, nicht weniger als 47 mal: 1624. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass Sachsen von seiner Erfindung für eine friedwirkende Festschreibung der ganzen konfessionellen Landkarte in Deutschland am Ende selbst betroffen war. Als nämlich Kurfürst August der Starke, um zusätzlich König von Polen werden zu können, 1697 zur katholischen Kirche konvertierte und Rom ihn dazu ermunterte, nun doch im Lande die katholische Religion einzuführen, wie zum Beispiel am Anfang des 17. Jahrhunderts der katholische Kurfürst von
Bayern in der vormals evangelischen Oberpfalz, konnten die entsetzten sächsischen Landstände auf der Grundlage des Normaljahrs und mit einem einsichtigen Landesherren dafür sorgen, dass das Land der Reformation evangelisch blieb. Ja, trotz fortan privat katholischer Herrscher behielt Sachsen sogar den Vorsitz im Corpus Evangelicorum am Reichstag. Unter der Leitperspektive von Staat und Kirche gesehen, hat so der im Westfälischen Frieden stabilisierte deutsche Föderalstaat noch einmal mit politischen Sicherheitsregelungen den Religionsverhältnissen rechtlichen Bestandsschutz gegeben und damit die öffentlich-rechtliche Stellung der Konfessionen bis heute begründet.19 Literatur 1 Vgl. hierzu die Beiträge in: Matthias Asche/Anton Schindling (Hgg.): Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges ; Beiträge aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, Münster 2001. 2 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, eine kurze Zusammenfassung in: Johannes Burkhardt: Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit (Beck Wissen), München 2009, S. 53–77; Georg Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg, München 1995; Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg, 2. Aufl. Stuttgart 2013. 3 Bogislav Philipp von Chemnitz, Königlichen Schwedischen in Teutschland geführten Krieges Tl. 4., Nach der Handschrift des Verfassers herausgegeben, Stockholm 1856–1859, hier Buch 3, Kap. 4, S. 17f.
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Johannes Burkhardt: Religionskrieg, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin/New York 1997, S. 681–687. Axel Gotthard, Der deutsche Konfessionskrieg seit 1619: ein Resultat gestörter politischer Kommunikation, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 141–172. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 2); ders., Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Dieter Düding u.a., Öffentliche Festkultur im 19. Jahrhundert. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek b. Hamburg 1988, S. 212–236. Vgl. demnächst Fabian Schulze, Bayern und Böhmen im Dreißigjährigen Krieg. Zwei föderale Bündnisprojekte im Vergleich, in: Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche, hg. vom Collegium Carolinum, erscheint München 2016. Vgl. gegen zu weit gehende Interpretationen die umfassenden Expertenerschließungen von Heinz Duchhardt und Heinz Schilling im Kontext des Jubiläumsjahres 1998. Vgl. Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede: Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998; Heinz Duchhardt, Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze 1979– 2011, hg. Martin Espenhorst, Paderborn/München 2012, zuletzt in europäischer Perspektive: 1648 – das Jahr der Schlagzeilen. Europa zwischen Krise und Aufbruch, Wien 2015, sowie Siegrid Westphal, Der Westfälische Frieden (Beck Wissen), München 2015; Heinz Schilling (Hg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa, 2. Bde, München 1998. Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährigen Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 487– 499.
10 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. 11 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648-1763, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11, 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 9–12. Hg. v. Wolfgang Reinhard. Stuttgart 2006, S. 405– 417. 12 Ralf-Peter Fuchs, „Ein Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010, 170–175. 13 Vgl. zum Folgenden: Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährigen Krieg – Einfluss der sächsischen Politik auf die deutsche Geschichte, in: Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte, Heft 56 (Sachsen im Dreißigjährigen Krieg), 16. Jg., 4/1998, hg. vom Dresdner Geschichtsverein, S. 3– 12; Frank Müller, Kursachsen und der Böhmische Aufstand 1618–1622, Münster 1997. 14 Vgl. Karlheinz Blaschke, Sachsen im Dreißigjährigen Krieg, in: Sächsische Heimatblätter 6 (1995), S. 329–334, hier S. 329; Reiner Groß, Geschichte Sachsens, Leipzig 2001, S. 96. 15 Vgl. Müller, Kursachsen (wie Anm. 13). 16 Vgl. Burkhardt, Einfluss der sächsischen Politik (wie Anm. 13), S. 8. 17 Groß, Geschichte Sachsens (wie Anm. 14), S. 99f. 18 Johannes Burkhardt, Friedensschlüsse auf Sächsisch. Pazifizierende Sprachleistungen eines deutschen Landesstaates in der ersten Hälfte der Frühen Neuzeit, in: Heinz Duchhardt/Martin Espenhorst (Hg.): Frieden übersetzen in der Vormoderne. Translationsleistungen in Diplomatie, Medien und Wissenschaft, Göttingen 2012, S. 35–66. 19 Vgl. zur historischen Gesamteinordnung Burkhardt, Deutsche Geschichte (wie Anm. 2).
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Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen) Einleitende Bemerkungen Um die Gleichheit und die Verschiedenheit von „Kirche und Staat“ in ihrer Geschichte erzählen zu können, werden zu den Torgauer Tagungen jährlich Historiker verschiedener Disziplinen eingeladen. Nur so gelingt es, die Vielfalt von Gleichem und von Verschiedenem im Verhältnis von Glaube und Macht oder von Religion und Politik in Darstellung zu bringen. An mitwirkenden Wissenschaftlern hatten wir bei dieser Tagung zum einen Kirchenhistoriker (Prof. Lexutt) und zum anderen Historiker der Allgemeingeschichte (Prof. Burkhardt; Prof. Decot) vereint, des weiteren Fachvertreter der sächsischen Geschichte (Prof. Groß; Prof. Müller und Dr. Treu als Fachmann für sächsische Reformationsgeschichte) und schließlich Historiker zum Thema „Die Reformation und Torgau“ (Dr. Hancke; Dr. Niedersen). Alle gehaltenen Referate werden in Textform erscheinen, denn alle Vorträge der Tagungsserie sollen einen ca. 400-seitigen Sammelband bilden. In diesem umfassenden Buch wollen wir auch die o. g. Aussage über Torgau als das politische Zentrum der lutherischen Reformation durch eine Tatsachen- und Faktensammlung und durch Mitteilen entsprechender Szenarien, die auf die Organisation bei der Ausbildung des Konfessionsstaates (hier eines Staates mit lutherischem Glaubensbekenntnis) verweisen, erzählbar gestalten. Wir sind jetzt dabei zu diskutieren, ob wir seitens des Fördervereins Europa Begegnungen e.V. eine Schrift entstehen lassen sollten, welche solche wesentlichen Zusammenhänge benennt, die die Aussage „Torgau als politisches Zentrum der lutherischen Reformation“ zu untersetzen hilft, auch um dem verbreiteten Spruch „Torgau als Amme der Reformation“ durch eine wissenschaftliche Nachbesserung mehr Tiefe zu geben. Die Organisation und Verbreitung von Glaubensrichtungen im 16. Jhdt. findet heute im Begriff „Konfessionalisierung“ ihre Bezeichnung. Allein über die Aussage „Torgau das politische Zentrum der lutherischen Reformation“ und zugleich über den Begriff „Konfessionalisierung“ haben wir hier von Torgau aus die Chance, den Ausgriff in die Große Geschichte vorzunehmen. Religion und Geschichte Woran glauben wir? Prof. J. Burkhardt (Augsburg) Mit „Ich bin Historiker und glaube an die Geschichte!“ möchte ich gegenüber Frau Lexutt mein wissenschaftliches Selbstverständnis pointiert zum Ausdruck bringen. Zum Verständnis der Geschichte
gehört für mich seit Reformation und Konfessionsbildungen ganz zentral die Religion in ihren geschichtlichen Veränderungen und Entwicklungen, nicht aber die theologische Wahrheitsfrage oder heutige Glaubensangebote aus einer Interpretation von Luthertexten und deren Folgen. Interessanterweise kann man aber – unübertroffen bleibt hier Ernst Walter Zeedens „Martin Luther im Urteil des deutschen Luthertums. Textband und Quellenband“ – an den von Frau Lexutt interpretierten Texten gerade auch die zunehmende Vergeschichtlichung von Religion ablesen: Luther und die Reformatoren selbst verstanden sich als die Wiederhersteller der alten christlichen Wahrheit (Wie die Renaissance-Humanisten bei der klassischen Antike). Die protestantische Orthodoxie stellte Luther an das Ende einer Reihe von Propheten und leugnete allen weiteren Veränderungsbedarf. „Was Lutherus einmal gelehrt, bei dem bleiben wir unverkehrt“ lautete die Devise in den Reformationsjubiläen bis 1717. Der Pietismus setzte dann mit dem Begriff der „unvollendeten Reformation“ die evangelische Religionsgeschichte wieder in Bewegung, bis die Theologen der Aufklärung Religion als einen prinzipiell legitimen und immerwährenden Veränderungsprozess zu begreifen begannen, in dem Luther nicht der „Kern“, sondern selbst eine Etappe auf dem Weg der Menschheit war. Hinter diese Erkenntnis sollten wir nicht zurückgehen. Prof. A. Lexutt (Gießen) Herrn Burkhardt möchte ich folgendes sagen: An die Geschichte zu glauben, kann kaum Trost, Gewissheit und Freiheit hervorbringen, wie es der Glaube (= Vertrauen) beansprucht. Dabei ist nicht der Glaube das entscheidende Moment, vielmehr die Zusage Gottes in der Offenbarung, welcher der Glaube in der Erfahrung den Wirkungsraum eröffnet. Das preiszugeben, bedeutet für die Theologie, sich selbst preiszugeben. Dies ist zwar durchaus als Trend auch in der akademischen Theologie zu beobachten (auf den Schultern eines bis zur Unkenntlichkeit gedehnten Schleiermacher stehend), dies kann aber nach meinem Dafürhalten auch nicht die angestrebte und erhoffte „Anschlussfähigkeit“ garantieren, ganz im Gegenteil. Dass und welche Bedeutung die Geschichte für die Theologie hat (und es daher auch des kirchengeschichtlichen Zugangs unbedingt und notwendig bedarf), sieht man indes schon an einem so wichtigen Text wie der „Disputatio de homine“ (der „Disputation über den Menschen“) Luthers, die den Menschen als „homo iustificandus“ („zu rechtfertigenden Menschen“) definiert und damit seine Geschichtlichkeit zum Wesensmerkmal erhebt.
172 An Frau Lexutt gerichtet wurde sogleich nachgefragt (U. Niedersen), ob sich das Wesen („Der Kern“) der lutherischen Theologie im Verlaufe der Zeit, ja bis heute verändert hat. Sind vielleicht doch die „Exklusivpartikel“ der lutherischen Theologie der eigentliche inhaltliche „Kern“ des reformatorischen Verständnisses? Zum Begriff „Exklusivpartikel“ hier vorerst einige Erläuterungen (U. N.): Im Rahmen der Lutherdekade legte die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) kürzlich einen Grundlagentext vor, der mit „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“ seinen Titel erhielt. In ihm werden die Kernpunkte (wesentliche Aussagen) der lutherisch-reformatorischen Theologie abgehandelt. Das reformatorische Verständnis des Christentums, so heißt es im EKD-Grundlagenpapier, wird mittels „Exklusivpartikel“ festgemacht: „allein Christus“; „allein durch die Gnade“; „allein durch das Wort“; „allein durch den Glauben“. Die vier „Mottos“ (Solas) seien es, die das evangelische Glaubensverständnis des Christentums ausdrücken. Kritisch wird hingegen von Allgemeinhistorikern und auch von einigen Kirchenhistorikern gefragt, ob eine solche abstrakt formulierte historische Anschauung den heutigen Menschen erreicht und ihn zustimmen lässt, der evangelischen Religion einen solchen Antrieb zuzuschreiben, der die Welt verändern hilft. Prof. A. Lexutt (Gießen) Zu der Nachfrage von Herrn Niedersen: Der „Kern“ ist und bleibt meines Erachtens das Relationale und Spannungsvolle, das in der Grundspannung von Schöpfer und Geschöpf verankert ist. Die vier Exklusivpartikel sind ebenfalls darin zu verorten. Dass dies schwer zu verstehen, zu vermitteln und in der kirchlichen und theologischen Praxis zu gestalten ist, sollte der Vortrag zeigen, und es wird sich noch weiter zeigen in der Beobachtung späterer Jahrhunderte. Insofern ist es kein Wunder, dass auf die vermeintlich „leichteren“ Exklusivpartikel zurückgegriffen wurde und wird, die aber nicht wirklich dazu dienen, eine konfessionelle Trennschärfe und/oder eine protestantische Identität eindeutig zu definieren. Das reformatorische Anliegen, wie es im Kern zu verstehen ist, bleibt nicht bei sich selbst stehen, sondern drängt in die Öffentlichkeit. Insofern muss die Kirche, die dieses Anliegen vertritt, auch mindestens sprachlich, mitunter aber auch sachlich anpassungsfähig sein an die Erfordernisse, Möglichkeiten und Grenzen ihrer jeweiligen Gegenwart. Die Denkschriften etwa geben von diesem Bemühen gutes Beispiel. Die Kirche täte im Blick auf das Reformationsjubiläum gut daran, dieses Anliegen neu zu entdecken und zu vermitteln, anstatt allein auf den Event-Charakter zu vertrauen.
Prof. R. Decot (Mainz) Noch einmal zur Schrift und zum Bekenntnis: Betont wurden die verbindlichen Bekenntnisse für die Theologie in den lutherischen Kirchen, besonders die Confessio Augustana und das Konkordienbuch. Neben dem Kanon der Heiligen Schrift bildeten sich zwar schon in der alten Kirche „regulae fidei“, Kurzfomeln des Glaubens, heraus (Taufbekenntnis, Apostolisches Bekenntnis, nicaeno-konstantinopolitanisches Bekenntnis), aber vor der Reformation gab es keine umfänglichen, dogmatisch verbindlichen Bekenntnisse. Wie sind sie nach rund 500 Jahren im Verhältnis zur Schrift zu gewichten? Die Heilige Schrift muss immer wieder neu interpretiert und in die jeweilige Zeit hinein verkündet werden. Die hierzu entwickelten (historisch-kritischen) Methoden sind hierfür heute unverzichtbar. In welchem Verhältnis stehen die historischen Bekenntnisschriften und die jeweils aktuelle wissenschaftliche Theologie? Martin Luther hatte sogar ein lebendiges Lehramt zur Wahrung des Sinnes der Schrift für möglich gehalten, wenn er auch daran zweifelte, dass ein solches von einem einzelnen ausgeübt werden könnte. Konfessionsbildung; Konfessionalisierung Prof. J. Burkhardt (Augsburg) In der Diskussion um die Bedeutung und Notwendigkeit der Bekenntnisse zur Festschreibung von Glaubensaussagen habe ich als Konfessionsbildungsspezialist Stellung genommen. Während die neue Konfessionsforschung von Ernst Walter Zeeden, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling an der Gleichartigkeit der Konfessionsbildungen ansetzt – zu Recht, aber worüber streiten die Konfessionen dann eigentlich? – sollte hier doch ein grundlegender Gegensatz nicht übersehen werden: für die vom geheiligten Text ausgehende evangelische Lehre war das Bekenntnis die erste Sorge, dann erst die ebenfalls nötige Kirchenorganisation. Für die katholische Konfession aber war das die letzte Sorge, nach der Wiederherstellung der geheiligten Kirche. Diese diametral entgegengesetzte Ausgangsposition – von mir als „evangelischer Primat des Lehrbekenntnisses“ und „katholischer Primat der Kirchenorganisation“ auf den Punkt gebracht – bestimmten das ganze jeweilige Religionssystem. Das waren keine graduellen Unterschiede, sondern nicht verhandelbare, einander ausschließende Letztbegründungen und der Grund für die fundamentale Intoleranz beider Konfessionsbildungen. Die Lösung gelang zunächst nicht durch die Theologen und Kirchenvertreter, sondern durch den Staat, der im Einzelnen ein Konfessionsstaat sein konnte, aber in Deutschland als übergeordneter Gesamtstaat das Zusammenleben der dogmatisch militant unverträglichen Konfessionen regelte. Die öffentlich-rechtliche Sonderstellung der hergebrachten Konfessionen, in Deutschland bis heute
173 (im Unterschied zur strikten Trennung von Staat und Kirche z. B. im seit der Revolution laizistischen Frankreich) hat hier ihren Ursprung. Prof. R. Decot (Mainz) Noch einige Worte zur Konfessionalisierung seien hinzugefügt: Der Begriff „Zeitalter der Reformation“ wurde von Leopold von Ranke als Epochenbezeichnung eingeführt. Weitere Gliederungsbegriffe wurden: Gegenreformation, Katholische Reform oder Zeitalter der Glaubensspaltung. Ernst Walter Zeeden sprach vom Zeitalter der Glaubenskämpfe, später fügte er hinzu „und der Konfessionsbildung“. Die Entstehung konfessionell unterschiedlicher Kirchentypen gehört mit zu den Hauptvorgängen der europäischen und besonders der deutschen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie vollzog sich in einem Prozess, der nicht nur das Kirchliche berührte, sondern auch die Lebensbereiche des Politischen und Kulturellen, überhaupt alles Öffentliche und Private. Diese Vorstellung wurde in den letzten Jahrzehnten von verschieden Forschern wie Wolfgang Reinhard, Heinz Schilling u.a. weiter entwickelt und auch unterschiedlich akzentuiert. Der Endpunkt des konfessionellen Zeitalters ist nicht so scharf zu bestimmen wie sein Anfangspunkt. Es scheint aber berechtigt, die übliche Epochengrenze 1648 beizubehalten. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden die Konfessionen in die Reichsverfassung eingebaut. Damit erhielt das konfessionelle Element eine bleibende Bedeutung. Auch die theologischen Streitigkeiten gingen im 17. und 18. Jahrhundert weiter. Selbst die Aufklärung war in Deutschland theologisch-kirchlich geprägt, dennoch traten seit Mitte des 17. Jahrhunderts neue Kräfte in den Vordergrund. Die Existenz dreier Konfessionen nebeneinander im Reich, angebunden an unterschiedliche Territorien, ist eine Tatsache. Die neuen Elemente der zunehmenden Säkularisierung, der Aufklärung und auch der Versuche, die religiösen Trennungen zu überwinden, wie sie in einigen Unionsprojekten des 17. Jahrhunderts deutlich wurden, verweisen auf das Aufkommen einer neuen Epoche. Tradition und Ökumene Prof. R. Decot (Mainz) Zur Traditionsbildung: Wenn im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2017 eine stärkere öffentliche Profilierung des Protestantismus gewünscht wird, so sollte in diesem Zusammenhang vielleicht auch ein ökumenischer Akzent gesetzt werden. In den heutigen säkularen westlichen Gesellschaften können die christlichen Beiträge wohl weniger von einzelnen Konfessionen als viel mehr vom Christentum insgesamt ausgehen. Gewiss gibt es noch Unterschiede zwischen den Konfessionen, aber das Beispiel von Schrift und Tradition scheint nicht mehr aussagekräftig zu sein. Das Tridentinum (das Kon-
zil von Trient, drei Sitzungsperioden der römischkatholischen Kirche, die zwischen 1545 und 1563 stattfanden) hat an Schrift und Tradition festgehalten, ohne zu definieren, was unter Tradition zu verstehen sei. In den letzten 500 Jahren ist an diesem Problem weitergearbeitet worden. Das Zweite Vatikanische Konzil kam zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass man unter Tradition die jeweilige Auslegung der Heiligen Schrift in der Zeit verstehen kann. In diesem Sinne stünde auch Martin Luther mit seiner reformatorischen Theologie als Beispiel für lebendige Tradition, indem er nämlich die Schrift in seiner Zeit neu von ihrer Mitte her zur Sprache brachte. Die reformatorische Theologie selbst hat sich auch in „Traditionen“ weiter entwickelt. Im 17. Jahrhundert gab es – wie dargelegt wurde - unterschiedlicher Akzentuierung des reformatorischen Erbes in der Orthodoxie, dem Pietismus und der wissenschaftlichen Theologie. Alle Aspekte zusammen gehören zum Erbe der Reformation. Insofern ist auch hier der Vorgang der Traditionsbildung zu beobachten. Es wäre eine Bereicherung, die unterschiedlichen christlichen Traditionen von der Schrift her zu interpretieren und als Fülle des gesamten Glaubens zu begreifen. Prof. A. Lexutt (Gießen) Den Ausführungen von Herrn Decot sei angemerkt: Wenn die Gemeinsamkeit zwischen römischen Katholiken und Protestanten im Gnaden- und Rechtfertigungsverständnis so groß wäre, wie von Herr Decot behauptet, müsste es konsequenterweise auch die Möglichkeit geben, gemeinsam Abendmahl zu feiern. Reformationsjubiläum und Memorialkultur Prof. W. Müller (Dresden) In der Diskussion wird u.a. ein Vergleich der frühneuzeitlichen Reformationsjubiläen mit der bevorstehenden 500-Jahr-Feier 2017 angeregt. Als Referent vertrete ich die Auffassung, dass im Grunde schon 1617 der Prototyp für das spätere Reformationsgedenken entwickelt worden ist. Die treibende Rolle der Landeskirchen, die unterstützende Rolle des Landesherrn bzw. des Staates, die Mitwirkung der Universitäten bzw. der Wissenschaft – das alles läßt sich auch bei den nachfolgenden Jahrhundertfeiern beobachten. Auffallend waren zugleich die geringen Gestaltungsmöglichkeiten des Kirchenvolkes, das allerdings als Störfaktor in Erscheinung treten konnte. So waren in Sachsen 1830 die Jubelfeiern zum 300. Jahrestag der Confessio Augustana von Unruhen begleitet worden, weil die protestantische Bevölkerung gegenüber dem katholischen Königshaus der Wettiner den Vorwurf erhob, die Jubiläumsfeierlichkeiten nicht hinreichend zu unterstützen bzw. gar zu behindern. Als neue Formen der Jubiläumskultur im 19. Jahrhundert wurden überdies die historischen Festzüge sowie
174 die Musealisierung der Reformationsstätten, etwa Wittenbergs, hervorgehoben. Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) Ich möchte gern noch einige Ergänzungen zum Beitrag von Herrn Müller zu den Reformationsjubiläen machen. Das betrifft zum einen die Wurzel solcher Memorialkultur in Luthers zunehmender Selbststilisierung schon ab den 30er Jahren. So schreibt er im Zusammenhang mit dem Ausbau der Festung Wittenberg sinngemäß, dass in wenigen Jahren der Bau den Abriss seines Turms gefordert sein wird, worin sich „das Stüblin befindet daraus ich das Papsttum gestormet, welches doch ewiger Erinnerung würdig“ sei. Man sieht, der Anfang aller Luthermuseen liegt beim Reformator selbst. Das zweite betrifft die Konfessionalisierung der Memorialkultur. Natürlich sahen die Katholiken 1617 keinen Anlass zum Feiern. Vor der Rekonfessionalisierung im 19. Jahrhundert konnte die Sache vor Ort ganz anders aussehen. In Eisleben wurde 1830 das Augustana-Gedenken noch ganz unter dem Eindruck der 1817 zwangsweise eingeführten Union zwischen Lutheranern und Reformierten begangen. Trotzdem beteiligte sich die breite Masse der Bevölkerung. Vor allem wurden die Häuser mit illuminierten Transparenten geschmückt, eine Eislebener Spezialität. Wie der Chronist hervorhebt, beteiligten sich auch Katholiken und Glieder der israelitischen Gemeinde. Das wäre 1883 nicht mehr möglich gewesen. Prof. R. Decot (Mainz) Jubiläumsjahre und katholische Kirche: Jahrhundertwenden haben die Menschen auch in der Vergangenheit immer wieder beschäftigt, so muss es auch um 1300 gewesen sein. Schon zu Beginn des Jahres trafen zahlreich Pilgerscharen in Rom ein. Im Februar verkündete Bonifatius VIII. ein Jubiläumsjahr. Was den Papst hierzu veranlasst hat, ist nicht genau bekannt. Waren es die bereits eintreffenden Pilgerscharen oder das Drängen der römischen Bevölkerung, weil sie annahm, schon vor hundert Jahren, also 1200, sei bereits ein besonders großer Ablass verkündet worden. Der Jubiläumsablass bedeutet für die Geschichte des Ablasswesens eine entscheidende Weiterentwicklung. Einen vollkommenen Ablass hatte man bisher nur für eine Pilgerfahrt in das Heilige Land erwerben können. Möglicherweise hat der Verlust des Heiligen Landes dazu beigetragen, nun die Pilgerströme nach Rom zu den Gedenkstätten der Apostelfürsten und ihrer Nachfolger, den Päpsten umzulenken. Große Folgen hatte bekanntlich das Jubeljahr 1500 mit seinen jahrelangen, europaweiten Ablasskampagnen. Das Jubeljahr 1525 wurde von den Reformatoren heftig kritisiert. Als Motiv für diese Einrichtung benannten sie die Geldgier der Päpste, so mehrfach in den Tischreden Luthers geschehen.
Der Dreißigjährige Krieg. Der Westfälische Frieden
Muss die Rolle Kursachsens während des Dreißigjährigen Krieges aufgrund neuer Forschungsergebnisse nicht in einem größeren Rahmen gesehen werden? Prof. R. Groß (Kreischa in Sachsen) Zu Beginn stand in unserer Diskussionsrunde die Frage, welche Rolle Kursachsen im Dreißigjährigen Krieg gespielt habe und ob es dazu neuer Fragestellungen bedürfe. Das ist zutreffend, da bereits in der hoch einzuschätzenden Arbeit von Frank Müller über „Kursachsen und der Böhmische Aufstand“ auf der Grundlage umfangreicher archivalischer Forschungen für die ersten Jahre des Dreißigjährigen Krieges neue Erkenntnisse gewonnen worden sind. Dazu bedarf es für die drei Jahrzehnte des großen Krieges weitergehender Forschungen und nach Möglichkeit weiterer Quelleneditionen. Das betrifft sowohl die außenpolitischen und reichspolitischen Aktivitäten Kursachsens als auch die Innen- und Wirtschaftspolitik. Wir benötigen dringend zum Beispiel eine Aktenedition der politischen Korrespondenzen von Kurfürst Johann Georg I. und seiner engsten Ratgeber, wie sie für Herzog/Kurfürst Moritz von Sachsen vorliegt, die Edition der Landtagsakten der Landtage zwischen 1618 und 1648 und auch eine grundsätzliche Aufarbeitung der gesamten Kriegsschäden im Kurfürstentum Sachsen. Dafür existiert im Sächsischen Hauptstaatsarchiv und in den größeren sächsischen Stadtarchiven ein überreicher Quellenfundus. Prof. J. Burkhardt (Augsburg) Auf die Nachfrage des Diskussionsleiters, inwieweit sächsische Geschichte den größeren Rahmen, in dem sie zu sehen ist, sogar selbst mitgestaltet hat, habe ich auf die Beiträge der Sachsen zu den Lösungen zu Frieden, Verfassung und Religion verwiesen. Ein Friedensbeitrag war zunächst die strikte Enthaltsamkeit der Kurfürsten vom kriegstreibenden Wettlauf um die Spitzenstellung in Europa sowie die konstruktive Friedensdiplomatie in Böhmen und die mustergebenden Friedensschlüsse von Prag und Kötzschenbroda als Vorleistung zum Westfälischen Frieden. In dem verfassungspolitischen Konflikt zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen hat die sächsische Führung seine Bevölkerung nicht schützen können (dazu hat Herr Groß vorgetragen), aber durch situationsangepasste Flexibilität dem Reich als „Signalgeber“ (Burkhardt, Groß) den Weg gewiesen, der 1648/50 zur Erneuerung der doppelstaatlichen Verfassung geführt hat, von der die deutsche Geschichte bis heute bestimmt ist. In der Religionsfrage hat Kursachsen entschlossen auf die gemäßigte, neutrale und zum Ausgleich auch auf die andere Seite gesetzt und einen Religi-
175 onskrieg nicht gelten lassen. Als das Religionsproblem nach dem Restitutionsedikt nicht mehr zu dementieren war, hat die sächsische Diplomatie den Ausweg des Normaljahrs gefunden: Die neuartige Stichjahrsregelung an sich und schließlich auch die konsensfähige Friedenszahl 1624. Für die Ergänzungsfrage, warum gerade Sachsen sich hier bemüht hat, wurde Herr Groß als landesgeschichtlicher Experte mit herangezogen. Als damals politisch wie wirtschaftlich stärkster Landesstaat mit seiner religionspolitischen, wie aber auch reichspatriotischen und friedenswahrenden Tradition, fiel ihm unter den Reichsständen eine Führungsposition zu. Prof. R. Decot (Mainz) Anmerkungen zu „Religionskrieg“ und „Eroberungskrieg“: Der Kriegseintritt Schwedens 1630 hatte zunächst das Ziel, in Deutschland den Protestantismus wieder herzustellen und abzusichern. Wo es Gustav Adolf gelang, die Landeshoheit zu erringen, errichtete er eine lutherische Kirchenorganisation und ein lutherisches Schulwesen. Es bleibt die Frage, ob die Schweden nicht noch weitere Ziele hatten. Der Schwedenkönig forderte einen Ausgleich für die Schäden, die seine Untertanen, hierunter verstand er zunächst die Bewohner der eroberten Gebiete Pommern und Mecklenburg sowie der konfiszierten geistlichen Territorien, durch den Krieg erlitten hätten. Die lutherischen deutschen Staaten betrachtete er als Verbündete, die eroberten Gebiete stünden Schweden jure belli (dem Gesetz des Krieges nach) zu. Nicht geklärt ist, wie weit der Schwedenkönig aus der verfassungsrechtlichen Stellung des Erzstifts Mainz für sich Vorteile ziehen wollte. Strebte er etwa nach dem Reichserzkanzleramt, nach dem Vorsitz im Kurkolleg, wollte er selbst Kurfürst von Mainz werden oder wollte er dieses Amt seinem Reichskanzler Oxenstjerna oder etwa dem Pfalzgrafen August von Sulzbach übertragen? All diese Vermutungen sind geäußert worden. Die genauen Pläne sind kaum zu ermitteln und waren wohl noch nicht abgeschlossen. Aber er wollte wohl Deutschland neu ordnen, wobei alle protestantischen Territorien unter schwedischer Führung zusammengefasst werden sollten. Die eroberten katholischen Gebiete Würzburg, Mainz usw. hätten in einem solchen neugeordneten Gebiet die Funktion einer schwedischen Hausmacht übernehmen können. Prof. R. Groß (Kreischa) Zu Gustav Freytag, einem Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, möchte ich noch eine Ergänzung geben: Im Rahmen meines Vortrages am Freitag (16.10.) konnten die vorgesehenen Zitate aus Gustav Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ aus Zeitgründen nicht gehalten werden. Der nachdrückliche Hinweis auf die lebhaften Schilderungen Frey-
tags über die Zustände bei den im Dreißigjährigen Krieg agierenden Söldnertruppen führte zur Frage nach dem heutigen Bekanntheitsgrad dieses deutschen Schriftstellers des 19. Jahrhunderts. Der am 13. Juli 1816 im schlesischen Kreuzburg (heute Kluczbork, Polen) geborene älteste Sohn des Bürgermeisters dieser Stadt galt im 19. Jahrhundert als der Schriftsteller des deutschen Bildungsbürgertums. Nach dem Ablegen des Abiturs am Gymnasium von Oels 1835 studierte er an den Universitäten von Breslau und Berlin klassische und deutsche Philologie, promovierte 1838, habilitierte sich ein Jahr später mit einer Arbeit über Roswitha von Gandersheim und wurde Privatdozent für deutsche Literatur und Sprache an der Breslauer Universität. Ab 1844 wirkte Freytag als freier Schriftsteller und siedelte 1847 nach Dresden über, wo er bald in engere Verbindung zu den vormärzlichen literarischen Kreisen in der Stadt trat. Hier gründete er einen geselligen Verein zur Weiterbildung von Arbeitern und Gehilfen, ging aber schon Anfang 1848 nach Leipzig. Dort schloss er sich der preußisch-deutschen nationalliberalen Bewegung an und wurde mit dem Roman „Soll und Haben“ (3 Bände 1855) zum Publizisten des national gesinnten Bürgertums. Zwischen 1859 und 1867 erschienen die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ in fünf Bänden und von 1872 bis 1880 der sechsbändige Roman-Zyklus „Die Ahnen“. Gerade in der heutigen Zeit kann die Lektüre dieser Werke von Gustav Freytag, der am 30. April 1895 in Wiesbaden verstarb, nur empfohlen werden. So sollten sie der Vergessenheit entrissen werden. Kirche und Staat. „Staat“ und „Kirche“ oder „Politik“ und „Religion“; sind das Begriffe, die in ihrer Gegenüberstellung von einander abgrenzen sollen? Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) Zu der Frage hinsichtlich einer Gegenüberstellung von „Politik“ und „Religion“ als Regulativ oder Grenzziehung. Beide Begriffe treffen Luthers Denken nicht so recht. Verstehbar wird das Ganze auf dem Hintergrund seiner Zwei-Regimente-Lehre. In Parenthese, der Begriff Zwei-Reiche-Lehre sollte endlich aus dem Diskurs verschwinden. Es handelt sich um eine von Karl Barth um 1920 erfundene polemische Bezeichnung, die ausdrücklich abwertend gemeint war. Luther geht zwar von Augustin aus, führt dessen Denken aber fort. Gott regiert sowohl die Kirche wie die Welt. Aber er tut das auf verschiedene Weise, die Kirche durch das Wort, die Welt durch das „Schwert“. Kirche ist bei Luther hier die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen, die durchaus nicht identisch mit der sichtbaren Kirchenorganisation ist. Das Schwert steht für das Recht, das in der Welt gilt und notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Beides, Welt und Kirche, gehört zu Gottes guter Schöpfung, die aber durch den Sündenfall verdorben ist. In beiden Bereichen regiert
176 Gott. Die Welt gehört nicht etwa dem Teufel, wie das bei Augustin manchmal anklingt. Wichtig ist nun, zwischen den beiden Bereichen sicher unterscheiden zu lernen. Gerade das ist die Kunst der Theologie, so Luther. Die Welt kann nicht mit dem Evangelium regiert werden, aber auch die Kirche nicht mit dem Schwert. Als ihm die kurfürstlichen Räte erklären, dass das weltliche Recht einen Widerstand der Fürsten gegen den Kaiser zulässt, zieht Luther seine Einsprüche zurück. Im weltlichen Recht hat die Theologie keine Stimme. Das kann man missverstehen und es ist missverstanden worden, als gäbe es eine „Eigengesetzlichkeit“ der Welt. Luther sichert sich dagegen durch seinen doppelten Personenbegriff ab: Der Fürst ist zugleich Christ und Amtsperson. Als Christ ist er zum Leiden und Erdulden verpflichtet, als Amtsträger zum Schutz seiner Untertanen. Aber auch dabei zieht Luther enge Grenzen. Ein Präventivschlag, sei er auch noch so gut begründet, ist immer ausgeschlossen. Selbst präventive Rüstung sieht er kritisch. Verteidigung des Evangeliums, falls nötig auch mit Waffen, bleibt eine ultima ratio. Die Mission mit Feuer und Schwert ist völlig ausgeschlossen. Zwingli bezahlte bekanntlich seine andere Auffassung 1531 mit dem Leben.
Herrschaft Christi. Der Rechtsstaat wiederum ist für Luther durchaus ein hohes Gut in weltlichen Dingen, wenn er kriegerische Konflikte verhindert.
Von Luther lernen?
Zur Nachfrage nach möglichen Nachteilen habe ich vor einer Überschätzung kultureller Unvereinbarkeiten gewarnt – das europäische Völkerrecht haben schon die Osmanen nicht nur schnell übernommen, sondern im 18. Jahrhundert selbst mitentwickelt, und umgekehrt wird oft vergessen, dass das Kopftuch bis ins 19. Jahrhundert und länger in der europäischen Gesellschaft als Unterscheidungszeichen diente, um die soziale Stellung oder den Familienbzw. geistlichen Stand der Frauen anzuzeigen.
Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) Eine mehr als offene Frage ist, ob und was man heute von Luther lernen kann. Luther versteht Herrschaft als göttliches Gebot und personalbezogen. Die Fürsten, die er kennt, bemühen sich Christen zu sein. Die Idee der Demokratie kennt Luther nur in der Kirche im engen Sinn als Gemeinschaft der Glaubenden, hier allerdings wieder unter direkter
Ausbreitung nichtchristlichen Glaubens in Deutschland Auf eine Frage (Frau Müller-Laatsch) und auf eine Bemerkung (Herr Schwaibold) aus dem Auditorium zum gegenwärtigen Zustrom von Flüchtlingen nichtchristlichen Glaubens antwortete Prof. J. Burkhardt (Augsburg): Mit dem Hinzukommen weiterer, nichtchristlicher Religionen, das längst millionenfaches Faktum ist, steht nach der staatsbürgerlichen Gleichstellung fairerweise auch eine religionsrechtliche an. Entweder die Konfessionen verzichten auf die öffentlichrechtlichen Privilegierungen, oder der Islam bzw. seine Gruppierungen werden ebenfalls als öffentlich-rechtliche Religionsvereine anerkannt und damit eingebunden. Unsere reiche Erfahrung mit der Bändigung des konfessionellen christlichen Fundamentalismus in den ersten neuzeitlichen Jahrhunderten durch rechtsstaatliche Regelungen spricht für den letzteren Weg. Nicht die Ausgrenzung, sondern gerade die Einbindung des Islam entspräche deutscher Tradition.
177 Reiner Groß
Staat und Kirche in Sachsen vom Posener Frieden 1806 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – ein Überblick Wie kaum ein anderes Jahrhundert in Sachsens tausendjähriger Geschichte brachte das 19. Jahrhundert Höhen und Tiefen für das Land und seine Menschen in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Am Beginn dieses Jahrhunderts war es noch das albertinische Kurfürstentum Sachsen, das in der West-Ost-Ausdehnung von der Werra bis zu Bober und Queis und in der Nord-Süd-Ausdehnung von Fläming und Harz bis zum Erzgebirgskamm und den Thüringer Wald mit einer Gesamtfläche von 35 100 Quadratkilometern reichte. 1,95 Millionen Menschen lebten in diesem Territorialstaat1, der nach Preußen, den österreichischen Erblanden und Bayern zu den größten Staatsgebilden im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zählte. Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Königreich Sachsen als Bundesstaat im Deutschen Kaiserreich auf einer Fläche von 14 990 Quadratkilometern knapp fünf Millionen Menschen. Mit 320 Menschen auf einen Quadratkilometer hatte das sächsische Königreich die größte Bevölkerungsdichte im Reich und übertraf den Reichsdurchschnitt um das Zweieinhalbfache2. Das ist ein Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung Sachsens im 19. Jahrhundert, die ich nur überblicksartig im ersten Teil meiner Bemerkungen darstellen kann, um mich in einem anschließenden zweiten Teil den Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Verhältnis zum sächsischen Staat zuzuwenden. Auf dem im November 1797 begonnenen Gesandtenkongreß von Rastatt, auf dem eine Reichsdeputation der Abtretung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich und der Entschädigung der davon betroffenen deutschen Fürsten durch säkularisierte geistliche Gebiete zustimmte, erklärte Kursachsen als einer der wenigen Reichsstände öffentlich, keine Gebietserwerbungen anzustreben. Es beteiligte sich nicht mit am Schacher um säkularisierte Gebiete. Das Ende des zweiten Koalitionskrieges gegen Frankreich mit dem Frieden von Luneville vom 9. Februar 1801 kündigte die Auflösung des Reiches schon an. Als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die deutsche Kaiserkrone niederlegte, hörte das Alte Reich endgültig auf zu bestehen. Das bedeutete auch für das seit 1547 bestehende albertinische Kurfürstentum Sachsen eine Neuorientierung, die zu seinem Ende führen sollte. Kursachsen sah sich seit 1803 zunehmend in seinem Festhalten am Reichsgedanken von Österreich und den Habsburgern verlassen. In dieser Situation lehnte man sich an Preußen an. Das führte den kursächsischen Staat mit seiner Armee an die Seite Preußens und im Oktober 1806 auf das Jenaer Schlachtfeld. Dort erlitt die sächsische Armee von
22 000 Mann gegen die Truppen Napoleons eine vernichtende Niederlage. Am 16. Oktober 1806 gab Kursachsen eine Neutralitätserklärung ab. Sie blieb aber ohne Wirkung. Von Wittenberg aus nahm Napoleon das sächsische Territorium unter französische Verwaltung, erhob sofort 40 Millionen Franc Kriegskontributionen sowie Kriegslieferungen für die Franzosen. Unter diesen tatsächlichen Machtverhältnissen schloss Napoleon am 11. Dezember 1806 mit Friedrich August III. den Friedensvertrag von Posen. Sachsen wurde zum Königreich erklärt, musste dem Rheinbund beitreten, verzichtete auf sein Territorium zwischen Erfurt und dem Eichsfeld zugunsten des geplanten Königreichs Westfalen und wurde dafür mit der preußischen Enklave des Cottbuser Kreises inmitten der sächsischen Niederlausitz entschädigt. Diese Regelungen wurden nach dem Tilsiter Frieden zwischen Frankreich und Preußen 1807 Realität. Dazu wurde noch den Wettinern das neue Großherzogtum Warschau als Sekundogenitur übertragen. Diese und die folgenden Geschehnisse bis in das Jahr 1815 hinein sind umfassend auf den hier veranstalteten fünf Tagungen vom Oktober 2011 bis zum Oktober 2013 behandelt worden. Ein Sammelband gibt darüber ausführlich Auskunft3, so dass an dieser Stelle auf weitere Ausführungen verzichtet werden kann. Nach der Leipziger Völkerschlacht wurde das Königreich Sachsen als Besiegter behandelt. König Friedrich August I. ging als Gefangener nach Friedrichsfelde bei Berlin, das Land wurde von Generalgouverneur Fürst Repnin-Wolkonski verwaltet und dem vom Reichsfreiherrn vom und zum Stein geleiteten Zentralverwaltungsrat für alle besetzten Rheinbundstaaten unterstellt. In dem Siebeneichener Kreis von Dietrich von Miltitz, die Brüder Carlowitz, von Oppel und General Thielmann fanden Repnin und Stein die nötige Unterstützung bei der Verwaltung des Landes. Zur Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber den Verbündeten wurden nach einer Übersicht der Zentral-Steuer-Kommission vom 31. März 1815 im Zeitraum vom 19. Oktober 1813 bis Ende Februar 1815 insgesamt reichlich 15 Millionen Taler aufgebracht, um Lazarette zu unterhalten, die Garnisonen und die im Land befindlichen und durch das Land ziehenden Truppen der Verbündeten zu verpflegen und, wenn nötig, auch auszurüsten. Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass durch persönliches Eintreten von Repnin bei Stein mehrfach Forderungen und Belastungen gemindert werden konnten. Die zielgerichtete Wirksamkeit des Gouvernementsrates führte bald zu einer Festigung der inneren Verhältnisse, zur Vereinheitlichung des Kassenwesens in Form der Finanzhauptkasse, zur
178 Belebung der sächsischen Wirtschaft einschließlich des Außenhandels, zur Formierung der Landwehr mit 20 000 Mann und zur Reorganisation der sächsischen Armee mit 20 000 Mann Linientruppen sowie zur Errichtung der Kriegsverwaltungskammer als oberster Militärverwaltungsbehörde. Darüber hinaus arbeitete man an einer weiter gehenden Reformierung des sächsischen Staatswesens. Das scheiterte jedoch immer wieder am Widerspruch Steins, der maßgeblich das Ziel verfolgte, Sachsen Preußen einzuverleiben, wofür die Übertragung der preußischen Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen geplant war. Der Kreis um Dietrich von Miltitz stimmte zwar einer Verbindung Sachsens mit Preußen in Personalunion zu, lehnte aber eine Teilung des Landes ab. In diesem Sinne schrieb Thielmann an Oppel am 12. Juli 1814: „Über unser Schicksal ist kein Zweifel, Sachsen wird ungeteilt preußisch, mit Beibehaltung der Verfassung. Ich sehe die Veränderung der Dynastie nicht als Unglück an, jede Teilung aber als schändliche Schmach.“4 Die Verhandlungen auf dem Wiener Kongress, die zur nochmaligen Neugestaltung der Landkarte Europas führten, diesmal bestimmt von den politischen Absichten der Großmächte Rußland, Preußen, Österreich, England und Frankreich, brachten die Teilung des Landes, nachdem die preußischen Forderungen nach Annektion Sachsens vor allem von Österreich und Frankreich sowie den deutschen Südstaaten abgelehnt worden waren. Schließlich trat auch Rußland für die Erhaltung des sächsischen Staates ein. Dabei wurde die sächsische mit der polnischen Frage verbunden. Als man sich schon über den Fortbestand des wettinischen Königreiches in wesentlich verkleinerter Form geeinigt hatte, gab es mit Preußen neue Verhandlungen über die Grenzziehung. Ob Leipzig sächsisch bleiben oder preußisch werden sollte, entschied allein die Tatsache der Vergabe der polnischen Stadt Thorn an Rußland oder Preußen – da Thorn zu Preußen kam, verzichtete es auf Leipzig. Die abschließenden Verhandlungen mit dem sächsischen König, die im März 1815 in Preßburg stattfanden, gerieten plötzlich noch unter den Eindruck der Flucht Napoleons von der Insel Elba. Noch zwei Monate lang wehrten sich die zunehmend wieder politischen Einfluss gewinnenden konservativen Kräfte um Friedrich August I. gegen die Bemühungen von Metternich, Talleyrand und Wellington, sie zu einer Zustimmung zur Landesteilung zu bewegen. Die Einigung erfolgte am 18. Mai 1815; noch am gleichen Tag kam es zur Vertragsschließung zwischen Rußland, Preußen und Sachsen. Es war ein für alle Seiten nicht befriedigender Kompromiss. Die Landesteilung war das Ergebnis eines Ausgleichs zwischen den Territorialwünschen Preußens, seiner Vereinbarungen mit Rußland über Polen und den Forderungen des Legitimismus, die Österreich und die süddeutschen Staaten vertreten hatten. In der Wiener Kongressakte vom 9. Juni
1815 wurden diese Vereinbarungen völkerrechtlich bestätigt. Das Königreich Sachsen sank endgültig zu politischer Bedeutungslosigkeit ab und wurde Mitglied des gleichzeitig gegründeten Deutschen Bundes. Mit den Unterschriften unter den Preßburger Vertrag vom 18. Mai 1815 kamen zwei Drittel des sächsischen Territoriums und die knappe Hälfte seiner Gesamtbevölkerung an das Königreich Preußen: die Niederlausitz und der nördliche Teil der Oberlausitz um Görlitz, der Kurkreis mit Gommern und Barby, der Thüringische Kreis und der Neustädter Kreis, Mansfeld, Querfurt, die säkularisierten ehemaligen Stifte Naumburg-Zeitz und Merseburg, die nördlichen Teile des Meißnischen Kreises sowie einige Ämter des Leipziger Kreises. Eine solche einschneidende Veränderung des sächsischen Staatsgebietes hatte es bis dahin nicht gegeben. Die Unterschriften unter den Preßburger Vertrag bildeten letztlich den Schlusspunkt im Wettlauf des preußischen und sächsischen Staates um eine politische Vormachtstellung in Deutschland. Alle historisch gewachsenen Zusammenhänge wurden zerrissen, wirtschaftliche Bindungen willkürlich zerstört. Der Hauptteil des sorbischen Siedlungsraumes kam zu Preußen, wodurch fast 200 000 Sorben, das waren etwa 80 Prozent der sorbischen Bevölkerung, der preußischen Germanisierungspolitik unterworfen wurden. Während sich die „Musspreußen“, wie man die Bewohner der abgetretenen Landesteile bezeichnete, sehr bald mit ihrer neuen staatlichen Zugehörigkeit abfanden, war im Königreich Sachsen, dessen Herrscher am 7. Juni 1815 aus der Gefangenschaft in seine Residenz zurückkehrte, eine wachsende Erbitterung gegen den expansiven nördlichen Nachbarn zu spüren. In den folgenden Jahrzehnten bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Vorherrschaft wurde manche politische Entscheidung Sachsens von diesem Gegensatz bestimmt. Das musste im Zeitalter der Industriellen Revolution als Anachronismus wirken. Bereits während der Preßburger Verhandlungen waren die nach der Landesteilung anzustrebenden innenpolitischen Maßnahmen von den maßgebenden sächsischen Politikern beraten worden. Die von Kabinettsminister Detlev Graf von Einsiedel bis 1830 beherrschte sächsische Politik sah keine grundlegenden verfassungs- und verwaltungsmäßigen Veränderungen für notwendig an. Das nach 1815 eingeführte Sparsamkeitsregime führte aber immerhin zu Umgestaltungen und Einschränkungen innerhalb der Staatsverwaltung. Die Neuregelung der regionalen Verwaltung brachte mit der Institutionalisierung von 16 Amtshauptmannschaften in den vier erbländischen Kreisen eine zukunftsweisende Einrichtung. Sie bildete den Rahmen für den erneuten wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes, nach dem Siebenjährigen Krieg zum zweiten
179 Mal innerhalb eines halben Jahrhunderts. Bestimmt wurde er von der Industriellen Revolution in Sachsen, die nach 1800 eingesetzt hatte. In seiner Außenpolitik ordnete sich das Königreich in die von Österreich unter Staatskanzler Fürst Metternich bestimmten Verhältnisse im Deutschen Bund ein, dessen Mitglied Sachsen seit 1816 war. Man verfolgte zwar in Dresden die große europäische Politik der Quadrupelallianz und Frankreichs, vielleicht in der Hoffnung, bei günstigerer Gelegenheit doch noch die Bestimmungen des Preßburger Friedens korrigieren zu können. Auch die Interventionspolitik in Spanien und der griechische Unabhängigkeitskampf wurden aufmerksam verfolgt. Für eine aktive Beteiligung und Einflussnahme fehlten aber alle materiellen und politischen Mittel. So wie im Äußeren gestaltete sich auch im Innern die Politik restaurativ. Die burschenschaftliche Bewegung an der Universität Leipzig führte dazu, dass die Karlsbader Beschlüsse vom August 1818 mit getragen und durchgesetzt wurden. Am 5. Mai 1827 starb nach 64jähriger Regentschaft König Friedrich August I. im Alter von 77 Jahren. Damit ging nahezu symbolisch die „alte Zeit“, das ancien regime, zu Ende. Das Empfinden, in einer Zeitwende zu leben, führte ausgangs der zwanziger Jahre in Sachsen zu einer bürgerlichen Oppositionsbewegung, die vor allem von „Bienenvater“ Karl Ernst Richter in Zwickau und der von ihm herausgegebenen politischen Wochenschrift „Die Biene“ charakterisiert wurde. Dazu kam in den zentralen Regierungsbehörden ein jüngeres Beamtentum, das die Reformbedürftigkeit des sächsischen Staates und seiner gesellschaftlichen Verhältnisse wohl erkannte. Das alles zusammen bereitete den Boden für weitergehende Veränderungen im Sinne bürgerlicher Verhältnisse. Das Königreich Sachsen stand um 1830 an der Schwelle zu einem neuen Abschnitt seiner gesellschaftlichen und politischen Entwicklung. Bereits im Juni 1830 war es in Dresden anlässlich der Feiern zur 300. Wiederkehr der Augsburgischen Konfession zu ersten Unruhen gekommen, weil man der Meinung war, dass protestantische Behörden zu große Rücksicht auf den katholischen Hof genommen hätten. Reichlich zwei Monate später gab es Krawalle in Leipzig und am 9. September begannen abends in Dresden, nachdem junge Leute im Großen Garten beim Konzert einer Militärkapelle mehrmals erfolgreich das Spielen der Marseilleise verlangt hatten, mit dem Sturm auf das Rathaus am Altmarkt und das Polizeihaus die revolutionären Unruhen, die zu grundlegenden Veränderungen führen sollten. Eine „Kommission zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe“ übernahm die Regierungsgewalt, neu gebildete Kommunalgarden wurden für Ordnungsaufgaben eingesetzt, dem greisen König Anton wurde der junge Prinz Friedrich August als Mitregent an die Seite ge-
geben, Kabinettsminister Graf Einsiedel musste zurücktreten und der aus Altenburg stammende liberale Politiker Bernhard August von Lindenau trat dessen Nachfolge an. Damit wurde eine Staatsreform eingeleitet, die das sächsische Königreich in das bürgerliche Zeitalter führte. Die Aprilunruhen des Jahres 1831, verursacht durch das Wirken des Bürgervereins in Dresden und des Advokaten Bernhard Moßdorf als schüchterner Versuch erster politischer Parteibildung durch kleinbürgerliche Kräfte beschleunigten den Reformprozess. Dem zum 1. März 1831 einberufenen Landtag wurde als wichtigstes Dokument der Entwurf einer schriftlichen Verfassung vorgelegt. Er war aus einem Entwurf Lindenaus, angelehnt an die badische Verfassung, und einem Entwurf von Hans Georg von Carlowitz, orientiert an der württembergischen Verfassung, entstanden. Dieser Entwurf wurde von den Landständen angenommen und trat als erste schriftliche Verfassung Sachsens am 4. September 1831 in Kraft. Damit wurde das Königreich Sachsen eine konstitutionelle Monarchie.5 Kurz darauf begann mit dem Erlass der Städteordnung, dem Gesetz über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen sowie mit der Einrichtung von Fachministerien das umfassende Staatsreformwerk. Damit waren die bürgerliche Agrarreform, eine grundlegende Verwaltungsreform, eine tiefgreifende Justizreform, eine Volksbildungsreform, eine Heeresreform und eine Steuerreform verbunden. Der erste gewählte Landtag trat am 22. Januar 1833 in Dresden zusammen. Er wurde zunehmend ein kritischer Begleiter sächsischer Politik. Es dauerte praktisch zwei Jahrzehnte, bis alle Reformmaßnahmen verwirklicht waren. Zu Beginn der sechziger Jahre wurde dann die eigenständige Gesetzgebung mit einem sächsischen Handelsgesetzbuch und einem Bürgerlichen Gesetzbuch vollendet. Dies bestimmte die allgemeine Entwicklung Sachsens bis zu seinem erzwungenen Eintritt in den Norddeutschen Bund. Vor allem die weitere wirtschaftliche Entwicklung mit dem Beitritt Sachsens zum Deutschen Zollverein 1834, der Eisenbahnbau, der Maschinenbau und die Textilherstellung waren aber bald auch mit aufbrechenden sozialen Gegensätzen und Problemen verbunden. Der Vormärz wurde in Dresden und Leipzig zu einer bedeutenden politischen Bewegung, die ihren Ausgangspunkt im künstlerisch-geistigen Leben hatte. Robert Schumann und Richard Wagner, August Röckel und Ludwig Wittig, Arnold Ruge und Julius Mosen, Gottfried Semper und Andreas Schubert, Robert Blum und Franz Wigard prägten ihr Bild. Die allgemeine politische Situation war im Frühjahr 1848 in Sachsen so weit gediehen, dass sehr bald nach dem Bekanntwerden der revolutionären Vorgänge in Frankreich die Forderung nach Gewährung der bürgerlichen Freiheiten laut wurden. Dazu hatten auch die Debatten in der Zweiten Kammer des Landtages und im
180 Land überhaupt über den hannoverschen Verfassungsbruch von 1837, die geforderte gesetzliche Zusicherung der Pressefreiheit, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Strafprozessverfahrens sowie die Einführung der Geschworenengerichte ebenso beigetragen wie die sich vollziehende Parteibildung in Demokraten und Liberale neben den Konservativen. Seit Ende Februar 1848 forderte man mit Nachdruck von der Regierung die Gewährung der bürgerlichen Freiheiten. Der nach dem 3. März aus allen Teilen des Landes einsetzende „Adressensturm“ mit den Forderungen nach Presse- und Versammlungsfreiheit, allgemeinem Wahlrecht und Redefreiheit führte schließlich zum Rücktritt des Ministeriums Könneritz. Am 16. März nahm das sogenannte Märzministerium seine Tätigkeit auf. Mit Alexander Braun, Martin Oberländer und Robert Georgi gehörten drei profilierte, bis dahin oppositionelle Landtagsabgeordnete der neuen Regierung an. Ihre ersten Maßnahmen waren die Gewährung der Rede-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit und die Aufhebung der Pressezensur. Das sächsische Königreich im Deutschen Bund wurde im Verlauf der bürgerlichen Revolution zu einem Zentrum der demokratischen und revolutionären Bewegung. Eine beachtliche Bedeutung hatten dabei die Auseinandersetzungen um die Ermordung Robert Blums in Wien und die Annahme des „Provisorischen Wahlgesetzes“ vom 15. November 1848. Die daraufhin im Dezember in Sachsen durchgeführten Wahlen erbrachten einen überwältigenden Wahlsieg der Vaterlandsvereine und damit der demokratischen Kräfte. Von den 75 Sitzen der Zweiten Kammer gingen 66 an Demokraten. Damit hatte Sachsen die fortschrittlichste Volksvertretung, die in den Jahren der bürgerlichen Revolution in einem Einzelstaat gewählt worden war. Bald wurde er als „Repräsentation des souveränen Unverstands“ oder knapp als Unverstandslandtag bezeichnet. Unüberbrückbare Gegensätze entstanden im Februar und März 1849 bei der Anerkennung der Grundrechte des deutschen Volkes, die die Frankfurter Nationalversammlung verabschiedet hatte, in der deutschen Oberhauptsfrage und schließlich in der Frage der Anerkennung der Reichsverfassung. Das führte zum Rücktritt des Märzministeriums, dem wenige Tage später das Beamtenministerium Held folgte. Diese Regierung stimmte zwar der Veröffentlichung der Grundrechte zu, verhielt sich aber in allen anderen Forderungen ablehnend. Schließlich löste König Friedrich August II. am 28. April, dem preußischen Beispiel folgend, den Landtag auf. Die Ereignisse, insbesondere in der Landeshauptstadt, überschlugen sich danach. Am Nachmittag des 3. Mai kam es zum Sturm auf das Zeughaus in Dresden. Er bedeutete den Beginn des bewaffneten Kampfes in Deutschland um die Anerkennung der von der Frankfurter Nationalversammlung angenommenen Reichsverfassung. Auf den bald
errichteten Barrikaden in Dresden standen neben Kommunalgardisten, Handwerkern und Arbeitern auch Landtagsabgeordnete. Drei von ihnen, Otto Leonhard Heubner, Samuel Erdmann Tzschirner und Karl Gotthelf Todt, bildeten am Nachmittag des 4. Mai eine Provisorische Regierung, nachdem der König und alle Minister aus der Stadt auf den Königstein geflohen waren. Das Schicksal des Dresdner Maiaufstandes war am 9. Mai 1849 entschieden, als preußische und sächsische Truppen die letzten Barrikaden stürmten und sich die Aufständischen in Richtung Freiberg und Chemnitz aus der Residenz zurückzogen. Die blutige Niederschlagung des Dresdner Maiaufstandes beendete in Sachsen die revolutionäre Phase des Ringens um bürgerliche Gesellschaftszustände. Die sich anschließenden Jahre werden in Sachsen als Ära Beust bezeichnet. Sie brachten die Auseinandersetzung um die Herbeiführung des deutschen Nationalstaates. Auf diesem Wege ging Sachsen im wesentlichen mit Österreich. Mit der Olmützer Punktation vom 29. November 1850 hatte Preußen auf seine angestrebte Vormachtstellung im Deutschen Bund verzichten müssen. Beust, der einflussreiche Außenminister unter König Johann, verfolgte dabei eine voll auf Österreich ausgerichtete Politik. Zunehmend strebte er aber einen eigenständigen, dritten Weg zu deutscher Nationalstaatlichkeit an, der mehr föderalistische Momente in einer überarbeiteten Bundesverfassung zum Tragen bringen wollte. Das wurde bei der Vorbereitung des Frankfurter Fürstentages 1863 besonders deutlich, als König Johann und Beust versuchten, den preußischen König für die österreichischen Bundesreformpläne zu gewinnen. Der preußische Kanzler Bismarck wusste das zu verhindern. Im Krieg des Deutschen Bundes gegen Dänemark beteiligte sich Sachsen mit einem ansehnlichen Truppenkontingent, wobei es im Verlauf der Truppenbewegungen zu Reibungen und Zusammenstößen Sachsens mit der preußischen Heeresleitung kam. Auf diesem Hintergrund gelang es schließlich Preußen, den Krieg gegen Österreich auszulösen. Der Einfall preußischer Truppen nach Sachsen, Hannover und Kurhessen am 16. Juni 1866 eröffnete den Kampf um die Vormachtstellung im Deutschen Bund. Sachsen stand dabei als Bundesstaat an der Seite Österreichs. In der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 erlitten Österreich und seine Verbündeten eine entscheidende militärische Niederlage. Dem Präliminarfrieden von Nikolsburg am 26. Juli 1866 folgte der Friede von Prag am 23. August 1866. Österreich trat aus dem Deutschen Bund aus. Preußen setzte den Anschluss von weiteren deutschen Staaten an das norddeutsche Bündnissystem durch. Sachsen, dessen staatlicher Fortbestand von Österreich gegen den Willen Preußens in Nikolsburg garantiert worden war, schloss mit Preußen am 21. Oktober 1866 in Berlin den Friedensvertrag ab.
181 Es verpflichtete sich, dem Norddeutschen Bund beizutreten, seine Armee als Teil des Bundesheeres dem Oberbefehl des preußischen Königs zu unterstellen und 10 Millionen Taler Kriegsentschädigung zu zahlen. Letzteres erfüllte Sachsen bis zum 7. Dezember 1866, obwohl dazu bis 4. April 1867 Zeit gewesen wäre. 1871 wurde schließlich das Königreich Sachsen Mitglied des Deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm I. Daran hatte Sachsen mit Kronprinz Albert als Führer eines Armeekorps im deutsch-französischen Krieg und als Mitstreiter Bismarcks einen Anteil. Es gehört zur sächsischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, dass hier Wurzeln der deutschen Arbeiterbewegung liegen. Auf Grund seiner wirtschaftlichen Entwicklung wurde Sachsen neben dem Rheinland zu einem Zentrum der frühen deutschen Arbeiterbewegung. Die im Frühjahr 1848 überall entstehenden Arbeitervereine und ihr organisatorischer Zusammenschluss in der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung mit dem Sitz des Zentralkomitees ab September 1848 in Leipzig verdeutlichen dies. Mit 57 angeschlossenen Arbeitervereinen erlangte die Arbeiterverbrüderung in Sachsen auch ihre größte Organisationsdichte. Dem Verbot der Arbeitervereine 1850 folgte Anfang der 60er Jahre in Sachsen ein Wiederaufleben der Arbeiterbewegung, verbunden mit dem Wirken von Julius Vahlteich, Ferdinand Lasalle, August Otto-Walster, August Bebel, Julius Fritzsche, Julius Motteler und Wilhelm Stolle. Bei der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach 1869 hatten die Arbeiter Sachsens eine bestimmende Rolle. Etwa ein Viertel der Delegierten des Kongresses kam aus Sachsen bzw. hatte ein Mandat sächsischer Arbeiter. Das Industriegebiet um Glauchau, Meerane und Crimmitschau entsandte August Bebel als ersten Abgeordneten der sächsischen Arbeiter in den Reichstag des Norddeutschen Bundes. Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 war eine wichtige Zäsur auch in der sächsischen Geschichte. Staatsrechtliche Veränderungen, so der Verzicht auf eine eigenständige Außenpolitik, auf die Militärhoheit sowie auf steuerliche Rechte, führten zum allmählichen Aufgehen im größeren Staatsverband des Deutschen Reiches. Das Schwergewicht der gesellschaftlichen Entwicklung lag nun im Königreich Sachsen als Bundesstaat im wilhelminischen Kaiserreich nach 1871 auf der Innenpolitik. Gesetzgebung und Staatsverwaltung wurden den neuen Anforderungen angepasst. Auf lokaler Verwaltungsebene wurde die endgültige Trennung zwischen Justiz und innerer Verwaltung vollzogen. 27 Amtshauptmannschaften entstanden und wurden zu den entscheidenden Verwaltungseinrichtungen des sächsischen Staates bis 1945 auf unterer Ebene. Dazu erhielten sie beschränkte
Selbstverwaltungsrechte sowie umfangreiche Aufgaben auf den Gebieten von Armenversorgung, Krankenpflege sowie Straßen- und Wegebau. Revidierte Städte- und Landgemeindeordnungen, Trennung von Staat und Kirche sowie ein neues Volksschulgesetz waren weitere Bestandteile der Reformpolitik. Die nationalstaatliche Einigung brachte für Sachsen eine weitere stürmische wirtschaftliche Entwicklung. Das industrialisierte Sachsen wurde in den „Gründerjahren“ von Betriebs- und Bankgründungen erfasst. Allerdings blieb für das sächsische Territorium der kapitalistische Betrieb als Familienunternehmen oder als Aktiengesellschaft mittlerer Größe charakteristisch, ohne dass es zu ausgeprägten Monopolgesellschaften gekommen wäre. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die wirtschaftliche Situation in Sachsen durch das Vorhandensein spezialisierter Produktionszweige aufgrund der hochtechnologischen Entwicklung gekennzeichnet. Energieerzeugung und Energieanwendung im Zusammenhang mit einem steigenden Energiebedarf in Wirtschaft und Haushalt ließ noch vor dem Ersten Weltkrieg in Sachsen ein Energieverbundnetz entstehen, das bald die Landesgrenzen überschritt. Die Innenpolitik, an der preußischen Politik orientiert, sah sich in Sachsen bald mit einer sich kontinuierlich ausweitenden organisierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung konfrontiert. Trotz des Sozialistengesetzes, das in Sachsen rigoros durchgesetzt wurde, behielt das Land den Charakter des „roten Königreiches“. Die aufsehenerregenden Wahlsiege der Sozialdemokraten bei den Reichstags- und Landtagswahlen wurden sprichwörtlich. Seit 1877 waren sie im sächsischen Landtag vertreten. Bei den Reichstagswahlen erhielten die sozialdemokratischen Kandidaten 1871 17,5 Prozent, 1893 45,7 Prozent und 1903 58,8 Prozent der abgegebenen Stimmen in sächsischen Reichstagswahlkreisen. Das veranlasste die sächsische Regierung zur Einführung des Dreiklassenwahlrechts. Das Wahlgesetz von 1896 war dann so restriktiv, dass schließlich 1901 kein Sozialdemokrat mehr in der Zweiten Kammer des sächsischen Landtages vertreten war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte dies zu verschärften politischen Auseinandersetzungen. Die politischen Geschehnisse im Lande wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts letztlich in den Jahren 1854 bis 1873 von König Johann und von 1873 bis 1902 von dessen Sohn König Albert sowie von deren leitenden Ministern Fabrice bis 1891 und Metzsch-Reichenbach bis 1906 verantwortet.6 Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Bemerkungen, zum Verhältnis des sächsischen Staates zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts, das wesentlich von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt wurde. Landläufig gilt noch heute Sach-
182 sen als das Mutterland der Reformation. Betrachtet man aber das historische Geschehen der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhundert genauer, dann ist diese allgemein gehaltene Bezeichnung nicht exakt. Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 von Wittenberg aus seine handschriftlich abgefassten 95 Thesen über Ablaß und Gnade an den Erzbischof von Magdeburg und Mainz Kardinal Albrecht nach Halle und an den Bischof von Brandenburg Hieronymus Schulze sandte, da war er Untertan des ernestinischen Kurfürsten Friedrich der Weise. Wittenberg und Torgau als Luthers wichtigste Wirkungsstätten waren die Mittelpunkte des ernestinischen Kurfürstentums Sachsen und wurden zum Ausgangspunkt der Reformation. Das ist das eigentliche Mutterland der Reformation. Mit der Zugehörigkeit beider Städte zu dem 1547 entstandenen albertinischen Kurfürstentum Sachsen wechselte dieser Begriff bis zur Landesteilung von 1815 an die Oberelbe. Dann kamen Wittenberg und Torgau an Preußen, so dass seit dem 19. Jahrhundert es eigentlich kein „Mutterland der Reformation Sachsen“ gibt. Trotzdem blieb das wesentlich verkleinerte Königreich Sachsen für die evangelischlutherische Kirche ein wichtiger Markstein des Protestantismus nicht nur in Deutschland. Der im Augsburger Religionsfrieden 1555 geprägte Grundsatz: cuius regio – eius religio – wem das Land gehört, der bestimmt auch die Religion – galt aber seit 1697 nicht mehr in Kursachsen, seitdem Kurfürst Friedrich August I. zum katholischen Glauben konvertiert war, um die polnische Königskrone zu erwerben. Die Bekehrung des Wettiners war durch Jesuitenpater geschehen. Sie wurden danach in Kursachsen sesshaft, wirkten in Leipzig, Dresden und Hubertusburg. 1773 lebten mehr als 20 Jesuiten an diesen Orten, die auch nach Auflösung des Ordens durch Papst Clemens XIV. in Sachsen blieben. Das beeinflusste in gewissem Maße die religiösen Zustände in Sachsen, denn nach Wiederherstellung des Ordens im Jahre 1814 wurden die Jesuitenpater als Weltgeistliche tätig. So blieben die Jesuiten im protestantischen Sachsen ein Stein des Anstoßes. Da die Landesfürsten seit 1697 dem katholischen Glauben angehörten, war das landesherrliche Kirchenregiment in Kursachsen neu geordnet worden. Mit der Instruktion vom 21. Dezember 1697, die August der Starke in Krakau erließ, wurde dem Geheimen Rat die landesherrliche Kirchengewalt mit dem „Auftrag in Evangelicis“ übertragen. Nun leiteten die evangelischen Geheimen Räte, ab 1831 die evangelischen Minister, die landeskirchlichen Angelegenheiten. Sie trugen letztlich die Verantwortung für die Kirchenpolitik im sächsischen Staat, die nach 1800 aus der Sicht der protestantischen Bevölkerung sich nicht einfach gestaltete. Dabei gab es viele Neuerungen für die Landeskirche.7 Am 31. Oktober 1800 hielt Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhardt beim Reformationsgottesdienst
in der evangelischen Hof- und Sophienkirche in Dresden eine eindrucksvolle Predigt, die auf Anweisung des Oberkonsistoriums gedruckt und im ganzen Kurfürstentum kostenlos verteilt wurde. Diese Reformationspredigt des 1792 nach Dresden berufenen Wittenberger Theologieprofessors Reinhardt brachte die Rückkehr der sächsischen Landeskirche zu den Grundsätzen der Reformation, zu den lutherischen Bekenntnisschriften und zunehmend zur Abkehr von Rationalismus und Supranaturalismus des 18. Jahrhunderts. Im Ergebnis der dreitägigen Feiern zur 300sten Wiederkehr der Thesenversendung am 31. Oktober 1817, zu der die Dresdner Bäcker Reformationsbrote gebacken hatten, bat die Dresdner Bürgerschaft darum, dass der Reformationstag ein ganzer Feiertag werden möchte, wie in Leipzig der Brauch. Dem entsprach die sächsische Regierung und unter dem 6. Oktober 1823 wurde das gesetzlich für Dresden geregelt. Mit der Verordnung über die Fest- und Feiertage vom 13. Januar 1831 wurde dann erstmals der 31. Oktober 1831 als ganztägiger Feiertag in ganz Sachsen begangen. Seitdem ist der 31. Oktober ein ganzer Feiertag in Sachsen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts traten eine Reihe organisatorischer Veränderungen in der Landeskirche ein, die ein Ergebnis der politischen Geschehnisse waren. Die mit der Landesteilung von 1815 abgetretenen 1206 Kirchspiele kamen in der Mehrzahl an das Königreich Preußen und einige an das Großherzogtum Sachsen-Weimar. Damit waren im wesentlich verkleinerten Königreich Sachsen auch im kirchlichen Bereich Verwaltungsreformen verbunden. Die Aufgaben der Wahrnehmung des Landeskirchenregimentes gingen wieder auf den Geheimen Rat über, der ab 6. Oktober 1817 an die Stelle des Geheimen Konsiliums getreten war. Das war nun die oberste Landesbehörde in Kirchenund Schulsachen. Bereits ein Jahr zuvor war den Kreis- und Amtshauptleuten in ihrem territorialen Verantwortungsbereich die Oberaufsicht über die Kirchen- und Schulsachen übertragen worden. Als zum Ende des Jahres 1818 die Stiftsregierung Wurzen aufgelöst wurde, kam das Stiftskonsistorium an das Konsistorium Leipzig. Dann wurde 1821 für die evangelischen Christen in der Oberlausitz die Stelle eines Kirchen- und Schulrates in der Oberamtsregierung Bautzen geschaffen. Mit der Verfassung vom 4. September 1831 traten erneut erhebliche Veränderungen für die evangelisch-lutherische Landeskirche ein. Nunmehr gab es in der in zwei Kammern gegliederten Ständeversammlung in der Ersten Kammer, deren Mitglieder ernannt und nicht gewählt wurden, entsprechend § 63 der Verfassung vier Vertreter der evangelischen Landeskirche, und zwar den Oberhofprediger, einen Deputierten des Hochstifts Meißen, einen Abgeordneten des Kollegiatstifts Wurzen und den Superintendenten von Leipzig. In der erstmals im Januar 1833 zusammengetretenen Ständever-
183 sammlung nahm der 67jährige Oberhofprediger, Geheimer Kirchenrat, Staatsrat und Vizepräsident des Landeskonsistoriums Christoph Friedrich von Ammon seinen Platz unter den 38 Mitgliedern der Ersten Kammer ein. Bis zu seinem Tod am 21. Mai 1850 nahm er diese Aufgabe wahr. Seine Nachfolge trat der 1845 von Bayern nach Leipzig als Theologieprofessor berufene Neulutheraner Adolph Harlaß an. Der Auftrag in Evangelicis ging an die der evangelisch-lutherischen Konfession angehörenden Minister über, wobei der Minister des Kultus und öffentlichen Unterrichts die Leitung zu übernehmen hatte. 1835 wurde die Konsistorialverfassung grundlegend geändert. Das Konsistorium Leipzig wurde aufgelöst. Ab 1. Juli 1835 trat das evangelische Landeskonsistorium ins Leben. Seine Aufgaben bestanden in der Wahrnehmung der inneren Angelegenheiten der evangelisch-lutherischen Kirchen. Die äußeren Angelegenheiten für die Kirchen wurden den vier Kreisdirektionen zugeordnet und alle Gerichtssachen wurden den Justizämtern und den Appellationsgerichten übertragen. Die 27 Superintendanturen wurden, allen Widerständen und Abänderungswünschen zum Trotz, beibehalten. Eine völlige Neuregelung der kirchlichen Feiertage geschah mit der schon genannten Verordnung vom 13. Januar 1831 über die Fest- und Feiertage. Die Bußtage wurden auf zwei Tage im Jahr beschränkt, die dritten Feiertage zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten sowie drei weitere kirchliche Feiertage wurden aufgehoben und dafür Neujahr, Mariä Verkündigung, Karfreitag und Himmelfahrt als ganztägige Feiertage sowie der Gründonnerstag als halbtägiger Feiertag bestimmt. Im Gefolge der Ablösung aller feudalrechtlichen Verpflichtungen wurden in einer großen Kirchenvisitation von 1856 bis 1860 die Vermögensverhältnisse der Kirchen neu geregelt, die Ablösung der Naturalgefälle der Kirchen geklärt, die Gehälter der Pfarrer und Kirchenbediensteten erhöht sowie eine Pensions- und Emeritierungskasse eingerichtet. Ebenso wurden Gottesdienst, Gemeindeleben und die Verpflichtung der Geistlichen neu geregelt. Mit der Kirchenvorstands- und Synodalordnung vom 30. März 1868 wurde das Laienelement in der Landeskirche gestärkt. In jeder Kirchgemeinde wurde nun ein Kirchenvorstand gewählt, die Unabhängigkeit der bürgerlichen und politischen Rechte vom Glaubensbekenntnis festgeschrieben. Die Superintendenten mussten einmal jährlich in der Diözesanversammlung zusammenkommen und die Landessynode wurde eingerichtet, die aus 77 Vertretern bestand, davon 34 Vertreter des geistlichen Standes und 43 Vertreter des nichtgeistlichen Standes. Diese evangelisch-lutherische Landessynode versammelte sich im Abstand von fünf Jahren und trat erstmals 1871 zusammen. Die 1812 an Stelle der seit 1539 geltenden Heinrichsagende eingeführte Agende als neue evangelische Gottesdienstord-
nung wurde 1880 durch eine neue Agende ersetzt. Seit 1840 war ein neues Perikopenbuch mit Predigttexten nicht nur über die Evangelien, sondern auch über die Episteln in Kraft. 1883 folgte ein Landesgesangbuch. Die Verpflichtung der Geistlichen, der Lehrer und Professoren der Theologie an den beiden Landesuniversitäten Leipzig und Wittenberg mit der Eidesleistung auf die Konkordienformel war 1810 abgeschafft worden, aber noch bis 1833 waren von ihnen die Konkordienformel und die Visitationsartikel zu unterschreiben. Schließlich wurde auf Landesebene die Kirchenorganisation nach 1871 den neuen staatlichen Gegebenheiten angepasst. Das unter dem 15. April 1873 verabschiedete Kirchengesetz begründete die Neueinrichtung des Landeskonsistoriums, das ab 15. Oktober 1874 ins Leben trat, eine größere Selbständigkeit der Landeskirche brachte und auch eine größere Unabhängigkeit der Landeskirche vom Landesstaat einleitete. Als 1878 die Eigenständigkeit der Schönburgischen Herrschaften endgültig endete und sie voll in den sächsischen Staatsverband eingebunden wurden, vereinigte man das Konsistorium Glauchau zum 15. November 1878 mit dem Landeskonsistorium in Dresden. Alle diese neuen Regelungen für die evangelisch-lutherische Landeskirche in Sachsen standen in Verbindung mit der rasch wachsenden Bevölkerung. 1880 hatte das Königreich Sachsen 2 972 805 Einwohner, davon gehörten 2 876 138 Menschen der evangelisch-lutherischen Konfession an. Zwanzig Jahre später war die Bevölkerungszahl auf 4 202 286 Menschen angewachsen, wovon 3 954 132 Menschen der evangelisch-lutherischen Kirche angehörten. Das führte u.a. dazu, dass zwischen 1886 und 1900 etwa 80 neue Kirchen errichtet wurden, die noch heute das Bild der Städte und Dörfer mit prägen.8 Nachdem im 18. Jahrhundert die aufklärerischen Ideen zunehmend Eingang in das religiöse Leben gefunden hatten, bemühten sich eine Reihe von protestantischen Theologen um die Hinwendung zum „reinen“ lutherischen Bekenntnis. Der aus Kopenhagen als Superintendent 1828 nach Glauchau berufene Andreas Gottlieb Rudelbach gründete 1831 die „Muldentaler Pastoralkonferenz“, die zu einem Mittelpunkt des lutherischen Glaubensbekenntnisses in Sachsen wurde. Der Leipziger Superintendent Christian Gottlob Leberecht Großmann führte bei Taufen und Konfirmationen das apostolische Glaubensbekenntnis wieder ein. Er war es auch, der aus Anlass des 200. Todestages von Gustav II. Adolf von Schweden im Anschluss an die Errichtung des Gustav-Adolf-Denkmals, das am 6. November 1837 in Lützen eingeweiht wurde, zur Gründung eines Unterstützungsvereins für Protestanten aufrief, das im November 1834 zur Gründung der Gustav-Adolf-Stiftung führte und bald weltweit zur finanziellen Unterstützung von lutherischen Christen und Gemeinden wirkte. 1814
184 gründete sich die Dresdner Bibelgesellschaft als ein Beitrag zur Erneuerung des protestantischen Glaubenslebens und am 16. August 1819 wurde in Dresden der Missionshilfsverein gegründet, der sich 1836 zur evangelisch-lutherischen Missionsgesellschaft und 1848 zum sächsischen Missionshauptverein entwickelte. Damit verbunden war die Innere Mission, die mit der Einrichtung einer Diakonissenanstalt in Dresden im Jahre 1844 in der Zukunft segensreich wirkte. Das 19. Jahrhundert brachte für die in Sachsen lebenden nichtprotestantischen Christen rechtliche Sicherung und staatliche Anerkennung ihrer Glaubensgemeinschaften. An erster Stelle steht das römisch-katholische Glaubensbekenntnis, das seit 1697 wieder Eingang in Sachsen gefunden hatte. Der von Napoleon diktierte Posener Frieden vom 11. Dezember 1806 dekretierte die rechtliche Gleichstellung der römisch-katholischen mit der protestantischen Konfession, die durch Mandat vom 16. Februar 1807 verkündet wurde. Damit erfolgte die Anerkennung des apostolischen Vikariats als oberste katholische Kirchenbehörde in Sachsen. 1816 wurde der apostolische Vikar zum Bischof erhoben. Das wurde der Beichtvater des Königs, der in der Niederlausitz geborene Ignaz Bernhard Mauermann, der am 11. Juli 1819 in der Dresdner Hofkirche zum Bischof geweiht wurde.9 Die Verfassung vom 4. September 1831 legte dann in § 56 fest, dass die im Königreich Sachsen aufgenommenen christlichen Religionen öffentlich frei wirken durften, wobei aber keine Klöster, kein Jesuitenorden oder andere geistliche Orden im Land bestehen durften.10 Lebten 1815 etwa 2400 Katholiken im Land, so waren es 1864 48 000 und 1900 bereits 197 005 Menschen römisch-katholischen Glaubens. Das bedeutete neue katholische Gemeinden, neue katholische Kirchen, Kapellen, Friedhöfe und Schulen. Es blieben aber auch Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken nicht aus. Papst Leo XII. hatte für 1825 ein Jubeljahr ausgeschrieben, das durch einen öffentlichen Anschlag an der Dresdner Hofkirche bekannt gemacht wurde. Es enthielt die Aufforderung, Rom zu besuchen und für die Ausbreitung der katholischen Kirche zu beten. Dagegen erhoben Dresdner Bürger entschiedenen Protest, der zu einem Broschürenstreit für und gegen die Protestanten führte. Daraufhin erließ die Regierung unter dem 12. Juli 1826 ein Reskript mit dem Verbot jeglicher öffentlicher Kritik gegen die katholische und protestantische Kirche. Ein Jahr später wurde unter dem 19. Februar 1827 ein Mandat erlassen, das die Ausübung der katholisch-geistlichen Gerichtsbarkeit in den Erblanden ebenso regelte wie das gegenseitige Verhältnis von Katholiken und Protestanten. Dann folgte ein Mandat unter dem 20. Februar 1827, das den Übertritt von dem einen zum anderen Glaubensbekenntnis und die Glaubenszugehörigkeit bei gemischten Ehen
regelte. Trotzdem konnte das Misstrauen der protestantischen Bürger gegenüber der katholischen Kirche im Land nicht beseitigt werden. Die protestantische sächsische Bevölkerung glaubte sich hinter die Katholiken zurückgesetzt und von den Jesuiten bedroht. Diese Spannungen führten bei den dreitägigen Jubelfeiern zur 300jährigen Wiederkehr der Augsburgischen Konfession in Dresden und Leipzig zu ersten Unruhen, die dann in die Septemberunruhen von 1830 mit allen ihren Folgen führten. Die Angst vor einem wachsenden Einfluss der Jesuiten zeigte sich erneut 1845, nachdem sich im März jenes Jahres in Leipzig und Dresden deutschkatholische Gemeinden gebildet hatten.11 Als Prinz Johann im August 1845 Leipzig aufsuchte, um die dortige Kommunalgarde zu inspizieren, kam es zu Protestaktionen gegen ihn, den man verdächtigte, die Jesuiten zu fördern. Dabei wurden am 12. August neun Protestierende von Soldaten erschossen.12 Bereits im Februar 1845 war eine in Brauna bei Kamenz gebildete Brüderschaft „Zum heiligsten Herzen Mariä zur Bekehrung der Sünder“, der man jesuitische Tendenzen beimaß, verboten worden. Neben Katholiken, Deutschkatholiken und Lichtfreunde gab es in Sachsen im 19. Jahrhundert weitere anerkannte christliche Glaubensgemeinschaften. Ein Mandat vom 18. März 1811 verordnete die Gleichstellung der reformierten Kirche mit der lutherischen und katholischen Kirche und ein Regulativ vom 17. August 1818 regelte die Rechtsverhältnisse der Reformierten Gemeinden in Dresden und Leipzig. Beide Gemeinden erhielten 1870 bzw. 1876 eine staatlich genehmigte Verfassung. 1895 lebten 10 538 Reformierte in Sachsen, das waren 0,28 Prozent der Gesamtbevölkerung. So wie die reformierte Kirche wurde durch Mandat vom 2. April 1814 die russisch-orthodoxe Kirche, veranlaßt durch Generalgouverneur Repnin-Wolkonski, ebenfalls gleichgestellt. Den in Sachsen seit der Regierungszeit von August dem Starken wieder lebenden jüdischen Menschen wurde erst durch Gesetz vom 18. Mai 1837 die Religionsausübung in je einer Religionsgemeinde in Dresden und Leipzig einschließlich der Errichtung einer Synagoge in beiden Städten genehmigt.13 Eine gewisse Bedeutung erlangte schließlich die sektiererische Bewegung des Pfarrers der böhmischen Gemeinde in Dresden Martin Stephan. Der 1777 in Mähren geborene Stephan war seit 1810 Pfarrer der böhmischen Gemeinde, betonte die Erbsünde in seinen Predigten und versammelte bald als orthodoxer Lutheraner mehrere hundert Anhänger um sich. Er kam in Konflikt mit Landeskirche und Staat, wurde 1837 suspendiert und wanderte danach mit etwa 800 Anhängern im Oktober 1838 auf fünf Schiffen in die USA aus. Sie landeten in St. Louis und siedelten sich etwa 100 Meilen südlich davon an. Ausgeübter Gewissenszwang, Veruntreuung der Gemeindekasse und Vergewaltigungsvorwürfe führten dazu, dass ihn seine Gemeinde im
185 Mai 1839 verstieß. Stephan starb 1846 in Illinois. Seine Anhänger und andere in Nordamerika lebende Menschen lutherischen Glaubens bildeten die evangelisch-lutherische Synode von Missouri / Ohio, die Keimzelle der heute noch erfolgreich wirkenden Lutheran Church – Missouri Synod.14 Am Ende des 19. Jahrhunderts lebten im Königreich Sachsen 4 202 216 Menschen, davon waren nach der amtlichen Statistik 3 954 132 Lutheraner, 16 080 Reformierte, 197 005 Katholiken, 2028 Deutschkatholiken und 12 416 Menschen jüdischen Glaubens. Literatur 1
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W. Stams, Schulkarte des Königreiches Sachsen, 1810. Beiheft zur Karte H 14 Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. Leipzig und Dresden 1998, S. 22. Bayern und Sachsen in der Geschichte. Ausstellungskatalog. München 1994, S. 220. U. Niedersen (Hrsg.), Sachsen, Preußen und Napoleon. Europa in der Zeit von 1806–1815. Dresden, Torgau 2013. – 200 Jahre Königreich Sachsen. Beiträge zur sächsischen Geschichte im napoleonischen Zeitalter. Hrsg. von G. Martin, J. Vötsch u. P. Wiegand. Beucha 2008. W. Kohlschmidt, Die sächsische Frage auf dem Wiener Kongreß und die sächsische Diplomatie dieser Zeit. Dresden 1930, S. 33.
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S. Drehwald, C. Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat. Leipzig 1998. Siehe dazu insges. ausführlich R. Groß, Geschichte Sachsens. 4. Aufl. Leipzig 2012, S. 199– 251. Vgl. generell dazu R. Thomas, Konfessionen unterwegs ins lutherische Sachsen. In: 200 Jahre Königreich Sachsen, a.a.O., S. 145–156. G. Schmidt, Dresden und seine Kirchen. Eine Dokumentation. 3. Aufl. Berlin 1978. G. Graf/M. Hein, Kleine Kirchengeschichte Sachsens. 4. Aufl. Leipzig 2009, S. 44. E. Hartstock, Als Geistlicher im Parlament. Ignaz Bernhard Mauermann. In: Landtagskurier Nr. 11/ 1992, S. 7. Drehwald, Jestaedt, a.a.O., S. 145. G. Kolbe, Demokratische Opposition in religiösem Gewande und antikirchliche Bewegung im Königreich Sachsen. Phil. Diss. Leipzig 1964. R. Groß, Johann 1854–1873. In: F.-L. Kroll (Hrsg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918. München 2004, S. 263–278. Thomas, a.a.O., S. 154 f. W. Flügel, Fromme Migranten aus Mitteldeutschland und lutherische Gemeinden in Amerika im 18. Jahrhundert. In: Dresdner Hefte. 34. Jg. Heft 126, 2/2016: Sachsen und Amerika. Sehnsucht nach der Neuen Welt, S. 12 f.
186 Athina Lexutt
Kernobst auf dem Markt der Möglichkeiten – Das Reformatorische in den Herausforderungen des langen 19. Jahrhunderts 1. Einleitung: Ein unkenntlich gewordener Kern Die ersten Beiträge hatten den Kern des Reformatorischen gefragt zum Thema, der in den verschiedenen Spannungen ausgemacht wurde, die auf theologischer und anthropologischer Ebene das Neue und Wesentliche der reformatorischen Erkenntnis definierten. Der letzte Beitrag hatte zu beschreiben versucht, was aus diesem Reformatorischen nach Luthers Tod im 17. und 18. Jahrhundert geworden ist; die drei Hauptströmungen der Zeit: Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung, so das Ergebnis des Parforceritts durch diese Epoche, waren nicht wirklich willens und in der Lage, dieses Spannungsvolle auszuhalten und zu gestalten; sie suchten nach Klarheit, Eindeutigkeit und Orientierung und hatten es um sich herum schon mit so vielen Spannungen zu tun, dass sie die Spannung gleichsam als theologisches Prinzip nicht so durchdeklinieren wollten und konnten wie Luther und andere Reformatoren. Nun geht es um das lange 19. Jahrhundert, das – grob gesagt – von 1789 bis 1918 reicht und eine solche Vielfalt an Themen, Personen und Schauplätzen bietet und selbst vor so großen Herausforderungen stand, dass es kaum nötig ist zu sagen, dass der für das 16. Jahrhundert herausgeschälte Kern unter diesen Bedingungen so gut wie keine Chance hatte. Luther wurde zwar auf Denkmäler gehoben und zum Nationalhelden stilisiert – von seiner Theologie aber wussten selbst die Theologen nicht mehr allzu viel. Es ist symptomatisch, wenn es ausgerechnet ein Ludwig Feuerbach ist, der zu den ganz wenigen gehört, die überhaupt Quellen von Luther gelesen haben. Erst mit der Herausgabe der Weimarer Lutherausgabe und der Entdeckung Karl Holls wird sich da wieder etwas ändern. Im langen 19. Jahrhundert waren Luther und die Reformation zwar durchaus gegenwärtig, aber die zeitgenössischen Ereignisse und ihre Herausforderungen waren so übermächtig, dass das Erinnern daran stets unter diesem Vorzeichen stattfand und dazu in Anspruch genommen wurde. Zudem und vor allem war die Aufklärung mit ihren Anfragen und ihrer Neustrukturierung der Weltdeutung inzwischen so sehr auch in der Theologie angekommen, dass ein neuer Religionsbegriff, wie ihn Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher etablierte, Raum griff und nur schwer mit den Erkenntnissen der Voraufklärung vereinbar schien. Durch Schleiermacher wurde etwas angestoßen, was vorsichtig die Enttheologisierung des Religionsbegriffs genannt werden soll: Religion wurde mehr und mehr jenseits eines Offenbarungsdenkens im subjektiven Gefühl des Einzelnen verortet und zur Privatangelegenheit, ohne jeden prinzipiellen und allgemeingültigen Deutungsanspruch, degradiert. Die
Wahrheitsfrage hatte sich so nicht mehr zu stellen. Theologie als Wissenschaft musste neu begründet werden und an den Universitäten um ihr Recht kämpfen, sie hatte ihre Vorrangstellung als Leitdisziplin eingebüßt und ihren öffentlichen Anspruch mehr oder weniger verloren. Ein voraufklärerischer Luther und eine ebensolche Theologie wurden in dieser Zerreißprobe eher als hinderlich empfunden, es galt neue Schultern zu finden, auf die man sich stellen konnte. Damit könnte der Beitrag eigentlich schon beendet sein. Es ist alles gesagt. Aber: Auch wenn der Lutherische Kern nicht mehr wirklich zu dem gehörte, was die Theologie des 19. Jahrhunderts bestimmte, können wir sehr wohl einen Blick auf einige Bereiche werfen, in denen das Spannungsvolle erfahrbar war und blieb und sich in unterschiedlicher Weise bemerkbar machte. Das Kernobst war zwar nur ein Angebot auf dem Markt der Möglichkeiten – aber es gab es. Dazu seien vier Bereiche ausgewählt, selbstverständlich im vollen Bewusstsein, damit dem vielfältigen Erscheinungsbild des langen 19. Jahrhunderts in keiner Weise gerecht werden zu können. 2. Vier Beispiele für das „Kernobst“ in der Vielfalt der Möglichkeiten 2.1 Schleiermacher und der Agendenstreit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ist zweifellos die Gestalt der Nachaufklärung, die unter Aufnahme verschiedenster Prägungen den Protestantismus in ein neues Zeitalter überführt hat. Großgeworden in Herrnhutischer Frömmigkeit, in Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus und Kant sowie in Berührung mit romantischen Ideen bemühte er sich, im buchstäblichen Sinne die Religion salonfähig zu machen. Als er gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine „Reden“ veröffentlichte, hatte er ein Publikum vor Augen, das sich allenfalls aus einem allgemeinen Interesse heraus auch und unter vielem anderen mit Religion beschäftigte, aber zur Verachtung derselben neigte. Genau an diesem Punkt setzte Schleiermacher an und definierte Religion jenseits aller auf Offenbarung basierenden, behaupteten Wahrheit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, als Anschauung des Universums und als Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Dem konnte auch das Salonpublikum kaum etwas entgegenhalten, denn dieses Gefühl kennt jede und jeder, und es nicht notwendig mit dem weitgehend verpönten kirchlichen Kontext in Verbindung bringen zu müssen, war eine Chance, „Religion“ abseits von theologischer Dogmatik attraktiv bleiben zu lassen als fundamentalanthropologische Kategorie. „Kirche“
187 war für Schleiermacher hingegen institutionalisierter Ausdruck des Strebens nach Geselligkeit: Wer dieses religiöse Grundgefühl empfindet, den drängt es zum Austausch darüber – und dieser Austausch findet in der Kirche statt. Dass in dem Augenblick, in dem diese Definition von ihrem weiteren Kontext losgelöst wird, der auch bei Schleiermacher sehr wohl ein christologischer ist, der Religionsbegriff diffus und beliebig wird, ist dann eher ein Problem derer, die sich auf Schleiermachers Schultern stehend wähnen, als für Schleiermacher selbst. Wie sehr er tatsächlich auch kirchlich und kirchenpolitisch engagiert war, wird an seinem Engagement für den Erhalt der theologischen Fakultäten deutlich, die durchaus zur Disposition standen. Dazu definierte er die theologischen Disziplinen und ihre wissenschaftliche Aufgabe und legte damit den Grundstein für das Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft. Ebenso bedeutend war sein Eintreten im sogenannten Agendenstreit. Wobei ging es dabei? Es war zu beobachten, wie schwer es war, den theologischen Kern in nachlutherischer Zeit für Lehre und Leben lebendig zu halten. Die Vielfalt der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen machte es nahezu unmöglich, eine einheitliche theologische Linie zu zeichnen. Das stellte im frühen 19. Jahrhundert eine große politische Schwierigkeit dar. Auf dem Weg zu nationaler Einheit bedeutete konfessioneller Pluralismus ein ärgerliches Hindernis, spiegelte sich in den verschiedenen Landeskirchen mit ihrer je eigenen Tradition eine Kleinstaaterei, die man überwinden wollte und angesichts der europäischen Entwicklung wohl auch überwinden musste. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. war sehr daran interessiert, das nach dem Wiener Kongress erstarkte und angewachsene Preußen kirchlich zu einigen. Zu Hilfe kam ihm, dass in Folge von Pietismus und Aufklärung das konfessionelle Bewusstsein ohnehin nachgelassen hatte; man fühlte sich „evangelisch“, nicht wirklich „lutherisch“ oder „reformiert“. Das Reformationsjubiläum 1817 war ein willkommener Anlass, die äußerlich wahrnehmbare konfessionelle Trennung zu überwinden. Schleiermacher erwies sich als treibende Kraft der preußischen Union; schon 9 Jahre zuvor hatte er – ganz im Sinne seines Religionsbegriffs – einen Verfassungsvorschlag gemacht, der die lutherische mit der reformierten Kirche vereinigen und das mit einer Gottesdienstreform sichtbar werden lassen sollte. Er war jetzt auch derjenige, der am Vorabend des Reformationsjubiläums eine gemeinsame Abendmahlsfeier leitete. Hier war man, das war zu spüren, auf dem besten Weg, den Kern des 16. Jahrhunderts wiederzuentdecken, der weniger an den Äußerlichkeiten interessiert war als daran, die Mahlfeier als Ausdruck einer Einheit zu verstehen, die als geschenkte auch mit unterschiedlichen Füllungen in jedem Fall gewährt wäre. Während es infolgedessen in Nassau, Anhalt-Bern-
burg, Waldeck-Pyrmont, Rheinhessen und AnhaltDessau zwischen 1820 und 1827 zu Kultusunionen kam, schaffte Preußen indes nur eine Verwaltungsunion. Das wurmte den König, der nicht nur politische Zwecke verfolgte, sondern durchaus auch ein theologisches Interesse hatte. Um dieses Interesse durchzusetzen, verfasste er selbst eine Agende, welche die Kultusunion schaffen sollte – und einen Sturm der Empörung auslöste. Dass ein NichtGeistlicher eine für alle verpflichtende Agende ausgearbeitet hatte, war vielen ein zu starker Eingriff eines Landesfürsten in kirchliche Belange. Trotz des landesherrlichen Kirchenregiments waren doch die Aufgaben klar verteilt, und hier lag eindeutig ein Übergriff seitens der weltlichen Obrigkeit vor. Ausgerechnet Schleiermacher, der so vehement für die Union gekämpft hatte, ließ sich nun auf einen literarischen Streit mit dem preußischen König ein. Unter dem Pseudonym Pacificus Sincerus1 bestritt er 1824 in der Schrift „Über das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten“2 eben dieses Recht, die Liturgie zu bestimmen, das ius liturgicum; dies stehe der Synode zu, nicht dem Landesfürsten3; der habe zwar durch das Majestätsrecht ein ius circa sacra (so kann er etwa bestimmen, dass für die Obrigkeit gebetet wird), aber er hat kein ius in sacris (etwa die Formel der Obrigkeitsfürbitte oder deren Stelle im Gottesdienst)4; dieses, so Schleiermacher unter Berufung auf verschiedene historische Beispiele, könne keineswegs aus dem Majestätsrecht abgeleitet werden – ein Streitfall unter Theologen, den der Berliner Theologe eindeutig in einer Richtung beantwortet. Dazu verweist er auf die Bekenntnisse beider Konfessionen, die den weltlichen Obrigkeiten ein solches Recht nicht zugestehen. Vielmehr würde das ius liturgicum vom gesamten Kirchenregiment ausgeübt, wovon das landesherrliche Element nur eines sei.5 Ebenfalls anonym antwortete der König mit der Schrift „Luther in Beziehung auf die Preußische Kirchenagende“. Darin versuchte er darzulegen, dass die Agende in Aufbau und einzelnen Elementen mit der Formula missae Luthers übereinstimme. Erneut reagierte Schleiermacher anonym 1827 mit dem „Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende“. In einem fiktiven Gespräch wird das Unternehmen des Königs im Grunde der Lächerlichkeit preisgegeben. Es wird herausgestellt: „Peinlich aber ist mir besonders, wie hier mit Luther umgegangen wird, daß man dasjenige sein Werk nennt und etwas von ihm verfaßtes, was lange vor ihm da war, und was er nicht einmal umgegossen, sondern nur leise daran gefeilt hat. Peinlich ist es, daß man immer wieder aufs neue lehren soll, als ob es noch nie gesagt wäre […]“.6 Kritisiert werden im Folgenden auch die lutherischen Elemente beim Abendmahl wie das Wegdrehen des Geistlichen von der Gemeinde; hier schlägt Schleiermachers reformierte Herkunft ganz und gar durch.7 Wo sol-
188 ches bisher schon im Gebrauch stand, sei das kein Problem, aber wo es neu eingeführt wird, kann es zu Verwirrung und Missverständnis führen. Überhaupt scheinen die Folgen just für die reformierte Seite schwerwiegender; „uniert“ wird gleichgesetzt mit „stärker lutherisch“, was nicht im Sinne Schleiermachers ist.8 Angeprangert wird, dass der Verfasser der Agende eben kein Theologe sei, eine Agende aber eben theologisch begründet und gefüllt sein will.9 Und es blitzt ein Zukunftskonzept durch, wenn Schleiermacher einen seiner beiden Protagonisten dem Landesherren nur noch ein Zustimmungsrecht, nicht aber mehr ein Besetzungsrecht zugestehen möchte, und wenn dessen Mittun in geistlichen Dingen auf gelegentliche Hirtenbriefe reduziert würde.10 Geträumt wird davon, nach 300 Jahren „eine solche evangelische Gemeinschaft unter uns aufzurichten, in welcher alle Ordnung und alles positive Regiment nur von der Gemeinde selbst ausgehe und durch ihre Selbst-Bevollmächtigten verwaltet werde.“11 Den Geistlichen wird nicht gerade geraten, aber doch auch nicht verboten, die Annahme der Agende zu verweigern: „[Die sollen] sich weigern, zu gehorchen, wenn sie eine feste Überzeugung haben, daß diese buchstäblich zu wiederholenden Formeln ihnen ihre Amtsführung verleiden, und daß sich die Gemeinen daran nicht erbauen.“12 Auch an dieser Stelle schlägt Schleiermachers reformierte Herkunft durch, die eher ein aktives Recht auf Widerstand kennt als das Luthertum, das sich mit einem passiven Widerstandsrecht begnügt. Schleiermacher sieht das, was er von der Kirche und vom Gottesdienst erwartet, nämlich das belebende und fördernde Element, aufs Schlimmste gefährdet durch eine Agende, nach der man nur mit Widerwillen den Gottesdienst gestaltet. Gegen Ende wird festgehalten: „Eine Meinung, wenn sie auch irrig ist, die sich durch redliches Forschen in der Schrift erzeugt, wird immer, je freier sie vorgetragen werden darf, um desto mehr zur Ausmittlung oder Befestigung der Wahrheit beitragen.“13 Insgesamt sieht man an diesem Streit um die Agende auch einen Kampf um die Reinheit der reformatorischen Prinzipien. Schleiermacher kämpft ihn in der Weise, die er aus seiner Beschäftigung mit der Antike gut gelernt hat: dialogisch, ironisch, aber in der Sache klar und pointiert. Der Wunsch, nach 300 Jahren protestantischer Geschichte „anzukommen“ und die Kirche vom staatlichen Einfluss zu befreien, damit in dieser Freiheit der Wahrheit die Ehre gegeben werden kann, ist virulent.14 Allerdings ist damit auch etwas verbunden, was natürlich ganz und gar nicht im Lutherischen Sinn sein konnte: der allmähliche Rückzug der Theologie aus dem öffentlichen Einflussbereich. 2.2 Kulturkampf Der Kulturkampf ist das vielleicht bekannteste kirchengeschichtliche Datum des 19. Jahrhunderts
und setzt auf anderer Ebene und mit anderen Protagonisten fort, was der Agendenstreit schon verdeutlicht hatte: Wenn in der Religion gestritten wurde, dann eher auf juristischer denn auf inhaltlicher Ebene. Es war ja irgendwie klar: Kann man um Theologie streiten, wenn die Wahrheitsfrage so nicht mehr zu stellen ist? Geht es irgendwo noch um einen articulus stantis et cadentis ecclesiae? Kann irgendeine theologische Überzeugung Exklusivansprüche anmelden und über eine kriteriologische Funktion verfügen? Der Kulturkampf im engeren Sinne dauerte von 1871 bis 1878 an, und er ist in gewisser Weise der Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Restauration und Moderne gewesen. Das protestantische Preußen, das den neuen Nationalstaat Deutschland prägte, traf auf einen ultramontanen Katholizismus, der sich nicht nur innerhalb Deutschlands in der Politik über die Zentrumspartei engagierte, sondern der überdies durch die Erklärung der päpstlichen Infallibilität an längst überwunden geglaubte weltliche Machtansprüche des Römischen Bischofs anknüpfte. Einen ersten Eindruck davon, worin diese Auseinandersetzung bestand und wie man sie auf beiden Seiten zu führen gedachte, bot der Kölner Mischehenstreit. Nachdem die Kölner Provinz preußisch geworden ist und viele Beamte dorthin entsendet wurden, vermehrten sich Ehen, die gemischtkonfessionell waren. Da sich die Konfessionszugehörigkeit der Kinder aus solchen Ehen nach der Konfession des Vaters richtete, in der Folge also sehr viele Kinder protestantisch getauft wurden, befürchtete die römisch-katholische Kirche eine Überformung mit protestantischen Glaubensinhalten in einem bis dato erzkatholischen Gebiet. In den entsprechenden Schreiben, die in dieser Frage hin und her gingen, wird sehr schnell deutlich, dass die Sakramentalität der Ehe ebenso auf dem Spiel stand wie die Frage, welches Recht zu befolgen sei: das weltliche oder das kanonische. Das erste Breve des Papstes an die deutschen Bischöfe machte unmissverständlich klar: „[E]s ist ausgemacht, daß Katholiken, sowohl Männer als auch Frauen, welche Heirathen mit Akatholiken dergestalt abschließen, daß sie sich, oder ihre künftige Nachkommenschaft der Gefahr der Verführung unbedachtsam aussetzen, nicht allein die kanonischen Satzungen verletzen, sondern auch geradezu und sehr schwer gegen das natürliche und göttliche Gesetz sündigen.“15 Die Diskussion vermischte sich aber schnell mit weiteren Konflikten in anderen Bereichen. So geriet die Bonner Katholische Fakultät in Misskredit, weil einer ihrer Theologen, Georg Hermes, eine rationalistische Sicht vertreten und den „positiven Zweifel“ zum wissenschaftlichen Prinzip deklariert hatte; er war nach seinem Tod von Rom mit dem Verdammungsurteil belegt worden. Der Kölner Erzbischof Clemens August Freiherr von Droste-Vischerung verbot die Lektüre seiner Schriften und den Be-
189 such von Vorlesungen, in denen seine Schriften zugrunde gelegt waren – für die preußische Regierung ein Übergriff in staatliche Angelegenheiten und ein Eingriff in das landesherrliche Kirchenrecht. Der Konflikt ging so weit, dass Droste-Vischering den Studenten den Besuch des Kölner Priesterseminars untersagte und sie zu Kursen ins erzbischöfliche Palais lud, wo sie von durch ihn ausgesuchtes Lehrpersonal unterrichtet wurden. Es war klar, dass es hier um mehr ging als um rechtliche Fragen. Deutlich wird das etwa an einem Schreiben des Kultusministers von Altenstein an das Kölner Domkapitel, das die Amtssuspendierung Droste-Vischerings begründete. Dort heißt es unter anderem: „Allein die Zulassung einer solchen Handlungsweise [i.e. die Eingriffe des Erzbischofs in den universitären Lehrbetrieb] würde so unvermeidlich die Zerstörung aller Universitäts-Bildung und die Verdrängung aller wissenschaftlichen Studien seyn, daß man kaum zweifeln darf, es sey mit jenem Verfahren von dem Erzbischofe hauptsächlich der Umsturz der deutschen Universitäts-Bildung, so weit an ihm lag, bezweckt worden.“16 Es geht also tiefer darum, die durch die Aufklärung angestoßene und unumkehrbare wissenschaftliche Ausrichtung des Studiums und damit die Wissenschafts- und Bildungsstandards nicht zu gefährden – universitäre Theologenausbildung hat nicht der Manifestation der Lehre einer Konfession oder gar der Mission zu dienen, sondern zum kritischen Umgang mit der eigenen Konfession und ihren Lehrgrundlagen anzuleiten, zum argumentativ gestützten Wissen über Religion beizutragen und nicht Glaubenssätze und Dogmen zu postulieren. Nachdem Versuche, die Angelegenheit auf diplomatischem Weg zu klären, fehlgeschlagen waren, suspendierte Friedrich Wilhelm III. den Kölner Erzbischof. Während das Kölner Domkapitel offenbar recht froh über diesen Schritt war, tobte der Papst und der Konflikt zwischen Rom und Preußen spitzte sich erheblich zu, der mit einem bleibenden Missverhältnis zwischen römisch-katholischen Bischöfen und evangelisch orientierter Regierung endete. Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn man den Kulturkampf in seiner Zuspitzung als Gipfelpunkt und nicht als singulären Moment eines schwierigen Verhältnisses betrachten will. Denn es ging in ihm um nichts anderes als um die Zurückdrängung des römisch-katholischen Einflusses im Staat. Reichskanzler Otto von Bismarck, ein Konfirmand Schleiermachers, hatte ein großes Interesse daran, a) die neu gewonnene nationale Einheit nicht durch eine ultramontan ausgerichtete Religionsgemeinschaft aufs Spiel zu setzen, b) die Handlungsfreiheit der Zentrumspartei, welche ihm ein rechter Dorn im Auge war, einzuschränken, c) aber auch den protestantischen Einsichten auf verschiedenen Ebenen den Weg zu bahnen. Das galt vor allem für die strikte Scheidung von Staat und Kirche; die Begrenzung ihrer jeweiligen Aufgaben und Funktionen
schien ihm für beide Seiten überlebensnotwendig, so dass ihm schon von daher die katholische Zentrumspartei geradezu eine persönliche Anfechtung war. Der Beschluss der päpstlichen Infallibilität, den das 1. Vatikanische Konzil gefasst hatte und der den Höhepunkt der antimodernistischen Haltung und der päpstlichen Primatsansprüche darstellte, tat sein Übriges, die ohnehin gespannte Stimmung im Deutschen Reich weiter anzustacheln. So spitzte sich etwa auch das Ringen um die Katholische Fakultät der Bonner Universität erneut zu, weil sich einige Personen des Lehrkörpers dem Unfehlbarkeitsdogma nicht wirklich freudig anschlossen. Als die ersten Gesetzesentwürfe zur Restriktion des Katholizismus vorgelegt waren, ging eine Welle der Empörung durch die katholischen Lande. Die Texte lesen sich, als ob man befürchtete, es werde eine neue Ära der Christenverfolgung heraufbeschworen, ja, man fiele in die Zeit vor der Konstantinischen Wende zurück: „Die Kirche kann das Princip des heidnischen Staates [eine interessante Charakterisierung der protestantisch orientierten Regierung], daß die Staatsgesetze die letzte Quelle alles Rechtes seien, und die Kirche nur die Rechte besitze, welche die Gesetzgebung und die Verfassung des Staates ihr verleiht, nicht anerkennen, ohne die Gottheit Christi und die Göttlichkeit seiner Lehre zu läugnen, ohne das Christenthum selbst von der Willkür der Menschen abhängig zu machen.“17 Und tatsächlich war das, was für das ganze Land bzw. für Preußen speziell bestimmt wurde, nicht wirklich dazu angetan, das Verhältnis zwischen Staat und (römisch-katholischer) Kirche freundschaftlich zu gestalten. Nachdem Bismarck im Juli 1871 die katholische Abteilung im preußischen Kulturministerium aufgehoben hatte, folgte als erste Maßnahme für das Reich insgesamt der Kanzelparagraph im Dezember des gleichen Jahres. Er untersagte den Geistlichen jegliche Form politischer Äußerung in der Öffentlichkeit.18 Das Motiv war klar ein ursprünglich protestantisches: die strikte Trennung von kirchlichem und staatlichem Bereich. Viele römisch-katholische Geistliche fanden sich daher ziemlich schnell im Gefängnis wieder – denn wo begann eine kirchliche Äußerung etwa auf dem Gebiet der Moral politisch zu sein? Und wer führte darüber die Aufsicht? Einen erheblichen Eingriff stellten auch die beiden Maßnahmen des Folgejahres dar: Der Jesuitenorden wurde verboten und die Schulaufsicht wurde in Preußen fortan von staatlichen Behörden vorgenommen. Auch wurde erlaubt, dem Religionsunterricht dann fernzubleiben, wenn für außerschulischen Ersatz gesorgt war. So wollte man der Kirche (und in diesem Fall betraf es ja beide Konfessionen) die Ausübung jeglichen Gewissenszwangs in einer staatlichen Einrichtung wie der Schule untersagen. Dem diente auch, dass Ordensmitgliedern der Schuldienst versagt wurde. Etwa 1000 Ordensmitglieder waren
190 von dieser Maßnahme betroffen. Von weitreichender Bedeutung war die 1874 zunächst in Preußen, im Jahr darauf in ganz Deutschland eingeführte Zivilehe, die bedeutete, dass nur die vor einer staatlichen Behörde, dem Standesamt, geschlossene Ehe Rechtswirksamkeit besitzt und daher vor der kirchlichen Trauung stattzufinden habe. Dies führte dazu, dass insbesondere evangelische Paare auf die kirchliche Trauung verzichteten, zumal ihr nach protestantischem Verständnis der sakramentale Charakter fehlt. Als besonders schmachvoll wurden die Maigesetze von 1873 empfunden, mit denen der Staat in erster Linie kontrollierte, wie die Geistlichen ausgebildet und unter welchen Bedingungen sie angestellt wurden. Im Blick auf die Ausbildung etwa wurde vorgeschrieben, dass Philosophie und Naturwissenschaften zum Curriculum zu gehören haben – ein klarer Schlag ins Gesicht eines Katholizismus, der nur ein paar Jahre zuvor mit dem Syllabus errorum mehr als deutliche Grenzen gegen alles Moderne gezogen hatte. Der Briefwechsel, der zwischen Papst und Kaiser zu den Maigesetzen geführt wurde, ist für unseren Zusammenhang sehr aufschlussreich. So formulierte Papst Pius IX.: „Ich spreche mit Freimuth, denn die Wahrheit ist mein Panier, und ich spreche, um einer meiner Pflichten in erschöpfendem Maße nachzukommen, die mir auferlegt, allen das Wahre zu sagen, und auch dem, der nicht Katholik ist; denn Jeder, welcher die Taufe empfangen hat, gehört in irgendeiner Art und in irgendeiner Weise, welche hier nicht der Ort ist, darzulegen, gehört, sage ich, dem Papste an.“19 Das entspricht natürlich in keiner Weise dem protestantischen Kirchenverständnis, und so antwortet Wilhelm I. nicht ohne eine leise Ironie: „Noch eine Äußerung […] kann ich nicht ohne Widerspruch übergehen, wenn sie auch nicht auf irrigen Berichterstattungen, sondern auf Ew. Heiligkeit Glauben beruht, die Äußerung nämlich, daß Jeder, der die Taufe empfangen hat, dem Papste angehöre. Der evangelische Glaube, zu dem Ich Mich, wie Ew. Heiligkeit bekannt sein muß, gleich Meinen Vorfahren und mit der Mehrheit Meiner Unterthanen bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältniß zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesum Christum anzunehmen.“20 Als der Kaiser den altkatholischen Bischof Reinkens als Bischof in Preußen anerkannte, der nach protestantischem Verständnis völlig legitim zum Bischof geweiht worden war, war vollends klar, dass protestantisches Preußen und katholisches Rom auf keinen grünen Zweig miteinander kommen würden. In Konsequenz dessen erwog der Reichskanzler tatsächlich, von § 24 des „Gesetzes über die kirchliche Disziplinargewalt und die Errichtung des Königlichen Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten“ vom 12. Mai 1873 Gebrauch zu machen, der besagte: „Kirchendiener, welche die auf ihr Amt oder ihre geistlichen Amtsverrichtungen bezüglichen Vor-
schriften der Staatsgesetze oder die in dieser Hinsicht von der Obrigkeit innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit getroffenen Anordnungen so schwer verletzen, daß ihr Verbleiben im Amte mit der öffentlichen Ordnung unverträglich erscheint, können auf Antrag der Staatsbehörde durch gerichtliches Urteil aus ihrem Amte entlassen werden. Die Entlassung aus dem Amte hat die rechtliche Unfähigkeit zur Ausübung des Amtes, den Verlust des Amtseinkommens und die Erledigung der Stelle zur Folge.“21 Es ist dem Einspruch des Kultusministeriums zu verdanken, dass es nicht zum Äußersten, nämlich zur Absetzung eines Papstes durch die deutsche Regierung kam; das Ministerium befand, dass das Gesetz wohl doch nicht auf den römischen Bischof zu übertragen sei, auch wenn der sich hartnäckig den Staatsgesetzen widersetzte. Der hatte sie nämlich schlicht für ungültig erklärt.22 Die preußischen Bischöfe, die sich daraufhin zum offenen Widerstand gegen die Maigesetze erhoben hatten, wurden hingegen tatsächlich ihrer Ämter enthoben; betroffen waren die Bischöfe und Erzbischöfe von Posen-Gnesen, Paderborn, Breslau, Münster, Köln und Limburg.23 Gegen Ende des Jahrzehnts, mit der Wahl Leos XIII. zum Papst, beruhigte sich der Kampf und es wurden erfolgreich neue diplomatische Beziehungen geknüpft. Dies gelang allerdings nur, weil man sich schließlich einigte, prinzipielle Fragen auszuklammern und sich über gegenseitige, gleichzeitige Zugeständnisse anzunähern. Kaiser Wilhelm I. brachte es in einem Brief so auf den Punkt: „Wenn es den Generationen, die vor uns waren, niemals gelungen ist, eine Grenze zu bestimmen, die die weltliche und die geistliche Macht gemeinsam anerkannt und bejaht hätten, wird es vielleicht der gegenwärtigen Zeit auch nicht gelingen, dieses Problem zu lösen. Indessen bin ich der Ansicht, daß es durch gegenseitige, jeweils gleichzeitige Zugeständnisse möglich sein müßte, das geregelte Zusammenwirken der beiden Autoritäten wieder so zu gestalten, wie es unter der Herrschaft meiner Vorfahren und des Königs, meines Vaters, und auch zu Beginn meiner Herrschaft in unseren Staaten war.“24 De facto war es dann der Staat, der zunächst durch Milderungsgesetze den Kulturkampfgesetzen ihre Schärfe nahm, später wichtige Momente gar revidierte, etwa was die Vorbildung der Priesteramtskandidaten betraf.25 Insgesamt kann man an diesem – man möchte fast sagen: Wettstreit der beiden Autoritäten erkennen, wie unerledigt manche Fragen auch nach 300 Jahren noch waren und wie der alte, vielleicht sogar überwunden geglaubte Kampf zwischen Kaiser und Papst um die Vorherrschaft, nun noch einmal verschärft durch die konfessionellen Gegensätze, eine fröhliche Auferstehung feierte. Inhaltliche Debatten fanden dabei kaum statt, die Diskussion wurde beinahe ausschließlich auf der juristischen Ebene geführt. Das Königs- und Kaiserhaus bemühte sich
191 um einen protestantisch-konservativen Kurs, ohne diesen als solchen in der Auseinandersetzung geltend machen zu dürfen, denn es sollte ja gerade nicht dem Verdacht Vorschub geleistet werden, der protestantische Kaiser sei nicht auch ein Schutzherr über seine römisch-katholischen Untertanen. Eine große, vielleicht noch zu wenig beachtete Rolle spielte der jeweilige Kultusminister, der als kirchlicher Berater großen Einfluss hatte. Und der nicht zuletzt auch eine ausgleichende Funktion haben sollte zwischen den verschiedenen theologischen Richtungen auf evangelischer Seite, die kirchenpolitische Konsequenzen hatten. 2.3. Luther und Lutherisches in den Theologien des 19. Jahrhunderts Es wurde schon darauf hingewiesen: Es gab im 19. Jahrhundert eine Vielzahl theologischer Richtungen, die sich zudem in den seltensten Fällen trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Diese Pluralität erklärt sich vor allem aus der Spannung, die zwischen dem Deutschen Idealismus und Schleiermacher aufgetreten ist. Die Theologie des 19. Jahrhunderts bewegt sich mitten in dieser Auseinandersetzung und findet ihre jeweilige Position in ihrer Stellung zum einen wie zum anderen. Während Georg Wilhelm Friedrich Hegel dem spekulativen Denken und damit der Metaphysik einen neuen Platz in der Geistesgeschichte einräumte, Kant gegen jede Spekulation die Ethik betonte und Gott allenfalls als moralisches Postulat stehen lassen konnte, erteilte Schleiermacher sowohl der Metaphysik als auch der Ethik eine Absage und platzierte – wie bereits gesehen – die Religion im Gefühl. Dass in diesem „Stellungskrieg“ die Frage nach dem Reformatorischen eine vollkommen untergeordnete Rolle spielte, dürfte evident sein. Aber es gab auch Ausnahmen. Die erste, die ich hier nennen will, sind konfessionell orientierte Theologen, die aus dem Geist der Erweckung heraus der Vorherrschaft des Rationalismus die Stirn boten. An August Neander und seine Pectoraltheologie ist zu erinnern: Das Herz mache den Theologen, so der Kern seiner Aussagen; an August Tholuck, der die Lehre von der Sünde erneut ins Zentrum rückte; an Wilhelm Löhe, der sehr stark auf das Luthertum des 16. und 17. Jahrhundert rekurrierte. Allen gemeinsam ist eine Betonung des Sakraments, eine Rückbesinnung auf die Bekenntnisschriften und ein besonderes Augenmerk auf das Amt. Letzteres wurde sichtbar im Kampf für eine Kirche, die unabhängig vom Staat war, politischer Reaktionismus war eine Folge davon. Alle genannten Theologen wurden indes überstrahlt von der Theologie, wie sie in Erlangen gepflegt wurde. Dort wurde einer Erfahrungstheologie das Wort geredet, wie sie insbesondere Johann Georg Hamann gegen den Rationalismus der Aufklärung propagiert hatte. Unter den Erlanger Theologen herauszuheben ist in unserem Zu-
sammenhang besonders Theodosius Harnack, der nicht nur als einer der ganz wenigen wirklich auf Lutherschriften selbst rekurriert hatte, sondern sich überdies dadurch verdient gemacht hatte, dass er mit einer Untersuchung zum Zorn Gottes einen Teil Lutherischer Theologie wiederentdeckt hat, der unter der Rede vom gnädigen Gott beinahe untergegangen war. An seiner Person kann man sehr gut erkennen, womit es eine konfessionell orientierte Theologie in dieser Zeit zu tun hatte. Inzwischen nämlich hatte die Diskussion um die Schrift neue Wege eingeschlagen. Das reformatorische Schriftprinzip durchaus aufnehmend, war es nun, in Rezeption aufklärerischen Vernunftdenkens, zu einem Umgang mit der Schrift gekommen, der ihr den Offenbarungscharakter mehr und mehr streitig machte. Das war nicht wirklich neu, auch unter Reimarus und nachfolgend bei Semler und anderen hatte es Überlegungen gegeben, den Wahrheitsgehalt der Erzählungen anzuzweifeln. Nun aber fragte insbesondere David Friedrich Strauß verstärkt nach dem historischen Jesus. Strauß hatte behauptet, das, was die Evangelien berichteten, seien Mythen. Jesus als historische Gestalt sei anders zu bestimmen. Von dort aus wurden natürlich auch Kernpunkte des Bekenntnisses, die Trinitätslehre und die Christologie, in Frage gestellt. Die Erkenntnisse in die historischen Umstände des Zustandekommens dieser Glaubenslehren taten ihr Übriges, um an den Fundamentalüberzeugungen des Christentums erheblich zu rütteln. Zudem öffneten gegen Ende des Jahrhunderts und zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Erkenntnisse der religionsgeschichtlichen Schule ein weiteres Tor dazu, das Christentum stärker geschichtlich, kontextuell und eben nicht mehr exklusiv von einem fragwürdig gewordenen Offenbarungsbegriff her zu begreifen. Immer stärker drängte die Frage in den Vordergrund, was und wer eigentlich der Grund des Glaubens ist. Der weite Religionsbegriff Schleiermachers trug Fürchte auch dort, wo man sich nicht explizit auf ihn berief. Dagegen kommt das, was die konfessionelle Theologie, für die exemplarisch Theodosius Harnack stehen soll, bietet und will, reaktionär daher. In einer bemerkenswerten Studie zu Luthers Katechismen26 nimmt Harnack die Frage in den Blick, die schon Luther beschäftigt hatte: Was kann ein Mensch wann richtig verstehen? Er empfiehlt, stufenweise, entsprechend der jeweiligen Erkenntnismöglichkeit vorzugehen und sich erst über die Begriffe, welche die Bibel selbst bietet, an die Sachinhalte heranzutasten. Der reiferen Jugend soll indes die Frage vorgelegt werden, ob es neben der Schrift auch noch andere Möglichkeiten gebe, Gottes Wort zu hören. In diesem Zusammenhang erweist sich Harnack als wahrhaft lutherischer Theologe, der dem Wort Gottes allein eine kraftvolle Stellung einräumt: „Es gibt nichts Größeres, Höheres, Nothwendigeres, nichts Seligeres für den in der Sünde und
192 dem Tode liegenden Menschen, als Gottes Wort. Da haben wir etwas, das da fest steht, auch wenn Himmel und Erde vergehen; darauf wir unbedingt bauen können im Leben, Leiden und Sterben. Ja Alles was wir zu unserm Heil bedürfen, ist zusammen beschlossen in dieser Gabe. Denn wenn Gott sein Wort gibt, so gibt er nichts Geringeres als sich selbst und sagt uns damit, daß er unser sein will für Zeit und Ewigkeit.“27 In der Schrift ist darum auch alles zu finden, was für des Menschen Seligkeit zu wissen Not ist. Dann folgt der Schlag ins Gesicht aller anderen Zeitgenossen: Die Kirche, so ist seine Auffassung, ist eine Gemeinschaft von Glaubenden und Habenden, nicht von Suchenden28; insofern müsse alle Schriftexegese an dem, was offenbart ist, ihre Grenze finden. Und daher käme auch dem äußeren Wort, dem gepredigten Wort, dem verbum externum eine bedeutende Rolle zu, da es davor schütze, alle Eingebung, jeden religiösen Gedanken, ja, jedes religiöse Gefühl als Offenbarung zu begreifen und auf eine Stufe zu stellen mit dem in der Schrift begegnenden Wort. Freilich müsse die Predigt der Kirche überprüft werden – genau darin aber liegt die Kraft des Schriftprinzips gegen einen Religionsbegriff, der die Wahrheit im religiösen Gefühl verortet. Die Spitze gegen Schleiermacher ist unübersehbar. Um durch die Schrift zu leiten, bedürfe es des Bekenntnisses. Hier wiederum ist die Spitze gegen die exegetischen und systematischen Bemühungen spürbar, die Texte der Bibel in einem Strom anderer Texte aufgehen zu lassen und ihre geschichtlichen Bedingtheiten sowie ihren mythischen Charakter zu erfassen. Als historisches Dokument ist die Schrift interessant, aber nicht heilsam. Genau darauf aber komme es an. Der seinen Vater an Berühmtheit weit übersteigende Adolf Harnack, als Universitätspolitiker ebenso erfolgreich wie als Theologe, ging einen etwas anderen Weg als Theodosius. Er trat in die Fußstapfen Albrecht Ritschls, der die historische Faktizität mit der persönlichen Glaubenserfahrung zu verbinden suchte und das Christentum als Ellipse mit zwei Brennpunkten beschrieben hatte: Der eine Brennpunkt ist das Reich Gottes; dieses zu erreichen muss alle sittliche Anstrengung des Menschen sein, wozu er seinen Willen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung bringen muss. Der andere Brennpunkt ist die Rechtfertigung. Schon in der Beschreibung des Christentums als Ellipse wird für uns deutlich, wie Ritschl das Spannungsvolle des Reformatorischen wiederbelebt. In einer Rede zu Luthers 400. Geburtstag29 hob Ritschl die nationale Bedeutung Luthers hervor und bemühte sich, ihn vor vielen Missdeutungen in Schutz zu nehmen. Insbesondere vermisste er in seiner Zeit eine Kirchengebundenheit, die aber unerlässlich sei, wenn das, was das Christentum zur vollendeten Religion machte, auch zur Erfüllung kommen sollte, nämlich das Streben nach dem Reich Gottes. Ritschl behauptete: „Ueberall ist die Religion, in welcher
Gestalt immer sie nachgewiesen wird, das Streben, durch die Unterstützung höherer geistiger Mächte den Widerspruch, in dem man sich im Verhältniß zur Welt vorfindet, zu Gunsten der Machtstellung über die Welt zu lösen. Dieses geschieht ja nun in einer Stufenreihe der Religionen, je nachdem man einzelne Güter, oder ein höchstes Gut erstrebt […]. Das Christenthum aber überragt alle Religionen an Vollkommenheit, und bildet den Schlüssel zum Verständniß aller übrigen, indem es die Bedingungen darbietet, unter denen das geistige Leben in geistiger Weise wirklich über die Welt mächtig wird. […] Das Vertrauen auf Gott nämlich ist in der christlichen Religion durch den Gedanken bestimmt, daß die Menschen in ihrer Verbindung zum Reiche Gottes der Zweck der Welt sind.“30 Der durch ihn maßgeblich geprägte Kulturprotestantismus bewegte sich folgerichtig vornehmlich in den Städten in den Reihen des Bildungsbürgertums. Adolf Harnack nun, einer seiner Schüler, hatte in diesem Sinn noch größeres Interesse an der geschichtlichen Betrachtung des Christentums; ihm galt es, das Dogma in seiner ursprünglichen Form freizulegen, was er dadurch zu erreichen suchte, indem er hinter alle historischen Entwicklungen zurückging. Er formulierte: „Ich bin der festen Überzeugung, daß an der Art, wie die Kirchengeschichte betrieben wird, die Zukunft unseres Kirchenwesens … sich entscheidet. Nicht die Exegese allein und nicht die Dogmatik wird uns zu gesundem Fortschritt und zu immer reinerer Erkenntnis des Ursprünglichen und wirklich Wertvollen anleiten, sondern die besser erkannte Geschichte … man muß das Dogma durch die Geschichte läutern, und wir sind als Protestanten der guten Zuversicht, daß wir damit nicht niederreißen, sondern bauen.“31 Die Forderung nach einem undogmatischen Christentum war die Konsequenz, die Harnack zog. Damit bahnte er einen Weg, der in Widerspruch und Zustimmung die Theologie des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitbestimmen sollte. Der Kulturprotestantismus zeichnete sich insgesamt durch sein Bemühen aus, Theologie auf der Höhe der Kultur zu betreiben. Weder ein Reaktionismus und Konservativismus konnten die Deutungskraft der protestantischen Theologie in die Zeit retten noch eine liberale Theologie, die sich den Gegebenheiten allzu sehr anbiederte und die Errungenschaften der christlichen Theologie aufweichten und aufgehen ließen in verschiedensten Strömungen. Der Kulturprotestantismus versuchte einen Mittelweg, der dann allerdings durch den Ersten Weltkrieg in seinen Grundfesten erschüttert wurde. 2.4 Diakonie und Soziales Der ausgesprochen rudimentäre Blick auf einige Strömungen der Theologie des 19. Jahrhunderts hat es noch verdeutlicht: Wir haben ein Ringen vor Augen, das versucht, eine Orientierungsschneise
193 in den Ideologiendschungel der Zeit zu schlagen, letztlich aber daran scheitern muss, weil die Entwicklungen des Kontextes sich permanent selbst überholen und die Antworten der Theologie von heute morgen schon wieder veraltet sind. Zudem war das Angebot auf dem Markt der Möglichkeiten so groß, dass es beinahe unmöglich schien, eine klare Linie zu verfolgen, die nicht sofort wieder diskutiert und in Frage gestellt wurde. Auf dem Feld der Dogmatik drängelten sich die Anbieter, und viele von ihnen hinterfragten das Dogma selbst, und zwar bis hin zu den Fundamenten. Der Bereich der Ethik dagegen erlebte angesichts der Herausforderungen der Zeit eine besondere Blüte. Die Entdeckung des historischen Jesus trug viel dazu bei, dass man begann, mehr auf das Leben dieses Jesus zu schauen als auf Tod und Auferstehung und damit auf die Erlösung. Um nur zwei prägende Namen zu nennen: Ernst Troeltsch mit seiner Untersuchung „Soziallehren der christlichen Kirchen“ schaute das erste Mal intensiv auf die Sozialgestalt des Christentums; Albert Schweitzer, der hinterfragte, wie nahe man dem historischen Jesus überhaupt kommen könne, prägte den Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben. Vor allem aber bedeutete die Soziale Frage für das Christentum, dessen tätige Seite neu zu entdecken und Einrichtungen praktischer Nächstenliebe ins Leben zu rufen. Dazu freilich berief man sich selten auf Luther; vielmehr waren es pietistische Theologen wie Spener und Francke, die mit ihrem Ruf nach einer Praxis pietatis vorbildhaft erwähnt wurden. Es gab im 19. Jahrhundert eine Reihe von Frauen und Männern, die sich den sozialen Herausforderungen stellten und theologische wie praktische Antworten darauf fanden. Zu denken ist als erstes an Amalie Sieveking, die nach dem Ausbruch der Cholera in Hamburg ihre Aufgabe in der Armenund Krankenpflege ausmachte32 und 1832 einen „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ gründete.33 Dann muss an Theodor Fliedner und seine beiden Ehefrauen Friederike und Caroline erinnert werden, die sich beide aufopferungsvoll für das Werk Fliedners einsetzten. Fliedner legte mit den Kaiserswerther Anstalten den Grundstein für eine institutionalisierte Diakonie, die den Werken der Barmherzigkeit neuen Raum gab. Friedrich von Bodelschwingh erkannte, dass jeder Mensch, auch der körperlich oder geistig eingeschränkte, ein Recht auf Arbeit hat und jeder Arbeitende ein Recht auf Intimsphäre. Schließlich ist für unseren Zusammenhang Johann Hinrich Wichern von besonderer Bedeutung. Die meisten werden mit ihm sofort das Rauhe Haus, eine Rettungsanstalt für verwahrloste Jugendliche bei Hamburg, assoziieren. Wichern war mehr als seine früheren und späteren Mitstreiter auf dem Gebiet der Diakonie beeinflusst von den politischen Entwicklungen und Problemen seiner Zeit. Erklärtes Ziel seines Programms einer Inneren Mission
war es, die politischen Neuerungen nicht zu einem Untergang der christlichen Werte führen zu lassen, den Sozialismus und seinen auf Religion, Sitte und Moral verderblichen Einfluss zurückzudrängen sowie unpolitisch, also ohne dem Staat ins Handwerk zu pfuschen, aber christlich-effektiv für eine ReChristianisierung der Gesellschaft und damit langfristig für eine Besserung der sozialen Umstände zu sorgen. In seiner berühmten und ungemein wirkungsvollen Stegreifrede auf dem 1. Wittenberger Kirchentag 1848 – die neuen Staatsstrukturen hatten auch Auswirkungen auf die landesherrlich organisierte Kirchenstruktur, was auf einer Zusammenkunft aller evangelischen Kirchen Deutschlands verhandelt werden sollte – entwarf Wichern sein Programm34, wozu neben den klassischen diakonischen Aufgaben zum Beispiel das Bereitstellen von Herbergen für wandernde Handwerksgesellen, eine evangelische Publizistik, Reise- und Straßenprediger, die das Evangelium buchstäblich von den Dächern verkünden sollten, Enthaltsamkeitsvereine gegen die Trunksucht und Dienstbotenpflege gegen die Prostitution, Besuchsvereine, Hausgottesdienste dort, wo keine Kirchen oder diese zu schwer zu erreichen waren, Entwicklung von Sparsystemen, Bibelgesellschaften und schließlich die Verortung der Inneren Mission und Diakonie als Thema der Wissenschaft gehörten. In einer umfangreichen Denkschrift mit dem Titel „Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ sah Wichern – und das ist das Neue und Spannende bei ihm – in der Inneren Mission dasjenige Band, das die verstreuten Landeskirchen zu einigen in der Lage sei. Das bedeutete vor allem, dass der Diakonie ein fester Platz innerhalb der kirchlichen Struktur eingeräumt wurde. Diakonie war nicht länger etwas, was zufällig jemand für sich entdeckte und abhängig war vom Engagement einzelner, sondern wurde als Wesensbestandteil von Kirche in der Welt anerkannt. Ein Meilenstein in der Geschichte der Diakonie und der vorläufige Endpunkt in einer Entwicklung, die mit der Reformation und ihrer Neubestimmung des guten Werks ihren Anfang genommen hat!35 Bis evangelische Theologen allerdings den nächsten Schritt gingen und es wagten, ihre sozialen Ideen auch politisch umzusetzen, sich parteilich zu engagieren – für Wichern selbst undenkbar und ausdrücklich abgelehnt, bedeutete dies doch eine Vermischung der beiden Reiche – sollte es noch dauern. Erst jemand wie Friedrich Naumann sollte um die Jahrhundertwende eben diesen Schritt gehen und damit dem Protestantismus ein neues Feld eröffnen. 3. Schluss: Neues Kernobst Für das reformatorische Kernobst war im langen 19. Jahrhundert nicht viel Raum. Zu stark waren die Herausforderungen der Zeit. Ideen und Ideologien lieferten sich einen heftigen Kampf und die
194 Deutungsvormacht, die politischen Umstände ließen vieles zu einem kirchenpolitischen Eiertanz werden, die soziale Lage ließ es nicht zu, dass theologisch-dogmatische Debatten den Platz beherrschten. Die Theologen selbst waren geprägt von ganz anderen Denkern als von Luther oder anderen Reformatoren, so dass ihre Theologien kaum das Kernobst der Reformation bieten konnten. Wo Luther und die Reformation in dieser Zeit begegnen, da tun sie es in Anspruch genommen von den jeweiligen Erfordernissen. Und das heißt meistens: verzerrt. Die Beobachtung der vier benannten Bereiche kann dennoch an dieses Kernobst zurückführen. Das soll in vier kurzen, abschließenden Thesen gezeigt werden. 1. Der Agendenstreit bewies, dass die Liturgie nicht ein beliebiges, schmückendes Beiwerk zur Theologie ist, sondern Theologie in nuce, also im Kern repräsentiert und zur Geltung bringt. Welche liturgischen Elemente an welcher Stelle und in welcher Form eingebracht werden, ist nur scheinbar ein Adiaphoron, das so oder so gehandhabt werden kann. Es hängt theologisch etwas daran, ob auf das Sündenbekenntnis verzichtet, die Einsetzungsworte modern gestaltet oder eine Taufe vor oder nach der Predigt vollzogen wird. Die Liturgievergessenheit unserer Tage macht da manchmal ernsthaft Sorge und es ist bisweilen die Leidenschaft des 19. Jahrhunderts für dieses Element kirchlichen Lebens zurückzuwünschen. Dass sich eine weltliche Obrigkeit so sehr in dieses Kerngeschäft der Theologie einmischte, verweist auf das möglicherweise bis heute immer noch nicht ganz gelöste Problem, wie staatliche und kirchliche Interessen unterschieden und in der Praxis getrennt werden können und sollen. Zu denken ist aktuell an die Frage nach dem konfessionellen Religionsunterricht. Ein Feld, das lange ausreichend beackert schien und in dem die Kompetenzen und Aufgaben klar unterschieden werden konnten. Solange es nur um den christlich verantworteten Religionsunterricht ging. Seit aber islamischer Religionsunterricht auf den Lehrplänen stehen soll – den zu fördern es gute Gründe gibt – brechen erledigt geglaubte Probleme massiv wieder auf. Es braucht nicht ausführlich dargelegt zu werden, an welchen Stellen und warum. 2. Dass der Kulturkampf bisweilen kabarettartige Züge trug, was sich in den zahlreichen Karikaturen etwa des Simplicissimus spiegelte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in diesem Kampf um so manchen Kern ging. Die Frage, wie politisch die Predigt sein darf, die Konsequenz der Auffassung, dass die Ehe kein Sakrament ist, der Einsatz für eine umfassende Bildung von Theologen auch auf dem Gebiet der Philosophie und der Naturwissenschaft, die Rolle und Macht von Bischöfen, die Unterordnung der Kirche unter die Gesetze des Staates – diese Auseinandersetzungen wurden aus
einem protestantischen Geist heraus geführt, und es gibt eigentlich keinen Punkt, an dem man – abgesehen von den Übertreibungen und Entgleisungen im Ton und der Art und Weise – einen Ungeist unterstellen müsste. Umgekehrt gilt auch, dass die betroffenen römisch-katholischen Geistlichen in der Regel aus tiefer religiöser Überzeugung gehandelt haben – wie immer man zu dieser Überzeugung stehen mag. Hier wurde wirklich um Kerne gerungen. Dieses gegenseitige Interesse von Staat und Kirche, der Wunsch und Wille, dass es zwei Institutionen gibt, die Gesellschaft und Kultur gestalten können und ihre jeweiligen Grenzen dabei ausloten – dies muss heute bisweilen schmerzlich vermisst werden. Es ist wahrlich keine Neuauflage des Kulturkampfes zu wünschen, wie er im 19. Jahrhundert geführt wurde. Aber es ist etwas von dieser Leidenschaft für die Welt, in der wir leben, zu wünschen und dafür, diese Welt gestalten zu wollen und zu sollen. 3. Die Theologien des 19. Jahrhundert begegnen uns in verwirrender Vielfalt. Es kommt nicht selten vor, dass in der Literatur Namen von Theologen bald unter der Rubrik, bald unter einer anderen auftauchen. Luther und die Reformation spielten in den meisten Fällen dort eine Rolle, wo man sie für das neue Nationalgefühl in Anspruch nehmen konnte oder für die Auffassung, welche bedeutende Rolle die Reformation im kulturellen Fortschritt des Christentums gespielt hat. Den Kern des Reformatorischen definierte man lieber über Begriffe, die mitunter zu Worthülsen geworden waren, als über Texte, welche von der Spannung zeugen, die als Kern ausgemacht worden war. Für das Dialektische als Prinzip war die Zeit noch nicht wieder reif. Nach den früheren Plädoyers für eben dieses Dialektische muss ein solches Plädoyer hier nicht wiederholt werden. Es sei aber darauf aufmerksam gemacht, dass einige der Diskussionen der Zeit heute wieder auf dem akademischen und dem populistischen Tisch liegen. Dogma versus Ethik, Religion versus Theologie, Offenbarung versus Gefühl, Glaube versus Vernunft, Schriftwahrheit versus Religionsgeschichte, Wahrheitsanspruch versus Geschichtswahrheiten – das war alles schon mal da. Vielleicht liegt es an reformatorischer Verblendung zu meinen, dass die Reformation diese Gegensätze schon einmal überwunden hat, indem sie sie unterschied, aber nicht als Alternativen aufbaute? Vielleicht tut hier ein Blick auf das Kernobst Not, um all das unappetitliche Gemantsche und den unerträglich gewordenen Geruch des fauligen Obstes, das unter verschiedensten Etiketten die religiöse Gegenwartskultur bestimmt, endlich einmal loszuwerden. 4. Soziale Herausforderungen bestimmen uns auch heute in großem Maße. Und es ist richtig und wichtig, dass Kirche sich dazu verhält: in Verlautba-
195 rungen und Grundsatzerklärungen, in einem ethischen Profil, institutionell, in tätiger Nächstenliebe der Gemeinschaft wie des Einzelnen. Die Diakonie und Innere Mission des 19. Jahrhunderts standen dazu eher indirekt auf reformatorischen Schultern, vorbildhaft wirkten vielmehr der Pietismus und aus der Erweckungsbewegung hervorgegangene Bewegungen namentlich in England. Doch dürfte der Blick zurück auf das reformatorische Kernobst den Blick für das, was „dran“ ist, für die Bedürfnisse des Nächsten, für die Chancen und Grenzen einer christlich bestimmten Ethik schärfen. Bis dahin, dass sich das christlich motivierte Engagement auch politisch zeigen darf, vielleicht sogar muss. Der Konfessionalität wäre im Sinne dieser Beobachtungen eine Chance zu geben. Nicht, weil es so schön ist, dünkelhaft zu sein. Sondern weil sich darin jene Kraft verbirgt und entfaltet, die in dem Oberthema „Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat“ eingefordert zu sein scheint. Literatur 1
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Die kirchenpolitischen Schriften Schleiermachers sind in Abteilung I, Band 9 der von Hermann Fischer u.a. besorgten Kritischen Gesamtausgabe versammelt (Abteilung I: Schriften und Entwürfe, Bd. 9: Kirchenpolitische Schriften, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2000). Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus, Göttingen 1824. Vgl. vor allem Ueber das liturgische Recht, aaO 88: „Denn wenn ein wahres Bedürfniß vorhanden ist Aenderungen in der Liturgie vorzunehmen: so muß dieses unfehlbar auf den Provincialpresbyterien oder dem des gesammten Landes zur Sprache kommen […].“ Schleiermacher denkt sich diesen Prozess Zusammen als kirchengemeinschaftlichen Knowhows und landesherrlicher Aufsichts- und Schutzpflicht. Vgl. etwa Ueber das liturgische Recht, aaO 13. Vgl. Ueber das liturgische Recht, aaO 90: Es solle sein wie zu Beginn der Reformation, „daß nämlich der evangelische Landesherr in seiner Landeskirche mit den übrigen wesentlichen Zweigen des Kirchenregimentes auch das liturgische Recht ausübte.“ KGSA 9,1, 389. KGSA 9,1, 390: „Zur Beruhigung dient mir dabei vorzüglich nur, daß [die Gläubigen] dann auch die Kreuze nicht sehen, die über Brodt und Wein gemacht werden sollen, die mir besonders hier verdächtig sind, daß sie bei vielen den Aberglauben erregen werden.“ So wird etwa pointiert gefragt: „Stimmt es etwa mit der Grundregel unserer Kirche, keine andere Glaubensregel anzuerkennen als die Schrift, so gar vortrefflich, wenn jeder auch die Augsburgische Confession beschwören soll, daß er alle die ver-
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dammt, welche anders lehren in dem und jenem Stück, was nun auch gar keinen Grund hat in der Schrift und nur durch spitzfindige Verhandlungen bald so entschieden worden ist und bald anders? Heißt das nicht sich unter eine menschliche Autorität beugen […?]“ (KGSA 9,1, 454f.). Vgl. KGSA 9,1, 411f. Vgl. KGSA 9,1, 451f. KGSA 9,1, 461. KGSA 9, 1, 447. KGSA 9,1, 464. Zu Schleiermachers politischer Wirksamkeit insgesamt, wenn auch weniger im Kontext des Agendenstreits, vgl. die ausführliche Untersuchung von Wolffes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit (AKG 85), 2 Bde, Berlin 2004. Huber, Ernst Rudolf/Huber, Wolfgang: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, 5 Bde, Darmstadt 2014, hier Bd I, Nr. 128, 319. Huber/Huber I, Nr. 159, 384. Eingabe des preußischen Episkopats an das Staatsministerium, 26.05.1873 (Huber/Huber II, Nr. 286, 612). Davor ist zu lesen: „Diese Gesetze verletzen die Rechte und Freiheiten, welche der Kirche Gottes [es ist keine Frage, dass es sich dabei um die römisch-katholische handelt] nach göttlicher Anordnung zustehen. Sie verläugnen gänzlich das Grundprinzip […], welches im Staate und in der Kirche zwei verschiedene von Gott eingesetzte Gewalten anerkennt, die bei der manchfaltigen Berührung und Verschlingung der Verhältnisse in Bezug auf die Regulirung der Grenzen ihrer Befugnisse darauf angewisen sind, nicht einseitig vorzugehen und eigenmächtig die Grenzen und Schranken zu setzen, sondern über die zu treffenden Anordnungen und Bestimmungen sich zuvor friedlich zu verständigen.“ (ebd.). „Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge, oder welcher in einer Kirche, oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise zum Gegenstande einer Verkündigung oder Erörterung macht, wird mit Gefängniß oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft.“ (Huber/Huber II, Nr. 245, 528). Huber/Huber II, Nr. 289, 616f. Huber/Huber II, Nr. 290, 618. Huber/Huber II, Nr. 283, 606. Vgl. Huber/Huber II, Nr. 307, 651–654. Vgl. Huber/Huber II, 677. Huber/Huber II, Nr. 375, 798. Vgl. Huber/Huber II, Nr. 405, 856, Nr. 414, 867– 870, Nr. 420, 883f. Katechetik und Erklärung des Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers, 2 Bde, Erlangen 1882. Katechetik, aaO, Bd 2, 9.
196 28 Vgl. Katechetik, aaO, Bd 2, 12. 29 Drei Akademische Reden am vierten Seculartage der Geburt Luthers 10. November 1883, … im Rahmen der Universität Göttingen gehalten, Bonn 1887. 30 Drei Reden, 11. 31 Agnes von Zahn-Harnack: Adolf von Harnack, Berlin 1936, 130f. 32 Vgl. dazu etwa QGD II, Nr. 89, 154f. 33 Vgl. dazu ihren Bericht über die Gründung in QDG II, Nr. 90, 161–164. 34 Vgl. zum Grundsatz dieses Programms QDG II, Nr. 126, 241. 35 Ferner ist natürlich an Friedrich von Bodelschwingh zu erinnern, der nicht nur das Recht auf
Arbeit auch Geisteskranken und körperlich Behinderten angedeihen lassen wollte, sondern auch die katastrophalen Wohnverhältnisse in Berlin zum Anlass nahm, für jeden Arbeiter eine eigene, wenn auch bescheidene Scholle zu fordern. Er benutzte bewusst seine guten Kontakte zum Berliner Hof, um seine Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. Schließlich muss mit Personen wie Friedrich Naumann und Leonhard Ragaz darauf hingewiesen werden, dass zum Ende des Jahrhunderts die noch bei Wichern maßgebende strikte Trennung von politischen und kirchlichen Aufgaben aufgebrochen und ein religiöser Sozialismus denkbar wurde, der seine Aufgabe dann auch konsequent im diakonisch-sozialen Bereich sah.
197 Mathias Schmoeckel
Schleiermacher und Savigny: Von der „intellektuellen Anschauung“ zum historischen System (1795–1817) 1. Einleitung: Vom Rationalismus zur Rationalismuskritik Die Hinwendung zur Geschichte als dem zentralen Zugang zum Wesen des Menschen und seiner Gemeinschaft, wie man es besonders bei dem Juristen Friedrich Carl von Savigny findet, kennzeichnet die geistige Entwicklung der deutschen Elite um 1800. Sie ist verbunden mit einer klaren Ablehnung der Aufklärung bzw. des früheren Rationalismus und weist eine unbestimmte Verbindung zur „Romantik“ auf. Die Frage nach den Quellen und Vorbildern dieser Entwicklung, insbesondere für Friedrich Carl von Savigny, den vielleicht größten, sicherlich aber am meisten untersuchten Juristen Deutschlands, wenn nicht der Welt, hält an, obgleich es eine Fülle an Publikationen gibt. Doch wurden seine philosophischen Vorbilder um 1800 sowie im beginnenden 19. Jahrhundert bisher nur begrenzt sichtbar1. Insbesondere Schelling wird immer wieder als besonders wichtige Quelle genannt2. Eigentlich war es aber eine Gruppe von jüngeren Autoren, die sich insbesondere mit der Kritik an Kant beschäftigten3. Die Hinwendung Savignys zu philosophischen Fragen und sein Bekenntnis zu einer philosophischen Grundlegung der Wissenschaft im Allgemeinen macht deutlich, dass die Philosophie um 1800 nicht ausschließlich von Philosophen betrieben wurde.
Die Suche nach den Grundlagen der Erkenntnis verband vielmehr die anspruchsvollen Wissenschaftler vieler Disziplinen in dieser Zeit. Einer der weiteren Autoren, die sich zu den Fragen der Erkenntnis äußerten, war der Theologe Friedrich Schleiermacher. Mit seiner anfänglichen Begeisterung, dann wachsenden Kritik an Fichtes Beitrag zu dieser Debatte, gehört er zu den eigenständigen, bedeutenden Beiträgern dieser Debatte4. Doch wogegen richtete sich die Kritik der jungen Generation, der Philosophen, Theologen und Juristen? Zum Zweck der Konzentration soll hier die erkenntnistheoretische Frage in den Mittelpunkt gerückt werden (dazu 2.). Wie kann der Mensch etwas erkennen? Wie lassen sich seine subjektiven Voraussetzungen mit der Welt der Dinge verbinden? Man könnte diese Frage beliebig erweitern, z.B. um die ontologische Frage nach dem Wesen des Menschen, wie es sich aus dieser Epistemologie ergibt. Doch die Konzentration auf die Erkenntnislehre hat den Vorzug, den besonderen Leistungen Schleiermachers und Savignys auf dem Gebiet der Hermeneutik und Auslegungslehre am nächsten zu sein. Danach soll die Entwicklung von Schleiermacher nachvollzogen werden (dazu 3.), die ihn in erkenntnistheoretischen Fragen deutlich in die Nähe von Savigny stellt. Nach einer kurzen biographischen
Abb. 1: Friedrich Carl von Savigny (21.02.1779–25.10.1861)
Abb. 2: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (21.11.1768–12.02.1834)
198 Einführung sind die besonderen Leistungen Schleiermachers zur Entwicklung der Epistemologie (dazu 3.2) und einer historisch-systematisierenden Lehre herauszustellen (dazu 3.3). Ein notwendiges Gegenstück dazu bildet Schleiermachers Lehre zur Hermeneutik (dazu 3.4). Schleiermachers Staatsund Rechtsdenken (dazu 3.5) soll dabei in den Hintergrund treten und nur insoweit wichtig sein, wie es das epistemologische Problem beleuchtet. Insoweit unterscheidet dieser Ansatz die früheren Vergleiche von Schleiermacher und der historischen Rechtsschule5. Der hier gewählte Ansatz verdankt viel den historischen Untersuchungen von Wilhelm Dilthey (1833–1911). Dennoch soll hier kein systematisierender Zugriff gewagt werden, um etwa eine epistemologische Frage zu lösen, wie es Dilthey selbst in Angriff genommen hat6. Dabei soll hier weder gelehrt werden, dass sich diese Entwicklung Schleiermachers einsam und allein vollzog, noch soll hier ein direkter Einfluss auf Savigny postuliert werden. Vielmehr sollen hier die Gründe dargelegt werden, die Schleiermacher neben anderen an dem Rationalismus zweifeln und nach anderen epistemologischen Modellen Ausschau halten ließen. In dieser ideengeschichtlichen Perspektive sollen gegenseitige Abhängigkeiten nicht untersucht oder postuliert werden. Da hier noch viel nichtediertes Material existiert, muss diese Frage einstweilen offen bleiben. Zentrum des Interesses ist hier vielmehr die Frage, warum ein Theologe und ein Jurist sich ungefähr in den gleichen Jahren so auf die Geschichte als Grundlage der Erkenntnis einließen. Anschließend soll die Verwandtschaft der Ansätze mit einem Vergleich von Savigny untersucht werden. Dabei interessieren hier natürlich, nach einer kurzen Einführung, Savignys konfessionelle Einstellung sowie sein Verhältnis zu Schleiermacher (4.1). Dabei kommt es hier auf Savignys Hinwendung zum System im Rahmen seiner frühen Methodenlehre an (4.2). Während im „Recht des Besitzes“ von 1804 wenig davon zu spüren ist (4.3), zeigt die weitere Entwicklung Savignys, vor allem auf die später sogenannte „Volksgeistlehre“, seine allmähliche Hinwendung zur Geschichte als Erkenntnisquelle (4.4). Die Hermeneutik spielt hier als Hilfswissenschaft eine bedeutende Rolle, als sie das Subjekt der Erkenntnis thematisiert. Dies führte zur Entstehung von Savignys großem Entwurf des Systems des heutigen römischen Rechts von 1840ff (4.6). Danach ist es möglich, nach den methodischen Berührungspunkten zwischen Savigny und Schleiermacher zu suchen (dazu 5.). Aufgrund der starken Bedeutung der Erkenntnistheorie, der hier das besondere Interesse gilt, scheint die Theologie dabei ins Hintertreffen zu geraten. Bevor vorschnell die Bedeutung der Reformation und der Theologie verneint wird, muss ein letzter Blick auf das Reformationsjubiläum von 1817 geworfen werden (6).
Der schleswig-holsteinische Pfarrer Claus Harms (1778–1855) nahm in seinen berühmten „95 Thesen“ zur Reformationsfeier von 1817 dabei Themen von Schleiermacher auf, um ihn aus der Perspektive des Luthertums zu kritisieren. Hier findet wieder eine bewußte Rückbeziehung auf die Reformation und eine Kritik der seit 1795 zurückgelegten Wegstrecke aus dieser Perspektive statt. Gerade Savignys restriktives Eheverständnis lässt sich wieder durchaus in dieser Perspektive als Ausdruck eines Neuluthertums interpretieren. 2. Die Bedeutung der Reformation als Grundlage der Wissenschaft Grundlage der Auseinandersetzungen über die Frage der Erkenntnis bildete in den protestantischen Universitäten Deutschlands bis zum 18. Jahrhundert die Lehre Philipp Melanchthons, die über viele große Vertreter des Fachs bis zu Abraham Calov (1612-1686) weiter entwickelt wurde7. Grundlage bildete die Erkenntnis, dass der Mensch und seine Möglichkeiten der Erkenntnis nach dem Sündenfall beschränkt sind. Sein Wissen ist notwendigerweise fehlerhaft. Weil jedoch immerhin Restbestände von Erkenntnismöglichkeiten nach dem Sündenfall erhalten blieben, schloss Melanchthon auf Gottes Willen, dass der Mensch sogar diese fehlerhaften Erkenntnismittel nutzen sollte. Als diese beiden Quellen der Erkenntnis nannte Melanchthon ratio– die Vernunft – und conscientia – das nichtrationale Gewissen, von dem aus Melanchthon sogar eine psychologische Grundlehre entwarf. Beider Ansätze der Erkenntnis sollte sich der Mensch nach Melanchthon und Gottes Willen folgend bedienen. Natürlich waren die Resultate notwendigerweise fehlerhaft und durften nicht mehr beanspruchen, endgültig zu sein. Nur tastend und probatorisch konnten die Wissenschaftler beginnen, für ihre eigenen Gebiete Regeln oder Axiome aufzustellen. Doch für jede Wissenschaftsdisziplin galt wieder, dass sie sich selbständig mit eigenen Regeln aufstellen müsse, die keineswegs auch für andere Fächer gelten müssten. Die Vorreiterrolle der Theologie war endgültig gebrochen. So gab es Methoden und Erkenntnisansätze nur spezifisch für das Fach. In der Rechtswissenschaft nahm man neben Melanchthons eigener axiomatischer Methode noch die Naturrechtslehre auf sowie die Überzeugung, dass auch die Geschichte wichtige Erkenntnisse vermitteln konnte. Bis Kant galt jedoch immerhin allgemein, dass die ratio das bevorzugte Mittel der Erkenntnis sei. Melanchthons Seelenlehre spielte nur eine Rolle, insoweit es um den internen Prozess der Erkenntnis ging. Ganz selten wurde dem Gewissen eine eigenständige Rolle zugewiesen. Immer schon hatte man dabei gewusst, dass es nicht nur logische Deduktionen, sondern auch individuelle Sinneseindrücke gab. Luther ging noch davon aus, dass die Welt der Dinge verstanden
199 werden wollte. Bei Locke waren die Sinneseindrücke sogar die beste Erkenntnismöglichkeit, sofern man die Übereinstimmung der individuellen Wahrnehmung (idea) mit allgemeinen Größen bzw. Erfahrungen feststellen konnte. Für Leibniz folgte aus der Intuition die Möglichkeit Wahrheiten zu erkennen, die nicht weiter bewiesen werden mussten8. Vor allem Spinoza zeigte jedoch bereits die Grenzen möglicher Erkenntnis auf9. Kant trennte dann zwischen den „Dingen an sich“ und der Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis. Kant negierte bei letzterer keineswegs die Bedeutung der individuellen Anschauung. Dabei unterschied er zwischen empirischen Anschauungen der Sinnesorgane und den a priori gegebenen Anschauungen wie die Kategorien von Raum und Zeit. Doch er war der Meinung, dass man sich dabei zu leicht auf die innere Anschauung berufen würde, wenn man keinen anderen Grund anzugeben vermöge. Ein Arzt oder Richter werde Regeln im Kopf haben, gegen die er doch in Ansehung des Falls mitunter verstoßen werde. Er werde dann letztlich ein Regel- und Ausnahmeverhältnis annehmen. Für Kant war es daher die „Urteilskraft“, die als Vermögen zwischen der Vernunft und dem Sinnlichen vermittelte. Sie sei das Vermögen, das Besondere und das Allgemeine in Beziehung zu setzen10. Im „Selbstbewußtsein“ kämen die verschiedenen Eindrücke und die Erkenntniskraft dabei zusammen11. Für Kant waren die verschiedenen Eindrücke daher letztlich nur ein „Denkakt, der zugleich den Gegenstand mit sich hervorbringt, dessen Gedanke er ist“12. Doch müsse sie der Mensch deuten, denn Anschauungen ohne Begriffe seien blind13. Begriffe waren daher erforderlich, um die verschiedenen individuellen Anschauungen zu verallgemeinern14. Die Erfahrung, beispielsweise des Raumes, sei individuell. Die individuelle Anschauung vermittele jedoch letztlich die Erkenntnis dessen, was ein Raum abstrakt sei. So wichtig und bedeutend die Philosophie Kants auch war, man findet dennoch in ihr die Spuren der Reformation. Die Vernunft stand im Vordergrund als Herrscherin der Erkenntnis, das Individuelle und vor allem das Subjektive reduziert auf die Rolle eines Hilfsmittels, das es zu überwinden galt. Kant eröffnete der nachfolgenden Generation die Möglichkeit, hier kritisch nachzufragen. Dies führte zur Aufklärungs- und Rationalismuskritik am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie lässt sich präzise in der Auseinandersetzung der jüngeren Generation von Philosophen mit Immanuel Kant beschreiben, wie sie um 1794 insbesondere von Tübingen um Schelling herum begann. Ausschlaggebend wurde der Begriff der „intellektuellen Anschauung“, der von den Autoren allerdings unterschiedlich genutzt wurde. Vor allem der noch ganz junge Schelling propagierte ihn und wurde dadurch bekannt15. Ästhetische Urteile lassen sich tatsächlich kaum mit Kant begründen, ebensowenig
Erfahrungen . Sie sind intuitive Urteile, die nicht unbedingt rational begründet sind. Kants Verweis auf das Selbstbewußtsein führt das Subjekt der Erkenntnis an, wo es letztlich darauf ankommt, die reine Individualität zu überwinden. Gerade im Hinblick auf die „intellektuelle Anschauung“, also Sinneseindrücke etc. und mehr, wird damit die Urteilsfindung vorausgesetzt, die jedoch erst zu beweisen war. Die „intellektuelle Anschauung“ für Wahrnehmungsakte der Sinne und der Erfahrung waren dann für Schelling ab 1795 unmittelbare Eindrücke des Individuums, die der Verstand anschließend zu bearbeiten habe17. Die „intellektuelle Anschauung“ wurde somit zu dem zentralen „Organ alles transcendentalen Denkens“18. Diese Feststellung hatte nun große Konsequenz für die Bedeutung des Individuums, denn mit Hilfe der unterschiedlichen Wahrnehmung konnte auf die Individualität der Erkenntnis, letztlich auf die Unabhängigkeit des moralischen Individuums geschlossen werden. Die intellektuelle Anschauung sah Novalis etwa als „Urhandlung“ des Ich, innerhalb derer der Gegensatz von Gefühl und Reflexion verarbeitet werde19. Für Fichte wurde in seiner ersten Wissenschaftslehre die Beachtung des Inneren zur ersten philosophischen Forderung überhaupt: „Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst“20. 16
3. Schleiermacher 3.1 Biographisches Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau geboren und starb am 12. Februar 1834 in Berlin21. Nach einem Studium der Theologie in Halle 1787 bis 1789 legte er 1790 sein erstes theologisches Examen in Berlin ab. Nach einer Tätigkeit als Hauslehrer der Reichsgrafen zu Dohna auf Schlobitten22 legte er 1794 sein zweites theologisches Examen ab. Bis zu dieser Zeit wurde er vor allem von Kant geprägt23. Danach arbeitete er sechs Jahre als Prediger an der Charité und fand in dieser Zeit den Kontakt zu den reformierten Familien Berlins. 1802 bis 1804 war er Pfarrer im pommerschen Stolp. 1804 wurde Schleiermacher zum Professor in Halle ernannt, wo er 1806 den Einmarsch von Napoleon mit großem Widerwillen erlebte. Ab 1808 wurde er nach Berlin gerufen, um an der Errichtung der Berliner Universität mitzuwirken. Hier blieb er bis zu seinem Tod 1834 als einer der bedeutendsten Theologen und Geistesgrößen seiner Zeit. Im ersten Berlin-Aufenthalt lernte er seinen Freund Friedrich Schlegel kennen, der großen Einfluss auf ihn nahm. Gemeinsam planten sie eine neue Ausgabe von Platons Werken. Die Arbeit blieb dann allein bei Schleiermacher. So fand Schleiermacher Zugang zum Romantiker-Kreis um Friedrich Schlegel. Auch bei Schlegels Zeitschrift „Athenaeum“
200 wirkte Schleiermacher mit. Diese Zeitschrift machte die Autoren weithin bekannt, weckte aber auch Widerwillen, wie etwa bei dem jungen Savigny24. Erst über die Zusammenarbeit bei der Gründung der Berliner Universität, zu der ab 1810 auch Savigny berufen wurde, entstand eine nähere Verbindung zwischen beiden. 3.2 Die Anschauung als Grundlage von Individualität und Freiheit Die erste Schrift, mit der Schleiermacher auf sich aufmerksam machte, beschäftigte sich mit der besonderen Rolle der Religion. Gerichtet an die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ war klar, dass er auf ein größeres Publikum zielte, in dem die Kritik Kants zirkulierte. So nutzte er auch wieder den Begriff der Anschauung bzw. des Anschauens in zentraler Weise25: „Anschauen des Universums, ich bitte befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion.“ Alle Erkenntnis gehe aus vom Einfluss des Angeschauten auf den Anschauenden. Jeder begreife seine Wahrnehmung gemäß seiner Natur. Im Rahmen des Verstandes müssten dann die verschiedenen Eindrücke zusammengesetzt werden, um das „Universum“ zu begreifen, also die gesamte Fülle der Welt. Dabei sei gerade die Religion mehr als die Vernunft, insoweit sie auch auf das Gemüt und das Empfinden ziele. Die Gottesgewißheit sei nicht mit Verstand alleine zu ermitteln. Ihr Wirken gerade im übernatürlichen Bereich, welche dennoch die ganze Wirklichkeit durchziehe, sei mit dem Verstand alleine nicht zu begreifen26. Frömmigkeit sei Andacht und Demut gegenüber Gott und beruhe auf einem Gefühl der Abhängigkeit, das Gott gesetzt habe als Voraussetzung der Selbsterfahrung und der des Universums. Während es die Offenbarung nur in Momenten gebe, beruhe der Glaube letztlich auf der Anschauung bzw. dem Gefühl der Erkenntnis27. Der Mensch müsse sich daher von allen Empfindungen durchdringen lassen, um zur Religion zu finden. Alle diese Erfahrungen seien stets nur individueller Natur. Gerade deswegen basiere das Christentum auf dem Gegensatz von dem endlichen Individuum als Glaubendem und dem unendlichen der Transzendenz. Erst in Gott werde dieser Widerspruch aufgehoben. Dabei weise gerade die Religion über die Welt hinaus und zeige, wie man den Reichtum der Welt verlieren und dadurch das Universum finden könne. Die Religion könne so auch als Verbindung der verschiedenen Disziplinen dienen, um die Totalität des Menschen zu erschließen. Dies sollte gerade auch für die praktischen Erfahrungen im Umgang mit dem Menschen gelten28. Die christliche Religion habe daher eine kritische Grundhaltung gegenüber dem menschlichen Wissen, gegenüber seiner Kultur und sogar seiner Religion, denn einen absoluten
Wahrheitsanspruch lehne sie ab29. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Christentums der Vergangenheit würden zeigen, wie und wann sich der Mensch von Gott abgewandt habe. In jeder Religion müsse eine Anschauung herrschen30, so unvollkommen sie auch sei. Umso mehr müsse man aus den Fehlern der früheren Zeit lernen bzw. davon ausgehen, wie viele andere Erfahrungen noch gemacht werden könnten. Schleiermacher argumentierte hier vor allem gegen eine präexistente Natur, aus der eine Dogmatik und eine Metaphysik abgeleitet werden soll. Die Theologie sollte dabei ganz unabhängig von jeder Metaphysik durch eine eigene Erkenntnislehre begründet werden31. In der Tradition Melanchthons wurden die verschiedenen Wissensbereiche auch methodisch klar getrennt: Praxis sei Kunst, Spekulation sei Wissenschaft und Religion gebe Sinn und Geschmack für das Unendliche32. Die Abhängigkeit Schleiermachers von der philosophischen Diskussion um die Anschauung seit Schelling ist evident. Dies gilt auch für seine Beziehung zu Fichte, worauf schon verwiesen wurde33. Es ging Schelling, Fichte und Schleiermacher insoweit um die Individualität der Erkenntnis. Ihnen ging es um ein ethisches Ideal des Selbstwerdens bzw. um die Entfaltung von Individualität gerade mithilfe der Erkenntnislehre34. Insbesondere allgemeine Wissenssysteme lehnten sie damit ab35. Schleiermacher nutzte diesen Ansatz, um kritisch gegen etabliertes Wissen vorzugehen. Der Theologe übernahm die Kritik von Kant, um gegen das etablierte Wissen auch im eigenen Fach vorzugehen. Gleichzeitig höhte Schleiermacher die Bedeutung in der Religion, um auf das Besondere der Religion hinzuweisen. Wenn die Anschauung wichtig war, dann sollte es vor allem die Religion sein, welche sie vermitteln konnte und das Besondere des Menschen zu erkennen helfe. Für die nächste Theologengeneration wurden Schleiermachers „Reden“ prägend, der Schleswig-Holsteiner Claus Harms beschrieb seine Lektüre dieses Werks als Erweckungserlebnis36. Obgleich Schleiermacher gerade die Unabhängigkeit der Theologie bekräftigt hatte, fragte er sich nun, welche Bedeutung seine Betonung der Individualität für das Verständnis der Ethik habe. Dadurch wurde er zu seiner Schrift „Monologen. Eine Neujahrsschrift“ angeregt, die schon 1800 in Berlin erschienen war37. Auch die äußere Welt strahle in Bildern auf den Einzelnen, der diese Bilder mit Gefühlen aufnehme. So waren es zunächst wieder Anschauungen, die sich primär mit den Gesetzen der Welt auseinandersetzten. Daraus folgte für Schleiermacher neben der Individualität der Erkenntnis, dass es eine ursprüngliche Freiheit der Erkenntnis gebe38. Dies sollte das Allgemeine jedoch nicht leugnen. Das Göttliche könne sich letztlich auch in den verschiedenen konkreten Formen offenbaren39. Durch die religiöse Erfahrung habe das Individuum
201 eine Teilhabe am höheren unendlichen Leben. Der Staat des Vaterlandes sei nun eine Form der konkretisierten sittlichen Gemeinschaft und des höheren Lebens. Doch während das innere Leben des Menschen unzerstörbar und unendlich sei, könne es beim Staat Brüche und Erneuerungen geben. So nahm es Schleiermacher auch einigermaßen gefasst, als Napoleon 1806 in Halle einmarschiert. Ob Preußen als Staat für die Dauer bestimmt sei, musste sich überhaupt erst erweisen. Ein letztes Problem der Erkenntnis entnahm Schleiermacher dem „Roman“ seines Freundes Friedrich Schlegel „Lucinde“, den Schlegel 1799 veröffentlicht hatte. 1800 nahm Schleiermacher in seiner kurzen Schrift „Vertraute Briefe über die Lucinde“ dazu Stellung40. Bei der zunächst sehr kontrovers aufgenommenen „Lucinde“ ging es um das Denken der Menschen in der Paar-Beziehung. Das Denken der Menschen habe die Eigenheit, nächst sich selbst am liebsten über den geliebten Menschen nachzudenken41. Schleiermacher verteidigte diese romantische Sichtweise auf die Ehe. Indem sich das Individuum in das geliebte Wesen versenke, werde es mit der anderen Person eins und erfahre eine vollständige Erkenntnis, die einzigartig und unwiederholbar sei. Die Ehe sei daher ein besonders fester und dauerhafter Bund besonderer und kaum wiederholbarer Art. In der Konsequenz näherte sich Schleiermacher damit der Unauflösbarkeit der mittelalterlichen Theologie an42. Schleiermacher entwickelte für sich, auf Schelling und Fichte zurückgreifend, eine Erkenntnislehre, die dem Gefühl eine primäre Bedeutung zuwies. Jede Erkenntnis sollte mit diesem nicht-rationalen Sinneseindruck beginnen, der jedem spekulativen Erkennen und Wollen vorausgehen sollte43. Dabei blieb es auch, als Schleiermacher wieder danach suchte, Erkenntnisse inhaltlich zu etablieren. Die Hinwendung auf den Partner in der Auseinandersetzung mit der Lucinde wies dabei den Weg. 3.3 Schleiermachers Hinwendung zur Geschichte und Systematik Einen anderen Zugang zum Problem entdeckt Schleiermacher in seiner 1803 veröffentlichten Schrift „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“44. Der Theologe konnte mit der Individualisierung bzw. Atomisierung der Sittenlehre kaum zufrieden sein. Deswegen suchte er nach anderen Möglichkeiten, eine ethische Lehre zu entwickeln. Anders als bisherige Autoren wollte er jedoch nicht von eigenen ethischen Prämissen ausgehen. Solche Sichtweisen blieben jedoch nur individuell und ließen an der Qualität der Ethik als eigene Wissenschaft zweifeln. Stattdessen wollte Schleiermacher nun untersuchen, „inwiefern die Ethik in ihren bisherigen Gestalten den Anspruch eine eigne und ächte Wissenschaft sein zu wollen gerechtfertigt hat“. Damit waren also die „bisherigen Gestalten“ der Ethik zu untersuchen. Nicht jede beliebige Epo-
che sollte danach untersucht werden, sondern nur solche Phasen der Geschichte, in denen sich eine echte Ethik finden ließ, also „wo ein zusammenhängendes und das Gebiet umfassendes System verheißen worden ist, welches das zufällige menschliche Handeln unter einer Idee betrachtet“, wonach gut und böse unterschieden werde45. Die Wissenschaft der Ethik setzte damit den Anspruch eines Systems, einer vollständigen, widerspruchsfreien Darstellung des Stoffs voraus. Die Ethik wird dabei reduziert, indem sie nicht mehr wahrgenommen wurde als das, was sein sollte, sondern als dessen, was ist bzw. gewesen ist46. Die Erfahrungen der Vergangenheit, Emanationen freier Erkenntnis der Vergangenheit, wurden nun als Grundlage zur gegenwärtigen Erkenntnis genutzt. Diese Idee, die er als Pfarrer in Stolp entwickelt hatte, verfolgte er in seinen Vorlesungen in Halle weiter47. 1805/6 schrieb er „Brouillon zur Ethik“ und erklärte das „organisierende Vermögen“ der Vernunft48. Deren Aufgabe sei es, den einzelnen Gegenstand auf das Ganze und damit auf die „Potenz der Idee“ zu beziehen. Dabei blieb es einerseits dabei, dass alles Wahrnehmen Erkenntnis werden sollte. Die Individualität und Freiheit der Anschauung blieb damit erhalten. Andererseits sollte durch die Vernunft das Allgemeine mit dem Besonderen in Beziehung gesetzt werden49. Gerade die Verstandestätigkeit entwickelte dabei Zusammenhänge, um die Totalität der Verhältnisse der Welt zu erfassen. Daher galt nun, dass die „objective Erkenntniß […] unter sich ein System, ein organisches Ganze aus[macht].“ Der systematische Zusammenhang gewann dabei immer größere Bedeutung, partielle Erkenntnis wurde immer stärker abgelehnt: Wer die Philosophie verstehen wolle, müsse sie historisch untersuchen. Ebenso aber galt auch, dass, wer die Geschichte der Philosophie vortrage, auch die Philosophie selbst besitzen müsse50. Dies führte zum einen notwendiger Weise zu einem neuen Verständnis von Wissenschaft und Universität, andererseits aber auch zu einer Stärkung von Systemdenken und Historizität für das Verständnis historischer Phänomene. Die Geschichte wurde insoweit als Datenlieferantin, als Grundlage des Wissens um einen Gegenstand, immer wichtiger. Diltheys Kritik, dass bei Schleiermacher alles zum Heute werde, ist dabei überzogen, denn die Geschichte war dabei nur das Ausgangsmaterial, dessen sich der erkennende Mensch erst bemächtigen musste51. Ein Beispiel für die Kraft der historischen Anschauung gibt „Die Weihnachtsfeier“, die Schleiermacher 1806 veröffentlichte. Er erzählt von einer Familie, die in ihrem festlich geschmückten Haus Weihnachten feiert. Stiche mit Darstellungen der Geschichte Jesu wurden angebracht, die der ältere Sohn den jüngeren erklärt, während sie sich langsam über den Abend hinweg die Geschenke aneignen. Dann beginnt die Familie darüber zu streiten, ob die
202 Weihnachtsgeschichte doch nur eine „Geschichte“, also Phantasie ist, die alsbald nach Weihnachten wieder wie die Geschenke zur Seite gestellt wird. Dem wird zweierlei entgegen gehalten. Zum einen weckt das Weihnachtsfest besondere Emotionen und Gefühle, welche die Einzigartigkeit des Weihnachtsfestes ausmachen. Zum anderen hat das Christentum die Geburt Christi in unendlichen Variationen durch die Geschichte hindurch zelebriert, welche allesamt zwar unterschiedlich, doch durch inneres Gesetz verbunden sind52. Jede dieser historischen Spuren des Christentums mag zwar unzureichend sein. Doch die Tradition insgesamt lasse sich als Bestätigung des Anfangs auffassen. Jeder einzelne trage in der Gemeinschaft der Christen etwas zum Fest bei. Trotz der großen Unterschiede bleibe es eine Mitteilung desselben Gewordenen, des Ursprungs dieser Geschichte und der christlichen Gemeinschaft53. In der Geschichte setzen sich folglich bestimmte Ideen durch, z.B. die der Menschwerdung Christi. In solchen Ideen erfülle sich die Möglichkeit der Menschen, zum höheren Leben zu gelangen. Das Individuum benötige dabei die Gemeinschaft, nicht nur der Ehe, sondern letztlich der menschlichen Gesellschaft, um in dieser den sittlichen Prozeß der Menschwerdung zu erleben. Staat und Kirche waren damit nötig, um die Aufgaben und Möglichkeiten der Ethik zu entfalten. Wollte man also nun die Ethik individuell, aber objektiv bestimmen, so musste man sie „im Werden“ betrachten54. Jede Ausformung enthalte Elemente der Vernunft, doch seien diese historischen Konkretisierungen nie mit ihr deckungsgleich. Dafür könne man jedoch alles reale Wissen als „Abdruck eines endlichen Seins im Idealen“ verstehen55. Diese Erkenntnisse könne man auf weitere Disziplinen ausdehnen, die von der Ethik ausgingen, insbesondere die Wissenschaften vom Staat, die Staatslehre und Staatsklugheit etc56. Die Ethik in ihrer Praxis und ihren theoretischen Lehren begreife man in der Betrachtung ihrer Entwicklung57. Sie beginne mit einem Minimum des Gewordenen, also mit dem historischen Verlauf58. Alle Manifestationen der Vernunft seien historisch bedingt59. Erkenntnis, Geschichte und Ethik flossen nun zusammen: Das Handeln der Vernunft liege in der Persönlichkeit und den Bedingungen von Raum und Zeit begründet60. Für die Aneignung solcher Fächer wie der Ethik bedurfte es also eines eigenen historischen Studiums. Wie schon einmal die Humanisten im 16. Jahrhundert61, so betonte nun auch Schleiermacher wieder die notwendige Verbindung der verschiedenen Wissenschaften. Der Plan einer neuen Universität in Berlin kam ihm dabei gerade zupass, um über die Bedingungen des Lernens und der Hochschulbildung nachzudenken. Seit 1808 wurde er in die Vorbereitungen einbezogen und war für einen Lehrstuhl vorgesehen62. Wilhelm von Humboldt übernahm seine Konzeption und entwickelte
im folgenden Jahr daraus seinen Plan, welcher der neuen Universität zugrunde gelegt wurde. Zentral war hierbei der umfassende Wissenschaftsbegriff, der die notwendige Einheit aller Materien bedeutete. So konnte etwa – wie gesehen – z.B. Theologie nicht ohne Philosophie und Geschichte betrieben werden. Daraus folgte die Erkenntnis, dass nur der Wissenschaftler selbst bestimmen könne, welches Fach er als nächstes in Angriff nehmen müsse, um seine Gedanken zu entwickeln63. Für Juristen konnte es demnach nicht ausreichend sein, bloß aktuelle Gesetze darzustellen, vielmehr waren dann irgendwann philosophische, philologische oder historische Vorstudien nötig. Doch nicht nur die Professoren, sondern bereits die Studierenden sollten erkennen, dass das Konzept der Wissenschaft die Verbindung der Disziplinen bedeutete und es einen Gesamtrahmen zu erkennen gebe, der die Voraussetzung für die Spezialkenntnisse bilde. Auch die lernenden Studenten bräuchten ihre akademische Freiheit, um ihre individuelle Erkenntnis vorantreiben zu können. Irgendwann bräuchten Jura-Studenten z.B. neben den erwähnten Fächern auch noch die Kenntnis von Grundzügen der Nationalökonomie und der Politik, damit sie selbst in der Lage seien, sich das geltende Recht anzueignen64. Die Berliner Universität sollte daher diesen wissenschaftlichen Zugang wie eine Akademie vermitteln. Der Philosophie wurde hierin der Rang einer Fakultät neben den anderen eingeräumt, allerdings mit dem Auftrag, den Studierenden ein Propädeutikum zukommen zu lassen65. In diesem Punkt entstand die Kontroverse mit Fichte, der den Philosophen hier eine noch größere Bedeutung zukommen lassen wollte66. Gerade bei Theologen und Juristen sah Schleiermacher die Gefahr, dass sie eine handwerksmäßige und unwissenschaftliche Oberflächlichkeit entwickelten67. „Und in der That verdient ja wol jeder Lehrer des Rechts oder der Theologie ausgelacht und von der Universität ausgeschlossen zu werden, der nicht Kraft und Lust in sich fühlte, auf dem Gebiet, es sei nun der reinen Philosophie oder der Sittenlehre oder der philosophischen Geschichtsbetrachtung oder der Philologie, etwas eignes mit ausgezeichnetem Erfolg zu leisten.“ Jeder Theologe und Jurist musste nach Schleiermacher in der Lage sein, auf die Fächer der philosophischen Fakultät zurückgreifen zu können, um die eigenen Quellen erschließen und wissenschaftliche Grundlagen entwickeln zu können. 1811 folgte Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“. In ihr nahm er als erster Dekan der Theologischen Fakultät der Berliner Universität68 Stellung zur Bedeutung der Theologie innerhalb der Wissenschaften. Vor allem wollte er die Einheit der Theologie als Wissenschaft trotz aller Unterschiede zwischen kirchlicher Dogmatik, Geschichte und praktischer Theologie herausarbeiten. So betonte er, dass für alle Spezialisten die
203 Zusammenhänge zu den anderen Fächern und die Abgrenzungen notwendig bekannt sein müssten69. Natürlich sei die Philosophie der „Ort aller Disziplinen“70. Dies sollte die Methode betreffen, mit der die Frage nach dem Normativen und Wesentlichen erforscht werden sollte. Doch das Wesen des Christentums hänge mit seiner Geschichte zusammen71. Erst die historische Theologie stelle jeden Zeitpunkt in seinem wahren Verhältnis zur Idee des Christentums dar72. Sie bilde daher den „eigentliche(n) Körper des theologischen Studiums“. Zusammen mit der philosophischen und der praktischen Theologie bilde sie die Trilogie des theologischen Studiums73. Die Kirchengeschichte im weiteren Sinne enthalte die gesamte Entwicklung des Christentums und zeige, was aus dem Christentum hervorgegangen sei74. Dieses Fach zerfalle dabei in die Kirchen- und die Dogmengeschichte75. Um sich der Materie anzunähern, bedürfe es der Exegese76. Das individuelle Wahrnehmen der Fakten und deren Gedächtnis führe zur Konstruktion der Tatsachen, was neben dem Wissen auch Talent für diese Beschäftigung voraussetze77. Die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen kirchlichem Interesse und der freien Wissenschaft wollte Schleiermacher hierbei nicht anerkennen78. Gegen Kant und Fichte diente Schleiermacher die historische Anamnese nicht nur zur Beschreibung der Vergangenheit, sondern auch zur Bestimmung der gegenwärtigen Positionen79. In der Ablehnung eines absoluten Wissens ging es um die Bestimmung der gegenwärtigen, zeitlich angemessenen Position der verschiedenen Fächer. 3.4 Vom Erkennen zum Verstehen: Die Hermeneutik als Hilfswissenschaft des Systemdenkens Der Blick auf die Wissenschaftslehre Schleiermachers zeigt, dass es die Aufgabe der Wissenschaftler war, sich gleich welche Hilfswissenschaft anzueignen, um die eigenen Aufgaben zu lösen. Ausflüge in die Philologie, Philosophie und Geschichte etc. gehörten damit zum Rüstzeug dieser Professoren. Dabei waren es sie selbst, die in völliger Freiheit ihre Forschungsfragen definierten. Aufgrund der Individualität des Erkenntnisaktes und der daraus folgenden Freiheit des erkennenden Subjekts, war dies letztlich nur konsequent. Wenn das Erkennen individueller Natur war, wie konnte man dann aber von einem objektiven Verstehen ausgehen? Nach der Trennung der Disziplinen durch Melanchthon entdeckten diese für sich neue Hilfswissenschaften. Speziell für diese Aufgabe der Wahrnehmung und Bestimmung der Außenwelt hatte der lutherische Theologe Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) den Begriff der „Hermeneutik“80 als Kunst des Verstehens und der Auslegung81 geprägt. Natürlich kannte man das Problem schon in der Antike, der neue Name steht jedoch auch für eine neue Problemlage: Ausgehend von Melanchthons
anima-Lehre war die Erkenntnis durch die notitiae naturales des Menschen als Individuum möglich82. Zu klären war also, wie das Objekt der Erkenntnis durch das Subjekt erfasst werden konnte. Während Luther sich noch darauf stützte, dass die objektive Welt erkannt werden wollte, wurde – wie geschildert – mit Locke die Individualität der Erkenntnis immer mehr betont. Wie man sich des Wissens bemächtigen konnte, wurde damit zur wissenschaftlichen Aufgabe. Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) stellte bei der Hermeneutik auf Melanchthons notitiae naturales ab, um die Individualität der Betrachtung zu betonen83. Einen originellen Beitrag in der Nachfolge von Leibnitz leistete der lutherische Theologe Johann Martin Chladni (Chladenius: 1710–1759)84. Auch er war davon überzeugt, dass die Hermeneutik eigentlich nur eine Frage des richtigen Verständnisses sei, so wie es ein Lehrer einem Schüler beibringen müsse. Die Natur sei prinzipiell „wißbar“. Dennoch akzeptierte er die Besonderheit individueller Prägungen und Perspektiven, wofür er den Begriff der „Sehe-Punkte“ prägte. Doch es blieb bei einer individuellen Aufgabe, die Erkenntnis des objektiven zu erreichen. Bei Johann August Ernesti (1707–1781), den später auch Savigny zitierte, war es eine Aufgabe der individuellen „subtilitas intelligendi“, um zu bestimmen, was zu begreifen war und wie dies geschehen könne. Davon trennte er die „subtilitas explicandi“, bei der es um den richtigen Wortgebrauch des Autors ging85. Das vielfach herangezogene Lehrbuch des Philosophen Georg Friedrich Meier (1718–1777) sah es als individuelle Aufgabe des Auslegenden an, die Schwierigkeiten zu bewältigen. Dafür müsse er das richtige Wissen und das notwendige Gespür haben86. Erfüllt sei die Aufgabe jedoch erst, wenn die objektive Bedeutung erkannt worden sei. Dabei bestimmte er die Aufgabe der Hermeneutik dahingehend, nicht nur Wörter, sondern allgemein Zeichen zu verstehen, und näherte die Hermeneutik damit an die Semiotik an87. Die Hermeneutik wurde so eine umfassende Wissenschaft, die viel mehr umfasste als nur die Voraussetzungen für die Interpretation von Texten. Schleiermacher musste auf die Hermeneutik zu sprechen kommen. Damit musste Schleiermacher die Hermeneutik besonders als die Aufgabe der individuellen Erkenntnis88 verstehen, wobei es darum ging, „das Individuelle unmittelbar aufzufassen.“89 Wegen seiner viel stärker auf das Individuum ausgerichteten Erkenntnislehre war das Problem des Verstehens bei ihm vor allem ein individueller Akt. Wie konnte so noch ein objektives Verständnis gewonnen werden? Schleiermachers Hermeneutik gilt daher in der Entwicklung des Fachs als Zäsur90, er selbst als Pionier91. Schon zur Selbstkontrolle wollte er seine individuelle Erkenntnis nachweisen und beschäftigte sich mit diesem Gegenstand in verschiedenen Vorlesungen ab 180592. Für ihn musste die Hermeneutik den individuellen Erkenntnisakt mit
204 der Welt der Phänomene erklären. Da die einzelnen historischen Konkretisierungen Ideale nie verwirklichen konnten und die individuelle Anschauung immer der Berichtigung fähig sei, konnte das vollkommene Verständnis etwa eines vorgegebenen Textes nicht wirklich das Ziel der Hermeneutik sein, sondern nur die Annäherung dahin bedeuten93. Dabei konnte das einzelne wieder nicht verstanden werden ohne „ein Verstehn des Ganzen“94. Dabei unterschied Schleiermacher die grammatikalische Interpretation als die eigentlich objektive, während die historische Interpretation eher subjektiv sei95. Zur grammatischen Interpretation zählte er noch die „technische“ Interpretation, welche sich aus der Systematik eines Faches ergebe96. Bei Juristen sah er noch die Notwendigkeit einer „logischen“ Interpretation, die über den eigentlichen Inhalt der Rede hinausgehen sollte97. Gleichzeitig sollte die Subjektivität des historischen Textes gewährleistet bleiben. War der Text Zeugnis einer früheren Zeit, durfte in ihn nicht alles hineingelesen werden, was vernünftig sei. Vielmehr galt es, das historisch besondere des historischen Autors zu verstehen98. 3.5 Schleiermachers Rechts- und Staatslehre Die allmählichen Bearbeitungen der Ethik ließen Schleiermacher immer weitere Bereiche entdecken. Die Vorlesung von 1812 enthielt einen eigenen Abschnitt zur Tugend- und Pflichtenlehre, 1816/7 kam noch eine Güterlehre hinzu. So findet sich dann auch ein eigener Abschnitt zur Pflichtenlehre, die zwischen Rechts-, Berufs-, Gewissensund Liebespflichten unterscheidet99. Hier ging es nicht mehr darum, die Geschichte aufzuzeigen und daraus auf die Pflichten selbst zu schließen, da dies sonst selbst schon Historiographie wäre. Hier ging es also nur noch darum, die Ergebnisse dieser Erfassung als Lehrsätze darzustellen. Schleiermachers Interesse musste sich konsequenterweise auch auf die Staatslehre beziehen. Ab 1808 hielt er hierzu eigene Vorlesungen100. So wie die Kirche wichtig war, damit sich der Glauben entfalten und praktisch werden konnte, so war der Staat Voraussetzung für das ethische Leben des Menschen. Er konnte immer nur eine Ausprägung eines Ideals sein, war damit geschichtlich und ablösbar, wie sich nach 1789 für alle Europäer gezeigt hatte. So war Schleiermacher 1806 nicht sicher, ob sich Preußen würde halten können. Noch 1813 predigte er über Jeremia 1.10 und damit über das Niederreißen von Königreichen als Gericht Gottes eventuell auch über Preußen101. Umso mehr musste das, was Preußen nach 1806 entwickelte, dazu geeignet sein, diesen Staat vor den Augen Gottes zu bestätigen und zu sichern. Es ging Schleiermacher nicht darum, eine Geschichte des Staates zu entwickeln, um daraus die Idee des Staats abzuleiten. Vielmehr wolle er den Staat „physiologisch“ nach seiner Natur im Leben
des Menschen bestimmen102. Zunächst wollte er den Begriff des Staates bestimmen und in Abgrenzung zu älteren Entwürfen Elemente des Staates abstrakt bestimmen. Vom Staat wollte er dort reden, wo Gesetze das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen regelten103. Damit setzte er zum einen die Gesetze voraus, denen die Bürger als Untertanen gehorchen sollten. Zum anderen sah er in der Staatsverwaltung allgemein die Herrschaft der Menschen über die Erde begründet. Dabei setzte Schleiermacher im Ergebnis in erstaunlicher Weise auf die Vermehrung der politischen Mitsprache, die mehr Rationalität mit sich bringen würde und in der weiteren Entwicklung Kriege zu verhindern helfe104. So oszilliert Schleiermachers Staatslehre zwischen einer konservativen Vision, die auf den Bürger als Untertan abstellte, und einer allmählichen Befreiung des Bürgers105. Für die Zeit der Restauration war dies schon wieder zu freiheitlich106. 3.6 Allgemeine Entwicklung Aus den Schriften Schleiermachers wurde hier nachvollzogen, was die Epistemologie und die Kritik an der Aufklärung und dem Rationalismus betraf. Es ging nicht darum, die Originalität Schleiermachers darzutun, sondern um die Kohärenz seiner Gedanken, die geradezu notwendigerweise Vorstellungen eines metaphysisch gegebenen, überzeitlichen Naturrechts abschaffen mussten. Nur punktuell konnte auf die Verbindungen zu Schelling, Fichte etc. und der Vorlagen hingewiesen werden, welche sich ebenfalls in dieser Zeit mit dem Begriff der „individuellen Anschauung“ bei der Kritik an Kant vom Rationalismus lösten. Seit alters her wird hier gestritten, wer die führende Gestalt in dieser Bewegung war. Während früher sogar Schleiermacher als der bahnbrechende Denker angesehen wurde, wurden in der jüngeren Vergangenheit eher Schlegel, Herder107 oder sogar Schelling108 als diese angesehen. Deutlich wurde, wie diese Autoren in enger Verbindung zueinander standen, sich gegenseitig anregten, aber dabei auch zu größerer Originalität fanden109. Die Chronologie ist schon deswegen schwer zu bestimmen, weil sich diese Gedanken bei den einzelnen Autoren erst allmählich formten und zwischen den ersten Anklängen und der finalen Fassung viele Jahre liegen konnten. Während wir bei Schleiermacher ab 1803 die Hinwendung zur historischen Systematik nachvollziehen konnten, führte die Weiterentwicklung seiner Gedanken dazu, dass er ihnen 1811 bis 1814 noch einmal eine neue systematische Form gab110. Davon zu unterscheiden ist, wer nach 1800 tatsächlich gelesen und rezipiert wurde. Für viele war sicherlich Schelling der entscheidende Autor111. Während Schelling Kants Erkenntnislehre schon ab 1794 kritisierte, wandte er sich zwar zunächst der Ontologie zu, ohne allerdings den Bezug zur Bedeutung der individuellen Anschauung zu verlieren112. Er entdeckte in ihr
205 immer weitere Potenzen der Erkenntnis . Dies erschloss ihm auch die Bedeutung der Geschichte. Schelling formulierte es prägnant114: „Die äußere Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wieder zu finden.“ In der hier gewählten ideengeschichtlichen Perspektive ist jedoch nicht die individuelle Einflussnahme entscheidend, sondern der Gang der epistemologischen Argumentation an sich und abstrakt von Individuen, die nur zum Zweck der Anschaulichkeit herangezogen werden. Es kommt für die vorliegenden Zwecke also nicht darauf an, wer zuerst die einzelnen Gedanken entwickelte. Vielmehr sollte der Übergang vom Rationalismus zu einer neuen, stärker individuell geprägten Erkenntnislehre deutlich werden, sozusagen eine Matrix, welche auch die Entwicklung von Savigny begreifen lässt. 113
4. Savigny 4.1 Biographisches 4.1.1 Einführung Friedrich Carl von Savigny (* 21. Februar 1779–25. Oktober 1861) wurde in Frankfurt a.M. in eine alte Juristenfamilie geboren. Sein Leben wurde schon oft dargestellt115. Hier soll es besonders auf die Verbindungen zur Theologie und insbesondere Schleiermacher ankommen116. Dafür lohnt sich bereits ein Blick auf die Familie. Schon der erste Savigny, der seinen Lebensschwerpunkt auf die rechte Rheinseite verlegte, Ludwig Johann von Savigny (1652–1701), hatte in Gießen Rechtswissenschaft studiert. Mit dem Grafen von Leiningen, der seine linksrheinischen Besitztümer durch die Reunionspolitik von Ludwig XIV. verlor, wechselte er die Seite und stand im Dienst verschiedener protestantischer Fürsten117. Dessen Enkel, Christian Karl Ludwig (1726–1791), studierte Rechtswissenschaft in Marburg und stand in den Diensten der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken und Fürsten von IsenburgBirstein. 1766 wurde er in den Verband der deutschen Reichsritterschaft aufgenommen. Verschiedene Fürsten sandten ihn als ihren Kreisgesandten zu den oberrheinischen Kreistagen nach Frankfurt. Er war Lutheraner, heiratete 1766 jedoch eine Reformierte, nämlich Henriette Philippine Gross (1743–1792), Tochter eines pfalz-zweibrückischen Geheimrats. Diese sehr wohlhabende Familie bekam zwar zunächst 13 Kinder, doch nur ein Sohn überlebte, nämlich unser Friedrich Carl. Und als dieser 12 Jahre alt war, waren ihm auch noch beide Eltern verstorben. Der Waise kam in die Obhut des Constantin (ab 1791: von) Neurath (1739–1816), der durch Friedrich II. von Preußen Assessor am Reichskammergericht in Wetzlar war. Aufgrund der Stellung als Institution des Reichs war Wetzlar einer der wenigen Orte, in dem die drei vom Westfälischen Frieden erlaubten Konfessionen gestattet waren. Doch
auch in Frankfurt gab es neben der offiziellen lutherischen auch eine geduldete reformierte Gemeinde. Die interkonfessionelle Toleranz lernte der junge Friedrich Carl von Savigny also sehr früh. Er entschloss sich, 1792 in Marburg mit dem Studium der Rechtswissenschaft zu beginnen statt in dem von dem heimischen Gut Trages aus näher gelegenen Gießen. Darin folgte er dem Vorbild des Vaters, weniger jedoch der Konfession. Seitdem die Universität Gießen 1607 dezidiert lutherisch ausgerichtet wurde118, wurde Marburg im Gegenzug noch stärker auf die reformierte Konfession verpflichtet119. Danach wechselte er zur Universität Göttingen, die nicht nur eine der modernsten Universitäten der Zeit war, sondern auch wieder in einem lutherischen Territorium lag. Die neue Universität Göttingen differenzierte allerdings nicht mehr zwischen den protestantischen Konfessionen120. Zurück in Marburg schrieb Savigny seine Dissertation „De concursu delictorum formali“, die 1800 veröffentlicht wurde. Grolman, Carpzov und sogar Feuerbach, aber v.a. das römische Recht wurden zitiert. Das zeigt eine Prävalenz der protestantischen Tradition, aber beweist keine theologische Prägung. Auch als er danach das Strafrecht nach Meister „Principia“ zu lesen begann, ergibt sich dasselbe Bild121. 1803 wurde er schlagartig berühmt mit seiner Monographie zum „Recht des Besitzes“. Theologische oder philosophische Erwägungen findet man in dieser dogmatisch-dogmenhistorisch ausgerichteten Schrift nicht. 1804 heiratete Savigny die Schwester seines Freundes Clemens Brentano, nämlich die Katholikin Kunigunde Brentano (1780–1863). Hier war die Konfession offensichtlich kein Hinderungsgrund, obgleich Savigny Zeit seines Lebens konsequent Lutheraner blieb. Ob diese Heirat wegen der traditionellen konfessionellen Indifferenz der Oberschicht möglich war122 oder wegen Savignys individueller Toleranz123, kann hier nicht geklärt werden. Während er 1803/4 zwei Rufe an die Universität Heidelberg mit der großen reformierten Tradition ablehnte, folgte er 1808 einem Ruf nach Landshut, der zentralen Universität Bayerns. Auch wenn Bayern von Mongelas gelernt hatte, die großen Konfessionen zu dulden, behielt diese Universität doch eine römisch-katholische Färbung. Hier lernte Savigny zudem den römisch-katholischen Theologen und späteren Bischof von Regensburg Johann Michael (ab 1826: von) Sailer (1751–1832) kennen, der von großer Bedeutung in Süddeutschland war124. Dieser wurde ein enger Freund von Savigny und blieb ihm ein enger Ratgeber125. Über Sailer lernte Savigny ein aufklärungsfeindliches Lager in Bayern kennen, vornehmlich junge Adlige, die durch Schelling für die romantische Strömung gewonnen wurden126. 4.1.2 Zur Rolle der Konfessionen Das Christentum, das Savigny in Frankfurt, Wetzlar und Landshut lernte, war überkonfessionell. Auch
206 in Sailers Lehre näherten sich die Konfessionen an. Wie für Luther stand bei ihm Christus im Mittelpunkt, der durch seinen Tod alles entschieden habe. Doch er näherte sich nicht nur dem „solus Christus“, sondern auch dem Kirchenverständnis von Luther an. Für ihn gehörten nur die wahrhaft erweckten, wirklichen Mitglieder der Kirche an. Er unterschied damit zwischen der sichtbaren Kirche einerseits, die mit ihrem Oberhaupt, dem Papst, den Garant für die notwendige Einheit der Christenheit behielt, von der unsichtbaren Kirche der wahren Gläubigen127. Protestanten waren Sailer andererseits in mehrfacher Weise wichtig128: „Die Protestanten sind als Christen unsere Brüder, als Protestanten unserer Wetzsteine, als Menschen Kinder eines Gottes“ Protestanten konnten letztlich auch Mitglieder der wahren, unsichtbaren Kirche sein. Es scheint, dass Savigny allmählich den Weg zu einem inneren Christentum fand129. Natürlich war ihm die Religion an sich bereits in seinen Jugendjahren wichtig; einen Trost fand er jedoch darin erst, als er älter wurde130. Erst um 1815 finden sich Zeichen eines „Hungers“ nach Glauben, wenn auch nicht nach einer Kirche131. Es ging ihm aber um die Innerlichkeit des Glaubens, nicht um irgendein Bekenntnis132. Das führt zu einem zwiespältigen Befund. Einerseits bildete Savigny, gerade durch seinen Ruf nach Berlin, die Verbindung zwischen den süddeutschen und Berliner Zentren der Erweckungsbewegung. Um ihn herum gerieten seine Freunde wie Clemens Brentano und Schüler wie Moritz August Bethman-Hollweg in den Bannkreis von Sailer und einer neuen, tief empfundenen Religiosität133. Savigny selbst aber behielt jedoch wieder seinen ihm typischen Abstand zur Bewegung. Dadurch fiel auch die Wahrnehmung von Savigny als Christ durchaus disparat aus. Begriff ihn noch Bethmann-Hollweg essentiell als Christ134, vergaß man im 20. Jahrhundert Savignys Nähe zur Theologie nahezu vollkommen. 1810 wurde Savigny an die Berliner Universität berufen, wo er in einen engen Kontakt auch zu Schleiermacher geriet (dazu gleich 4.1.3). Als Pfarrer zog Savigny jedoch einen Lutheraner vor, nicht den reformierten Schleiermacher. Das soll auch an seiner Liebe zu den lutherischen Kirchenliedern gelegen haben135. Zu Pastor Justus Gottfried Hermes (1740–1818) an der Spittelkirche, ein Pfarrer eher für die einfachen Leute, entwickelte Savigny jedoch eine große Nähe; ihm hielt er auch die Leichenrede. Doch hier wurden sicherlich auch theologische Fragen diskutiert, immerhin verschaffte Schleiermacher diesem Pfarrer eine Berliner Ehrendoktorwürde136. Auch er scheint ihn damit wissenschaftlich geschätzt zu haben. Als in Berlin 1814 der älteste Sohn der Savignys geboren wurde, Karl Friedrich, sollte nicht Schleiermacher die Taufe vornehmen; dieser war Savigny erstaunlicherweise zu aufgeklärt und rationa-
listisch. Stattdessen wurde ein lutherischer Pfarrer ausgesucht137. Entscheidend dürfte hier das konfessionelle Moment, weniger die wenig überzeugende Argumentation gewesen sein. Die Konfession des Jungen musste dagegen zunächst offen bleiben, darüber konnten sich die Eltern nicht einigen. Kunigunde hatte eine Ursulinerinnen-Schule besucht und wollte ihren Sohn unbedingt für die römisch-katholische Kirche gewinnen; Savigny hielt dagegen und warb für seine Konfession. Auf den Rat von Sailer hin wurde die Frage der Konfession offen gelassen; die Kinder des Ehepaars sollten mit 14, also vor dem Konfirmationsunterricht, ihre Entscheidung selbst treffen. Nach einem Besuch des französischen Gymnasiums in Berlin und von Jesuitenschulen in Rom und Neapel entschied sich Karl Friedrich tatsächlich für den Katholizismus. Savigny fürchtete nun eine mögliche Entfremdung zum Sohn, tatsächlich trat diese jedoch nicht ein. Diese Episode ist ein Beispiel dafür, dass Glaube in einem eher abstrakten Sinne für Savigny ab 1814 eine wachsende Rolle spielte138. Das Schwärmerische, das man in der ihm nachfolgenden Generation etwa des Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1877) findet, kann man bei ihm jedenfalls nicht feststellen. Das ist jedoch kein Grund, ihm seine lutherische Prägung und seinen konsequenten evangelischen Glauben in Zweifel zu ziehen. 4.1.3 Kontakt mit Schleiermacher 1799 reiste Savigny nach Leipzig, allein um Fichtes Philosophie zu studieren139. Im selben Jahr studierte er Friedrich Schlegels „Über die Philosophie“ und wurde so mit dem hier skizzierten Problem der Erkenntnislehre vertraut140. Schon um 1800 entwickelte Savignys Marburger Freundeskreis, welcher von Kant geprägt war141, eine Begeisterung für Schlegel und das „Athenaeum“142 sowie ein Interesse an Schleiermacher. Einer von ihnen, der Theologe Friedrich Schwarz, begann daher 1800 einen Briefwechsel mit dem bewunderten Theologen143. Dieser verwies direkt auf Savigny und machte Schleiermacher mit dessen ersten Arbeiten bekannt. In seiner gewohnten Art, Distanz zu halten, enthielt sich Savigny jedoch einstweilen eines direkten Kontakts zu Schleiermacher144. Über seine Freunde wie den Katholiken Clemens Brentano, der sich für Schleiermacher interessierte und jedenfalls die Monologe las145, Friedrich Schlegel146 oder über gemeinsame Vorbilder, z.B. Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819)147, könnte er schon früh von ihm gehört haben148. Savigny teilte mit Schleiermacher die besondere Verehrung der Zeit für Goethe, in diesen Jahren besonders für „Wilhelm Meisters Lehrjahre“149. Die Bemerkungen von Novalis gegen das „System“ wollte Savigny nicht nachbeten, als das auch für Schleiermacher noch keine Option war. Daran lässt sich erkennen, dass Savigny die Debatte verfolgte150. Dies gilt insbesondere für die Schriften von Schelling und
207 Fichte . Sicher las er dessen Beiträge im „Athenaeum“. Jedenfalls ab 1805 verstärkte sich Savignys Interesse an Schleiermacher152. Zunächst allerdings kritisierte Savigny Schleiermachers Schrift über die neue Universität in einer Rezension. In einem Brief kritisierte er, dass ihm in dieser Schrift alles „finster“ geblieben sei153. Doch wenig später lobte er ihn154 und gab zu, diese Rezension contre coeur geschrieben zu haben. In seiner Vorlesung empfahl er seinen Studenten diese Schrift155. Persönlich begegneten sie sich wohl erst ab 1810, als auch Savigny an die Berliner Universität berufen wurde156. Bei der Neubegründung der Universität und innerhalb ihrer Institutionen wirkten beide jedoch von nun an über Jahrzehnte zusammen. Es entstand ein enger freundschaftlicher Kontakt, der die Familien einschloss157. Sie trafen sich nicht nur regelmäßig in ihren Häusern in Berlin, sondern sogar im Urlaub158. Die Briefe Schleiermachers an Savigny sind leider verloren159. Darüberhinaus trafen sich beide auch außerhalb der Universität, z.B. in der 1809 gegründeten „Gesetzlosen Gesellschaft“, einem vornehmen konservativen Herrenclub, der sich als Träger von Tradition, Kultur und Wissenschaft verstand. Sonnabends traf man sich zum Mittagessen und zum Gespräch. Schleiermacher war dort „Zwingherr“ von 1829 bis zu seinem Tod, doch auch Savigny gehörte zum regelmäßigen Stamm der Teilnehmer neben Achim von Arnim, Eichhorn, Wilhelm von Humboldt etc.160 Ein weiterer Club war die „Tischgesellschaft“, in der sich beide mit dem Rest der Elite Berlins wieder zusammenfanden161. Mit Savignys Freund Clemens Brentano und seinem Schwager Arnim hatte Schleiermacher ebenfalls freundschaftlichen Umgang162. 1813 übernahm Schleiermacher für einige Monate die Redaktion des „Preußischen Correspondenten“, bei dem Arndt, Achim von Arnim und auch Savigny mitwirkten163. 151
4.1.4 Probleme der Annäherung an Savigny Vorbehaltlich einer näheren Analyse der Archive lassen sich einstweilen keine näheren Hinweise auf eine Nähe Savignys zu einer spezifischen Theologie – außer einer deutlichen Treue zu seiner lutherischen Konfession – oder insbesondere zu Schleiermacher feststellen164. Dies gilt insbesondere für die Frühzeit, während in der Zeit ab 1814 die Religion doch allmählich eine stärkere Stellung einzunehmen begann. Sie gehört einerseits zu seiner konservativen Einstellung, zeigt aber andererseits auch schwärmerische Facetten, die an die romantische, überkonfessionelle Bewegung im Berliner Milieu der ersten Jahrhunderthälfte denken lässt, an der etwa Savignys Schüler Bethmann-Hollweg beteiligt war165. Doch anscheinend war Savigny für eine unmittelbare Teilnahme an diesem Kreis entweder zu alt oder sein charakteristisches Bedürfnis nach Abstand verhinderte dies. Stattdessen muss das Werk dazu befragt werden.
Bei der Interpretation von Savigny gibt es Probleme. Eine Fülle von Untersuchungen zu seinen philosophischen Grundlagen in den letzten Jahrzehnten konnte keine klare Abhängigkeit Savignys feststellen, so dass man eher von einer eigenständigen Entwicklung ausgeht. Knut Wolfgang Nörrs Buchtitel „Eher Kant als Hegel“ bringt diesen Befund treffend zum Ausdruck166. Ein weiteres Problem ergibt sich in Bezug auf eine chronologische Entwicklung. Durch seine durchgängige Nutzung überwiegend derselben Begriffe gibt es die Möglichkeit, dass er schon am Anfang seines Wirkens das vor Augen hatte, was er näher erst am Ende seiner Tätigkeit ausführte. Das „System“ von 1802 kann also dem Verständnis von 1840 entsprechen, klare Widersprüche fehlen jedenfalls und insoweit ist es nachvollziehbar, die früheren Lücken mit den späteren Ausführungen zu füllen. Andererseits ist es doch wahrscheinlicher, dass auch Savigny eine Entwicklung durchmachte, nicht zuletzt in Abhängigkeit von den großen politischen Veränderungen seiner Zeit. Viel unwahrscheinlicher ist dagegen die Annahme des von Anfang an Vollkommenen, der nur noch die Zeit brauchte, um die Kohärenz seiner Gedanken zu formulieren. Die Entscheidung, wie Savigny hier untersucht wird, bestimmt damit schon das zu erzeugende Bild. Erklärt man das System von 1802 mit den Erläuterungen von 1840, entsteht ein Lehrgebäude großer Transparenz und Stabilität. Verfolgt man Savignys Schriften chronologisch, bleiben oft Fragen übrig, und die späteren Ausführungen beweisen nur, dass sich Savigny später damit beschäftigte. Wenn hier also – wie sonst selten in der Literatur – die Entscheidung für eine chronologische Darstellung fällt, begründet schon alleine diese Entscheidung wesentliche Unterschiede zum bisherigen SavignyBild. 4.2 Savignys Methodenlehre Wie bei Schleiermacher diente auch bei Savigny die Auslegungslehre dazu, den Zugang zum richtigen Verständnis eines Textes trotz der Subjektivität der Erkenntnis sicherzustellen. Bereits Stefan Meder betonte, dass auch für Savigny die Interpretation keine mechanische Tätigkeit, sondern eine individuelle und in jedem Fall wieder besondere Aufgabe sei167. Die Aufgabe der Interpretation bzw. Auslegung war zentral für Savigny168. Jede Interpretation war dabei eine „individuelle Aufgabe“169. Allerdings war Savigny dabei missverständlich, insoweit er zunächst nicht die Individualität des Interpreten meinte, sondern die Besonderheit der Aussage des einzelnen und auszulegenden Rechtssatzes, die es zu ergründen gebe; dies müsse in Bezug zum ganzen Text bzw. der ganzen Rechtsordnung stehen170. Interpretation war für ihn die Rekonstruktion des Gesetzes171. Die Auslegung sollte nicht zu einer originellen neuen Auffassung führen, denn die Rechtsfortbildung gehörte für Sa-
208 vigny nicht zur Aufgabe der Juristen. Fortschritt der Dogmatik könne nur allmählich und „organisch“ mit der Zeit entstehen172. Dennoch hing die Aufgabe der Interpretation für Savigny in besonderer Weise von der Persönlichkeit des Interpreten und seinen Fertigkeiten ab173, insbesondere von Bildung, Talent, Intuition und Übung174. Jeder Interpret müsse die Quellen kritisch lesen. Dies bedeutete, dass jeder selbst urteilen müsse175. Die von Savigny unterrichtete Auslegungslehre diente also als Anleitung zu einem eigenständigen, auf die Individualität der Studierenden abstellenden Studium der Jurisprudenz bzw. der antiken Quellen176. Savigny trennte hiermit die deutsche Entwicklung der Rechtswissenschaft, die „Auslegung“ seither für ein epistemologisches Problem ansieht, von der herkömmlichen Diskussion um die Zuständigkeit. Die traditionelle „authentische Auslegung“ ist damit nur noch eine Frage der Verfassung, welche dieses besondere Recht einer Autorität zuschreiben muss. Die aufklärerische Kritik von Montesquieu oder Beccaria ging noch von der allgemeinen Möglichkeit einer objektiven Auslegung aus. Das Ideal eines Richters als „bouche de la loi“ sollte gerade das Individuelle des Entscheidungsträgers ausschließen177. Die Auslegungsdebatten des 18. Jahrhunderts bis hin zu Beccaria musste Savigny konsequenterweise ablehnen178. Die Aufgabe der individuellen Erkenntnis des Textes und deren Methodenfragen entsprechen dabei Schleiermachers Problem der Hermeneutik. Bei Schleiermacher ging es allerdings weniger um den Gegensatz von Objekt und Subjekt als um die Vielschichtigkeit der Aussage von Geschriebenem. Für Savigny reduzierte sich die Fragestellung dagegen auf den Umgang mit dem autoritativen Text179; von einer allgemeinen Semiotik war er weit entfernt. Zu trennen ist nämlich zunächst die Aufgabe der Wahrnehmung und Bestimmung der Außenwelt, wofür wie gesehen Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) den Begriff der „Hermeneutik“ prägte180. Diese Hermeneutik ist dann viel weiter zu verstehen als die Frage, mit welchen Mitteln man einen Text korrekt befragen kann. Man kann beide Aufgaben wie hier trennen oder auch miteinander verbinden und dabei zum Beispiel das Erkenntnisproblem so in den Mittelpunkt stellen, dass die Textauslegung als Unterfall der Hermeneutik erscheint. Erst wenn man wieder den Text von anderen Formen der Aussage trennt, fallen beide Fragestellungen erneut auseinander. Das Verhältnis der beiden Aufgaben wurde damit im Laufe der vergangenen Jahrhunderte sehr unterschiedlich bestimmt. Umso mehr sollten beide streng getrennt werden. Davon zu trennen ist die Frage nach den Kriterien, um den Aussagegehalt eines Textes zu bestimmen. Die Annäherungsweise von Juristen an ihre autoritativen Texte ist dabei generell viel primitiver, da
sie viel weniger deren unterschiedliche Zeitschichten aufzulösen bestrebt sind. Zur Gesetzesinterpretation legte Jan Schröder eine umfassende historische Darstellung vor181. Zu ergänzen ist nur ein Hinweis auf Johann Oldendorps (* um 1487–1567) Werk „Wat byllich unn recht ys“. Er riet dem Juristen, Gesetze in verschiedene Artikel aufzuteilen und getrennt zu analysieren. Juristen sollten dennoch versuchen, nicht nur den Teil, sondern auch den Bezug zum Ganzen zu verstehen. Sie sollten ferner danach trachten, über den Wortsinn hinaus auch den Sinn der Aussage zu erschließen; dies lehnte sich klar an Celsus D. 1.3.17 an. Vor der Anwendung einer Norm solle man ferner die historischen Bedingungen der Norm ergründen: Wer hatte das Gesetz ursprünglich und für welchen Zweck geschaffen? Damit meinte Oldendorp, dass die Gesetzesanwendung u.U. für die gegenwärtige Problemlage nicht geeignet sein könne. Er differenzierte also zwischen den verschiedenen zeitlichen Ebenen. Schließlich sollte kein Richter ein als billig und gerecht erkanntes Ergebnis verweigern, nur weil er angeblich keine passende Norm dafür finden könne. Schließlich sollte alles Recht nach Gottes willen und dem Gewissen des Menschen angewandt werden. Die systematische, grammatische, teleologische und historische Interpretation war damit klar vorgezeichnet. In dieser Hinsicht leistete Savigny also wenig Neues. Wichtig war ihm dabei, wie die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten zusammengefasst werden sollten. „Ein System“ war für den frühen Savigny vor allem das Resultat eines Studiums der Quellen182, wobei die verschiedenen Beobachtungen zu einem neuen Ganzen zusammengesetzt werden. Doch das neu gefundene System sollte mehr sein als ein „bloses Fachwerk, ein bequemes Aggregat der Materien“, es sollte den inneren Zusammenhang zu einer dogmatischen Einheit erschließen183. Insoweit ähnelt es Montesquieus „Esprit de la législation“ als Quintessenz einer Rechtsordnung184. Savigny setzte also eine logische Kohärenz der Materie voraus, die der menschliche Geist nur erschließen muss. Die verschiedenen Teile des Systems, die Rechtssätze also185, waren zusammen zu sehen und im Kontext zu verstehen. Gesetze könnten sich nicht irren; diesen Grundsatz nahm Savigny fälschlich sogar für die Constitutio Criminalis Carolina in Anspruch186. Dieses System sei objektiv gegeben, jedoch nicht unwandelbar. Zentral und innovativ war Savignys Annahme, dass dieses System sich mit dem Lauf der Geschichte verändert187. Jedes System müsse als fortschreitend gedacht werden, weil es sich im Zusammenhang mit der Geschichte des Staates und des Volks entwickele188. „Man muss das System im ganzen nehmen, und es sich als fortschreitend denken, d.h. als Geschichte des Systems der Jurisprudenz im ganzen. Hierauf kommt alles an.“
209 Vor allem war dadurch jeder Staat und ebenso jedes Gesetz Ausdruck seiner Zeit189. Die Interpretation konnte also nicht den wahren Gehalt des Gesetzes treffen, wenn es nicht von seinem Zeitalter her gesehen wurde. Bei den Kodifikationen Justinians waren nun die Texte gleichzeitig Quellen für die klassische Zeit als auch für die Zeit Justinians190. Insoweit gab es für Savigny auch nicht das eine System, sondern eine Fülle erkennbarer Zusammenhänge. In gleicher Weise konnte er zwischen einer theoretischen und einer praktischen Analyse des Rechts mit der Folge unterschiedlicher Systementwürfe unterscheiden191. Savigny lehnte hiermit konsequent jedes überzeitliche, göttlich gegebene Naturrecht ab192. System und Exegese blieben zentrale Begriffe für Savignys Lehre193. Die Verbindung zwischen beiden bzw. die Chance auf ein richtiges Verständnis der Gesetze bot die Auslegung194. Schon ab 1802 beschäftigte er sich mit den Mitteln der Textexegese195. Es zeigen sich insoweit keine Abhängigkeiten von Schleiermacher196, viel eher stand Savigny in der Tradition von Oldendorp. Auch die späteren Ausführungen hierzu, etwa im System von 1840, zeigen keine wesentlichen Änderungen197. Ausgangspunkt war damit für ihn die Abkehr von der richtigen, objektiven Wahrnehmung der Quellen. Wie Schelling, Fichte und Schleiermacher lehnte er insoweit die Tradition bis Kant ab198. Zunächst ging es ihm aber nicht um die Individualität der Anschauung, sondern um die Historizität des Betrachters. Er differenzierte stärker als bisher zwischen dem zeitgenössischen Verständnis einer Norm, den späteren Lehren und der heutigen Anwendung. Er trennte dabei die Rechtsgeschichte nicht nur stärker von der aktuellen Dogmatik, sondern nahm beide auch gegenseitig als Hilfswissenschaft in Anspruch: Die Rechtsgeschichte brauchte die Dogmatik, um die Stellung des Rechtssatzes im System zu entdecken; die aktuelle Rechtslehre brauchte die Rechtshistorie, um die vergangenen Lehren von der aktuellen klarer unterscheiden zu können. (1) Die logische Interpretation galt der Frage nach einem kohärenten, klaren Inhalt, der nicht zuletzt auch der Entwicklung des inhaltlichen Gedankens galt. Danach folgte der Hinweis auf (2) die grammatische Interpretation, also die Analyse des Sprachgebrauchs bzw. des Mediums der Darstellung, sowie (3) die historische Auslegung nach dem historischen Zusammenhang des Textes bzw. des historischen Gegenstandes. Schließlich (4) sollte ein Gesetz objektiv sein, also einen verständlichen Sinn ergeben. Diese Darstellung unterscheidet sich nicht wesentlich von der Auflistung der vier Auslegungsmöglichkeiten aus dem Jahr 1809199. Bei der logischen Interpretation ging es um die Gedankenreihe des Textes und die besondere Position des vorliegenden Textes; man würde hier heute von einer „systematischen“ Interpretation sprechen200.
Die grammatische Darstellung galt dem Sprachgebrauch des Textes, die historische Analyse den besonderen Umständen bei der Genese des Textes. Das systematische Element schließlich sollte das Resultat noch einmal in den Kontext des gesamten Werks stellen und abgleichen, um ein vernünftiges Ergebnis erzielt zu haben. Dabei betonte Savigny, dass diese vier Ansätze nur zusammen eine Interpretation ergeben konnten, die von ihm aufgelisteten Interpretationsmöglichkeiten also nur unterschiedliche Herangehensweisen zu dem gleichen Ziel waren, nämlich den Text zu verstehen. Sehr weit hatte sich Savigny hier noch nicht von Oldendorp entfernt. Von einer Prävalenz einer historischen Interpretation oder einer maßgeblichen Epoche der Geschichte ist hier nichts zu spüren. Es handelt sich hier um eine gelehrte, eher aus der Literatur geschöpfte als um eine originelle Lehre. Sie war einstweilen wie bei Schleiermacher nur eine Facette der Hermeneutik und damit des Problems, vom Subjekt des Erkennenden zur Objektivität zu gelangen. Nicht das ganze römische Recht war dabei noch in der Gegenwart aktuell; bloße „Antiquitäten“ sollten nur kursorisch behandelt werden201. Immerhin war damit die klare Absage an ein vorzeitlich, allgemein gegebenes Naturrecht verbunden. Der Schock von 1789 oder auch nur die Anpassung an Herders Lehre von der Veränderlichkeit des Rechts war insoweit verarbeitet, als alles Recht nur noch als zeitlich gültig anerkannt wurde. 4.3 Savignys „Recht des Besitzes“ von 1804 Savigny wurde 1804 mit der Veröffentlichung seiner Untersuchung zum „Recht des Besitzes“ schlagartig berühmt. Rufe nach Greifswald und nochmals Heidelberg folgten unmittelbar202 sowie zahlreiche Rezensionen und weitere Auflagen. Hatte er wenig früher noch mit dem Gedanken geliebäugelt, Praktiker zu werden203, war nun der Grundstein zu einer glänzenden Karriere als Romanist gelegt. Noch drastischer sah Horst Heinrich Jakobs die Bedeutung dieses Werks darin, dass mit ihm die Rechtswissenschaft eigenständig geworden sei204. Seit Alciati allerdings um 1519 seinen berühmten Traktat „De praesumptionibus“ veröffentlichte, konnte man in der Rechtswissenschaft mit bedeutenden Einzeluntersuchungen berühmt werden. In der lutherischen Erkenntnislehre galt seit Melanchthon ohnehin die Unabhängigkeit der einzelnen Fachdisziplinen. Joachim Rückert untersuchte deswegen genauer, worauf der Zuspruch der Zeitgenossen reagierte. Nach einem Literaturverzeichnis („Literärgeschichte“) und den – kritisch annotierten – Literaturnachträgen in den späteren Ausgaben im Rahmen der Einleitung205 folgt in diesem Werk zunächst ein Ringen um den Begriff von Detention bzw. Besitz (§ 1, 1ff). Die usucapio und das Interdikt des römischen Rechts zeigten Savigny, dass der Besitz im
210 klassischen römischen Recht als Recht an der Sache vorausgesetzt wurde (§ 2, 6f). Danach nahm er Abgrenzungen zu anderen Rechtsfragen (§ 3, 11ff) vor und diskutierte seine Quellen (§ 4, 19ff). Damit betonte er, dass Besitz sowohl als Faktum als auch als Recht angesehen wurde (§ 5, 24ff) und überlegte, zu welcher Klasse von Rechten der Besitz zu rechnen sei (§ 6, 31ff). Nach dieser Klärung der juristischen Bedeutung des Besitzes folgt eine Untersuchung zum Sprachgebrauch der römischen Juristen (§ 7, 58ff). Danach behandelte er einige Sonderfälle (§ 8, 101ff), und Anwendungsfälle zum materiellen Begriff des Besitzes (§ 9, 110ff). Mit der „Literärgeschichte“ zum Begriff des Besitzes bis zur Gegenwart scheint die Untersuchung schon fast abgeschlossen (§ 10, 151ff), doch es fehlen noch eine Abgrenzung zum Besitz mehrerer (§ 11, 178ff) und dem Quasi-Besitz (§ 12, 205ff). Die Geschichte der Interdikte beschließt die Untersuchung (§ 12a, 215ff). Man erkennt eine geschlossene Darstellung und eine geordnete Vorgehensweise, z.B. der Hinweis auf ein „System“ der Materie206. Das Recht des Besitzes sollte nach seiner Stellung im Kontext („System“) des römischen Rechts bestimmt werden207. Rückert qualifizierte dieses Vorgehen daher als einen systematisch-praktischen Zugriff auf die Materie208. Eine solche Annäherung lag in der Zeit um 1800 gleichsam „in der Luft“209. Allerdings sprach Savigny hier nicht weiter von seinem „System“210. Man muss insofern von einem „inneren System“ Savignys in dieser Schrift ausgehen211, also seiner Vorstellung von einer Kohärenz und Folgerichtigkeit des antiken römischen Rechts. Das deckt sich mit den bisherigen Beobachtungen, dass es nur um „ein“ System ging, also um das Verständnis der wahren Zusammenhänge, nicht aber um durch Savigny vorgegebene Postulate. Eine philosophische Dimension lässt sich in Savignys Publikationen erst später, insbesondere ab 1814 entdecken212. Ebenso wenig findet sich eine Methodentheorie in dieser Schrift zum Besitz213. Vielmehr setzte Savigny das antike römische Recht voraus und untersuchte es aus historischer und dogmatischer Sicht mit großer Sorgfalt. Indem er auf eine Lösung „des“ antiken römischen Rechts abstellte, könnte man sagen, dass er ein „System“ bzw. eine geschlossene Rechtsordnung in der Antike voraussetzte. Auch wenn er die Zeit nicht genau präzisierte, so galt sein Interesse doch eindeutig der Antike bis zur Justinianischen Kodifikation. Die späteren Modifikationen der Lehre bis zu seiner Gegenwart waren nur Hilfsmittel, um die Richtigkeit seiner Lösung zu diskutieren. Es handelt sich insofern primär um eine Monographie, welche dem antiken römischen Recht galt. Auch im Hinblick auf seine Methodenlehre lässt sich verstehen, dass Savigny vor allem ermitteln wollte, was der Inhalt und Kern des antiken römischen Rechts war und was in dieser juristischen
Sichtweise als „richtig“ verstanden werden sollte. Die klare Trennung zwischen antiken und späteren Quellen und Autoren sowie die Bemühung um die dogmatischen Zusammenhänge des antiken Rechts verdeutlichen dies. Ein Zusammenspiel von Regel und Ausnahme, von Anwendungen und nachfolgenden Modifikationen214 sowie von Theorie und Praxis sollte die Folgerichtigkeit der dogmatischen Lehren darstellen und somit das systematische Element des antiken Rechts veranschaulichen und bestimmen lassen. Ein kundiger Leser erkennt, dass der Autor über seine Aufgabenstellung nachgedacht hat und von prinzipiellen Erwägungen geleitet wurde. Allerdings bezeichnete Savigny sein „Recht des Besitzes“ als „civilistische“, nicht historische Abhandlung. Im Kern stand also eine juristische Definition. Die Justinian nachfolgende Rechtsgeschichte wurde nur unter dem Titel der „Modifikation“ untersucht, obgleich Savigny zugab, dass in diesen eineinhalb Jahrtausenden durchaus Rechtssätze entstanden, die das antike römische Recht noch nicht kannte215. Mit gewissen Abstrichen diente die historische Analyse also auch dem Verständnis des gegenwärtigen Rechts. Hier ergab sich eine offene Flanke dieses Ansatzes. Zunächst war nicht klar, wieso das antike Recht noch gelten sollte bzw. wie die historische Entwicklung zu bewerten war. Unklar war vor allem, wie der Gegensatz des zeitgenössischen Rechts zur antiken Rechtslage aufzulösen war. Insofern ähnelte Savignys Schrift zum Besitz doch noch den Untersuchungen des „Usus modernus“. In beiden Fällen wurden die antike und die moderne Fassung des Rechts unterschieden. Savigny legte nur seinen Schwerpunkt auf die Antike, während die Autoren des Usus modernus meist die Rechtslage ihrer Zeit zu bestimmen versuchten. Einen Philosophen oder gar einen methodisch versierten Historiker konnte man in dieser Schrift jedoch noch nicht finden216. Dieser Befund unterstützt den hier gewählten Ansatz, Savigny in chronologischer Abfolge seiner Schriften und nicht in toto zu deuten. 4.4 Geschichte als Voraussetzung der Gesetzgebung Savignys Texte zur Methode zeigen dann auch ein wachsendes Interesse an der Frage nach dem Zusammenhang von Recht und Zeit in der Zeit nach 1800. Von vornherein erkannte er an, dass die Gesetze von der Zeit abhingen, in der sie geschaffen wurden217. Die Rechtskultur bilde daher einen Teil der Geschichte eines Volks. Mit dem Verfall des römischen Reiches, so wie es Gibbon beschrieben habe, sei auch der Verfall des römischen Rechts einhergegangen218. Die Blüte des antiken römischen Rechts lag für Savigny dabei in seiner klassischen Epoche, nicht in der Zeit der Kodifizierung durch Justinian219. Ziel der juristischen Arbeit müsse es daher sein, das historisch gegebene Recht zu erfas-
211 sen und es als weiteres Glied einer Kette weiterzuentwickeln220, so dass man die Erkenntnisgewinne und historischen Anpassungen erkennen könne. Das System selbst sollte zwar nicht historischer Natur sein, vielmehr sollte es hier eher auf die inneren Gründe einer bestimmten Anordnung ankommen221. Doch die Gesetzgebung sollte in ihrer historischen Entwicklung vollständig dargestellt werden222. Die Interpretation des Rechts müsse also auch dieses Voranschreiten einer Rechtsordnung erfassen223. Dabei gelte es, weniger auf die Gesetze zu achten als vielmehr auf die Leistung der Juristen. Originelle Gesetze könnten mitunter eine heilsame Arzney für ein krankes Volk bieten, meist handele es sich jedoch um ein frevelhaftes Experiment. Nicht das Gesetz, sondern das Recht jedes Volks sei daher der Ausdruck seines Lebens und Daseyns224. Die Gesetze seien dabei die besten Nachweise eines Rechtszustands, so dass das römische Recht am besten durch die Novellen und den Codex erfasst werden könne. Institutionen und Pandekten seien zwar auch durch Justinian kodifiziert worden, jedoch habe dies nur untergeordnete Wichtigkeit; sie ähnelten doch mehr Gewohnheit und Meinungen225. Die Bedeutung der Geschichte und die Verbindung mit dem Volk betonte Savigny nun immer mehr. Das positive Recht eines Volks bilde sich von innen heraus, d.h. in und mit dem Volk selbst226. 1813/4 lehrte er schon, dass das Recht zum inneren Wesen des Volkes gehöre227.Vollends musste er Farbe bekennen, als Thibaut 1814 vorschlug, ein neues bürgerliches Gesetzbuch für Deutschland zu schaffen. Welches sollte nun das gültige Recht sein und wie war es zu bestimmen? Ausgangspunkt war für Savigny nun das Volk, das durch Sprache, Sitte, Verfassung etc. einen eigenen Charakter und Erscheinung habe228. Schon in der ersten Zeit gebe es bürgerliche Rechte, die das eigentümliche Funktionieren der Völker bewirkten und sie zu Individuen werden ließen. Das Recht gehöre zum Volksglauben, der allerdings durch historische Ereignisse manifest werden müsse, z.B. durch Gesetzgebungen. Der „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Character des Volkes“ zeige sich auch in der weiteren Geschichte und sei mit der Sprache zu vergleichen229. Das Recht wachse mit dem Volk fort und bilde sich mit seiner fortschreitenden Kultur bis zum Ende dieses Volkes aus. Man könne dieses Recht als natürlichen Ausdruck eines Volkes sehen, mal erscheine es als gelehrt durch die Verkörperung in wissenschaftlichen Werken. Doch immer sei es das Recht dieses Volkes. Nur Gesetzgebungen würden nicht immer wirksam in die historische Entwicklung eingreifen. Eine Gesetzgebung könne nur mit der allgemeinen Entwicklung der Sitten zusammen und dann verstärkend wirken, aber sich diesen nicht entgegenstellen230. Vorbildlich sei daher das römische Recht der Antike, das sich wie ein Gewohnheitsrecht immer wieder
aus sich selbst erneuert habe . Für Deutschland gebe es einstweilen keine Annäherung zwischen den verschiedenen Traditionen seiner Territorien. Man könne ihm ebenso wenig eine fremde Rechtsordnung aufoktroyieren wie eine fremde Religion232. Es fehle schon jener organische Zusammenhalt in Deutschland, welcher Voraussetzung für ein funktionsfähiges Gesetz sei233. Im Ergebnis bezweifelte Savigny sehr stark die Möglichkeit einer geeigneten, das Volk und seine Anschauung wirklich treffenden Gesetzgebung234. Eine willkürliche Rechtssetzung werde entweder keine Wirkung haben oder evt. sogar kontraproduktiv die Rechtsauffassung des Volkes verletzen. Voraussetzung sei in jedem Fall eine historische Aufarbeitung des Rechts, um das dem Volk angemessene Recht zu erkennen235. Noch klarer stellte er die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Geschichte zum geltenden Recht in der Einleitung seiner Zeitschrift für die geschichtliche Rechtswissenschaft236. Jeder Mensch sei Glied einer historischen Kette in der Geschichte seiner Familie und seines Volks. Es gebe kein abgesondertes menschliches Dasein, vielmehr sei der Mensch so in seiner sozialen Funktion zu begreifen. Aber auch jede Epoche sei eine Verwirklichung dessen, was das Volk ausmache. So seien auch die verschiedenen Zeitalter je als Glied des Volks zu verstehen, die erst zusammen zu nehmen seien, um das Volk selbst begreifen zu können. Damit leistete Savigny, was er vielleicht schon 1802 als das fortschreitende System verstanden237, so aber nicht formuliert hatte. Nun erst erklärte er diese Konzeption: Das klassische römische Recht war als Grundlage der deutschen Rechtsentwicklung dem Verständnis des aktuellen Rechts ebenso nah wie seine späteren Modifikationen. Die Geschichte wurde hier zu einer besonderen Rechtsquelle, ohne die etwa die Gesetzgebung nicht gelingen konnte. Das Wesen des Volks zerfiel in dieser Sichtweise in verschiedene Epochen, die allesamt den Anspruch hatten, die Eigentümlichkeiten des Volks darzustellen. Man sieht hier die Verbindung zu Schleiermacher. Die Einsicht in die Individualität der Erkenntnis führte ihn wie Schelling und andere zur Geschichte, bei Schleiermacher zum Verständnis des Menschen, bei Savigny zum Verständnis der Individualität des Volkes. Es sind gerade diese übereinstimmenden Hinwendungen zur Geschichte als Grundlage der Erkenntnis, welche die Verbindung zwischen Schleiermacher und Savigny ausmachen238. 231
4.5 Wandlungen der historische Methode Diese Bedeutung der Geschichte bei Schleiermacher und Savigny überwand das Problem der Individualität der Erkenntnis und hat mit der historischen Auslegung innerhalb der engeren Auslegungslehre kaum etwas zu tun. Wie bei Schleiermacher wurde nun hier die Geschichte als Königsweg der
212 Erkenntnis begriffen. Doch gerade im juristischen Kontext war dies durchaus nicht ganz neu. Man muss berücksichtigen, dass bereits Melanchthon die Bestimmung des aktuellen Rechts anhand eines Naturrechts längst nicht als die einzige Methode der Rechtsgewinnung dargestellt hatte. Mit seinen Loci communes hatte er die axiomatische Methode entwickelt und an die Seite gestellt. Ferner akzeptierte er die „historische Methode“, in der er die Betrachtung der Geschichte auf der Suche nach deren Errungenschaften sah239. Schon seine Zeitgenossen wie Johann Oldendorp (* um 1487–1567) machten daher von der historischen Methode als Quelle der Erkenntnis Gebrauch240. Insoweit liegt keine bahnbrechende Leistung Savignys vor. Der englische Autor und Richter Sir Matthew Hale (1609–1609) war nicht nur ein bedeutender Historiograph des englischen Rechts. Vielmehr war er davon überzeugt, mit einer Bestimmung der Geschichte auch das englische Recht selbst näher beschreiben zu können. Angesichts der Bedeutung eines precedent im englischen Recht war und ist die Bedeutung der historischen Gesetze und Entscheidungen in England sicher größer als auf dem Kontinent. Hale verglich dabei das englische Recht mit dem Schiff der Argonauten, die Jason bei seinen Aufgaben beistanden. Sicherlich habe man alle Teile des Schiffes im Laufe der Abenteuer irgendwann austauschen müssen, so dass bei der Ankunft kein Teil mehr original bzw. identisch mit dem Auslaufenden gewesen sei. Und dennoch handele es sich immer noch um dasselbe Schiff, nicht nur gleich, sondern identisch mit dem Ursprung241. Die alte Lehre von der Besonderheit der Völker in ihrer Kultur und ihrer Abhängigkeit von ihrem Klima wurde durch Johann Gottfried Herder (1744–1803) erneuert und erweitert. In seiner großen Lehre zur Menschheitsgeschichte entwickelte er die Welt der Menschen als ein System geistiger Kräfte242. Die Kultur der Völker werde dadurch einerseits durch ihr Klima, aber auch durch ihre Erfahrungen im Laufe der Geschichte geprägt243. Das Klima präge zwar die Sinnlichkeit und Denkart. Wenn das Volk wandere, nehme es diese Kultur mit und entwickele sie weiter gemäß den neuen Bedingungen, ohne die früheren Erfahrungen zu vergessen. Im Rahmen der Kultur flössen die individuellen Vorgaben zusammen und konzentriere sich das, was ein Volk ausmache. Dadurch entstünden im Laufe der Geschichte eine Vielzahl einzigartiger, gleichberechtigter Völker. 4.6 Zu einem neuen Verständnis des Systems bei Savigny Savigny hatte damit weithin anerkannte Vorlagen, um sein Verständnis für die Bedeutung der Geschichte und die Ausprägung der (Rechts-)Kultur eines Volkes zu entwickeln. Ab 1814 ging es Savigny nun klar um die große Aufgabe der einen Rechts-
lehre für Deutschland. Nach der Ausarbeitung der „Geschichte des römischen Rechts“ ging es nun um das eine richtige Verständnis des römischen Rechts, das die Grundlage einer neuen deutschen Rechtsordnung werden konnte. Sein „System des heutigen Römischen Rechts“ erscheint daher einerseits wie eine Krönung der Methode und ihrem Bekenntnis zum System, wie er sie schon 1802 entwickelte, andererseits wie die vollendete Darlegung der Grundlagen für die neue deutsche Rechtsordnung. Man findet daher Äußerungen von Savigny, er habe seine Bände zum „System“ ab 1835 entwickelt244. Andererseits lassen sich schon 1810 erste Absichten eines solchen Werks erkennen, als die Aussicht einer nationalen Kodifikation nicht gegeben war245. Der erste Band dieses Werks erschien 1840 und damit in einer anderen Zeit. Trotzdem betonte Savigny selbst seine Verbundenheit zu den Lehren, die er seit 30 bzw. 40 Jahren äußere246. Er wehrte sich gegen den Vorwurf einer ungebührlichen Ausdehnung der Herrschaft der Geschichte bzw. der Antike als höchste kulturelle Erscheinungsform, die daher auch über die Gegenwart bestimmen solle. Vielmehr sollte die Erkenntnis des Rechts eines Volks gerade durch das Zusammensetzen seiner verschiedenen Erscheinungsformen in den unterschiedlichen Epochen zeigen247. Jedes Zeitalter habe den gleichen Anspruch auf Anerkennung seines Wertes und seiner Selbständigkeit. Es dürfe nur nicht der lebendige Zusammenhang zwischen den Epochen verkannt werden248. Immerhin setzte er noch einmal an, den Begriff des Systems zu erklären249. Er sah es nur als formales Kriterium zur Darstellung einer Materie. So wollte er den inneren Zusammenhang der Regeln des römischen Rechts darstellen. Damit setzte er eine Art Verwandtschaft der einzelnen Rechtsbegriffe und -regeln voraus, denn alle Rechtsverhältnisse zusammen bildeten für ihn ein „organisches Ganzes“. Rechtsbegriffe und Rechtsinstitute, kleinere Einheiten von Rechtslehren, wurden damit für ihn notwendige Bestandteile dieser Darstellung250. Die Ordnung der einzelnen Inhalte lasse sich nur durch eine Bestimmung der Verwandtschaft festlegen. Er wollte also die allgemeineren von den besonderen Materien trennen. Alle Teile der Rechtsordnung müssten zusammengefügt werden, um ihre spezifische Bedeutung zu erfassen. Weiterhin betonte er dabei den Spielraum des Autors, der aufgrund seines subjektiven Bildungsgangs die Angelegenheiten unterschiedlich sehen könne. Bei der Bestimmung der Verwandtschaft brauche der Autor eines Systems nicht weniger Freiheit als der Autor einer Monographie. Bei der Entwicklung des Zusammenhangs aller Teile sollte es daher keine einzige, richtige Lösung geben, vielmehr sollte der Autor versuchen, eine Lösung zu entwickeln, welche die Leser befriedigen könne251. Auch insoweit gab es also nur eine Annäherung an die vollständige Erfassung des Stoffes.
213 Doch das einzig „thätige, persönliche Subject“ der Rechtserzeugung sei das Volk252. Gemeinsame Geschichte, Sprache und letztlich Kultur bilden eine charakteristische Rechtsordnung aus. In dem Naturganzen befinde sich der Sitz der Rechtserzeugung bzw. im gemeinsamen, die einzelnen Individuen durchdringenden Volksgeist253. Die Aufgabe der Juristen konnte es nur noch sein, diese „Völkerindividuen“ zu bestimmen. Die leibliche Gestalt des Volks sei dabei der Staat254. Natürlich habe dieser Einfluss auf das Recht und damit auch auf das Privatrecht. Diesen Widerspruch kann man auflösen mit einem Spruch von Savigny, an den sich Bethmann-Hollweg erinnerte, wonach der Fürst zwar von Gott als Oberhaupt über das Volk gesetzt sei, mit dem er aber eins werden müsse255. 5. Vergleich von Schleiermacher und Savigny Das Verhältnis von Schleiermacher und Savigny zueinander ist schwierig zu bestimmen. Die schon seit Dilthey beobachteten Ähnlichkeiten gerade in der Methodenlehre wurden bislang mit gegenseitigen Abhängigkeiten erklärt. Dank der Edition von Savignys Texten zur Methodenfrage durch Aldo Mazzacane fällt es heute zwar viel leichter, den Gedankengang von Savigny ab 1801 zu verfolgen. Wie bei Schleiermacher werden viele Entwicklungen Savignys längst vor den Veröffentlichungen deutlich. 1801 findet man die Aussage: „System und Exegese sind die Elemente aller juristischen Bildung, […]“256. Man erkennt dabei immerhin, dass ihm die Frage der Auslegung und des Verständnisses des römischen Rechts im Zusammenhang (System) zentral erschien. Die folgenden Texte Savignys erklären diese Begriffe teilweise, teilweise werden jedoch auch allmählich neue Gedanken eingebaut. Viel schwerer ist es dagegen nun zu bestimmen, wer wen beeinflusst hat. Offensichtlich haben sich beide über lange Zeit parallel mit diesen Fragen beschäftigt. Solange kein direkter Beweis für eine direkte Übernahme auftaucht, könnte es sich ebenfalls um parallele Entwicklungen handeln und es wäre vermessen, Abhängigkeiten zu postulieren. Sicher ist nur, dass Schleiermachers Methodologie unendlich raffinierter darin ist, originale Texte auf verschiedene Zeitschichten zu verteilen. Immerhin ist es gut möglich, dass Savigny um 1800 sich von der Kritik an Kant anregen ließ und insoweit mit oder zeitgleich zu Schleiermacher sowohl die Individualität der Erkenntnis übernahm, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit einer absoluten Kenntnis durch die Hinwendung zur Geschichte erkannte. Savignys bedeutendster Schüler, Moritz August von Bethmann-Hollweg, hielt eine solche Abhängigkeit Savignys immerhin für gewiß257. Es gibt erhebliche Gemeinsamkeiten, die zunächst festzustellen sind: – Schon in der gemeinsamen Ablehnung eines vorgegebenen Naturrechts kann man eine wesentli-
che Verbindung sehen. Ebenso lehnten beide die Vorstellungen eines Gesellschaftsvertrages ab258. – Schleiermacher wie Savigny betonten gegenüber allen allgemeinen Vorgaben, dass die Erkenntnis selbst individueller Natur sei. Daraus floß die Notwendigkeit, dass die Individuen schon wegen ihrer eigenen Wahrnehmung besonders und vor allem frei seien. – Die Auflösung des Individuums in seine Epochen, um durch die Betrachtung der verschiedenen Ausprägungen seiner Subjektivität sich dem objektiven Phänomen nähern zu können, nahm Schleiermacher als Weg zur Bestimmung einer deutschen Ethik an, während Savigny dies nutzte, um ein in Deutschland geltendes Recht bestimmen zu können. – Hermeneutik und Auslegung vermittelten hier allgemeine Regeln im Verhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und der Welt der Objekte. Die Betonung der Subjektivität jeglicher Erkenntnis führte zu wesentlichen Akzentverschiebungen innerhalb dieser Traditionen. – Bei der Auslegungslehre beider Gelehrter fehlte eine Frage zur Diskrepanz des historischen Verständnisses zu einer zeitgemäßen Auslegung259. – Gleichzeitig waren die verschiedenen Fächer aufeinander als gegenseitige Hilfswissenschaften angewiesen. Die Philosophie der Erkenntnislehre lag der Theologie und der Jurisprudenz zugrunde. Die Dogmatik half der historischen Erkenntnis und vice versa. Dies wurde für Schleiermacher genauso wie für Savigny zur Grundbedingung ihrer neuen Berliner Universität260. Natürlich gibt es auch wesentliche Unterschiede in den Auffassungen dieser beiden261. Für den Theologen musste die Geschichte Jesu zentral sein. Die spätere Entwicklung konnte durchaus auch als vernünftiger Fortschritt begriffen werden. Für Savigny stand dagegen das klassische römische Recht der Antike im Focus, die spätere Zeit wurde durchaus auch als Verfall gesehen. Der Pastor Schleiermacher hatte schon früh ein Auge für die soziale Frage, mit der sich der Gutsherr auf Trages nicht beschäftigte. Während Schleiermacher ab 1819 als zu liberal eingeschätzt und vom Staat überwacht wurde, begann Savigny als Staatsrat (ab 1817) immer mehr für den Staat tätig zu werden262. Er wurde somit zu einem der Gesichter Preußens der Restaurationszeit. Man kann daher kaum sagen, dass beide blind für die Widersprüche ihrer Lehre mit den Verhältnissen ihrer Zeit waren263. Man muss allerdings nicht mit Dilthey Schleiermacher als Pfadfinder allein ansehen. Es wurde schon deutlich, dass Schleiermacher hier eher im Rahmen einer größeren Gruppe wirkte. Dennoch lassen sich zwei Beobachtungen daraus gewinnen: 1) Schon Friedrich Meinecke hielt fest, dass durch die Hinwendung des Theologen Schleiermacher und des Juristen Savigny die Geschichte als
214 Mittel der Erkenntnis in Berlin eingeführt wurde. Beide wurden und werden daher als Mitbegründer einer historisch orientierten Wissenschaft angesehen264, die man dem Historismus265 zuordnen kann. 2) Anstelle des „Historismus“ diagnostizierten verschiedene Autoren eine Hinwendung beider Autoren zur Geistesströmung der „Romantik“266. Dieser außerordentlich weite Begriff erklärt allerdings wenig. Richtig ist insoweit nur, als sich die Romantik wie Schleiermacher, Savigny und die Erweckungsbewegung267 gegen Denkmuster der Aufklärung wandte. 3) Die Geschichte musste für beide nachweisen, dass das ab 1806 existentiell bedrohte Preußen erhaltenswert sei. Die Anstrengungen für die Universität, die Wissenschaften bis hin zum eigenen Einsatz an der Waffe bei Savigny sind Zeugnisse dieser Anstrengung. 4) Das Christentum trat nach außen hin für beide zurück. Grundlegend für ihre Wissenschaft wurde die Philosophie, die Frage der Religion trat zurück in den inneren Bereich. 6. Schluss: Claus Harms und das Neuluthertum Fragt man also nach der Bedeutung der Reformation um 1800 oder auch nur nach der Bedeutung der (protestantischen) Theologie für die Entwicklung des Geistes in dieser Zeit, muss man einen Negativbefund akzeptieren. Nicht die Theologie, sondern die Philosophie regte die Wissenschaftler zu neuen Leistungen und Konzeptionen an. Die Theologie wurde nur in den Reigen „aller“ Geisteswissenschaften eingereiht. Die Religion wurde immer weiter zur Privatsache, nicht zuletzt auch dank des Theologen Schleiermacher268. Nur insoweit schon mit Melanchthon eine philosophische Grundlegung der Wissenschaftslehre begonnen hatte, lässt sich die hier beschriebene Entwicklung direkt in die Nachfolge der Reformation einordnen. Die Betonung der Individualität und der Freiheit aller Erkenntnis richtete sich zwar gegen den „Rationalismus“ des 18. Jahrhunderts, betonte jedoch in freier Adaption Ansätze von Melanchthon und steht seinerseits so unzweifelhaft in der Tradition von Melanchthons Erkenntnislehre. Der Reichtum der Diskussionen in den sächsischen Universitäten der Frühen Neuzeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz aller Unterschiede die gemeinsamen Grundlagen letztlich in Luther und Melanchthon lagen. Sucht man nach theologischen Mustern bei unseren beiden Protagonisten, wird man kaum fündig. Beide scheinen betont überkonfessionell agiert zu haben. Die Erweckungsbewegung um Savigny lässt sich schlecht in theologischer Hinsicht bestimmen, obgleich vieles in theologischer Hinsicht – oft jedoch eher unbewusst – von Luther übernommen wurde269. Auch hier dominierte die Tendenz zur Vernachlässigung der konfessionellen Gegensätze.
Doch im Übrigen führte diese Bewegung, deren bedeutendste Vertreter Savigny nahestanden, ihre Mitglieder entweder zum Rückzug von der Politik oder zu einer sehr konservativen Haltung270. Eine konservative Überzeugung konnte jedoch auch durch andere Gründe eingenommen worden sein. Ein christliches Spezifikum in der Tradition dieser Bewegung ist hier kaum zu finden. Die genannten Elemente der Erweckungsbewegung, also die Verinnerlichung der Religion und das Überspielen der Konfessionen, durchaus auch im Sinne eines romantischen Bezugs zu einer früheren, mittelalterlichen Einheit271, hatten allerdings eine große politische Bedeutung. Sie gehören insoweit zusammen, als sie im Staat die Möglichkeit einer Nationalkirche schufen. Für Schleiermacher ergab sich daraus die Chance einer preußischen protestantischen und damit überkonfessionellen Kirche. Er entwickelte die Grundlage einer Unierten Kirche für Lutheraner und Calvinisten mit dem Versuch, die Elemente der Herrschaft durch eine Episkopalverfassung, wobei der Bischof schon die Person des Herrschers ersetzen sollte, in einen Ausgleich mit einer Mitbestimmung der Kirchenmitglieder zu bringen, indem er auf den verschiedenen Ebenen eine Synodalstruktur vorschlug272. In dieser Struktur wurde die Frage der Konfession den Gemeinden übertragen und die Kirche zur Kirche Preußens. In dieser auf eine politisch konservative Haltung verpflichtenden Tradition konnte Bethmann-Hollweg 1857 eine „evangelische Katholizität“ erkennen273. Für Savigny bedeutete die Verinnerlichung, dass er soweit er konnte dem lutherischen Gottesdienst treu blieb, sich aber seine Kinder zur römisch-katholischen Konfession entscheiden konnten, während er ab 1817 natürlich staatstreu Mitglied der unierten Kirche wurde. Bevor allerdings für den Anfang des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Reformation in Frage gestellt wird, lohnt sich ein abschließender Blick auf die Reformationsfeier von 1817. Wofür stand hier die „Reformation“? Lassen sich solche theologischen Forderungen auch schon bei Schleiermacher und Savigny finden? Gerade in der Zeit der Restauration mit der Betonung der staatserhaltenden Funktion der Religion war ein Milieu gegeben, in dem das Bekenntnis zum Christentum als Mittel im Kampf gegen das Chaos der Revolution galt. Eine politische Forderung aus dem Kreis der Theologen wurde erst 1817 wieder laut mit den berühmten 95 Thesen des Pastors aus Schleswig-Holstein, Claus Harms274. Mit seinen 95 Thesen275 wurde wieder ein prononcierter Rückgriff auf Luther laut. Dieser Rückgriff wurde später politisch und theologisch als „Neuluthertum“ benannt276. Angesichts der unterschiedlichen Gruppen an verschiedenen Orten und mit diversen Themen kann man jedoch zweifeln, ob es tatsächlich je eine solche Bewegung gab bzw. inwieweit der Begriff hier eine Einheit schaffen darf277. Noch einmal wurden die Themen
215 verbunden, die auch hier schon behandelt wurden, jedoch nun mit einer neuen Tendenz. Inhaltlich ging es um die Rolle der Vernunft, insbesondere in Angelegenheiten der Reformation, die Bestimmung der Rechtgläubigkeit, das Verhältnis zu den anderen Konfessionen und um die Ehe. – Harms machte einen großen Abstand zur reinen „Vernunftreligion“ deutlich278. Die Vernunft „gehe rasen“ in der aktuellen lutherischen Kirche. Die reine Vernunftreligion der Reformierten könne mit den Bekenntnisschriften nichts anfangen und übersehe daher das Element der göttlichen Offenbarung279. Es sei dagegen entscheidend, ob man nur mit der Vernunft oder auch mit dem Herzen die Welt erfasse und sich so noch „einer ganz andern Welt“ zukehren würde280. Bei der Betrachtung der Religion mit der Vernunft würden die Perlen hinausgeworfen und nur mit den Schalen, den hohlen Begriffen, gespielt. Inquisition und Glaubensgerichte seien Mißbrauch der Vernunft gewesen281. Auch die Aufklärung habe die Finsternis in der Kirche nicht vertreiben können282. – Politisch klar war dabei vor allem die Forderung nach einer Verstärkung des Ehebunds. Was Gott zusammengefügt habe, dass solle der Mensch nicht scheiden; nur die Vernunftreligion habe den Halbsatz angefügt: „es sei denn aus wichtigen Gründen“. Bei Vernunftreligionen wäre kein Ehemann seines Weibes mehr sicher, kein Eid mehr gültig283. In einer „Ehe“ könne man allenfalls noch mit den Katholiken zusammenkommen, eher jedenfalls als mit den Reformierten284. – Für die Kirche folgte nach Harms daraus, dass man zu den Verantwortlichen der Kirche kaum noch Vertrauen haben konnte, welche selbst nicht fest im Glauben seien. Die Kirche brauche eine oberste Leitung im geistlichen Stand, unabhängig vom Staat; alles andere sei ein durch Eile verschuldeter Fehler zu Luthers Zeiten285. Die Betonung des Episkopalismus diente hier nicht einer Verstärkung der Herrschaft, sondern der Lösung von der staatlichen Leitung. Ganz offenbar knüpfte Harms an Schleiermachers Kritik der Aufklärung und der reinen Vernunft an. Schleiermachers „Reden“ über die Religion waren hier – wie schon gehört – maßgeblich286. Harms schloss sich also der allgemeinen Kritik der herkömmlichen Erkenntnislehre an und stand insoweit einerseits im Lager von Schleiermacher und Savigny. Die Geschichtswissenschaft wurde auch für Harms zum Schlüssel, um die Irrtümer der Vergangenheit zu überwinden, die Nähe zum Christentum wie in den vorangegangenen Jahrhunderten – jede Zeit in ihrer Weise – zu suchen287. Noch immer galt in der Diskussion, dass der eigentliche Streit darum ginge, wie die Religion erkannt werden könne288. Andererseits richtete sich Harms gegen Schleiermacher und die Kirchenunion. Die innere Anschauung sprach nach Harms für die Freiheit der Reli-
gion. Er nutzte die Anschauung, um das religiöse Erleben von der Vernunft zu trennen und das Bekenntnis somit vor einer reinen wissenschaftlichen Betrachtungsweise zu schützen. Gerade im Luthertum gebe es ähnlich der römischen Kirchen einen Raum für das Gemüt, anders als bei den reinen vernunftorientierten Calvinisten289. Den Zwang zur Vereinigung mit den Reformierten konnte er nun als Vernunftreligion ablehnen. Immer wieder betonte Harms den Gegensatz zu den Reformierten290, so dass ihm sogar eher eine Übereinstimmung mit Rom möglich erschien. Der Zwang der Union forderte deswegen den lutherischen Widerspruch hervor, der sich letztlich wieder auf Schleiermachers Epistemologie berief. In der Kirchenverwaltung waren Schleiermacher wie Savigny gleichermaßen davon überzeugt, die Unabhängigkeit der Kirche von dem Staat durch einen eigenen Bischof erreichen zu müssen. In Kirche und Staat sahen beide in liberaler Tradition die Mitwirkung der Bürger als nötig an. Im Bereich der Ehe aber wandte sich die Tendenz gegen die Peuplierungspolitik von Friedrich II. und der großzügigen Anwendung der Scheidung, um neue funktionierende Ehen begründen zu können. Die Abkehr von einer einfachen Scheidung vereinte letztlich Schleiermacher, Savigny und Harms291. Besonders 1840 betonte Savigny die Herrschaftsgewalt des Vaters292 bei der Ehe, der väterlichen Gewalt und im Rahmen der Verwandtschaft allgemein293. In Abkehr von den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts stellte Savigny auf die sich aus der sozialen Nähe ergebenden Pflichten ab294. Wegen der gesellschaftlichen Verantwortung handelte es sich für ihn bereits fast um eine Materie des ius publicum und des öffentlichen status295. Dabei stützte er sich dann auf Hegel296 und Adam Müller297 und damit auf einen der wichtigsten Theoretiker der Restauration. Durch die elterliche Gewalt über die ehelichen Kinder bzw. die Herrschaft des Hausvaters sei die Familie doch zunächst die notwendige Ergänzung des Individuums, durch die das sittliche Elemente der Familie verwirklicht werde298. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Savigny das vierte Buch seines Systems als „Familienrecht“ bezeichnete. Savignys begriffliche und systematische Entscheidung zum „Familienrecht“ fiel evt. schon früher, da sich der Begriff nach der freundlichen Auskunft von Joachim Rückert bereits in seiner Vorlesung zur Rechtsgeschichte von 1801 befand, ebenfalls in der Vorlesung zu den „Institutionen“ von 1808/09 und der Pandektenvorlesung von 1809299. Mit der Abgrenzung des Herrschaftsbereichs „Familienrecht“ von einem stärker liberalen, von Gleichheit und Freiheit geprägten allgemeinen Zivilrecht vollzog Savigny die Abkehr von den politischen Vorstellungen der französischen Revolution im Sinne der konservativen Restauration. Das „Familienrecht“, das sein Schüler Mittermaier erstmals 1821
216 entwickelte, war damit weniger ein zivilrechtlicher Bereich gleicher Rechte, sondern eine Herrschaftsmaterie. Im Hinblick auf Harms‘ dezidiert auf das Vorbild von Luther ausgerichteten Forderungen kann man hier von einer politischen Wirksamkeit der Reformation, letztlich – trotz aller Probleme etwa im Hinblick auf den reformierten Schleiermacher – von einem Neuluthertum sprechen. Stand die Reformation am Anfang des Jahrhunderts nicht im Focus der Aufmerksamkeit, fehlte jedoch nicht viel, um 1817 wieder das Vorbild Luther in Anspruch zu nehmen und in seinem Namen neue politische Vorstellungen zu fordern. Zu einem Teil wurde der Rückgriff auf Luther genutzt, um die Restauration zu legitimieren, die Rückkehr zu konservativen Positionen und die Kritik an der Aufklärung zu legitimieren. Die „romantische“ Suche nach besseren Vergangenheiten300 soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden. Literatur
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Z.B. Knut Wolfgang Nörr, Eher Kant als Hegel. Zum Privatrechtsverständnis im 19. Jahrhundert, (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, n.F. 58), Paderborn etc. 1991; Dieter Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre. Ein Versuch, Frankfurt a.M. 1994; Joachim Rückert, Savigny-Studien, (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 255/ Savignyana. Texte und Studien, 9), Frankfurt a.M. 2011, passim. Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik, München 1925, 42–62; ders., Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys, Historisches Jahrbuch 50 (1930), 189–204, 198, 200. Zur Rolle der „Tübinger“, also neben Schelling noch Hölderlin, die Brüder Schlegel, Hegel, Schiller vgl. Xavier Tilliette, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel, (Schellingiana, 26), Stuttgart/Bad Cannstadt 2015, 74f. Günter Meckenstock, Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte, in: S. Sorrentino (Hg.), Schleiermacher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, (Schleiermacher. Studies and Translation, 11), Lewiston etc. 1992, 27–46. Z.B. Gunter Scholtz, Schleiermacher und die historische Rechtsschule, in: S. Sorrentino (Hg.), Schleiermacher’s Philosophy and the Philosophical Tradition, (Schleiermacher. Studies and Translation, 11), Lewiston etc. 1992, 91–110. Wilhelm Dilthey, Texte zur Kritik der historischen Vernunft, ed. H.-U. Lessing, Göttingen 1983. Mathias Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2015, 60ff. Manfred Baum, Art. Anschauung, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, A-N, Hamburg 1999, 66–72, 69. Zu Spinoza und seinem Einfluss auf Schleiermacher vgl. Julia A. Lamm, the Living God:
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Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, University Park (PA) 1996; Christof Ellsiepen, Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Di spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Diss. Theol. Leipzig 2004, 68ff. Vgl. bei Dieter Nörr, Savignys Anschauung und Kants Urteilskraft, in: N. Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, München 1982, Band 1, 615–636, 631.“ Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt a. M. 1985, 29f. Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie (Fn. 11), 43. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV B75, A48). Jürgen Mittelstrass, Art. Begriff, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, Darmstadt 1971, 780-787, 793. Xavier Tilliette, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis Hegel (Fn. 3), 76. Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 171), Frankfurt a.M. 2004, 322 zu einer späten Heranziehung des frühen Schelling. Vgl. näher Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 39ff. Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie (Fn. 11), 43f. Friedrich W. J. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. Für Vorlesungen [1799], in: ders., Sämtliche Werke, hg. K. F. A. Schelling, Stuttgart 1858, Bd. 3, 369. Novalis, Schriften, hg. von P. Kluckhohn, Bd. 2 (1929), 350. Johann Gottlieb Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, Jena 1794, Gesamtausgabe, Band I-4 (Werke 1797–1798), ed. Hans Gliwitzky/ Reinhard Lauth, 186. Wilhelm Dilthey, Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, ADB Band 31, Leipzig 1890, 422–457; Gunter Scholtz, Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, NDB, Band 23, Berlin 2007, 54–57. Zur Bedeutung dieser Zeit vgl. Manfred Redeker, Friedrich Schleiermacher. Leben und Werk, Berlin 1968, 29. Heinrich Meisner, Schleiermachers Lehrjahre, ed. H. Mulert, Berlin/Leipzig 1934, 75f. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 64f, 138; Funk, Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys (Fn. 2), 189–204, 197f. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 55 = ed. G. Meckenstock, (Schriften aus der Berliner Zeit, 1796–1799), Berlin/New York 1984, 185–326, 213 = (Philosophische Bibliothek), Hamburg 1958, 31.
217 26 Dazu Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 58f. 27 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 64. 28 Gunther Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, (Erträge der Forschung), Darmstadt 1984, 79. 29 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 71ff. 30 Schleiermacher, Über die Religion (Fn. 25), 261 (304) = Hamburg, 145. 31 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 92. 32 Schleiermacher, Über die Religion (Fn. 25), 52 (212) = Hamburg, 30. 33 Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 82. 34 Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 86f. 35 Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 80. 36 Hans-Friedrich Traulsen, Schleiermacher und Claus Harms, Von den Reden „Über die Religion“ zur Nachfolge an der Dreifaltigkeitskirche, (Schleiermacher-Archiv, 7), Berlin/New York 1989, 9. 37 Friedrich Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, ed. G. Wehrung, Basel 1953, = ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, ed. G. Meckenstock, (Kritische Gesamtausgabe, I–3), Berlin/New York 1988, 1–61. 38 Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe, Berlin 1868, 21ff, hier 26, 29. 39 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 81. 40 Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde (1800), in: ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, ed. G. Meckenstock, (Kritische Gesamtausgabe, I-3), Berlin/ New York 1988, 139–216; ders., Rezension von Friedrich Schlegel: Lucinde, in: ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, ed. G. Meckenstock, (Kritische Gesamtausgabe, I-3), Berlin/ New York 1988, 217–223. 41 Friedrich-Wilhelm Marquardt, Theologie in der bürgerlichen Gesellschaft. Band 1: Schleiermacher, Bonn 2012, 107ff. 42 Dazu Martin Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 93ff. 43 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 163. 44 Friedrich Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803. 45 Friedrich Schleiermacher, Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, Berlin 1803, 6f. 46 Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 103. 47 Zur Kadenz der Vorlesungen s. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 90: 1807, 1812, 1819 , 1820, und 1823. 48 Friedrich Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/6), (Philosophische Bibliothek), ed. H.J. Birkner, Hamburg 2014, 27. 49 Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (Fn. 48) 84. 50 Friedrich Schleiermacher, Philosophiegeschichtliche Vorlesungen, ed. H. Ritter, Sämmtliche Werke,
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Berlin 1839, III/1, 183, stützt sich auf die Ausgabe von 1812. Vgl. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28),90ff. Friedrich Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, 2. Aufl. Berlin 1827, 486 = Kritische Gesamtausgabe, ed. H. Patsch, I-5: Schriften aus der Hallenser Zeit 1804–1807, Berlin/New York 1995, 39–98, 92. Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, (Fn. 52) 518f = 96. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), (Philosophische Bibliothek), ed. H.J. Birkner, Hamburg 1981, III. Überschrift, XIV. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.45, 10. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.60f, 12. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.51, 11. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.67, 13. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.72, 14. Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), Einleitung III.82, 15. Vgl. bei Verf., Die katholische Wissenschaft. Die methodische Säkularisation der Jurisprudenz im 16. Jahrhundert, in: Ph. Büttgen/ R. Imbach/ U.J. Schneider/ H. Selderhuis (Hg.), Vera doctrina. Zur Begriffsgeschichte der Lehre von Augustinus bis Descartes/ L’idée de doctrine d’Augustin à Descartes, (Wolfenbütteler Forschungen, 123), Wiesbaden 2009, 151–171. Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 137. Friedrich Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, in: ders., Universitätsschriften, ed. D. Schmid, (Kritische Gesamtausgabe, I.6), Berlin/New York 1998, 15–100, 53f. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken (Fn. 63), 55. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken (Fn. 63), 56. Johann Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt (1807), Gründungstexte, ed. R. v. Bruch, Festgabe zum 200-jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2010, 9–122, § 18, 33. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken (Fn. 63), 57. Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 142. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium zum Behuf einleitender Vorlesungen, kritische Ausgabe, ed. H. Scholz, 3. Aufl. Leipzig 1910/4. Aufl. Darmstadt 1961, § 19, 8. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 89, 38. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 21, 9. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 28, 12. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 28, 12; dazu auch Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 153.
218 74 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 149, 58/ § 160, 61. 75 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 90, 38f. 76 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 88, 38. 77 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § § 152, 59/ § 155, 60. 78 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studium (Fn. 69), § 193, 72f. 79 Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, (Beiträge zur Historischen Theologie, 96), Tübingen 1996, 138. 80 Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991 (2. Aufl.: 2001), 63. Die Philosophiegeschichte seit Wundt kommt in diesem Band deutlich zu kurz. 81 Axel Bühler, Art. Hermeneutik, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie Band 1, Hamburg 1999, 547–551. 82 Sascha Salatowsky, Die Rezeption der aristotelischen Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert, (Bochumer Studien zur Philosophie, 43), Amsterdam/ Philadelphia 2006, 69ff. 83 Johann Conrad Dannhauer, Idea Boni Interpretis et Malitiosi Calumniatoris Quae Obscuritate Dispulsa, Verum Sensum à falso discernere in omnibus auctorum scriptis ac orationibus docet, & plenè respondet ad quaestionem Unde scis hunc esse sensum non alium?, Glaser, Argentorati 1630, c.2, art.1, 50. 84 Zu ihm Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik (Fn. 80) 67ff, 73. 85 Iohannes Augustus Ernesti, Institutio interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761, Prolegomena, 4 Nr. 5 zur subtilitas intelligendi, 6 Nr. 8 zur subtilitas explicandi. 86 Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757 ND Hamburg 1996, § 15, 8 und § 17, 10. 87 Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (Fn. 86) § 1, 1. 88 Friedrich Schleiermacher, Zur Hermeneutik 1805 und 1809/10 (SN 81), in: ders., Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik ed. W. Virmond/H. Patsch, (Kritische Gesamtausgabe, II-4), Berlin/Boston 2012, 5–34, 5 als subtilitas intelligendi, nicht explicandi. 89 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, ed. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, 169. 90 Harald Schnur, Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung zu Hamann, Herder und F. Schlegel, Stuttgart 1994, 2; ähnlich Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 18311933, Frankfurt a.M. 1983, 144. 91 Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 199.
92 S. bei Manfred Frank, Einleitung zu: F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, d. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, 8. 93 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, ed. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, 168. 94 Schleiermacher, Zur Hermeneutik 1805 und 1809/10 (Fn. 88), 29. 95 Schleiermacher, Zur Hermeneutik 1805 und 1809/10 (Fn. 88), 6. 96 Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik. Erster Entwurf (1905) (SN 82, 84, 85), in: ders., Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik ed. W. Virmond/ H. Patsch, (Kritische Gesamtausgabe, II-4), Berlin/ Boston 2012, 37–69, 38, 54ff. Später wurde die technische auch als die „psychologische Interpretation“ bezeichnet, vgl. Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, ed. M. Frank, Frankfurt a.M. 1977, 167ff. 97 Friedrich Schleiermacher, Die allgemeine Hermeneutik (1809/10) (Abschrift), in: ders., Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik ed. W. Virmond/ H. Patsch, (Kritische Gesamtausgabe, II-4), Berlin/ Boston 2012, 73–116, 74. 98 Das betont auch Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2. Aufl. München 2012, 214. 99 Schleiermacher, Ethik (Fn. 54), 297ff. 100 Vgl. Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 153f: Vorlesungen hielt er dazu 1808/9, 1817, 1829, 1833. Zum Inhalt vgl. Nowak, Schleiermacher (Fn. 91), 314ff. 101 Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 128. 102 Friedrich Schleiermacher, Die Lehre vom Staat, ed. Ch. A. Brandis, in: ders., Sämtliche Werke, Band 3/VIII, Berlin 1845, 2; ders., Vorlesungen über die Lehre vom Staat, ed. W. Jaeschke, Kritische Gesamtausgabe, Berlin 1998, 65–169. 103 Schleiermacher, Die Lehre vom Staat (Fn. 102), 3, 6. 104 Schleiermacher, Die Lehre vom Staat (Fn. 102), 157. 105 Das betont auch Miriam Rose, Schleiermachers Staatslehre, (Beiträge zur historischen Theologie; 164), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 175ff. Nicht unproblematisch daher die Einschätzung dieser Lehre als „bourgeois theology“ bei Richard Crouter, Friedrich Schleiermacher Between Enlightenment and Romanticism, Cambridge 2005, 172ff. 106 Zum Vorgehen gegen Schleiermacher ab 1819 und 1822 vgl. Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 85/II), Berlin/New York 2004, Teil 2, 150ff, 185ff. 107 Insoweit vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 98) 212. 108 Dieter Sturma, Logik der Subjektivität und Natur der Vernunft. Die Seelenkonzeption der klassi-
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schen deutschen Philosophie, in: G. Jüttemann u.a. (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim 1991, 236–257, 244. Für Schleiermacher im Verhältnis zu Fichte vgl. schon Günter Meckenstock, Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte, (Fn. 4). Vgl. Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 149. Für die Bedeutung von Schelling aus süddeutscher Perspektive als der Modephilosoph s. Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik (Fn.2), 44; s. ebenfalls bereits Wilhelm Dilthey, Dritter Abschnitt: Das Universum als die Selbstentwicklung des Geistes (Fragmente aus dem Nachlass), in: ders., Gesammelte Schriften, IV), 3. Aufl. Göttingen 1963, 189–282, 197. Vgl. Manfred Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie (Fn. 11), 48ff, 88ff. Frank, Eine Einführung in Schellings Philosophie (Fn. 11), 101f. Friedrich W.J. Schelling, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, [1796/7], in: ders., Sämtliche Werke: 1792–1797, Stuttgarter Gesamtausgabe, Stuttgart 1856–1861, Band 1, 343–452, 383. Zu ihm s. bereits u.a. Ernst Landsberg, Savigny, Friedrich Karl von, in: ADB, Band 30, Leipzig 1890, 425–452; Jan Schröder, Art. Savigny, in: G. Kleinheyer/ J. Schröder (Hg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. Heidelberg 2008, 366–375; Savigny, Friedrich Karl von, in: Hessische Biografie http://www.lagis-hessen.de/pnd/118605909 (Stand: 27.7.2016). Insoweit unergiebig Joachim Rückert, Religiöses und Unreligiöses bei Savigny, in: ders., Savigny-Studien (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 255/ Savignyana, 9), Frankfurt a.M. 2011, 55–75, 74, dafür vermutet er ohne weitere Untersuchung die Ablehnung konfessioneller Einflüsse. Adolf Stoll (Hg.), Der junge Savigny. Kinderjahre, Marburger und Landshuter Zeit Friedrich Karl von Savignys, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Romantik, Berlin 1927, 4. Vgl. Privilegia et leges, ab illustrissimo principe ac Domino, Domino Ludovico Hassiae Landgravio, Comite in Catzenelnbogen, Dietz, Ziegenheim et Nidda etc. Domino nostro clementissimo, Academiae Giessenae clementer concessa d. 12. Octobr. anno 1607: nach den „leges et statuta Academiae Giessenae“, § II.2, wurden alle Professoren auf die Augsburgische Konfession verpflichtet. S. Leges academiae Marpurgensis generales, Una cum statutis facultatum specialibus [1653], in: Julius Caesar (Hg.), Academiae Marpurgensis privilegia, leges generalies et statuta facultatum specialia, anno MDCLIII promultata, Marburg 1863, 28: tit 17: „De officio studiosorum“, n.3 und 4, wonach die Studenten zur rechten pietas an-
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halten waren „velut verum omnium scientiarum fundamentum“… Vgl. Inge Mager, Der Abendmahlsstreit um Christoph August Heumann, in: B. Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 41–57, 44. Vgl. Georg Jacob Friedrich Meister, Principia Iuris Criminalis germanici communis, Göttingen 1811, §§ 298ff, 306 zu den Religionsdelikten, die klar protestantisch aufgefasst werden, z.B. § 292, 306 zum „usus fori, maxime inter Protestantes“, dagegen fehlt ein Bezug zum Corpus iuris canonici. So Willy Real, Aus dem Leben eines preußischen Diplomaten, Historisches Jahrbuch 85 (1965), 84–118, 89. So Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, 526. Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland, Neuendettelsau 1957, 28f. Rückert, Religiöses und Unreligiöses (Fn. 116), 61ff; Funk, Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys (Fn. 2), 195f; Matthias Frhr. von Rosenberg, Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) im Urteil seiner Zeit, (Rechtshistorische Reihe, 215), Frankfurt a.M. 2000, 34. Auch Clemens Brentano hatte einen intensiven Kontakt zu diesem Kreis, vgl. Johann Nepomuk Ringseis, Erlebnisse aus der bayrischen Erweckungsbewegung, ed. H. Kadel, Marburg 1981, XIVf. Funk, Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys (Fn. 2), 196f. Vgl. Kantzenbach, Die Erweckungsbewegung (Fn. 124), 45. Johann Michael Sailer, Vermischtes, in: ders., Sämmtliche Werke, ed. J. Widmer, Band 40: Vermischte Schriften, Sulzbach 1841, 557. Von Pietismus spricht sogar Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Band 1, Halle a.d.S. 1910, 388. Dieter Strauch, Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny, (Schriften zur Rechtslehre und Politik, 23), Bonn 1960, 16f, 34, 64f. Funk, Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys (Fn. 2), 201. Vgl. Brief von Savigny an Bang vom 7.3.1840, in: Ludwig Enneccerus, Friedrich Carl v. Savigny und die Richtung der neueren Rechtswissenschaft, Marburg 1879, Nr.12, 69–73, 73, mit Berufung u.a. auf Thomas à Kempis. Deutlich wird, dass Savigny in dieser Zeit intensiv theologische Literatur las. Fritz Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg und der Protestantismus, (Historische Studien, 338), Berlin 1937, 68, hier wären noch Carl von Lancizolle und Adolf von Thadden-Trieglaff
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zu nennen, 74; ähnlich Erich Beyreuther, Die Erweckungsbewegung, (Die Kirche in ihrer Geschichte, Band 4, Lieferung R), Göttingen 1963, Rn. 33; Hans-Peter Haferkamp, Christentum und Privatrecht bei Moritz August von BethmannHollweg, in: J. Eisfeld u.a. (Hg.), Naturrecht und Staat in der Neuzeit, Diethelm Klippel zum Geburtstag, Tübingen 2013, 519–541, 521, 531. Moritz August von Bethmann-Hollweg, Erinnerung an Karl Friedrich von Savigny als Rechtslehrer, Staatsmann und Christ, ZRG 6 (1867), 42–81. von Bethmann-Hollweg, Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny (Fn. 134),77f. Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 78; auch Bethmann-Hollweg schwärmte für Hollweg, vgl. Haferkamp, Christentum und Privatrecht bei Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 529. Real, Aus dem Leben eines preußischen Diplomaten (Fn. 122), 88, 89. Vgl. auch die Zitate bei Rückert, Religiöses und Unreligiöses (Fn. 116), 65. Zum Einfluss von Schelling und Fichte auf Savigny s. bereits Joachim Rückert, Savignys Konzeption von Jurisprudenz und Recht, ihre Folgen und ihre Bedeutung bis heute, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 65 (1993), 65–95, 77f. Ralph Backhaus, Savigny in Marburg, (Uni im Café, 5), Marburg 2013, 22. Dazu Horst Heinrich Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft in der Abwendung Savignys von der idealistischen Philosophie, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 57 (1989), 241–273, 252; Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 15, 73, 93. Joachim Rückert, Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch Thibaut, Savigny, Heise, Martin, Zachariä u.a., in: Fr. Strack (Hg.), Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, (Deutscher Idealismus, 12), Stuttgart 1987, 83–116, 113. Aldo Mazzacane, Jurisprudenz als Wissenschaft, in: Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie (1802-1842), ed. A. Mazzacane, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004, 1–56, 14; zum Kontakt zwischen Schleiermacher und Savigny auch Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der modernen Hermeneutik. Tübingen 2004, 38-34. Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 262. Hartwig Schultz, Schwarzer Schmetterling, Berlin 2002, 51, 209. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 12, 25. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 18, 96, 194. Für Bettine und Achim von Arnim und deren Kontakt zu Schleiermacher s. Sabine Schormann,
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Bettine von Arnim. Die Bedeutung Schleiermachers für ihr Leben und Werk (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 66), Mainz 1992, 38ff. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 25. Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 251. Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 254 f. Stoll (Hg.), Der junge Savigny (Fn. 117), 324ff, Nr. 162 an Fr. Creuzer vom 14.5.1808. Bereits Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 10 sah die Zusammenhänge zu Schelling und Schleiermacher, blendete sie jedoch bewußt aus; ähnlich Stefan Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, (Ius Commune 4), Frankfurt a.M. 1999 Darauf wiesen schon hin Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (Fn. 1), 161 Fn.62; Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 265; Gunter Scholtz, Schleiermacher und die historische Rechtsschule (Fn. 5), 100; vgl. bei Stoll (Hg.), Der junge Savigny (Fn. 117) 333. Stoll (Hg.), Der junge Savigny (Fn. 117), 332, 333 Nr. 169 vom 14.7.1808, wo Savigny von einer „wahrhaft deutsche(n) Würdigung“ der Universitäten durch Schleiermacher schrieb; Mehr Lob in Stoll (Hg.), Der junge Savigny (Fn. 117), 413 Nr. 210. Friedrich Carl von Savigny, Methodologie (1809), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 244. Zu einem möglichen Einfluss von Schleiermacher auf diese Berufung vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen (Fn. 143), 31. Meder, Mißverstehen und Verstehen (Fn. 143), 33f. Ehrenfried von Willich, Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin 1909, 10, 27. So Schleiermacher als Mensch. Sein Werden. Familien- und Freundesbriefe 1783 bis 1804, ed. H. Meisner, 89 Gotha 1922, 4. Andreas Reich, Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 18091834, Berlin/New York 1992, (SchleiermacherArchiv, 12), 294f. Schultz, Schwarzer Schmetterling (Fn. 145), 255. Schultz, Schwarzer Schmetterling (Fn. 145), 314; Reich, Friedrich Schleiermacher (Fn. 160), 419. Reich, Friedrich Schleiermacher (Fn. 160), 419. Eine Durchsicht des Savigny-Archivs konnte leider noch nicht durchgeführt werden. Dazu Fritz Fischer, Moritz August von BethmannHollweg (Fn. 133).
221 166 Nörr, Eher Kant als Hegel (Fn. 1), Paderborn etc. 1991. 167 Meder, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre (Fn. 152) 56, 52ff. 168 Dieser Begriff taucht auf in Friedrich Carl von Savigny, Einleitung zu den Pandecten (1811), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 174–181. 169 Friedrich Carl von Savigny, Methodologie (1802/3), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 95. 170 Zur Universalität der Aussage s. Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 96. 171 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 92. 172 Vgl. bereits Hans-Ulrich Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780–1815, (Schriften zur Rechtsgeschichte, 15), Berlin 1978, 54. 173 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 136. 174 Friedrich Carl von Savigny, Einleitung zu den Institutionen (1803/4, Nachschrift J. Grimm), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 204. 175 Friedrich Carl von Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004, 137–197, 174. 176 Joachim Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstücke einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in ders., Savigny Studien (Fn. 116), 335–380, 348. 177 Dazu Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen: ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts auf Grundlage dogmenhistorischer Untersuchungen, Leipzig/ Wien 1929 ND 1989, 35. 178 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 107. 179 Für Gadamer wurde er damit jedoch zum Vorbild aller textgestützten Hermeneutiken, für Historiker ebenso wie für Richter, vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode (Fn. 16), 310. 180 Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik (Fn. 80), 63. 181 Schröder, Recht als Wissenschaft (Fn. 98), 50–93. 182 So Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 91–136, 125. 183 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 141. 184 Vgl. Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 142. 185 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 161. 186 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 137–198, 169; zu einem Irrtum der CCC vgl. Verf., Zum allmählichen Verschwinden der Notorietät, ZRG KA 133 (2016), 200–241.
187 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 91– 136, 93. 188 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 156. 189 avigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 144. 190 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 156. 191 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 137–198, 140. 192 Dies betont auch Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung (Fn. 172), 32. 193 Vgl. Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: ders., Savigny-Studien (Fn. 116), 335f, während der Begriff der Anschauung leider von untergeordneter Bedeutung für Savigny war und blieb; ähnlich Rückert auch Dieter Nörr, Savignys Anschauung und Kants Urteilskraft (Fn. 10), 619f. 194 So schon Bethmann-Hollweg, Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny (Fn. 134), 57. 195 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 93f. 196 So aber Gadamer, Wahrheit und Methode (Fn. 16), 175. 197 Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung (Fn. 172), 48. 198 Insoweit auch Dieter Nörr, Savignys Anschauung und Kants Urteilskraft (Fn. 10), 624. 199 Savigny, Methodologie (1809) (Fn. 155), 215– 246, 217. 200 So auch Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung (Fn. 172), 46. 201 Friedrich Carl von Savigny, Plan zu einem Cursus des Civilrechts (1802), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 88. 202 Zum besonderen Nachruf zuletzt auch Joachim Rückert, Recht als Wissenschaft: Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Der Greifwalder Ruf von 1804 und Savignys neue Wissenschaft im „Recht des Besitzes“, in: ders., Savigny-Studien (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 255/ Savignyana, 9), Frankfurt a.M. 2011, 195– 232, 245, wonach dieses Werk ein „Jahrhundert der Rechtswissenschaft“ eröffnet haben soll – als ob die Wissenschaft dieser Zeit nicht in allen Materien geglänzt hätte, nicht zuletzt auch in den Naturwissenschaften. 203 Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 248. 204 Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Fn. 141), 272; ähnlich mit Blick auf die Methodenlehre Dieter Nörr, Savignys Anschauung und Kants Urteilskraft (Fn. 10) 627, wonach die Rechtswissenschaft zur echten Wissenschaft geworden sei.
222 205 Zitiert nach Friedrich Carl von Savigny, Das Recht des Besitzes. Eine civilistische Abhandlung, 6. Aufl. Giessen 1837, XV-LXXII; die Argumentationsfolge diskutiert auch Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 210ff. 206 Savigny, Das Recht des Besitzes (Fn. 205), XV. 207 Savigny, Das Recht des Besitzes (Fn. 205), 5. 208 Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 208. 209 Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 216 mit Hinweis auf Kant. 210 Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 209, zitiert insoweit aus dem „System des römischen Rechts“ von 1840. 211 So Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 222. 212 Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 223 Fn. 57. 213 So bereits Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 226. 214 Vgl. Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 213. 215 Savigny, Das Recht des Besitzes (Fn. 205), § 52, 654. 216 So aber Rückert, Recht als Wissenschaft (Fn. 202), 227. 217 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 93. 218 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 159. 219 Savigny, Anleitung zu einem eignen Studium der Jurisprudenz (1802/3, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 175), 159. 220 Savigny, Einleitung zu den Institutionen (1803/4, Nachschrift J. Grimm) (Fn. 174), 204. 221 Savigny, Methodologie (1809) (Fn. 155), 215– 246, 226f. und 236. 222 Savigny, Methodologie (1809), (Fn. 155), 215– 246, 226. 223 Savigny, Einleitung zu den Pandecten (1811) (Fn. 168), 250. 224 Savigny, Einleitung zu den Pandecten (1811) (Fn. 168), 250. 225 Savigny, Einleitung zu den Pandecten (1813/4), in: ders., Vorlesungen über juristische Methodologie (1802–1842), ed. Mazzacane, 263. 226 Savigny, Einleitung zu den Pandekten (1811) (Fn. 168), 249–257, 257. 227 Savigny, Einleitung zu den Pandekten (1813/4) (Fn. 225), 263. 228 Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, Neudruck: H. Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny, München 1973, 95-192, 102. 229 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 103f. 230 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 124. 231 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 117. 232 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 119ff. 233 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 189. 234 Dies betont Sten Gagnèr, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, 22.
235 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit (Fn. 228), 191. 236 Friedrich Carl von Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815); 1–12 = ed. H. Hattenhauer (Hg.), Thibaut und Savigny, München 1973, 260–268, 262. 237 Savigny, Methodologie (1802/3) (Fn. 169), 93. 238 So bereits Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte (Fn. 123) 499; Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933 (Fn. 90), 53. 239 Vgl. Verf., Recht der Reformation (Fn. 7), 47ff. 240 Vgl. dazu VERF., Wat byllich unn recht ys, in: S. Dauchy u.a. (Hg.), The Formation and Transmission of Western Legal Culture. 150 Books that Made the Law in the Age of Printing, New York 2016 (noch nicht erschienen), 73–76, 75f. 241 Sir Matthew Hale, The History of Common Law of England, ed. Ch. M. Gray, (Classics of British Historical Literature), London 1971, 40, dazu auch die Einleitung von Charles M. Grey, XXI 242 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Berlin 2013, I.5.4, 135. 243 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte (Fn. 242), II.10.3, 294.Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, ed. C. Hinrichs, (Friedrich Meinecke Werke), München 1959, 527 zu Herders Ideenphilosophie und seiner weiteren Entwicklung. 244 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band 1, Berlin 1840, XLIX. 245 Stoll (Hg.), Der junge Savigny (Fn. 117), 414, Nr. 214 vom 13.4.1810 zum Plan des „System des römischen Rechts“. 246 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244),Band 1,XVI. 247 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), IV, XVII. 248 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), XV. 249 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), XXVIff. 250 Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung (Fn. 172), 32. 251 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), XL. 252 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), § 8, 18. 253 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244),§ 8, 19. 254 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244),§ 9, 22. 255 Vgl. Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 102. 256 Friedrich Carl von Savigny, Entwurf (1801), in: (Fn. 143), 87. 257 von Bethmann-Hollweg, Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny (Fn. 134), 78.
223 258 So bereits Gunter Scholtz, Schleiermacher und die historische Rechtsschule (Fn. 5), 94f. 259 So Gadamer, Wahrheit und Methode (Fn. 16), 309. Wohl aber wollten beide politisch werden. 260 Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (Fn. 244), XIII, wonach alles Gelingen in unserer Wissenschaft auf dem Zusammenwirken verschiedener Geistestätigkeiten beruht. 261 Scholtz, Schleiermacher und die historische Rechtsschule (Fn. 5), 95ff, 100f. 262 Dazu Moritz-August von Bethmann-Hollweg, Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny (Fn. 134), 42–81, 70. 263 So Gadamer, Wahrheit und Methode (Fn. 16), 309, allerdings in Bezug auf die Auslegungslehre. 264 Meinecke, Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens, in: Werke, Stuttgart 1959, 341–357 265 Zu den unterschiedlichen Deutungen dieses Begriffs vgl. bereits Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933 (Fn. 90), 51. 266 Schon 1923 wies der Philosoph Erich Rothacker (1888–1965) bereits allgemein auf die Zugehörigkeit Savignys zu einer romantischen Geistesrichtung, zu der nicht nur sein bedeutendster Schüler Jakob Grimm, sondern auch Franz Leopold von Ranke (1795–1886) gehöre, vgl. Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke, Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, HZ 128 (1923), 415–445. Doch handelt es sich hier um die nächste Generation von Wissenschaftlern, die nicht den Einfluss auf Savigny klären können. 267 Vgl. Erich Beyreuther, Die Erweckungsbewegung (Fn. 133) R 2. 268 Schröder, Die kritische Identität (Fn. 79) 138. 269 Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 64. 270 So Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 57. 271 Vgl. Kurt Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 43 zu Novalis‘ Vision eines ökumenischen Christentums mit dem Vorbild des Mittelalters mit dem Ziel einer harmonischen Zukunftsreligion. 272 Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, (Unio und confessio, 20), Bielefeld 1997, 66ff. 273 Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg (Fn. 133), 82. 274 Claus Harms, Das sind die 95 theses oder Streitsätz Dr. Luthers, theuren Andenkens, zum besonderen Abdruck besorgt und mit anderen 95 Sätzen als mit einer Uebersetzung aus Ao.1517 in 1817 begleitet, Kiel 1817. Zu Harms s. Lorenz Hein, Harms, Claus (1778–1855), TRE 14, Berlin/ New York 1986, 447–449.
275 Dazu s. Lorenz Hein, Die Thesen von Claus Harms in der neueren theologischen Kritik, Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, II. Reihe, 26./27. Band (1970/71), 70–83. 276 Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Claus Harms und seine Bedeutung für das Neuluthertum des 19. Jahrhunderts, Zeitschrift für die bayerische Kirchengeschichte 26 (1959), 190– 205. 277 Dazu s. Friedrich Wilhelm Kantzenbach/Joachim Mehlhausen, Art. Neuluthertum, TRE 24, Berlin/ New York 1994, 327–341. 278 Claus Harms, 95 Thesen zum Reformationsjubiläum [1817], in: Dr. Claus Harms‘ gewesenen Predigers in Kiel Lebensbeschreibung verfasset von ihm selber, mit den 95 Thesen des Verfassers, Gotha 1888, These 34. 279 Harms, 95 Thesen (Fn. 278), hier These 88. 280 Harms, 95 Thesen (Fn. 278), hier Thesen 34f, 39. 281 Harms, 95 Thesen (Fn. 278),These 43, 48. 282 Harms, 95 Thesen (Fn. 278),These 74. 283 Harms, 95 Thesen (Fn. 278),Thesen 44, 89. 284 Harms, 95 Thesen (Fn. 278),Thesen 71f, 77. 285 Harms, 95 Thesen (Fn. 278),Thesen 66, 90. 286 Vgl. bereits Traulsen, Schleiermacher und Claus Harms (Fn. 36), 9ff; 143ff zur Besprechung von Harms Thesen, 117ff zu Schleiermachers Kritik. 287 Vgl. bei Harms, 95 Thesen (Fn. 278),Thesen 22, 52. 288 S. bei Lorenz Hein, Die Thesen von Claus Harms (Fn. 275), 70–83, 72. 289 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Claus Harms und seine Bedeutung für das Neuluthertum des 19. Jahrhunderts, Zeitschrift für die bayerische Kirchengeschichte 28 (1959), 190–205, 191. 290 Vgl. Lorenz Hein, Claus Harms – Leben und Werk, in: Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, Band 5: Kirche im Umbruch, Neumünster 1989, 77–124, 87, 90 zu Schleiermachers Reaktion. 291 Zum Folgenden bereits s. Verf., Christian Influence on Modern Family Law, in: M.G. di Renzo Villata (Hg.), Family Law and Society in Europe from the Middle Ages to the Contemporary Era, 2016, 1–19. 292 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), § 53, 342; zu diesem System und der Entstehung des Systems des BGB vgl. HKK/ Verf., Der Allgemeine Teil in der Ordnung des BGB, Tübingen 2003, 123–165. Zu seiner traditionellen Deutung als säkularer Autor vgl. Gerhard Dilcher, Ehescheidung und Säkularisation, in: ders./I. Staff (Hg.), Christentum und modernes Recht. Beiträge zum Problem der Säkularisierung, Frankfurt a.M. 1984 304–359, 338f. Die Darstellung von Savignys Religiösität behalte ich mir für eine folgende Publikation auf. 293 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), §54, 345.
224 294 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), §54, 350. 295 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), 349, 352. 296 In diesem Kontext Axel Honneth, Atomisierung und Sittlichkeit. Zu Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption, Frankfurt 1989, 174–185. 297 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), 350f. 298 Savigny, System des heutigen römischen Rechts (Fn. 244), 347, 349, 355. 299 Friedrich Carl von Savigny, Rechtsgeschichte von 1801, fol.84, 116, sowie ders., Institutionen, fol. 15v; ders., Pandektenvorlesung 1809; nach freundlicher Auskunft von Joachim Rückert; sichtbar demnächst im Repertorium zu SavignyVorlesungsquellen, ed. Joachim Rückert/ Frank Schäfer, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte/ Savignyana. Dazu bereits Verf., Chris-
tian Influence on Modern Family Law, in: M.G. di Renzo Villata (Hg.), Family Law and Society in Europe from the Middle Ages to the Contemporary Era, 2016, 1–19. 300 Zum Begriff vgl. etwa Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (Fn. 90), 61; zur „Romantik“ von Schleiermacher s. bereits Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers (Fn. 28), 83; Redeker, Schleiermacher (Fn. 22), 88ff; zu Savigny vgl. Funk, Der geistesgeschichtliche Ort Friedrich Karl von Savignys (Fn. 2), 202; Rückert, Heidelberg um 1804 (Fn. 142),110f. Bildnachweise Abb. 1 Friedrich Carl von Savigny https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Carl_ von_Savigny Abb. 2 Friedrich Schleiermacher https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_ Schleiermacher
225 Dieter Langewiesche
Luther und die Deutschen. Wiederholungsstrukturen im deutschen Lutherbild seit dem 19. Jahrhundert1 Luther und die Deutschen war im 19. Jahrhundert ein weltanschaulich hoch kontaminiertes Thema, und abgeschwächt ist es dies noch heute. Als „Chrismon. Das evangelische Magazin“ 2016 in einer repräsentativen Umfrage erkunden ließ, was die Deutschen heute mit Martin Luther verbinden, entschied sich über ein Drittel für Kirchenerneuerer und Bibelübersetzer, erheblich weniger kreuzten Nationalheld (11 %) und Kirchenspalter (7 %) an, nur sehr wenige Antisemit und Bauernschinder. Nur drei Prozent (neue Bundesländer) bzw. dreizehn (alte Bundesländer) der Befragten wußten nichts mit Luther oder mit den in der Umfrage vorgegebenen Einschätzungen Luthers anzufangen. Lebensalter und Schulbildung spielen ein gewisse Rolle, aber keine bedeutsame (Abb. 1).2
Wiederholungsstrukturen, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet oder verfestigt hatten. Wiederholungsstrukturen Luther und die Deutschen im 19. Jahrhundert oder: warum sah man damals in Luther die Verkörperung des Deutschen? Wer hier mit „man“ angesprochen ist, läßt sich nicht präzise benennen. Sicherlich die Lutheraner. Ob es auch für die Calvinisten in der gleichen Weise gilt, müßte erst noch erforscht werden. Deutsche Katholiken und Juden hatten ihre eigenen Nationalhelden. Das schließt jedoch nicht aus, daß auch sie Luther in die deutsche Heldengalerie aufgenommen haben, wenngleich sie ihn nicht ins Zentrum rückten oder ihn negativ bewerteten. Das wird weiter unten noch erläutert. Zunächst ist
Abb. 1: Befragungsergebnisse
Nach Religionszugehörigkeit wurde nicht gefragt.3 Ob das Bild Luthers zwischen Katholiken und Protestanten weiterhin umstritten ist, was die Muslime, immerhin knapp fünf Prozent der deutschen Bevölkerung4, von Luther wissen und wie der steigende Anteil der Konfessionslosen zu ihm steht, hat Chrismon von den Umfrage-Experten bei Emnid nicht ermitteln lassen. Ob sich hinter denen, die Luther als Kirchenerneuerer oder Kirchenspalter angekreuzt haben, die befragten Protestanten und Katholiken verbergen, oder ob die elf Prozent, die mit den Fragen nichts anzufangen wußten, vornehmlich Anders- und Nicht-Gläubige sind, läßt die Umfrage im Dunkeln. Luther sollte am Vorabend des Reformationsjubiläums wohl nicht als die historische Gestalt der Konfessionsspaltung erinnert werden und auch nicht als jemand, der im Geschichtswissen von Menschen, die aus anderen Religionsräumen stammen, keinen Platz hat. Gleichwohl bekunden die Luther-Bilder, zwischen denen die Befragten sich entscheiden konnten, die Kontinuität jener
festzuhalten: Die Frage nach „Luther und die Deutschen“ birgt eine erhebliche Unschärfe, denn „die Deutschen“ gab es im 19. Jahrhundert so wenig wie es sie heute gibt. Gefragt wird nach Einschätzungen, die bestimmten Konfessionsgruppen zuzurechnen sind, obwohl diejenigen, die sich äußern, beanspruchen, für „die Deutschen“ zu sprechen. Es soll nun aber kein Katalog der auch damals sehr unterschiedlichen Vorstellungen, was deutsch sei, erstellt werden. Gefragt wird vielmehr nach den Wiederholungsstrukturen in der Einschätzung Luthers. Nur so lässt sich bestimmen, wo die Lutherbilder von der Wiederholung zehren oder etwas Neues hinzukommt und ob auch diejenigen, die sich von Luther und dem Deutschland, für das er in Anspruch genommen wird, distanzieren, auf Luther zurückgreifen. Den Begriff Wiederholungsstruktur hat Reinhart Koselleck in die Analyse des Geschichtsdenkens eingeführt. Erläutert hat er ihn für die deutsche Geschichte an der Föderation als einem Handlungs-
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Abb. 2: Artikel „Zur 400jährigen Jubelfeier der Geburt Martin Luther’s“ von Julius Köstlin aus „Illustrirte Zeitung“ von 1883
das Thema Luther und die Deutschen oder was hat man im 19. Jahrhundert als deutsch an Luther empfunden: Einheit ― Vielfalt, Innen ― Außen; Oben ― Unten, Früher ― Später. Um quellennah betrachten zu können, wie diese vier Wiederholungsstrukturen inhaltlich gefüllt und miteinander verzahnt wurden, werden zwei protestantische Texte aus dem Jubiläumsjahr 1883 in den Mittelpunkt gerückt. Es geht zum einen um die Illustrierte Zeitung, die als Familienblatt wöchentlich in Leipzig erschienen ist. Ihre Lutherausgabe enthält eine Vielzahl von Bildern zur Reformation und den ausführlich Artikel „Zur 400jährigen Jubelfeier der Geburt Martin Luther’s“ von Julius Köstlin (Abb. 2), evangelischer Theologieprofessor und damals angesehener Reformationsexperte (Abb. 3).6
Abb. 3: Julius Küstlin
modell, das seit Jahrhunderten bis heute Bestand hat, und für Frankreich am geschichtswissenschaftlichen Konstrukt der Langen Dauer, das er als ein Instrument der französischen Selbstidentifikation, ausgerichtet auf den Zielpunkt der Großen Revolution, charakterisiert hat. Diese Form von Geschichtsbetrachtung, die Identität stiften will, nannte er autistisch.5 Die lange Dauer der Reformation, der in Luther und die Deutschen nachgespürt wird, könnte man analog dazu polemisch den protestantischen Geschichtsautismus nennen. Das macht die Aufgabe, über Luther und die Deutschen nachzudenken, noch reizvoller und heikler. Welche Wiederholungsstrukturen werden mit diesem Thema bis heute aufgerufen? Darum geht es in diesem Text. Koselleck hat drei Wiederholungsstrukturen unterschieden. Ich füge eine vierte (Innen – Außen) hinzu. Diese vier Wiederholungsstrukturen sollen genauer betrachtet werden, immer mit Blick auf
Der zweite Artikel, erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, ist schlechthin kanonisch geworden für das national-deutsche Lutherbild nach der Reichsgründung: Heinrich von Treitschkes Darmstädter Rede „Luther und die deutsche Nation“7 (Abb. 4). Um Variationen der Lutherbilder, die Köstlin und Treitschke vor Augen stellen, ihren Wandel
Abb. 4: Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag, gehalten in Darmstadt am 7. November 1881
227 und ihre Festigkeit bis in die Gegenwart zu erfassen, werden von Fall zu Fall weitere Quellen bis zum „Grundlagentext“ der EKD von 20148 als zeitlicher Endpunkt einbezogen. Wiederholungsstrukturen im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 Zum Einstieg eine kurze Vergewisserung, welche konkurrierenden Deutungsmuster im Jubiläumsjahr 2017 zu erwarten sind. Der Blick wird auf Deutschland begrenzt. Das ist eine gewichtige Begrenzung, denn Deutsche bilden längst eine kleine Minderheit im Lutherischen Weltbund. Nach den Mitgliederzahlen ist Deutschland zur Peripherie geworden. Neun Prozent hat es 2015 zu den Einnahmen der lutherischen Weltkirche beigetragen.9 Wie sich Luther und die Deutschen aus der Sicht der lutherischen Weltkirche ausnimmt, wird hier nicht gefragt.10 Für die heutigen Lutheraner in der Welt dürfte Luther und die Deutschen ein sehr fernes, ihnen fremdes historisches Thema sein. Als erstes ein Blick ins Internet. Unter dem Suchbegriff Luther und die Deutschen wird man u.a. zu einem Onlineartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit genau diesem Titel geführt, Ende März 2013 erstmals erschienen.11 Der Autor, evangelischer Theologe und Redakteur der FAZ, befürchtet, zur 500-Jahr-Feier werde Luther einerseits musealisiert und zum anderen politisch hyperkorrekt aktualisiert. Letzteres erwartet er von der EKD: „Luther war gegen die Türken ― also brauchen wir mutige Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit. Luther kochte nicht selbst ― also brauchen wir mehr Geschlechtergerechtigkeit.“ Der Autor fährt fort: „Entscheidendes“ gerate so aus dem Blick, denn „in Luther haben sich die Deutschen stets auch ein Bild von sich selbst gemacht.“ Das stimmt. Doch dann präsentiert der FAZ-Autor sein eigenes Bild ― ein Aufruf, das Lutherbild im Reformationsjubiläum rigoros zu aktualisieren. Kein Zufall, so meint er, daß „Deutschland andernorts in Europa gegenwärtig genau jene Eigenschaften angekreidet werden, die den Deutschen einst unter Berufung auf Luther als Ideal eingeimpft wurden“. Bisher habe man dem keine Bedeutung beigemessen. Doch nun, mit der Euro-Krise „treten die Wertvorstellungen der Länder, die von der Reformation geprägt wurden, in offenen Gegensatz zur Alltagsmoral anderer Länder [man wird präzisieren dürfen: der katholischen und anderer Religionen] ― mit handfesten politischen und ökonomischen Folgen. […] In all seiner Doppelbödigkeit ist das Erbe Luthers weiter präsent. Das Reformationsjubiläum 2017 wäre die Gelegenheit für eine Debatte darüber, welche Teile davon abzustreifen sind und welche unentbehrlich sein werden für ein Europa, das in Frieden und Freiheit fortbestehen will.“ Luther, genauer: ein für heute aktualisierter Luther als Wegweiser aus den Problemen Europas. Höher geht’s kaum. Im Willen, Luther zu instrumentalisie-
ren, indem man ihm Wertideen für die Gegenwart abgewinnt oder sie ihm zuschreibt, hat sich gegenüber dem 19. und 20. Jahrhundert nichts geändert. Es gehe, so der Autor, um Luther als „eine Potenz deutscher Geschichte“. Heute bedeute dies, so läßt sich der FAZ-Artikel zusammenfassen, die protestantisch-deutsche Potenz in Europa freizulegen, um zu sehen, was an ihr europaförderlich ist. Nun mag man diese Art von Aktualisierung der Besonderheit des Mediums Zeitung zuschreiben, doch auch unter Geschichtsexperten werden solche Argumente vorgebracht. Dies zeigt ein Blick auf den Einspruch von Thomas Kaufmann und Heinz Schilling, zwei exzellenten theologischen und historischen Kennern der Reformation und Luthers, gegen den „Grundlagentext“ der EKD zum Reformationsjubiläum 2017.12 Die EKD argumentiere in dieser Schrift, betitelt „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“, „monokausal religiös“, reduziert auf die religiöse Reformation. Darauf hat der Kirchenhistoriker Christoph Markschies13, als Theologe mitverantwortlich für den Text, geantwortet, es sei die Aufgabe der Kirche und der Theologie, nach dem Zentrum reformatorischer Theologie zu fragen. Dem wird man nicht widersprechen können. Doch hier interessiert, wie die beiden Experten ihren Widerspruch begründen. Kaufmann und Schilling wollen die Reformation als Gesamtprozeß auf der Grundlage des heutigen Forschungsstandes gewürdigt wissen. Und dies nicht nur, um das damalige Geschehen in seiner Vielschichtigkeit zu erkennen, sondern auch, um der „heutigen Zivilgesellschaft“ bewußt zu machen, wovon sie zehre. Es gelte der „säkularen Gesellschaft zu zeigen, dass ihre Existenz direkt mit den reformatorischen Ereignissen zusammenhängt“. Gemeint ist nicht nur die deutsche Geschichte, sondern, so die beiden Experten, die Geschichte „generell des Westens“. Ist das so? Oder läuft man hier Gefahr, in ähnlich Weise wie früher die Gegenwart mit Luther in der je eigenen Perspektive kurzgeschlossen worden ist, nun eine lange Linie vom Zeitalter der Reformation zur „säkularen“ Gegenwart „des Westens“ zu ziehen? Also zu uns selbst; oder auf die lutherische Weltkirche bezogen: auf denjenigen Teil von ihr, der sich „dem Westen“ zurechnen läßt. Oder gehört jeder Lutheraner auf der Welt per se zum „Westen“? Ob die Reformation die Triebkraft der westlichen Moderne war (oder zumindest eine wesentliche), ist immer wieder kontrovers diskutiert worden. Je nach Standpunkt wurde Luthers Position in diesem weltgeschichtlichen Prozeß eingeschätzt. Der Historiker Thomas Nipperdey hingegen hat aktualisierende Lutherbilder, die im Rückblick Luther langfristige Modernisierungswirkungen zuschreiben, allesamt Ideologie genannt, und dennoch hat er in seinem großartigen Vortrag „Luther und die moderne Welt“, gehalten im Lutherjahr 1983, über die „religiöse Wurzel der modernen Welt“ nachgedacht.14
228 Voraussetzung dies nicht ideologisch zu tun, sei, so Nipperdey in der ihm eigenen intellektuellen Schärfe, den „unmodernen Luther“ zu akzeptieren. Sein Vortrag beginnt provokativ: „Luther ist ganz anders als wir.“ Die heutige Welt sei eine „säkulare, post-religiöse Welt. Darum ist Luther unmodern. Er gehört ins historische Museum.“ Doch dort in der Abteilung für Unmodernes sicher aufgehoben, könne man seine Aktualität entdecken: „Er stellt die Selbstsicherheit unserer modernen Existenz in Frage.“ Nipperdey blickte nicht auf einen deutschen Luther, auch nicht auf einen Luther „des Westens“, er blickte auf den religiösen Luther, dessen Religiosität allerdings uns fremd sei. Nipperdey sprach in lateinischen Ländern, wie er sie nannte, und in diesen reformationsabgewandten Ländern erklärte er, welche Herausforderung von Luthers unmoderner Religiosität weiterhin ausgehe, unabhängig von der Religion derer, die sich mit ihm beschäftigen. Auch die EKD denkt in ihrem „Grundlagentext“ über die Bedeutung des Reformationsfestes für Nicht-Christen nach. Sie begrenzt es für diese jedoch auf den Nachvollzug reformatorischer Freiheitserfahrung und, sofern es als Christusfest gefeiert werde, auf die Möglichkeit zur Mission.15 Also eine gänzlich andere Aktualisierung als bei den beiden Historikern, die dem EKD-Text widersprechen. Halten wir als Ausgangspunkt fest: Wie auch immer man die Auseinandersetzung über die Handreichung der EKD einschätzt, sie belegt erneut, an das Reformationsjubiläum 2017 richtet sich der Wunsch, über die eigene Zeit aufgeklärt zu werden, indem gefragt wird, was ist aus heutiger Sicht bedeutsam an der Reformation, an Luther? Immer geht es um eine Selbstverortung. Die Reformation und Luther als ihr archimedischer Punkt dienen dazu, die eigene Zeit und den eigenen Standort darin zu vermessen. In diesem Willen, uns in eine als wertvoll beurteilte Tradition zu stellen, unterscheiden wir uns überhaupt nicht von dem, was wir an unseren Altvorderen beobachten und möglicherweise als ideologisch begrenzt kritisieren. Wir bewegen uns in einer festen Wiederholungsstruktur. Einheit — Vielfalt/Zersplitterung Die vermutlich wirkungsmächtigste unter den Wiederholungsstrukturen in unserem Themenfeld ist bis in unsere Gegenwart das Gegensatzpaar Einheit und Vielfalt oder negativ formuliert: Zersplitterung. Das Gegensatzpaar Einheit — Vielfalt/Zersplitterung bezieht sich zunächst und vor allem auf den Glauben und die Kirche: katholisch versus protestantisch und die innerprotestantischen Teilungen. Luther, so Julius Köstlin, wollte weder die Trennung von der alten Kirche ― sie sei ihm aufgezwungen worden, um zu den Ursprüngen des Christentums zurückkehren zu können ― noch die Spaltungen unter den Reformatoren. Doch in den reformatorischen Kirchen habe Luther über Deutschland hinaus bis heute seine
hohe Stellung als „erster Begründer und Held der gesamten evangelischen Kirche“ (358)16 bewahrt. Einheit im Glauben, Einheit der Kirche ist wünschenswert, doch Vielfalt ist geboten, wenn sie legitim ist, das heißt in der Heiligen Schrift begründet. Das ist eine Wiederholungsstruktur, die zeitenübergreifend mit dem protestantischen Lutherbild untrennbar verwoben ist. Für die beiden Texte über Luther von 1883 gilt dies ebenso wie für den „Grundlagentext“ der EKD zu 2017. Die Wertung allerdings ist konträr. Damals: „verderbtes Kirchentum“ (Köstlin, 355) mit Blick auf den Katholizismus und „dogmatischer Streit“ hinsichtlich der innerprotestantischen „Zersplitterung“ (Treitschke 471). Heute liest sich das elegant-leichtfüßig formuliert im EKD-Text so: „Die Reformation hat nichts Neues unter Gottes Sonne erfunden“. Vor der Reformation und danach habe es „eine legitime Vielfalt von Kirchen und Konfessionen“ gegeben. „Die reformatorischen Kirchen sind […] ein Teil der legitimen, weil schrift-konformen Pluralisierung der christlichen Kirchen“.17 Trotz der gegensätzlichen Wertungen damals und heute ― es handelt sich um Wiederholungsstruktur: Einheit und Vielfalt/Zersplitterung. Einheit versus Vielfalt bzw. Zersplitterung bezieht sich im protestantischen Reformationsverständnis auch auf die Staatlichkeit. Auch das ist eine Wiederholungsstruktur, erneut mit internen Differenzen, die in der föderativen Struktur der deutschen Geschichte begründet sind. Das zeigen auch die beiden Texte von 1883. Der Theologe Köstlin folgte in seinem Lutherbild dem föderativen Grundmuster der deutschen Nationalgeschichte.18 „Luther und andere gute Deutsche“ (356) waren für Köstlin diejenigen, die in der Reformationszeit „deutschnationale Gefühle“ (356) hegten. Sie stellte er dem nationalfremden Kaiser, machtverwurzelt im „spanischen Reich“ (356), entgegen, doch die „deutsche Nation“ (356) war organisiert in staatlicher Vielheit. Luthers deutsche Nation, wie sie Köstlin entwarf, war eine föderativ-landesherrliche und somit auch föderativ-landeskirchliche. Daß oberhalb dieser Grundstruktur während Luthers Lebenszeit „keine Einigung in der Nation und mittels eines Concils auch für die Christenheit im großen wiederzugewinnen“ (357) war, sei allein den Reformationsgegnern anzulasten. Köstlin zog 1883 keine direkte Linie von der Reformation zur Reichsgründung 1871; sie kommt bei ihm nicht vor. Jeder Leser und jede Leserin — die Illustrirte Zeitung war ein Familienblatt — konnte jedoch die Reichsgründung in Luthers vergeblicher Hoffnung auf Einheit vorgebildet sehen. Wer aber die nationalstaatliche Einheit so nicht gewollt hatte, konnte ebenfalls an Köstlins Luther Rückhalt finden. Sein Lutherbild zielte auf nationale Einheit, doch ihre staatliche Gestalt blieb offen. Diese Offenheit beseitigte der Historiker Heinrich von Treitschke mit seinem nationaldeutschen Lutherbild rigoros. Nach der Reformation gilt ihm die Reichseinigung als die
229 zweite „gemeinsame große That“, zu der sich „die ganze Nation“ zusammengefunden habe (469). In dem Geschichtsszenarium Luther und die Deutschen, das Köstlin und Treitschke im Jubiläumsjahr 1883 entwarfen, nationalisierten beide Luther und die Reformation, doch Treitschke deutete Nationalisierung als staatliche Einheit. Luther und die Deutschen heißt nun Luthers „That der politischen Befreiung“ (478). Er habe den „Staat für mündig“ (478) von der Kirche erklärt, diese Befreiungstat habe auf den Nationalstaat gezielt. In der Wiederholungsstruktur Einheit und Vielfalt wird in Treitschkes Lutherbild eine direkte Verbindung der Reformationsgeschichte zur Gründung des deutschen Nationalstaates hergestellt. Luther als Symbolgestalt der deutschen Einheit, dieses Deutungsmuster wiederholt sich immer wieder. Es verträgt sich mit konträren Deutungen. Deshalb ist es so wirkungsvoll und dauerhaft. Ein Beispiel bietet die gut untersuchte nächste Zentenarfeier, das Lutherjubiläum 1983. In der DDR wurde es genutzt, eine eigene nationale Identität zu entwerfen, in der BRD erklärte Karl Carstens als Bundespräsident Luther zum „Symbol der Einheit im geteilten Deutschland“, und Willy Brandt sah es ebenso, als er schrieb, daß „Luther allen Deutschen gehöre“ ― ein „Vorbild in einer Zeit der Sinnkrise“19 Das wird hier nicht weiter ausgeführt, um noch einen anderen Aspekt im Gegensatzpaar Einheit ― Vielfalt/Zersplitterung ansprechen zu können: die staatliche Einheit als Nachvollzug dessen, was Luther als Sprachschöpfer und Spracheiniger vorbereitet hatte. Luther als Schöpfer der gemeinsamen deutschen Sprache gehört zum festen Kern dieser Wiederholungsstruktur.20 Doch während bei Köstlin die „Verdeutschung der Bibel“ ein Werk „für die ganze und namentlich die deutsche Christenheit“ (358) ist, würdigt Treitschke vor allem, daß „unsere neue Sprache“ in den „Tagen deutscher Zerrissenheit“ (480) das einigende kulturelle Band gewesen sei. Deutsch ist, wer Deutsch als Muttersprache spricht. Diese Deutung, bald zum Begriff Kulturnation verdichtet, gehört bis heute zum eisernen Bestand der deutschen Nationalgeschichte. In der SPIEGEL-Serie „Die Erfindung der Deutschen“ lautet der Untertitel zu dem Abschnitt „Der Weg in die Kulturnation“: „Politisch und religiös zersplittert, findet das Land eine gemeinsame Sprache“.21 Einheitliche Sprache als temporäre Kompensation, so diejenigen, die in der staatlichen Einheit das Ziel deutscher Geschichte sehen, oder als Grundlage kultureller Einheit für diejenigen, die Einheit der deutschen Nation auch mit staatlicher Vielfalt verbinden können. Aus dieser Deutungsstruktur tritt der „Grundlagentext“ der EKD heraus, indem er Luthers Übersetzung neben die in andere Muttersprachen stellt. Vor allem betont er, das reformatorische sola scriptura habe keinen „Biblizismus“ beabsichtigt (81). Daraus habe sich vielmehr eine Kompetenz im wissenschaftlichen Umgang mit heiligen Texten ent-
wickelt, die in den „Dialog mit anderen Schriftreligionen, insbesondere mit dem Islam in Europa“ (86) eingebracht werden könne. Die Bibelübersetzung wird also mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 nicht mehr vorrangig in den Kontext Luther und die Deutschen eingefügt, doch mit Dialog, hier: Dialog mit dem Islam, wird eine andere Wiederholungsstruktur aufgerufen: Innen und Außen. Zu ihr nun einige Beobachtungen. Innen — Außen Innen und Außen bedeutet in den beiden LutherTexten von 1883 zunächst „wahre Kirche“ versus „verderbtes Kirchentum“, so Köstlin (355), der zurückhaltendere der beiden Zeitzeugen aus dem damaligen Jubiläumsjahr. Auch er verweist auf Luthers Gleichsetzung von Papst mit Antichrist (355), doch bei Treitschke wird daraus eine Verdammungsorgie, die vorreformatorische Kirche und weltliches Regiment als undeutsch verkuppelt diskreditiert. Einige Kostproben: „schamlose Weltlust“ des Priesterstandes, ein „Heuchlergezücht“ (473); Rom, „die ruchloseste Stadt der Erde“ als „die Herrscherin der Christenheit“, regiert vom „Papst mit seinen italienischen Prälaten“ in den „Lügenstübchen des Vaticans“ (473f.). Deutsch sein heiße deshalb „Haß gegen das wälsche Wesen“ (474), angelegt im „Gegensatz romanischer und germanischer Empfindung“ (474), als deren Spiegel Treitschke die „Seelenkämpfe Luthers“ (474) sieht. Der Deutsche beendet sie mit der „Gewißheit einer innerlich erlebten Wahrheit“, der Spanier Ignatius von Loyola „entledigt“ sich ihrer, indem er die „Wunden seiner Seele“ nicht mehr berührt und zum „Rittersmann der wiederhergestellten alten Kirche“ geworden sei (474). Innen und Außen wird also im deutschen Menschen und zugleich in der kirchlichen und weltlichen Organisation verortet. Indem Luther Innen und Außen neu verbinde, vollbringe er die deutsche Revolution, die tiefer eingegriffen habe, so Treitschke, als „irgend eine politische Umwälzung der neuen Geschichte“ (475). Auch dies ist eine feste Wiederholungsstruktur, auch sie umfaßt unterschiedliche Deutungen. Diese Fähigkeit, sich den jeweiligen Zeiterfahrungen anzuschmiegen, macht ihre Überzeugungskraft und ihre zeitenübergreifende Verwendungsfähigkeit aus. Die Spannweite der Deutungen reicht von Hegels Bestimmung der „Lutherischen Reformation“ als „Hauptrevolution“22 über Alfred Rosenbergs nationalsozialistische Sicht auf Luthers „Deutsche Revolution“23 bis zu den verschiedenen Varianten der Reformation als „bürgerliche Revolution“. Innen — Außen, in diese Struktur ist auch Thomas Manns Rede Deutschland und die Deutschen24 einzuordnen, gehalten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Washington. Luther galt ihm als „eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens“, die ihn befremde und ängstige: Luther als das
230 „Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische“, das als „evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation“ erscheine. Die Gegensätze, die Thomas Mann als das „spezifisch Lutherische“ zusammenstellte, das seine „instinktive Abneigung“ errege, „das Cholerisch-Grobianische“ „verbunden mit zarter Gemütstiefe“, hatte bereits Treitschke 1883 angesprochen. Er bewertete sie aber anders. Diese „Gewalt zermalmenden Zornes und diese Innigkeit frommen Glaubens, […] so ungeschlachte Grobheit und so zarte Herzensgüte“ (484) ― diese „so wunderbaren Gegensätze in einer Seele“ machen einen Ausländer „wohl rathlos“, „Wir Deutschen finden in Alledem kein Räthsel, wir sagen einfach: das ist Blut von unserem Blute.“ (484) Das seelische Innen und Außen grenzt hier zugleich das Deutsche und das Nicht-Deutsche ab. Treitschke hat diese Grenzlinie zu einem wuchtigen Satz verdichtet, der eine Wiederholungsstruktur aufruft, die sich durch das Thema Luther und die Deutschen hindurchzieht, wie stets, so auch hier, mit unterschiedlichen Wertungen: „Wo immer deutsches und fremdes Volksthum feindselig auf einander stößt, da war der Protestantismus allezeit unser sicherster Grenzenhüter.“ (484) „Grenzenhüter“ nach Außen, aber auch innerhalb der deutschen Nation. Das Lutherfest 1883, zu dem Treitschke seine berühmte Rede hielt, habe „unser protestantisches Volk“ versammelt, doch es sei „leider nicht ein Fest aller Deutschen.“ (470) Wer im Innern draußen steht, führte Treitschke in seiner Rede nicht aus. Gewiß, die Katholiken gehörten in seinem Weltbild nicht zum inneren Kreis, doch nicht alle Katholiken sah er abseits. Der Kulturkampf lief damals langsam aus, „der denkende deutsche Katholik“ kann deshalb einbezogen werden, denn er stehe „heutzutage […] dem deutschen Protestanten in seiner ganzen Weltanschauung näher als seinem spanischen Glaubensgenossen.“ (476) Die staatlich geeinte deutsche Nation konnte nur aus dem „Borne des Protestantismus“ (479) geschöpft werden — diesem Verdikt Treitschkes dürften damals und lange noch die meisten deutschen Protestanten vorbehaltlos zugestimmt haben. So auch der Philosoph Theobald Ziegler, der in seinem noch heute lesenswerten Buch „Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts“, die protestantische deutsche Heldengalerie präsentiert: „Wir haben nur vier ganz große Menschen in unserer deutschen Geschichte: Luther, Friedrich den Großen, Goethe und Bismarck.“ „Luther der religiöse, Bismarck der politische Erneuerer der Deutschen.“25 Doch das Gleichheitsversprechen, das die Idee Nation von Beginn an enthält, vor allem wo sie zur Staatsnation geworden ist, ermöglichte es, die Grenzlinien zwischen Innen und Außen, die durch Luther und die Deutschen fixiert wurden, zu öffnen. Man hat diesen Prozeß an der Nationalisierung der katholischen und der
jüdischen nationalen Heldengalerie im Kaiserreich gezeigt.26 Bonifatius wurde damals von einer traditionellen Heiligenfigur zum katholischen Vater des Vaterlandes. Katholiken nannten ihn nun häufiger Winfried27, und auch die Heilige Elisabeth wurde national aufgeladen. Daran hatten Protestanten Anteil.28 Gleichwohl blieb die Geschichte der Reformation und des mittelalterlichen Reichs ein konfessioneller Streitpunkt, der auch mit den Mitteln der modernen Geschichtswissenschaft ausgetragen wurde und ein großes Publikum fand. Luther und die Deutschen traf hier auf einen katholischen Gegenentwurf, der Innen und Außen umkehrte. Noch Gottfried Benn nannte 1935 Luther einen der „größten Vernichter des besseren Deutschtums, Zerstörer der großen, mittelalterlichen Kultur“29. Ein ähnlicher Prozeß der Nationalisierung wie in Teilen des deutschen Katholizismus vollzog sich unter den deutschen Juden. Sie nannten sich einen deutschen Stamm, wie etwa die Bayern30, und sie nationalisierten Moses Mendelssohn, einen ihrer Großen im Übergang zum modernen Judentum31. Sein 150. Geburtstag und der Gotthold Ephraim Lessings sowie der 100. Jahrestag des Erscheinens von Nathan der Weise wurden gemeinsam gefeiert.32 Das war 1879. Dasselbe Jahr, in dem der Berliner Antisemitismusstreit durch Heinrich von Treitschke ausgelöst worden ist.33 Unter der Rubrik Luther und die Deutschen sind immer wieder die deutschen Juden ausgegrenzt worden.34 Das machte Treitschke 1883 in seinem Jubiläumsartikel nicht. Er zog hier die Grenze zwischen Innen und Außen gegen die „Romanen“ und die „römische Kirche“ sowie gegen die orthodoxe Kirche, die er der „halborientalischen Gebundenheit der gräcoslavischen Welt“ zuordnete (476). Auf das Judentum ging Treitschke 1883 nicht ein. Er dürfte es auch nicht vor Augen gehabt haben, als er der Reformation „das lebendige Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse“ (476) zuschrieb, also das, so Treitschke damals, „was wir heute Toleranz nennen“ (476). Im „Grundlagentext“ der EKD wird daraus die Aufgabe, den „Dialog der Religionen als genuine Aufgabe reformatorischer Theologie zu entdecken“ (42). Treitschkes Rede im Lutherjahr 1883 zielte hingegen vorrangig darauf, die 1871 mit dem kleindeutsch-preußischen Nationalstaat erreichte protestantische Dominanz im politischen und im kulturellen Leben bereits in der Reformation zu verankern. Also gegen die katholische Kirche und den Katholizismus. Was Luther gegen die Juden und über die Türken geschrieben hatte, blieb ausgespart. Der Theologe Köstlin erwähnte die Türken lediglich als „drohende Kriegsgefahr“, die 1532 zum Religionsfrieden (Nürnberger Anstand)35 führte, der den Protestanten zumindest eine Zeitlang Ruhe gewährt habe (358). Die Judenfeindschaft hingegen konnte unter Luther und die Deutschen jederzeit aktiviert werden. Mit Blick auf die Juden kann man von einer laten-
231 voll „treuer Anhänglichkeit an seine alten Landesherren“ (358). Selbst Treitschke, der unzufrieden damit war, daß „manche wohlmeinende Protestanten“ Luther, den Mann der revolutionären Tat, „zu leugnen oder zu verhüllen suchen“ (475), selbst er schrieb über Luther: „Ohne jede Ahnung von der unermeßlichen Wirkung seiner That“ habe ihn „Gott wie einen Gaul“, „dem die Augen geblendet sind“, weiterführen müssen (474). Luther ließ sich führen. Und so ging „Hier stehe ich und kann nicht anders“ — von Köstlin gegen Überlieferungszweifel als quellenbelegt verteidigt (356), heute zu den Luther-Mythen verbannt37 — in die protestantischdeutsche Grundausstattung geflügelter Worte ein, wie sie „der Büchmann“ im 19. Jahrhundert kanonisierte. Die Katholiken und auch die Sozialisten erhielten ihren je eigenen Zitatenschatz, in denen ganz anders gewertet wurde.38
Abb. 5: Moses Mendelssohn, Büste im Dessauer Stadtpark Dessau ehrte seinen Sohn 1890 mit einem großen Brunnendenkmal. Das Denkmal wurde 1933 von den Nazis zerstört. Am 6. September 1979 wurde eine neue Büste (s.o). im Stadtpark enthüllt.
ten Wiederholungsstruktur sprechen. Was aus ihr gemacht wurde, darüber entschied vor allem die staatliche Ordnung. Als man 1886 nicht nur in Berlin, sondern auch in Dessau des 100. Todestages von Moses Mendelssohn gedachte, war der Herzog von Anhalt mit seiner Familie zugegen, an dem Bankett nahmen Rabbiner und christliche Geistliche teil, und man beschloß, eine Stele zu seinem Gedächtnis zu errichten. Nur vier Jahr später wurde sie auf dem Bahnhofsvorplatz aufgestellt (Abb. 5), und im selben Jahr richtete die Mendelssohn-Gesellschaft in seinem Geburtshaus, das sie gekauft hatte, ein Museum ein. Diese Feiern, die Moses Mendelssohn in die deutsche Nation einholten, überschritten die Grenzen Deutschlands. In New York und Baltimore feierte man auch die Erinnerung an ihn.36 Heute nennt man das transnationale Erinnerungskultur. Oben — Unten Dieses Gegenüber hat den protestantischen Festrednern meist Probleme bereitet. Denn damit wird vor allem Luthers Verhältnis zur Obrigkeit und für die Reformationszeit, insbesondere auch zu den Bauern angesprochen. Luther, der deutsche Revolutionär wider Willen, in diesem Bild erkannte sich das liberale protestantische Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Luther, der „kühne Kämpfer“ (355), so Köstlin, um sogleich hinzuzufügen, „kein Mann des Umsturzes“ (356),
Luther, so Köstlin 1883, gab „seinen Deutschen die ganze deutsche Bibel“ (356). Doch als er von unten, von „Schwärmerei und fleischlicher Schwachheit“, „Gefahr […] für sein Evangelium und für eine lautere evangelische Gemeinde“ (357) drohen sah und Aufstände unter den Bauern entstanden, da „rief Luther alle Vertreter der von Gott eingesetzten bürgerlichen Obrigkeit dazu auf, unbeugsam gegen jene mit dem Schwert dreinzuschlagen“ (357). Treitschke schilderte das Geschehen ähnlich39, doch er urteilte erneut anders. Er beschwor die „Todsünde unserer Geschichte, der Haß der Stände“ (471) gegeneinander. Zu ihr rechnete er auch die „socialen Kämpfe“ der Bauern, so daß Luther, bedrängt von allen Seiten, „seine Zuflucht bei dem deutschen Fürstenstande“ (471) suchte. Nun wurde die Reformation zu einer Fürstenreformation, eine Formulierung, die Treitschke noch nicht zu Verfügung stand, doch er meinte genau dies. Nun habe die Zeit „der politischen Thatenscheu und des theologischen Gezänks“ begonnen, als sich „ein kleines Geschlecht die Gestalt des Reformators nach seinem eigenen Bilde“ formte (472). Was Ernst Troeltsch später die „Leidsamkeit des Luthertums“ nannte, so daß es „der jeweils herrschenden Mach“ anheimgefallen sei40, ist bei Treitschke durchaus vorgebildet. Luther und das Luthertum auf die Erziehung des Deutschen zum Untertanengeist festzulegen, wurde zum Leitthema der sozialistischen Lutherkritik. Das wird nicht weiter ausgebreitet. Es sei nur daran erinnert, wie Friedrich Engels in seiner Schrift Der deutsche Bauernkrieg die deutsche Nation während der Reformation in „drei große Lager“ aufgeteilt sieht, „in das katholische oder reaktionäre, das lutherische bürgerlich-reformierende und das revolutionäre“ der Bauern und des „plebejischen Revolutionärs Münzer“. Luther, so Engels, nun „erklärter Repräsentant der bürgerlichen Reform“, werde zum „Tellerlecker der absoluten Monarchie“, er verrate die bäuerliche und auch
232 die bürgerlich Bewegung an die Fürsten.41 Dieses Deutungsmuster ist von den Sozialisten im Kaiserreich immer wieder erneuert worden, so von August Bebel und Franz Mehring42. Luther und der Deutsche, dieses Thema wird hier der Geschichte als Klassenkampf eingeordnet, verbunden mit der Kritik an der Unfähigkeit des deutschen Bürgertums, politisch durchzusetzen, was ihm als seine historische Aufgabe angesonnen wird. Auch dies ist eine Wiederholungsstruktur, die mit unterschiedlichen Nuancierungen und aus ganz unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen bis heute bereit steht. Oben ― Unten, damit kann mit Blick auf das Thema Luther und die Deutschen auch die Rolle der Frau und das Familienbild angesprochen werden. Unsere beiden Redner aus dem Lutherjahr 1883 nahmen diese Seite im Lutherbild offensiv auf. Luther als Ehemann und Hausvater, so Köstlin, sei in seiner Normalität zum Inbegriff deutschen Lebens geworden, indem er „schlicht und anspruchslos seinem allgemeinen menschlichen und christlichen Beruf als Gatte und Vater“ (358) nachgekommen sei. In dieser Familie hatte jeder seinen festen Ort. Treitschke wurde hier deutlicher. In anderen Schriften hat er das Thema Frauenemanzipation noch direkter angesprochen. Vehement ablehnend, selbstverständlich. In seiner Lutherrede argumentierte er nicht gegen sein Feindbild, die emanzipierte oder emanzipationswillige Frau, sondern er entfaltete bewundernd sein deutsches Frauen- und Familienbild an Luthers Familienleben, wie es immer wieder in Schrift und Bild damals dargestellt worden ist. Hier boten weder Köstlin noch Treitschke etwas Neues. Luther hatte, das stellte Treitschke heraus, das bürgerliche Familienideal der Deutschen nicht nur vorgelebt, er habe es erst ermöglicht. Auch hier sei der deutsche Luther zum Reformator geworden. Auch dieses überlieferte Frauen- und Familienbild, in das die männlichen Bürger des 19. Jahrhunderts ihre eigenen Vorstellungen von der angemessenen Rolle der Frau eingeschrieben haben, läßt sich umdeuten. Das Standbild Katharinas von Bora, das 1998 in Wittenberg zu ihrem 500. Geburtstag aufgestellt worden ist (Abb. 6), soll, so ist zu lesen, „der weiblichen Selbständigkeit und unternehmerischen Energie der Reformatorenfrau Ausdruck verleihen“43. Oben – Unten, das ruft zumindest noch in der Zeit des Kaiserreichs auch den Bildungsdiskurs der damaligen Zeit auf: Bildung als gesellschaftlicher und politischer Dominanzanspruch der Bürger. Vor allem der protestantischen Bürger. Treitschke bewährte hier erneut seine Fähigkeit, ein Problem auf den Punkt zu bringen: Die „gelehrte Bildung“ als „sociale Macht“ im „deutschen Leben“ habe „ihren ersten Ursprung in der Wirksamkeit des größten aller deutschen Professoren“ (482). Luther wird so zum Fundament der durch Wissenschaft ermöglichten Moderne erklärt. Dieses Selbstbild protestantischer Bildungsbürger44 fand damals in der katholischen Inferioritätsdebatte sein Gegenstück.
Abb. 6: Katharina von Bora
In ihr weitete sich Luther und die Deutschen zu Protestantismus und die Moderne. Auch dies eine Wiederholungsstruktur, die bei allem Widerspruch Nipperdeys gegen den Versuch, Luther zum „Vater der Neuzeit, … Bannerträger der modernen Welt“ (34) zu stilisieren, auch bei ihm präsent ist. Im Einspruch Kaufmanns und Schillings gegen die Jubiläumshandreichung der EKD ohnehin. Früher — Später Der Streit, wie Luther und die Reformation in dieser Perspektive einzuschätzen sind, bezeichnet eine Hauptfront in den heftigen Debatten zwischen der katholischen und der protestantischen Geschichtsdeutung des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus. Zerstörte die Reformation oder baute sie auf? Wie sind das vorreformatorische Mittelalter und das mittelalterliche Reich einzuschätzen, wie war Luther in ihnen verortet? Treitschke gab auch hier die nationalprotestantisch-deutsche Antwort: Das alte Reich war bereits im Verfall, die Reformation hat ihn vorangebracht und erst dadurch das neue Reich der Gegenwart, den deutschen Nationalstaat, ermöglicht. Früher – Später, dieses Verlaufsmodell, in dem es stets auch darum geht, wer auf der Seite der Moderne stehe, überführte Treitschke in den deutschen Triumph im Geiste Luthers. Was damals angebahnt, vollende sich nun. „Die neue Welt, die damals entdeckte, tritt jetzt erst in die Weltgeschichte ein, und ihre zukunftsreichsten Lande gehören dem evangelischen Glauben“ (485), auch
233 jenseits des Ozeans, und alles ging von Deutschland, von Luther aus. Protestantisch-deutscher Welt-Triumph in Luther. Dieser Argumentation konnten sich nicht einmal die Sozialisten entziehen, wenngleich sie sich ihr zu widersetzen suchten. Immer wieder griff August Bebel auf Luther zurück, um sein Bild vom Fortschritt in der Geschichte zu begründen45, ebenso Mehring, der Lassalles Rolle würdigte, indem er ihn mit Luther verglich und über ihn stellte.46 Oder man denke an die Revision des Lutherbildes in der DDR im doppelten runden Jubiläumsjahr 1983: Martin Luther und Karl Marx, 500. Geburts- und 100. Todesjahr. Damals erhielten beide den Ehrentitel: großer Sohn unseres Volkes.47 Zwei große Deutsche; in ihnen, in Luther und Marx, möge sich der Deutsche erkennen. Eine kurze Bilanz Um sich dem üblichen Zugang zu Luther und die Deutschen oder was macht Luther zum Inbegriff des Deutschen zu entziehen, wurde nach Wiederholungsstrukturen seit dem 19. Jahrhundert gefragt. Das ist selbstverständlich nur eine Möglichkeit zu verstehen, warum dieses Thema so konstant sich über alle politischen Umbrüche und gesellschaftlichen Veränderungen hinweg durchhält, und warum es dabei immer wieder mit anderen Bewertungen besetzt werden konnte, auch gegensätzlichen. Vieles wäre noch zu erwähnen. Etwa der völkische Luther und die Gegenwehr gegen diese Instrumentalisierung.48 Zu untersuchen wäre auch, wie breit denn die Vertrautheit mit Luther in der deutschen Bevölkerung überhaupt gewesen ist. Die eingangs erwähnte Umfrage der Zeitschrift Chrismon von 2016 belegt, daß heute die meisten Deutschen, auch diejenigen mit geringer Schulbildung, eine Vorstellung mit Luther verbinden. Um 1900 mag das trotz der starken konfessionellen Dispute in der Öffentlichkeit anders gewesen sein. Eine medizinische Dissertation, deren Autor 1903 das „geistige Inventar Gesunder“ vermessen wollte und deshalb preußische Rekruten auch nach den Kenntnissen über Luther gefragt hatte, kam zu ernüchternden Ergebnissen.49 Der deutsche Bürger konnte hier in ein ihm kulturell fremdes Land innerhalb der eigenen Gesellschaft schauen. Um es zu vermessen, unternahmen im späten 19. Jahrhundert Wissenschaftler und auch Pastoren ethnologische Erkundungsreisen in das Arbeitermilieu. Sie wollte erfahren, wie Arbeiterinnen und Arbeiter, vor allem wenn sie sich zum Sozialismus bekannten, zu Religion und Kirche standen.50 Luther und die Deutschen oder Was ist deutsch an Luther benennt eine entwicklungsoffene Beziehungs- und Deutungsgeschichte. Ob sie weitergehen wird in einer Zeit, in der die „alte“ deutsche Gesellschaft zunehmend kirchenferner wird, während die Zuwanderer der Religion einen zentralen Wert in ihrem Leben zuweisen, und zugleich die
evangelische Kirche in Deutschland nur noch eine kleine Minderheit in den evangelischen Weltkirchen stellt, läßt sich aus der Vergangenheit nicht prognostizieren. Der „Grundlagentext“ der EKD nennt die Reformation ein gesamteuropäisches und in ihren Wirkungen ein weltgeschichtliches Ereignis (8). Dem hätten auch unsere beiden Zeitzeugen aus dem Lutherjahr 1883 nicht widersprochen, ebenso nicht, daß die Reformation eine ökumenische Bedeutung habe, und schon gar nicht hätten sie etwas eingewendet gegen die Modernitätserzählung, mit welcher der EKD-Text anhebt: „Die Reformation ist ein gesamteuropäisches und — mit Blick auf ihre Wirkungen — ein weltgeschichtliches Ereignis“ (8). Auch das ist eine Wiederholungsstruktur, in der Kontinuität und Wandel identifiziert werden können.51 Dies im Jubiläumsjahr 2017 zu beobachten, wäre eine reizvolle Aufgabe. Literatur 1 Der Text geht auf Vorträgen an der Universität Jena (Juli 2014) und in Torgau zurück. Er wurde für die Publikation überarbeitet und erweitert. 2 Die Tabelle und alle weiteren Befragungsergebnisse können eingesehen werden unter http:// static.evangelisch.de/get/ ?daid=g53ByPiLwYYmj RC6ixiPd6Wz00154039&dfid=download. 3 Die Chrismon-Redaktion teilte auf Anfrage mit, nach der Religionszugehörigkeit werde bei ihren Umfragen „nicht automatisch gefragt“. Bei der Luther-Befragung habe man es auch nicht getan. 4 Stand 2010 (maximal 4,3 Millionen); s. die Aufschlüsselung in: http://www.bpb.de/nachschlagen/ zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/145148/religionszugehoerigkeit. Für 2015 s. die Angaben in: Statista-Dossier: Religion in Deutschland; online: file:///C:/Users/Dieter/Downloads/study_id6521_religion-statista-dossier.pdf. 5 Reinhart Koselleck: Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: Ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hg. u. mit einem Nachwort versehen von Carsten Dutt, Frankfurt/M 2010, 96114; Reinhart Koselleck, Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, 55–63, autistisch: 63. 6 Der Artikel von Köstlin S. 354–358 ist dreispaltig gesetzt. Eine Reihe von Jahrgängen der Illustrierten Zeitung stehen Online zur Verfügung, nicht der von 1883. Die Luthernummer (20.10.1883) ist abrufbar bei historicum.net Geschichtswissenschaft: https://www.historicum.net/themen/reformation/ mythos-reformation/3-performative-dimension/alutherfeiern/lutherfeier-1883/ (zuletzt eingesehen 21.10.2016). 7 Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag, gehalten in Darmstadt am 7. November 1881, in: Preußische Jahrbücher 52, 1883, 469–486. Zum Jubiläumsjahr 1883 und zu Treitschkes Rede vgl. Hartmut Lehmann: Das Lutherju-
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biläum 1883 (59–77); Ders.: Die Lutherjubiläen 1883 und 1917 in Amerika (78–93), Ders.: „Er ist wir selber: der ewige Deutsche“. Zur langanhaltenden Wirkung der Lutherdeutung von Heinrich von Treitschke (126–137), in: Hartmut Lehmann: Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012 (mit zwei Studien zum bevorstehenden Jubiläum 2017). Weitere Literatur und einen kurzen Überblick bietet https://www.historicum.net/themen/reformation/. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2014. Online: http:// www.ekd.de/print.php?file=/EKD-Texte/2014_ rechtfertigung_und_freiheit.html (21.10.2016). http://www.lutheranworld.org/content/finances (21.10.2016). Einige wenige Hinweise bei Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017. Reinhard Bingener: Luther und die Deutschen, v. 29.3.1013, http://www.faz.net/aktuell/politik/reformation-luther-und-die-deutschen-12130531.html (zuletzt eingesehen 21.10.2016). Thomas Kaufmann/Heinz Schilling: Die EKD hat ein ideologisches Luther-Bild (24.5.2015), http://www.welt.de/debatte/kommentare/article128354577/Die-EKD-hat-ein-ideologischesLuther-Bild.html (zuletzt eingesehen 21.10.21016). Einschlägige Bücher der beiden Autoren: Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation in Deutschland, Frankfurt/M 2016; Ders.: Martin Luther, München 4. Aufl. 2016; Ders.: Reformation, Stuttgart 2016; Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2. Aufl. 2013, Neuaufl. 2016; Ders. (Hg.): Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, München 2014. Der EKD-Grundlagentext wird oben in Anm. 8 genannt. Markschies: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article128798355/Die-EKD-bleibt-bei-derTheologie-und-das-ist-gut-so.html (21.10.2016). Luther und die moderne Welt, in. Thomas Nipperdey: Nachdenken über die Geschichte, München 1986, 31–43. Dort alle folgenden Zitate. EKD, Rechtfertigung und Freiheit, 105. Für Zitate von Köstlin und Treitschke (s. Anm. 5 u. 6) werden im Text die Seitenzahlen in Klammern genannt. Es wird die originale Schreibweise beibehalten. EKD, Rechtfertigung und Freiheit, 98f. Vgl. dazu Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000; Ders.: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008; Ders./ Georg Schmidt (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000. Alle Zitat bei J.H. Brinks: Einige Überlegungen zur politischen Instrumentalisierung Martin Luthers durch die deutsche Historiographie im 19. und 20. Jahrhun-
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dert, in: Zeitgeschichte 22/7-8, 1995, 233–248. Zu Willy Brandts bedeutenden Geschichtsreden s. Klaus Schönhoven (Hg.): Willy Brandt. Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte, Bonn 2012. Vgl. etwa Uli Linke: Die Sprache als Körper. Linguistischer Nationalismus und deutsche Sprachpolitik, in: Thomas Hauschild/Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart, Münster u.a. 2002, 290-317: „Martin Luthers revolutionäre Übersetzung der Bibel“ machte die deutsche Sprache „mittels der Reformationskämpfe erstmals zu einer ideologischen Waffe in der Verbreitung heiliger christlicher Lehren.“ „Deutsch wird prestige- und affektgeladen und höchst symbolträchtig: eine sakralbedeutsame Schriftsprache.“ Der Spiegel 5, 2007, online: http://www.spiegel. de/spiegel/print/d-50343956.html (21.10.2016); in veränderter Form auch in Klaus Wiegrefe/Dietmar Pieper (Hg.): Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden, was wir sind, München 2007, 72–84 (Ulrich Schwarz: Vom Schlachtfeld zur Kulturnation. Die Reformation vertieft die Spaltung des Landes, aber Sprache und Kultur wurden später zum einigenden Band). „Die Hauptrevolution ist in der Lutherischen Reformation eingetreten, als aus der unendlichen Entzweiung und der greulichen Zucht, worin der hartnäckige germanische Charakter gestanden hatte und welche er hatte durchgehen müssen, der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam, und zwar in dieser Gestalt, daß sie im Geiste vollbracht werden müsse.“ G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Band 20, Frankfurt/M 1979, 49. „Wir Deutsche haben eine Revolution gehabt, die noch nicht in ihrer ganzen Größe begriffen worden ist: die Tat Martin Luthers. […] Seine Tat hob den internationalen Anspruch Roms aus den Angeln und schuf die Grundlage für das, was wir heute mit Stolz deutsche Kultur nennen. Das hat ihm auch der deutsche Katholik zu danken.“ Alfred Rosenberg: Schriften und Reden. Band 2, München 1943, 431–435 (Artikel aus dem Völkischen Beobachter von 1921). Erstdruck in Neue Rundschau Oktober 1945; Deutschland und die Deutschen, in: Thomas Mann: Essays. Bd. 2. Hg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt/ M 1977, 281–298, alle Zitate 286. Theobald Ziegler: Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1899, 397. Vgl. etwa Stefan Laube: Konfessionelle Brüche in der nationalen Heldengalerie – Protestantische, katholische und jüdische Erinnerungsgemeinschaften im deutschen Kaiserreich (1871–1918), in: Heinz-Gerhard Haupt/Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a.M./New York 2001, 293–332.
235 27 Ein katholisches Nachschlagewerk notierte: Bonifacius wurde als Ehrenname vom Heiligen Vater verliehen. „Apostel der Deutschen“, habe den ursprünglichen Namen Winfried „fast ganz verdrängt“; Geistesblitze. Die geflügelten Worte und Citate des Deutschen Volkes für Deutschlands Katholiken zusammengestellt von Ferdinand Knie. 2 Teile. Paderborn: Druck und Verlag der Bonifacius-Druckerei 1887, Bd. 1, 35. 28 Laube, Konfessionelle Brüche in der nationalen Heldengalerie, 325. Der Vorname Martin war vermutlich zu sehr als Heiligenname festgelegt, um für Protestanten frei verfügbar zu sein. Martin Luther fehlt ganz im Register bei Michael Wolffsohn/ Thomas Brechenmacher: Die Deutschen und ihre Vornamen. 200 Jahre Politik und öffentliche Meinung, München/Zürich 1999. Nichts zu Martin oder Luther auch bei Edward Schröder/Gottfried Schramm: Deutsche Vornamen einst und jetzt, Göttingen 1999. 29 Brief vom 21.11.1935 in: Gottfried Benn. Briefe an F. W. Oelze 1932–1945. Band 1. Hg. von Harald Steinhagen, Stuttgart 1977, 88. Das Zitat geht so weiter: „moralisches statt konstruktives Denken, tiefstehender Freiheitsbegriff („Selbstverantwortung“ – so ein Blech für diese Schuld-Sühne-bastarde! (sic!)) aber Sie haben Recht: Er machte Geschichte.“ Vgl. Kurt Aland: Martin Luther in der modernen Literatur, in: Karl Lehmann (Hg.): Luthers Sendung für Katholiken und Protestanten, München 1982, 116–146, 120; Wolfgang Klausnitzer: Luther aus katholischer Sicht, in: Wir haben wahrlich nicht Freude an Uneinigkeit. Gesammelte Aufsätze zur Situation in der Ökumene, Nordhausen 2005, 57–73. 30 Vgl. Michael Brenner: Religion, Nation oder Stamm: zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden, in: Haupt/Langewiesche, Nation und Religion, 587–601. 31 Dominique Bourel: Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums. Zürich 2007 (französisch Paris 2004). 32 Ebd. 312f. 33 Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M 1965, 2. Aufl. 1988; Der „ Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition. Im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung bearbeitet Von Karsten Krieger, 2 Bände, Berlin 2003. 34 Eine abwägende Beurteilung dieses ideologisch aufgeladenen Themas bietet Thomas Kaufmann: Luthers Juden, Stuttgart 2014. 35 „Die akute Bedrohung Wiens durch die Osmanen zwang den Kaiser in der Religionsfrage bis auf weiteres zum Einlenken und führte im Juli 1532 zum Nürnberger Anstand. [… In ihm] setzte der Kaiser die Drohung des Augsburger Reichsabschieds von 1530 außer Kraft, Reformationsver-
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suche als Landfriedensbruch zu verfolgen und versprach, die bereits laufenden Kammergerichtsprozesse gegen die evangelischen Reichsstände zu suspendieren. Im Gegenzug erhielt der Kaiser die Zusage der Evangelischen zur Türkenhilfe. Die Auslegung der Bestimmungen des Nürnberger Anstandes blieb in der Folgezeit nicht nur zwischen alt- und neugläubigen Ständen umstritten, sondern auch innerhalb des evangelischen Lagers.“ https:// www.historicum.net/themen/reformation/glossar/ n#NuernbergerAnstand Bourel, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, 31. Vgl. Lehmann, Anmerkungen zur Entmythologisierung der Luthermythen 1883–1983, in: Ders., Luthergedächtnis 1817 bis 2017, 281–296. Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes. Gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Nach des Verfassers Tode fortgesetzt von Walter Robert-Tornow. 17. verbesserte und vermehrte Auflage Berlin 1892, 414f. ; Geistesblitze. Die geflügelten Worte und Citate des Deutschen Volkes für Deutschlands Katholiken zusammengestellt (s. Anm. 27); Parvulus Mastix: Der rothe Büchmann. Classische Zitate mit social-demokratischen, christlich-socialen und Centrum-mistischen nebst verschiedenen und vielen anderen Extempore‘s; Leipzig 1879. Die katholische Schrift verwendet, wie ausdrücklich vermerkt wurde, nicht Luthers Bibelübersetzung. Sie enthalte „oft haarsträubende Fälschungen“, sei aber wegen des Buchdrucks, der damals aufkam, dennoch zum „‚Volksbuch‘“ geworden. Protestanten nutzten das neue Verbreitungsinstrument und „warfen ihre Pamphlete zu Tausenden unter das Volk, das infolge der vorhandenen geistigen Gärung gierig danach haschte und durch Verdrehungen und Sophismen der ‚Diener am Wort‘ um seinen Glauben betrogen wurde.“ Luther habe der deutschen Sprache „neue Wendungen zugeführt“, aber „nicht zur sittlichen Ausbildung“ beigetragen (Bd. 1, VIII). Auf S. 60 heißt es: „Wir kommen nunmehr zum ‚grossen Reformator‘ Luther. Anstatt den unsittlichen Schmutze seiner Zoten aufzuzählen, wollen wir nur einige Worte mitteilen, die für uns Katholiken von grossem Interesse sind.“) „Die Bauern nahmen die Lehre der evangelischen Freiheit fleischlich auf und erhoben sich zu einem wüthenden socialen Kampfe.“ (471) Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 3. Aufl. 1923, 601. Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW) Band 7, Berlin 1960, 342, 349, 351. August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, 1, Berlin 1970, 464ff.; Franz Mehring, Gesammelte Schriften, 2, , Berlin 1960, 57 u.ö. Irene Dingel: Wittenberg und Genf, in: Europäische Erinnerungsorte 2. Hg. v. Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale, Mün-
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chen 2012, 281-289, 282. Wie der Kulturkampf von den Liberalen mit Gender-Kriterien aufgeladen worden ist – Staat und öffentliches Leben als männlich, Haus und Katholizismus als weiblich – zeigt Michal B. Gross: The War against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in 19th Century Germany, Ann Arbor 2004, Kap. 4. Ein Stichwort Luther gibt es in Gross‘ Register nicht. Vgl. mit den Belegstellen zu Luther Ulrich Engelhardt: Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986. Wie Anm. 42. Mehring, Gesammelte. Schriften, 2, 57 verglich Lassalles „Offenes Antwortschreiben“ mit Luthers Thesen gegen den Ablaß und bewertete es höher: Luthers Thesen haben eine „offenes Pulverfaß“ entzündet und die „deutschen Massen des sechzehnten Jahrhunderts in eine wirre Bewegung“ geschleudert; Lassalles Antwortschreiben hingegen sei eine Fackel, die der deutschen Arbeiterklasse den Weg weise. Luther sei von seiner Wirkung überrascht worden, Lassalle nicht. Brinks, Überlegungen zur politischen Instrumentalisierung Martin Luthers, 240. Vgl. Lehmann, Die 15 Thesen der SED über Martin Luther (213-231); Ders.: Zur Entstehung der 15 Thesen über Martin Luther für die Luther-Ehrung der DDR im Jahre 1983 (232–256), in: Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017. Dazu gibt es eine umfangreiche Literatur. Als erster Überblick weiterhin hilfreich Horst Zilleßen (Hg.): Volk – Nation – Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970. Als Beispiel, wie nationalprotestantische Überzeugungen ungewollt bis heute fortwirken Roland Kurz: Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation. (Die Lutherische Kirche – Geschichte u. Gestalten – Bd. 24), Gütersloh 2007. Vgl. insbes. Lehmann: Heinrich
Bornkamm im Spiegel seiner Lutherstudien von 1933 und 1947 (138–150); Ders.: Hans Preuß 1933 über „Luther und Hitler“ (151–159); Ders.: Luther als Kronzeuge für Hitler. Anmerkungen zu Otto Scheels Lutherverständnis in den 1930er Jahren (160–175), in: Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017. Aufschlußreich ist auch Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940) (Quellen u. Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 41) Berlin, New York 2006, 452–510, Kap. 5 „Heros und Anthropos im nationalen Diskurs“. 49 Vgl. zu dieser Erhebung den außerordentlich anregenden Aufsatz von Martin Scharfe: Nach-Luther. Zu Form und Bedeutung der Luther-Verehrung im 19. Jahrhundert, in: Hardy Eidam/Gerhard Seib (Hg.). „Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch und fest umklammert er sein Bibelbuch...“. Zum Lutherkult im 19. Jahrhundert, Berlin 1996, 11–21. 50 Vgl. Dieter Langewiesche: Die neue Religion des Sozialismus, in: Alf Christophersen/Friedemann Voigt (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2008, 83–93; Ders.: Heilige Texte im Marxismus? In: Andreas Kablitz/Christoph Markschies (Hg.): Heilige Texte. Religion und Rationalität, Berlin, 2013, 225–241. 51 Anregend dazu John Borneman: Deutschsein: Fiktion und das Reale, in: Hauschild/ Warneken, Inspecting Germany. Internationale DeutschlandEthnographie der Gegenwart, 173–194.
Bildnachweise
Abb. 1 In: Chrismon. Das evangelische Magazin, 2016 (Repro) Abb. 2 In: Illustrirte Zeitung, 20. Oct. 1883 (Repro) Abb. 3 In: Illustrirte Zeitung, 20. Oct. 1883 (Repro) Abb. 4 In: Preußische Jahrbücher 52, 1883 (Repro) Abb. 5: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moses_Mendelssohn,_B%C3%BCste_im_Stadtpark_von_Dessau.jpg Abb. 6: Foto: Prof. D. Langewiesche
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Herrschaft und Konfession im 19. Jahrhundert Das Thema Herrschaft und Konfession ist relativ offen gehalten. Als erste Assoziation wird dabei manchem das klassische Thema des Kulturkampfes in den Sinn kommen. Man kann sich dem Thema aber auch nähern, indem man zwischen Macht und Herrschaft unterscheidet. Macht ist „soziologisch amorph“, schrieb Max Weber. Er definierte sie als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ Herrschaft dagegen sei „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Sie ist mithin präziser definiert und setzt Legitimität voraus, ob legale, traditionale oder charismatische.1 Im Kulturkampf manifestierten sich beide Komponenten. Insbesondere bei der Durchsetzung staatlicher Anordnungen und Standards, aber auch bei den Maigesetzen 1873 handelte es sich um Herrschaftskonflikte, um Gehorsamserwartung bei passivem Widerstand, auch um konkurrierende Herrschaftsansprüche – die legitime des Staates, die in Religionssachen angezweifelt wurde, und die charismatische des Papstes –, während der Kulturkampf zugleich strukturell von unterschiedlichen politischen und konfessionellen Machtkonstellationen auf verschiedenen Ebenen durchzogen war. Der Katholizismus fand sich im 1871 gegründeten kleindeutschen Kaiserreich eingeklemmt zwischen zwei Herrschafts- bzw. Machtansprüchen, der legitimen des Staates mit der vom Nationalliberalismus angeführten „Katholikenverfolgung“ und der Hegemonie des Protestantismus, wobei man hier je nach Ebene eher von Machtvorsprung sprechen könnte. Beide Aspekte sind zu behandeln, also der Kulturkampf sowie die konfessionellen Konfliktlinien. Ich möchte in drei Schritten vorgehen. Erstens ist der Begriff „Zeitalter der Kulturkämpfe“ zu klären, zweitens auszuleuchten, was Konfessionalismus und dessen Politisierung im 19. Jahrhundert für Deutschland bedeutete und welche Gründe für das Phänomen auszumachen sind. Schließlich soll der Blick über Deutschland hinaus auf Europa gelenkt werden. 1. Zeitalter der Kulturkämpfe und Konfessionalismus Es war der katholische Kirchen- und Kulturhistoriker Albert Ehrhard, der den Begriff „Zeitalter der Kulturkämpfe“ schon 1902 prägte. Er diagnostizierte seine Zeit und prophezeite damals: „In ganz Europa erhoben sich und bestehen zum Teil noch jene Konflikte zwischen den Regierungen und der katholischen Kirche, die unserer Zeit vielleicht einmal
Abb. 1: Albert Ehrhard 1902 (BestandgeberIn: Archiv der Universität Wien Urheber: Lithographie v. R. Fenzl: http://geschichte.univie. ac.at/de/personen/albert-ehrhard-prof-dr)
die Bezeichnung als ‚Zeitalter der Kulturkämpfe‘ eintragen werden.“2 Auf diese Eintragung hätte der damals vierzigjährige Ehrhard lange warten können. Zu seinen Lebzeiten (1862–1942) ist es nicht geschehen. Es hat nochmal rund 100 Jahre gedauert, bis man entsprechende Formulierungen Anfang des neuen Jahrtausends endlich neu entdeckte oder neue erfand. Denn erst ab etwa 2000 wurde das Thema aus seinem Schattendasein befreit. Immer häufiger wird die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nun als „Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe“3 bezeichnet, als „culture war era“4 mit einer Phase der „hot culture wars“, die von 1860 bis 1880 in Europa wüteten;5 zuletzt hat Lisa Dittrich für Frankreich, Spanien und Deutschland die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Hochzeit der Kulturkämpfe“ bezeichnet.6 Insofern hat Ehrhard Recht behalten: die von ihm erlebten Konflikte würden seiner Zeit einmal die „Bezeichnung als ‚Zeitalter der Kulturkämpfe‘ eintragen“. Der Kulturkampf, wie wir ihn kennen – unter Reichskanzler Otto von Bismarck – erfasst in erster
238 Linie nur die Jahre zwischen 1871 und 1887. 1873 prägte Rudolf Virchow dafür den Begriff „Culturkampf“. Dennoch bezeichneten Zeitgenossen wie Ehrhard Jahrzehnte nach diesem „eigentlichen“ Kulturkampf in Preußen und im Reich mehrere Jahrzehnte als Zeitalter der Kulturkämpfe. Sie hatten den Eindruck, die Konflikte seien auch um 1900 noch nicht ausgestanden. Sie nahmen aufgrund dieses Grundthemas sogar eine Einheitlichkeit des Zeitalters wahr. Dieses Grundthema klang nicht nur im Deutschen Reich an, sondern auch in Belgien, der Schweiz, Österreich und anderen Länder.
schrieb, spitzte sich in Frankreich gerade der seit 1879 geführte Konflikt um die Trennung von Staat und Kirche zu, die 1905 endgültig vollzogen wurde. In Deutschland manifestierten sich die Spannungen um 1900 nicht mehr so sehr auf staatlichamtskirchlicher Ebene. Es gab aber immer noch das Jesuitengesetz und den Kanzelparagraphen. Und es gab noch immer keinen dem Katholizismus verbundenen Reichskanzler. Herrschaft wurde von Protestanten über Katholiken ausgeübt. Darüber hinaus hatten sich die Kulturkampfkonflikte zwischen Liberalen und Ultramontanen, Antiklerikalen
Abb. 2: Richard Andree, The Times Atlas, London 1895, S. 10.
Wie sich auf der Europakarte von 1895 erkennen lässt, gab es nur drei Länder, die zwischen Katholiken und Protestanten gespalten waren: Deutschland, die Schweiz und die Niederlande. Der Rest ist entweder mehrheitlich evangelisch, wie etwa Skandinavien, oder mehrheitlich katholisch. Der englisch-irische Konflikt ist ein Sonderfall, ebenso das multireligiöse Habsburgreich. Obwohl nur drei Länder konfessionell zwischen Katholiken und Protestanten gespalten waren, gab es nicht nur in den gemischtkonfessionellen Ländern Kulturkämpfe, sondern auch in Spanien, Italien, Belgien, aber auch schon in Mexiko etc.7 Als Ehrhard sein Buch „Der Katholizismus und das 20. Jahrhundert“
und Klerikalen, Reformern und Traditionalisten, Protestanten und Katholiken auf andere alltägliche Ebenen und andere Bühnen verlagert. Besonders im Vereinswesen erblühte ein neuer Konfessionalismus, der sich nicht damit begnügte, die eigene Identität zu konsolidieren, sondern zugleich konfessionelle Heterostereotypen verbreitete, ja, Ränke gegen den konfessionellen Gegner schmiedete. 1886 hatte der evangelische Theologe Willibald Beyschlag den antiultramontanen „Evangelischen Bund“ eigens gegründet. Beyschlag hatte Angst, dass der Kulturkampf aufhörte. Der gemeinsame Feind durfte dem in sich zersplitter-
239 ten Protestantismus keinesfalls als negative Integrationsideologie verloren gehen. Als Ehrhard vom „Zeitalter der Kulturkämpfe“ schrieb, wies dieser militante Bund 142.000 Mitglieder auf, 1914 sogar eine halbe Million. Das nennen wir Konfessionalismus, im Unterschied zur bloßen Konfessionalisierung oder Rechristianisierung. Dieses konfessionelle Konfliktpotential entwickelte sich in Frankreich gegenüber der winzigen protestantischen Minderheit unterhalb des eigentlichen Konflikts zwischen „Klerikalismus“ und „Laizismus“, aber der Konfessionalismus spielte in Deutschland eine gesellschaftlich besonders prägende Rolle. Deutschland war ein traditionell mehrkonfessionelles Land. Aber 1789 lebten Katholiken und Protestanten noch in 1789 verschiedenen Einzelländern. Dank Napoleon und dann durch den Wiener Kongress 1815 mussten sie sich im Deutschen Bund in nur noch 39 Staaten miteinander arrangieren. Manche Katholiken hatten nun, wie im vergrößerten Preußen oder Baden, ein protestantisches Oberhaupt, und manche Protestanten wie in der bayerischen Rheinpfalz einen katholischen
König. Die Quote der Mischehen stieg, etwa durch protestantische Preußen, die nach dem Wiener Kongress ins Rheinland kamen und katholische Frauen ehelichten. 1871 schließlich lebten alle in einer einzigen Nation. Katholiken und Protestanten kamen im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr in Kontakt miteinander. Auffällig an der Karte von 1886 ist, wie sehr die Katholiken geographisch an den Rändern lebten. Während Protestanten die Mitte Deutschlands und das Kerngebiet Preußens besiedelten, lebten Katholiken dagegen vorwiegend in den Außenbezirken – im Elsass, in Bayern und in den polnischdeutschen Mischgebieten. Das alleine ist schon fast symbolisch, denn Katholiken lebten vielfach auch an den Rändern der Gesellschaft. Man spricht vom katholischen Bildungsdefizit und der katholischen Inferiorität. Aber an dieser Stelle geht es weniger um die Visualisierung von konfessionellen Siedlungsverhältnissen, sondern um Konfessionalismus. Tatsächlich ist die hier vorgelegte Karte ein wenig manipulativ. Sie stammt aus dem – protestan-
Abb. 3: Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., Bd. 4, Leipzig u. Wien 1886, zw. S. 816 u. 817
240 tisch liberalen – Meyer-Lexikon. Was ist an der Karte manipulativ? Sie wurde noch während des Kulturkampfes hergestellt und kurz bevor er beendet wurde, publiziert. Die Grundfarbe ist hell, wie die umliegenden Länder. Normal scheint es zu sein, protestantische Herkunft zu haben. Dann gibt es noch zwei bemerkenswerte Fremdgebilde in Deutschland, einmal die Katholiken, je weiter weg von Berlin, desto dunkelbrauner gefärbt. Die andere Fremdgruppe sind die Juden, die auf derselben Seite unten rechts in einer eigenen Karte identifiziert werden. Beide Gruppen werden in derselben Farbe dargestellt. Juden sind dort, wo mehr Katholiken leben, auch besonders häufig anzutreffen, im Westen wie im Osten, so, als ob sich beide Fremdgruppen gefährlich miteinander mischten. Die Katholiken waren die Reichsfeinde, die Juden wurden es im Zuge der großen Antisemitismuswelle gerade. Beide Glaubensgemeinschaften wirken im Deutschen Reich wie etwas Fremdes. Diese Interpretation wird gestützt durch das, was auf der Seite davor, auf S. 817 steht. Zuerst wird über Ausländer in Deutschland gesprochen, dann über Konfessionen. Unglücklicherweise sind noch nicht alle protestantisch. Wenige Zeilen später wird über den hervorragenden Bildungsstand berichtet, der natürlich vom Protestantismus u. von der Aufklärung stammt, dem Katholiken bekannterweise aber noch hinterherhinkten.8 Man muß das nicht so darstellen. Auch kartographische Raumkonstruktionen können manipulativ sein. Ein gutes Jahrzehnt später, in der 5. Auflage, wurden für Katholiken und Protestanten zwei Farben gewählt: Katholiken bläulich, Protestanten orange.9 Die Karte legte nicht mehr Wert auf katholische Ballungszentren als Problemfelder, sondern auf die Mischzonen. Diese waren rötlich dargestellt. Das Augenmerk liegt jetzt stärker auf dem Ruhrgebiet, der Rheinpfalz und Posen. Das sind Krisenregionen, in denen sich konfessioneller Streit entzünden kann. Das Besondere wird durch eine besondere Farbe herausgestellt. Die Rheinpfalz bekam unten rechts sogar eine eigene Karte. Das Blickregime jedenfalls legt eine Verschiebung nahe, von den katholischen Rand- und Problemzonen zu den Mischregionen inmitten Deutschlands. Sie werden geradezu als Krisenherde dramatisiert. Solche Karten transportierten also nicht nur wertneutrale Informationen über Konfessionsproportionen, sondern konnten zugleich auch Anleitungen zur Interpretation bieten. Sie „zeigen“ nicht objektiv Konfessionsverhältnisse an, sondern zeugen von deren Deutung. Damit waren diese Karten ein Ausdruck sozio-konfessioneller Spannungen im Kaiserreich wie asymmetrischer Machtstrukturen. Dieter Langewiesche sprach sogar einmal davon, daß die moralisch überhöhten Grenzlinien der Sozialmilieus im Extremfall „bis zu Ekelschranken“ gesteigert sein konnten.10 Aber woher rührten das konfessionelle Konfliktpotenzial und seine Politisierung?
2. Deutschland im Zeitalter der Kulturkämpfe und des Konfessionalismus In den Jahrzehnten seit dem Wiener Kongress 1815 führten mehrere Kräfte dazu, dass es nach den Kölner Wirren zu der sog. katholischen Bewegung kam, die 1852 in die Gründung der katholischen Fraktion im Preußischen Abgeordnetenhaus mündete, dem nun auch formellen Beginn der parteipolitischen Formierung des Katholizismus. Zu diesen Faktoren gehörten die Hinterlassenschaft der politisch-geographischen Umgestaltungen der napoleonischen sowie post-napoleonischen Zeit, die Säkularisation als Befreiung der Kirche aus staatlichen Fesseln sowie umgekehrt der Versuch von Staaten, sich dem Modell des Gallikanismus folgend über die Kirche zu setzen. Die (kirchen)politischen Motive für den Assoziationsbedarf von Katholiken sind bekannt. Daneben darf aber auch der Konfessionalismus als Mit-Ursache nicht mißachtet werden. Er wurde aber häufig mißachtet, und nachdem ihn Forscher erneut ins Blickfeld gesetzt hatten, wurde seine Wirkmächtigkeit von anderen Forschern engagiert heruntergespielt. Benjamin Ziemann etwa beschreibt in seiner „Sozialgeschichte der Religion“, Konfession sei im 19. Jahrhundert „zu einem wichtigen Faktor des sozialen Lebens“ geworden und habe durch konfessionelle Zeitungen und Vereine die Massen mobilisiert, macht dann aber kehrt und behauptet, „daß konfessionelle Gegensätze eben kein fundamentales Phänomen waren. Denn die konkurrierenden Presseorgane und Vereine organisierten den Gegensatz, sie kanalisierten ihn aber auch zugleich. Der Aufschwung konfessioneller Organisationen war letztlich nur ein nachgeschobenes Ergebnis der politischen Mobilisierung sozialer Bindungen.“ Der entscheidende Prozess sei die „Fundamentalpolitisierung“ gewesen.11 Aber welcher Gegensatz wurde hier politisiert? Kann man etwas politisieren, was nicht existiert? Irgendwann – und gewiss ist auch Konfession eine Konstruktion – irgendwann müssen die konfessionellen Auto- und Heterostereotypen, müssen diese Feindbildkonstruktionen vom konfessionell Anderen ja entstanden sein, bevor sie durch geschickte Kleriker, Vereinsvorsitzende, Redakteure oder andere Agitatoren politisiert wurden. Deutschland ist das Land der Konfessionsspaltung. Das darf man nicht vergessen. Sie ist älter als die Fundamentalpolitisierung im 19. Jahrhundert. Doch wann lebte dieser konfessionelle Gegensatz wieder auf, nachdem er im 18. Jahrhundert relativ stillgestellt war, aber dann spätestens in den Kulturkämpfen und manifest im Antiklerikalismus, im Antikatholizismus und Antiprotestantismus des 19. Jahrhunderts eine so tragende Rolle spielen sollte? Auch das Jahr 1817 ist ein Schlüsseljahr für die Entwicklung von einem konfessionell wenig profilierten Christentum, dessen Konfessionen geradezu friedlich voneinander getrennt lebten oder
241 sich regional osmotisch vermengten, hin zu einem konfessionell geschiedenen und sich untereinander befehdenden Christentum, wie es sich im 19. Jahrhundert entwickelte. Es gab viele solcher Schlüsseljahre, darunter auch 1830 die Feier der Konfessio Augustana oder 1832 die Gründung des Gustav Adolf Vereins zu Ehren des 200. Todesjahres des schwedischen Helden. Zwar konterten Katholiken nicht mit einem Tillyverein.12 Doch auch sie hatten längst mit der konfessionellen Aufrüstung begonnen. 1831 war Gregor XVI. zum Papst erkoren worden, ein Eiferer, der die Welt gerne mittelalterlich-katholisch gesehen hätte. Die Kölner Wirren, der „erste preußische Kulturkampf“, regten 1837 die katholische Bewegung an und nährten den aus Frankreich kommenden Ultramontanismus. 1844 manifestierte sich die massenmobilisierende Macht der ultramontanen Bewegung in der spektakulären Trierer Rockwallfahrt. Besonders der Syllabus Errorum 1864 und das Unfehlbarkeitsdogma 1870 stießen Nichtkatholiken und aufgeklärte Katholiken vor den Kopf, denn ausdrücklich wurden Liberalismus und Protestantismus verurteilt. Auf den anhebenden Konfessionalismus – die Überbetonung der eigenen und Abwertung der anderen Konfession – boten die protestantischen Ereignisse des Lutherjahres 1817 einen Vorgeschmack. Gehen wir drei verschiedene Dimensionen des Konfessionalismus einmal durch, die sich damals manifestierten, die intrakonfessionelle, intrareligiöse und extrareligiöse Dimension: 1. Der intrakonfessionelle Konfessionalismus beruhte darauf, daß Rechtgläubige innerhalb einer Konfession auf orthodoxe Buchstaben- und Dogmentreue sowie auf Gesinnungsloyalität pochten. Diese im Protestantismus sogenannten „Konfessionellen“ standen im Konflikt mit den reformfreudigen, liberalen eigenen Glaubensgenossen. In diesem Kontext entstand in den 1840er-Jahren auch der Begriff „Confessionelle“ für diejenigen, die strikt an ihrer Confessio hingen und sich der als bedrohlich wahrgenommenen Moderne verschlossen. Hier handelte es sich um einen vorwiegend innerprotestantischen Streit, der jedoch derart heftig ausfiel, daß der Begriff Konfessionalismus und das Phänomen des binnenkonfessionellen Konflikts durchaus auf ihn angewandt werden kann.13 Angesichts dessen ist es völlig abwegig zu behaupten, der Protestantismus könne als „eine in sich geschlossene Konfession zu verstehen“ sein.14 Die Initialzündung für die intrakonfessionelle Zwistigkeit innerhalb des Protestantismus bildete die Gründung unierter Kirchen. Sie war als Befriedungsinstrument gedacht, machte die Sache aber nur noch schlimmer, indem sie den Konflikt von der herkömmlichen Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten auf das oftmals quer dazu lie-
gende Format von Orthodoxie und Liberalität, von Konfessionsbindung also und gelockerter, individualisierter Religiosität hob. Der Einschnitt geschah nicht zufällig im Jahre 1817, und zwar zuerst in Nassau und Preußen, es folgten die Pfalz, Hanau, Baden und Hessen. Die seit 1815 vergrößerten Staaten hatten enormes Interesse an diesem Integrationsangebot. Aber auch viele Protestanten waren des Theologengezänks müde und begrüßten die Union. Ihr entstanden aber auch sogleich Gegner im lutherischen Lager, die eine Nivellierung der Bekenntnisse ablehnten. Der Kieler Pfarrer Claus Harms zog 1817 mit 95 eigenen Thesen gegen den Rationalismus und gegen die Union zu Felde. Er gilt als einer der Begründer des Neuluthertums.15 Dessen Anhänger verteidigten Orthodoxie und Orthopraxie. Sie wurden seit den 1840er-Jahren von liberalen Protestanten mit der Fremdbezeichnung „Konfessionelle“ belegt. Der Streit zwischen strengen Konfessionellen und liberalen Unionsanhängern zog sich bis in die Liberale Ära, während der Strukturkampf zwischen Moralprotestantismus und Kulturprotestantismus bis weit ins 20. Jahrhundert andauerte. Im Katholizismus wurde der Konflikt zwischen den einzelnen Flügeln erfolgreicher ausgetragen. Integralisten oder Ultramontane vermochten, sich in den 1840er-Jahren gegen Deutschkatholiken und in den 1870er-Jahren gegen Altkatholiken durchzusetzen. Der Ultramontanismus erstickte spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts alle freien, liberalen innerkatholischen Kräfte. 2. Der intrareligiöse Konfessionalismus – zwischen den „eigentlichen“ Konfessionen innerhalb der Religion des Christentums – kam im 19. Jahrhundert erstmals wieder prominent zum Zuge, als 1817 die 300-Jahrfeiern zur Reformation stattfanden. Antikatholische Ressentiments – gegen den Klerikalismus, gegen Jesuiten und Papisten – knüpften an die Aufklärungszeit an. Aber jetzt, 1817, wurden sie in großen Veranstaltungen und in großem Stil öffentlich neu inszeniert.16 Es handelt sich mithin beim intrareligiösen – im Unterschied zum intrakonfessionellen – Konfessionalismus um den Antagonismus nicht innerhalb einer Konfession, sondern zwischen Konfessionen. Er beschreibt die Polemik einer Konfession gegen die andere, außerdem die Polarisierung konfessioneller Lebenswelten. Die Dynamik des intrareligiösen Konfessionalismus wurde durch den intrakonfessionellen Konflikt noch bestärkt. Denn die innere Vielfalt des Protestantismus, die interne Zwietracht zwischen Unionisten, Konfessionellen und Vermittlern machte eine negative Integrationsideologie notwendig. Man fand sie im Antikatholizismus.17 Wesensmerkmal des intrareligiösen Konfessiona-
242 lismus war der protestantische Antikatholizismus. Er kam alltäglich in seinen Vorurteilen und konfessionell getrennten Verkehrskreisen zum Tragen. Beide Großkonfessionen bekämpften sich seit den 1830er-Jahren in einem Ausmaß, das viele an die Zeit der „Glaubenskriege“ erinnerte. Die Adressen an das Hambacher Fest 1832, der vermeintlichen „Wiege der Demokratie“, und die dortigen Reden der vorwiegend protestantischen Akteure sind voller Anspielungen gegen den Papst und den katholischen Klerus, gegen die „Herrschsucht der Aristokraten und Priester“.18 Philipp Jakob Siebenpfeiffer forderte nicht nur ein einig Vaterland, sondern rekurrierte auch auf Martin Luther. Der „mutige Glaubensheld“ habe „den Herrscherstab des Pfaffenthums“ und geistigen Bedrückung gebrochen. Noch stehe jedoch „der römische Despot mit deutschen Fürsten in Vertrag und Bund, und noch ist kein politischer Luther auferstanden, der das Scepter zerbreche“. Frankfurt, der Sitz des Bundestages, sei „Sitz des politischen Vatikans, aus welchem der Bannstrahl herabzuckt, wo irgend ein freier, ein deutscher Gedanke sich hervorwagt“. Aus solchen Beobachtungen über die antikatholische Polemik heraus und vice versa ist die Epoche von den 1830er-Jahren bis zu den langen 1960erJahren einmal „zweites konfessionelles Zeitalter“ genannt worden, nicht, weil permanent Kulturkampfstimmung herrschte, sondern weil der Faktor Konfession im Unterschied zum 18. Jahrhundert und ähnlich wie im ersten konfessionellen Zeitalter erneut eine besondere Relevanz erhielt – in der gegenseitigen Antipathie wie in der Vergesellschaftung, in Politik, Wirtschaft und Bildung. Auch dafür ist 1817 ein Schlüsseljahr. Es leitete das Ende des „Tauwetters“ zwischen Protestantismus und Katholizismus ein.19 Damit sind wir beim dritten Begriffsverständnis. 3. Der extrareligiöse Konfessionalismus war ebenfalls Teil der Reformationsfeiern von 1817, insofern Luther zum wahren Deutschen und Antirömer stilisiert wurde. Besonders aber auf dem Wartburgfest desselben Jahres koppelte sich der Protestantismus an den noch jungen Nationalismus. Auf der Wartburg gedachten Studenten am 18./19. Oktober zugleich der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und des Thesenanschlages. Die Jenaer Burschenschaft hatte nur Studenten aus „protestantischen“ Universitäten eingeladen, nicht aber etwa aus dem katholischen Würzburg. Nur 14 katholische Studenten verloren sich unter den etwa 350 Teilnehmern. Katholiken waren beim nationalprotestantischen Fest unerwünscht. Den Begriff Konfessionalismus kannten die Akteure damals noch nicht. Schon gar nicht hätten sie von extrareligiösem Konfessionalismus gesprochen. Dieser – sagen wir – religionssystemexterne Konfessionalismus er-
gab sich aus den ersten beiden Varianten, aus dem intrakonfessionellen und intrareligiösen Konfessionalismus. Zur offensiven Verteidigung der eigenen Position bedienten sich die konfessionellen Lager moderner Mittel, der Presse, des Vereinswesens und der Parteien oder, wie auf der Wartburg, des Nationalismus. Der Konfessionalismus blieb nicht in der Kirche, sondern griff auf außerreligiöse Felder über, auf Medien, Wirtschaft und Politik. Man sprach vom politischen Katholizismus und politischen Protestantismus, vom Sozialkatholizismus und Sozialprotestantismus, vom Vereinskatholizismus und Verbandsprotestantismus. Der Nationalismus wurde konfessionalisiert und das Konfessionelle politisiert. In dieser dritten Variante des Konfessionalismus wurde der religiöse Code des Systems Religion auf andere Systeme übertragen, so daß es gottgefällige und gottlose Gewerkschaften, christliche und unchristliche, katholische und akatholische Zeitungen etc. gab. Der konfessionelle Griff nach allen Sektoren der Gesellschaft führte in manchen Gesellschaften zur „Versäulung“, in Deutschland zur Milieubildung. Der Export konfessioneller Deutungsmuster und Strukturen in Politik, Soziales und Wirtschaft, in Vereins-, Presse- und Bildungswesen wurde schon im 19. Jahrhundert als „Konfessionalismus“ bezeichnet, wenn sich die jeweiligen Kontrahenten unversöhnlich gegenüberstanden, etwa die katholische Partei eines Landes (in Deutschland das Zentrum) und die liberal-‚protestantischen‘ Parteien. Auch der krude Antisozialismus speiste sich aus konfessionellen Motiven und später die Option für die NSDAP, die im Wesentlichen nicht geschlechtsspezifisch, regional oder nach Klassengesichtspunkten verlief, sondern konfessionell: Je katholischer, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, NSDAP zu wählen – aber übrigens auch DDP oder SPD.20 Die Mystifizierung der Person Martin Luthers, spätestens seit 1817, trug dazu bei, die sich gegenüberstehenden Seiten aufzurüsten. Protestanten führten ihren Helden Luther in die konfessionelle und in manche politische Schlacht – daneben aber auch andere vermeintliche Germanen wie Herrmann den Cherusker – während Katholiken andere Heroen auf ihr Schild hoben, darunter Bonifacius oder den leibhaftigen Papst.21 Luther blieb für viele Katholiken ein Feindbild, am bekanntesten sind die Ausfälle des Zentrumsabgeordneten Paul Majunkes, zugleich Redakteur der Germania.22 Die Zentrumspartei wurde 1870 nicht wegen oder gegen Luther, nicht wegen oder gegen den Protestantismus gegründet. Auch die katholische Bewegung und die katholische Fraktion von 1848 bzw. 1852 und das sogenannte Zentrum 1859 sowie
243 ähnliche Fraktionen in anderen Ländern wie Bayern und Baden seit 1865 waren keine antiprotestantischen Initiativen. Von Parteien im heutigen Sinne kann man kaum reden. 1848 benannten sich die Fraktionen im Paulskirchenparlament noch nach ihren Stammlokalen. Und selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte, als sich das Parteienspektrum entwickelte, war es derart uneinheitlich, dass es Mitgliederparteien wie die SPD gab und Wähler- und Honoratiorenparteien ohne Mitglieder. Das Zentrum wurde erst 1920 von einer Wähler- zur Mitgliederpartei. Es rühmte sich sogar bis in die Weimarer Republik, auch Protestanten in den eigenen Reihen zu haben – die man gleichwohl mit der Lupe suchen mußte. Wirklich interkonfessionell war das Zentrum nie. Es blieb eine katholische Partei. Die Motive ihrer Gründung lagen darin, die katholischen Interessen und die Kirche vor Übergriffen durch den Staat zu schützen. Sie lagen aber auch im konfessionellen Gegensatz, wie sogar der große Zentrumshagiograph Karl Bachem 1928 einräumte. Die Zentrumsbewegung sei auch „Teil der Auseinandersetzung zwischen Katholizismus und Protestantismus in unserem Vaterlande in dem, nach formeller Überwindung des alten Grundsatzes ‚cujus regio, illius religio‘, in allen deutschen Staaten mit alleiniger Ausnahme von Bayern der katholische Volksteil doch immer noch ringen mußte um sein Lebensrecht, sich wehren mußte gegen die Aufsaugung durch den Protestantismus.“23 Zumindest in der Selbstbeschreibung der Zentrumsgeschichte gehörte der Protestantismus als ihr Antipode dazu, ebenso wie es ohne Katholizismus, konkret: ohne Antikatholizismus, kaum zur Neuerfindung des Protestantismus im 19. Jahrhundert gekommen wäre. „Weil man protestantisch geboren war, blieb man anti-katholisch und weil man anti-katholisch war, fühlte man sich „protestantisch“, beschreibt Thomas Nipperdey die Gemütslage schlichter Protestanten.24 Dieser Antiklerikalismus ist in den letzten Jahren nachgerade zu einem boomenden Thema unter Historikern geworden. Michael B. Gross hat sich damit geschlechtergeschichtlich, Manuel Borutta international komparativ, Ari Joskowicz identitäts- und verflechtungsgeschichtlich und zuletzt Lisa Dittrich in transnationaler Hinsicht auseinandergesetzt.25 Protestantische Parteien waren im ohnehin protestantisch dominierten Kaiserreich nicht notwendig, zumal die Konservativen und Liberalen die protestantischen Milieus bedienten. Dennoch kam es 1879 zur Gründung einer protestantischen Partei, nämlich der Christlich-sozialen Arbeiterpartei des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker. Sie ist aber vielmehr dadurch bekannt geworden, dass sie zugleich die erste antisemitische Partei überhaupt
wurde, der viele andere nachfolgten. Später stellten sich die Deutschnationale Volkspartei und die Deutsche Volkspartei in der Weimarer Republik in eine dezidiert antikatholische und konservativ-lutherische Tradition, während die Deutsche Demokratische Partei die liberalen Kulturprotestanten um Martin Rade, Friedrich Naumann und Ernst Troeltsch anzog. Wie aber war die Situation in anderen Ländern?26 3. Politischer Konfessionalismus in Europa Nicht nur in Deutschland, sondern auch in einigen anderen gemischtkonfessionellen Ländern kam es zur Gründung konfessioneller Parteien, die Martin Luther, Gustav Adolf, die Reformation und die postreformatorischen Konflikte im konfessionellen Zeitalter instrumentalisierten. Die erste Partei, die in den Niederlanden überhaupt gegründet wurde, war eine dezidiert protestantische, die vom calvinistischen Pastor und Politiker Abraham Kuyper 1879 gegründete Anti-Revolutionaire Partij (Anti-Revolutionäre Partei, ARP). Sie gilt als Vorläufer der Christdemokraten. Der wichtigste Punkt der ARP war die Gleichstellung von öffentlichen und privaten (kirchlichen) Schulen.27 Die Liberalen zogen 1885 nach, die Katholiken, vorwiegend lokal organisiert, noch später. Sie waren jahrhundertelang diskriminiert worden. Spezifisch für die Niederlande ist, daß es 1888 zu einer Koalition zwischen Protestanten und Katholiken gegen den Liberalismus kam. Auch die 1918 gegründete „Katholieke Staats Partij“ und die „Katholieke Volks Partij“ von 1945 gingen mit anderen Parteien pragmatische Koalitionen ein. Der politische Katholizismus war sehr einflussreich, etwa hinsichtlich der Familienpolitik. Diese Zusammenarbeit an der politischen Spitze konnte indes den gesellschaftlichen Versäulungsprozess nicht aufhalten.28 Dagegen führte die 1917 bzw. 1919 gegründete „Evangelische Volkspartei der Schweiz“ mit ihrem Zentralsekretär Arnold Muggli mit immer nur einem Parlamentsabgeordneten ein Kümmerdasein.29 Natürlich hatte auch Irland eine protestantische Partei: Die „Unionist Party“, 1905 gegründet, trat sie für die Union mit Großbritannien ein. Die Katholiken, die zur Unabhängigkeit strebten, gründeten 1858 zwei wirkungsvolle Geheimbünde, die Irish Republican Brotherhood in Dublin sowie die Fenian Brotherhood der Exiliren in New York. Interessanter am Fall Irland ist jedoch die frühe katholische Emanzipationsbewegung um Daniel O’Connell. Der Barrister und Politiker gründete 1823 die Catholic Association, die sich für die parlamentarische Vertretung der Katholiken in London einsetzte. Der Erfolg kam 1829 mit dem sog. Catholic Emancipation Act. Er strahlte nicht nur auf die britischen Juden aus, die ebenfalls emanzipiert werden wollten und es 1858 auch wurden, sondern der Erfolg der Catholic Association zeitigte Nachahmungseffekte
244 in ganz Europa. Sie inspirierte die ultramontanen Emanzipationsbewegungen in Frankreich und Deutschland, hier besonders die Piusvereine 1848, der „Urboden“ der Zentrumspartei.30 Manche Bayern fürchteten noch 1870, ihr Staat könne zu einem „deutschen Irland“ werden, wenn es einen vereinten Nationalstaat geben werde. O’Connels Emanzipationsbewegung hallte noch lange nach. Nun ist das protestantisch regierte katholische Irland nicht mehr als monokonfessionell zu bezeichnen. Der Bedarf an konfessionell-politischen Parteien war hier besonders evident. Aber brauchte man protestantische oder katholische Parteien in wirklich monokonfessionellen Ländern wie Spanien, Frankreich oder Belgien? Tatsächlich kam es auch dort zu politischen Repräsentationsformen für den Katholizismus, obwohl sie mit realen Konfessionskonflikten nichts zu tun hatten. Andererseits ist zu diskutieren, ob nicht virtuelle Konfessionsgegner – die Katholiken im katholikenfreien Schweden, die Protestanten im protestantenlosen Frankreich, die Juden im „Phantom-Antisemitismus“ Japans31, wo man erst nach 1868 überhaupt von ihrer Existenz hörte – im Phantom-Konfessionalismus ähnliche Mobilisierungseffekte nach sich ziehen konnten. Welche Reichweite soll der Konfessionsbegriff haben, der selber historisiert werden muss? Ob ein weiterer Religions- und Konfessionsbegriff den Sozialismus bzw. Liberalismus oder in Frankreich das heterogene Lager der Antiklerikalen, Freidenker, Atheisten und Laizisten als „konkurrierende ‚Konfession‘“ deklarieren kann, bleibt daher zu erwägen. Jedenfalls sprachen Zeitgenossen wie Ferdinand Buisson von „La foi laïque“, vom Laizismus als Glaubensbekenntnis.32 Längst war auch der zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgekommene und der Befriedung dienende Begriff Konfession (für Religionsgemeinschaften) konfessionalisiert, seit er die streng Konfessionellen von den Nichtkonfessionellen trennte. In Spanien stellte der Antiklerikalismus, wenn auch kein Glaubenssystem, so doch die „Klammer einer Alternativkultur“ aus Anarchisten, Sozialisten und Republikanern dar, in Frankreich einen „Teil der staatsbestimmenden Agenda“ der Dritten Republik. Keinesfalls ging der Antiklerikalismus in Atheismus auf, sondern war Teil des Aushandlungsprozesses über die „wahre“ Religion.33 Konfession bezeichnete im 19. Jahrhundert also einerseits das Spartenchristentum von Katholiken und Lutheranern, wie wir es verwenden, wurde andererseits aber selber zu einer Kampfvokabel, seit 1933 auch der Begriff „Entkonfessionalisierung“, der auf die Delegitimierung der christlichen Kirchen zielte. Insgesamt wird man aber sagen können, dass in monokatholischen Ländern der Katholizismus auf einen Laizismus prallte, der selber semireligiöse Züge annahm.34
Frankreich war seit 1789 in „les deux Frances“ gespalten, wobei die kirchenfrommen Katholiken royalistisch gesonnen blieben und stets gegen republikanisch-laizistische Kräfte kämpften. Wegen dieser schroffen Spaltung zögerten Katholiken, in einer katholischen Massenpartei die Republik zu bekämpften, die ihnen 1905 die befürchtete Trennung von Staat und Kirche bescherte. Führer der 1924 gegründeten „Fédération Nationale Catholique“, der Partei vieler Katholiken, fanden prominente Positionen in der Vichy Regierung, während auf der anderen Seite Katholiken zunehmend der Resistance zuneigten. Auch der politische Katholizismus Italiens begann im 19. Jahrhundert als „Anti-System“ gegen die Zerstörer des Vatikanstaates.35 Eine Massenpartei entstand – nach dem Vorbild der Zentrumspartei – erst 1919 mit der „Partito Popolare Italiano“, die bis 1922 an jeder Regierung beteiligt war, unter Mussolini aber kollabierte. Der Zusammenarbeit des Katholizismus mit dem Faschismus folgte 1945 die „Democrazia Cristiana“, eine de fakto katholische Partei, die bis in die 1990er Jahre Italiens Regierung dominierte. Während hier der konfessionelle Gegensatz im 20. Jahrhundert abschmolz, uferte er in Spanien zu besonderer Schärfe aus. Der radikale Republikanismus und ein stets gewaltbereiter Antiklerikalismus führte den Katholizismus dazu, 1922 eine Partei nach dem Vorbild der italienischen „Partito Popolare“ zu gründen. Kaum hatte 1931 die Zweite Republik die Militärdiktatur General Primo de Riveras von 1923 abgelöst, brannten in Madrid Kirchen, Klöster und Konfessionsschulen, was den Katholiken bestätigte, daß ihre simple Unterscheidung zwischen „Anti-Spanien“ und „wahrem Spanien“ triftig war. Nur das katholische war das wahre Spanien. Hier hallte das Echo einer „beinahe manichäischen Trennung von Gut und Böse, Kirche und Welt“, Rom oder Moskau. Tatsächlich wollte die neue Verfassung den Katholizismus aus der öffentlichen Sphäre gänzlich verbannen. Dagegen sammelten sich die rechten und katholischen Kräfte 1933 in der CEDA, der Spanischen Konföderation autonomer rechter Gruppen. Ihr Hauptziel war, christliche Prinzipien in Recht, Regierung und Staat zu etablieren. Es ginge um die Alternative zwischen „Revolution oder Redemption“. Folglich begrüßten die meisten Katholiken Franco 1936 als „Paladin ihrer Kirche“. Den Höhepunkt erlebte die „Rechristianisierung“ 1953 im Konkordat.36 Fast scheint es, als entspreche die dualistische Wahrnehmung der Katholiken, die in Deutschland zwischen katholisch und akatholisch trennten, einer Wirklichkeit. Auch in Belgien blieb die „versteckte Grenze zwischen Katholisch und Nicht-Katholisch eine dauerhafte Realität“. Dabei war Belgien zu 98
245 Prozent nominell katholisch. Aber diese Spaltung erklärt die relative Stabilität des politischen Katholizismus, der sozial, sprachlich und ideologisch unterschiedliche Gruppen zusammenband und die flämische und christlich-demokratische Herausforderung lange Zeit erfolgreich parieren konnte. Um 1900 sprach man vom „katholischen Paradies“ Belgien, so erfolgreich war der politische Katholizismus. Katholische Parteien waren von 1884 bis 1968 in fast jeder Regierung beteiligt und stellten die meisten Premierminister. Für 30 Jahre seit 1884 stellte die katholische Partei sogar die absolute Majorität im Parlament. Die Versäulung der Gesellschaft quer zu allen anderen Friktionen funktionierte ähnlich wie in den Niederlanden: Liberale, Sozialisten und Katholiken suchten getrennte Erziehungssysteme auf, eigene Jugendbewegungen, Gewerkschaften, Versicherungen und sogar Fußballvereine.37 Fazit Die Beziehung zwischen „Herrschaft und Konfession“ verkomplizierte sich seit der Säkularisation um 1800. Politik und Religion entwickelten ein Eigenleben in je eigenen Systemen, das bald zu Konflikten führte. Unser knappes Panorama protestantischer, aber vor allem katholischer politischer Bewegungen und Parteien in Europa zeigt, daß es allenthalben um das Neuarrangement des Verhältnisses von Kirche und Staat ging. Sowohl der Konfessionalismus wie der Antiklerikalismus sind als Teil der Aushandlungsstrategie über alte und neue Orientierungen, traditionelle und moderne Religiosität zu verstehen. Die Konflikte waren keinesfalls auf Deutschland beschränkt, sondern fanden sich auch in anderen mehr- und monokonfessionellen Ländern. Nicht nur der politische Konfessionalismus wurde ein internationales und darüber hinaus transnationales Phänomen, indem erfolgreiche katholische Bewegungen und Parteien sich länderübergreifend inspirierten und imitierten.38 Auch Konfessionalismus und Antiklerikalismus sind nicht als nationalspezifische, sondern als transnationale Phänomene anzusehen. Sie wurzelten nicht direkt in der Reformation des 16. Jahrhunderts, sondern wurden im 19. Jahrhundert erst massenwirksam vitalisiert. An dieses teils verheerende, teils segensreiche Erbe der Reformation, an ihre destruktiven und produktiven Folgen wird im Jahre 2017 erinnert. Literatur 1
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976 (5. Aufl., zuerst: 1921), S. 28f. Albert Ehrhard, Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit, Stuttgart 190212, S. 287. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, S. 44; Borutta leitet sein
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Buch mit Ehrhards Zitat ein (S. 11), ohne die ursprüngliche Wiederentdeckung und Interpretation anzugeben. Vgl. bereits Olaf Blaschke, Das Deutsche Kaiserreich im Zeitalter der Kulturkämpfe, in: Sven Oliver Müller u. Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse – Probleme und Perspektiven (FS Hans-Ulrich Wehler), Göttingen 2008, S. 185-202, 185f. Wolfram Kaiser, „Clericalism – that is our enemy!“: European anticlericalism and the culture wars, in: ders. / Christopher Clark (Hg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, S. 47–76, 50. Christopher Clark / Wolfram Kaiser, The European culture wars, in: dies. (Hg.), Culture Wars, S. 1–10, 6. Dabei wird der deutsche Begriff „Kulturkampf“ als „struggle of cultures“ übersetzt, „cultur wars“ dagegen als absichtliche Fehlübersetzung von „Kulturkampf“ verwendet, weil sie die Essenz des deutschen Begriffs enthalte, ohne diese zu replizieren, jedoch zugleich eine umfassendere Anwendbarkeit als der Kulturkampfbegriff erlaube. Vgl. jedoch bereits Winfried Becker, Der Kulturkampf als europäisches und als deutsches Phänomen, in: HJB 101 (1981), S. 422–46. Lisa Dittrich, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914), Göttingen 2014, S. 12. Vgl. aus mißtrauischer zeitgenössischer Perspektive bereits Ludwig Koch, Hundert Jahre Kulturkampf in Mexiko, in: Stimmen der Zeit, Bd. 113, 1927, S. 7–19. Art.: Deutschland, in: Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl., Bd. 4, Leipzig/Wien 1886, S. 800–912, 817–820, 905f. Vgl. die farbigen Abbildungen und Interpretationen in: Olaf Blaschke Antisemitismus Nebensache: Verhältnis und Verflechtung von Feindbildkomplexen in der Kulturkampfzeit, in: Katharina Rauschenberger u. Werner Konitzer (Hg.), Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments = Fritz Bauer Institut Jahrbuch 2015 zu Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt 2015, S. 51–78, 74–78. Dieter Langewiesche, „Volksbildung“ und „Leserlenkung“ in Deutschland von der wilhelminischen Ära bis zur nationalsozialistischen Diktatur, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 14 (1989), S. 108–25, 110. Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt 2009, S. 74–76. Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985, S. 218. Vgl. Olaf Blaschke, Der „Dämon des Konfessionalismus“. Einführende Überlegungen, in: ders. (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, S. 13–69, 24, 34;
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zur Begriffsgeschichte von Konfession und Konfessionalismus unabdingbar: Lucian Hölscher, Konfessionspolitik in Deutschland zwischen Glaubensstreit und Koexistenz, in: ders. (Hrsg.), Baupläne der sichtbaren Kirche. Sprachliche Konzepte religiöser Vergemeinschaftung in Europa, Göttingen 2007, S. 11–53. Ziemann, S. 74, als nicht belegte und auch nicht belegbare Vorhaltung gegen den Vorschlag eines zweiten konfessionellen Zeitalters. Wer versteht den Protestantismus als „in sich geschlossene Konfession“? Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Gestalten und Typen des Neuluthertums. Beiträge zur Erforschung des Neokonfessionalismus im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1968. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012; Michael Maurer (Hrsg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln u.a. 2010; Wichmann von Meding, Jubel ohne Glauben? Das Reformationsjubiläum 1817 in Württemberg, in: ZfKG 93, 1982, S. 119–160. Veit Mühlbach, Die Reformationsfeiern von 1817 und 1841 als bürgerliche Erinnerungsfeste, in: Werner Freitag u. Katrin Minner (Hrsg.), Vergnügen und Inszenierung. Stationen städtischer Festkultur in Halle, Halle 2004, S. 89–98. Älteren Datums: Lutz Winckler, Martin Luther als Bürger und Patriot: das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck 1969. Martin Fuhrmann, Das Reformationsjubiläum 1817: Martin Luther und die Reformation im Urteil der protestantischen Festpredigt des Jahres 1817, Diss., Tübingen 1973. Manfred Klug, Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn 1995, S. 96, spricht gar von der Entwicklung eines „neuen konfessionellen Zeitalters“ seit dem Reformationsjubiläum 1817. „Bei den schlichten Gemütern unter den geborenen Protestanten... schrumpfte der nicht mehr eigentliche Protestantismus auf Antikatholizismus zusammen; beides hielt dann einander am Leben: Weil man protestantisch geboren war, blieb man anti-katholisch und weil man anti-katholisch war, fühlte man sich ‚protestantisch‘.“ Nipperdey, Umbruch, S. 155. Johann G. A. Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. (Hrsg.) In 2 Heften. Neustadt an der Haard 1832, S. 18, 35f. (Siebenpfeiffer), 41, 59, 76, 78, 81, 88. Andreas Lindt, Das Reformationsjubiläum 1817 und das Ende des „Tauwetters“ zwischen Protestantismus und Katholizismus im frühen 19. Jahrhundert, in: Bernd Jaspert/Rudolf Mohr (Hrsg.), Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. FS Winfried Zeller, Marburg 1976, S. 347–356. Zuletzt dazu mit vergleichenden Karten (Bevölkerung und Wahlverhalten): Olaf Blaschke, Die Kir-
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chen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 65–73. Vgl. Siegfried Weichlein, Der Apostel der Deutschen. Die konfessionspolitische Konstruktion des Bonifatius im 19. Jahrhundert, in: Blaschke (Hrsg.), S. 155–180. Vgl. Paul Majunke, Luthers Lebensende. Eine historische Untersuchung, Mainz 1891 (5. Aufl.); das Werk wurde 2011 vom Europäischen Geschichtsverlag, Paderborn, neu aufgelegt. Zum katholischen Antiprotestantismus vgl. Olaf Blaschke, Antiprotestantismus und Antikatholizismus als globalgeschichtliche Phänomene seit 1789, in: Tobias Sarx, Rajah Scheepers u. Michael Stahl (Hg.), Protestantismus und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte von Kirche und Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert. Jochen-Christoph Kaiser zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2013, S. 263–280; ders., Anti-Protestantism and Anti-Catholicism in the 19th Centruy: A Comparison, in: Yvonne Maria Werner u. Jonas Harvard (Hg.), European Anti-Catholicism in a Comparative and Transnational Perspective, Amsterdam/New York 2013, S. 115–134. Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, Bd. 1, Köln 1928, S. 12. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 155. Michael B. Gross, The War against Catholics. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor, 2004; Borutta, Antikatholizismus; Ari Joskowicz, The Modernity of Others. Jewish Anti-Catholicism in Germany and France, Stanford 2014; Dittrich, Antiklerikalismus. Zentral auch: Christopher Clark u. Wolfram Kaiser (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europé. Cambridge 2009; Timothy Verhoeven, Transatlantic Anti-Catholicism. France and the United States in the Nineteenth Century, Basingstoke 2010; Werner u. Harvard (Hg.), European Anti-Catholicism. Vgl. Michael Klein, Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien, Tübingen 2005, S. 21-52. Jonn von Zuthem, Der unheilige Pakt zwischen „Rom und Dordrecht“. Die ewige Auseinandersetzung über die moralische Berechtigung der politischen Vernunftehe zweier geborener Erbfeinde, in: Horst Lademacher, Renate Loos, Simon Groenveld (Hrsg.), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, S. 504–541. Vgl. Paul Luykx, Katholizismus und Modernisierung in den Niederlanden: Kontinuitätslinien und Bruchzonen. „Versäulung“ und sozialer Wandel in der niederländischen Gesellschaft (1920-1960), in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hrsg.), Politische Zäsuren und Gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 667–687; Wilhelm
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Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 19451980, Paderborn 1997. Vgl. als Überblick Walter Braun, Evangelische Parteien in historischer Darstellung und sozialwissenschaftlicher Beleuchtung, Diss., Mannheim, 1939. Bachem, Bd. 2, Köln 1929, S. 17f. Vgl. zur Ausstrahlungskraft Irlands: Bernhard Schneider, Insel der Märtyrer oder ein Volk von Rebellen? Deutschlands Katholiken und die irische Nationalbewegung in der Ära Daniel O‘Connells (ca. 1820–1847), in: Historisches Jahrbuch 128 (2008) S. 225–275. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1235. Ferdinand Buisson, La Foi laïque. Extraits de discours et d’écrits (1878–1911), Paris 1913. Daniel Mollenhauer, Symbolkämpfe um die Nation. Katholiken und Laizisten in Frankreich (1871–1914), in Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt, 2004, 202–230, S. 205.
33 Dittrich, S. 110, 113, vgl. S. 363–365. Kirchenkritik sei aber nicht zu einer „Art neuer Konfession“ ausgeartet, S. 429, sondern eher ein kultureller Code. 34 Zum europäischen Katholizismus vgl. Nicholas Atkin u. Frank Tallett, Priests, Prelates and People: A History of European Catholicism Since 1750, New York 2005. Tom Buchanan u. Martin Conway, Political Catholicism in Europe 1918–1965, Oxford 1996. Zur „Entkonfessionalisierung“ vgl. Hölscher. 35 John Pollard, Italy, in: Buchanan u. Conway, S. 69– 96, 70. 36 Mary Vincent, Spain, in: Conway u. Buchanan (Hrsg.), S. 97–128, 107f., 111. 37 Martin Conway, Belgium, in: ders. u. Buchanan (Hrsg.), S. 187–218, 210, 212, 217. 38 Ausführlicher: Olaf Blaschke, Transnationale Parteigeschichte. Das Zentrum zwischen kleindeutschem Zuständigkeitsbereich und „schwarzer Internationale“, in: Andreas Linsenmann und Markus Raasch (Hg.), Die Zentrumspartei im Kaiserreich. Bilanz und Perspektiven, Münster 2015, S. 341– 368
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Kampf der Ziegel. Die Auswirkungen der Reformation auf den Berliner Kirchenbau um 1900 Der Beitrag widmet sich den Auswirkungen der Reformation auf den historistischen Kirchenbau um 1900. An Beispielen wird gezeigt, wie unterschiedlich man von evangelischer und katholischer Seite den Übertritt des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg im Jahr 1539 zur neuen Lehre bewertete. Dabei wird der Fokus auf mentalitätsgeschichtliche Quellen gelegt, hier auf die in Massenauflagen erschienenen Geschichtsheftchen, Kirchenfestschriften und die regionale und überregionale Tagespresse. Der Konflikt um die Deutungshoheit spiegelt sich jedoch auch in der Architektur und bildenden Kunst des Historismus. Seine wohl skurrilste Ausdrucksform findet er in der Verwendung von zwei Ziegelformaten. Der Rückgriff auf den mittelalterlichen Klosterziegel seitens der Katholiken sollte an die vorreformatorische Geschichte Brandenburg-Preußens erinnern und spielte zudem auf die Lehninsche Weissagung an, die den Untergang des Hohenzollernhauses prophezeite. Der Reichsziegel sollte die Treue zu Kaiser und Abb. 1: Porträt von Joachim II. von Brandenburg, Gemälde von Lucas Reich demonstrieren, wobei den Cranach dem Jüngeren, um 1550–70; Berlin, Jagdschloss Grunewald Katholiken abgesprochen wurde, (Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg) gute Deutsche sein zu können, da sie dem Papst als übergeordnete Autorität folgten. Es geht um die Nachbeben des Bismarck‘schen Kulturkampfes, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein spürbar sind.
Abb. 2: Übertritt Joachims II. am 1. November 1539 zum evangelischen Bekenntnis, Gemälde von Carl Röhling, 1913; Berlin-Spandau, St. Nikolai (ev. Kirchengemeinde)
1. Prolog: „… ein geschwetz unnd gelechter“ Aus Wittenberger Sicht lief die Einführung der Reformation in Berlin nicht rund. Zwar hatte Kurfürst Joachim II. von Brandenburg (1505–1571) (Abb. 1) am 1. November 1539 das Abendmahl nach neuem Ritus, also in beiderlei Gestalt empfangen, doch blieb sein damit ›offiziell‹ vollzogener Übertritt zur neuen Lehre, anders als es die vielen späteren Darstellungen – wie das historistische Gemälde von Carl Röhling (1849–1922) (Abb. 2) – suggerieren wollen, eher ein Lippenbekenntnis. Denn der Kurfürst beließ es in seiner Berlin-Cöllner Stiftskirche weitgehend bei der alten Liturgie mit dem althergebrachten Heiligen- und Reliquienkult. Dabei entfal-
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Abb. 3: Kath. Kirche St. Bonifatius in Berlin-Kreuzberg (1906–07) von Max Hasak (1856–1934)
tete er zudem noch eine materielle Pracht, die sich rasch herumsprach. Martin Luther (1483–1546) tröstete deshalb den sich beklagenden Berliner Probst Georg Buchholzer (1503–1566) und forderte ihn auf durchzuhalten: „So gehet in Gottes Namen mit herumb und tragt ein silbern oder gülden Creutz unnd Chorkappe oder Chorrock von Sammet, Seiden oder Leinwandt, und hat ewer Herr, der Churfürst, an einer Chorkappe oder Chorrock nicht genug, die jr anziehet, so ziehet der 3 an, Wie Aaron der Hohe Priester 3 Röcke uber einander anzog, die herrlich und schön waren, daher man die Kir-
chenkleider im Babstum Ornata genannt, haben auch jre Churfürstliche G.[naden] nicht genug an einem Circuitu oder Procession, das jr umbher gehet, klingt und singet, so gehet sieben mal mit herumb [...]“.1 Versuchte Luther damit seinen getreuen Anhänger zu beschwichtigen, mahnte er gleichzeitig den Kurfürsten ob seines Tuns und dass er von all dem lassen solle, damit „der Teuffel nicht aus der gantzen Reformation ein geschwetz unnd gelechter anrichte“.2 Den historischen Tatsachen zum Trotz wurde vor allem im 19. Jahrhundert nur allzu bereitwillig un-
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Abb. 4: Ev. Kirche Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg (1892–94) von Franz Schwechten (1841–1924)
ter den Teppich gekehrt, dass Joachim II. bei seiner aus einem Dominikanerkloster hervorgegangenen Stiftskirche3 auch nach seinem Übertritt zum Protestantismus weiterhin weniger nach Wittenberg schaute, als vielmehr nach Halle an der Saale. Dort hatte Luthers Gegenspieler, Joachims Onkel Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545), ein Stift errichtet, das in allen Teilen jenem des Kurfürsten als Vorbild diente.4 Die Berliner Reformationsverhältnisse veranschaulichen indes einen idealtypischen Fall für jene ‚Übergangszeit‘, in der Altes und Neues noch lange
nebeneinander bestanden; hier am Beispiel eines Landesherrn, der sich aus politischer Notwendigkeit heraus den Neuerungen nicht verschloss, um dennoch ‚persönlich‘ an der ‚Tradition des Sakralen‘ festzuhalten. Dies wurde bereits 1906 in einer quellengestützten Studie von Nikolaus Müller (1857–1912) herausgearbeitet5, doch blieb sie über Generationen weitgehend unbeachtet. Dabei konnte es beispielsweise der Berliner Reliquienschatz Joachims II. durchaus mit dem von Luther immer wieder verspotteten ‚Halleschen Heiltum‘ seines Oheims, Kardinal Albrecht, aufnehmen.
251 Ja, er profitierte wie dieser von den reformationsbedingten Kirchen- und Klosterauflösungen, denn auch Joachim II. ließ – wie schon sein Onkel – die jeweiligen Bestände an Reliquiaren seinem Reliquienschatz einverleiben.6 Und wie Kardinal Albrecht von Brandenburg beauftragte auch Kurfürst Joachim II. Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553) und seine leistungsstarke Werkstatt mit einem umfangreichen Heiligen- und Passionszyklus, den er, analog zu Halle, auf die Berliner Stiftskirchenaltäre verbringen ließ und in eine Liturgie einband, die er ebenfalls aus Halle entlehnt hatte.7 Die von Joachim II. in nur wenigen Jahren geschaffene Ausstattung seiner Berliner Stiftskirche verblieb in Teilen noch weit nach seinem Tod (1571) am Ort ihrer ursprünglichen Bestimmung und ist ein Beleg dafür, dass katholische Auftragswerke auch im Kerngebiet von Brandenburg-Preußen noch nach dem Tridentinum fortbestanden und in einen altkirchlichen Kultus eingebunden waren. Doch die Reformation entwickelte – wie im gesamten mitteldeutschen Raum – auch in der Mark Brandenburg eine Eigendynamik, die spätestens mit Joachims Tod zu einer breiten reformatorischen Bewegung führte. Die Anhänger des alten Glaubens gerieten allmählich in die Minderheit. ›Ihre‹ mittelalterlichen Kirchen dienten seit der Einführung der Reformation dem evangelischen Gottesdienst. Erst ca. zweihundert Jahre später wurde 1750 in Berlin wieder eine katholische Kirche (Sankt Hedwig, Berlin-Mitte) errichtet. Mit großem zeitlichem Abstand folgte 1861 Sankt Michael am Engelbecken. Beide Gotteshäuser sind, was sich bei den später gebauten katholischen Kirchen ändern wird, im gleichen Baumaterial wie die evangelischen Kirchen gehalten. 2. Die Ausgangslage In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts profitierte auch die römisch-katholische Kirche von der wirtschaftlichen Prosperität der Reichshauptstadt, da auch die Zahl der Katholiken in Berlin bis um 1900 ungewöhnlich stark anwuchs. Jedoch verbanden sich damit, wie Hans-Georg Aschoff in seinem Abriss zu „Berlin als katholische Diaspora“ ausführt, für die Seelsorge mehrere Problemkreise: „Das Heraustreten aus alten kulturellen Bindungen und sozialen Verflechtungen und der Einfluß einer ungläubigen, antikirchlichen oder indifferenten Umwelt förderten ebenso wie die schweren Belastungen im Berufsleben die religiöse Gleichgültigkeit und die Entfremdung vieler zugewanderter Katholiken von der Kirche. Einen Teil der Arbeiterschaft verlor die katholische Kirche an die sozialistische Bewegung, die teilweise einen militanten Atheismus vertrat […]. Die spezifischen Gefahren der Diasporasituation bestanden entweder in der Preisgabe der konfessionellen Identität oder in der Konzentration auf den eigenen konfessionellen Bereich, was zur Abkapselung von der konfessionellen Mehrheit
und von modernen Entwicklungen führen konnte“.8 Erschwert wurde die Situation weiterhin dadurch, dass die jungen katholischen Kirchengemeinden vor einem Neuanfang standen. Die Bautätigkeit seitens der katholischen Gemeinden war um 1900 im Vergleich zu den beiden Jahrhunderten zuvor zwar um ein Vielfaches angestiegen, blieb jedoch weit hinter jener der evangelischen Kirche zurück: Das explosionsartige Anwachsen der Berliner Bevölkerung nach der Reichsgründung, aber vor allem in der Regierungszeit (1888–1918) Kaiser Wilhelms II. (1859–1941) um über eineinhalb Millionen Einwohner führte bei beiden Konfessionen zu einem regelrechten Bauboom (Abb. 3 und 4). Auf evangelischer Seite entstanden, gefördert durch den am 15. Mai 1890 sich konstituierenden Evangelischen Kirchenbau-Verein, in nur zehn Jahren fast drei Dutzend (!) neue Kirchen in Berlin. Im Zeitraum von 25 Jahren konnten etwa 75 Kirchen gebaut werden, d.h., dass statistisch gesehen etwa alle vier Monate eine neue evangelische Kirche in der Reichshauptstadt geweiht wurde!9 Deutlich geringer fiel die Zahl (27 Kirchen in West-Berlin) auf katholischer Seite aus.10 Viele der evangelischen Kirchenfassaden reduzierten sich für die Katholiken zu einer reinen Propaganda der ›preußischen Staatskirche‹ – kommuniziert über die Architektur- und Materialikonologie und das ikonographische Programm von Skulpturen oder Reliefs. Und wie eine Schlagzeile für derart transportierte Subtexte prangte an der Schauseite des Berliner Doms in goldenen Lettern die Inschrift „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“. Die Wirkung auf die katholische Bevölkerung muss beachtlich gewesen sein, zumal sie über den politischen Aspekt der großzügigen staatlichen Förderung des evangelischen Kirchenneubaus nicht im Unklaren gelassen wurde: „Die Annahme des lutherischen Glaubensbekenntnisses durch den Kurfürsten Joachim II. hat die Hohenzollern zum Herren im eigenen Hause gemacht; darin liegt die politische Bedeutung der Reformation in der Mark. Es wäre schlechterdings unmöglich gewesen, einen Staat [...] zusammenzufügen, wenn man die Herrschaft mit der Kirche hätte teilen müssen“.11 Unter den gegebenen Bedingungen bildete die katholische Bevölkerung Strategien aus, um ihre konfessionelle Identität zu sichern und den Anschluss an moderne Entwicklungen zu gewinnen. So erinnerten die Katholiken auf unterschiedlichste Weise an ‚ihre‘ Geschichte, waren es doch katholische önche gewesen, die weit vor der Zeit der Reformation das Kernland Preußens missioniert, dessen Bewohner bekehrt und damit – nach ihrer Lesart – überhaupt erst die Voraussetzung geschaffen hatten, auf deren Basis der preußische Staat habe Wurzeln fassen können. Als legitime ‚Erben‘ hätten die Katholiken folglich ein Anrecht auf einen gebührenden Platz im Staat.
252 Das dem katholischen Geschichtsnarrativ inhärente Moment der Kontinuität traf allerdings ins Mark des evangelischen Glaubens- und Geschichtsverständnisses. Heftige Reaktionen blieben nicht aus. Johannes Eck (1486–1543) hatte für den Konflikt die Saat gelegt, die in der Wilhelminischen Ära die abenteuerlichsten Früchte trug: Auf der Leipziger Disputation von 1519 warf Eck Martin Luther vor, die neue Lehre sei wider den ununterbrochenen vergangenen und gegenwärtigen Konsens von Schrift, Vätern, Theologen, Konzilien und Päpsten, mit anderen Worten: geschichtslos. Ecks singularitas-Vorwurf war noch im späten Historismus produktiv – beredtes Zeugnis dafür legt die sogenannte ‚graue Literatur‘ ab. Die in Massenauflagen gedruckten ‚Geschichtswerkchen‘ enthielten die unterschiedlichsten Positionen zu Preußens Historie, seinem Ursprung und Werden. Darin pochten die Katholiken auf ihre Rolle als die eigentlichen ‚Kulturträger‘ – hatten doch ‚ihre‘ Vorfahren, die Zisterziensermönche, die Mark Brandenburg christianisiert – und billigten der evangelischen Kirche nur eine Geschichte nach dem Jahre 1539 zu. Die andere Seite konterte u. a. am 350. Jahrestag der Einführung der Reformation, am 1. November 1889, in der ‚Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen‘, der ‚Vossischen Zeitung‘, ebenso unversöhnlich: „Der Katholizismus hat die Mark niemals verloren, weil er sie niemals besessen hat. Die ausbreitende Kraft, welche der katholischen Kirche innewohnte, fand ihre Schranke an dem eigentümlichen, hartnäckigen und hartverständigen Volksschlage, der die Streusandbüchse des deutschen Reiches bewohnt. Er hatte den Katholizismus wohl angenommen, aber nicht in sich aufgenommen. Er beachtete die äußeren Formen, aber unter einem dünnen Firnis erhielt sich das alte Heidentum mit großer Zähigkeit. Erst in der neuen Form wurde das Christentum dem märkischen Bauerngeschlecht annehmbar; es wurde an demselben Tage christlich und lutherisch“.12 3. Klosterziegel contra Reichsziegel, katholisch contra evangelisch In dem erbittert ausgetragenen konfessionellen und politischen Konflikt bemühten beide Lager eigene, jeweils auf ihr Anliegen zugeschnittene (und damit ihre Argumentation fördernde) ›Geschichtsentwürfe‹, die – bedingt dadurch, dass Geschichte im Zeichen des Historismus nahezu alle Lebensbereiche durchdringt – in unterschiedlichsten Formen in Erscheinung traten. Die aus heutiger Sicht skurrilste Spielart war, dass mit Hilfe eines mittelalterlichen Ziegelformates in der Reichshauptstadt Berlin an die vorreformatorische Entstehungsgeschichte Preußens erinnert werden sollte.13 Die Berliner Kirchen beider Konfessionen der Jahrhundertwende bezogen ihre Stilvorbilder meist aus der märkischen Backsteingotik. Und dennoch ist ein wesentlicher Unterschied zu konstatieren: Die ka-
tholischen Kirchengemeinden vermauerten für ihre Kirchenneubauten ein anderes Ziegelformat, als es bei den evangelischen Kirchen Verwendung fand. Beim evangelischen Kirchenbau bedeutete die märkische Backsteingotik, ausgeführt mit dem deutschen Standardziegel, lediglich einen Bezug auf die regionale Bautradition – eine Referenz, wie sie für fast alle Landschaften des Deutschen Reiches im Historismus zu beobachten ist. Der Rekurs auf regional-historische Baustile – realisiert mit modernen Baustoffen – bietet demnach keine Besonderheit. Beim katholischen Kirchenbau, der ebenfalls aus dem Formenvokabular der märkischen Backsteingotik schöpfte, gibt es ein wichtiges und für die Auftraggeber mit ideologischer Bedeutung aufgeladenes Unterscheidungsmerkmal: Die katholischen Kirchengemeinden bauten mit dem mittelalterlichen ›Klosterziegel‹ (Abb. 5), der sich als Handstrichstein nicht nur im Format, sondern auch in der raueren Oberflächenstruktur deutlich von dem ›BacksteinNormalformat‹ (Abb. 6) abhob. Wie der industriell produzierte ›preußische‹ Normziegelstein auszusehen hatte und wo er einzusetzen sei, war im Zuge der deutschen Einheit verbindlich geregelt worden. Am 13. Oktober 1870 wurde der „Zirkular-Erlass des Preussischen Handels-Ministers über die Einführung des neuen Ziegelformats“ in Kraft gesetzt: „Zu allen gewöhnlichen Staatsbauten, die nach dem 1. Januar [1871] zur Ausführung kommen, sind [...] in der Regel nur Mauersteine anzukaufen und zu verwenden, welche in gebranntem Zustande 25 Zentimeter lang, 12 Zentimeter breit und 6½ Zentimeter dick sind“.14 Der Erlass räumte eine einjährige Übergangszeit ein, danach (ab dem 1. Januar 1872) sei verbindlich „das bezeichnete Normalformat zu Grunde zu legen“.15 Damit war, in Zusammenhang mit der Einführung des metrischen Systems für Deutschland, ein einheitliches ZiegelNormalformat geschaffen, das als ›Reichsformat‹ bekannt wurde. Im Zuge der staatlichen Einigung (Kaiserproklamation in Versailles am 18. Januar 1871) war somit vom preußischen Handelsministerium auch die ‚Einigung‘ der Ziegel erfolgt, der ‚Reichsziegel‘ gekürt. Der im handwerklichen Verfahren hergestellte ‚Klosterziegel‘ kam die katholischen Kirchengemeinden teuer zu stehen. Er war nicht nur in der Herstellung aufwendiger als der ‚Reichsziegel‘, sondern auch bei der Verarbeitung, verhinderten doch Größe und Gewicht das Vermauern im damals üblichen Akkordverfahren. Doch nicht nur im Ziegelformat unterschieden sich die katholischen von den evangelischen Kirchen des Historismus, sondern auch in den Mauerverbänden. Bei den katholischen Kirchenbauten kamen entweder der ‚märkische‘ oder der ‚gotische‘ Verband zur Anwendung: Beim ‚Märkischen Verband‘ werden die Ziegel abwechselnd mit zwei Längsseiten (Läufer) und einer Kopfseite (Binder)
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Abb. 5: Klosterziegel im Gotischen Verband (1 Meter Wandlänge)
Abb. 6: Reichsziegel im Binderverband (1 Meter Wandlänge)
254 liegend vermauert. Dabei sind die Schichten so gegeneinander verschoben, dass die Fläche ein geschlossenes, teppichartiges Aussehen erhält. Beim ‚Gotischen Verband‘ wechselt sich ein Läufer mit einem Binder ab, wodurch eine ähnliche Flächenwirkung wie beim ‚Märkischen Verband‘ erzielt wird. Bei den meisten evangelischen Kirchen hingegen errichtete man das Mauerwerk im ‚Kreuzverband‘ (Binder- und Läuferschichten wechseln regelmäßig) oder im ‚Binderverband‘ (die Ziegel sind dabei nur mit ihrer Schmalseite zu sehen, jeweils um eine halbe Kopfbreite versetzt). Man nahm also auf katholischer Seite eigens Bezug auf sogenannte ‚Historische Verbände‘, um, vermittelt über die tektonische Verarbeitung des Ziegels, inhaltliche Aussagen transportieren zu können. 4. Planwechsel 1896–98: Ziegel als Argument Der Anfang der Verwendung des Baumaterials Klosterziegel und der Rückgriff auf historische Mauerverbände ist mit dem Planwechsel von St. Marien am Behnitz in Spandau (bei Berlin) vom ersten Projekt 1896 hin zum zweiten Projekt 1898 nachzuweisen; die Kirche wurde an anderer Stelle in veränderter Form realisiert.16 Der erste Entwurf von Christoph Hehl – der Architekt wird weiter unten näher vorgestellt – war der niedersächsischen Baukunst verpflichtet gewesen, der zweite von 1898 der „märkischen Backsteinarchitektur am Ausgange des XIII. Jahrhunderts“.17 Hehls erster Berliner Sakralbau, die Herz-JesuKirche in Berlin-Prenzlauer Berg (1897–98), zeigt wohl den Stil, in dem wir uns das erste Projekt von St. Marien in Spandau zu denken haben: „Was die äussere Ausbildung des in den Formen des romanischen Stils Niedersachsens des XII. Jahrhunderts gehaltenen Bauwerkes betrifft, so wurde für die Strassenfassade als Material Muschelkalk-Bruchstein in regelloser Fugenordnung für die Flächen und schlesischer Sandstein für die Architekturtheile gewählt“.18 Zur zweiten Projektierung für St. Marien am Behnitz in Spandau (Abb. 7) erfahren wir aus den Kirchenprotokollen, dass der Pfarrer der Kirche gar nicht glücklich war mit dem beim Planwechsel gewählten märkischen Backsteinstil. Pfarrer Kirmes akzeptierte letztendlich zwar die von Hehl präsentierten Entwürfe, bekannte jedoch freiheraus, dass er sich insbesondere „mit den Spitzbögen, die allerdings der Übergangsstil des 13. Jahrhunderts bedingt, noch immer nicht befreunden konnte“.19 Die Treue zum Stil der märkischen Architektur des 13. Jahrhunderts, genauer zu der des Übergangsstils von der Romanik zur Frühgotik, war dem Auftraggeber aber nunmehr wichtiger, als seinem eigenen Geschmacksurteil zu folgen. Die persönlichen ästhetischen Vorlieben mussten zugunsten politischer Assoziationen zurücktreten: Mit dem Neubau wollte man bewusst an die vorreformatorische Zeit Preußens anknüpfen und baute deshalb im Stil des
Abb. 7: Entwurfszeichnung in Bleistift für den unausgeführten Neubau der kath. St. Marien-Kirche am Behnitz in Spandau von Christoph Hehl von 1898 mit Haupteingang, Turm und Pfarrhaus; Pfarrarchiv
13./14. Jahrhunderts und mit dem Klosterziegel, dem Baumaterial der ersten Kloster- und Kirchenbauten der Zisterzienser der Mark Brandenburg. Wer auf die Idee kam, mittels Baustil und Material identitätsstiftend zu wirken, muss offen bleiben. Ganz sicher aber ist sie nicht in der Spandauer Kirchengemeinde geboren worden. Vielmehr wird man wohl an Josef Deitmer (1865–1929), den späteren ersten Weihbischof von Berlin (1923), und Georg Kopp (1837–1914, Fürstbischof von Breslau 1887, Kardinal 1893) denken müssen; letzterer spielte eine entscheidende Rolle im ‚Kulturkampf‘. In der Person Hehls fand man den Architekten, der diesen Gedanken kongenial umzusetzen verstand. 5. Der Architekt Christoph Hehl Christoph Hehl (1847–1911)20, von Beruf nicht nur Architekt, sondern auch Professor für mittelalterliche Baukunst an der Königlich Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg, schien einigen Pfarrgemeinden besonders geeignet, die Anknüpfung an die märkische Bautradition der Zisterzienser zu gewährleisten. Hehl war in einer Zeit, die vom Aufbruch in die Moderne bestimmt war, ganz und gar dem Historismus verpflichtet geblieben.
255 Schon früh entwickelte er, angeregt durch den Unterricht bei Georg Gottlob Ungewitter (1820–1864), eine Vorliebe für den „Stil der Alten“ und sollte diesem treu bleiben. Ungewitter lehrte vor allem die Anwendung der Formensprache des Mittelalters an der Kasseler Höheren Gewerbeschule. Hehl ging, um die praktische Seite seiner Ausbildung zu vervollkommnen, von 1867 bis 1869 nach England, um dort in verschiedenen Architekturbüros zu arbeiten. Die wichtigste Station war der Aufenthalt bei Sir George Gilbert Scott d.Ä. (1811–1878) in London. 1869 finden wir Hehl wieder in Deutschland, genauer in Hannover, wo er im Büro von Edwin Oppler (1831–1880) arbeitete und gleichzeitig am damaligen Polytechnikum, der späteren Technischen Universität, immatrikuliert war. Hier wurde der Neugotiker Conrad Wilhelm Hase (1818–1902) zu seinem bedeutendsten Lehrer. Im Jahre 1870 wurde Hehl „Königlicher Bauführer“. Er machte sich 1872 selbständig; 1873 erhielt er seinen ersten Auftrag als freier Architekt, ein Jahr später heiratete er. Hehl erarbeitete sich rasch einen Namen auch über die Grenzen Hannovers hinaus; 1894 erhielt er den Ruf als Professor für mittelalterliche Baugeschichte nach Berlin. Bis zum Wechsel nach Berlin hatte er bereits ca. 130 Bauprojekte realisiert; in der Reichshauptstadt setzte er seine erfolgreiche Tätigkeit als Architekt fort. 6. Katholische Kirchenbauten um 1900 Hatte Hehl zuvor auch auf dem Gebiet der Profanarchitektur gearbeitet, so fällt nun für die Berliner Zeit auf, dass er ausnahmslos im Auftrag der Kirche baute, und zwar nur noch für die katholische. Im Zeitraum von 1894 bis zu seinem Tod 1911 errichtete er neun Kirchen oder war zumindest noch an deren Planung beteiligt. Sieben von ihnen sind im Stil der ‚märkischen Backsteingotik‘ ausgeführt und sollten, vermittelt über ihre Architektursprache, die oben beschriebene Botschaft transportieren. Da sich nun auch die evangelische Kirche bei ihren Neubauten z. T. am Formenkanon der mittelalterlichen Backsteinbauten der Mark Brandenburg bediente – wir befinden uns stilgeschichtlich im späten Historismus – kommt den Schriftquellen für die Begründung bei der Wahl des Baustils für die katholischen Kirchen eine große Bedeutung zu. Rosenkranz-Basilika, Steglitz Ein Aufsatz in der ‚Berliner Architekturwelt‘ vermerkt zur 1899/1900 erbauten Rosenkranz-Basilika in Steglitz21 (Abb. 8): „Zu der Wahl [... der] Bauformen drängte [...] auch der Genius loci. Denn nach einer alten Ueberlieferung sollen auch in Steglitz die Cisterziensermönche, die mit der höheren geistigen Kultur auch einen neuen Baustil, überhaupt den ersten, in die kulturarme Mark gebracht haben, die ersten Seelsorger gewesen sein“.22 Und weiter: „Deshalb ist auch für die aus Torgau bezo-
Abb. 8: Kath. Rosenkranzbasilika in Berlin-Steglitz von Christoph Hehl, 1899–1901
genen Backsteine Klosterformat (9 cm hoch, 13½ cm breit, 28 cm lang) [...] gewählt worden“.23 Eine andere Fachzeitschrift geht ebenfalls näher auf Baustil und -material der Kirche ein: „[...] der Hauptwerth ist gelegt auf monumentale Verhältnisse; deshalb ist auch von dem kleinlichen BacksteinNormalformat abgesehen und dafür das Klosterformat gewählt, aber auch nicht in sogen. sauberer Verblendstein-Ausführung, sondern die Ausführung ist aus gewöhnlichen rothen, gut gebrannten Handstrichsteinen im märkischen [...] Verbande mit 1,5– 2 cm starken schlicht gestrichenen Fugen unter Verwendung einfachster Formsteine gedacht“.24 Erläuternde Kommentare zur Verwendung des ›Klosterziegels‹ als Baumaterial finden sich jedoch auch außerhalb der Fachliteratur. So kann man etwa in einem anlässlich der Weihe der Kirche gedruckten Büchlein nachlesen: Es „ist auch von dem jetzt üblichen kleinen Backstein=Normalformat abgesehen [worden] und dafür das große, sogenannte Klosterformat gewählt, dessen sich auch die alten Cistercienser bei ihren Kirchen= und Klosteranlagen in der Mark bedienten“.25 Herz-Jesu-Kirche, Zehlendorf Zur Begründung von Baustil und Baumaterial heißt es bei der in den Jahren 1907/08 ausgeführten
256 chen: Mit dem Rückgriff auf die spezifisch märkischen Architekturformen der Zisterzienserklöster wollte die katholische Minderheit, wie die Schriftquellen zu den Berliner Kirchenbauten Hehls zeigen, im protestantischen Berlin ihre für sich reklamierte Rolle als (vorreformatorische) Kulturträger und damit eigentliche Kulturbegründer in diesem Raum unterstreichen. St. Petrus, Wedding Dass dies nicht nur bei den von Christoph Hehl gebauten Kirchen der Fall war, belegt eine Stichprobe bei einer zeitgleich in Berlin entstandenen Kirche, die nicht von ihm errichtet wurde: St. Petrus (1907/08) in Berlin-Wedding (Abb. 10). Die in die Straßenflucht eingestellte Fassade von St. Petrus orientiert sich entfernt an den Mitteltrakt der Kirchenfassade des ehemaligen ZisterzienserKlosters Chorin an. Wie im Innern, so zeigt sich jedoch auch an der Fassade, dass man im Historismus bestrebt war, die jeweiligen Vorbilder zu variieren. So werden zwei Giebel hier mittig übereinander
Abb. 9: Kath. Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Zehlendorf von Christoph Hehl, 1907–08
Hehl’schen Herz-Jesu-Kirche in Zehlendorf26 (Abb. 9): „Die neue katholische Kirche in Zehlendorf [...] setzt die kirchlichen Ueberlieferungen des Vorortes fort, die ihren Anfang schon vor etwa 700 Jahren nahmen. Um diese Zeit bereits wurden von den Zisterziensern des Klosters Lehnin im Kreise Zauch-Belzig des Regierungs-Bezirkes Potsdam in Zehlendorf ein Kloster gegründet und eine Kirche erbaut. Kloster und Kirche jedoch hatten verschiedene Schicksale; das Kloster wurde nach einem Bestande von 300 Jahren als Staatseigentum erklärt, während die Kirche im Jahre 1767 abgerissen wurde. Damit war das kirchliche Leben der katholischen Bevölkerung des Ortes einer monumentalen Andachtsstätte beraubt [...]“.27 Um hier wieder anzuknüpfen, habe, so der Berliner Bildhauer Josef Limburg (1874–1955), „Hehl den märkischen gotischen Backsteinstil, wie er bei den Klosterruinen Lehnin und Chorin noch ersichtlich ist, wieder aufleben lassen“.28 Baustil und Material weisen den Zitaten zufolge über die allgemeinen Konnotationen, wie sie mit den evangelischen märkischen Kirchenneubauten in Verbindung gebracht werden können, hinaus. Geschichte wurde als Legitimationsinstanz genutzt, und dabei ist auf katholischer Seite eine besondere Form der Rückwendung zum Mittelalter auszuma-
Abb. 10: Kath. St. Petrus-Kirche in Berlin-Wedding von Pater Ludgerus OSB, 1907–08
257 angeordnet, der untere tritt als Doppelportalzone ein wenig nach vorne. Die schmalen Seitenteile der Fassade deuten die im Innern ausgebildete, durch Spitzbogendurchlässe begehbar gemachte Wandpfeilerzone an, die den fünfjochigen, hallenähnlichen Bau begleitet – eine Baustruktur, die es in der Gotik nicht gibt.29 Die ‚Germania‘ vom 5. Januar 1908 führt in ihrem Artikel „Die Einweihung der St. Petruskirche“ aus: „Die Kirche ist in die Straßenfront eingebaut. Die reichgegliederte Vorderseite an der Straße ist aus Steinen von Klosterformat erbaut und zeigt die edlen Formen der Gotik“. Konkreter hinsichtlich der Stilvorlage für die Fassade äußert sich die handschriftlich geführte „Chronik der St. Petrus-Gemeinde in Berlin“. Zum Bau der neuen katholischen Kirche notiert der Chronist: „Die Giebel-Fassade, die schwach erinnert an die Formen der Klosterruine von Chorin, ist reicher gestaltet, besonders durch ein großes Rundfenster belebt. [...] Als Material für den Kirchbau an der Front sind Ziegelsteine im großen ‚Klosterformat‘ benutzt. [...] Leitung und Bauausführung lag in den Händen des Bauunternehmers Hermann Bunning [...], von dem auch der Plan der Kirche stammte, der aber durch den Benediktiner Pater Ludgerus Rincklage überarbeitet wurde“.30 Pater Ludgerus OSB hieß mit weltlichem Namen Wilhelm Rincklake (1851–1927); der ursprünglich aus Münster stammende gelernte Architekt trat 1896 dem Orden der Benediktiner in Maria Laach bei und erhielt 1901 die Priesterweihe. Die Bezugnahme bei St. Petrus auf die Architektur der ‚Vorfahren‘ der Pfarrgemeinde findet, wie bei den Hehl’schen Kirchen, seine Begründung in deren ‚Kulturtätigkeit‘. So berichtet die ‚Märkische Volkszeitung‘, die ‚Katholische Volkszeitung für Berlin und die Mark‘, anlässlich der Grundsteinlegung, dass der „Herr Redakteur [der Märkischen Volkszeitung und der Germania] Dr. [Johann Peter] Baum die Festrede hielt. In beredten Worten zeigte [der] Redner, wie die katholische Kirche jederzeit die Trägerin der Kultur gewesen sei, wie aber gerade sie allezeit angefeindet worden und schwere Kämpfe zu bestehen gehabt hätte“.31 St. Petrus in Berlin-Wedding sollte den bereits für die Hehl’schen Kirchen geführten Nachweis, dass die Berliner Diasporagemeinden die Architektur ihrer Kirchenneubauten bewusst als Bedeutungsträger einsetzten, auf eine breitere Grundlage stellen. Wie bei den Hehl’schen Kirchen ist auch bei St. Petrus Stil zur Vermittlung der intendierten Aussage genutzt worden. Wobei man bei St. Petrus noch weiter ging als bei den Hehl’schen Kirchen: Nicht allein über das Material und seine tektonische Verarbeitung – wie vornehmlich bei den Hehl’schen Kirchen – wird ihr identitätsstiftender Sinngehalt kommuniziert, vielmehr liegt hier bedeutungstragender ‚Zitatcharakter‘ vor und als Vorbild wird explizit die Westfassade des Klosters Chorin genannt. Chorin war eine Filia von Lehnin und stand am Ende einer der von Kloster Morimond (1115) ausgehenden Fi-
liationsserien; nach der Gründung von Walkenried (1129), folgten Sittichenbach (1142), Lehnin (1180) und Chorin (1260). Ein Aspekt, auf den im folgenden Kapitel noch einmal zurückzukommen sein wird, ergänzt den über die Architektursprache artikulierten Bedeutungsgehalt bei St. Petrus um eine weitere Nuance: Die Kirche trägt den Namen des Patrons des untergegangenen mittelalterlichen Bistums Brandenburg und des heutigen Bistums Berlin. Immer wieder schwingt in den zeitgenössischen katholischen Publikationen mit, dass man durch die Reformation widerrechtlich enteignet worden sei. Derartige Vorwürfe sind auch aus der Festrede von „Dr. Brede aus Münster i.W.“ anlässlich der Weihe von St. Petrus herauszuhören, über die die ‚Germania‘ am 8. Januar 1908 berichtet: „In einem Rückblick auf frühere Jahrhunderte erinnerte er [Dr. Brede] daran, wie im Mittelalter die Petrikirche dem katholischen Gottesdienste der Schwesterstädte Berlin und Kölln geweiht war. Durch die Glaubensspaltung aber ging sie uns verloren“. Bei der Namensgebung suchte man also bewusst eine Verbindung zu der mittelalterlichen St. Petri-Kirche im Zentrum Berlins. 7. Der Hintergedanke: Die Lehninsche Weissagung Wer im Wilhelminischen Kaiserreich ständig an Lehnin32 (das ging auch über die Nennung von Chorin) erinnerte, hatte dabei einen Hintergedanken: Das Zisterzienserkloster war nämlich wegen einer dorthin verlegten Weissagung in aller Munde, weil sie nicht weniger als den Untergang des Hauses Hohenzollern prophezeite. Die publizistische Wirkung der gefälschten Weissagung war erstaunlich, hunderte von Streitschriften erschienen nach ihrem Aufkommen und sie fand Einzug in historische und theologische, aber auch allgemeine Lexika. Bei der geführten Auseinandersetzung interessierte nicht die philologische Beweisführung, oder ob die Weissagung echt sei oder nicht. Sie wurde seit ihrem Bekanntwerden als Vehikel für antipreußische und um 1900 für antiwilhelminische Ressentiments benutzt. Über den Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten hinweg wurde um das Für und Wider gestritten. Im Lager der Echtheitsbefürworter fanden sich im Lauf der Zeit so unterschiedliche Gruppen wie die enttäuschten Achtundvierziger, Demokraten und eben die Katholiken Brandenburg-Preußens. Was es mit dieser ‚Weissagung‘ aus dem märkischen Zisterzienserkloster Lehnin auf sich hat, beschreibt Theodor Fontane (1819–1898) in einem eigenen Kapitel seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“: „Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, während der Regierungsjahre Friedrich Wilhelms I. [1688, König 1713–40], erschienen an verschiedenen Druckorten, teils selbständig, teils umfangreicheren Arbeiten einverleibt, 100 gereimte lateinische Hexameter, sogenannte Leo-
258 ninische Verse, die in dunklem Prophetenton über die Schicksale der Mark und ihrer Fürsten sprachen und die Überschrift führten: ‚Weissagung des seligen Bruders Hermann, weiland Lehniner Mönches, der ums Jahr 1300 lebte und blühte‘. Diese Verse, die sich gleich selbst, in ihren ersten Zeilen, als eine Weissagung ankündigen: ‚Jetzt weissage ich dir, Lehnin, dein künftiges Schicksal‘, machten großes Aufsehen, da in denselben mit bemerkenswertem Geschick und jedenfalls mit ungewöhnlicher poetischer Begabung das Aussterben der Hohenzollern in der elften Generation nach Joachim I. [1484–1535] und die gleichzeitige Rückkehr der Mark in den Schoß der katholischen Kirche prophezeit wurde. Eine solche Prophezeiung war durchaus dazu angetan, Aufsehen zu erregen, da es auch damals (1721) in Deutschland nicht an Parteien fehlte, die freudig aufhorchten, wenn der Untergang der Hohenzollern in nähere oder fernere Aussicht gestellt wurde. In Berlin selbst, wie sich annehmen läßt, war das Interesse nicht geringer, und man begann nachzuforschen, nach welchem Manuskript die Veröffentlichung dieser Weissagung erfolgt sein könnte. Diese Nachforschungen führten zuletzt auf eine mehr oder weniger alte Handschrift, die etwa um 1693 in der nachgelassenen Bibliothek des in dem genannten Jahre verstorbenen Kammergerichtsrat Seidel aufgefunden worden war“.33 Ausgangspunkt für die Weissagung war der Übertritt des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. zur lutherischen Lehre – ein Schritt, den seine Mutter Elisabeth von Dänemark (1485–1555) schon zwölf Jahre zuvor zu Ostern 1527 vollzogen hatte. In den folgenden Jahren wird Joachim II. die Kirchen visitieren und dann den größten Teil des Kirchengutes säkularisieren und der Hofkasse zufließen lassen: 1541 wird auch die Lehniner Abtei aufgehoben, Kirche und Kloster konfisziert, die Liegenschaften werden Staatseigentum. Damit sind die historischen Fakten umrissen, die den Hintergrund für den Kern der ›Lehninschen Weissagung‹ bilden: „Seine (Kurfürst Johann Cicero, 1455–1499) Söhne [u.a. Joachims I.] werden beglückt durch gleichmäßiges Los; / Allein, dann wird ein Weib [Kurfürstin Elisabeth] dem Vaterlande trauriges Verderben bringen, / Ein Weib, angesteckt vom Gift einer neuen Schlange, / Dieses Gift wird auch währen bis ins elfte Glied. / […] Und nun kommt der [Joachim II.], welcher dich, Lehnin, nur allzusehr haßt, / Wie ein Messer dich zerteilt, ein Gottesleugner, ein Ehebrecher, / Er macht wüste die Kirche, verschleudert die Kirchengüter. / Geh, mein Volk: du hast keinen Beschützer mehr, / Bis die Stunde kommen wird, wo die Wiederherstellung (restitutio) kommt“.34 Schon Fontane konnte sich die Mühe ersparen, das Manuskript auf seine Echtheit hin zu prüfen, denn er stellte zutreffend fest: „Friedrich Wilhelm III. [1770, König 1797–1840] war bereits der elfte Hohenzoller nach Joachim I.; der Zeiger der Uhr ist
über die verhängnisvolle Stunde ruhig hinweggegangen, die Hohenzollern leben, und nur die Weissagung, echt oder nicht, ist tot“.35 Lebendig, um im Bild zu bleiben, blieb aber dennoch die Kontroverse um diese Prophezeiung. Denn in ihr schwang die Hoffnung nach der Wiederherstellung der alten Ordnung, d. h. der vorreformatorischen (Kirchen-) Verhältnisse mit. Der lateinische Quellentext spricht von „restitutio“36, also von der ‚Wiedereinsetzung in den vorigen Stand‘ bzw. ‚Rückerstattung‘. Wenn wie z. B. bei der Einweihung von St. Petrus Vorwürfe laut wurden, die auf die ›Enteignung‹ der katholischen Kirche in der Mark abzielten, wurde damit zwischen den Zeilen auch eine Wiedergutmachung angemahnt. Diese Forderung schloss auch das Besitzrecht an den ehemals katholischen Kirchen mit ein – die Namensgebung von St. Petrus spricht in dieser Hinsicht eine recht deutliche Sprache. Es wäre in diesem Zusammenhang zu untersuchen, ob der ‚märkische Baustil‘ bei den katholischen Kirchen Berlins nicht auch eine rechtliche Position markierte. Wenn dem so wäre, dann war der Stil gewählt worden, in dem die mittelalterlichen Kirchen der Mark Brandenburg errichtet sind, auf die man nun wieder Anspruch erhob. Somit wäre es bei der Wahl des Stils und des Baumaterials auch um die Zurückgabe des in der Reformationszeit säkularisierten Kirchenvermögens an die ‚legitimen‘ Nachfolger der ‚widerrechtlich enteigneten Vorfahren‘ gegangen. 8. Außen / Innen: Nord- und südalpine Vorbilder Wer permanent auf Lehnin anspielte – wie die katholischen Kirchengemeinden Berlins mittels des Klosterziegels, der historischen Mauerverbände oder durch Übernahmen von Bauformen –, dem lag nicht nur daran, die Erinnerung an diese Prophezeiung wachzuhalten, sondern auch an die darin enthaltene Verheißung. Beim Vergleich der katholischen Kirchen Berlins mit den Zisterzienserbauten in Lehnin und Chorin wird man jedoch bei genauerem Hinsehen feststellen, dass bei der Übernahme des Vorbildes mehr Abweichungen als Gemeinsamkeiten nachzuweisen sind. Gerade bei den Hehl’schen Kirchen haben wir es mit einer Monumentalisierung bei gleichzeitiger Reduktion historischer Formen zu tun. Für die von Hehl gewünschte tektonische Wirkung wurden südalpine Anleihen gemacht. Hehl nennt ausdrücklich antike und frühchristliche Vorbilder für die Baugestalt der von ihm entworfenen Berliner Gotteshäuser. Leitbild waren ihm der Tempel der Minerva Medica in Rom, S. Vitale in Ravenna oder S. Fosca auf Torcello bei Venedig.37 Vor allem die Innenräume der Hehl’schen Kirchen – am deutlichsten ist das noch heute in der Rosenkranz-Basilika nachzuvollziehen (Abb. 11) – sind weit entfernt von einer Rezeption der mittelalterlichen Architektur der Mark Brandenburg. Der für die Rosenkranz-
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Abb. 11: Innenaufnahme der kath. Rosenkranzbasilika in Berlin-Steglitz von Christoph Hehl, 1899–1901
Basilika gewählte Zentralraum hat sein Vorbild in Italien, ebenso war man bei der Ausmalung der Kirche von südalpiner Kunst inspiriert. Zum Bedeutungsträger bei den Hehl’schen Kirchen, letztendlich aber auch bei St. Petrus, wird demnach – da ja märkische Zisterzienserklöster als Zitat kenntlich gemacht werden sollten – das Material und seine tektonische Verarbeitung, sodass wir diese Kirchen mit dem mittelalterlichen Klosterziegel als ‚märkisch ummantelt‘ ansprechen müssen. Ausdrücklich verwies man deshalb immer wieder auf die Verwendung des mittelalterlichen Klosterziegels. Christoph Hehls Vorliebe für frühchristliche Sakralbauten und die antike Kunst Italiens wird bereits bei seinen letzten Werken in Hannover erkennbar. In einem Vortrag führte er aus, dass er „Motive der hochinteressanten Zentralanlage von Sa. Fosca [auf Torcello bei Venedig] [...] zuerst bei der St. Elisabeth-Kirche in Hannover und später am Chore der Herz-Jesu-Kirche“ in Berlin-Prenzlauer Berg verwendet habe.38 Und weiter, dass die Rosenkranz-Kirche in Berlin-Steglitz äußerlich „im frühen märkischen Backsteinstil gehalten“ sei, im „Innern“ aber „byzantinischen Vorbildern nachgebildet“ wurde.39 Bei St. Marien in Berlin-Spandau, die dem Vorbild des antiken Tempels der Minerva Medica in Rom folgt, war es für Hehl „schon lange ein unablässig gehegter Wunsch, die Anlage dieses gewalti-
gen Tempels, wenn auch in kleinerem Maßstab, für die moderne Gotteshausanlage vorbildlich verwerten zu können“.40 Wir haben also eine historistische Architektur vor uns, deren äußere Hülle auf die märkische Backsteingotik rekurriert, deren ‚Kern‘ – Baukörper und Ausstattung – aber italienischen Vorbildern folgen kann. Mit anderen Beispielen nennt Werner Oechslin dieses Phänomen treffend „Stilhülse und Kern“.41 Bei den katholischen Kirchen in Berlin lässt nun diese Tatsache noch einmal nach den Adressaten der inhaltlichen Überhöhung der Materialverwendung fragen. Die Botschaft der Kodierung von Stil und Klosterziegel war im wahrsten Sinne des Wortes nach außen gewendet: Sie richtete sich an Staat und Gesellschaft. Im ‚Inneren‘ konnten ästhetische Vorstellungen des Architekten und der Bauherrn verwirklicht werden, d. h. die Stabilisierung des katholischen Milieus erfolgte im ‚Innern‘ nicht durch solcherart strapazierte Architekturikonologie. Sinnstiftend wirkten dabei die eigene katholische Presse und vor allem die katholischen Vereine. „Der deutsche Katholizismus wurde zum Vereinsund Verbandskatholizismus“42, der alle Lebensbereiche und -belange einschließen konnte. Die ›Vereinsnachrichten‹ der lokalen Berliner katholischen Presse bieten deshalb mit ihren Veranstaltungsankündigungen und -berichten eine sprudelnde Quelle für die Außen- und Innenschau der Berliner Katholiken. Die „Amtskirche, vor allem aber das katholische Vereinswesen, [fundamentierte] eine lebendige, wenn auch oft auf magischem Ritual und heidnischem Zauberglauben beruhende Volksfrömmigkeit, die sich in schweren Auseinandersetzungen mit dem säkularisierten Staat und einem aggressiven Protestantismus als außerordentlich belastbare Loyalitätsbasis erweisen sollte. Sie war es auch, die der neuen Gottheit der Nation und dem Religionsersatz des Nationalismus das Eindringen in die innerste Psyche des gläubigen Katholiken erschwerte“.43 9. Thron und Altar Warum die bei ihren Kirchenbauten stets mit Finanznöten kämpfenden Berliner Diasporagemeinden die sehr hohen Kosten beim verwendeten Ziegelformat in Kauf nahmen, kann nur mit dem Verhältnis von ‚Thron und Altar‘ im Wilhelminischen Deutschland beantwortet werden.44 Zwei dicht aufeinander folgende Ereignisse der Jahre 1870 und 1871 bestimmten auch noch die Konflikte um 1900: Die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 zum Dogma erhobene Unfehlbarkeit des Papstes, die ihm dann zukommt, wenn er ex cathedra, also in Ausübung seines Amtes als „Hirte und Lehrer der Christen“ für die gesamte Kirche eine Glaubens- und Sittenlehre verbindlich definiert, und die Reichsgründung im Jahre 1871. Thomas Nipperdey hat für den Beginn unseres Zeitraums die bis zuletzt außerordentlich und bitter
260 umstrittene Entscheidung des Unfehlbarkeitsdogmas als „Paukenschlag“ bezeichnet und als Sieg des „Ultramontanismus, der Richtung also, welche die Kirche zentralistisch und absolutistisch auf Rom und den Papst, auf Scholastik und Gegenreformation ausrichten, klerikalisieren und aggressiv von aller Moderne abgrenzen wollte. Diese Bewegung hatte sich, wie überall in Europa, im zweiten Jahrhundertdrittel auch in Deutschland durchgesetzt, alle Tendenzen zur Öffnung gegenüber der Moderne oder gar Vermittlung zurückgedrängt. Für die extrem ultramontane ‚Partei‘ – den Vatikan, die Jesuiten, den südeuropäischen Episkopat und Klerus vor allem – war die Erklärung der Unfehlbarkeit – nach der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens von 1854 und der geballten Verdammung aller modernen Grundsätze und Institutionen im ‚Syllabus errorum‘ von 1864 – Schlußstein und Krönung der Erneuerung: Gegenmodell gegen die moderne Welt, gegen Rationalismus und Materialismus, Befestigung der Autorität gegen Demokratie, der Unabhängigkeit der Kirche gegen Machtansprüche der Regierungen und der Völker, ihrer Geschlossenheit gegen alle Auflösung, ihres Weltanschauungsmonopols gegenüber allen katholischen Laien“.45 Damit ist die Situation der deutschen Katholiken bei der Reichsgründung 1871 charakterisiert und die Problemfelder sind angedeutet, die für eine nationale Identitätsfindung dieser Bevölkerungskreise in der Wilhelminischen Epoche bestimmend bleiben sollten. Wichtig ist, dass für sie die Reichsgründung die Besiegelung ihres Minderheitenstatus bedeutete, der Protestantismus zur Staatskirche wurde und der Herrscher als Summepiskopus fungierte, dass sie es also mit einem protestantischen Kaisertum der Hohenzollern zu tun hatten. Im Laufe der Entwicklung sollten Protestanten und Katholiken ihre eigenen symbolischen Nationsbilder erfinden, sollte jeder für sich und radikal gegeneinander definieren, was es bedeutet, ein Deutscher zu sein.46 Eine Politisierung und Dynamisierung der konfessionellen Differenz seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts führte zu einer Besinnung auf das Konfessionseigene und -trennende bei Katholiken und Protestanten. Für unsere Fragestellung würde die Darstellung dieses Prozesses auf das Deutsche Reich bezogen47 zu weit führen, für Berlin selbst sei an dieser Stelle auf die schlaglichtartigen Ausführungen im Prolog verwiesen. Darüber hinaus ist für die Berliner Katholiken festzuhalten – wie insgesamt für den deutschsprachigen Katholizismus –, dass sie sich seit der Einführung der Reformation in ihrer Abwehrhaltung kontinuierlich verhärtet und der Kulturkampf sie erst recht in die Isolierung getrieben hatte. Von einer katholischen Perspektive aus betrachtet, prägten die Auswirkungen dieses Kulturkampfes Lage und Status der katholischen Minderheit auch
noch um 1900. Die von Bismarck (1815–1898) ergriffenen Maßnahmen und Gesetze hatten die Diasporasituation weiter verschärft. Im Verlauf des Kulturkampfes verwaisten in Preußen mehr als tausend Pfarren und neun Bistümer; die äußere Organisation der katholischen Kirche in Preußen wurde fast vernichtet. Diese Tatsachen sprechen eine so klare Sprache, dass eine detaillierte Erörterung der ‚feindseligen‘ Maßnahmen Bismarcks, die Aufhebung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium (1871), die Einführung des „Kanzelparagraphen“ (1872), das „Schulaufsichtsgesetz“ (1872), das Verbot von Niederlassungen der Jesuiten im Deutschen Reich oder der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl, unterbleiben kann. Der Höhepunkt des Kulturkampfes war mit dem Erlass der „Maigesetze“ 1873 erreicht, der die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat weitgehend aufhob. Eine gewisse Entschärfung trat erst mit dem „1. Milderungsgesetz“ (1880) ein, die mit dem „1. Friedensgesetz“ (1886) fortgeführt wurde. Wie sehr aber das Verhältnis weiter angespannt blieb, belegt allein schon die selbst gewählte Bezeichnung der Berliner katholischen ‚Germania-Actien-Gesellschaft für Verlag und Druckerei‘ als ‚katholische Presse an der Front‘ oder, dass die gleichnamige Zeitung ‚Germania‘ noch 1929 als ‚katholisches Kampforgan in der Reichshauptstadt‘ tituliert wurde. Dass der Kulturkampf den Bildungsbereich mit einschloss, sei hier nur kurz angedeutet, obwohl diese Tatsache für unseren Gegenstand keinesfalls eine Nebenrolle spielte. Zu bedenken wären die Auswirkungen auf die deutschen Schulbücher.48 Der Blick auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft würde sich ebenfalls lohnen, da die ›wissenschaftliche‹ Untermauerung der unterschiedlichen Geschichtsauffassungen nicht zuletzt durch die Besetzung der Lehrstühle an deutschen Universitäten wesentlich mitbestimmt wurde. Auch hier kam es im Zeitalter preußisch-protestantischer Selbstgewissheit zur konfessionell begründeten Diskriminierung.49 Schon die atypische Herkunft konnte für eine preußische Hochschulkarriere Isolation bedeuten, wie dies das Schicksal des aus der bayerischen Pfalz stammenden Berliner (evangelischen) Universitätsprofessors und Reformationszeitforschers Nikolaus Müller belegt.50 Zum Verhältnis von ‚Thron und Altar‘ beider Konfessionen führt Christel Köhle-Hezinger aus: „Im Nationalismus hat der Protestantismus erstmals zu der Einheit und Stärke gefunden, die ihm im kirchlichen Bereich – im Gegensatz zum Katholizismus – versagt war. In ihm konnte er gesellschaftliche Identität, Bestätigung, Orientierung, im kirchlichen wie auch im weltlichen Sinn Stärke und Geschlossenheit finden. Während der Katholizismus mit dem Staat rivalisieren, selbst politisch wirksam werden konnte, ist dem Protestantismus – als substantiellem Bestandteil eben dieses Staates – dies ver-
261 sagt: Er ist an dessen Interesse gebunden. Seine ‚Politisierung‘ – als ein Prozess kirchlicher Rollenfindung in der Welt – kann allenfalls Duplizierung, ideologische Spiegelung staatlicher Werte und Ziele bedeuten“.51 Wolfgang Altgeld unterscheidet deshalb in seinem Buch „Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus“ das Verhältnis von Katholiken und Protestanten zur Nation mit dem Begriffspaar „Nationalbewusstsein“ und „Nationalismus“. Die Katholiken hätten demnach nur ein „Nationalbewusstsein“ gehabt, da, „indem ein orthodoxes Christentum und die Bedeutung der Kirche als Mittlerin zwischen Gott und Welt behauptet wurde, [...] die Voraussetzungen sowohl für die religiöse Überhöhung der Nation selbst wie für deren Vorstellung als gleichsam ‚kirchliche‘, von Gott als ‚höchste‘ irdische Form menschlicher ‚Gemeinschaft‘ gegebene Ordnung“52 fehlten. In der Konsequenz ergebe sich daraus, so Altgeld weiter, dass die „Nation, die nationale Einigung, der nationale Krieg [...] so gar nicht jenen ‚religiösen‘ Wert erlangen [konnten] wie in den gebildeten Schichten des protestantischen Deutschlands. Wie gegenüber dem Staat, so gegenüber der weltlichen Ordnung Nation galt, daß der gläubige Katholik im Konflikt den Geboten des Christentums, das hieß: der Kirche, gehorchen sollte“53, also eine vornationale Bindung das vollkommene Aufgehen in der Nation verhindern musste (oder, mit Blick auf den weiteren Geschichtsverlauf, verhindern konnte). Für das Deutsche Reich des 19. Jahrhunderts sind die gegensätzlichen Positionen mit den Begriffen des ‚Ultramontanismus‘ und ‚Nationalprotestantismus‘ umrissen. Mit seiner Haltung ganz auf der Höhe dieses 19. Jahrhunderts stehend schrieb Karl August von Hase (1800–1890), Professor für Theologie in Jena und seit 1880 geadelt, in der vierten (nach der Reichsgründung „verbesserten“) Auflage seines Standardwerkes mit dem vielsagenden Titel „Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche“ von 1878, dass, obwohl beide christlichen Konfessionen den gleichen Ursprung hätten, aus dem Katholizismus ein „‚römisches‘ Christenthum geworden“ sei und aus dem Protestantismus ein „‚deutsches‘ Christenthum“. Und Hase schließt daraus folgerichtig: „Deutschen Katholiken wird selten die Wahl erspart bleiben: erst Katholiken dann Deutsche, oder umgekehrt. ‚Wir‘ können getrost sagen: Deutsche ‚und‘ Protestanten, beides mit ganzem Herzen“.54 Wenn man diese Grundhaltung mit Altgelds Kategorisierung des katholischen ‚Nationalbewusstseins‘ und des evangelischen ‚Nationalismus‘ auf die Kirchenbauten übertragen wollte, oder zumindest überlegt, ob nicht auch bei ihnen eine unterschiedliche Auffassung von Nation zum Ausdruck kommt, wird man feststellen können, dass die bei-
den Konfessionen mit dem verwendeten Stil der märkischen Backsteingotik nur auf ein scheinbar gleiches Bezugsfeld zurückgriffen. Das konfessionell Trennende, die unterschiedliche Geschichtsund Staatsauffassung wird mittels eines anderen Materials kenntlich gemacht, das bei näherer Betrachtung den Unterschied deutlich werden lässt. Materialikonologisch ließe sich das Begriffspaar ‚Nationalbewusstsein‘ bzw. ‚Nationalismus‘ mit ‚Klosterziegel‘ bzw. ‚Reichsziegel‘ übersetzen; um die gegenseitige Bedeutungsbeziehung als Antonyme noch plakativer zum Ausdruck zu bringen, könnte man auch sagen: ‚ultramontaner Klosterziegel‘ und ‚deutscher Reichsziegel‘. 10. Vereinnahmungsversuche: Ein ‚evangelischer‘ Klosterziegel? Der Staat ging indes in die Offensive und versuchte, dem Klosterziegel seine Exklusivität als ‚katholischer‘ Ziegel zu nehmen. Die zahlreichen Maßnahmen bis hin zur Normierung des Klosterziegels (Länge 28,5 cm, Breite 13,5 cm, Stärke 8,5 cm) und der staatlichen Empfehlung (1902), ihn auch für den evangelischen Kirchenbau und für staatliche Bauaufgaben zu verwenden, belegen dies. So wird am 10. Oktober 1902 ein „Runderlass, betreffend Verwendung von Ziegeln grossen Formats“ in Kraft gesetzt.55 Zumindest für den evangelischen Kirchenbau in Berlin schlug diese Stoßrichtung weitgehend fehl; der Klosterziegel blieb bei Sakralbauten überwiegend das Baumaterial der Berliner Diasporagemeinden. Ausnahmen bestätigten die Regel: Die evangelische Glaubenskirche in Berlin-Lichtenberg (1903/05) wurde mit den „Rathenower Ziegeln in Klosterformat“ von dem Architekten Ludwig Alexander Erdmann von Tiedemann (1841–1908) bzw. Robert Waldemar Leibnitz (1863–1929) entworfen bzw. ausgeführt. Und unter der Leitung von Baurat Theodor Astfalck (1852–1910) wurde die evangelische Passionskirche in Berlin-Kreuzberg (1905/07) ebenfalls „mit roten Ziegeln im Klosterformat“ errichtet.56 Dennoch ist die Begründung für die Verwendung beispielsweise bei kommunalen und staatlichen Bauten interessant. So liest man bezüglich der Wirkung von neu errichteten Gebäuden, dass diese oft zu willkürlich gestaltet seien, um dann als Vorbild vorgehalten zu bekommen: „Die alten Backsteinbaumeister von den Cisterciensern an empfanden das richtig, und es ist gut, das ihrer heute wieder gedacht wird“.57 Deshalb wird der Rückgriff auf das Formenvokabular der Zisterzienserklöster (von staatlicher Seite) empfohlen, samt der Verwendung des mittelalterlichen Klosterziegels. Umgehend protestierte der „Verein der Steinhändler Berlins“, da man Geschäftseinbußen befürchtete, wenn von dem „Normal- und Regierungsformat“ abgewichen würde.58 Aber je mehr öffentliche Profanbauten59 und vereinzelt auch evangelische Kirchen in Berlin
262 mit diesem großen Ziegel errichtet wurden, umso wichtiger war die publizistische Unterstützung, die die katholischen Kirchengemeinden ihren Neubauten angedeihen ließen. Die katholische Presse nutzte deshalb jeden Anlass, um den Klosterziegel weiterhin als ›katholischen Protestziegel‹ zu lancieren, denn nur unter dieser Voraussetzung konnte der Ziegel seine geradezu buchstäbliche Aufgabe als ‚Argumentationsbaustein‘ auch zukünftig erfüllen. Die Aneignungsversuche von protestantischer Seite führen noch einmal klar vor Augen, welche Rolle dem Schriftzeugnis zukommt, da die Dekodierung von Stil und Material nur mittels der Schriftquellen sinnvoll gelingt. Die Möglichkeit einer oft ganz gegensätzlichen inhaltlichen Überhöhung von beidem warnt deutlich davor, bei unserem Gegenstand die Autonomie des Kunstwerkes zu postulieren, d. h. den Kontextbezug außer Acht zu lassen. Ein Beispiel aus München mag dies belegen: Für den Erweiterungsbau des 1887–98 von Friedrich von Thiersch (1852–1921) errichteten Münchener Justizpalastes am Karlsplatz60 in den Jahren 1902– 05 wurden ebenfalls Klosterziegel (15 x 15 x 30 cm) verwendet, jedoch begründet dies der Architekt damit, dass bei dem vorgegebenen finanziellen Rahmen der farbig gefasste Ziegelbau ästhetisch gesehen die beste Lösung gewährleistet hätte.61 Bei der ‚Dekodierung‘ historistischer Architektur muss man also auch auf die regionale Ebene Bezug nehmen. In der Wilhelminischen Ära ist die Frage nach der nationalen Identität der Konfessionen am Beispiel der bildenden Kunst und Architektur eben nicht national, im Sinne des Gebietes des Deutschen Reiches, sondern regional abzustecken. Die Länder, die 1871 zum Deutschen Reich zusammengeschlossen wurden, sind mit ihrer historischen, sozialen und wirtschaftlichen Herkunft und Entwicklung auch um 1900 noch nicht zu einem einheitlichen Gebilde zusammengewachsen. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Konfessionen an der nationalen Identität wäre für das Rheinland anders zu beantworten als für Berlin oder für das 1871 eingegliederte Straßburg mit dem Elsass. Und für die evangelische Kirche Deutschlands darf nicht vergessen werden, dass sie bis 1918 in 39 voneinander getrennte evangelische Landeskirchen aufgeteilt war. Die Vereinnahmungsstrategien betrafen aber nicht nur den Klosterziegel bzw. die Fortführung der märkischen Bautradition des Mittelalters, sondern auch den Referenzort selbst. Lehnin, seit der Einführung der Reformation dem allmählichen Verfall preisgegeben, wurde im 19. Jahrhundert zu einem national-dynastischen Denkmal gewandelt (Abb. 12), zu einer Pilgerstätte des Protestantismus.62 Beunruhigt durch die enorme publizistische Wirkung der Lehninschen Weissagung besann man sich auf den Ort, an dem angeblich der Untergang
Abb. 12: Die ehem. Klosterkirche Lehnin um 1900
des Hauses Hohenzollern prophezeit wurde. Für die Beteiligten war der Wiederaufbau eine Herzensangelegenheit. So ergriff der durch schwere Krankheit gezeichnete Friedrich Wilhelm IV. (1795, König 1840–1861) beide Hände seines Architekten Friedrich August Stüler (1800–1865) und nahm ihm nach einem Besuch der Kirche das Versprechen ab, alles für die Restaurierung des ruinösen Baukomplexes von Lehnin zu tun. Stüler schildert am 9. Mai 1860 dem (bis 1862 amtierenden) Oberpräsidenten von Brandenburg, Eduard Heinrich von Flottwell (1786–1865), die Szene wie folgt: „Ew. Excellenz erlaube ich mir die gehorsamste Mitteilung zu machen, daß ‚der letzte Befehl‘, den ich von S. M. dem König zu Anfang November vorigen Jahres [1859] vor der kurz darauf eingetretenen Verschlimmerung der Krankheit in Bausachen zu empfangen die Ehre hatte, dahin lautete, daß ich an maßgebender Stelle den sehnlichen Wunsch S. M., wonach die alte Klosterkirche zu Lehnin in ihrer ursprünglichen Größe und Haltung wiederhergestellt werden möchte, darlegen sollte. Durch den kurz vorher Statt gehabten Besuch der Kirche war dieser schon länger gehegte Wunsch bei S. M. dem Könige so lebhaft wieder hervorgetreten und wurde mit einer solchen Wärme rege, daß Allerhöchst derselbe beim Weggehen meine beiden Hände faßten und mir gleichsam das Versprechen abnahmen, meinerseits alle zur Verwirklichung dieses Allerhöchsten Verlangens erforderlichen Schritte zu tun“.63 Friedrich Wilhelm IV. sollte die Restaurierung des Klosters jedoch nicht mehr erleben dürfen, die Realisation dieses Projektes blieb seinem Bruder Wilhelm I., dem ersten deutschen Kaiser, vorbehalten. Und dieser soll angeblich am Tag seiner Proklamation zum Kaiser, also angesichts des größten Triumphes Preußens, von Versailles aus die zügige Wiederherstellung Lehnins befohlen haben. Durch die bauliche Instandsetzung der Klosterkirche, die einer Totalrekonstruktion des Mittelschiffs, der Seitenschiffe und des Westwerks gleichkam, konnte Lehnin nunmehr für die preußische (hier gleich evangelische) Sache vereinnahmt werden.
263 Deshalb wurden offiziöse staatliche und evangelisch-kirchliche Kreise nicht müde zu betonen, dass sich die Lehninsche Weissagung nun erfüllt habe, da die Klosterkirche im neuen Glanze dastünde. Aber anders als von manchen erhofft in direkter Umkehrung der Prophetie: Statt dem durch die Annahme des evangelischen Glaubens in der Lehninschen Weissagung vorausgesagten schmählichen Untergangs ein glänzender Aufstieg des Hohenzollernhauses und der Sieg über den Katholizismus! 11. Die Fäuste fliegen: Reformationsjubiläen Um die Kontextgebundenheit historistischer Kunstwerke aufzuzeigen, bedarf es jener mentalitätsgeschichtlichen Quellen, die von der Kunstwissenschaft oft nur am Rande konsultiert werden. Mit ihnen sind nämlich Wahrnehmungsformierungen nachweisbar, die selbstverständlich in der historisch-politischen Kultur auch verhaltenssteuernde Wirkungen hervorriefen.64 Nahezu idealtypisch verhält sich das „katholische Milieu“ mit seiner „katholischen ‚Subkultur‘ von unerhörter Dichte und Intensität“65 bei Reformationsjubiläen jeglicher Art.66 Deshalb ist auch auf unsere Fragestellung bezogen Johannes Burkhardt zuzustimmen, wenn er anregt, „einmal über die fatale Wirkung des Terminzwangs von Jubiläen in der Geschichte nachzudenken. Denn in der kommunikativ-propagandistischen Ausnahmesituation solcher Daten erhielten historisch rückgebundene Lesarten aktueller politischer Ereignisse besonderes Gewicht und können eine entsprechende kollektive Handlungsbereitschaft erhöhen. Auch ein Jubiläum kann dabei freilich im Guten und Bösen nur das aus Geschichte und Gesellschaft herausholen, was in ihnen drinsteckt, das freilich besonders kenntlich“.67 Im Einzelnen würde es sich auch mit Blick auf den Berliner Kirchenbau um 1900 lohnen, die Reaktionen auf die relevanten Reformationsjubiläen zu untersuchen. Zu nennen wären an dieser Stelle das Jahr 1883 mit der 400. Wiederkehr von Luthers Geburtstag (10. November 1483), der 1. November 1889, an dem sich die Einführung der Reformation in der Mark Brandenburg, dem Kernland Preußens und damit wiederum des Deutschen Reiches, zum 350. Male jährte, sowie der 375. Jubiläumstag des Thesenanschlages am 31. Oktober 1892 (das Datum markiert außerdem die Einführung als weitgehend einheitlicher Reformationsfeiertag). Konsultiert man dazu die mentalitätsgeschichtlichen Quellen, gilt es festzuhalten, dass man solchen, die Geschichtsschreibung bis heute verwirrenden, da adressatenabhängigen Stilisierungen nicht beikommt, „indem man die eine zum echten Motiv und die andere zur Maskerade erklärt: Es sind Rechtfertigungskomplexe, aus denen nur der jeweils passende Teil genutzt wurde“.68 Dies sei am Beispiel eines Jubiläums, dem des Re-
formationsjahres 1889, illustriert. Der herausgegriffene Fall lässt ahnen, welche ‚Schubkräfte‘ gerade unter ‚Jubiläumsdruck‘ in unserem Zusammenhang freigesetzt werden konnten. Zu einer Veranstaltung des Evangelischen Bundes am 19. November 1889, in deren Rahmen Wilhelm Thümmel zum Thema „‚Die Asche Clarenbachs‘, des Märtyrers der protestantischen Kirche“ referierte, war – aus heutiger Sicht schon befremdlich genug – nur Protestanten der Zutritt gestattet. Anlass war der wiederkehrende Todestag Adolf Clarenbachs, der am 28. September 1529 in Köln wegen seiner kirchen- und romfeindlichen Bekenntnisschriften verbrannt worden war. Zu Anfang des Berliner Abendvortrages über „Die Asche Clarenbachs“ wurde gefragt, ob Katholiken anwesend wären. Als sich einige unter den Zuhörern als solche zu erkennen gaben, wurden sie aufgefordert, den Saal zu verlassen, was sie jedoch verweigerten. Im weiteren Verlauf kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen. Eine katholische Tageszeitung, die ‚Märkische Volkszeitung‘, berichtet über den Vorfall: „Am 19. d. [Monats] hielt der hiesige ZweigVerein des ‚Evangelischen Bundes‘ in der Tonhalle eine Versammlung ab, zu der nur den Protestanten der Zutritt gestattet war. Bei der Eröffnung der Versammlung um 8¼ Uhr fordert der Vorsitzende Lic.[entiat] Weser [Prediger an der Marienkirche] nach Absingen von ‚Eine feste Burg ...‘ die im Saale Anwesenden auf, auf Ehre und Gewissen zu sagen, ob Katholiken darunter seien. (Rufe von allen Seiten: ‚Jawohl‘). Lic. Weser: ‚Dann fordere ich Sie auf, den Saal zu verlassen!‘ Es entsteht ein Tumult, indem Anhänger des evangelischen Bundes sofort hinzueilen, um die Katholiken gewaltsam zu entfernen. Dieselben protestieren. Dreimal wiederholt der Vorsitzende seine Aufforderung, wobei er einem Katholiken, welcher behauptet, gleichberechtigt mit den anderen zu sein, indem auch er für König und Vaterland gekämpft habe [gemeint war wohl 1870/71], zuruft: ‚Sie Lump!‘ Ein dem Berichterstatter bekannter hiesiger Predigtamtskandidat beteiligt sich an den thätlichen Ausschreitungen, indem er einen Katholiken an die Gurgel packt. Schließlich erscheint die Polizei und führt unter lauten Bravorufen der Anhänger des Bundes eine Anzahl Katholiken hinaus. [...] Lic. Weser: Gemäß dem Prinzip der Redefreiheit (?) werde sich eine Diskussion an den Vortrag anschließen, bei welcher nur (!) Protestanten das Recht haben, sich zu Wort zu melden. [...] Pastor Thümmel spricht über ‚die Asche Clarenbachs‘, des Märtyrers der protestantischen Kirche“.69 Solche Absurditäten sind heute kaum mehr nachzuvollziehen, um 1900 jedoch erstaunlich häufig anzutreffen. Besonders in der sogenannten grauen Literatur, aber auch in der konfessionell-politisch gebundenen Tagespresse, bekamen konfessionelle Vorurteile und Gehässigkeiten ihr Forum.70
264 12. Geschichte wird gemacht Die unterschiedlichen Geschichtsauffassungen der beiden großen Konfessionen in Deutschland lassen sich nicht nur in ihren mentalitätsgeschichtlichen Äußerungen nachweisen, sondern spiegeln sich auch in wissenschaftlichen Werken wider. Den überragenden Höhepunkt der neukatholischen Geschichtsschreibung bildete die achtbändige „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ von Johannes Janssen (1829– 1891), welche zwischen 1878 und 1894 in Freiburg i. Br. erschien und zum bekanntesten Geschichtswerk dieser Stoßrichtung wurde.71 Ihm lag die Auffassung zugrunde, dass die Reformation den im spätmittelalterlichen Deutschland vorhandenen destruktiven Kräften zum Sieg verholfen und – was in unserem Zusammenhang von ausschlaggebender Bedeutung ist – damit den Untergang des Alten Reiches verschuldet habe. Dass der Autor auf scharfen Widerspruch von protestantischer Seite stieß, ist selbstredend. Wenn man so will, hatte Leopold von Ranke (1795–1886) schon zuvor mit
Abb. 13: Entwurf für den Turmhelm der Wittenberger Schlosskirche mit der (nicht ausgeführten) Kaiserkrone von Friedrich Adler
seinem sechsbändigen Werk über die „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (Berlin 1839–47) die Gegenposition fundamentiert. Das tat dem Erfolg des in zahlreichen Neuauflagen gedruckten Werkes Janssens aber keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Popularisierung seines Geschichtsbildes ist erstaunlich.72 So wurden einige Passagen des Geschichtswerkes noch 1931 in einem Heft „Wie Deutschland protestantisch wurde“ für die Reihe „Apologetische Hefte des katholischen Glaubensapostolates“ neu zusammengestellt und dem Leser mitgeteilt, dass das Heft geschrieben wurde „für alle jene Pastoren und sonstige Wortführer vor allem des Evangelischen Bundes, die dem deutschen Volke immer wieder vorreden, die ganze Größe und Kultur Deutschlands sei lediglich dem Protestantismus zuzuschreiben“.73 Damit rührte man allerdings an einen wunden Punkt des evangelischen Glaubens- und Geschichtsverständnisses: Suchte der Staat Anknüpfungspunkte zu den eigenen Glaubenswurzeln, kam man über die Anfänge des 16. Jahrhunderts nicht hinaus und war damit stilgeschichtlich weit entfernt von einer Kontinuität, wie sie die katholische Kirche ihr Eigen nannte. Theodor Fontane hat dieses (preußische) Dilemma einmal zutreffend und respektlos umschrieben, indem er Schloss Sanssouci als „jung wie ein Parvenü“ bezeichnete; „Träger unserer ganzen Geschichte“ seien vielfach nur die mittelalterlichen märkischen Dorfkirchen, denn sie allein „besitzen und äußern […] den Zauber historischer Kontinuität“.74 Ging es nämlich darum, die Vorfahren des ‚wahren‘, evangelischen Glaubens darzustellen, begann alles mehr oder weniger beim Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg – also mit dem Jahre 1539. Und so ist es dann auch nur konsequent, wenn man ‚der‘ evangelischen Kirche schlechthin, der Wittenberger Schlosskirche – dem „Pantheon deutscher Geisteshelden“75, buchstäblich die Krone aufsetzen wollte. Anfänglich sah das Renovierungsprojekt von Friedrich Adler (1827–1908) nämlich vor, den Turmhelm „mit einer kupfergedeckten Kuppelspitze, welche die Kaiserkrone trägt“ (Abb. 13), abzuschließen76; Wilhelm II. zog dann aber als Bekrönung das Kreuz als Zeichen des Sieges des christlichen Glaubens vor.77 Aber auch bei Profanbauten griff derartiges Geschichtsbewusstsein um sich. Bei der Diskussion um die Ausmalung des Treppenhauses von Stülers Neuem Museum in Berlin durch Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) waren noch auf Ausgleich bedachte Stimmen zu vernehmen. Das Bild ‚Das Zeitalter der Reformation‘ sei, so diejenigen, die vor einer konfessionellen Polarisierung warnten, in einem aus Steuern finanzierten öffentlichen Gebäude der katholischen Bevölkerung Preußens nicht zumutbar. Die Mahner sollten kein Gehör finden, das monumentale Wandgemälde kam zur Ausführung.78
265 Angesichts solcher Aussagen und Bildprogramme verstärkte die katholische Seite neben der Publizistik nun auch ihrerseits die Bemühungen, nicht nur mittels der Architektur, sondern auch der bildenden Kunst zu veranschaulichen, dass ‚ihre‘ mittelalterlichen Vorfahren die Missionsheiligen stellten, die die Mark Brandenburg christianisiert hätten. Zwei Beispiele: Im Altarbereich der RosenkranzBasilika schuf der Maler Friedrich Stummel (1850– 1919) ab Sommer 1906 zwei Gruppen von je drei Heiligen in Freskotechnik: auf der einen Seite St. Ludgerus von Münster, Adalbert von Prag und Bernward von Hildesheim, drei Bischöfe also, die in besonderer Weise für die Ausbreitung des Christentums östlich der Elbe gewirkt hatten. Ihnen gegenüber stehen Bischof Otto von Bamberg – als Missionar der Pommern ist er einer der heutigen Patrone des Bistums Berlin – Benno von Meißen, gegen dessen Heiligsprechung 1523 Luther heftig polemisierte, und Norbert von Xanten bzw. Magdeburg, der eine wichtige Rolle bei der monastischen und kulturellen Durchdringung Mitteldeutschlands gespielt hatte. Ein ähnliches Anliegen dürfte wohl bei der Wahl des Kapitellschmucks für die Kirche der Heiligen Familie, die wir als zweites Beispiel nennen wollen, eine Rolle gespielt haben; sie wurde ebenfalls von Christoph Hehl in Berlin-Lichterfelde 1902–04 gebaut.79 Die Kapitelle sind mit Darstellungen von Köpfen von Zisterziensermönchen geziert. Metamorphosen Joachims II. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, welche Wandlungen das Gemälde von Lucas Cranach d.J. (1515–1586) mit der Darstellung Joachims II. durchlief.80 Der Kurfürst präsentiert sich auf seinem um 1555 gemalten Porträt ostentativ als Altgläubiger: Zur Schau gestellt werden Rosenkranz und ein an seiner Mütze prangendes Schmuckstück mit dem Christusmonogramm „IHS“. Bezüglich der Darstellung von Rosenkranz und IHS-Monogramm kann festgehalten werden, dass sich bereits Jahrzehnte vorher, nämlich in den frühen zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts, eine Neuzuschreibung der Frömmigkeitssymbole abzuzeichnen begann. So findet sich beispielsweise der Rosenkranz in einer immer exklusiveren Verbindung mit Altgläubigem und gerät auf diese Weise zu einem Identifikationsmerkmal für die römische Glaubenspartei. Luther hatte bereits 1520 („Von den guten Werken“) seine Kritik an der Rosenkranzfrömmigkeit, an dem ‚mechanischen‘ Rosenkranzgebet formuliert: „da klappern die steinn, rauschen die bletter und das maul plappert“.81 Im Kreuzfeuer protestantischer Polemik avancierte der Rosenkranz bei katholischen Auftragswerken im Zeitalter der Glaubensspaltung – vor allem auf Porträts – zum ‚Parteiabzeichen‘, was für das ChristusMonogramm analog gilt.
Im 19. Jahrhundert durchläuft nun das Cranach d.J.-Porträt Joachims II. eine Metamorphose, wobei die Reformationsjubiläen 1839 und 1889 den Wandlungsprozess erheblich verstärken. Alle historischen Fakten beiseite lassend wird Joachim II. ohne Wenn und Aber als glühender Anhänger Luthers und der neuen Lehre dargestellt. Überlebensgroße Standbilder von Joachim II. (= Staat) und Luther (= Kirche) oder quadratmetergroße szenische Darstellungen, die Joachims Einnahme des Abendmahls in beiderlei Gestalt vorführen, prangten an zahlreichen evangelischen Kirchenfassaden: Nicht zu übersehen war diese für die Reichshauptstadt geschaffene Monumentalkunst, auf die wir uns hier beschränken wollen, weil diese wie die katholischen Kirchen für den Stadtraum geschaffen wurde. Durch die gemeinsame Darstellung des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und Martin Luthers sollte die enge Verbindung von Staat und Kirche zum Ausdruck gebracht werden. So wurde 1889 vor der Spandauer evangelischen St. Nikolai-Kirche feierlich ein von Erdmann Encke (1843–1896) geschaffenes Denkmal Joachims II. enthüllt, das ihn überlebensgroß im kurfürstlichen Ornat zeigt (Abb. 14). Die erzählenden Reliefplatten am Sockel sind programmatisch zu verstehen: Die Unterweisung Joachims als Knabe in der Bibel durch seine Mutter (Abb. 15), weiter eine Besprechung Joachims mit Luther und Melanchthon (Abb. 16) sowie die Abendmahlsfeier selbst (Abb. 17). Joachim ist auch an der Eingangsfront der 1891–94 von Johannes Otzen (1839–1911) errichteten evangelischen Luther-Kirche auf dem Dennewitzplatz in Berlin-Schöneberg als lebensgroße Standfigur zu sehen (Abb. 18). Dazu gehören Figuren von Luther und Melanchthon (1497–1560) – auch diese vollplastisch und lebensgroß – und zwei beachtlich große, weit sichtbare Reliefs – links eine Szene mit der Einnahme des Abendmahls durch Joachim II. von Brandenburg und rechts Luther auf dem Reichstag zu Worms (Abb. 19). 1896 wurde in der Spandauer Neustadt die von Arno Eugen Fritsche (1858–1939) gebaute evangelische Luther-Kirche eingeweiht, die über dem Hauptportal ein ähnliches Programm zeigt: Ganzfigurige Statuen von Joachim II., Luther und Melanchthon bilden ein Ensemble; zwischen ihnen, einige Quadratmeter groß, eine Reliefdarstellung von Luther auf dem Reichstag zu Worms. Für beide Luther-Kirchen entwarf der Berliner Bildhauer Wilhelm Haverkamp (1864–1929) die genannten Skulpturen und Reliefplatten. 1895 stiftete Kaiser Wilhelm II. (1859–1941, König u. Kaiser 1888–1918) den nach und nach zwischen 1898 und 1901 enthüllten Skulpturenschmuck der Siegesallee. Diese verlief vom Königsplatz (vor dem Reichstag) zum Kemperplatz (heute nahe der Neuen Nationalgalerie). Auf der ca. 750 Meter langen Allee waren 32 überlebensgroße Standbilder von Herrschern Brandenburgs und Preußens
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Abb. 14: Denkmal Joachims II. vor der Spandauer ev. St. Nikolai-Kirche von Erdmann Encke, 1889
Abb. 15: Detail der Reliefplatte mit der Darstellung der Unterweisung Joachims als Knabe in der Bibel durch seine Mutter Elisabeth
Abb. 16: Detail der Reliefplatte mit der Darstellung der „Disputatio“ Joachims mit Luther und Melanchthon
Abb. 17: Detail der Reliefplatte mit der Darstellung der Abendmahlsfeier Joachims
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Abb. 18: Ev. Luther-Kirche auf dem Dennewitzplatz in Berlin-Schöneberg von Johannes Otzen, 1891–94
Abb. 19: Detail mit den Reliefdarstellungen der „Einnahme des Abendmahls durch Joachim II. von Brandenburg“ und „Luther auf dem Reichstag zu Worms“
aufgestellt, die von jeweils zwei Büsten historisch verbürgter Personen flankiert wurden. Unter den Herrschern befand sich auch Joachim II. – sein von Harro Magnussen (1861–1908) geschaffenes Denkmal wurde jedoch in Abwandlung des sonst angewandten Schemas der Allee von einer dritten Darstellung begleitet: In einem Medaillon hinter der Standfigur des Kurfürsten erblickte man das Porträt Luthers.
schon vor seinem älteren Bruder zur neuen Lehre über, Elisabeth floh aus Glaubensgründen (ihr Mann, Kurfürst Joachim I., wollte sie beim katholischen Glauben halten) 1528 aus Berlin nach Wittenberg, was zum landeskundigen Skandal wurde, und Albrecht von Preußen, der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, säkularisierte auf Luthers Rat hin 1525 den Ordensstaat. Die Konstellation des Bildpersonals sollte wohl nichts anderes suggerieren, als dass Joachim II. schon früh für den neuen Glauben empfänglich gewesen sei und dass seine Mutter, Elisabeth von Dänemark, bei der religiösen Erziehung und Unterweisung des zukünftigen Kurfürsten eine wichtige Rolle gespielt habe. Dieser Gruppe gegenüber stehen dann, getrennt übrigens durch eine Darstellung des Abendmahls, die ‚neuen‘ Vertreter des ‚wahren‘ Glaubens aus dem Hause Hohenzollern, unter ihnen Kaiser Wilhelm II. Im Berliner Dom, von Julius Karl Raschdorff (1823–1914) zwischen 1893 und 1905 gebaut, wurden unter der Kuppel, deren Zwickel Reliefs aus der Apostelgeschichte aufnahmen, acht Standbilder aufgestellt. Die vier dargestellten Reformatoren – Luther, Melanchthon, Zwingli (1484–1531) und Calvin (1509–1564) – werden damit, will man es überspitzt formulieren, als ‚Apostelnachfolger‘ inszeniert, die vier weltlichen Herrscher – Friedrich der Weise (1463–1525), Joachim II., Philipp von
Oder nehmen wir die beiden wichtigsten evangelischen Kirchen des Hauses Hohenzollern selbst, den Berliner Dom und die im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die Franz Heinrich Schwechten (1841–1924) zwischen 1891 und 1895 in romanisierenden Formen errichtete: In der mit einem Teil des Turmes erhalten gebliebenen Vorhalle der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche konnte der Gläubige ein von Hermann Schaper (1853–1911) entworfenes und von der Rixdorfer Glasmosaikgesellschaft Puhl & Wagner ausgeführtes byzantinisierendes Mosaik bewundern, auf dem u. a. Joachim II. mit seinem Bruder Johann von Küstrin (1513–1571) sowie deren Mutter Elisabeth von Dänemark und Herzog Albrecht von Preußen (1490–1568) zu sehen sind. Bis auf Joachim II. selbst waren alle schon früh Anhänger des Reformators: Johann von Küstrin trat
268 Hessen (1504–1567) und Albrecht von Preußen als Beschützer und Förderer des neuen Glaubens. Der ganze Domschmuck war nichts anderes als ein protestantisches Heilsprogramm unter Einbeziehung von Reformatoren und Persönlichkeiten, die sich um die Reformation verdient gemacht hatten. Nahezu allgegenwärtig in der Reichshauptstadt war diese halboffizielle und offizielle ‚Staatskunst‘, die mit den überall entstandenen Lutherdenkmälern – 1883 feierte man den 400. Geburtstag des Reformators – mithelfen sollte, den lutherischen Glauben zu propagieren. Gleicher unter Gleichen!? Die Herausbildung einer nationalen Identität verhärtete ab 1871 im Kernland des Deutschen Reiches, in Brandenburg-Preußen, erneut die Fronten in einem jahrhundertealten Konflikt. Das Herrscherhaus war an eine Kirche gebunden, deren konfessionelle (und politische) Gegner bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Geschichtslosigkeit eben dieser Kirche an den Pranger stellten und die Reformation selbst gar als Ursache für das Auseinanderfallen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verantwortlich machten. Um diesen Vorwürfen die Spitze zu nehmen, zog man sich (auch) auf protestantischer Seite auf historisch rückprojizierende Argumentationsmuster zurück – zugleich dienten die preußisch-protestantischen Geschichtskonstruktionen der Versicherung der eigenen (gleich nationalen) Identität und der Legitimation ihrer Politik als ‚historische Aufgabe‘. Dem versuchten die Berliner katholischen Gemeinden mit ihrer Geschichtsvorstellung entgegenzusteuern, indem sie mit Hilfe ihrer Kirchenneubauten die Erinnerung an die vorreformatorische Geschichte wachhielten. Damit unterstrichen sie einerseits ihre Gleichberechtigung, da sie wie beim evangelischen Kirchenbau auch den märkischen Backsteinstil verwendeten, und andererseits hoben sie damit hervor, unter Gleichen doch ‚gleicher‘ sein zu wollen in dem Sinne, dass man über die ältere, eben vorreformatorische Geschichte verfügte. Beide Aspekte kennzeichnen janusköpfig die Verwendung des Baumaterials Klosterziegel und des märkischen Backsteinstils. Der Anspruch auf einen Rang als primi inter pares bedeutete nichts weniger als ein Spagat zwischen dem Bedürfnis, gut katholisch sein zu wollen – und damit einer vornationalen Bindung und überstaatlichen Autorität, Kirche und Papst, zu folgen – und dennoch als gut deutsch wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Deutlich spiegelt sich dies in der katholischen Sakralarchitektur Berlins um 1900 wider. 13. Epilog: „Ich kenne keine Parteien mehr …“ Theodor Fontane bringt in seinem letzten Werk, „Der Stechlin“, die Ressentiments konservativpreußischer Kreise gegen den Katholizismus im Wilhelminischen Kaiserreich der Jahrhundertwende
knapp und bündig auf den Punkt: „…, der Unglaube wächst und das Katholische wächst auch. Und das Katholische, das ist das Schlimmere. Götzendienst ist schlimmer als Unglaube“.82 Was Fontane seiner Romanfigur Adelheid von Stechlin, der verknöcherten Domina eines evangelischen Damenstiftes, beim Tischgespräch in den Mund legt, dürfte den Leser der ersten Buchausgabe von 1899 getroffen haben, so oder so. Angesprochen war nämlich der Konflikt, der seit dem Bismarck’schen Kulturkampf von evangelischer und katholischer Seite in Preußen heftig ausgetragen wurde. Wann kann man dafür einen (vorläufigen?) Schlusspunkt setzen? Der Einschnitt bei der inhaltlichen Überhöhung des Stils, aber besonders des Materials beim Berliner Kirchenbau des Historismus ist mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges festzumachen. Im übertragenen Sinne ist der von Wilhelm II. am 4. August 1914 mit stolzen Worten verkündete Burgfrieden – „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“83 – auch auf unseren Gegenstand anzuwenden. Dies bestimmte das (einstweilige) Ende der aggressiven Abgrenzung der beiden großen Konfessionen in Deutschland. Literatur
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Luthers Werke WA Br 8, Nr. 3421 (vom 4. [5.?] Dezember 1539). Luthers Werke WA Br 8, Nr. 3420 (vom 4. [5.?] Dezember 1539). Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (= Brandenburgische Historische Studien; 14). Hrsg. von Heinz-Dieter Heimann u.a., 2 Bde. Berlin 2007, hier Bd. 1, S. 160–171: BerlinCölln, Dominikaner, und S. 172–183: Berlin-Cölln, Kollegialstift. Zu Wittenberg siehe Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533) (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation …; 74). Tübingen 2014; zu Halle siehe (Ausstellungskatalog Halle an der Saale) Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg, Renaissancefürst und Mäzen, Bd. 1: Katalog, hrsg. von Thomas Schauerte; Bd. 2: Essays, hrsg. von Andreas Tacke. Regensburg 2006. Nikolaus Müller, Der Dom zu Berlin. Kirchen-, kultus-, und kunstgeschichtliche Studien über den alten Dom in Köln-Berlin. Bd. 1 (nicht mehr erschienen). Berlin 1906. Andreas Tacke, Der Reliquienschatz der BerlinCöllner Stiftskirche des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 57 (1989), S. 125–236. Andreas Tacke, Der katholische Cranach. Zu zwei Großaufträgen von Lucas Cranach d.Ä., Simon Franck und der Cranach-Werkstatt 1520–1540
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(= Berliner Schriften zur Kunst; 2). (Berlin-West, Univ., Diss., 1989) Mainz 1992, S. 170–267. Hans-Georg Aschoff, Berlin als katholische Diaspora, in: Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Großstadt im 19. Jahrhundert und im beginnenden 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 74), hrsg. von Kaspar Elm und Hans-Dietrich Loock. Berlin und New York 1990, S. 223–232, hier S. 224. Ein Überblick bei Günther Kühne und Elisabeth Stephani, Evangelische Kirchen in Berlin, Berlin 1978; sowie: Berlin und seine Bauten, Teil 6: Sakralbauten. Hrsg. vom Architekten- und IngenieurVerein zu Berlin. Berlin 1997. Ein Überblick bei Gebhard Streicher und Erika Drave, Berlin, Stadt und Kirche. Eine Veröffentlichung des Bischöflichen Ordinariats Berlin (West). Berlin 1980; vgl. Berlin und seine Bauten (wie Anm. 9). Vossische Zeitung vom 1. November 1889. Die Reformation in der Mark, in: Vossische Zeitung (Nr. 511) vom 1. November 1889. Andreas Tacke, Klosterziegel contra Reichsziegel, Überlegungen zur Ikonographie und Ikonologie der Berliner Architektur und bildenden Kunst des späten Historismus, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 141–159. Deutsche Bauzeitung 4 (1870), S. 397; siehe auch Zeitschrift für Bauwesen 21 (1871), S. 3f. Deutsche Bauzeitung 4 (1870), S. 397. Andreas Tacke, Christoph Hehl und St. Marien am Behnitz. Zu den Umbau-, Abriß- und Neubauplänen zwischen 1896 und 1900, in: Die Kirche St. Marien am Behnitz in Spandau, Ein vergessenes Werk August Sollers. Hrsg. von Helmut Kißner und Cordia Schlegelmilch, mit Beiträgen von (...). Berlin 2004, S. 87–94. Andreas Tacke, Kirchen für die Diaspora. Christoph Hehls Berliner Bauten und Hochschultätigkeit 1894–1911 (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin; Beiheft 24). Berlin 1993, S. 44; zur Kirche vgl. S. 119–139 und S. 203–227. Deutsche Bauzeitung 31 (1897), S. 359. Tacke, Kirchen für die Diaspora (wie Anm. 17), S. 40. Andrea Elisabeth Giersbeck, Christoph Hehl (1847–1911). Ein Kirchenbaumeister zwischen Dogmatismus und Emanzipation (= Quellen und Studien zur Geschichte und Kunst im Bistum Hildesheim; 7). (Basel, Univ., Diss., 2009) Regensburg 2014. Zur Kirche siehe Tacke, Kirchen für die Diaspora (wie Anm. 17), S. 140–159 und S. 295–298, Abb. 73–84. Berliner Architekturwelt 4 (1902), S. 42. Berliner Architekturwelt 4 (1902), S. 45. Deutsche Bauzeitung 33 (1899), S. 438. [Kirchenfestschrift] Gebete und Ceremonien bei der Consecration der katholischen Pfarrkirche
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zu Steglitz [...] am 11. November 1900. o.O. o.J. [1900], S. 4. Zur Kirche siehe Tacke, Kirchen für die Diaspora (wie Anm. 17), S. 188–202 u. S. 300f., Abb. 103– 109. Deutsche Bauzeitung 43 (1909), S. 181. Josef Limburg, Christliche Bildwerke und Tagebuchblätter aus der Schaffenszeit. München o.J. [1928], S. 113. Zu den beiden Zisterzienserklöstern vgl. Brandenburgisches Klosterbuch (wie Anm. 3), hier Bd. 1, S. 329–359: Chorin, und Bd. 2, S. 764–803: Lehnin. Vgl. Streicher/Drave, Berlin (wie Anm. 10), S. 257. Pfarrarchiv St. Petrus, Berlin-Wedding: (Manuskript) Pfarrchronik, S. 25. Märkische Volkszeitung vom 20. Dezember 1906. Stephan Warnatsch, Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542 (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser; 12). (Berlin, Univ., Diss., 1999) 2 Bde., Berlin 2000. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 3: Havelland (= Große Brandenburgische Ausgabe), hrsg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin 1997, S. 76. Fontane, Havelland (wie Anm. 33), S. 80. Fontane, Havelland (wie Anm. 33), S. 85. Bereits vor Wilhelm I. lief durch Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) als stemmatis ultimus das Vatizinium ab. Eduard Wilhelm Sabell, Die Literatur der sogenannten Lehninschen Weissagung, in: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswesen 1879 [die Bibliographie erschien im gleichen Jahr auch als Separatdruck], (Anhang) S. 6f., Zeile 54 (dt. und lat.). Siehe dazu Tacke, Kirchen für die Diaspora (wie Anm. 17), S. 67–80. Christoph Hehl, Die altchristliche Baukunst in der Auffassung des Architekten, in: Deutsche Bauzeitung 35 (1901), S. 186–188 und S. 193f., hier S. 187f. Hehl, Die altchristliche Baukunst (wie Anm. 38), S. 194. Deutsche Bauzeitung 43 (1909), S. 350. Siehe Werner Oechslin, Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architektur (= Studien und Texte zur Geschichte der Architekturtheorie). Zürich und Berlin 1994. Rebecca Ayako Bennette, Fighting for the Soul of Germany: The Catholic Struggle for Inclusion after Unification. Cambridge 2012. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der ‚Deutschen Doppelrevolution‘ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges, 1849–1914. München 1995, S. 379f. Zur Ausgangssituation siehe Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat. (1. Aufl. 1983) 6. durchges. Aufl. München 1993, S. 406–440.
270 45 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. (1. Aufl. 1990) 3. durchges. Aufl. München 1993, S. 428f. 46 Siehe Helmuth Walser Smith, German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics, 1870–1914. Princeton, N.J. 1995. 47 Siehe den Überblick bei Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 45), S. 428–468: „Die Katholiken“ und S. 468–507: „Die Protestanten“; sowie Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 43), S. 379–396 und S. 1171–1191. 48 Horst Schallenberger, Untersuchungen zum Geschichtsbild der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit. Eine vergleichende Schulbuchanalyse deutscher Schulgeschichtsbücher aus der Zeit von 1888 bis 1933. (Köln, Univ., Diss., 1962) Ratingen bei Düsseldorf 1964. 49 Siehe zusammenfassend Notker Hammerstein, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871– 1933. Frankfurt am Main und New York 1995. 50 Zu ihm siehe Andreas Tacke, Nikolaus Müller – der Gründer des Melanchthonhauses Bretten, in: Das Melanchthonhaus Bretten. Ein Beispiel des Reformationsgedenkens der Jahrhundertwende. Hrsg. von Stefan Rhein und Gerhard Schwinge. Ubstadt-Weiher 1997, S. 103–128, und – mit größerer Gewichtung der Berliner Situation – Andreas Tacke, Nikolaus Müller. Christlicher Archäologe, Melanchthon- und Reformationszeitforscher, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 61 (1997), S. 8–37. 51 Siehe Christel Köhle-Hezinger, Evangelisch – Katholisch. Untersuchungen zu konfessionellem Vorurteil und Konflikt im 19. und 20. Jahrhundert, vornehmlich am Beispiel Württembergs (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen; 40). Tübingen 1976, S. 265. 52 Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte; Reihe B, Forschungen 59). Mainz 1992, S. 162. 53 Altgeld, Katholizismus (wie Anm. 52), S. 163. 54 Karl [August von] Hase, Handbuch der protestantischen Polemik gegen die römisch-katholische Kirche. (1. Aufl. 1862) 4. verb. Aufl. Leipzig 1878, S. 593. Das 1900 in der 7. Auflage erschienene Werk behandelt in drei Büchern die Kirche (Klerus und Papsttum), das Heil (Glaube und Werke, Sakramente) und Beisachen (Kultus, Kunst, Wissenschaft und Literatur, Politik und Nationalität). 55 Centralblatt der Bauverwaltung 22 (1902), S. 517. 56 Leider scheint man beim Verfassen des Berliner Inventarbandes „Berlin und seine Bauten, Teil 6: Sakralbauten“ (wie Anm. 9) kein besonderes Gewicht auf die materialikonologischen Aspekte gelegt zu haben. So sind die Angaben zu den Baumaterialien (hier Ziegel) zu allgemein ausgefallen, um mittels dieses Bandes eine Statistik aufstellen
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zu können; vgl. zu den Zitaten ebd., S. 383 und S. 386. M. Winter, Der Kampf um das Klosterformat, in: Deutsche Bauhütte, Zeitschrift für alle Zweige praktischer Baukunst 5 (1901), S. 101–102, hier S. 101. Winter, Kampf um das Klosterformat (wie Anm. 57). Vgl. die Aufzählung bei Winter, Kampf um das Klosterformat (wie Anm. 57). Siehe Horst Karl Marschall, Friedrich von Thiersch. Ein Münchner Architekt des Späthistorismus, 1852–1921 (= Materialien zur Kunst des 19. Jahrhunderts; 30). München 1982, S. 263–271 Nr. 37 und S. 279–282 Nr. 46. Friedrich von Thiersch, Das Neue Justizgebäude an der Luitpoldstraße in München. Denkschrift. München 1908, S. 5 und S. 7. Andreas Tacke, Lehnin: Von der mittelalterlichen Klosterkirche zum national-dynastischen Denkmal im 19. Jahrhundert, in: Von Berlin nach Weimar, 2 Bde.; hier Bd. 1: Kunstgeschichte und Museum, Beiträge zu Ehren von Rolf Bothe, hrsg. von Michael Bollé und Thomas Föhl. München und Berlin 2002, S. 62–83. Zitiert nach Eva Börsch-Supan und Dietrich MüllerStüler, Friedrich August Stüler 1800–1865. Hrsg. vom Landesdenkmalamt Berlin. München und Berlin 1997, S. 652. Siehe Johannes Burkhardt, Kriegsgrund Geschichte? 1870, 1813, 1756 – historische Argumente und Orientierungen bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Johannes Burkhardt, Josef Becker, Stig Förster, Günther Kronenbitter, Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung. München 1996, S. 9–86, hier S. 71. Nipperdey, Deutsche Geschichte (wie Anm. 45), S. 439. Siehe Johannes Burkhardt, Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur, in: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Dieter Düding, Peter Friedemann und Paul Münch. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 212–236. Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992, S. 131. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 67), S. 137. Märkische Volkszeitung vom 21. November 1889: vgl. auch die Ausgabe vom 22. November 1889. – Der Vortrag wurde mit veränderten Titel gedruckt; Wilhelm Thuemmel, Die Asche Clarenbachs, des Märtyrers der bergischen Kirche. Vortrag, gehalten ... am 19. November 1889. Berlin 1890. Köhle-Hezinger, Evangelisch – Katholisch (wie Anm. 51), S. 265–278, hat am Beispiel Württembergs die konfessionellen Vorurteile und Konflikte im 19. und 20. Jahrhundert untersucht und zahlrei-
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che Belege für den Bereich der nationalen Rivalitäten angeführt. Siehe Johannes Burkhardt, Die ideologische Begründung des neuen Katholizismus aus der Geschichte in deutschen Texten des 19. Jahrhunderts, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden zum 60. Geburtstag am 14. Mai 1976. Hrsg. von Horst Rabe, Hansgeorg Molitor und Hans-Christoph Rublack (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Supplementband 2). Münster 1976, S. 433–460, hier S. 448f. Vgl. auch die Märkische Volkszeitung vom 22. Februar 1889: „Wie man in vorreformatorischer Zeit Kirchen baute“. Wie Deutschland protestantisch wurde. Nach Dr. Joh. Janssen (= Apologetische Hefte des katholischen Glaubensapostolates; 10–11). Graz o. J. [1931], S. 43. Theodor Fontane, Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 (= Große Brandenburgische Ausgabe), hrsg. von Christine Hehle. Berlin 2011, 1. Bd., Kap. V.: In der Kirche, S. 43. – Siehe Andreas Tacke, „jung wie ein Parvenü“. Auswirkungen der Reformation auf die Baugeschichte Preußens, in: „Es thvn iher viel Fragen ...“. Kunstgeschichte in Mitteldeutschland, Hans-Joachim Krause gewidmet. Petersberg 2001, S. 239–244. Friedrich Adler, Wittenberg und Jerusalem, in: Friedrich Adler, Zur Kunstgeschichte. Vorträge, Abhandlungen und Festreden. Berlin 1906, S. 198– 209, hier S. 200. Siehe „Restauration der Schlosskirche von Wittenberg“, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 3 (1883), S. 282–283, hier S. 282. Vgl. Martin Steffens, Der Umbau der Wittenberger Schloßkirche unter Friedrich Adler, in: (Ausstellungskatalog Wittenberg) Von der Kapelle zum Nationaldenkmal, Die Wittenberger Schloßkirche. Hrsg. von Martin Steffens und Insa Christiane Hennen. Wittenberg 1998, S. 89–104, bes. S. 90f. und Kat.Nr. 55 und 56.
77 Siehe Jürgen Krüger, Die Restaurierung der Wittenberger Schloßkirche – ein Schlüssel zur wilhelminischen Kirchenpolitik, in: 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation. Hrsg. von Stefan Oehmig. Weimar 1995, S. 405–417, hier S. 408f. mit den Abb. 21–24; Martin Treu, Reformation als Inszenierung. Die Neugestaltung der Schloßkirche zu Wittenberg 1885–1992, in: Das Melanchthonhaus Bretten. Ein Beispiel des Reformationsgedenkens der Jahrhundertwende. Hrsg. von Stefan Rhein und Gerhard Schwinge. Ubstadt-Weiher 1997, S. 15–29. 78 Siehe hierzu Annemarie Menke-Schwinghammer, Weltgeschichte als ‚Nationalepos‘. Wilhelm von Kaulbachs kulturhistorischer Zyklus im Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin. Berlin 1994, S. 58–88: „Das Zeitalter der Reformation“, bes. S. 70–72. 79 Menke-Schwinghammer, Weltgeschichte (wie Anm. 78), S. 169–187. 80 Andreas Tacke, Zu den Metamorphosen eines Herrscherbildes. Die Darstellungen des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Kunst, Kritik, Geschichte. Festschrift für Johann Konrad Eberlein. Hrsg. von Johanna Aufreiter, Gunther Reisinger, Elisabeth Sobieczky, Claudia Steinhardt-Hirsch. Berlin 2013, S. 353–372. 81 Luthers Werke WA 6, S. 204–250, hier S. 240, Zeile 24, 25; vgl. S. 232, Zeile 13, 14. 82 Theodor Fontane, Der Stechlin (= Große Brandenburgische Ausgabe), hrsg. von Klaus-Peter Möller. Berlin 2001, S. 96. 83 „Eröffnungssitzung im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin am Dienstag, den 4. August 1914“, in: Verhandlungen des Reichstages / Stenographische Berichte, Bd. 306, 13. Legislaturperiode, 2. Session, Von der Eröffnungssitzung am 4. August 1914 bis zur 34. Sitzung am 16. März 1916. Berlin 1916, S. 1f., hier S. 2 (rechte Spalte).
272 Eike Wolgast
Das Wartburgfest 1817 Reformationsgedenken und Protest gegen das Wiener System Das Wartburgfest vom 18./19. Oktober 1817 war Höhepunkt und zugleich vorläufiges Ende einer politisch-nationalen Festkultur, die ihr Vorbild in den Nationalfesten der Französischen Revolution hatte – von der Föderationsfeier am 14. Juli 1790 bis zum Fest des Höchsten Wesens (Étre suprême) am 8. Juni 1794. Friedrich Ludwig Jahn, der Erfinder des Turnwesens, regte bereits 1810 in seinem Buch „Deutsches Volkstum“ an, periodisch deutsche Nationalfeste zu veranstalten; als Memorialanlässe nannte er die Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr., die Abwehr der Ungarn durch Heinrich I. 933 und den Tag des Augsburger Religionsfriedens 1555. In der kleinen Broschüre „Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht“ schlug Ernst Moritz Arndt 1814 vor, jährlich eine Gedenkfeier zur Erinnerung an die Völkerschlacht von Leipzig zu veranstalten, und entwarf dafür ein detailliertes Programm: Am 18. Oktober sollte ab 12 Uhr mittags ein Volksfest stattfinden, das am Abend mit Freudenfeuern, die bis Mitternacht zu unterhalten waren, endete; am folgenden Tag sollten die Obrigkeiten das Fest organisieren: Vormittags „prangende Aufzüge der Gewalten und Behörden“ sowie Gottesdienste, am Nachmittag Feste mit Herausstellung des Gemeinsamen und Vaterländischen, das „eigentliche ächt Teutsche“ (Arndt, 13). Um sich auch äußerlich als „teutsche Menschen von allen anderen Völkern“ abzuheben, sollte „eine gemeinsame teutsche Volkstracht“ getragen werden; diese gehört „zu den nothwendigsten und unerläßlichsten Dingen, die wir uns beilegen müssen, wenn wir mehr und mehr wieder ein Brudervolk werden wollen, was wir aufgehört hatten zu seyn“ (13f.). Arndts Vorschläge für die Festgestaltung erstreckten sich bis zu den Haustieren, die an diesem Tag „besser als gewöhnlich gehalten und gepflegt“ werden sollten. In der Tat fanden 1814 – und dann in den folgenden Jahren – an vielen Orten Deutschlands derartige Nationalfeste mit Freudenfeuern und Gottesdiensten statt, organisiert von den „Deutschen Gesellschaften“ und örtlichen Honoratioren, aber begleitet von wachsendem Misstrauen der staatlichen Instanzen. Im Großherzogtum Hessen-Darmstadt wurden solche Feste 1816 verboten, im Königreich Bayern 1817. Neben diesen generellen Impuls für das Wartburgfest trat ein spezifisch studentenpolitisches Anliegen: die Aufhebung der partikularistischen Auffächerung der Studentenschaft einer Universität in Landsmannschaften und ihre Neuorganisation in einer einheitlichen Burschenschaft. Dieses Postulat formulierte der Heidelberger Burschenschafter Friedrich Wilhelm Carové 1818: „Jeder Immatrikulierte ist Bursche und Mitglied einer Bur-
schenschaft.“ 1815 wurde in Jena die erste Burschenschaft gegründet; Gießen und Heidelberg folgten. Aus dem Kreis um Jahn in Berlin kam die Anregung, die bevorstehende dreihundertste Wiederkehr des Anschlags der 95 Thesen und damit den Beginn der Reformation zu nutzen und die Memoria dieses Ereignisses mit dem Nationalfest wegen der Völkerschlacht zu kombinieren. Die Jenaer Burschenschaft setzte den Gedanken um und lud dreizehn evangelisch geprägte Universitäten Deutschlands aus Anlass der Doppelmemoria auf die Wartburg ein. Die Wahl des Ortes wurde nicht begründet, verstand sich aber in ihren Konnotationen offenkundig von selbst: Minnesänger, die heilige Elisabeth von Thüringen, Luthers Aufenthalt und die Bibelübersetzung, allgemeine Burgenromantik, das Großherzogtum Sachsen-Weimar als Verfassungsstaat. In der Einladung war bereits das Festprogramm skizziert: Der Reformation sollte mit einem Gottesdienst auf der Wartburg gedacht werden, der Leipziger Schlacht durch Freudenfeuer. Als dritter Anlass wurde die erste Zusammenkunft deutscher Studenten im Anschluss an die Feuer genannt („fröhliches Gelag“). Durch diese Zusammenkunft sollte wenigstens für den eigenen Lebensbereich eine deutschlandweite und territorienübergreifende Selbstorganisation organisiert werden. Zugleich war damit das wichtigste Motiv für das Wartburgfest überhaupt bezeichnet: die Pflege des Nationalbewusstseins, verbunden mit der Enttäuschung über die Regelung der deutschen Frage in der Bundesakte von 1815 sowie über den Abbruch der Reformpolitik und der Konstitutionalisierung des politischen Systems. Vor allem in den Antworten auf die Einladung wurde dem Fest der unmittelbar politische Charakter unterlegt, so in der Tübinger Reaktion: Eine Zusammenkunft, „um gemeinschaftlich sich zu freuen, um sich brüderlich die Hand zu reichen und sich einander zu geloben, für das Wohl des Vaterlandes zu wirken“ oder – noch gesteigert – sich zu verpflichten, „für das Wohl und für die Freiheit meines Vaterlandes mit aller Kraft und unüberwindlichem Muthe“ zu wirken (Kühn, 17). Entsprechend hieß es in der Antwort aus Heidelberg: „Der Himmel segne unser gemeinsames Streben, Ein Volk zu bilden“ (Kühn, 15). Am 18. Oktober versammelten sich nach Ausweis der Präsenzliste, in die sich jeder ankommende Student eintragen musste, 366 Studierende in Eisenach (etwa 5% der deutschen Hochschülerschaft; Zahlen bei Meding, 214–218), davon mehr als 200 aus Jena und etwa 80 aus Göttingen. Für die Reformationsfeier im Rittersaal der Wartburg wurden „gegen 1.000“ Eintrittskarten ausgegeben (Kühn, 40), was auf eine beträchtliche Beteiligung der Be-
273 völkerung von Eisenach und Umgebung schließen lässt. Der äußere Festverlauf entsprach weitgehend dem Programm des Einladungsschreibens: 18. Oktober vormittags paarweiser Zug der Studenten auf die Wartburg; dort gottesdienstartige Feier mit Gesang von „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu Beginn und „Nun danket alle Gott“ als Abschluss; Ansprache des Jenaer Theologiestudenten Heinrich Hermann (Arminius) Riemann (1793–1872), des einzigen Kriegsteilnehmers unter den Hauptrednern des Wartburgfestes und Inhaber des Eisernen Kreuzes, sowie Gebet und Segen. Daran schloss sich eine kurze improvisierte Ansprache des Jenaer Philosophieprofessors Jakob Friedrich Fries und vor dem Essen im Burghof (mit 600 Personen) eine Rede des Jenaer Naturforschers Lorenz Oken mit der Aufforderung, Satzungen für eine gesamtdeutsche Burschenschaft auszuarbeiten, an. Nach dem Essen Rückkehr nach Eisenach und Teilnahme am städtischen Festgottesdienst zusammen mit dem Eisenacher Landsturm, der das „Volk in Waffen“ repräsentierte; anschließend Turnübungen auf dem Marktplatz. Abends erneut paarweiser Zug, gemeinsam mit dem Landsturm, auf den Wartenberg, einer Erhebung gegenüber der Wartburg, auf der schon in den vergangenen Jahren im Oktober Freudenfeuer gebrannt hatten; dort Entzündung von Feuern – das Holz hatte auf Anweisung Großherzog Carl Augusts die Weimarer Regierung zur Verfügung gestellt – zur Feier der Leipziger Völkerschlacht mit Rede des 19-jährigen Jenaer Philosophiestudenten Ludwig Rödiger (1798–1866). Im Anschluss daran fand an einem der Feuer die im Festprogramm nicht vorgesehene Verbrennung missliebiger Bücher und von Symbolen des preußischen, österreichischen und hessischen Militarismus statt, begleitet von einer – im Wortlaut nicht überlieferten – Rede des Jahnanhängers und Berliner Philologiestudenten Hans Ferdinand Maßmann (1797–1874). Die Bücherverbrennung, eine „wirre Mischung aus antikonservativem Protest, Germanenkult, Frankophobie und Judenhaß“ (Wehler II, 335), konnte sich gleichfalls auf die Reformationsmemoria berufen: Maßmann machte in seiner Rede die Verbrennung der Bannandrohungsbulle durch Luther Ende 1520 als Vorbild für seine Aktion namhaft. Wieviele der auf dem Wartenberg Anwesenden von dem Spektakel Kenntnis nahmen, ist unbekannt. Fries gab allerdings in seiner Verteidigungsschrift an, von dem Akt vorher gewusst und auch die Liste der Titel gesehen zu haben. Die Bücherverbrennung sollte für die Zeitgenossen und die Folgezeit das Urteil über das Wartburgfest prägen. Am 19. Oktober vormittags fand ein erneuter Zug von 300 Studenten, die sich noch in Eisenach aufhielten, auf die Wartburg statt, um in einer geschlossenen Versammlung im Rittersaal über studentische Organisationsfragen zu beraten. Erster Redner war Friedrich Wilhelm Carové (1789–1852),
ein Hegelschüler aus Heidelberg, der katholischer Konfession war. Zu Beschlüssen kam es bei der Versammlung nicht. Nach dem Zug zurück in die Stadt wurden auf dem Marktplatz improvisierte Reden gehalten, danach als Zeichen der Versöhnung und des Ausgleichs aller Streitigkeiten ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert. Zum Abschluss fand noch eine interne Zusammenkunft führender Burschenschafter statt, in der u. a. die Gründung einer Burschenschaftszeitung beschlossen wurde. Ihr Erscheinen verhinderte jedoch ein Verbot des Großherzogs Carl August. Die von Riemann, Rödiger und Carové gehaltenen Reden sind inhaltlich dem jeweiligen Anlass angepasst. Ihr ursprünglicher Wortlaut ist nicht erhalten; Rödiger und Carové haben ihre Reden vielmehr nachträglich ausgearbeitet und noch im Oktober 1817 in eigenen Broschüren publiziert, während die von Riemann gehaltene Rede im Festbericht des Jenaer Medizinprofessors Dietrich Georg Kieser dokumentiert ist. Beim Lutherbild und bei der Reformationsrezeption erweisen sich die Grundgedanken in den drei Reden als identisch: Luther wurde als geistiger Befreier in Parallele gesetzt zu den Kämpfern der Völkerschlacht und der Befreiungskriege als politischen Befreiern. 1517 erfolgte die Befreiung des deutschen Geistes, 1817 die der deutschen Erde, dem „Wiedergeburtsfest des freien Gedankens“ entsprach das „Errettungsfest des Vaterlandes aus schmählichem Sklavenjoch“ (Riemann; Kühn, 56). Das von den Rednern entworfene Lutherbild entsprach zur Gänze dem Lutherbild der Aufklärungstheologie und des theologischen Rationalismus: Luther als Vorkämpfer gegen Glaubenszwang und für Geistesfreiheit. Seine Theologie wurde von niemandem in den Blick genommen, das in Gott gebundene Gewissen kam ebenso wenig zur Sprache wie die Frage nach dem gnädigen Gott und nach der Rechtfertigung, die Christologie und die Sakramentenlehre. Zentralpunkte von Luthers Theologie und ihrer Wirkung auf Zeitgenossen und Nachlebende blieben mithin unerwähnt, ebenso seine Auffassung von der Obrigkeit und die Zwei-Regimente-Vorstellung. Lediglich der Theologe Riemann beschäftigte sich etwas intensiver mit Luther, ohne aber letztlich über den Topos der Geistesfreiheit als die entscheidende Großtat des Reformators hinauszukommen. Luther war für ihn nicht der Erneuerer der biblischen Botschaft und Wiederentdecker des Evangeliums, sondern der Kämpfer für den freien Gedanken. Immerhin erwähnte Riemann, dass Luther gegen die römischen Ansprüche den Gedanken formuliert habe, dass man niemanden zum Glauben zwingen könne, jeder glaube auf eigene Gefahr und müsse selbst sehen, dass er recht glaube. Auch die in den anderen Reden zu beobachtende nationale Engführung auf den „deutschen Luther“ weitete Riemann etwas aus, indem er unterstrich, dass Luther durch die Abschaffung vieler Missbräuche „wohlthätig für alle
274 Völker“ gewirkt habe (Kühn, 58), um danach aber sofort wieder das besondere Verdienst Luthers für „sein deutsches Volk“ zu würdigen, „dem er die heilige Schrift, dem er den Gottesdienst deutsch gab, dem er den unendlich reichen Schatz seiner Sprache aufschloss“ (ebd.). Den Vorwurf, Luther habe durch die Glaubensspaltung „die Zwietracht und Zerrissenheit“ des deutschen Volkes verschuldet, wies Riemann zurück: „Das war die Schuld seiner Gegner, die göttliches und menschliches Recht anzuerkennen verschmähten“ (ebd.). Mit der Formulierung, dass der von Luther restituierte reine Gottesglaube sich nur recht manifestieren könne, „wenn er fußet im vaterländischen Boden, wenn er seine Anwendung findet im Vaterlande, durch dieses im bürgerlichen Wirkungskreise und weiter im häuslichen Leben“ (Kühn, 58f.), schlug Riemann den Bogen zum zweiten großen Thema der Reden und des ganzen Festes, der deutschen Volk- und Staatwerdung. Auch Ludwig Rödiger pries Luther als „Vaterlandshelden“, während der katholische Carové in der Formel „Geist und Recht“ Luther in Anspruch nahm als Erzieher zur geistigen Freiheit, den „Gedanken des Rechtes“ dagegen für die Helden der Befreiungskriege, die durch ihn „die fremden Unterdrücker besiegten“, reservierte (Dietz, 46). Jakob Friedrich Fries verwies in seiner am 19. Oktober von Rödiger in der studentischen Versammlung verlesenen und im Druck an viele Teilnehmer verteilten Rede „An die deutschen Burschen. Zum 18. Oktober 1817“ auf den Tagungsort, von dem aus „Luther, der Mann Gottes, das deutsche Wort der ewigen Wahrheit dem deutschen Volk“ gegeben habe. Er fügte als Verdienst Luthers hinzu: „Und entzündete den Kampf, den blutigen Kampf um Geistesfreiheit, Bürgergleichheit“. Vollends politisierte Fries den Reformator, wenn er feststellte: „Wohin Luthers siegender Ruf erscholl, da erwachte freyes Geistesleben im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit! Der Verkündiger, der ihn trieb, trieb durch ihn alle Volkskraft der letzten Jahrhunderte zu deutscher Geistesbildung und zu aller Entfesselung des Gedankens, aller Ausgleichung der Bürgerrechte, von dem an, was in den Niederlanden geschah bis hin zu den Freistaaten in Nordamerika!“ (Kühn, 50f.). Ein mit der Würdigung Luthers verbundener religiöser Grundton bestimmte auch die unmittelbar politischen Teile der Reden, nicht zuletzt durch die durchgehende Apostrophierung Gottes, der fast als deutscher Gott erschien, der jedenfalls die Deutschen wegen ihrer Xenophilie bestraft und ihnen jetzt nach ihrer Selbstbesinnung auf die eigenen Werte den Sieg gegeben hatte; für Carové kam der Ausgang der Völkerschlacht einem Gottesurteil gleich. In jeder auf dem Fest verkündeten Rangund Werteordnung stand Gott an der ersten Stelle, gefolgt von Vaterland und Freiheit. Religion wurde instrumentalisiert im Dienste des Patriotismus und der Nationaleinheit.
Ausgehend von einer sehr pauschalen Vergangenheitsdeutung, verband Riemann als erster Festredner Gegenwartskritik und Zukunftsperspektive. Die deutsche Entwicklung nach Luther beschrieb er als Verfallsgeschichte, gekennzeichnet durch „verderblichen Weltbürgersinn“ (Kühn, 59), dem die Vaterlandsliebe habe weichen müssen. Die deutschen Fürsten, deren Aufgabe es war, für das Reich zu sorgen, vergaßen über ihrem partikularen Eigennutz das gemeinsame Wohl; daraus resultierte die Strafe Gottes in Gestalt der Niederlage gegen Frankreich. Riemann würdigte durchaus die Ideen der Revolution des „wälschen Volks“ von 1789, das, „anfangs zur Freude der Welt, der Freiheit Fackel“ entzündete, aber bald seinen früheren Schwur, „nur für des eigenen Herdes Sicherheit und Unabhängigkeit zu kämpfen“, vergaß und zum Expansionskrieg überging (ebd.). „Im Gefühl der erlittenen Schmach, im Bewusstsein der verjüngten Kraft und im Vertrauen auf den allmächtigen Gott“ (Kühn, 60) – eine bezeichnende Mischung von Handlungsmotiven – siegte „die Stimme des ewigen Geistes der Gerechtigkeit“, gipfelnd in der Völkerschlacht von Leipzig. Das Ergebnis der vaterländischen Anstrengungen wertete Riemann ganz negativ: „Das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefasst, sie sind alle vereitelt; Alles ist anders gekommen als wir erwartet haben“ (Kühn, 60). Eine Ursachenanalyse nahm Riemann nicht vor, sondern stellte lediglich fest, dass nur der Großherzog von Sachsen-Weimar, „in dessen freiem Lande wir das Schlachtfest begehen“, das Verfassungsversprechen von Artikel 13 der Bundesakte eingelöst habe – daher der Begriff des „freien Landes“, den auch andere Redner benutzten, um die besondere politische Stellung Carl Augusts zu bezeichnen. Riemann warnte jedoch trotz des entmutigenden Fazits vor Resignation und Rückzug aus dem öffentlichen Leben oder vor Emigration, um „in fernen Welttheilen, wo neues Leben sich regt, ein neues Vaterland zu suchen“ (Kühn, 61). Vielmehr sollten die Studierenden gegen alle äußeren und inneren Feinde des Vaterlands zusammenstehen, nach Erkenntnis der Wahrheit und „nach jeder menschlichen und vaterländischen Tugend“ streben (ebd.). Ziel sollte „die Liebe zum einigen deutschen Vaterlande“ bleiben. Konkrete Forderungen, um dieses Ziel zu erreichen, formulierte er indessen nicht. Noch pathosreicher, wenn auch inhaltlich reflektierter als Riemann, aber gleichfalls ohne konkretes Programm äußerte sich Rödiger am Abend des 18. Oktobers auf dem Wartenberg bei der Feier der Völkerschlacht von Leipzig. Schlüsselbegriff seiner Rede war „der Geist“ in vielfältigen Konnotationen, so außer den im Folgenden zitierten Verbindungen „der eine und ewige Geist, deß Odem das All beseelt von Anfang an“ (Kühn, 71), „der Geist der Wahrheit“ (Kühn, 75), der „Gemeingeist der Gerechtigkeit“ (Kühn, 77), „der wahre Geist in uns“
275 (Kühn, 79), die Gegenüberstellung von Natur, die „uns alle verschieden geboren“, und Geist, der „uns zu Brüdern gemacht“ hat (Kühn, 76). Als Schüler von Fries mahnte Rödiger die sittliche Selbsterziehung des Einzelnen an und beschwor den „Geist der Tugend und Schönheit“ (Kühn, 76), den es im Vaterland zu verwirklichen galt; als Ideal hob er „die Kraft und Schönheit des Geistes wie des Leibes“, um dadurch als Mann „der wahren Bürgerkrone“ würdig zu werden (Kühn, 82), hervor. Er sprach von „ewigen Ideen der Menschheit“ (Kühn, 73) und von „freier sich fortgestaltender Menschheit“ (Kühn, 70). Der „echte und heilige Geist“ war ihm „der Geist der Freiheit und der Wahrheit“ (Kühn, 77). Mit seinem Geistbegriff verband Rödiger auch die Forderung des einheitlichen Vaterlandes. Wie Riemann sah er die Vergangenheit in düsterem Licht mit dem Schluss: „Fürsten buhlten schamlos um das Verderben […], auf den Trümmern unseres Glücks und unseres Namens verbluteten alle Völker, und die Knechte der Hölle triumphierten; denn wir waren kein Volk mehr“ (Kühn, 72). Scharfe Kritik übte er an den nicht eingelösten Zusagen: „In der Noth versprach man uns, ein Vaterland zu geben, ein einiges Vaterland der Gerechtigkeit“ (Kühn, 74). Nur der Weimarer Großherzog hatte das Verfassungsversprechen der Bundesakte eingelöst und damit im Geist seiner Vorfahren gehandelt, die Luther auf der Wartburg Zuflucht gewährten und mit dem Schwert „für die Reinigkeit des Glaubens und die Gerechtigkeit“ (Kühn, 74) eintraten – Rödiger wird dabei vermutlich weniger an den Schmalkaldischen Krieg als an Herzog Bernhard von SachsenWeimar, der im Dreißigjährigen Krieg für die evangelische Partei kämpfte, gedacht haben. Für Rödiger war der unbefriedigende Status quo nicht das letzte Wort. Er setzte auf die durch die Fremdherrschaft und die Befreiung von ihr hervorgerufene Politisierung der Deutschen: Das deutsche Volk hatte nach seiner Überzeugung „die Kraft des Selbstvertrauens“ gewonnen und „will sich nicht wiederum wiegen lassen in den ehrlosen Schlaf“ (Kühn, 74). Daraus leitete Rödiger auch das Selbstbewusstsein der Kriegsteilnehmer ab, Mitspracherechte einzufordern: „Wer bluten darf für das Vaterland, der darf auch davon reden, wie er ihm am besten diene im Frieden“ (Kühn, 75). Allerdings war der 19-jährige Student selbst gar nicht am Krieg beteiligt gewesen. Mit einer Drohformel erinnerte er die Regierenden an ihre Pflicht, das Verfassungsversprechen einzulösen: Möge „das Vertrauen des Volks nicht zu Schanden werden an seinen ersten Bürgern“ (Kühn, 77) – diese Formulierung war eine deutliche Herausforderung der deutschen Fürsten, die sich zumeist keineswegs nur als „erste Bürger“ verstanden. Für die freiheitsbewussten Deutschen konnte – eine weitere Provokation Rödigers – „in diesen papiernen Staaten ohne Seele“ (Kühn, 76) jedenfalls nicht die Zukunft liegen; der von Rödiger beschworene „Geist
der Tugend und der Schönheit“ konnte „nur dauernd unter einem einigen und starken Brudervolk wohnen“ (ebd.). Rödiger stellte den Studenten als konkrete Aufgabe, „der ächten Geistesbildung theilhaftig“ zu werden. Diese Bildung sollte jedoch nicht zweckfrei und universal sein, sondern „alle Wissenschaft soll dem Vaterland dienen und dem Leben der Menschheit“ (Kühn, 79). Zum Bildungserwerb trat die körperliche Ertüchtigung im Sinne Jahns, „auf daß unsere Körper reifen für die kommende Zeit und in Übung und Spiel eine keusche, frohe und lebendige Sitte wachse“ (Kühn, 81). Die Rede Carovés bei der Studentenversammlung am 19. Oktober rief offenbar weit weniger Begeisterung bei den Versammelten hervor als die Ansprachen Riemanns und vor allem Rödigers am Vortag. Carové nahm das nationalpatriotische Pathos etwas zurück zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung des universalen Aspekts sowie realistischer politischer Vorstellungen und beschrieb die Aufgabe der Studierenden wesentlich nüchterner als Rödiger. Schon das Motto der gedruckten Redefassung war in diesem Sinne formuliert: „Der Hochschüler in der Burschenschaft/Die Burschenschaften im Volk/die Völker in Gott!“ Carové zufolge sah das Vaterland „mit hoffnungsvollem Auge“ auf das Wartburgfest und auf die Studenten als „die ächten Stammhalter des neuen und reineren Volksgeistes“ (Dietz, 35). Das Volk erwartete, dass „die Jugend, die den äusseren Feind geschlagen“ – Carové war so wenig wie Rödiger Kriegsteilnehmer gewesen –, „auch den inneren, den verderblichsten Feind auszurotten sich feurigst bestreben werde“ (ebd.). Er argumentierte mit den emotional besetzten Begriffen Volksgeist, Gemeingeist oder „lebendiger Geist unseres Volkes“, der von der Jugend forderte, „daß eine Liebe uns Deutsche zu Brüdern verbinde, daß eine Ehre und ein Recht uns Allen gemeinsam sey!“ (Dietz, 36). Eindeutiger als Riemann und Rödiger hob Carové den Menschenrechtsimpuls der Französischen Revolution hervor, der „die Ideen von bürgerlicher Freiheit und von Vorurtheilsfreiheit erweckte und die Anerkennung der wahren Menschenwürde forderte“ (Dietz, 41). Dennoch blieb auch er letztlich im Volksgeistdenken befangen, wenn er die Befreiung vom geistigen Franzosentum, das Jahrhunderte hindurch die deutsche Geschichte und Kultur bestimmt habe, proklamierte. Von den Studierenden verlangte er – und hier lag vermutlich der wesentliche Grund für das nur verhaltene Echo seiner Rede –, das Bewusstsein einer Sonderexistenz aufzugeben und die studentische Standesehre in der Volksehre aufgehen zu lassen. Erst damit konnte nach seiner Überzeugung die Einheit der Deutschen, wie sie in der Völkerschlacht gestiftet worden war, auf Dauer bewahrt werden. Die Volksehre musste auch die Ehre der Studenten werden und jeder Student sich deshalb bemühen, „ein tüchtiger deutscher Staatsbürger und Wehrmann“ zu werden. „Wir finden un-
276 sere Ehre in der Liebe und Einigkeit aller deutschen Brüder“ (Dietz, 44). Die Volkseinheit musste sich sozial auswirken in der Überwindung der jeweiligen partikularen Standesehre zugunsten einer ständeübergreifenden Volksehre, politisch in der Schaffung eines Nationalstaates. Eine unmittelbar politische Betätigung der Hochschüler lehnte Carové ab, ihr Schlachtfeld („Walstatt“) war vielmehr die Hochschule. Das hieß konkret, zuerst im eigenen Lebens- und Wirkungsbereich Ordnung zu schaffen und Einheit zu stiften, bevor allgemeine politische Aktivitäten zugunsten der Freiheit entfaltet werden durften. Freiheit definierte Carové als Hegel-Schüler dahin, dass „überhaupt nur derjenige frei ist, der Nichts als das Wahre und Rechte will, was Alle wollen müssen“, und dafür alle Kraft einzusetzen bereit ist. Politisch bedeutete für Carové Freiheit, wenn die bürgerlichen Rechte „alle durch Gesetze und diese durch die Gesammtheit gesichert sind“ (Dietz, 45). Diese Aussage wurde konkretisiert in der Feststellung, dass „nur die Bürger frei sind, deren Rechte durch die Verfassung, deren Verfassung durch Stände gewährt und gesichert“ sind (ebd.). Damit war die Forderung nach Einlösung des Verfassungsversprechens in Art. 13 der Bundesakte präzisiert und der Träger der Verfassung neu bestimmt: Nicht der Fürst besaß das Recht zur Verfassunggebung, sondern das Parlament musste die Verfassung „gewähren“ und die Garantie für ihre Einhaltung übernehmen, um dadurch den Prozess der Freiheit unumkehrbar zu machen. Am Muster der Garantie der Bürgerfreiheit durch die Verfassung hatten sich die Studenten zu orientieren: Ihre Freiheit verlangte einen einheitlichen „Burschenbrauch“, d. h. eine für alle Hochschüler verbindliche gemeinsame Satzung, gegeben von ihnen selbst. Carové arbeitete denn auch im Wintersemester 1817/18 den „Entwurf einer Burschenschaftsordnung und Versuch einer Begründung derselben“ aus, mit der er auf Empfehlung Hegels in Heidelberg zum Dr. phil. promoviert wurde. In seiner Wartburgrede proklamierte er Volksehre und Freiheit als „eine neue Oriflamme“ (Dietz, 47) und als für alle Deutsche verbindliche Losung oder – in transzendenter Überhöhung – „Gott und Vaterland und Recht und Freiheit“ als „das Heiligste“ (Dietz, 46). Den Rückzug ins Individuelle oder Partikulare lehnte Carové ab: „Der Einzelne ist Nichts, wenn er nicht seine Angehörigen und sein Vaterland mit Liebe umfaßt“ (Dietz, 38). Bei einer zusammenfassenden Würdigung des Wartburgfestes fällt als erstes das hochstilisierte Pathos der Reden auf, ebenso die zahlreichen, inhaltlich völlig unausgewiesenen Phrasen. Beliebt waren bei allen Rednern Komposita im Wortfeld „Volk“. Vermieden wurde dagegen der offenbar als „undeutsch“ empfundene Begriff „Nation“ mit seinem Wortfeld; fast durchweg wird stattdessen mit dem emotional besetzten Begriff „Vaterland“ operiert. An definitorischer Schärfe fehlt es fast überall.
Gern wurde – auch unabhängig von der immer wiederkehrenden Apostrophierung Luthers als Geistesheld und Befreier des Geistes oder auch nur des deutschen Geistes – auf die Geschichte zurückgegriffen, um die Leitbilder der eigenen Vorstellungen von Einheit und Größe des Vaterlandes historisch zu legitimieren, ohne dass indessen die Restitution des Alten Reiches verlangt wurde. Die Berufung auf die Germanen, „die Hermannszeit“ (Kühn, 81) wie Rödiger sie nannte, transzendierte das Ergebnis des Kampfes mit den „Welschen“ in der Leipziger Schlacht in die Vergangenheit, die mittelalterliche Kaiserzeit diente als Folie für die jetzt zu erneuernde Größe Deutschlands. Insbesondere Carové argumentierte mit der Geschichte, um nachzuweisen, dass „des Deutschen jetzige Ehre nur die (ist), welche die Ehre der ältesten Vorzeit, des Mittelalters wie die der neuesten Zeit in sich faßt“ (Dietz, 39). Die Ehre der Germanen war „ihr Heldenmuth gegen fremde und heimische Tyrannen, ihre Ehrlichkeit gegen Freund und Feind, ihre Zucht und Sitte im häuslichen Kreise“ (Dietz, 38). Dagegen war die Ehre im Mittelalter nach Ständen differenziert: „Des Ritters besondere Ehre war sein Enthusiasmus für den Glauben, für Liebe und Recht“, die Ehre des Geistlichen und des Gelehrten „sein Enthusiasmus für die Wissenschaft, seine Ausdauer in der Erforschung des Wahren und seine freudige Aufopferung Alles Irdischen für jeden geistigen Gewinn“ (Dietz, 39). Eine spezifische Ehre des Bürger- oder gar des Bauernstandes kannte Carové dagegen offensichtlich nicht. In der jüngsten Zeit „streben die Pole“ der Ehrauffassungen von Vorzeit und Mittelalter Carové zufolge „zur Vereinigung und Durchdringung“, um „das Bewußtseyn der Volkseinheit“ und der Volksehre hervorzubringen. Das historische und politische Argument wurde in allen Reden durch die Berufung auf Gott transrational abgesichert. Dem allgemeinen Geist der Reformzeit und der Befreiungskriege entsprechend, wurden Patriotismus und Vaterland religiös überhöht, wobei der Gottesbegriff jeder näheren positiven Bestimmung entbehrte. In unterschiedlichem Ausmaß waren alle Reden von Xenophobie durchzogen. Mit der Einheitsbegeisterung und Vaterlandsrhetorik sowie Hochbewertung des eigenen Volkes verband sich die Ablehnung des Kosmopolitismus der Aufklärung sowie der Verehrung „fremder, besonders französischer Götzen“ durch die Gebildeten: „Tracht und Sprache, Sitten und Literatur bekamen den französischen Hochgeschmack (haut-goût)“ (Carové; Dietz, 40). Die von den Festteilnehmern bevorzugte sog. altdeutsche Tracht, in Wirklichkeit die Kleidung der Turner, zeigte demgegenüber die gewünschten Prioritäten an. Allerdings blieb die Ablehnung des Fremden aufs Ganze gesehen, moderat. Zwar wurde – trotz der Völkerschlacht von 1813 – der Anteil der Russen und Engländer am Sieg über Napoleon und an der Befreiung Deutsch-
277 lands in keiner Rede auch nur erwähnt, aber zum Hass auf Frankreich wurde ebensowenig aufgerufen wie eine Erbfeindschaft beschworen. Riemann, Rödiger und Carové bezogen sich im Gegenteil ausdrücklich auf die Ideen von 1789, von denen die Franzosen abgefallen seien. Insbesondere Carové würdigte die Bedeutung der Französischen Revolution für Deutschland: „Von dort, von wo uns das Schlimmste gekommen war, von Frankreich her, kam auch der Anstoß zur Erweckung und Verjüngung. Die Revolution brach hervor, und aus dem gährenden Schutte des zertrümmerten Reiches stieg ein Geist auf […], der […] neu belebend, wie ein Frühlingshauch, sich über Deutschland ergoß […] und den Saamen streuete zu einer besseren Zeit“ (Dietz, 41). Rödiger sprach sogar vom „Licht der Aufklärung“, das „uns die Ziele gezeigt“ hat (Kühn, 79). In der Konzentration auf den politisch-emotionalen Aspekt des vaterländischen Momentum blieb die soziale Frage völlig ausgeklammert, obwohl das Katastrophenjahr 1816/17 mit seinen Missernten, exorbitanten Preissteigerungen für Lebensmittel – so für den Roggenpreisindex von 82 (1815) über 109 (1816) auf 158 (1817), um erst 1819 auf 74 zurückzufallen (Wehler II, 28f.) –, Hungersnöten und weitgreifender Verelendung 1817 seinen Höhepunkt erreichte. Bei aller Beschwörung des Volkes und seiner Einheit zeigte die völlige Ignoranz gegenüber dem die Volksmassen vermutlich viel drängender beschäftigenden materiellen Problem die letztliche Abgehobenheit der Wartburgteilnehmer von den realen Tagesproblemen. Das Wartburgfest war das Fest einer intellektuellen Elite. Trotz Carovés Aufforderung, eine verbindliche Satzung für eine einheitliche studentische Organisation auszuarbeiten, wie sie auch Oken schon am Vortag angemahnt hatte, war es am 19. Oktober nicht zu einer festen Absprache gekommen. Erst Ende 1817 formulierte Riemann auf der Grundlage eines Entwurfs von Kieler Burschenschaftern und in Abstimmung mit dem Jenaer Historiker Heinrich Luden „Die Grundsätze und Beschlüsse des 18. Oktobers, gemeinsam beraten, reiflich erwogen, einmütig bekannt und den studierenden Brüdern auf andern Hochschulen zur Annahme, dem gesamten Vaterlande aber zur Würdigung vorgelegt von den Studierenden zu Jena“ (Ehrentreich, 113-129). In diesem Text wurde am Schluss auch zum ersten Mal die soziale Frage kurz erwähnt, wenn es hieß: Wir wollen „uns der untersten Klassen der Gesellschaft um so lebendiger annehmen, je tiefer sie im Elende sind“ (ebd., 128 § 11). Die „Grundsätze“ wurden in der Jenaer Burschenschaft im Januar 1818 diskutiert, aber von den Anhängern Fries‘, insbesondere Rödiger, als zu wenig entschieden abgelehnt, während die gemäßigteren Stimmen, so der Anführer des Wartburgzuges Karl Hermann Scheidler, warnte: „Ich gebe euch das eine zu bedenken: Wenn ihr das unterschreibt, so
kriegt ihr künftig keine Stellen“ (Ehrentreich, 86). Nur wenige Jenaer Studenten identifizierten sich daher durch ihre Unterschrift mit Riemanns Schriftstück; es wurde auch nicht gedruckt, sondern nur abschriftlich verbreitet und blieb offensichtlich ohne große Wirkung. Der Text Riemanns bestand aus 35 „Grundsätzen“, denen 12 „Beschlüsse“ angegliedert waren. Er gilt als „die erste programmatische Zusammenstellung der Leitgedanken des liberalen Nationalismus in Deutschland“ und war „recht eigentlich das erste deutsche Parteiprogramm“ (Huber I, 722). Von Riemann war der Text als „Grundlage eines vaterländischen Katechismus“ gedacht (Ehrentreich, 117). Im Gegensatz zu den Wartburgreden enthielten die „Grundsätze“ konkrete politische Forderungen. Allerdings blieb der angestrebte Geltungsbereich offen, da zwar „die Lehre von der Spaltung Deutschlands“ in Nord- und Süddeutschland ebenso wie die in das katholische und das protestantische Deutschland als „irrig, falsch, verrucht“ (ebd., 118 § 6) verworfen wurde, dennoch aber nicht definiert war, ob dem Konzept eine groß- oder eine kleindeutsche Lösung zugrunde lag. Gefordert wurden die politische und wirtschaftliche Einheit auf föderativer Grundlage, die konstitutionelle Monarchie mit landständischer Verfassung und Ministerverantwortlichkeit („der Wille des Fürsten ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille des Fürsten sein“; ebd., 121 § 16), die allgemeine Wehrpflicht, Gleichheit vor dem Gesetz und Beseitigung aller Privilegien („die Geburt ist ein Zufall“; ebd., 123 § 26), Freiheit der Person, Schutz des Eigentums, Presse- und Meinungsfreiheit, Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren und Schwurgerichtsbarkeit, die Schaffung eines einheitlichen deutschen Gesetzbuches, um das Römische Recht zu ersetzen, Abschaffung der Geheimpolizei in Friedenszeiten. Der letzte Artikel griff auf die ideologischen Vorstellungen des Wartburgfestes zurück und war dazu gedacht, die patriotische Gesinnung zu stärken: „Es ist die Pflicht jedes frommen und ehrlichen Mannes und Jünglings, die Reinheit der deutschen Sprache, die Ehrbarkeit der deutschen Sitten, die Eigentümlichkeit der deutschen Bräuche“ sowie alles andere zu fördern, durch das Deutschland an Ansehen gewinnen könne. Umgekehrt wurde es zur Pflicht gemacht, alles, „was die Gemüter dem Vaterlande entfremden, was das Ausländische erhalten, nähren und mehren, was die Seele für die heiligsten Gefühle der Freiheit und Gleichheit des Vaterlands abstumpfen könne, aus Leben und Sprache auszutilgen“ (ebd., 126 § 35). Die anschließenden zwölf „Beschlüsse“ (ebd., 126129) waren als Selbstverpflichtung der „des heiligen ungeschriebenen und geschriebenen Deutschen Bundes teilhaftigen Jünglinge“ (ebd., 126 § 1) formuliert und sollten den Geist des Wartburgfestes tradieren: Dienst an der Wissenschaft, aber um des Vaterlandes willen nur solche Wissenschaf-
278 ten, die praktisch anwendbar waren – genannt wurden Moral, Politik, Geschichte; Schaffung einer einheitlichen Burschenschaft an allen deutschen Hochschulen; kein Beitritt zu einer Geheimgesellschaft; Pflege von Fechten und Turnen; keine Beteiligung an einem Krieg Deutscher gegen Deutsche; Verwendung des Begriffs Vaterland nur für Deutschland, dessen Grenzen gleichwohl nicht definiert wurden, statt für das „Land oder Ländchen, in welchem wir geboren sind“; soweit als möglich Vermeidung alles Fremden „in Sprache, Kleidung, Sitten und Bräuchen“; Verpflichtung, nach dem Studium in einem Amt „dem Fürsten treu, dem Vaterlande ergeben“ und dem Sinn der „Grundsätze und Beschlüsse“ entsprechend zu handeln. Keiner wird ein Amt bei einer geheimen Polizei, in einer außerordentlichen gesetzwidrigen richterlichen Kommission oder bei der Bücherzensur übernehmen. Ein Versuch, die Programmatik des Wartburgfestes in den Zusammenhang des deutschen Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert einzuordnen, führt zu ambivalenten Ergebnissen. Für Thomas Nipperdey war der deutsche Liberalismus „zunächst und lange Zeit in besonderem Maße an Ideen, Theorien, Prinzipien orientiert gewesen; er hat etwas Doktrinäres, es fehlt ihm an Pragmatismus. Man dachte über Politik stark in moralisch-spirituellen Kategorien. Volksfreiheit war eng mit Bildung verknüpft; das, was die Liberalen einte, war zuerst eine gemeinsame Gesinnung und Weltanschauung, erst dann kamen konkrete politische Ziele“ (Nipperdey, 289f.). In diese Beschreibung lässt sich das Wartburgfest teilweise einpassen, denn die 1817 erhobenen Forderungen nach politischer Einheit und Bürgerrechten stimmten mit dem liberalen Kanon überein. Dagegen blieb die so überdeutlich zur Schau gestellte vaterländisch-deutsche Gesinnung mit der Parole Gott – Vaterland – Ehre – Freiheit, die „Germanomanie“, deren „einziges Bestreben war […], in der Deutschheit gegen die Gallomanie ein Gegengewicht zu erlangen“ (Ascher, 146), die Saul Ascher 1815 als „aufgeregte Idee“ kritisiert hatte – seine Schrift wurde deswegen am Abend des 19. Oktober 1817 mit dem Feuerspruch: „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum spotten und schmähen“ verbrannt –, eher ein Spezifikum bestimmter intellektueller Gruppen und war weit weniger für den deutschen Frühliberalismus als ganzem charakteristisch. Dieselbe Feststellung gilt für die auf dem Wartburgfest zu beobachtende Absage an Kosmopolitismus, universale und zweckfreie Bildung, für die Vergewisserung an der romantisch verklärten Vergangenheit und die Inanspruchnahme eines nahezu säkularisierten Gottesbegriffs für die eigene Sache sowie das Fehlen von für den Liberalismus unverzichtbaren Werten wie Humanität und Liberalität. Unmittelbare Reaktionen auf das Wartburgfest blieben eher vereinzelt und wirkungslos. Insbesondere
der Direktor des preußischen Polizeidepartements und Kammerherr Karl Albert von Kamptz, dessen Sammlung „Codex der Gendarmerie“ (1816) auf dem Wartenberg verbrannt worden war, beschwerte sich bei Großherzog Carl August über diese Tat „eines Haufens verwilderter Professoren und verführter Studenten“ (Kühn, 124) und setzte auch eine Zeitungskampagne in Gang. Ascher kommentierte die Verbindung von Memoria der Völkerschlacht als ein das ganze Volk erfassendes Ereignis mit dem Reformationsjubiläum als nur die Protestanten angehend kritisch. Er teilte aber das Lutherbild der Wartburgreden: „Der Zweck Luthers oder der durch ihn bewirkte Protestantismus ging dahin, das Christentum mit der Vernunft zu versöhnen“ (Ascher, 195). Ein Jahr nach dem Wartburgfest wurde am 18. Oktober 1818 in Jena die „Allgemeine Deutsche Burschenschaft“ von Studenten aus vierzehn deutschen Universitäten gegründet. Erst die Ermordung Kotzebues durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand, der am Wartburgfest teilgenommen hatte, bot der konservativen Partei um Metternich 1819 eine Handhabe, nachträglich die Deutungshoheit über das Fest zu gewinnen. Mit dem durch den Mord geführten Nachweis der Gefährlichkeit der neuen politischen Bewegung erreichte Metternich auch sein eigentliches Ziel, die Einlösung des preußischen Verfassungsversprechens zu verhindern, weil andernfalls Österreich im Deutschen Bund isoliert worden wäre. Die Karlsbader Beschlüsse unterdrückten jede organisierte Opposition gegen das Wiener System, die Burschenschaft wurde verboten. Erst die Folgen der französischen Julirevolution von 1830 schufen neue Freiräume für die Artikulation politischer Proteste, wie sie prägnant zum Ausdruck kamen im „Nationalfest der Deutschen“, das Johann Georg August Wirth und Philipp Jakob Siebenpfeiffer 1832 auf dem Hambacher Schloss bei Neustadt in der bayerischen Pfalz organisierten. Wie sehr sich in den nur fünfzehn Jahren seit 1817 die Konstellationen geändert hatten, zeigen Organisation und Reden des Hambacher Festes. War 1817 eine kleine, sozial geschlossene Gruppe versammelt, wurden 1832 alle Deutschen, ausdrücklich auch die „deutschen Frauen und Jungfrauen“, eingeladen. 20.000–30.000 Menschen versammelten sich am 27. Mai 1832 in Neustadt, um mit schwarz-rot-goldenen Fahnen auf die Hambacher Schlossruine zu ziehen – im Gegensatz zur Wartburg ein Ort ohne jeden auch nur regionalen Symbolcharakter. Aus Heidelberg kamen 300 Studenten, etwa ein Drittel aller Immatrikulierten. Ihr Sprecher Karl Heinrich Brüggemann erinnerte auch als einziger Redner an die „Reformations- und Befreiungsfeier auf der Wartburg (das Vorspiel unseres Maifestes)“ (Wirth, 80). Bestimmte auf der Wartburg die nationale Engführung, tingiert mit einer diffusen Religiosität und Berufung auf die deutsche Vergangenheit, die Reden, waren die zahlreichen Reden auf dem Hambacher Schloss von der
279 Parole der Volkssouveränität und Demokratie geleitet, zudem eindeutig international ausgerichtet: ein freies Deutschland in einem freien Europa, das in einem Völkerbund organisiert ist. Die internationale Ausrichtung zeigte sich vor allem in der Sympathie für Polen, dessen Aufstandsversuch gegen die russische Herrschaft im Vorjahr gescheitert war, aber auch in der Vorstellung „der vereinigten Freistaaten Deutschlands“ und des „conföderierten republikanischen Europa“ (so Wirth, 48). Der religiöse Akzent fehlte völlig, ebenso die Vergewisserung an der Vergangenheit. Nur Siebenpfeiffer knüpfte in seiner Rede indirekt an einige der Wartburgideen an, wenn er die Befreiungskriege und ihr das deutsche Volk enttäuschende Resultat ansprach, „Nationalunterricht und würdige Leibesübung“ zur Heranbildung „deutscher Männer“ forderte (Wirth, 38), die Vergangenheit („Herrmann und seine Tapfern“) (ebd., 40) beschwor. Sonst aber war alles auf Rationalität, Moderne und Zukunft ausgerichtet. Eine reale politische Wirkung hatte das Hambacher Fest so wenig wie das Wartburgfest. Folgten diesem mit zweijähriger Verzögerung die Karlsbader Beschlüsse, erging noch 1832 der „Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrichtung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland“, durch den alle politischen Vereine und alle politischen Reden auf Volksfesten verboten wurden. Von den drei Hauptrednern des Wartburgfestes trat niemand auf dem Hambacher Fest in Erscheinung. Die Lebensplanung von Rödiger und Carové wurde wegen ihrer Wartburg- und Burschenschaftsaktivitäten zerstört. Während Riemann offenbar eine von 1817 kaum tangierte Laufbahn einschlagen konnte, die ihn als Pfarrer und Superintendent nach Friedland (Mecklenburg) führte, erfüllten sich die Absichten Rödigers und Carovés auf eine akademische Karriere nicht. Rödiger, der sich in Berlin habilitieren wollte, wurde 1820 aus Preußen ausgewiesen und erhielt auch in der bayrischen Pfalz, woher er stammte, keine Zulassung zum Lehramt. Erst 1824 wurde er als Gymnasiallehrer in der Freien Stadt Frankfurt angestellt und starb dort 1866. Er hatte nur noch einige philosophische Abhandlungen publiziert. Politisch betätigte er sich nicht mehr, im Gegensatz zu Riemann, der 1848 für die demokratische Linke in den Landtag von Mecklenburg gewählt wurde. Carové, der Hegel 1818 als Assistent nach Berlin folgte, scheiterte mit seinen Habilitationsplänen in Heidelberg und Breslau – nicht zuletzt wegen seiner nicht verborgenen Sympathie für Karl Ludwig Sand. Als Privatgelehrter und Journalist lebte er seither in Heidelberg. 1848 engagierte er sich als Mitglied des Vorparlaments in Frankfurt und war 1849/50 prominenter Teilnehmer an den Weltfriedenskongressen in Paris, dort sogar als Vizepräsident, und Frankfurt. Carové betätigte sich kontinuierlich publizistisch, vor allem beschäftigte er sich kritisch mit Fragen des Katholizismus, was ihm kirchliche Zensuren eintrug. Ein Jahr vor
seinem Tod 1852 veröffentlichte er als letztes Buch „Vorhalle des Christentums oder die letzten Dinge der alten Welt. Ein weltgeschichtlicher Rückblick auf die vorchristlichen Religionen“ (Jena 1851). Hans Ferdinand Maßmann, der als Organisator und Hauptakteur der Bücherverbrennung das Wartburgfest politisch in Verruf gebracht hatte, machte dagegen eine eindrucksvolle Karriere. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Turnlehrer konnte er sich 1827 in München habilitieren und wurde dort 1835 ordentlicher Professor der deutschen Sprache und Literatur. Seit 1842 organisierte er das Turnwesen in Berlin und lehrte als außerordentlicher Professor Altdeutsche Sprache und Literatur an der Berliner Universität. An seiner nationalromantischen, deutsch-patriotischen Gesinnung hielt er zeitlebens fest. Die Verfolgungen nach dem Hambacher Fest beraubten Deutschland dagegen einer ganzen Generation der demokratischen Elite durch Verhaftungen, Amtsenthebungen und Gefängnis oder Flucht und Exil. Quellen und Literatur
Arndt, Ernst Moritz: Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht. Frankfurt a. M. 1814. Ascher, Saul: Flugschriften, hg. von André Thiele. Mainz 2011 (S. 141–171: Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde; S. 193–225: Die Wartburgsfeier mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und sittliche Stimmung). Asmus, Helmut: Das Wartburgfest. Studentische Reformbewegungen 1770–1819 (Magdeburg 1995). Bauer, Joachim: Studentische Festerwartungen. Das Wartburgfest 1817, in: Enno Bünz u. a. (Hg.), Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren. Stuttgart 1997, S. 145–168. Dietz, Eduard: Neue Beiträge zur Geschichte des Heidelberger Studentenlebens. Heidelberg 1903. Düding, Dieter/Friedemann, Peter/Münch, Paul (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek 1988. Ehrentreich, Hans: Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung Bd. 4 (1913), S. 58–129. Heinemann, Angela Luise: Studenten im Aufbruch – die Entstehung der Jenaer Urburschenschaft und das Wartburgfest als mediale Inszenierung, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert Bd. 21 (2015), S. 1–78. Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830 (3. Nachdruck der 2. verbesserten Auflage). Stuttgart 1975. Kühn, Hugo (Hg.): Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden. Weimar 1913.
280 Malettke, Klaus (Hg.): 175 Jahre Wartburgfest 18. Oktober 1817–18. Oktober 1992. Studien zur politischen Bedeutung und zum Zeithintergrund der Wartburgfeier (= Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert Bd. 14). Heidelberg 1992. [Maßmann, Hans Ferdinand:] Kurze und wahrhaftige Beschreibung des großen Burschenfestes auf der Wartburg bei Eisenach am 18ten und 19ten des Siegesmonds 1817, neu hg. von Raimund Steinert. Leipzig 1917. Meding, Wichmann von: Das Wartburgfest im Rahmen des Reformationsjubiläums 1817, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte Bd. 97 (1986), S. 205–236. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. 3. Aufl. München 1983.
Steiger, Günter: Aufbruch. Urburschenschaft und Wartburgfest. 2. Aufl. Leipzig 1991. Valentin, Veit: Das Hambacher Nationalfest. Neudruck Frankfurt a. M. 1982 (zuerst 1932). Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 2. München 1987. Winckler, Lutz: Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes. Lübeck/ Hamburg 1969. Wirth, Johann Georg August: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Neustadt a. d. H. 1832 (Faksimileausgabe Neustadt an der Weinstraße 1982). Wolgast, Eike: Wartburgfest 1817 und Hambacher Fest 1832 – Programmatik und Rhetorik, in: Wartburg-Jahrbuch 2001 (Regensburg 2002), S. 98–118.
281 Josef Ulfkotte
„Ich bin mit allen Buchgläubigen immer gut durchgekommen, mit Christen, Buddhisten, Talmudisten und Islamern“ – Der Protestant Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) Mit seinem legendären Thesenanschlag vor 500 Jahren löste Martin Luther die Reformation aus, die Europa und die Welt veränderte. Ein großer Verehrer Martin Luthers war Friedrich Ludwig Jahn, der als „Turnvater“ in die Geschichte eingegangen ist. Er verbrachte seine zweite Lebenshälfte von 1825 bis 1852 – mit kleineren Unterbrechungen - in Freyburg an der Unstrut, das etwa 50 km von der Lutherstadt Eisleben und ca. 65 km von Mansfeld entfernt liegt, dem Geburtsort des Reformators. Über den „Turnvater“ Jahn, sein Leben und Wirken, ist seit seinem Tod im Jahre 1852 bis in die Gegenwart viel geschrieben, diskutiert und reflektiert worden. Das gilt allerdings nicht für den Protestanten Jahn, dem bisher kaum eine größere Beachtung geschenkt worden ist.1 1. Das protestantische Elternhaus Friedrich Ludwig Jahn wurde am 11. August 1778, also elf Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, in Lanz geboren. Er war der einzige Sohn von Alexander Friedrich Jahn, der seit 1768 in diesem kleinen Dorf bei Lenzen in der Westpriegnitz, im damaligen Dreiländereck zwischen Preußen, dem Königreich Hannover und dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, als protestantischer Pfarrer wirkte. In dieser abgelegenen Gegend hat der „Turnvater“ die ersten 13 Jahre seines Lebens verbracht und in die Weltabgeschiedenheit seines elterlichen Hauses hat er sich auch in späteren Jahren immer wieder zurückgezogen, wenn ihm die Herausforderungen der „großen Welt“ über den Kopf zu wachsen schienen. Das evangelische Pfarrhaus war als Mittelpunkt der Kirchengemeinde fester Bestandteil des Dorfes oder umgekehrt: das Dorf war die Gemeinde des Pfarrers Jahn, der sicher jeden Dorfbewohner ebenso wie seinen Sohn, der bei seiner Taufe am 14. August 1778 die Namen Johann Friedrich Ludwig Christoph erhalten hatte, mit „Mein Sohn“ anreden konnte. Insofern dürfte zwischen dem Pfarrer Jahn und seiner Gemeinde ein enges, geradezu familiäres Verhältnis bestanden haben. Alexander Friedrich Jahn war offenbar ein hochgeschätzter Prediger und Seelsorger und für den jungen Friedrich Ludwig ein großes Vorbild. Dessen erstes Lesebuch war die Lutherbibel, in der er seit dem vierten Lebensjahr eifrig las. Nach einigen Jahren konnte er viele Bibelstellen aus dem Gedächtnis zitieren und die Stellen ihrer Herkunft genau benennen. Häufig nahm er an den theologischen Gesprächsrunden teil, die sein Vater in regelmäßigen Abständen in seinem Hause abhielt und wusste die anwesenden Geistlichen
aus der Umgebung mit seinen Bibelkenntnissen zu beeindrucken. Von seiner Mutter Dorothea Sophie wissen wir, dass sie einen „festen Bibelglauben“ hatte und ihren „einzigen Trost“ in der Bibel und im Gebet fand. Das besondere Interesse des jungen Jahn an den Büchern des Alten Testaments und an den Psalmen scheint durch seine Mutter geweckt worden zu sein. Wie ihr Sohn konnte sie viele Stellen des Alten und Neuen Testaments aus dem Gedächtnis wiedergeben. Der weitere Lebensweg des jungen Friedrich Ludwig Jahn schien damit vorgezeichnet, er sollte später Theologie studieren und als evangelischer Pfarrer in die Fußstapfen des Vaters treten. Als Student der Theologie schrieb sich Jahn schließlich 1796 an der damals preußischen und streng protestantischen Universität Halle ein, doch interessierte ihn dieses Fach von Anfang nicht sonderlich; stattdessen beschäftigte er sich zunehmend mit deutscher Geschichte, Sprache und Literatur. Einen Hochschulabschluss erreichte er allerdings in den nächsten zehn Jahren nicht, sodass er seine Studienzeit 1806 ohne Abschluss beendete. Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf, am Ende doch noch eine Stelle als Lehrer im Schul- bzw. Hochschuldienst zu erhalten. 2. Vorschläge zur Reform der evangelischlutherischen Kirche Nach dem Zusammenbruch Preußens in den Jahren 1806/07 und dem erfolglosen Ende seiner Hochschulzeit zog sich der inzwischen 28-jährige Jahn in die dörfliche Umgebung seines Elternhauses in Lanz zurück, um hier seine Gedanken über Volkstum und Volkstümlichkeit, die ihn in den letzten Jahren bewegt hatten, zu Papier zu bringen. Sein 1810 unter dem Titel „Deutsches Volksthum“ erschienenes Werk nahmen viele seiner gebildeten Zeitgenossen als konkreten Plan für eine zukünftige nationaldeutsche Staats- und Gesellschaftsordnung wahr, zu deren Verwirklichung es nach Ansicht Jahns zahlreicher Reformen bedurfte. Die Kirche nahm er davon nicht aus: „Unsere evangelisch-lutherische Kirche krankt mehr am äußern Sein, als am innern Wesen“, behauptete er und ging mit dem 18. Jahrhundert als dem Jahrhundert der Aufklärung hart ins Gericht: „Das achtzehnte Jahrhundert vermaß sich viel. Eine Einreißerzeit, ein Untergräberwerk. An allen alten Grundpfeilern des Volks-, Staats- und Menschen-Lebens wurde gerüttelt. Es erscholl ein Jubelgeschrei, wenn die Schauer lose, morsche und wandelbare fanden. Mißaufklärer übertölpelten den Halbverstand, Blendlichter verdünkelten die Halbsicht, und die
282 überkluge neuweise Staatssucht glaubte sich Wunder wie sehr zu sittlichen, wenn sie den Aberglauben niederträte. Hier rufe ich den größten Deutschen protestantischen König an, Friedrich Wilhelm den Dritten, als Wiederhersteller und Besserer.“2 Von „seinem“ König erhoffte sich Jahn also eine nachdrückliche Hebung der protestantischen Religiosität und eine Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse. Tatsächlich ging der Hof während seines Königsberger Exils mit gutem Beispiel voran, um die Religiosität neu zu beleben, indem er reihum die Predigten in den verschiedenen Kirchen der Stadt hörte. Wie wichtig dem König dieses Anliegen war, ist auch daran ablesbar, dass er gegen Ende des Jahres 1809 die monatlichen Kirchenparaden der Regimenter wieder einführte. Schließlich trat im März 1811 ein neues Militärkirchenreglement in Kraft, das dem Feldprediger die Aufgabe zuwies, sich vor einem Gefecht so lange wie möglich bei der Truppe aufzuhalten.3 Sehr konkrete Vorstellungen entwickelte Jahn über die Ausstattung der Kirchen: „Dem Zweck müssen sie angepasst werden, Bildergalerien sollen sie freilich nicht sein; aber besser bleibt doch ein geschmackvoller Wandschmuck, als angeschmiedete oder angenagelte Ärgernisse. Die aufgehangenen, schwebenden Klötze statt der Taufsteine sind spät aufgekommen.“4 Das Vorlesen „gewisse[r] landesherrliche[r] Verordnungen von der Kanzel beklagte er als „verunglückte Mißeinrichtung“ und verurteilte den „Missbrauch der Kirchen zu allerlei weltlichen Bekanntmachungen. Da tritt der Prediger als Feilbieter auf, zählt Sachen der Versteigerung her und giebt Nachrichten von der Ankunft des Schweinschneiders u.s.w.“. Vielmehr gehörten in die Kirche nur kirchliche Handlungen und keine Schauspiele oder anderweitigen Bühnenstücke. „Andacht ist eine höhere innere Anschauung, als schaulustiges Gaffen, und der Redner vom Predigtstuhl wird anders erbauen als der zauberische Großkünstler, der heute den Schurken (Franz Moor) kunstmäßig von sich giebt und morgen den Gottesmann Luther, durch Werner verdichtert, spuken läßt.“5 Entschieden forderte er die Abschaffung der geistlichen Einnahmen aus bestimmten Amtshandlungen wie z.B. „stärkere Gebühr, wenn Trauungen nicht am Freitage geschehen“ und forderte stattdessen die Einführung einer Kirchensteuer von allen erwachsenen Mitgliedern der Kirchengemeinde. Zugleich war ihm bewusst, dass jede noch so gut gemeinte „Pastoralklugkeit“ die Menschen nicht immer erreicht. Der „gemeine Mann“ besitze zwar den Katechismus, das Gesangbuch und die Bibel, doch lasse das keine Rückschlüsse auf ihren Glauben zu, denn im alltäglichen Leben spiele der Aberglaube immer noch eine entscheidende Rolle. In den Wirtshäusern werde ein völlig anderes Evangelium gepredigt als von der Kanzel: „Da gehen Dinge als Überlieferungen von Mund zu Mund, die nie aussterben, und, wenn auch unaufgeschrieben,
dennoch immer neu als Unkraut hervorschießen und bessere Keime ersticken.“ Damit sah er das Sprichwort bestätigt: „Wo der liebe Herrgott seine Kirche hat, besitzt der Teufel daneben gleich seine Kapell.“6 Darüber hinaus forderte er eine einheitliche Liturgie und zwar „bei jeder Kirchenpartei im ganzen Lande“. Wo die alten Formeln unbrauchbar sind, bilde man andere, nicht aber verschiedene für die Vornehmen, den Mittelstand und die gemeinen Leute.“ Die Leichenpredigten bei den Protestanten bezeichnete er als „Nachpäpsteln“, „um doch statt der Seelenmessen [bei den Katholiken] auch etwas zu haben.“ Der Leidträger bezahlt die Leichenpredigt, also meint er mit Recht zu verlangen, daß der Bepredigte gerühmt werde. Muß da nicht der Prediger, der nicht allgemeine Lehren vorbringen will, und dem Wahrheit nicht bloß eine schön klingende Redensart, Lüge hingegen nur eine übellautende bedeutet, in Verlegenheit kommen? Ein alter Prediger half sich bei solchen Gelegenheiten mit dem Einfaltsschein durch und rühmte einst eine verstorbene Bauersfrau: „Sie konnte so schönen Käse und so schöne Butter machen, auch Heu trocknen, daß es schade, daß sie so bald gestorben.“ Grabsteine sollten solchen Personen vorbehalten bleiben, die in ihrem Leben etwas zustande gebracht haben: „Nicht dessen Grab werde bezeichnet, der weiter nichts als den Steinmetz bezahlen kann. Immerhin sterbe der Name mit dem, der ihn im Leben durch Thaten zu verewigen versäumte. Wer nicht Körner, nur Spreu erntet, wie will der klagen und wundern, wenn sie der Windhauch verweht? Wie will der Menschling ein Nachleben ergaunern, der im Erdendasein nur sein liebes Ich bezweckte?“7 Ausgehend von der Feststellung, dass Katholiken, Lutheraner und Reformierte „in den wesentlichsten Hauptlehren“ übereinstimmten, forderte er einen einheitlichen Katechismus und ein einheitliches Gesangbuch für alle drei Konfessionen, um die politische Zersplitterung des deutschen Volkes zu überwinden. Er dachte offenbar an eine unabhängige deutsche Nationalkirche, die alle Konfessionen einschließen sollte. Heftig kritisierte er deshalb die Zersplitterung unter den Protestanten, die sich nachteilig für die Zusammenfassung aller Deutschen in einem Staat auswirke: „Aber die Protestanten sondern und zerspleißen sich in Verschiedenheiten und Abweichungen, die, wenn auch nicht eigentlich wesentlich, es doch für das Volk werden. Neusucht, Wißdünkel, Rechthaberei, Auszeichnungsgier, die Wut, sich hervorzuthun, stürzen das brauchbare Alte, mäkeln das treffliche Neue, verstehn nicht, das Beste zu wählen. So giebt jeder geistliche Aufseher ein eigenes Lehrbuch des Christentums heraus, jede Mittelstadt läßt ein eigen Gesangbuch ordnen. Nachteil über Nachteil, Schaden über Schaden! Laugestimmtwerden, Kaltsinnigkeit, Sichfremdwerden und erschwertes Einanderverstehen die Folge.“8
283 Von den Predigern forderte er, dass sie „weder als Zierpuppe noch als Sonderling“ die Kanzel betreten. Als Vertreter der öffentlichen Sittlichkeit sollte die Kleidung aller Geistlichen die gleiche Farbe, den gleichen Schnitt und die „gleiche Güte des Zeuges“ haben. Die Bezeichnungen Probst, Präpositus, Superintendent, General-Superintendent, Erzpriester, Oberprediger, Oberhofprediger, Pastor, Pfarrer oder Inspektor wollte er als Namen für den „alleröffentlichsten Beamten“, den Prediger, nicht gelten lassen. Seiner Meinung nach reichten drei Bezeichnungen völlig aus: Erzbischof und Bischof, weil sie biblisch und altkirchlich seien und Prediger. Der Name Luther war für Jahn ein „ewiger Ehrenname unter den Völkerheilanden und den Großgeistern seines [deutschen]Volks, selbst bei seinen Glaubensgegnern.“ Er verehrt ihn als „Erzvater eines dereinstigen Deutschen Großvolks“, als Schöpfer einer alle Deutschen verbindenden deutschen Sprache, der mit seiner Kirchenverbesserung zugleich das Deutsche Volkstum wiedererweckt habe. „Deutschheit und Urchristentum“ gehören für Jahn untrennbar zusammen ebenso wie die Adjektive „evangelisch“ und „deutsch“.9 3. „Religion“ und „Deutschheit“ – Der „Befreiungskrieg“ als „heiliger Krieg“ Mit seinen unter dem Eindruck der französischen Fremdherrschaft entwickelten Reformvorschlägen für die evangelisch-lutherische Kirche und seinen Gedanken über die Verbindung von „Religion“ und „Deutschheit“ stand Jahn damals keineswegs allein da, im Gegenteil. Nach dem Untergang ihres „alten“ Staates in den Jahren 1806/07 waren sich die preußischen Reformer einig in der Auffassung, dass ihre angestrebten Ziele nur zu erreichen waren, wenn es gelang, die inneren Kräfte des durch Napoleon arg dezimierten Staates zu mobilisieren. Die Herausbildung eines vaterländischen Sinnes und die sittlich-moralische Erneuerung auf der Grundlage der protestantischen Religiosität nahmen in den nächsten Jahren einen zunehmend größeren Raum ein. Um breite Kreise der männlichen Bevölkerung für einen Krieg gegen Napoleon zu mobilisieren, erließ Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 den bekannten Aufruf An mein Volk, in dem er seine Untertanen nicht nur als „Preußen“, sondern auch als „Deutsche“ ansprach. Damit erklärte er den Befreiungskampf zu einem nationaldeutschen Krieg und stilisierte ihn zugleich zu einem „heiligen Kampf“, der nur im Namen Gottes geführt werden könne. Am 21. März 1813 ordnete das preußische Departement für Kultus für ganz Berlin und die bedeutendsten Städte der Kurmark an, am Sonntag, den 28. März 1813 einen Gottesdienst zur Feier des Auszugs der „vaterländischen Krieger“ zu feiern, in dem der Aufruf des Königs verlesen werden sollte. Zur „Erhöhung der Feierlichkeit“ ließ der Superin-
tendent der Diözese Berlin acht neue patriotischreligiöse Lieder drucken, die die Gottesdienstbesucher zu Melodien bekannter Kirchenlieder singen konnten. Außerdem sollten alle Kirchenglocken läuten.10 In Rogau fand an diesem Sonntag die feierliche Vereidigung des Freikorps Lützow statt, dem Jahn mit seinen älteren Turnern beigetreten war, um für die Einheit und Freiheit Deutschlands zu kämpfen. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass die protestantische Geistlichkeit in Preußen und dem gesamten nordwestdeutschen Raum im Frühjahr 1813 die vom Staat und Militär geforderte Kriegsmobilisierung von der Kanzel unterstützt und „ganz selbstverständlich religiösen Patriotismus gepredigt hat.“11 Verstärkt wurde dieser religiöse Patriotismus durch national-deutsche Publizisten und Dichter wie Ernst Moritz Arndt oder Theodor Körner, der in diesem Krieg einen Kreuzzug des Volkes für Freiheit, Recht, Sitte, Tugend, Glauben, und Gewissen sah, einen Rachefeldzug der Deutschen für die von den Franzosen begangenen Schandtaten. Im Februar 1813 erschien in Königsberg, dem damaligen Zentrum des antinapoleonischen Widerstandes in Preußen, Arndt’s anonyme Flugschrift Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten, nebst zwei Anhängen von Liedern, die Arndt überarbeitete und im August 1813 unter dem Titel Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann herausgab. Darin beschwor Arndt das Ideal eines „deutschen Mannes“, der nach dem Willen Gottes ein „freier“, „kühner“, „wehrhafter“ Mann sein sollte, der in „Liebe“ und „Treue“ gegenüber seinem „heiligen Vaterland“ gemeinsam mit seinen „deutschen Brüdern“ gegen den „welschen Feind“ zu Felde zieht. Schließlich habe dieser Feind mit seiner unchristlichen, unmoralischen und undeutschen Lebensführung
Abb. 1: Friedrich Ludwig Jahn, um 1815
284 „Schande“ über Deutschland gebracht. Der alten germanischen Tradition folgend sollten alle „wehrfähigen deutschen Männer“ letztlich bereit sein, als „Helden für das Vaterland“ zu sterben.12 Zwischen 1812 und 1815 wurden Tausende von patriotisch-nationalen Liedern und Gedichten – dem Vorbild Arndt’s und Körner’s folgend – auf Flugblättern, in Broschüren, Zeitungen und Zeitschriften verbreitet. Gedruckt wurde diese „Befreiungslyrik“ zumeist ohne Noten, aber mit dem Hinweis auf bekannte weltliche und geistliche Melodien, auf die sie dann gesungen werden konnten. Auf der Linie der national-deutschen Kriegsfreiwilligenlyrik Arndt’scher Prägung lag auch die Ostern 1813 von Jahn veröffentlichte Liedsammlung Deutsche Wehrlieder für das Königlich-Preussische Frei-Corps, mit der sich der „Werber“ für das Freikorps Lützow an die „wehrbare deutsche Jugend wandte“, um sie für den bevorstehenden Kampf gegen Napoleon geistig-moralisch aufzurüsten. „Nation“ und „Religion“, „Deutschheit“ und christlich-protestantische Sittlichkeit gingen im Zeitalter der antinapoleonischen Kriege eine zunehmend engere Verbindung ein. Es lag in der Konsequenz dieser Entwicklung, dass das „Nationalfest der Teutschen“ zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig 1813, das die Patrioten in ganz Deutschland am 18. Oktober 1814 feierten, den Charakter eines national-religiösen Dank- und Opferfestes hatte, das die breiten Volksmassen emotional berührte, über alle Landesund Konfessionsgrenzen hinweg. Die pastorale Predigt, das Absingen religiöser Lieder und das Geläut der Kirchenglocken gehörten nach den Vorstellungen Arndts und Jahns zu den unverzichtbaren Programmpunkten dieses Nationalfestes, das als Grundmuster für zukünftige deutsche Nationalfeste diente. 4. Das protestantisch-preußisch-deutsche Turnen Der große Wirkungskreis, den sich Jahn immer gewünscht hatte, fiel ihm mit der Gründung des Turnplatzes in der bei Berlin gelegenen Hasenheide zu, der im Sommer 1811 bis zu seiner behördlich verfügten Schließung im Jahre 1819 für reichlich Gesprächsstoff sorgte. Die zeitgenössischen Zeitungen berichteten in diesen Jahren immer wieder über die Erfindung, der Jahn den Namen „Turnen“ gab, weil er fälschlicherweise annahm, dass „turn“ ein deutscher Urlaut sei und „überall drehen, kehren, wenden, lenken, schwenken, großes Regen und Bewegen“ bedeute.“13 Für ihn war der öffentliche Turnplatz, die Keimzelle der modernen Turnund Sportvereinsbewegung in Deutschland, erklärtermaßen eine deutsche Angelegenheit, die mit deutschen Begriffen zu beschreiben war. Wie der von ihm geprägte Begriff „Volkstum“ war auch seine
Wortschöpfung „Turnen“ ein Kunstwort, das sich in der deutschen Sprache schnell durchgesetzt und bis in die Gegenwart erhalten hat. Der Turnplatz war für Jahn aber nicht nur ein Ort zur Durchführung und Weiterentwicklung vielseitiger Leibesübungen, sondern zugleich ein Ort national-deutscher Gesinnungserziehung. Seinen jugendlichen Anhängern predigte der Pfarrersohn ein christlich-protestantisch eingefärbtes Deutschheitsideal, das er in seinem 1816 erschienenen Lehrbuch Die Deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze folgendermaßen umriss: „Gute Sitten müssen auf dem Turnplatz mehr wirken und gelten, als anderswo weise Gesetze. Die höchste hier zu verhängende Strafe bleibt immer der Ausschluß aus der Turngemeinschaft. Man kann es dem Turner, der eigentlich leibt und lebt und sich leibhaftig erweiset, nicht oft und nachdrücklich genug einschärfen, daß keiner den Adel des Leibes und der Seele mehr wahren müsse, denn gerade er. Am wenigsten darf er sich irgend eines Tugendgebots darum entheben, weil er leiblich tauglicher ist. Tugendsam und tüchtig, rein und ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei sein Wandel. Frisch, frei, fröhlich und fromm – ist des Turners Reichtum. Das allgemeine Sittengesetz ist auch seine höchste Richtschnur und Regel. Was andere entehrt, schändet auch ihn. Muster, Beispiel und Vorbild zu werden – danach soll er streben. Dazu sind die Hauptlehren: nach der höchsten Gleichmäßigkeit in der Aus- und Durchbildung ringen; fleißig sein; was Gründliches lernen; nichts Unmännliches mitmachen; sich auch durch keine Verführung hinreißen lassen, Genüsse, Vergnügungen und Zeitvertreib zu suchen, die dem Jugendleben nicht geziemen. […] Aber im Gegenteil darf man nie verhehlen, daß des deutschen Knaben und deutschen Jünglings höchste und heiligste Pflicht ist, ein deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu wirken, unsern Urahnen den Weltrettern ähnlich. So wird man am besten heimliche Jugendsünden verhüten, wenn man Knaben und Jünglingen das Reifen zum Biedermanne als Bestrebungsziel hinstellt. Das Vergeuden der Jugendkraft und Jugendzeit durch entmarkenden Zeitvertreib, faultierisches Hindämmern, brünstige Lüste und hundswütige Ausschweifungen wird aufhören. – sobald die Jugend das Urbild männlicher Lebensfülle erkennt. Alle Erziehung aber ist nicht und eitel, die den Zögling in dem öden Elend wahngeschaffener Weltbürgerlichkeit als Irrwisch schweifen lässet und nicht im Vaterlande heimisch macht. Und so ist auch selbst in schlimmster Franzosenzeit die Turnjugend die Liebe zu König und Vaterland ins Herz gepredigt und geprägt worden. Wer wider die deutsche Sache und Sprache freventlich thut oder verächtlich handelt, mit Worten
285 oder Werken, heimlich wie öffentlich – der soll erst ermahnt, dann gewarnt, und so er von seinem undeutschen Thun und Treiben nicht ablässet, vor jedermann vom Turnplatz verwiesen werden. Keiner darf zum Turnplatz kommen, der wissentlich Verkehrer der deutschen Volkstümlichkeit ist und Ausländerei liebt, lobt, treibt und beschönigt. So hat sich die Turngemeinde in der dumpfen Gewitterschwüle des Valand für das Vaterland gestählet, gerüstet, gewappnet, ermutiget und ermannt. Glaube, Liebe, Hoffnung haben sie keinen Augen-
Abb. 2: Der Turnplatz in der Hasenheide
blick verlassen. Gott verläßt keinen Deutschen, ist immer der Wahlspruch gewesen.“14 Im Winter 1811/12 hatten Jahn und Friesen eine „Burschenordnung“ zur Reform des studentischen Lebens an den Universitäten entworfen und damit zugleich den ersten Entwurf für eine Burschenschaft vorgelegt, die am 12. Juni 1815 in Jena gegründet wurde. Die Grundsätze dieser neuen Studentenorganisation deckten sich im Kern mit den protestantisch-nationaldeutschen Zielen der Turngemeinde Jahns, denn sie bezweckte (u.a.) eine
286 sittliche Lebensführung, die Kräftigung des Körpers, die Erweckung der Liebe zum gemeinsamen deutschen Vaterland, seiner Freiheit und Einheit sowie die Ausbildung wissenschaftlichen Sinnes und eines männlich starken Charakters, die einem „deutschen Mann“ zur Ehre gereiche.15 An der Universität Jena lehrten damals mit Fries, Kiefer, Luden und Oken Professoren, die den Ideen Jahns und der Burschenschaft nahe standen, sodass Jahns „Turnjünger“ Dürre und Maßmann hier 1816 das Turnen einführen konnten. Auf seine jugendlichen Anhänger übte Jahn eine große Anziehungskraft aus. Einige sahen in ihm den „größten Mann ihrer Zeit“, andere verglichen ihn gar mit „unserem Heiland“.16 Gern las Jahn aus dem Alten Testament ver, faszinierte seine Schüler mit profunden Bibelkenntnissen, die er in seinen Predigten ähnelnden Ansprachen einstreute; bei Turnfesten ließ er Choräle singen und Gebete sprechen. Aus seinem Umfeld, wenn nicht gar von ihm selbst, kam die Anregung zur Feier des Wartburgfestes im Oktober 1817. 5. Der nationalprotestantische Charakter des Wartburgfestes Dass Eisenach und die Wartburg zum Festort der urburschenschaftlichen Sieges- und Jubelfeier gewählt wurden, lag nicht nur darin begründet, dass Luther hier 1521/22 das Neue Testament ins Deutsche übersetzt hatte, auch die räumliche Nähe zur Völkerschlachtregion Leipzig spielte dabei nur eine Nebenrolle. Weitaus wichtiger war, dass seit etwa 1800 Luthers Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“17 zu einer Art Hymne der Wartburg geworden war. Zahlreiche Gästebucheinträge der Wartburg aus dieser Zeit belegen die Bedeutung dieses Ortes als eines Symbols für die Größe Luthers und der deutschen Nation. Als „nationaler Erinnerungsort“ hatte die Wartburg bereits im frühen 19. Jahrhundert einen festen Platz im Bewusstsein Jahns und zwar nicht nur durch Luthers Aufenthalt in den Jahren 1521/22, sondern auch durch den mittelalterlichen „Sängerkrieg“ und die Gestalt Elisabeths von Thüringen. Jahn besuchte die Wartburg nach dem Zusammenbruch Preußens 1807 und schrieb in das Gästebuch: „Es wird ein anderes Zeitalter für Deutschland kommen und eine echte Deutschheit wieder aufblühen, Da werden wir schöne Träume verwirklicht finden, uns nicht mehr darüber verwundern, weil wir endlich aus jahrelangem Todesschlummer erwachten.“18 Im Juli 1814, also etwa neun Monate nach der Leipziger Schlacht, besuchte Jahn erneut die Wartburg, um mit dieser Eintragung den Sieg über Napoleon zu feiern: „Großes ist geschehen, Größeres wird kommen. Der Morgen der neuen deutschen Welt hat begonnen. Wir haben Unglaubliches erlebt und erlitten und Rettungsschlachten geschlagen, wie sie keine Geschichte kennt. So werden wir nun endlich einmal an die Herrlichkeit
des deutschen Gemütes glauben, die Ausländerei verbannen und unsere Volkstümlichkeit verstehen lernen. Überall, wo die deutsche Zunge redet, sehnt man sich nach einem neuen deutschen Reiche. Drum wollen wir mit freudigem Mute beten: Unser Reich komme, und für Volk und Vaterland keinen Gedanken zu hoch halten, keine Arbeit zu langsam und mühevoll, keine Unternehmung zu kleinlich, keine That zu gewagt und kein Opfer zu groß.“19 Nach dem endgültigen Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo und seiner Rückkehr aus Paris trug sich Jahn noch ein drittes Mal in das Gästebuch der Wartburg ein. Aus Enttäuschung über das Ergebnis des Wiener Kongresses schlägt er jetzt nationalistische Töne an und beklagt, dass Gott den Deutschen zwar den Sieg gegeben hätte, „aber alle Mitgeher und Mitesser“ Deutschland nunmehr bevormunden wollten. Deutschland brauche deshalb einen „Krieg auf eigene Faust“, benötige eine „Fehde mit dem Franzosentum, um sich in ganzer Fülle seiner Volkstümlichkeit zu entfalten.“20 Etwa 500 Studenten aus Berlin, Erlangen, Giessen, Heidelberg, Kiel, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen und Würzburg fanden sich auf Einladung der Jenaer Burschenschaft schließlich am 18. Oktober in Eisenach ein. Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar stellte die symbolträchtige Wartburg für den Festakt zur Verfügung. Bei der Wartburgfeier war Jahn selbst nicht anwesend, er gehörte jedoch zu den gefeierten Männern des Tages. Am Morgen des 18. Oktober zogen die Festteilnehmer in einem feierlichen Zug vom Eisenacher Marktplatz hinauf zur Wartburg, der als liturgischer Akt und nationalreligiöse Wallfahrt gesehen werden kann. Mit Luthers Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ wurde das Fest im Rittersaal eröffnet. Die Festrede des Jenenser Theologiestudenten Heinrich Hermann (Arminius) Riemann nahmen die Teilnehmer im Grunde als lutherische Predigt wahr. Riemann beendete seine Festrede mit einem Gebet sowie einem abschließenden „Amen“. Im Anschluss an den Choral „Nun danket alle Gott“ und einer kurzen Ansprache von Professor Fries sprach Jahns „Turnjünger“ Eduard Dürre, der in Jena auch der Burschenschaft angehörte, gewissermaßen in Vertretung eines Geistlichen den Schlusssegen. Im Rahmen des Festaktes, den die Teilnehmer als „vaterländischen Gottesdienst“ betrachteten, präsentierten die studentischen Akteure eine Form protestantischer Frömmigkeit, die aus der innigen Verbindung einer tief empfundenen Liebe zu Gott und ihrem deutschen Vaterland bestand. „Alle Beteiligten waren nicht nur rezipierende Öffentlichkeit, sondern bildeten eine neue Art Gemeinde, in der sowohl religiöse als auch nationale Aspekte miteinander verbunden waren und zum Tragen kommen sollten. Die Kopie kirchlicher Handlungen gab allem und insbesondere der beschworenen nationalen Einheit einen sakralisierenden Charakter.“21
287 Nach dem Festessen zogen die Festteilnehmer hinunter zur Stadtkirche, wo Generalsuperintendent Nebe die Predigt hielt. Den Abschluss des ersten Festtages bildete der abendliche Fackelzug auf den Wartenberg. Hier hielt Jahns Intimus Hans-Ferdinand Maßmann eine flammende Rede, in der er an den Kampf Luthers gegen die kirchlich-päpstliche Unterdrückung im 16. Jahrhundert und an den nur wenige Jahre zurückliegenden Kampf gegen die napoleonische Unterdrückung erinnerte. Danach verlas er eine Liste von Büchern, die wegen ihres turn- und deutschfeindlichen Inhalts als Makulaturbündel ins Feuer geworfen wurden. Darunter befand sich auch die gegen die Hallenser Burschenschaft „Teutonia“ gerichtete Streitschrift Ein Wort zur Beherzigung des jungen Karl Leberecht Immermann, der sich dafür später rächen sollte. Bei dieser von langer Hand vorbereiteten Aktion handelte es sich um die symbolhafte Wiederholung jener Tat Luthers vom 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor in Wittenberg, bei der an diesem Tag die päpstliche Bannandrohungsbulle Exsurge Domine verbrannte, die Papst Leo X. als Antwort auf Luthers 95 Thesen erlassen hatte. Den Abschluss des Wartburgfestes bildeten am 19. Oktober die erneute Zusammenkunft auf der Wartburg sowie ein Abendmahlsgottesdienst am Nachmittag. Der Rat der Stadt Eisenach bescheinigte den Studenten, sich geradezu mustergültig verhalten zu haben, dass ein Geist echter Bildung und sittlicher Veredelung zu erkennen gewesen sei sowie bei den kirchlichen Feiern eine Frömmigkeit, die zu großen Hoffnungen für das Vaterland berechtige.22 Den nationalprotestantischen Charakter des Wartburgfestes betonte auch Heinrich August Schott, der in seiner Predigt am 2. November – an diesem Tag feierte die Universität Jena das Reformationsjubiläum – gegenüber den Studenten hervorhob: „Wie heilig euch Vaterland und Freyheit sei, wie ihr es innig und lebendig fühltet, daß die Kirchenverbesserung mit deutschem Sinne, mit deutscher Kraft, mit deutscher Frömmigkeit geschehen sey, dies habt ihr dort bezeugt, wo einst der fromme Luther auch in der stillen Abgeschiedenheit das Werk der christlichen Wahrheit und Erleuchtung förderte.“ Die Jugend solle die Stimme des Reformators, die am 18. Oktober auf der Wartburg zu ihnen gesprochen habe, „tief und fest“ in ihrem Herzen bewahren und „von Luthers Geist umweht“, „“rüstige Kämpfer für Freyheit und für Recht, für Christentum und Wahrheit [werden], mit deutscher Treue, mit deutscher Beharrlichkeit, mit deutscher Glaubenskraft gerüstet.“ Nur wenn die Jugend diesem Anspruch gerecht werde, werden „späte Enkel noch die heutige Feyer segnen, werden noch dann die Früchte erndten, zu denen wir den Samen ausgestreuet, werden dem Vater des Lichts, ihm, dem allein Weisen und Allmächtigen Opfer des kindlichsten Danks bringen.“23
Für die Turner und Burschenschafter hatte die Bücherverbrennung schwerwiegende Folgen, denn sie gerieten jetzt zunehmend stärker als Unruhestifter und Aufwiegler in das Blickfeld der Behörden. Großherzog Karl August von Weimar sah sich nach dem Fest dem Vorwurf ausgesetzt, „einem Haufen verwilderter Professoren und Studenten“ eine Bühne geboten zu haben, welche „die klassische Burg durch einen solchen recht eigentlichen Vandalismus demagogischer Intoleranz entwürdigt“ hätten.24 Die Universitäten Kiel und Jena verliehen Jahn mit Datum vom 31. Oktober 1817 die Ehrendoktorwürde. Die Universität Jena lobte Jahn für seine vielfältigen patriotischen Aktivitäten, die Universität Kiel würdigte seinen festen Sinn, seine Sittenreinheit und gewaltige Beredsamkeit, die keinen anderen Vergleich als den mit Luther zulasse.25 Jahns Turnen sah sich in dieser Zeit bereits zahlreichen Anfeindungen ausgesetzt, die sich in den nächsten Monaten noch verschärften. Die Gegner des Turnens – unter ihnen der Lustspieldichter und Literaturkritiker August v. Kotzebue - wurden nicht müde, die Leibesübungen auf den Turnplätzen als lebensgefährliche, gesundheitsschädliche „Seiltänzerkünste“ abzuqualifizieren. Eltern beklagten sich über den zu großen Einfluss, den die Turngemeinde auf ihre heranwachsenden Söhne ausübe, Lehrer beschwerten sich über den „Parteigeist“ der Turner, die ihren nicht turnenden Mitschülern mit Verachtung begegneten. Franz Passow, Professor der Altertumswissenschaften an der Universität Breslau, entgegnete den Kritikern in seiner 1818 veröffentlichten Schrift Turnziel (u.a.), dass das evangelische Christentum ein wirksamer Schutz zur Vermeidung von Entgleisungen auf den Turnplätzen sei: „Im Leben des Deutschen hat das Christenthum sich zum heiligsten und thatenreichsten Ernst verklärt. Luther und seine Mitkämpfer haben dem Menschlichen seine Einheit mit dem Göttlichen wiedergegeben, und das beseligende Licht eingeführt in das Jahrhundert. So wie der Deutsche sein Tagwerk mit Gott beginnt und mit Gott schließt, so wie alles Große und Bedeutungsvolle seine Weihung durch die Kirche empfängt, und der Mensch es sich dadurch erst als wahres Gut bestätigt erkennet: so ist das Gleiche auch auf den Turnplätzen geschehen. Und wohl geziemt es sich für eine Stätte, die geweiht ist durch Vergangenheit und Zukunft, daß das Göttliche selbst in Gesang und Gebet die Gegenwart anhauche, daß das Gefühl vereinter Andacht an erinnerungsreichen Tagen, zu sinnvollen Zeitabschnitten alle Herzen von dort zu Gott erhebe, daß das freudige Beweußtseyn selbsterrungener Kraft sich mildere in dem innigen Gefühl menschlicher Bedürftigkeit, und die Überzeugung tief begründet werde, wie auch der Gewaltigste
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Abb. 3: Doktordiplom der Universität Kiel
Abb. 4: Doktordiplom der Universität Jena
hienieden ein schwankendes Rohr ist im Winde, ein dürres Laub im Herbststurm, ein Nichts vor der Herrlichkeit des Ewigen.“26
schwebte, forderten sie die Abschaffung der Monarchie und die Schaffung einer Republik, die ihrer Ansicht nach nur auf dem Wege einer Revolution zu erreichen war. Nicht das Jahnsche „Frisch, frei, fröhlich, fromm“ war ihr Motto, sondern „Treue und Liebe bis in den Tod“ sowie „Gott, Freiheit, Vaterland“. Das Turnen war für Follen ein Mittel zur Revolutionierung. Gedichte und Lieder sollten seine Gemeinde der „Unbedingten“ für den Revolutionsgedanken empfänglich machen.
Als Passow sein Buch veröffentlichte, ahnte er nicht, dass das evangelische Christentum in seiner radikalen Ausprägung den Burschenturner Carl Ludwig Sand, einem schwärmerischen Anhänger von Karl Follen, dem Kopf der „Gießener Schwarzen“, im März 1819 dazu veranlasste, den bei Turnern und Burschenschaftern gleichermaßen verhassten und als Agenten des Zaren gebrandmarkten Lustspieldichter August von Kotzebue zu ermorden. 6. Die Ermordung Kotzebues – eine religiös überhöhte Überzeugungstat Parallel zur Gründung der „Urburschenschaft“ in Jena entstand 1815 in Gießen die turnende Studentenverbindung „Germania“, deren Mitglieder sich in der Öffentlichkeit durch ihre altdeutsche Tracht zu erkennen gaben, die auch Jahn trug. Das brachte ihnen den Namen „Gießener Schwarze“ ein. Anders als Jahn, dem ein einheitliches Deutschland mit dem preußischen König an der Spitze vor-
Eine vorbildliche Lebensführung sollte die Mitglieder dieser Burschenschaft auszeichnen, die sich durch strenge Religiosität und ehrgeiziges Bildungsstreben zu erkennen gab. Das ausschweifende Studentenleben und den Komment der Landsmannschaften lehnten die „Schwarzen“ radikal ab. Infolge der Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den Landsmannschaften wurde die „Germania“ verboten, deren Mitglieder sich nun im Geheimbund der „Unbedingten“ organisierten. Die Brüder August und Karl Follen waren maßgeblich für den Entwurf einer deutschen Reichsverfassung verantwortlich, der nach dem Wartburgfest im Um-
289 feld der „Unbedingten“ entstand. Dieser 34 Paragraphen umfassende Verfassungsentwurf, in dem alle Merkmale einer modernen, föderalen, parlamentarischen Demokratie beschrieben wurden wie gleiches Wahlrecht für alle, Gewaltenteilung mit einer unabhängigen Judikative, freie Bildung für alle, Pressefreiheit sowie Freiheit der Wissenschaft und des Handels, gehört zu den frühesten Quellen der deutschen Demokratiegeschichte. An die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau dachten die „Unbedingten“ freilich noch nicht. Fremd war ihnen auch die Forderung nach Religionsfreiheit, denn sie forderten – hier über Jahn hinausgehend - eine einheitliche deutsche protestantische Kirche, in der alle Glaubensgemeinschaften, die sie als Sekten bezeichneten, aufgehen sollten.
fürchten sei, der darauf abziele, die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung in den Staaten des Deutschen Bundes von Grund auf zu verändern. In der Konsequenz dieser Befürchtungen wurde das öffentliche Turnen Jahnscher Prägung ebenso verboten wie die Burschenschaft. Jahn wurde im Juli 1819 als „gefährlicher Demagoge“ verhaftet und blieb auch nach seinem Freispruch 1825 bis 1840 unter Polizeiaufsicht. Wie viele Turner und Burschenschafter floh Karl Follen in die USA und verpflanzte das protestantischdeutsche Turnen in die Neue Welt. Als Dozent für Deutsch, Ethik, Kirchengeschichte und Turnen an der Harvard Universität vereinigte er in seiner Person die „vollkommene Verbindung von Turnen und Protestantismus.“27
An der Universität Jena gelangte Follen unter dem Einfluss des Philosophen Jakob Friedrich Fries zu der Auffassung, dass der politische Mord ein von Gott bestimmtes Mittel zur Erlangung der Freiheit sei. So wie Jesus Christus sein Leben hingab, um die Menschheit zu erlösen, sollten die Anhänger seiner Vaterlandsreligion den messianischen Sendungsauftrag erfüllen und bereit sein, als Märtyrer für das Vaterland zu sterben. Follens Biograph Frank Mehring wies darauf hin, dass die „tiefe Religiosität“, die zahlreiche Burschenschafter beschworen, nicht zwangsläufig mit den religiösen Grundpositionen der Kirche in Einklang standen. Follen schwebte eine religiöse Praxis vor, die mit dem herkömmlichen Gemeindegottesdienst nichts mehr gemein hatte. Die „Gießener Schwarzen“ verspotteten die Pfarrer, da sie in ihren Überzeugungen befangen, unfrei und im Kampf für die deutsche Einheit zu passiv seien. Vielmehr visionierte Follen eine Abendfeier zu mitternächtlicher Stunde mit Fackeln, die dem Ritual einer verschwörerischen Sekte glich. Follens Vorstellungen stießen bei Sand auf offene Ohren. Er bereitete sich lange auf seine „Überzeugungstat“ vor, die er schließlich im März 1819 ausführte und dafür mit dem Tode bestraft wurde. Sein Grab auf dem Lutherischen Friedhof in Mannheim nahm in den nächsten Jahren den Charakter eines Wallfahrtsortes an, in linksliberalen bzw. demokratischen Kreisen wurde Sand zu einem politischen Heiligen stilisiert.
Der „Wartburgbrenner“ Hans-Ferdinand Maßmann, der seit 1819 von den Drangsalierungen der Behörden nicht verschont blieb, suchte jetzt „Trost im Glauben an das Vaterland des Herzens“.28 Seinen Rückzug in den innerlich-religiösen Patriotismus brachte der Jahn-Jünger und Burschenschafter in seinem Gedicht mit dem an kirchliche Traditionen erinnernden Titel „Gelübde“ zum Ausdruck, in dem er auf Luther und Jahns Deutsches Volksthum anspielte:
Sands religiös überhöhte Überzeugungstat hatte für Jahn selbst und seine protestantisch-deutsche Turngemeinde ebenso verheerende Folgen wie für die deutsche Burschenschaft. Schon Ende 1818 hatte Metternich den preußischen König davon in Kenntnis gesetzt, dass der Turnunfug in enger Beziehung zu dem Universitätsunwesen stehe, und Preußen die Verantwortung für diese Entwicklung zugeschoben. Die Bluttat Sands schien jetzt allen recht zu geben, die in der jüngeren Vergangenheit behauptet hatten, dass von den Turnern und Burschenschaftern ein revolutionärer Umsturz zu be-
Laß Kraft mich erwerben, In Herz und in Hand, Zu leben und zu sterben Für’s heil’ge Vaterland.29
„Ich hab mich ergeben Mit Herz und mit Hand, Dir, Land voll Lieb’ und Leben, Mein deutsches Vaterland! Mein Herz ist entglommen, Dir treu zugewandt, Du Land der Freyen und Frommen, Du herrlich Hermannsland! Du Land, reich an Ruhme, Wo Luther erstand, Für deines Volkes Thume Reich ich mein Herz und Hand! Ach Gott, thu erheben Mein jung Herzensblut Zu frischem freud’gem Leben, Zu freyem frommen Mut!
7. Jahns Engagement für die Gustav-Adolf-Stiftung Im Gefängnis erreichte Jahn im Juni 1819 die Nachricht vom Tod seiner beiden Kinder. In dieser Situation zeigte sich, dass er auch als Mensch, als Ehemann und Familienvater, zutiefst von seinem protestantischen Christentum geprägt war, weil
290 er seine Frau insbesondere in den ersten 100 Tagen seiner Haft mit Bibelzitaten tröstete. Für ihn war Gewissheit, dass ein Christ sich in jedem Ungemach zu trösten wisse. „Und ein evangelischer Deutscher sollte, im zweiten Jahr nach dem dritten Jubeljahrhundert der Kirchenverbesserung, verzagen?“ In der Einsamkeit seiner Haft beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte des 30-jährigen Krieges und das nicht zuletzt deshalb, weil Jahn ein großer Verehrer des schwedischen Königs Gustav II. Adolf war, der 1630 als Beschützer der protestantischen Sache in den Krieg eingegriffen und am 6. November 1632 in der Schlacht bei Lützen den Tod gefunden hatte. An der Stelle, an der man seinen Leichnam fand, wurde später ein Gedenkstein gesetzt, über dem anlässlich des 200. Todestages von Gustav II. Adolf am 6. November 1832 ein Denkmal errichtet werden sollte. Etwa vier Wochen nach der Lützener Gedenkfeier für den Schwedenkönig erließ der Leipziger Superintendent Großmann einen Aufruf zur Gründung einer „Gustav-Adolph-Stiftung“, deren erklärter Zweck darin bestand, protestantische Gemeinden in der Diaspora zu unterstützen. Ohne von der Gründung dieses evangelischen Unterstützungsvereins in Sachsen je erfahren zu haben, veröffentlichte der Darmstädter Hofprediger und Herausgeber der Allgemeinen Kirchenzeitung, Zimmermann, am 31. Oktober 1841 darin einen Aufruf an die protestantische Welt, in dem er die Gründung eines „Vereins für die Unterstützung hilfsbedürftiger protestantischer Gemeinden“ ankündigte, der Gelder für den Bau von Kirchen, Schulen und Pfarrhäusern sowie für Gehälter und kirchliche Ausstattungen sammeln sollte. Die Leipziger und die Darmstädter Initiativen gingen am 16. September 1842 im Evangelischen Verein der Gustav-AdolfStiftung auf, der seinen Sitz in Leipzig hatte und deutschlandweit agierte. Die zweite Generalversammlung, die am 21. September 1843 in Frankfurt stattfand, beschloss eine Satzung, die eine Gliederung in Orts-, Zweig- und Hauptvereine vorsah. Jahn befürwortete die Ausrichtung dieses Vereins, die allen Strömungen in der evangelischen Kirche offen stand. Er war zunächst Mitglied des Naumburger Gustav-Adolph-Vereins und initiierte dann die Gründung eines Zweigvereins in Freyburg, der zum Reformationstag 1844 entstand. Dem Gründungsaufruf von Superintendent Burkhard und Bürgermeister Schier folgten 123 Freyburger Bürger und 13 Schullehrer; Jahn gehörte dem fünfköpfigen Vorstand als Schriftführer an. Vornehmlich in Mitteldeutschland, besonders in der preußischen Provinz Sachsen, erlangte die Bewegung der „Protestantischen Freunde“, im Volksmund auch als „Lichtfreunde“ bezeichnet, in den 1840er-Jahren erheblichen Einfluss auf die GustavAdolph-Vereine. Diese Bewegung speiste sich aus dem Unmut vieler protestantischer Pastoren und Gläubigen über die neupietistisch-orthodoxe Rich-
tung in der evangelischen Kirche, die sich – unterstützt vom Kronprinzen – im „Berliner politischen Wochenblatt“ ein wirkungsmächtiges Sprachrohr geschaffen hatte. Die im Juni 1841 von dem Prediger Uhlich zusammen mit 15 Amtsbrüdern gegründete „Vereinigung der Protestantischen Freunde“ wollte das Reich Jesu im Licht der Gegenwart und mit allen Mitteln fortgeschrittener Wissenschaft erklären und weiterbilden. Friedrich Wilhelm IV., der seinem Vater 1840 auf den Thron gefolgt war, erklärte den religiösen Konservativismus bald zur Staatsdoktrin, indem er den festen Willen bekundete, die evangelische Landeskirche im pietistischorthodoxen Sinne zu reorganisieren und sie zur tragenden Säule des von König und Adel propagierten „christlichen Ständestaates“ zu entwickeln. Jahn war ein entschiedener Anhänger der „Lichtfreunde“ und ihrer rationalistischen, liberalen Programmatik. Als sich im Vorfeld der 1848er Revolution die Lichtfreunde-Bewegung in liberale und demokratische Richtungen differenzierte und zunehmend rationale Pastoren aus dem Kirchendienst entfernt wurden, entstanden in großer Zahl „Freie Gemeinden“, deren größte wohl die von Uhlich betreute in Magdeburg war; sie soll 1847 zwischen 5000 und 8000 Mitglieder gehabt haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Lichtfreunde-Bewegung auch in Freyburg einige Anhänger hatte, die sich aus den Mitgliedern des örtlichen Gustav-Adolph-Vereins rekrutierten. Die ablehnende Haltung gegenüber der römisch-katholischen Kirche durchzog Jahns Leben. In seinen Briefen verspottete er die Katholiken als „Päpstler“, die Mönche bezeichnete er als „Scherlinge“ und die Jesuiten brandmarkte er gar als „Jesuwider“. Noch in der Frankfurter Paulskirche polemisierte er gegen die Vertreter der römisch-katholischen Interessen: „Die Ultramontanen haben hier einige Schreibergesellen, die das hier Gekochte in M. und anderswo ausköken. Ihre Dummheit ist noch größer als ihre Schlechtigkeit.“30 In protestantischen Turnerkreisen stand er mit seiner antirömischen Haltung in dieser Zeit keineswegs allein, denn die in Dresden erscheinende Turnzeitung „Der Turner“ veröffentlichte 1849 ein Schmähgedicht mit der Überschrift „Die neue Zeit“ in dem es u.a. heißt: „Denn besser wird es werden nicht: bis Jesuitenbrut, Philisterpack und Mönchsgezücht im tiefsten Grabe ruht. Dann wächst und reift am Barr’ und Reck ein neues Kerngeschlecht; Das spricht zu jedem Narr und Geck: ‚Geh hin und werd’ ein Knecht!’“31 Mindestens ebenso entschieden trat Jahn der altlutherischen Kirche entgegen, die weder die 1817 erfolgte Union zwischen lutherischen und reformierten Gemeinden, noch die Agende des Königs und den 1822 eingeführten Unionsrevers, der Ver-
291 pflichtung zum Gehorsam gegenüber dem König, akzeptierten. Zum 300. Jubiläum des Augsburger Bekenntnisses im Juni 1830 verschärften sich die Auseinandersetzungen der Altlutheraner mit Friedrich Wilhelm III. einerseits und der neu gegründeten unierten Evangelischen Kirche in Preußen andererseits. Der geistliche Leiter der Altlutheraner, der Breslauer Theologieprofessor Scheibel, führte nach Ansicht Jahns einen innerkirchlichen Bürgerkrieg. Im Dezember 1837 schrieb Jahn: „Seine [Scheibels] Buchstabenbande hat die mehrste Ähnlichkeit mit Cromwells Unabhängigen, die verwirft alle Schirmvogtei des Staats über die Kirche, Lehren, die dem Eckner zusagen, aus denen die Berliner Medicei einen hauptstädtischen Nationalpöbel zu bilden sucht und Bühne und Bilderladen zu Hilfe ruft. […] Von den Scheibelschriften habe ich viel gelesen, und oft hat mich der Finger gejuckt, diesen Schwarmgeistern und Rottenstiftern ihren ……. Brei ins Maul zu schmieren; aber es scheint, es wollten gewisse Leute den Käfig vom Lambertsturm in Münster unter die Reichskleinode des Pr. Staats aufgenommen wissen.“32 Die Theologen Hengstenberg und Tholuck, die dem Pietismus an den Universitäten Berlin und Halle neue Wege zu ebnen suchten, rückte Jahn in die Nähe des ihm verhassten „Jungen Deutschland“ und bezeichnete sie als „Betheilige“: „Die können nicht allgemein werden. Die gelehrte Buchgläubigkeit von Hengstenberg und seinen Schnapphähnen ermangelt der Volkstümlichkeit, und das deutsche Volk läßt sich nicht in den Starrkrampf gängeln.“33 An seinen früheren Hasenheide-Mitarbeiter Eiselen schrieb er im August 1829: „Du wirst wissen, daß die neuen Vernunftleugner sich apostolisch nennen. Sie schwirren hier häufig wie Hummeln umher. In meinem Städtchen bekennen sich zu ihnen nur ein verdrehtes Weib und ein überschnapptes abgespanntes Mägdchen. […] In Bayern spuken auch die von frömmelnden Teufeln Besessenen.“34 Die Einmischung des Staates in Glaubensfragen lehnte Jahn ebenfalls strikt ab, wenn er im Juni 1840 in einem Brief an seinen Freund Lübeck schrieb: „Es nahmen mir neulich einige Pfarrer bald übel, als ich sagte: Ein Pr. Cultus-Minister müsse so wenig Religion haben, als Gott der Herr. Er solle nur dafür sorgen, daß kein Glaube den andern auf dem Wege zur Gottseligkeit störe.“35 Die Kirche als Institution müsse dagegen in den Staat integriert und für den Staat ein wichtiger Stützpfeiler sein. Jahns eigener Weg zu Gott war der eines rationalistisch und liberal ausgerichteten Protestantismus, wie er im Gustav-Adolph-Verein gepflegt wurde, der allen Strömungen in der evangelischen Kirche offenstand. Immer wieder ist gegen Jahn der Vorwurf erhoben worden, ein Antisemit gewesen zu sein.36 Der jüdische Schriftsteller Saul Ascher hatte Jahn in seiner 1815 veröffentlichten Schrift Germanomanie
mit anderen „Deutschtümlern“ als „Germanomane“ verspottet, doch erhob Ascher gegen ihn nicht den Vorwurf der Judenfeindschaft. In den Werken und Briefen Jahns finden sich keine längeren Passagen über Juden oder das Judentum. Vielmehr handelt es sich um vereinzelte Äußerungen, die – wie z.B. die Kontroverse mit Heinrich Heine – einen persönlichen Hintergrund haben. Wenn Jahn die Juden erwähnt, nennt er sie in vielen Fällen in einem Atemzug mit anderen Gruppen, den von ihm abgelehnten „Fremden“ (insbesondere den Franzosen) oder den reaktionären Kräften, den „Herren von Sonst, Bleibe und Rückwärts“. Daneben finden sich die in dieser Zeit weit verbreiteten Stereotype des „jüdischen Wucherers“ und des „Schacherjuden“. Jahn war wie viele seiner Zeitgenossen sicher kein Freund der Juden, aber ein ausgesprochener Judenhasser war er nicht.37 Im Januar 1843 schrieb er: „Ich bin mit allen Buchgläubigen immer gut durchgekommen, mit Christen, Buddhisten, Talmudisten und Islamern; habe ich zwar nach dem Willen meines Vaters in Halle 2 Jahre 1796 bis 98 – die Gottesgelahrtheit tüchtig getrieben, so sage ich doch mit dem türkischen Mufti: ‚Gott weiß es besser.’ Ich lasse jeden sein Steckenpferd reiten, nur darf er mich nicht umreiten wollen und verlangen, daß ich mit aufsitze.“38 8. Turnermotto und Turnerkreuz „Frisch, frei, fröhlich und fromm – ist des Turners Reichtum“, schrieben Jahn/Eiselen in ihrem 1816 erschienenen Turnlehrbuch „Die deutsche Turnkunst“. Die Anfangsbuchstaben dieses Turnermottos ließ Jahn auch an seinem Haus unterhalb der Neuenburg anbringen, das er 1840 beziehen konnte. In seinem Dankschreiben an ehemalige Turnschüler, alte und neue Freunde, die den Bau seines Eigenheims mit einer Geldspende unterstützt hatten, erläuterte er die Bedeutung der vier „f“: „frisch nach dem Rechten und Erreichbaren streben, das Gute thun, das Bessere bedenken und das Beste wählen; frei sich halten von der Leidenschaft Drang, von des Vorutheils Druck und des Daseins Aengsten; fröhlich die Gaben des Lebens genießen, nicht in Trauer vergehen über das Unvermeidliche, nicht in Schmerz erstarren, wenn die Schuldigkeit gethan, und den höchsten Muth fassen, sich selbst über das Misslingen der besten Sache zu erheben und ermannen; fromm die Pflichten des Menschen, Bürgers und Deutschen erfüllen und zuletzt die letzte, den Heimgang.“39 In der Männerturnvereinsbewegung der 1840erJahre erlangte der Turnerwahlspruch aber erst eine
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Abb. 5: Am Giebel seines Hauses in Freyburg an der Unstrut – heute Friedrich-Ludwig-Jahn-Museum – ließ Jahn die vier „F“ anbringen
besondere Bedeutung, als der Darmstädter Kupferstecher Heinrich Felsing aus den vier Anfangsbuchstaben das Turnerkreuz kreierte. Bei der Vorstellung seines Turnersymbols am Vortag des zweiten schwäbischen Turnfestes in Heilbronn 1846 gab er den Delegierten der Turnvereine zu bedenken, nicht zu vergessen, dass dieses deutsche Zeichen auch das Christenzeichen sei. Am Ende seiner Rede präsentierte er der Versammlung die Fahne des Darmstädter Schülerturnvereins mit dem Turnerkreuz. Die Vorstellung des Turnerzeichens, über die (u.a.) die in Karlsruhe erscheinende „Turn-Zeitung“ berichtete,40 löste eine heftige Kontroverse unter den Turnvereinsvertretern aus. Der Vertreter der Mannheimer Turngemeinde, Advocat Dr. Eller, beantragte geradezu leidenschaftlich die „unbedingte Verwerfung“ des Turnerzeichens, weil das Wort „fromm“ nicht mehr zeitgemäß sei; „wir sollen weitergehen und nicht an veraltetem Plunder festkleben – wegwerfen, fallen lassen, was heut nicht mehr passend ist.“ Der emotionsgeladenen Stellungnahme des Mannheimer Advokaten begegnete der „Vater des deutschen Schulturnens“, Adolf Spieß, mit der Bemerkung: „Eine Turnerschaft, so wie wir solche begreifen, kann nur im christlichen Sinn betrachtet werden, rein christlich ist ächt fromm, und jeder kann fromm sein und dem Spruch folgen, auch wenn er kein Christ ist. Und wenn von einem Stifter einer solch edlen Sache ein solcher Kernspruch
besteht, so muß dieser heilig und ehrwürdig sein für alle Zeit.“ Dafür, dass die Delegierten dem Vorschlag Felsings letztlich ihre Zustimmung verweigerten, machte der Herausgeber der „Turnzeitung“, Karl Euler, den Juden Dr. Eller verantwortlich: „Der Vorschlag Felsing’s ward verworfen. Warum? weil ein ‚Jude’ das Kreuz nicht haben wollte! Wir Christen und Deutsche sind nun einmal so: spricht ein Jude oder ein Ausländer gegen unser heiligstes Recht, ei, so müssen wir Christen und Deutschen aus reiner Höflichkeit und christlicher Nächstenliebe von unserm Recht abstehen, ja Jenen noch danken, daß sie uns Gelegenheit gegeben, unsere Schafswolle zu zeigen. Die deutsche Geschichte ist reich an Belegen dafür, und die Gegenwart ist reich daran. Wie kommt es aber, daß der ‚Jude’, der hier an dem Kreuz ein so großes Aergerniß nimmt (1. Corinth. 1, 23), dagegen so große Liebe und Zuneigung zu Ordens- (Ehrenlegions-) Kreuzen hat? Ob der ‚Jude’ den Christen fragen würde, wo er die Macht hat, vorzuschlagen?“41 Die kontroverse Diskussion in Turnerkreisen veranlasste Jahn, in der Turnpresse folgende „Ehrenrettung des Fromm“ zu veröffentlichen: „In dem Turnerspruche erklären die Vorderworte hinlänglich das letzte, wenn man nur sprachlich geschichtlich verfährt, auszulegen versteht, nicht blos hineinzulegen.
293 „Fromm rechtfertigt sich schon allein durch seine Mitworte, sie müssen jeden Verdacht der Muckerei von ihm entfernen, und sonstige Entartung. Ursprünglich heißt: fromm – voran – und wird so Inbegriff aller sittlichen Thatkraft, aller Willensbestimmung. Es vereint in sich von Alters her Gesinnung und Ausführung, will nicht blos Worte, verlangt auch Werke. So befasset fromm die gesamte Pflichttreue, und das Voransein in ihr für die Gemeinde, so nachfolgt. Und ist nur zu wünschen, daß jeder Deutsche wieder recht fromm werde, auch richtig bleibe und das
Abb. 6: Das Turnerzeichen mit den vier F wurde nach dem Heilbronner Turnfest 1846 auch durch die Karlsruher „Turn-Zeitung“ (1846, S. 155) weiter verbreitet.
ganze Volk mit ihm. Die deutsche Sprache wird viel in ihrem Werthe verlieren, wenn sie das Wort fromm einbüßt, und das deutsche Volk entäußert sich seiner Würde, wenn es je sich schämen sollte, fromm zu sein.“42 Unter den Turnern erhob sich gegen Jahns Ausführungen kein Widerspruch, so dass der Streit im Grunde zugunsten des „Turnerwahlspruches“ entschieden war, auch wenn das „fromm“ in der Folgezeit immer wieder Anlass zu religiösen Deutungen gab. Jahn wehrte sich zwar hartnäckig gegen eine Umstellung der Adjektive, doch konnte er nicht verhindern, dass der Wahlspruch bald in der heute üblichen Reihenfolge „frisch, fromm, fröhlich, frei“ populär wurde, weil sich in Gedichten und Liedern „frei“ auf „Turnerei“ reimte. Den Turner-Wahlspruch exportierten die deutschen Turner, die nach 1848/49 in die USA emigrierten, in ihre neue Heimat. Die ausgesprochen antiklerikale Haltung der deutschen Turnvereine in der neuen Welt hatte allerdings zur Folge, dass das „fromm“ immer mehr verblasste und schließlich verschwand. Der 1848 in den USA gegründete Verband der deutschen Turnvereine („American Turners“) stellte sich seit 1880 mit einem neuen Motto vor: „Frisch und Frei, Stark und Treu“. Diesen Wahlspruch übernahm 1907 in Deutschland auch der 1893 in Gera gegründete sozialistische Arbeiter-Turnerbund (ATB), der den Emigranten politisch nahe stand.43 9. Schlussbemerkung Zwischen 1840 und 1844 veröffentlichte der beim Wartburgfest 1817 von den Burschenturnern geschmähte Erzähler und Kritiker Immermann seine „Memorabilen“, in denen er mit Jahn und dem Turnen abrechnete. Immermann charakterisierte Jahn als einen Mann, der eigentlich nichts anderes im Kopf hatte, als „sein Ideal eichelfressender Germanen, versetzt mit etwas starrem Protestantismus, und dann eine Theorie des Drauf- und Dreinhauens.“ In seinen Augen war Jahn der „reformatorische Sonderling par excellence“, der alles umkehren, alle Heiden bekehren wollte.“44 Neben Heinrich Heine, der die frühe deutsche Turn- und Burschenschaftsbewegung mit beißendem Spott übergoss und als rückwärtsgewandte Bewegung der Lächerlichkeit preisgab, beeinflusste das Verdikt Immermanns die Historiker Gervinus und Treitschke, deren negatives Urteil über Jahn und sein Turnen über Generationen rezipiert worden ist. Bemerkenswert ist die religiöse Terminologie, die Treitschke zur Kritik an Jahn, dem Turnen und der Burschenschaft verwandte. So charakterisierte er Jahns Turngemeinde als Sekte, die „wie Mitglieder einer unsichtbaren Kirche“ für ihre „deutschheitliche Überzeugung“ einstand und deren Mitglieder darauf abzielten, ihren „Sektenstaat“ von allen Gegnern und Andersdenkenden freizuhalten.45
294 Jahn war sicher kein zweiter Luther, auch wenn er von seinen Anhängern bisweilen als Reformator gesehen wurde. Im elterlichen evangelischen Pfarrhaus erhielt er seine Prägung als überzeugter Protestant. Seine religiöse Grundhaltung verband sich unter dem Druck der napoleonischen Besatzung mit einer nationaldeutschen Ausrichtung, die letztlich sein weiteres Leben bestimmte. Das deutsche Reich, das er erstrebte, sollte ein Reich unter der Führung des protestantischen preußischen Königs sein. Als dieses Ziel schließlich mit der Reichsgründung 1871 erreicht war, wurde er zum Vorkämpfer der deutschen Einheit stilisiert und schließlich 1928 in die Walhalla, die Ruhmeshalle der „Großen Deutschen“, aufgenommen. Hier hatte Luther bereits seit 1847 einen festen Platz. Der von Jahn als „Erzvater der Deutschen“ verehrte Reformator erfuhr anlässlich der deutschlandweiten Feiern zur Wiederkehr seines 400. Geburtstages im Jahre 1883 eine Würdigung als deutscher Nationalheld, die bereits auf dem Wartburgfest 1817 Gestalt angenommen hatte. Literatur 1
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Grundlegend sind die Ausführungen von Geldbach, 1975, insbes. S. 166–175. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 213. Vgl. Stamm-Kuhlmann, 1992, S. 357. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 214. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 215–216. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 217. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 219. Zit. nach Euler, Bd. 1, S. 220. Vgl. Euler, Bd. 1, S. 223–228. Vgl. Hagemann, 2002, S. 143. Hagemann, 2002, S. 145. Vgl. Hagemann, 2002, S. 57. Zit. nach Euler, Bd.1, S. 13–14. Zit. nach Euler, Bd. 2.1, S. 123–124. Vgl. Euler, 1881, S. 523. Vgl. Braun/Kunze/Langenfeld, 1998, S. 188–193. Vgl. Böcher, 2003, S. 64; zum Lutherchoral s. auch die neuere Untersuchung von Fischer (2014). Zit. nach Euler, Bd. 2.2, S. 1002. Zit. nach Euler, Bd. 2.2, S. 1003. Ebda. Heinemann, 2015, S. 51. Vgl. Geldbach, 1975, S. 150. Zit. nach Gerber, 2005, S. 103. Vgl. Euler, 1881, S. 50. Vgl. Euler, 1881, S. 535–536. Zit. nach Geldbach, 1975, S. 175. Geldbach, 1975, S. 164. Vgl. Richter, 1992, S. 111. Zit. nach Richter, 1992, S. 114. Zit. nach Meyer, 1913, S. 545. Der Turner, 1849, S. 38. Zit. nach Meyer, 1913, S. 428. Zit. nach Meyer, 1913, S. 428–429. Zit. nach Meyer, 1913, S. 306.
35 Zit. nach Quehl, 1918, S. 75. 36 Zum Antisemitismusvorwurf gegen Jahn vgl. Bartmuß/Ulfkotte, 2011, S. 13–33. 37 Vgl. Bergmann, 2009, S. 403–406. 38 Zit. nach Kurth, 1929, S. 34. 39 Zit. nach Euler, Bd. 2.2, S. 908–909. 40 Turn-Zeitung, 1846, S. 154–155. 41 Ebda. 42 Zit. nach Turn-Zeitung, 1847, S. 3–4. 43 Vgl. Neumann, 1968, S. 63–72. 44 Zit. nach Bartmuß/Ulfkotte, 2011, S. 98–99. 45 Zit. nach Geldbach, 1978, S. 180.
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Bildnachweis
Friedrich-Ludwig-Jahn-Museum Freyburg/Unstrut
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Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen) Geschichte und Geschichtsschreibung Das Podiumsgespräch wurde vom Moderator (Dr. Niedersen) mit der Frage eröffnet, in welchem Umfang Torgau im Rahmen der sächsischen Landesgeschichte Berücksichtigung findet. Man habe den Eindruck, dass die Stadt für den Zeitraum von 1815 bis 1990 von der sächsischen Landesgeschichte nicht behandelt werde. Das stehe in gewissem Widerspruch zu der Tatsache, dass sich 1990 bei der Wiederbildung der Länder auf dem Gebiet der DDR eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung des Kreises Torgau auf Grund ihres Traditionsverständnisses bei der Wahlabstimmung entsprechend des Ländereinführungsgesetzes für Sachsen entschieden hat. Die für die sächsische Landesgeschichtsschreibung getroffenen Feststellungen zum Zeitraum 1815 bis 1990 würden aber in gleichem Maße auch für die brandenburg-preußische Geschichtsschreibung zutreffen, die die 1815 zu Preußen gekommenen ehemaligen sächsischen Gebiete auch nur am Rande behandele. Wie würden sächsische Landeshistoriker diesen Problemkreis beurteilen? Damit war Prof. Groß angesprochen, der in seinem Konferenzreferat einen Überblick über die Geschichte Sachsens im 19. Jahrhundert gegeben hatte. Prof. R. Groß (Kreischa) „Mit der Frage der Behandlung Torgaus in der sächsischen und brandenburg-preußischen Landesgeschichte wurde eine Grundfrage von Geschichtsdarstellung und Geschichtsschreibung angesprochen. Es kommt für die Behandlung eines historischen Ereignisses immer auf die Abstraktionsebene an, je nachdem, ob Weltgeschichte, Nationalgeschichte, Landesgeschichte oder Lokalgeschichte der Gegenstand ist. Dabei geht es ja immer um historische Räume, wobei die Landesgeschichte in besonderer Weise mit dem historischen Raum verbunden ist, denn das Land grenzt sich ab, hat besondere Merkmale und Eigenheiten, ist eine deutlich erkennbare Einheit. Das trifft natürlich auch auf das Land Sachsen zu, das sich in seiner historischen Entwicklung von über tausend Jahren in seinem historischen Raum als Territorialstaat immer wieder geändert hat, dies nicht im Kernland, aber in seinen „Randgebieten“. Dafür können die Jahre 929, 1089, 1247, 1423, 1485, 1547, 1635, 1815 und 1990 als entscheidende Zäsuren der staatlichen Ausprägung in größeren oder kleineren historischen Räumen angesehen werden. Damit gibt es immer wieder unterschiedliche historische Räume als Gegenstand landesgeschichtlicher Betrachtung. Daraus ergibt sich für den Lan-
deshistoriker im Zusammenhang mit der zeitlichen Dimension die Entscheidung, auf welcher Abstraktionsebene man sich bewegt, ob es sich um eine landesgeschichtliche Gesamtdarstellung, um regionale Darstellungen oder um lokalgeschichtliche Abhandlungen handelt. Als Beispiele ist auf die „Geschichte Sachsens“, auf die fünf Bände „Kulturlandschaften Sachsens“ sowie auf die „Historischen Stätten Deutschlands“ (Autor jeweils R. Groß, U.N.) hingewiesen. Für die sächsische Landesgeschichtsschreibung kann man wohl nicht von einer Vernachlässigung sprechen, aber es gibt natürlich Probleme der Berücksichtigung historischer Räume in der zeitlichen Abfolge des historischen Geschehens. Das betrifft nicht nur Torgau, sondern alle 1815 vom Königreich Sachsen abgetrennten Gebiete, also die Sekundogenituren, die heute in Sachsen-Anhalt liegen, den Thüringischen Kreis mit Querfurt, Mansfeld, Barby, die Niederlausitz und das Görlitzer Gebiet. Dabei hat sich zum Beispiel die frühere Zugehörigkeit zu Sachsen in den Grenzen von vor 1815 durchaus im Traditionsverständnis der Menschen erhalten, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Aber auch der besondere Einschnitt von 1815 ist im Bewußtsein der Menschen vor allem in Sachsen bestehen geblieben. Dies sei an einem Beispiel deutlich gemacht. Der 1873 in Arnsdorf geborene und 1932 in Breslau verstorbene Schriftsteller Paul Keller hat in seinem „Märchen von den deutschen Flüssen“ über die Elbe den Vers verfasst: „Warum is denn die Elbe / bei Dresden so gelbe ? / Se schämt sich zu Schande. / Sie muss aus’m Lande./ Aus’m Lande so scheene, / so niedlich und kleene. / Denn gleich hinter Meißen, / pfui Spinne, kommt Preiß’n.“ So wird nicht nur die Situation nach 1815 skizziert, sondern auch der seit der aggressiven Politik König Friedrichs II. von Preußen gegenüber Sachsen bestehende Gegensatz zwischen Sachsen und Preußen verdeutlicht. So liegt vielleicht für manchen „Sachsen“ die Stadt Torgau noch immer in „Preußen“.“ Kulturkampf im 19. Jahrhundert Die drei folgenden Fragen richteten sich an Prof. O. Blaschke (Münster), der nachfolgend antwortete: Christopher Clark ist in Ihrem Referat erwähnt worden. In seinem Buch “Schlafwandler” hat er gezeigt, wie die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg hinein getaumelt sind. Kann man Ähnliches auch für die Folgen des Konfessionalismus sagen, dass man also blind in eine solche Situation hineingeraten ist?
297 „Zu unterscheiden ist das Buch von Christopher Clark und Wolfram Kaiser (Hg.) über Culture Wars (2003) von Clarks besonders erfolgreichen Buch über die Entstehungskonstellationen am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Hier handelt es sich um ein konkretes Ereignis, den Ausbruch eines Weltkrieges, und um ein benennbares Zeitfenster zwischen dem Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 und dem 1. August 1914. Insofern hinkt der Vergleich. Der Konfessionalismus baute sich – jenseits benennbarer Diplomaten und einer Handvoll Verantwortlicher – langsam und breit gestreut im frühen 19. Jahrhundert auf und umfaßte rund 100 bis 150 Jahre. Er steuerte nicht auf ein einzelnes Ereignis zu und war auch nicht durch eine Verantwortungselite kontrollierbar, sondern entfaltete seine je regionalspezifische und nationale Eigendynamik.“
Prof. D. Langewiesche (Tübingen) bemerkte zu dem oben angesprochenen Komplex, speziell zu der Frage „War die Wissenschaft im 19. Jahrhundert konfessionell neutral?“ noch Folgendes: „Für die deutschen Universitäten galt das nicht. Sie waren vielmehr durch und durch protestantisch kontaminiert. Katholiken und Juden hatten es schwer, einen Lehrstuhl zu erhalten. Dies traf insbesondere für Fächer (wie die Geschichtswissenschaft) zu, die als national bedeutsam galten. Das begann sich erst nach dem Ersten Weltkrieg zu ändern. Zuvor gab es in der Wissenschaft keine Chancengleichheit für Katholiken und für Juden. Juden wurden generell im Staatsdienst diskriminiert. Sie gingen deshalb in die sog. Freien Berufe (z.B. Rechtsanwälte, Ärzte), um der Benachteiligung im Öffentlichen Dienst zu entgehen.
Von wo geht der Konfessionalismus aus, von oben oder von unten? „Das ist ein ausgesprochen langsamer mentalitätsgeschichtlicher Prozeß. Teilweise kommt er von oben, etwa durch Impulse durch den Papst, anfangs aber durchaus von unten, wie bei den Begebenheiten um das Jahr 1817 gezeigt. Dazu kommt, dass er sich im Unterschied zum 18. Jahrhundert durch die Medien sehr viel besser kommunizieren ließ und verbreiten konnte als jemals zuvor.“
Ein Grund für das antikatholische Ressentiment war, dass man meinte, Katholiken seien zur wissenschaftlichen Unabhängigkeit nicht fähig, da sie die katholische Glaubenslehre über die wissenschaftliche Erkenntnis stellen müßten. Da der Papst in Rom residiert, galten die Katholiken zudem als „ultramontan“, d.h. abhängig von einer Institution außerhalb des deutschen Staates und der deutschen Nation. Die neuere Forschung zum Ultramontanismus hat gezeigt, dass er keineswegs nur „von oben“ aus der katholischen Kirche kam, sondern dass es auch einen „Ultramontanismus von unten“ gegeben hat, also aus den Gemeinden und aus dem Kreis der Gläubigen. Gegenüber Juden waren die Vorbehalte anderer Art. Im deutschen Nationalstaat (1871) waren staatsbürgerliches Recht zwar nicht mehr religiös gebunden, doch faktisch blieben Juden vielfach benachteiligt. Es entstand damals eine Form von Antisemitismus, der Juden als Rasse definierte und sie nicht zur deutschen Nation rechnete. An den Universitäten zeigte sich die Benachteiligung von Juden darin, dass sie zwar einen hohen Anteil an den Studierenden und auch den Privatdozenten stellten, nicht aber an den Professoren mit festen Stellen und insbesondere mit einem Lehrstuhl.“
Wenn die Katholiken als “Reichsfeinde” gelten, es aber doch an den Universitäten und Forschungsinstituten Kreise gab, die ungeachtet der konfessionellen Zugehörigkeit bestens miteinander auskamen, muß man dann nicht sozial unterscheiden? Auf der Elitenebene spielte Konfession vielleicht doch keine Rolle? „Man muß gewiß sozialgeschichtlich unterscheiden, ebenso wie regional und geschlechtergeschichtlich. Andererseits behaupten Historiker, es sei genau umgekehrt gewesen, gerade die Eliten seien es gewesen, die den Konfessionshaß säten, während das breitere Volk davon unberührt gewesen sei. Es gibt aber Beispiele für die Wirksamkeit des Konfessionalismus auch im Universitätswesen. Unter den Historikern etwa waren im 19. Jahrhundert bis zu 95% evangelisch und jüdisch. Katholiken waren massiv unterrepräsentiert. Aber das war der protestantischen Professorenschaft ebensowenig bewusst wie uns unsere “whiteness”. Auf dieser Tagung jedenfalls sehen wir keine “Farbigen” eingeladen. Bei der Planung des ersten Historikertages nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 fiel Gerhard Ritter erst in letzter Sekunde auf, “dass sich unter uns [im Vorstand] kein Katholik befinde, was Empfindlichkeit erregen könne”, zumal der Historikertag in München stattfinden solle. Man entschied sich rasch, Franz Schnabel formell in den Vorstand mit aufzunehmen, der nicht allzu katholisch wirkte.“
Zum „Kulturkampf im 19. Jahrhundert“ gab es weitere Bemerkungen: Prof. A. Tacke (Trier) „Betonen möchte ich, wie wichtig bei unserem Thema die mentalitätsgeschichtlichen Quellen sind. Nicht die historische und theologische Fachliteratur bestimmte im 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung, sondern die sogenannte „graue Literatur“, die Vereinsschriften oder die regionale und überregionale Tagespresse. Eine Tagespresse, die oftmals mit einer Morgen- und Abendausgabe erschien, was die Aktion und Reaktion auf bestimmte Ereignisse beschleunigte.“
298 Und nochmals Prof. A. Tacke „Etwas zu kurz kommt mir der Aspekt, dass beide großen Konfessionen sich im Deutschen Kaiserreich derart scharf voneinander abgrenzten, dass man oftmals hasserfüllte Reaktionen feststellen muss. Diese kamen reflexartig, so dass eine ergebnisoffene Auseinandersetzung gar nicht möglich war. Die Konfessionen hatten sich eingegraben – um es einmal militärisch zu formulieren –, die Grabenkämpfe waren ohne Aussicht auf „Geländegewinn“.“ Rückgang von Kirchlichkeit Am zweiten Tagungstag wandte sich Prof. R. Hanisch (Auditorium) an das Podium: In einem soeben erschienenen Aufsatz in einem Sammelband bei Campus habe Blaschke die Differenz von Pluralismus und Pluralität herausgearbeitet und ein differenziertes Verständnis von den Konflikten entworfen. Es gab Orte, an denen religiöse Mehrheit und Minderheit gut miteinander auskamen. Lucian Hölscher habe gezeigt, dass die Kirchenbindung im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter abnahm. Kann die Konfessionalisierung auch als eine Reaktion auf die Auswanderung aus den Kirchen und die Säkularisierung interpretiert werden? Prof. O. Blaschke „Das ist eine nachdenkenswerte These, aber ich würde den Kausalzusammenhang verneinen. Vielmehr muß man verschiedene Phasen unterscheiden. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fand, als Antwort auf die revolutionären und napoleonischen Umbrüche und auf die Desorientierung, eine Rückwendung zum Christentum statt. Es gewährte eine Neuorientierung, die mit Begriffen wie Rechristianisierung und Romantik bezeichnet werden. Tatsächlich löste sich ja das religiöse System von der Politik. Bischöfe waren nun wirklich Bischöfe und nicht mehr als Fürstbischöfe in erster Linie Herrscher. Priester wurden Priester und waren nicht mehr von der Schafaufzucht abhängig. Visitationen wurden durchgesetzt. Das religiöse System konnte sich darauf konzentrieren, Religion zu produzieren. Das verhalf ihr zum Aufstieg. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts steigen die Kirchenbesuchszahlen sogar, soweit wir lange Datenreihen vorliegen haben, wie sie Hölschers vierbändigem Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland zu entnehmen sind. Erst dann kommt die zweite Phase, bedingt durch zunehmendes Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und Urbanisierung, die besonders in den Städten die Kirchenbesuchszahlen sinken läßt. Da war der Konfessionalismus aber bereits voll ausgebildet. Im übrigen darf man nicht erwarten, dass der Konflikt zu ständigen Auseinandersetzungen führte. Deshalb hat Armin Owzar seine Studie über Hamburg
auch “Reden ist Silber, Schweigen ist Gold” betitelt. Wenn es heiß wurde, ging man aus der Gaststätte hinaus und wich dem Gegner aus. Gleichwohl bestand aber eine latente Konfliktstruktur mit ungeheuren Auswirkungen auf politischer, bildungsgeschichtlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene, die sich etwa 1933 oder noch in der Adenauerzeit manifestierten. Dank der Medien wurden konfessionelle Positionen kommuniziert. Man provozierte sich gegenseitig. Das hat auch Andreas Tacke mit den unterschiedlichen Kirchenbauten in Berlin auf faszinierende Weise demonstrieren können. Katholiken wollten als Deutsche gleichberechtigt in Berlin sein, aber zugleich nicht nur Differenz zu den hegemonialen Protestanten bilden, sondern sogar den Altersvorsprung unter Rückgriff auf vorreformatorische Zeiten reklamieren. Dazu paßt, dass sie ihre wichtigste Zeitung in Berlin gleich Ende 1870 “Germania” genannt haben. Normalerweise hießen katholische Zeitungen Kölnische Volkzeitung oder Volksfreund. Aber Germania markierte einen urdeutschen Namen und damit einen urdeutschen Repräsentationsanspruch inmitten der Hauptstadt. Die Mitte Deutschlands und Berlin spielte in der mental map der Katholiken bis dato eine geringe Rolle. Sie lebten, wie gezeigt, in der Peripherie, und dort hatten sie andere Zentren wie Wien, München, Mainz oder Köln. Nun aber hatte Deutschland ein Zentrum, und genau dort platzierte sich die Germania. Das bestätigt die These eines Ringens um Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Bewahrung der katholischen Identität.” Prof. D. Langewiesche „Zum Rückgang von Kirchlichkeit im 19. Jahrhundert sei weiter bedacht, dass man das 19. Jahrhundert zwischen Kirchlichkeit und Glauben trennen müsse. Die Teilnahme an den sonntäglichen Gottesdiensten ging vor allem in den größeren Städten zurück, und insbesondere im evangelischen Bildungsbürgertum. Doch die evangelischen Bildungsbürger blieben in der Kirche. Sie schickten ihre Kinder zur Konfirmation, heirateten kirchlich und ließen sich kirchlich bestatten. Sozialistische Arbeiter traten in der Regel aus der Kirche aus, doch ihr Sozialismus wies durchaus religiöse Prägungen auf. Für Bildungsbürger wie für die sozialistische Arbeiterschaft galt, dass Frauen stärker kirchlich gebunden blieben als Männer. Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht in seinem wichtigen Buch „Ein säkulares Zeitalter“ (Frankfurt/M 2009) von „Alternativenpluralisierung“ seit dem 19. Jahrhundert. Gemeint ist die Möglichkeit des Menschen in Europa, sich der lebensprägenden Kraft der Religion zu entziehen und ein Leben ohne Religion zu führen oder ohne die Verbindlichkeit kirchlicher Normen für ein religiöses Leben. Dieser Bruch mit der lebensweltlichen All-
299 gegenwart von Religion, wie sie in der Vergangenheit normal gewesen ist, vollzog sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Heute wird diese Alternativenpluralisierung wieder zum Problem, wenn Zuwanderer aus anderen Kulturen ihre Religion im Alltagsleben sichtbar machen wollen, etwa in der Kleidung (Kopftuch u.a.). So konnte es zu der Absurdität kommen, dass Bürgermeister französischer Badeorte eine Art Bikinipflicht für Frauen am Strand verordneten, so dass muslimische Frauen, die sich nicht entblößen wollten, den Strand nicht mehr betreten konnten. Wenn Zuwanderer aus religiös geprägten Kulturen auf eine stark entkirchlichte Gesellschaft treffen, müssen beide Seiten nach Kooperationsformen suchen. Was heute Alternativenpluralisierung bedeuten soll, muss neu ausgehandelt werden.“ Orthodox, philipistisch, pietistisch – Profile sächsischer Universitäten Prof. M. Schmoeckel (Bonn) „Die Tradition der Reformation prägte und prägt wohl noch die Universitäten Sachsens. Diese standen dabei nicht unvermittelt, sondern in einem klaren Wettbewerbsverhältnis zueinander. Während Leipzig sich durch die Orthodoxie zu profilieren versuchte, suchte insbesondere Jena in den meisten Epochen ein mehr philipistisches Profil. Mit dem Aufkommen von Halle und dem Pietismus wurde die Hierarchie der Universitäten noch einmal gründlich verändert. Der Rückgriff auf die Stellen der anderen protestantischen Universitäten des Reiches diente demgegenüber nur oft als Reservoir an Stellen und Personen. Den Unterschied sieht man mitunter mit dem Blick auf einzelne Personen ganz deutlich: So konnte Pufendorf gerade eben nicht in Leipzig zu Ende studieren, sondern konnte sein Programm erst in Jena entfalten. Natürlich waren die Universitäten auch dem Wettstreit zwischen den albertinischen und den ernestinischen Fürsten ausgesetzt. So verstand sich insbesondere Jena im Dienst der Herzöge von Sachsen-Weimar. Durch diese Diskussion innerhalb der sächsischen Universitäten darf jedoch nicht verkannt werden, dass alle drei sich darum bemühten, die wahren Nachfolger der Reformation zu sein. Alle die verschiedenen Standpunkte und Diskussionen der sächsischen Universitäten dienten also letztendlich nur dazu, die Belange, Angelegenheiten und Interessen der Reformation weiterzuentwickeln. Insgesamt stehen sie also zusammen sowohl für den inhaltlichen Reichtum der Reformation als auch für den Versuch, der jedenfalls bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und der damaligen Universitätsreform galt, deren Anregungen auf der Ebene der Wissenschaft gerecht zu werden. Die Heftigkeit der Streitigkeiten bis zum beginnenden 19. Jahrhundert darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass
wir es gerade in Sachsen, hier auch der Einfluss Preußens insbesondere wegen Halle, mit einem durch die Reformation geprägten Kulturraum zu tun haben, wobei die inhaltlichen Streitigkeiten nur darum gingen, dem ursprünglichen Auftrag möglichst gerecht zu werden.“ Einfluss der Architektur und der Bildenden Kunst Prof. A. Tacke „Aus kunsthistorischer Sicht sollte man die Rolle der Architektur und Bildenden Kunst bei der Festigung des eigenen konfessionellen Standpunkts nicht unterschätzen. Die Kunst des Historismus transportierte „Geschichtsbilder“, die sich mit ihrer Aussage so in den Schriftquellen nicht finden. Hier haben wir – vergleichbar der Literatur oder der Musik – eine eigene Diskursebene. Durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ist in Vergessenheit geraten, dass bis dahin öffentliche Gebäude – wie Bahnhöfe, Schulen, Rathäuser oder Museen, aber auch Kirchen – mit großformatigen Gemälden / Fresken ausgestattet waren, die Darstellungen aus der Geschichte zeigten – Darstellungen, die eine „parteiische“ Sicht auf die Geschichte warfen.“ Zu Friedrich Ludwig Jahn Worin liegen die tieferen Ursachen für die Verhaftung Friedrich Ludwig Jahns im Jahre 1819? Dr. J. Ulfkotte (Dorsten) „Jahn setzte sich nach der vernichtenden Niederlage der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt (1806) und dem demütigenden Frieden von Tilsit (1807) vehement für die Beseitigung der französischen Fremdherrschaft ein. Ihm schwebte für die Zukunft ein einiges deutsches Reich mit einer Verfassung vor, dessen oberster Repräsentant der König von Preußen sein sollte. Von dieser Position rückte er auch nicht ab, als die 1814/15 auf dem Wiener Kongress versammelten Fürsten die Gründung des Deutschen Bundes beschlossen. Seine politischen Zielvorstellungen liefen der restaurativen Politik der Fürsten seitdem schnurstracks zuwider, sodass er früher oder später Gefahr lief, mit dem Staat in Konflikt zu geraten. Mit seinen vollmundigen öffentlichen Vorträgen über „Deutsches Volkstum“, die er im ersten Quartal des Jahres 1817 in Berlin hielt, zog er nicht nur die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich, sondern er verscherzte sich auch die Sympathien des Staatskanzlers v. Hardenberg, der ihm bis zu diesem Zeitpunkt durchaus gewogen war. Die Gegner des Turnens provozierte er mit beleidigenden Äußerungen, sodass sich Freunde und Feinde des Turnens mit zahlreichen Streitschriften befehdeten. Diesen Turnstreitigkeiten setzte der preußische König letztlich mit der Schließung der öffentlichen Turnplätze ein Ende. Das Wartburgfest, insbesondere die aus dem Umfeld Jahns ins-
300 zenierte Bücherverbrennung, verstärkte die Furcht der Fürsten vor einem drohenden Umsturz der Wiener Ordnung. Die Ermordung Kotzebues durch den Burschenschafter und Turner Carl Ludwig Sand nahmen die Behörden zum Anlass, die als
staatsgefährdend ausgemachte Burschenschaftsbewegung ebenso zu unterdrücken wie die oppositionelle Turnbewegung um ihren Leiter Jahn, der jetzt als „geheimer Jugendverführer“ und „gefährlicher Demagoge“ verhaftet und kalt gestellt wurde.“
301 Reiner Groß
Von der konstitutionellen Monarchie zur repräsentativen Demokratie – Staat und Kirche in Sachsen im 20. Jahrhundert Hatte das 19. Jahrhundert für Sachsen und seine Menschen mit erheblichen Gebietsverlusten, revolutionären Ereignissen und militärischen Aggressionen außerordentlich negative Geschehnisse gebracht, die das Leben der Sachsen prägten, so hatte es auch positive Erscheinungen gegeben mit einer progressiven Entwicklung im industriellen und agrarischen Bereich, im kulturellen und bildungspolitischen Leben, mit Bevölkerungswachstum, sich entwickelnden Parteiverhältnissen im Zusammenhang mit der langsamen Durchsetzung bürgerlichdemokratischer Prinzipien in Politik und Gesellschaft. Das brachte das 20. Jahrhundert für die sächsische Bevölkerung zwar auch, wenn auch in manch veränderter Art und Weise, aber die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse waren zum Teil viel einschneidender im Leben der Menschen. Zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit hunderttausenden Toten und Verwundeten sowie enormen materiellen Verlusten, der Übergang von der konstitutionellen Monarchie zu parlamentarisch-demokratischen Verhältnissen, die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, der Zusammenbruch aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im Jahre 1945, die Spaltung Deutschlands und seine territoriale Verkleinerung vor allem in seinen östlichen Teilen mit katastrophalen Folgen für die Menschen, der Wiederaufbau im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands mit der schrittweisen Errichtung der Diktatur des Proletariats nach sowjetischem Vorbild, die friedliche Revolution von 1989/1990 und dem sich daran anschließenden Übergang zu staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen einer repräsentativen Demokratie mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – das alles prägte und beeinflusste die Menschen, die in dem geographischen Raum wohnten, lebten und arbeiteten, den man Sachsen nennt. Dieses Geschehen erfasste im Ablauf des 20. Jahrhunderts alle Lebensbereiche und etwa vier bis fünf Generationen der sächsischen Bevölkerung. Davon kann ich hier nur einige Grundzüge der staatlichen Entwicklung sowie der kirchlichen Verhältnisse behandeln. Als das 20. Jahrhundert begann, sollten die albertinischen Wettiner noch zwei Jahrzehnte das Königreich Sachsen in Form eines Bundesstaates im Wilhelminischen Deutschen Kaiserreich repräsentieren. Nach 29-jähriger Regentschaft verstarb am 19. Juni 1902 König Albert im schlesischen Sibyllenort, das er 1884 von Herzog Wilhelm von Braunschweig-Oels geerbt hatte. Ihm folgte sein vier Jahre jüngerer Bruder Georg, der bereits nach zweijähriger Regentschaft im Alter von 71 Jahren verstarb. Dann trat dessen ältester Sohn Friedrich
August, 1865 geboren, die Regentschaft an. Er sollte der letzte sächsische König werden, denn im Ergebnis der revolutionären Ereignisse vom November 1918 verzichtete er am 13. November 1918 auf Schloss Gutebom bei Ruhland mit dem Satz: „Ich verzichte auf den Thron.“ auf das Königsamt. Trotz der 1903 durch Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft gescheiterten Ehe mit Luise Erzherzogin von Österreich und Prinzessin von Toscana erreichte König Friedrich August III. eine zunehmende Beliebtheit in der Bevölkerung. Er übte weitgehend die Funktion eines Staatsoberhauptes aus und trat bald in eine nicht zu übersehende Rolle als Bürger-König ein. Nach der Abdankung im November 1918 lebte Friedrich August noch 14 Jahre auf den schlesischen Besitzungen. Am 18. Februar 1932 verstarb er auf Schloss Sibyllenort und vier Tage später begannen die Beisetzungsfeierlichkeiten in Dresden. Sie wurden zu einer einzigartigen Demonstration der Sachsen und Dresdner für ihren recht volkstümlichen ehemaligen Landesherrn. Am 22. Februar zogen in der Dresdner Hofkirche an dem in der Uniform eines kaiserlichen Feldmarschalls aufgebahrten Toten über 200 000 Menschen vorbei, bevor der Leichnam am 23. Februar 1932 in der Gruft der Hofkirche beigesetzt wurde. Der ehemalige sächsische König war wie ein Landesherr bestattet worden. Bis heute haben zahlreiche Anekdoten über ihn die Zeitläufe überdauert. Drei Beispiele sollen dies unterstreichen. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts besuchte Friedrich August Berlin und stattete Kaiser Wilhelm I. eine Visite ab. Der Kaiser äußerte seine Anteilnahme über die Strapazen der Reise von Dresden nach Berlin, aber Friedrich August meinte abwehrend: „S‘ klabbde krahde so scheen mid dr Hunde-Ausschtellungk!“ Friedrich August las immer die Tagespresse. Da las er einmal ein Inserat: “Kuh zu verkaufen, die jeden Tag kalben kann.“ Darüber dachte er scharf nach und sprach dann so vor sich hin: “Die sollde mer sich anschaffn; denn wenn se ooch Sonndachs und Feierdachs aussäzd, ‚s sinn immer noch dreihundert Källwer pro Jahr –“. Im November 1918 muss ein Adjutant Friedrich August darüber informieren, daß in Chemnitz eine rote Fahne gehisst worden sei. Auf Nachfrage des Königs, was dies bedeute, bekommt er zur Antwort, man habe in Chemnitz die Räte-Republik ausgerufen. Daraufhin der königliche Ausruf: „Ja, derfn die denn das?“ Nach diesen mehr einführenden Bemerkungen wende ich mich nun dem eigentlichen Thema zu. Die sächsische Verfassung vom 4. September 1831 galt auch noch nach der Inkraftsetzung der Verfassung des Deutschen Kaiserreiches vom
302 31. Dezember 1870. Mit dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zu einem bürgerlichparlamentarischen Staatswesen nach dem 9. November 1918 bedurfte es einer neuen Verfassung. Am 10. November 1918 übernahm der „Vereinigte revolutionäre Arbeiter- und Soldatenrat“ in Dresden die Macht. Er verkündete die Republik Sachsen. Fünf Tage später bildeten die Volksbeauftragten eine neue sächsische Regierung mit Ministerpräsident Richard Lipinski von der ASPD, die als „Gesamtministerium“ am 18. November 1918 einen „Aufruf an das sächsische Volk“ erließ, in dem die Sicherstellung der demokratischen Errungenschaften und die Erhaltung des sächsischen Staates verkündet wurden. Nach zum Teil kontrovers geführten Diskussionen im Gesamtministerium und in den Arbeiter- und Soldatenräten einigte man sich am 27. Dezember 1918 darauf, am 2. Februar 1919 die Wahlen zur „Volkskammer der Republik Sachsen“ durchzuführen. Die an diesem Tag gewählte Volksvertretung mit 42 Sozialdemokraten, 22 Demokraten, 15 Unabhängigen, 13 Deutschnationalen und 4 Anhängern der Deutschen Volkspartei trat am 25. Februar zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Das erste Gesetz, das diese Volkskammer verabschiedete, war das „Vorläufige Grundgesetz für den Freistaat Sachsen“ vom 28. Februar 1919. Dies war die Geburtsstunde des parlamentarischen sächsischen Bundesstaates in der Weimarer Republik. An die Stelle des Grundgesetzes sollte ein von der Regierung erarbeiteter Verfassungsentwurf treten, der ab 20. Mai 1920 in der Volkskammer in 19 Sitzungen beraten und am 26. Oktober 1920 einstimmig angenommen wurde. Damit trat ab 1. November 1920 die zweite sächsische Verfassung in Kraft, wozu in Artikel 53 die Verfassung vom 4. September 1831, das Vorläufige Grundgesetz vom 28. Februar 1919 und die Volkskammerordnung vom 11. Februar 1920 aufgehoben wurden. Artikel 1 bestimmte Sachsen als einen Freistaat im Deutschen Reich, womit man den Vorgaben der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 entsprach. Diese zweite sächsische Verfassung regelte die Ausübung der Staatsgewalt, die Aufgaben und Rechte des Landtages, der an die Stelle der Volkskammer trat, die Regierung und die Rechte und Pflichten des Ministerpräsidenten, die Gesetzgebung sowie das Finanzwesen. Damit wurden Überlegungen zu einer Wiederherstellung Sachsens in den Grenzen von vor 1815 als eines Bundesstaates Obersachsen unter Einschluss der preußischen Oberlausitz und der Niederlausitz, der thüringischen Gebiete südlich des Thüringer Waldes einschließlich der preußischen Enklaven und der Gebiete der Provinz Sachsen südlich von Anhalt im Umfang von reichlich 41 000 Quadratkilometern mit über acht Millionen Einwohnern gegenstandslos. Schließlich waren es Bayern und Sachsen, die im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung energisch Einspruch gegen die Be-
schneidung der Selbständigkeit der Länder erhoben, mussten letztlich aber eine Einbuße von Selbständigkeit und Herrschaftsgewalt hinnehmen. So war der Freistaat Sachsen fest in die Weimarer Republik eingebunden. Bis zum Januar 1933 amtierten 13 Landesregierungen, die in den ersten Jahren wesentlich von der SPD getragen wurden, später auch von der Deutschen Volkspartei. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise bis zum Frühjahr 1933 regierte dann ein Minderheitskabinett unter dem parteilosen Walter Schieck. Bei der Landtagswahl vom 22. Januar 1930 waren 32 Abgeordnete der SPD, 14 Abgeordnete der NSDAP, 13 Abgeordnete der KPD, 10 Abgeordnete der Mittelstandspartei, 8 Abgeordnete der Deutschen Volkspartei, 4 Abgeordnete der Deutsch-Nationalen Volkspartei, 5 Abgeordnete des Sächsischen Landvolks, 2 Abgeordnete des Christlich-Sozialen Volksdienstes sowie 8 Abgeordnete anderer Splitterparteien in den Sächsischen Landtag eingezogen. Regierungstragende Mehrheitsverhältnisse waren damit nicht zu erreichen. Das Ende der parlamentarischen Demokratie wurde im Freistaat Sachsen wie in den anderen deutschen Ländern am 30. Januar 1933 mit der Vereidigung Adolf Hitlers als Reichskanzler an der Spitze einer Koalitionsregierung des „Nationalen Zusammenschlusses“ eingeleitet. Nach dieser Machtergreifung erfolgte, wenn auch etwas langsamer als in Preußen, die „Gleichschaltung“ des Freistaates mit dem Reich. Am 10. März 1933 wurde das Beamtenministerium Schieck auf Grund der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ ihres Amtes enthoben und durch eine vom Reichsbeauftragten für Sachsen, dem Kapitänleutnant a.D. und Obergruppenführer der SA Manfred Killinger, gebildete Regierung ersetzt. In Konkurrenz mit Killinger stand der Gauleiter der NSDAP, Martin Mutschmann, der dann auf der Grundlage des „Vorläufigen Gleichschaltungsgesetzes“ vom 23. März 1933 am 5. Mai 1933 zum Reichsstatthalter in Sachsen ernannt wurde und der einen Tag später eine neue Regierung bildete. Nach dem „Zweiten Reichsstatthaltergesetz“ vom 30. Januar 1935 übernahm Mutschmann auch das Amt des Ministerpräsidenten, während Killinger in den diplomatischen Dienst des Reiches versetzt wurde. Sachsen war eines der wenigen deutschen Länder, bei denen die Landesgrenzen mit den Grenzen eines NSDAP-Gaues übereinstimmten. Das führte dazu, dass der Freistaat Sachsen faktisch zum faschistischen Gau wurde, auch wenn die Staatsbezeichnung noch bis 1939 häufig Anwendung fand. Im Zuge der „Gleichschaltung“ war der Landtag aufgelöst und durch Verordnung vom 4. August 1933 eine Neubildung nach den Ergebnissen der Reichstagswahl vom 5. März 1933 angeordnet worden. Nun zogen 38 Abgeordnete der NSDAP, 22 Abgeordnete der SPD, 6 Abgeordnete der Deutsch-Nationalen Front und 5 Abgeordnete sonstiger Splitterparteien in den Sächsischen Landtag ein. Als der Landtag am
303 16. Mai 1933 zu seiner Eröffnungssitzung zusammentrat, konnten die SPD-Abgeordneten nicht erscheinen, da sie sich wie die KPD-Abgeordneten in Haft befanden. Der so „geschrumpfte“ Landtag beschloss am 27. Mai 1933 das Ermächtigungsgesetz für den Freistaat Sachsen und trat am 22. August 1933 zu seiner letzten Sitzung zusammen. Mit den zwei Reichsgesetzen zur „Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ wurde der föderale Staatsaufbau beseitigt. Das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934 vollendete diesen Prozess. Die Länder wurden als Träger staatlicher Hoheit aufgehoben, blieben aber als öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften mit dem Recht der Selbstverwaltung bestehen. Letztlich wurden die Landesbehörden zu Reichsbehörden, die die Reichsgesetze im Land auszuführen hatten. So wurde die Landesregierung Sachsen zu einer Landeszentralbehörde. Durch die Verordnung vom 1. Januar 1939 wurden dann noch die Behördenbezeichnungen reichseinheitlich geregelt. Für Sachsen bedeutete dies, dass aus den Kreishauptmannschaften Regierungsbezirke und aus den Amtshauptmannschaften Landkreise wurden, sowie aus dem Kreishauptmann der Regierungspräsident und aus dem Amtshauptmann der Landrat. Auf diese Weise wurden die letzten sächsischen Verwaltungstraditionen aus dem öffentlichen Leben verbannt. Mit der Gemeindeordnung des Reiches vom 30. Januar 1935 und deren Durchsetzung in Sachsen wurde das progressive sächsische kommunale Selbstverwaltungsrecht, das mit der Gemeindeordnung vom 1. August 1923 eingeführt wurde und die basisdemokratischen Elemente in der Kommunalverwaltung damit gestärkt worden waren, außer Kraft gesetzt. Im Frühjahr 1945 erreichten die Kriegshandlungen des Zweiten Weltkrieges unmittelbar Sachsen. Als der Krieg am 1. September 1939 begann, da war er noch weit weg von Sachsen. Mit dem Bombenangriff der Alliierten auf Leipzig am 4. Dezember 1943 kam er direkt nach Sachsen. Höhepunkt und schmerzlichstes Ereignis des totalen Krieges war die Zerstörung der sächsischen Landeshauptstadt am 13. und 14. Februar 1945, wobei schon davor und dann auch danach die größeren sächsischen Städte Plauen, Chemnitz und Zwickau ein gleiches Schicksal erlitten. Ab Mitte April 1945 wurde Sachsen von Truppenverbänden der Alliierten besetzt, im Westen und Süden von der 1. und 3. US-Armee, im Norden und Osten von der Sowjetarmee. Am 25. April kam es an der Elbe bei Strehla und Torgau zu jeweils einer Begegnung einer amerikanischen Aufklärungsgruppe der 69. Infanteriedivision mit sowjetischen Soldaten der 58. Gardedivision. Einen Tag später entstand das Begegnungsfoto von Torgau, das um die Welt ging. Während die USTruppen an Elbe und Mulde und im Westerzgebirge stehen blieben, wurden die östlich davon liegenden sächsischen Gebiete erst am 7. und 8. Mai im Zuge
der Prager Operation von der Roten Armee besetzt. Am 10. Mai 1945 war Sachsen bis auf das Gebiet der ehemaligen Amtshauptmannschaft Schwarzenberg von Truppen der alliierten Mächte besetzt. Die Gesamtzahl der Kriegstoten auf sächsischem Territorium wird auf etwa eine Viertel Million Menschen geschätzt. Der Vollzug der auf der Konferenz von Jalta getroffenen Vereinbarungen führte dazu, dass sich die amerikanischen Truppen auf die bayerisch-sächsische und hessisch-thüringische Landesgrenze zurückzogen. Die Truppen der Roten Armee folgten unmittelbar, sodass Anfang Juli 1945 ganz Sachsen von sowjetischen Truppen besetzt war. Damit gehörte Sachsen vollständig zur Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Die östliche Grenze Sachsens zu Polen bildete noch vor der Potsdamer Konferenz die Lausitzer Neiße. Damit gingen die östlich der Neiße liegenden Gebiete der Amtshauptmannschaft Zittau für Sachsen verloren. Das waren 152 Quadratkilometer, aus denen ca. 25 000 Menschen vertrieben wurden. Nach dem Zusammenbruch jeglicher staatlichen Verwaltungstätigkeit im April/Mai 1945 begann man nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 mit dem Versuch eines demokratisch orientierten Wiederaufbaus, anknüpfend an die territorialen Strukturen der Weimarer Republik. Das wurde aber, wie sich bald zeigen sollte, in allen wesentlichen Fragen von der Sowjetischen Besatzungsmacht bestimmt, die auch für das Land Sachsen eine Militäradministration eingesetzt hatte, der die Kreiskommandanturen nachgeordnet waren. Am 4. Juli 1945 nahm eine von der SMAS eingesetzte Landesverwaltung Sachsen ihre Tätigkeit auf. Aber erst nach der im April 1946 vollzogenen Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED fand am 20. Oktober 1946 erstmals seit 1930 wieder eine demokratischen Prinzipien folgende Landtagswahl statt. Der am 22. November 1946 in Dresden zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetretene Landtag, in dem die Landtagsabgeordneten, die das Mitgliedsbuch der SED besaßen, die absolute Mehrheit hatten, nahm am 28. Februar 1947 einstimmig eine Verfassung an, die ab 13. Dezember 1946 beraten worden war. Es war die nun dritte Verfassung nach denen von 1831 und 1920. Sie stellte den Versuch dar, an die Verfassung des Freistaates anzuknüpfen, demokratisches Staatsverständnis neu zu beleben, aber auch die Forderungen der zentralen Parteiführung der SED zu erfüllen. Das führte dazu, das unter Beibehaltung des Grundrechts- und Grundpflichtenkataloges vor allem auf das Grundprinzip der Gewaltenteilung verzichtet wurde. Die Postulierung der Gewalteneinheit bereitete den Weg zum demokratischen Zentralismus und damit zu staatlichen Verhältnissen nach sowjetischem Vorbild vor. In zwölf Kapiteln mit insgesamt 98 Artikeln war diese Verfassung das Grundgesetz für den sächsischen Staat als Teil
304 einer, wie es in Artikel 1 hieß, „deutschen demokratischen Republik“. Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurden die Länder, und damit auch Sachsen, zu einem Hemmnis bei der Verwirklichung eines zentralistisch regierten Einheitsstaates. Auf dem Wege eines verfassungsrechtlich wohl als „Staatsstreich“ zu bezeichnenden Gesetzgebungs- und Verwaltungsaktes wurde deshalb 1952 die Länderstruktur beseitigt. Die Zweite Parteikonferenz der SED, vom 9. bis 12. Juli 1952 in Berlin tagend, hatte die „planmäßige Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ sowie die „Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie und der sozialistischen Gesetzlichkeit“ beschlossen. Elf Tage später verabschiedete die Volkskammer der DDR am 23. Juli 1952 das „Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der DDR“. Zwei Tage später trat mitten in der Ferienzeit der Sächsische Landtag zu seiner 28., außerordentlichen Sitzung zusammen, die nur 80 Minuten dauerte. Dazu unterbrach Landtagspräsident Otto Buchwitz auch nicht seinen Urlaub in der UdSSR. Einstimmig nahmen die Landtagsabgeordneten ohne Diskussion und Widerspruch das eiligst formulierte „Gesetz über die weitere Demokratisierung, den Aufbau und die Arbeitsweise der staatlichen Organe des Landes Sachsen“ an. Damit löste sich das Land selbst auf. An seine Stelle traten die Bezirke Chemnitz, Dresden und Leipzig. Die Landtagsabgeordneten wurden auf die drei neu gebildeten Bezirkstage aufgeteilt. An die Stelle der 29 Landkreise und acht Stadtkreise traten 52 Landkreise und acht Stadtkreise, die den drei sächsischen Bezirken zugeordnet wurden. Diese verwaltungsmäßige Gliederung blieb bis zum 3. Oktober 1990 bzw. 1. August 1994 bestehen. Das Land Sachsen als politisches Ganzes existierte nicht mehr. Bei der Abgrenzung der neuen Bezirke und Kreise wurden die jahrhundertelang traditionell gewachsenen historischen Landesund Kreisgrenzen nicht berücksichtigt. Das alles geschah ohne Beratung im Landtag, ohne Aufhebung oder Änderung der Landesverfassung und auch ohne Änderung der Verfassung der DDR. So blieb die Länderkammer als Vertretung der Länder bei der Volkskammer der DDR bis 1958 bestehen und die Räte der Bezirke führten noch viele Jahre in ihrer offiziellen Bezeichnung das Land im Namen, so z.B. „Rat des Bezirkes Dresden (Land Sachsen)“. Erst die Verfassung der DDR vom 6. April 1968 brachte in den Artikeln 82 bis 85 die verfassungsrechtliche Absicherung der Länderauflösung und der territorialen Neugliederung von 1952, ohne die Länder nur zu nennen. An die Neugliederung von 1952 mussten sich die Menschen erst gewöhnen, vor allem im Bezirk Leipzig, dem zwei Kreise aus dem aufgelösten Land Thüringen und drei Kreise aus Sachsen-Anhalt zugeordnet worden waren. So hatte sich das sächsische Territorium von 15 000
Quadratkilometern im Jahre 1945 auf 17 711 Quadratkilometer vergrößert, da auch von dem aufgelösten Staat Preußen die preußische Oberlausitz an den Bezirk Dresden kam. Wenn auch die staatliche Organisationsform des Landes seit 1952 nicht mehr gegeben war, so blieb das Bewusstsein, in Sachsen zu leben und ein geborener Sachse zu sein, in vielfältigen Formen und manchen Traditionen erhalten. Dies war nicht zu verhindern. So blieb das „sächsische“ auch im Namen mancher Einrichtung erhalten, so etwa in der Sächsischen Landesbibliothek, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften oder in den „Sächsischen Heimatblättern“. Als 1987 für Berlin die 750-Jahrfeier der urkundlichen Ersterwähnung mit großem Aufwand vorbereitet wurde, brach der schon lang schwelende Gegensatz zwischen Sachsen und Berlin als Sinnbild für Preußen auch im Sozialismus auf. Wartburgs und Trabants mit dem polizeilichen Kennzeichen für Dresden fuhren mit dem Aufkleber „Dresden 781 Jahre“ auf DDR-Straßen. Dazu kamen seit Mitte der achtziger Jahre eine spürbare Verschlechterung der Lebensverhältnisse, zunehmend sichtbar werdende Umweltprobleme, eine sinnlose Sicherheitsdoktrin, gepaart mit der Starrsinnigkeit der verantwortlichen Parteifunktionäre, zahlenmäßig wachsende Ausreiseanträge. Das alles zusammen drängte von innen heraus auf grundlegende Veränderungen. Die Züge von Prag über Dresden, Chemnitz, Zwickau, Reichenbach und Plauen nach Hof waren dann das auslösende Moment für die friedliche Revolution des Herbstes 1989. Das haben wir alle mehr oder minder bewusst miterlebt und mitgestaltet. Von den Montagsdemonstrationen in Plauen, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt/Chemnitz und vielen anderen sächsischen Städten und Orten über die Besetzung der Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit, die Bildung neuer Parteien und basisdemokratischer Gruppen, die Runden Tische bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 und die Bildung der de MaiziereRegierung kam es schließlich zur Verabschiedung des Ländereinführungsgesetzes vom 22. Juli 1990 als Voraussetzung für einen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Gesetz sicherte die Wiederbildung der Länder gesetzlich ab, damit auch die Wiederbegründung des Landes Sachsen, die mit weiß-grünen Fahnen seit November 1989 in den Montagsdemonstrationen gefordert worden war und von den drei sächsischen Runden Tischen auf Bezirksebene ab Dezember 1989 dann auch in einem längeren Prozess, in dem es letztlich um die Machtfrage zwischen den bisherigen politischen Kräften und den neuen demokratischen Kräften ging. Nach der Volkskammerwahl vom März 1990 setzten sich die neuen Kräfte durch, wobei Sachsen ab dem 12. Juli 1990 einen eigenständigen Weg beschritt. Sowohl von Arbeitsgruppen, die im
305 Auftrag der Runden Tische der drei sächsischen Bezirke Entwürfe einer neuen sächsischen Verfassung, einer Kommunalordnung, Strukturpläne für die künftige Staatsverwaltung erarbeiteten, als auch von Arbeitsgruppen, die im Auftrag der Gemischten Kommission Baden-Württemberg/Sachsen gleiche Dokumente erarbeiteten, wurde die Länderbildung vorbereitet. Am 4. April 1990 konstituierte sich die Arbeitsgruppe Landesverfassung, die Ende Juli 1990 den „Gohrischer Entwurf“ einer „Verfassung des Landes Sachsen“ vorlegte. So war vorbereitet, was sich dann ab 3. Oktober 1990 vollzog. Mit einer Feier auf der Albrechtsburg Meißen am 3. Oktober 1990 wurde am Ausgangspunkt sächsischer Geschichte der sächsische Staat neu begründet. Das Land Sachsen, das sich auf Beschluss des am 14. Oktober 1990 gewählten Sächsischen Landtages in seiner konstituierenden Sitzung am 27. Oktober 1990 in der Dresdner Dreikönigskirche den Namen „Freistaat Sachsen“ in bewusster Anknüpfung an 1919 gab, war aus dem Zusammenschluss der drei Bezirke Chemnitz, Dresden und Leipzig gebildet worden. Die Grenzkreise zu Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg stimmten über ihre künftige Länderzugehörigkeit ab. Die Kreise Altenburg und Schmölln schlossen sich wieder Thüringen an. Nach langwierigen Verhandlungen mit Thüringen wurden 1992 die vogtländischen Städte Elsterberg, Pausa und Mühltroff wieder sächsisch. Die Kreise Hoyerswerda und Weißwasser entschieden sich für Sachsen, die Kreise Delitzsch, Eilenburg und Torgau verblieben bei Sachsen. Auf diese Weise wurde der Preßburger Vertrag von 1815 zu Gunsten von Sachsen korrigiert. Hatte das Land nach 1815 eine flächenmäßige Größe von 14 993 Quadratkilometern, so hatte es am 31. Dezember 1990 nach der Wiederbegründung des Freistaates Sachsen eine Fläche von 18 341 Quadratkilometern, das sind 5,1 Prozent der bundesdeutschen Gesamtfläche, auf der 4,76 Millionen Menschen, das waren 6 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung, lebten. 2010 waren es noch 4,2 Millionen Menschen. Neben der Organisation der Verwaltungsstrukturen für den Freistaat, der dadurch handlungsfähig gemacht werden musste, wurde die Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung durch den Landtag eine wesentliche Aufgabe, wurden doch damit die rechtlichen Grundlagen staatlichen Handelns geschaffen. Der überarbeitete „Gohrischer Entwurf“ wurde am 23. Oktober 1990 als Vorschlag der CDU- und FDP-Fraktion im Landtag eingebracht. Im Verfassungs- und Rechts-Ausschuss des Landtages wurde dieser Verfassungsentwurf vom Dezember 1990 bis Mai 1991 beraten, dann zur öffentlichen Diskussion gestellt und von Januar bis April 1992 erneut im Verfassungs- und Rechtsausschuss abschließend beraten. Am 26. Mai 1992 verabschiedete der Sächsische Landtag mit 132 Stimmen gegen 15 Stimmen bei vier Enthaltun-
gen die Verfassung, die am 5. Juni 1992 verkündet wurde. Sachsen hatte damit seine vierte schriftliche Verfassung erhalten. Sie hat sich in dem seither verflossenen Einviertel Jahrhundert bewährt, so dass wir auch zukünftig in diesen gesicherten verfassungsrechtlichen Verhältnissen leben können. Da wir in diesem Jahr der 500. Wiederkehr der Veröffentlichung der von Martin Luther verfassten 95 Thesen über Ablass und Gnade gedenken, dies in besonderer Weise in Wittenberg und Torgau, gelten meine abschließenden Bemerkungen über die Geschichte Sachsens im 20. Jahrhundert, wie in meinen vorhergehenden Beiträgen, den kirchlichen Verhältnissen. Als das 20. Jahrhundert begann, da gehörten von den 4,2 Millionen Einwohnern 3,9 Millionen der evangelisch-lutherischen Landeskirche an, das waren immerhin 93 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dies hat Franz Blanckmeister, Pfarrer an der Dresdner Trinitatiskirche und Verfasser der bis heute noch immer einzigen veröffentlichten umfassenden Sächsischen Kirchengeschichte, in der zweiten Auflage seines Werkes, das 1906 in Dresden erschienen ist, in die Worte gefaßt: “Das Sachsenvolk hält noch fest an den Idealen des Deutschtums und des Christentums, die Grundlagen des sächsischen Volkstums sind noch gesund und probehaltig. Das Hauptverdienst daran gebührt der Kirche.“ (S. 464) Als der Erste Weltkrieg ausbrach, erfasste auch die sächsische Landeskirche die Hochstimmung während der Mobilmachung. Pfarrer warben in ihren Kirchgemeinden für die Zeichnung der Kriegsanleihe. Bereits zu Beginn des Krieges erlitten die sächsischen Truppen des XII. und XIX. Armeekorps, vereinigt in der 3. Armee unter dem Befehl von General von Hausen, Anfang September 1914 in der Marneschlacht erhebliche Verluste. Davon zeugen noch heute die auf jedem sächsischen Friedhof stehenden Gedenksteine und Namenslisten in den Kirchenfenstern. Von den etwa 750 000 im Krieg eingesetzten sächsischen Soldaten fielen 210 000 Mann, auf 100 sächsische Soldaten kamen 28 Tote, 44 Verwundete und 5,6 Gefangene. Die meisten von ihnen gehörten der evangelisch-lutherischen Landeskirche an. Nach drei Kriegsjahren erzwang der Materialmangel die Ablieferung zahlreicher Kirchenglocken und metallener Orgelpfeifen, die Beschlagnahme von Taufschalen und Abendmahlsgerät stand drohend im Raum. Die Glocken wurden zerschlagen, eingeschmolzen und zu Munition verarbeitet. Nach 1918 wurden sie vielfach durch schwere Stahlglocken ersetzt. Unter Kriegsbedingungen wurde der 400. Jahrestag der Thesenveröffentlichung begangen. Seit 1910 war mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten begonnen worden, war eine Geldsammlung initiiert worden und im Sommer 1917 wurde um eine „Luther-Spende“ gebeten, die für durch den Krieg geschädigte Kirchgemeinden bestimmt war. Letztlich konnten die Feierlichkeiten vorwiegend nur in den Kirchgemeinden veranstaltet wer-
306 den. Ein Jahr später wurde die Luther-Gesellschaft mit Sitz in Wittenberg gegründet, die ab 1919 das Luther-Jahrbuch herausgab, das sich zum Organ der internationalen Lutherforschung entwickelt hat. Der Übergang von der Monarchie zur Republik unter sozialdemokratischen Vorzeichen in Sachsen führte zur endgültigen Trennung von Staat und Kirche. Das am 11. Juni 1919 verabschiedete Volksschulgesetz beseitigte den obligatorischen Religionsunterricht in der Schule. Am 17. Juli 1922 wurde eine Verordnung erlassen, die die Freistellung von Lehrern und Schülern für religiöse Veranstaltungen an nichtgesetzlichen Feiertagen untersagte. Von erheblicher Bedeutung wurde auch das „Kirchenaustrittsgesetz“, das bereits den Vierzehnjährigen den Austritt aus einer Religionsgemeinschaft zugestand. Dadurch verringerten sich in den folgenden Jahren die Mitgliederzahlen der sächsischen Landeskirche. Auch organisatorisch erfolgte die Trennung von Staat und Kirche. Die Landessynode vom Mai 1919 erklärte das Landeskonsistorium zu einer vom Staat unabhängigen Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wenig später wurde es in das Landeskirchenamt als fortan oberste kirchliche Verwaltungsbehörde im Freistaat Sachsen umgebildet. Zugleich wurde von der Landessynode der Landesbischof als geistliches Oberhaupt der sächsischen Landeskirche gewählt. Man entschied sich für den 1902 an die Universität Leipzig als Professor für Systematische Theologie berufenen Ludwig Ihmels, der 1922 die Nachfolge des letzten Oberhofpredigers Franz Dibelius in Dresden antrat und dann 1926 das Amt des ersten sächsischen Landesbischofs übernahm. Die Besoldung der Pfarrer und kirchlichen Mitarbeiter wurde durch das Pfarrerbesoldungsgesetz vom 25. April 1928 geregelt, wozu durch ein Reichsgerichtsurteil vom Dezember 1932 vom Staat jährlich 4 Millionen Goldmark an die Landeskirche zu zahlen waren. Dies galt bis zur friedlichen Revolution von 1989. Dresden wurde auch der Ort des Ersten Evangelischen Kirchentages Deutschlands. Der Kirchentag wurde am 1. September mit einem Gottesdienst eröffnet. Daran nahmen Vertreter aus allen evangelischen Landeskirchen Deutschlands teil. 1921 wurde in Stuttgart die Bundesverfassung angenommen und ein Jahr später vereinigten sich 1922 in Wittenberg die 28 Landeskirchen im Deutschen Evangelischen Kirchenbund, woraus 1945 die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) entstand. Die römisch-katholische Kirche erfuhr insofern eine wichtige Veränderung, als 1921 ein neues Bistum Meißen mit dem Sitz in Bautzen gegründet wurde. Papst Benedikt XV. bestätigte am 24. Juni 1921 die neue Diözese. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 blieb auch nicht ohne Auswirkungen auf die sächsische Landeskirche. Bereits 1927 hatte sich in der Nähe von Glauchau die Bewegung der
„Deutschen Christen“ organisiert, in der Pfarrer vertreten waren, die der nationalsozialistischen Ideologie anhingen. Nachdem die im Dezember 1932 ordentlich gewählte 15. evangelisch-lutherische Landessynode Sachsens sich am 20. Februar 1933 konstituiert hatte, forderte am 25. April 1933 die Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Pfarrer die Anerkennung als Standesvertretung der sächsischen Pfarrerschaft. Damit begannen die Auseinandersetzungen innerhalb der Landeskirche zwischen den Deutschen Christen, den Anhängern der Bekennenden Kirche um den Theologen Karl Barth und dem von Pfarrer Martin Niemöller gebildeten Pfarrernotbund sowie einer „Mitte“. Zu ihnen wurden alle die Pfarrer gerechnet, die meinten, kirchliche Tätigkeit jenseits des Kirchenkampfes leisten zu können. Das war die Mehrheit der Pfarrer in Sachsen. Sie stimmten mit den Vertretern der Bekennenden Kirche, die im September 1935 in Dresden ihre erste Synode abhielten, gemeinsam für einen Rücktritt von Landesbischof Coch. Als am 7. Juni 1933 Landesbischof Ludwig Ihmels starb, er hatte am 21. April 1933 die Landessynode bereits um Versetzung in den Ruhestand gebeten, war gegen den Widerstand von Landeskonsistorium und Landessynode der dritte Pfarrer beim Landesverein für Innere Mission, Friedrich Coch, vom sächsischen Innenminister Dr. Fritsch zum 1. Juli 1933 als Landesbischof eingesetzt worden. Das war ein Bruch der Landesverfassung und der Kirchenverfassung. Damit begann der Kirchenkampf in der sächsischen Landeskirche, der gegen die Deutschen Christen in dem als Pfarrer der Frauenkirche und Superintendent von Dresden-Land seit 1927 wirkenden Theologen Hugo Hahn, 1886 in Reval geboren, seinen Repräsentanten fand. Um ihn sammelten sich die 12 Pfarrer, die die „Barmer Theologische Erklärung“ auf der ersten deutschlandweiten Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai 1934 mit unterzeichnet hatten. Sie sind es auch, die im Anschluss an die Synode den sächsischen Landesbruderrat bildeten, deren Leitung Hugo Hahn übernahm. Hahn wurde als Repräsentant der Bekennenden Kirche in Sachsen im August 1934 verhaftet, danach in den einstweiligen Ruhestand versetzt und zum 1. Juni 1935 aus der sächsischen Landeskirche entlassen. Auf Betreiben des Gauleiters Mutschmann wurde er am 12. Mai 1938 aus Sachsen ausgewiesen. Hahn ging über Berlin nach dem württembergischen Hedelfingen, wo er weiter als Pfarrer wirkte. In all den landeskirchlichen Wirren wurde 1933 des 450. Geburtstages von Martin Luther am 10. November gedacht, aber eine besondere Geburtstagsfeier fand nicht statt. Am 25. Mai 1939 jährte sich zum 400. Mal die Einführung der Reformation im Herzogtum Sachsen. Dazu fand ein Festakt im großen Saal des Leipziger Gewandhauses statt. In dem Bemühen, die lutherischen Kirchen unter den Bedingungen des Kirchenkampfes zusammenzuhalten, wurde im Juli 1937 der „Lutherrat“ gegrün-
307 det, dem auf Betreiben Hahns auch der sächsische Landeskirchenausschuss beitrat. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde im Dezember 1940 eine Art Burgfrieden zwischen dem Landeskirchenamt und der Bekennenden Kirche geschlossen. Am Ende des Krieges gehörte die sächsische Landeskirche zu den von den Deutschen Christen am stärksten zerstörten Landeskirchen, die ursprüngliche Struktur der Kirche existierte nicht mehr. Nach dem 8. Mai 1945 begann der Wiederaufbau der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Die Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht und die Landesverwaltung Sachsen sicherten der Kirche zu, den inneren Neuaufbau völlig frei und unabhängig vornehmen zu können. Die Kirchenführer der Deutschen Christen hatten Sachsen fluchtartig verlassen. Ab Juli 1945 formierte sich ein neues Landeskirchenamt unter der Leitung von Erich Kotte. Für die geistlichen Angelegenheiten war bis 1947 der Dresdener Pfarrer Franz Lau als Landessuperintendent verantwortlich, bevor er an die Universität Leipzig berufen wurde. Am 31. Oktober 1945 wurde sehr bewusst der Reformation gedacht. In vielen Kirchgemeinden hielt man aus diesem Anlass Abendgottesdienste ab. In diesem Zusammenhang wurde auf den 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar 1946 hingewiesen. Bald wurde versucht, Hugo Hahn als Landesbischof wieder nach Dresden zu holen. Bereits auf der Kirchenführer-Konferenz im August 1945 im hessischen Treysa, die auf Betreiben des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm und Martin Niemöller stattfand, hatte Hahn die sächsische Landeskirche vertreten. Nach einem Gespräch von Hahn mit dem Kulturoffizier der SMAD, Oberst Tulpanow, das in russischer Sprache stattfand, der ja Hahn durch seine geographische Herkunft mächtig war, war dessen Rückkehr nach Sachsen möglich. Am 31. Oktober 1947 wurde Hahn durch den Landesbischof Wurm als Vorsitzenden des Rates der EKD im Meißner Dom in das Amt des sächsischen Landesbischofs eingeführt. Bis 1953 übte er dieses Amt aus. Ihm folgte als Landesbischof Gottfried Noth. Als Hahn in den Ruhestand ging, hatte die Landeskirche Sachsens wieder feste Organisationsstrukturen, die in der Landeskirchenverfassung von 1950 rechtlich abgesichert waren und die ein lebendiges Gemeindeleben gewährleisteten. In jenem Jahr gehörten 81,4 Prozent der sächsischen Bevölkerung der evangelischen Kirche an, das waren zu diesem Zeitpunkt ca. 4,7 Millionen Menschen. Für sie wurde 1950 das Evangelische Gesangbuch eingeführt, das die Einheit der evangelischen Kirche in Deutschland manifestieren sollte. Das wurde mit der Veranstaltung des gesamtdeutschen Kirchentages vom 7. bis 11. Juli 1954 in Leipzig bekräftigt, an dessen Abschlussgottesdienst mehr als eine halbe Million Menschen im Leipziger Rosental teilnahmen. Zu diesem Zeitpunkt
hatte der von der SED im Frühjahr 1953 ausgelöste „Kirchenkampf“ mit Verfolgungen und Verhaftungen schon zu einer Verminderung der Mitglieder in der Landeskirche geführt. In den späten fünfziger Jahren nahmen durch die kirchen- und religionsfeindliche Politik der SED die Kirchenaustritte weiter zu, Taufen und Konfırmationen gingen drastisch zurück. Am Ende der DDR-Zeit gehörten nur noch knapp 33 Prozent der sächsischen Bevölkerung der evangelischen Kirche an. Am 31. Dezember 2010 waren es exakt noch 773 851 Menschen, die der evangelischen Landeskirche angehörten. Das waren nur noch 20,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Am Anfang der achtziger Jahre wurde die sächsische Landeskirche ein Anlaufpunkt für zunehmend kritische Äußerungen über das Machtsystem in der DDR. Im November 1980 fand unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ die erste Friedensdekade der evangelischen Jugendarbeit unter dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ statt. Das wurde zum äußeren Kennzeichen der christlichen Friedensbewegung, auch wenn es 1982 von der DDR-Regierung verboten worden war. Friedensund Umweltgruppen unter dem Dach der Kirche wurden zum Sammelbecken oppositioneller Kräfte. Das mündete in die wöchentlichen Friedensgebete ein, die in Leipzig, Plauen und anderen Städten zum Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen und damit der friedlichen Revolution im Herbst 1989 wurden. In dem nicht immer schmerzfreien Prozess des Wiederaufbaues des Freistaates Sachsen nahmen die Kirchen zunehmend Verantwortung wahr. Ich möchte meine Bemerkungen mit einem Zitat aus der von Gerhard Graf und Markus Hein verfassten „Kleinen Kirchengeschichte Sachsens“ schließen: „Der Glaube und das Vertrauen darauf, dass die Verheißung Jesu Christi, mitten in seiner Kirche zu sein, auch heute gilt, verbinden die Geschichte mit der Gegenwart der Heimatkirche. Sie sind die Träger der Hoffnung, auch künftigen Herausforderungen gewachsen zu sein.“ Literatur
Gerlach, Siegfried (Hrsg.): Sachsen. Eine politische Landeskunde. Stuttgart 1993. Graf, Gerhard/Markus Hein: Kleine Kirchengeschichte Sachsens. 4. Aufl. Leipzig 2009. Groß, Reiner: Geschichte Sachsens. 4. Aufl. Leipzig 2012. Hermann, Konstantin (Hrsg.): Sachsen seit der Friedlichen Revolution. Tradition, Wandel, Perspektiven. Beucha, Markkleeberg 2010. Karlsch, Rainer/Michael Schäfer: Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Dresden, Leipzig 2006. Thomas, Ralf: Reformation und Landesgeschichte Sachsens. Skizzen eines halben Jahrhunderts. Beucha, Markkleeberg 2017.
308 Athina Lexutt
Kernobst statt Smoothies – Welchen Luther brauchen Kirche und Politik im 21. Jahrhundert? 1. Viel Lutherei Jetzt ist das Jubiläum endlich da. Es wird vermutlich gefeiert, bis der Reformator selbst kommt, und mindestens ganz Deutschland wird in einem einzigen Jubelrausch versinken. Oder so ähnlich. Alle sind wohl gespannt, was 2017 bringen wird. Viele erwarten sich durchaus mehr davon als einen Feiertag zusätzlich, als einen Luthergarten in Wittenberg und nationale Sonderausstellungen. Viele erwarten tatsächlich nicht weniger als so etwas wie einen Weckruf, der die Kirchen und ihre Glieder aus einem Dornröschenschlaf herausholt, der ganz unterschiedlich begründet, aber doch überall gleichermaßen tief ist. Eingelullt in satte Selbstgenügsamkeit oder ermüdet vom steten Lamento über die Entkirchlichung der Welt, depressiv geworden über das Abgleiten in weitgehende Bedeutungslosigkeit oder aufgeweicht durch die Verwechslung von Toleranz mit Beliebigkeit – nicht wenige haben das Gefühl, es müsste – analog zur Politik einige Jahre zuvor – endlich mal wieder ein Ruck durch Kirchendeutschland gehen. Und eben diesen erwartet man sich vom Reformationsgedenken, denn damals im 16. Jahrhundert ging ein wahrhafter Ruck durch Deutschland, ja durch ganz Europa, und nicht nur ein Ruck, sondern ein gewaltiges Erdbeben erschütterte die mehr oder weniger selbstzufrieden dahin dümpelnde Kirche. Und die Politik gleich mit. Kann man also nicht irgendwie mit Luther und dem, was die Reformation ausmacht, auch heute buchstäblich noch Staat machen? Kann man mit ihnen und ihren Ideen nicht Reformen einleiten und die Welt ausbessern? Denn dass diese Welt reformbedürftig ist – daran scheint kein Zweifel zu bestehen. Aber schon im nächsten Moment stellt sich Ratlosigkeit ein. Welche Reformen will man eigentlich? Wohin soll reformiert werden? Muss der Blick dazu wirklich zurückgerichtet sein? Und ist das, was da im Jubeljahr alles veranstaltet wird und vorher schon im Blick auf diese Zielgerade veranstaltet wurde, tatsächlich dazu angetan, Luther und die Reformation für heute attraktiv zu machen? Bedenken stellen sich ein, dass nach dem 31.10.2017 viele Bücher bei zvab.com landen, eine Müllhalde voll von Playmobil-Figürchen übrigbleibt, die sich ohnehin nur durch steife Ärmchen auszeichneten und dadurch, dass ihnen pikanterweise immer die Bibel aus der Hand rutschte. Luther-Quietscheentchen werden wohl mit den Badezimmern, in denen sie ein staubiges Dasein fristeten, wegrenoviert werden, und der pfiffige Aufdruck „Evangelisch. Immer was zu tun“ auf dem Reformationshammer wird durch häufigen Gebrauch eben jenes Hammers beim Heimwerken schnell verwischt sein.
Was von diesem Reformationsgedenken am Ende bleibt – diese Frage beschäftigt viele schon vor dem Ende. Sie kommt mit Sorge, mit Macht – und mit Recht. Im Folgenden soll eine Antwort versucht werden. Eine Antwort, die den roten Faden, der durch die Tagungen gezogen wurde, respektiert und zum Ziel hat, Luthers Bedeutung für Kirche und Staat heute zu benennen. Dies wiederum kann sie aber nur, wenn sie zugleich den roten Faden aufnimmt, der sich durch die Vorträge zieht, die über die Jahrhunderte verfolgt haben, wie sich das Lutherische den jeweiligen Herausforderungen der Zeit gestellt hat. 2. Welchen Luther? Ein Mönch hat es einmal in einem Gespräch auf den Punkt gebracht, als er sagte, eine Übersetzung sei wie ein Kuss durch ein Taschentuch. Wer schon einmal geküsst hat, wird unschwer erkennen, was das heißt. Jeder küsst lieber ohne distanzierendes Taschentuch und weiß: das Taschentuch nimmt viel. Es mag ja den Kuss klinisch rein sein lassen – aber die originalen Lippen wären doch allemal schöner. Es muss also bewusst sein, dass in dem Moment, in dem man sich mit Luther und der Reformation beschäftigt, beide durch ein 500 Jahre altes Taschentuch geküsst werden. Und die Sache wird sogar noch unappetitlicher. Denn es muss ebenso bewusst sein, dass durch genau dasselbe Taschentuch schon viele, viele andere geküsst und ihre Spuren darauf hinterlassen haben. Wenn also heute nach einer Bedeutung Luthers und der Reformation für das 21. Jahrhundert gefragt wird, dann geschieht das weniger über den garstigen Graben von 500 Jahren hinweg, sondern man hat all den Schlamm und Unrat, der sich in diesem Graben befindet, ebenfalls an den Füßen. Es ist mit all den Lutherbildern zu kämpfen und sie zurückzulassen, die vergangene Jahrhunderte von ihm und seinen Ideen gezeichnet haben, im Glauben, die Pointe seines Denkens getroffen zu haben, und getrieben von dem Willen, ihn für die eigene Zeit fruchtbar zu machen. Ist es 1617 der Luther, der dem Papst im fernen Rom mit dem Federkiel, mit dem er die Thesen an die Schlosskirchentür zu Wittenberg schreibt, die Tiara vom Kopf stößt1, so ist es 1717 der Gelehrte, der dozierend die Dinge zurechtrückt2; 1817 hält die Reformation für den nationalen Einheitsgedanken her3, wir alle kennen die stiernackigen Luther-Denkmale4, die überall aus dem Boden schossen und Luther als deutscher Held sollte dem Nationalbewusstsein gut tun; 1917 schließlich steht er mit Bismarck Seite an Seite, die beide weder Tod noch Teufel, andere Nationen oder den Papst fürchten und gemeinsam mit dem Schwert für Volk und
309 Vaterland zu kämpfen bereit waren – Vorbilder, denen es nachzueifern galt. Welches Bild von Luther wird wohl 2017 überleben? Die Medien haben sich ein wenig darauf eingeschossen, seine Biographie bis zum Äußersten auszureizen. Er kommt als Wüterich und Zornesmensch daher, als jemand, der seinem Leib und seiner Körperlichkeit über Gebühr Aufmerksamkeit zollte, er begegnet als Mensch in Gewissensqualen und als Zerrissener. Und natürlich immer wieder als hammerschwingender Polterer und Revoluzzer, dem die Kirche seiner Zeit gewaltig auf die Nerven ging. Seine Schattenseiten werden so herausgekitzelt, dass kaum noch Licht übrigbleibt – als gebe es zwischen dem blindwütigen Egomanen und dem nationalbesoffenen Denkmal-Luther des 19. Jahrhundert keine Mittelwege. Der Fehler indes liegt wohl gewissermaßen im System. Man stürzt sich heute nahezu besinnungslos auf die Historie – und vergisst die Theologie. Es wird das vergessen, was diesen Mönch Martin zum Doktor Luther machte: seine Existenz als Exeget und als Seelsorger, die ihn letztlich zu neuer Lektüre altbekannter Texte brachte um der Seelen der ihm anvertrauten Menschen willen. Bei allem, was berechtigterweise von diesem Menschen des 16. Jahrhunderts zu wissen interessant ist, wird vergessen, weiter zu fragen nach dem, was er über seine Zeit hinaus vermitteln wollte. Die Theologen vergessen, dass sie nach seiner Theologie zu fragen haben, und es wird vergessen, ihn, den Theologen, für Kirche und Staat heute fruchtbar zu machen. Denn Kirche und Staat brauchen ihn. 5
2.1 Diagnose Natürlich. Wer wollte das auch nur andeutungsweise leugnen: Unsere Zeit, unser Jahrhundert steht vor ganz eigenen Herausforderungen; Herausforderungen, die sich fundamental von denen unterscheiden, vor denen Luther und seine Zeitgenossen standen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Migration und Inklusion; ein verändertes Bild von Ehe und Familie; soziales Ungleichgewicht; Krisenherde, die durch die Globalisierung näher gerückt sind; Fundamentalismus und Populismus, die breite Anhängerschaft genießen; eine digitale Bilderflut und Kommunikation, die sich in hohem Maße auf virtuellem Weg abspielt; religiöse Vielfalt bei gleichzeitigem Verlust der religiösen Deutungskraft; religiöses Erleben, das sich oft an ganz anderen Orten abspielt als in Kirche und Gemeinde; religiöse Sehnsucht und religiöses Erfahren, das als solches nicht erkannt und daher so nicht benannt wird. Die stärker werdende Politikverdrossenheit unserer Tage, zu der sich eine Perspektivlosigkeit für junge Menschen gesellt und auf der anderen Seite Angst vor Altersarmut, Pflegebedürftigkeit und Verlust der Würde in Krankheit und Sterben, treiben viele in die weit geöffneten Arme so mancher Rattenfänger, in Depression und Gewalt, nicht zuletzt auch gegen sich selbst, wenn man an
Suchtverhalten und Suizid denkt. Politik, aus Sorge um den nächsten Wahlausgang und gefangen in so mancher Engstirnigkeit, nimmt nicht wirklich ernst oder lässt sich umgekehrt von den Medien so hochschaukeln, dass Aussagen getroffen werden, die morgen schon keinen Wert mehr haben und eiligst zurückgenommen werden. Menschen werden Staatsmänner und -frauen, die man noch vor einigen Jahren für undenkbar hielt, weil man dachte, die Welt sei vernunftgesteuert und hätte aus der Geschichte gelernt. Die beiden großen Kirchen lassen es bei gelegentlichen Einwürfen bewenden und kreisen lieber um die eigenen Probleme – oder sie mischen sich auf eine peinliche Art und Weise ein, die nämlich das theologische Kerngeschäft vernachlässigt und stattdessen lieber gutgemeinte Ratschläge gibt, die sich bisweilen am Rande des Banalen bewegen. Es bedarf keiner großen intellektuellen oder gar prophetischen Qualitäten, wenn man sich angesichts des gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Ist gerne mal verzweifelt und rätselnd an den Kopf greift und die Zukunft nicht in den rosigsten Tönen beschreiben kann. Das Viele, das jetzt nicht genannt wurde, würde ein Übriges tun, diesem IstZustand das Etikett „Einigermaßen desolat“ aufzudrücken und mit gewisser Sorge nach vorne zu schauen, die vor allem eins bereithalten dürfte: Orientierungslosigkeit. Welcher Luther kann aus dieser Orientierungslosigkeit herausführen? 2.2 Therapie Gar kein Luther. Eigentlich. Denn Luther war im 16. Jahrhundert zuhause und hatte dort mit genug Problemen zu kämpfen, und zwar deutlich anderen, als die, die heute warten. Den historischen Luther kann man also getrost in diesem 16. Jahrhundert lassen. Aber das gilt mitnichten für das Lutherische, das Reformatorische, den Kern, der in den vergangenen Vorträgen immer wieder eine Hauptrolle gespielt hat. Das will auch und gerade heute neu zur Sprache gebracht werden. Aber wie? Und was kann das nützen? Das soll an einem Begriff verdeutlicht werden, den es noch gar nicht gibt, und damit gleich den ersten Punkt sozusagen indirekt einpflegen, nämlich: der Sprache zu neuem Ausdruck zu verhelfen – das können wir von und mit Luther lernen und darin schöpferisch und belebend wirken. Wir sind alle zu Legasthenikern geworden, sprachlichen Krüppeln, die dem Wort nicht mehr die Kraft zuschreiben, die es aber hat. Wenn man sich anschaut, wie auf Twitter, Facebook und Co. mit Sprache umgegangen wird und wie hemmungslos Worte missbraucht werden, um damit zu verletzen und zu treffen – dann wäre es ein wahrer Segen, wenn die Liebe zur Sprache und zum Wort neu geweckt werden könnte. Das heute zu präsentierende Wort kommt im Duden nicht vor, und man kann es auch bei Scrabble nicht legen – zwei si-
310 chere Indizien, dass es sich dabei wirklich um eine Neuschöpfung handelt. Dieses Wort heißt „reformativ.“ Was das heißt und was es im Blick auf unsere Fragestellung leistet, das soll nun – wörtlich genommen – durchbuchstabiert werden.6 2.2.1 R wie Reformation Ständig hören wir um uns herum von „Reformen“ reden. Jedes politische Programm ist eine „Reform“, Reformen werden wiederum reformiert und durch neue Reformen ersetzt. Dass die Kirche „semper reformanda“ ist, gehört zum Allgemeingut, um nicht zu sagen: Floskelhaften dazu.7 Medizinische Anwendungen müssen ebenso reformiert werden wie die Taktik im Fußballspiel. Reformen erheben den Anspruch, etwas zum Besseren zu bewegen. Das, was in dem Wort „Re-Form“ aber auch enthalten ist, nämlich dazu Vergangenes zu bemühen und zu überlegen, wie Tradition und Innovation in ein Gespräch gebracht werden können – das wird dabei nur zu gerne vergessen. Als Martin Luther nach langem inneren Kampf seinen Weg ging, als er seine Thesen veröffentlichte und die Theologie von Grund auf reformierte, da war ihm klar, dass dieser Reformprozess nie wirklich zu Ende sein konnte. Alles reformatorische Wirken konnte nur ein Anfang sein, und jeder steht in seiner Zeit wieder an diesem Anfang. Wenn das Reformationsjubiläum 2017 zu Ende geht, fängt die Reform erst an. Dann gilt es, die Ärmel aufzukrempeln und gerade nicht die Hände in den Schoß zu legen. Kirche, Gesellschaft und Politik brauchen Herz, Kopf und Hände. „Kopf“ – das meint Vernunft und Verstand, die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und auch nach dem zu fragen, was eine objektive Vernunfteinsicht sein könnte, die sich jenseits der eigenen bevorzugten Meinung, jenseits der eigenen Fraktion und jenseits des Mainstreams bewegt. „Hand“ bedeutet, die Dinge nicht nur theoretisch zu bedenken, sondern mit anzupacken, Hand anzulegen, wo es nötig und geboten ist. Und „Herz“ spricht im theologischen Sinn nicht die Gefühlswelt an, sondern die Affekte, das also, wovon man sich angezogen weiß und wonach man sich ausrichtet, woran man sich orientiere, woran man buchstäblich sein Herz hängt. Ein Christenmensch wird sich niemals gemütlich zurücklehnen und die Welt ihrem Lauf überlassen. Er wird aber auch nicht in blinden Aktionismus verfallen. Er wird vielmehr in aller Freiheit das tun, was zu tun der Augenblick erfordert. Er wird ein wachsames Auge haben auf Politik, Gesellschaft und Kultur und darauf, was sie für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der gesamten Schöpfung tun. Er wird mahnen und warnen und selbst mit anpacken, wo es nötig ist. Das alles erfordert freilich sowohl Mut als auch Demut. Das erfordert Einsicht in die menschlichen Möglichkeiten, genauso aber auch in die menschlichen Unzulänglichkeiten. Von beidem könnten wir
heute eine Menge gebrauchen. Dort Luther wiederzuentdecken täten Kirche und Politik sicher gut, und diesen Luther, den mutigen und demütigen, der von dort aus so reformierte, dass er dort, wo andere immer nur renovieren wollten, einsah, dass das Haus neu gebaut werden muss, weil die Fundamente nichts taugen – den brauchen wir heute, um reformativ sein zu können. 2.2.2 E wie Erfahrung Wir leben heute mit einem ganz bestimmten Bild vom Menschen. Einem Bild, das von Erfolg ausgeht und dazu die Kräfte des Menschen mobilisiert: Verstand, Wille, Durchsetzungsvermögen. Die Reformation lehrt einen anderen Blick auf den Menschen, seine Kräfte und sein Können. Luther hat auf die Bedürfnisse und die Bedürftigkeit des Menschen geschaut und festgestellt, wie oft der Mensch angewiesen ist auf das, was außerhalb dieser seiner Kräfte liegt. Er hat gesehen, dass seine Vernunft in diesem Leben das Höchste und Beste ist und zu vielem in der Lage – aber dass sie ihn nicht das ewige Leben verstehen lassen kann und an der Größe der Gnade Gottes ihre Grenze hat, die über jedes menschliche Verstehen-Können weit hinausgeht. Er hat gesehen, dass der Wille des Menschen nicht so frei und stark ist, wie man gerne glauben möchte, und im Blick auf Gott immer in der falschen Richtung unterwegs. „Sünde“ als Begriff dafür, dass der Mensch sich von Gott immer schon abgekehrt hat, wird von den Reformatoren in seiner ganzen Tiefe und als die Kraft erfasst, die auch die höchsten und vornehmsten Kräfte des Menschen, seine Vernunft und seinen Willen, fest im Griff hat. Das freilich lehrt nicht der Verstand. Das lehrt keine Spekulation. Das lehrt auch kein inneres Gefühl. Im Gegenteil. Die gaukeln vor, man würde sich das Heil selbst schaffen können, wenn man sich nur genug anstrengt. Jeder ist seines Glückes Schmied – diese Idee macht unsere gesellschaftliche Wirklichkeit aus. Dass Seligkeit, dass Trost im Leben und im Sterben aber keine Sache für das Schmiedehandwerk sind – das kann allein die Erfahrung lehren. Allein die Erfahrung macht einen Theologen zum Theologen, so Luther. Und man müsste erweitern: Allein die Erfahrung lehrt den Menschen, was er ist. Allein die Erfahrungen um Leben und Sterben. Allein die Erfahrung dessen, was das Leben zwischen Geboren-Werden und Tod alles mitbringt. An Positivem wie an Negativem, an Fragen wie an Antworten, an Freudigem wie an Traurigem, an Zweifel und Trost, an Hoffnung und Verzweiflung. Aus einer solchen Erfahrungstheologie heraus kann und wird ein Christ leben. Trotz und in allem, was ihm begegnet, was er erfährt, erfahren darf, erfahren muss. Sie wird diese Erfahrungen nicht schönreden oder verdecken, nicht totschweigen und nicht stärker werden lassen, als sie sind. Sie wird durch sie hindurchtragen. Im Schauen auf das Kreuz, das durch die Reformation zu entscheidender Gel-
311 tung gekommen ist, wird genau dies möglich. Die Größe und die Grenzen des durch den Menschen und seine Kräfte Machbaren zu erkennen und zu benennen, das heißt: reformativ zu sein. 2.2.3 F wie Freiheit Menschen sind gefangen; sie werden gefoltert; Menschen engen sich selbst ein; Menschen leben in Regimen, welche die Menschenwürde mit Füßen treten; sie harren in einer Beziehung aus, die ihnen den Atem nimmt. All das und noch viel mehr geschieht tagtäglich. In aller Welt. Und auch in unserem eigenen Leben, auf die ein oder andere Weise. Selbst dann, wenn wir uns ganz und gar frei fühlen sollten, gibt es Momente, in denen uns irgendetwas oder irgendjemand buchstäblich die Luft nimmt. Daher gilt unbestritten die Freiheit als höchstes Gut überhaupt. Wo sie nicht ist, da ist nicht nur Unfreiheit, sondern da fehlt es an allem, was es Menschen möglich macht, in Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit zu leben. Freiheit ist unendlich kostbar. Die Reformatoren haben das erkannt. Sie haben für die Freiheit gekämpft und sie eingefordert gegen jeden, der für sich im Übermaß Macht und Autorität in Anspruch nahm. Sie haben aber auch die Freiheit noch viel tiefer verstanden, denn sie wussten, dass es wirkliche Freiheit nur geben kann, wenn sie als von Gott geschenkte begriffen wird. Man kann sich in vielen Bereichen frei machen – aber nicht im Gewissen. Und man kann umgekehrt in vielem gefangen sein – im Gewissen bleibt man frei, weil Gott in Jesus Christus ein für alle Mal frei gesprochen hat, obwohl der Mensch nichts Gutes und Liebenswertes vorzuweisen hat. Ginge es nach menschlichem Gerechtigkeitsempfinden, müsste der Mensch auf ewig verdammt sein. Aber Gottes Wort macht frei, und es macht überall dort frei, wo sich andere Zugriff auf die innere Freiheit anmaßen. Das ist weit mehr als Freiheit im politischen Bereich. Das ist die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel, also von allem, was den Lebensatem nimmt. Dass der Mensch in seinem Gewissen frei ist, frei gegenüber Gott und im Letzten nur ihm gegenüber verantwortlich – das ist ein riesiger Schatz, den die Reformation geborgen hat. Luther hat sich 1521 in Worms auf sein Gewissen berufen und in Glaubensdingen keine andere Autorität als die Heilige Schrift gelten lassen – das ist gelebte Freiheit. Andere haben politische und soziale Konsequenzen daraus gezogen. Der Protestantismus insgesamt lebt aus diesem Verständnis der Freiheit des Gewissens und fand darin Anschluss an die Demokratiebewegung und den Toleranzgedanken der Neuzeit. Diese tiefer verstandene Freiheit, die durch die Aufklärung noch einmal pointiert und konsequent weitergedacht wurde, täte unserer Gesellschaft heute mehr als gut. Die Gewissensfreiheit scheint bei Fraktionszwang, Gruppendynamik und dem aufgezwungenen Drang, alles von sich in öffentliche Netzwerke zu bringen, auf der Strecke zu bleiben.
Ebenso die Einsicht, dass Freiheit weder Beliebigkeit noch Gleichgültigkeit noch uneingeschränkte Autonomie bedeutet, sondern sich an den Nächsten bindet. Hier hätte die Reformation der Gegenwart vieles neu zu sagen – und diesen Luther, der die Gewissensfreiheit neu entdeckte, braucht es. Aus dem Freispruch Gottes heraus für Frieden und Freiheit Sorge zu tragen und selbst in dieser Gewissensfreiheit leben zu können, das heißt: reformativ zu sein. 2.2.4 O wie Orientierung Wir leben in einer bunten Welt. Es gibt nichts, was es nicht gibt, und in vielen Fällen ist diese Vielfalt eine große Bereicherung. Viele Denkmuster sind aufgebrochen worden, viele Strukturen nicht mehr selbstverständlich und unangefochten, Menschen und Gemeinschaften lassen sich nicht mehr einfach in bestimmte Schubladen stecken. Ja, die meisten Schubladen existieren gar nicht mehr. Uns begegnet eine kulturelle, religiöse, gesellschaftliche, politische Vielfalt und eine ebensolche im Genderbereich, die manchmal durchaus verwirrend und herausfordernd sein kann, letztlich aber dazu führen sollte, das eigene Selbst- und Rollenverständnis zu überdenken. Eine solche Vielfalt verlangt Offenheit und Toleranz. Es braucht Neugierde auf Neues und Interesse an dem Anderen. Es braucht die Bereitschaft zum Dialog und auch zur kritischen Auseinandersetzung. Mit mir selbst und mit meinem Gegenüber. Es braucht den Mut, vorbehaltlos aufeinander zuzugehen und mit eigenen Vorurteilen aufzuräumen. Es braucht die Freude am Fremden und die Lust, auch das, was einen selbst ausmacht, zu präsentieren. Es braucht die Kunst des Unterscheidens. Es braucht aber auch genauso einen Standpunkt, von dem aus der Dialog zu führen ist. Es braucht eine Orientierung, ein Profil, damit der Dialog konstruktiv geführt werden kann und die Offenheit nicht in diffuse Ratlosigkeit umschlägt. Es braucht einen Rahmen, in dem man sich bewegen kann, auch und gerade dann, wenn man sich auf den Anderen zu bewegt. Für die Reformatoren war dieser Rahmen unangefochten die Bibel und ihr Zentrum: das Evangelium von der Gnade Gottes, die dem sündigen Menschen Vergebung und Rechtfertigung, ein neues Leben schenkt. Es täte gut, mit den Reformatoren die Bibel wiederzuentdecken. Nicht als Zitatensteinbruch, um mit den als wahr behaupteten Steinen andere zu erschlagen. Sondern zunächst als ungeheuren literarischen Schatz. Dann aber und vor allem als Ort, an dem Gottes Wort und Wille durch Menschenwort vermittelt begegnen. Man kann sich von diesem Wort der Schrift in besonderer Weise angesprochen und aufgefordert wissen, als Wort, das etwas ansagt und etwas zusagt. Als Wort, das Orientierung geben kann durch das, was es vom Schöpfungswort an zusagen will, nämlich: Du bist mein geliebtes Geschöpf; Du ge-
312 hörst zu mir und hast in mir und mitten in mir immer ein Zuhause und Geborgenheit und Heimat; Du musst Dich um Dein Heil nicht kümmern, weil ich mich gekümmert habe; Du bist nicht allein; Dich kenne ich wie mich selbst, denn ich bin Mensch geworden; ich weiß, wer Du bist und was Du leidest und dass Du Angst hast, aber in all dem bin ich bei Dir. Und wenn Du nicht mehr weißt, wohin, dann bin ich Dein Weg und Deine Wahrheit und Dein Leben. Daraus zu leben und einen Pfad durch den Dschungel der vielen Angebote des Lebens zu finden, das heißt: reformativ zu sein, und einen solchen Luther, der auf diese Orientierungshilfe weist und sich selbst immer wieder von ihr angesprochen und ausgelegt wusste – so einen Luther brauchen Kirche und Gesellschaft. 2.2.5 R wie Rechtfertigung Wer bin ich? Dieser Frage kann niemand in seinem Leben entgehen. Eine sehr grundsätzliche Frage. Und eine, der man sich stellen muss. Spätestens in dem Moment, in dem andere sie an einen stellen. Wer bin ich? Was bin ich? Woher bin ich? Wozu bin ich? In diesen Fragen setze ich meine Existenz ins grelle Scheinwerferlicht, mich und mein Leben und meine Person. Wer bin ich? Auch Martin Luther hat sich diese Frage gestellt. Wir kennen sie so: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Das ist heute sicher in den meisten Fällen keine prominente Frage mehr. Sie war im Grunde aber auch nicht die Frage Luthers. Auch seine Frage lautete, wer er selbst ist, und zwar er selbst im Verhältnis zu Gott. Dabei war er nicht auf einem esoterischen Selbstfindungstrip, sondern auf der Suche nach Wahrheit. Und er wollte auch nicht dem Papst oder der Kirche ans Leder, sondern der Sache unter die Haut kommen. Luther ist nicht der Mann mit dem Hammer, der Thesen an eine Tür nagelte, sondern Luther ist der Mann mit der Hand, die unablässig, wie er es in der Rückschau sagte, an die Tür klopfte. Er wollte, wie er es selbst beschrieb, den Kern der Nuss finden und sich nicht mit fauligem, nach Selbsterlösung stinkendem Fallobst zufrieden geben; er wollte der Sache mit Gott auf den Grund gehen und nicht in seichtem Oberflächenwasser dümpeln; er wollte, dass sich die Türen ganz und nicht nur einen Spaltbreit öffnen. Seine Frage ging viel tiefer als „nur“ darum, wie er selig werden könnte. Er wollte wissen, was es um den Menschen in seinen vielfältigen Beziehungen und Spannungen ist. Und so ist Luthers Frage heute noch aktuell und wird es auch immer bleiben. Und seine Antwort? Luther rang intensiv mit der Schrift und mit einem Bild, das man damals vom Menschen und von Gott zeichnete, das ihn in die Verzweiflung trieb. Bis er erkannte, wer er war. Nämlich ein Wesen, das sich nicht selbst machen kann, sich nicht selbst schützen kann und sich nicht selbst erlösen kann. Ein Wesen, das für seine gesamte Existenz auf einen angewiesen ist,
der ihm im Ersten und im Letzten die Hand reicht und es in dieser Hand bewahrt. Ein Wesen, das Gefahren und Bedrohungen ausgesetzt ist und immer wieder an dem Versuch scheitert, alles selbst machen zu wollen. Ein Wesen, das in dieser Welt von seinen Mitgeschöpfen geliebt wird – aber nicht bedingungslos. Das aber einer bedingungslos liebt: dieser Gott, den es in Jesus Christus immer wieder neu zu entdecken gilt. Luther wurde durch diese Erkenntnis befreit. Er konnte sich Christus in die Arme werfen, aufatmen und das Leben neu lernen. Er konnte dieses Leben bejahen, mit all seinen Höhen und Tiefen. Und er konnte auch den Tod bejahen, der nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort hat das Wort des Lebens, das Gott jedem Menschen zuspricht: Der Gerechte wird aus Glauben leben. Gerecht, gut, liebevoll – das ist der Mensch nicht in sich und aus sich heraus. Das erfährt er allenthalben. Doch dann geschieht das Ungeheure. Diese Situation dürfte bekannt sein: Man schaut morgens in den Spiegel und ist entsetzt. Nein, das ist nicht schön, was einem da entgegenblickt. Wenn dann aber der Partner oder die Partnerin kommt und sagt: „Du bist schön! Ich liebe Dich“ – dann ist man schön! Nämlich in seinen oder ihren Augen. Man selbst sieht sich dann auch anders und bekommt Lust, das, was da immer noch nicht schön ist, schöner zu machen und in dieses „Ich liebe Dich! Du bist schön!“ hineinzuwachsen. Daraus zieht man Kraft und Stärke. Man sollte aber nie vergessen, was einen da aus dem Spiegel heraus angeschaut hat. Nur dann erfährt man, wie groß die Liebe Gottes wirklich ist und wie groß das ist, was er da am Menschen tut. Rechtfertigung ist bedingungslose Anerkennung. Und solche Anerkennung braucht die Welt in ihrem Miteinander dringender denn je. Wo politischer Streit mit gesellschaftlicher Missachtung einhergeht, wo hemmungslos Shitstorms auf Menschen im Netz niedergehen, wo es ein Heidenspaß ist, seine Mitschüler mit Fotos und Sprüchen netzweit zu mobben, wo jeder und jede seine Meinung in Fäkalsprache über andere ausgießen und sich derweil hinter einfallslosen usernames verstecken kann – da braucht es eine neue Kultur des Anerkennens und der Wertschätzung. Da braucht es mindestens Nischen, in denen man sich nicht rechtfertigen muss. Auch wenn diese Welt niemals das Reich Gottes sein kann – sie muss sich auch nicht permanent dagegen gestalten. Diesen Luther brauchen wir, welcher für die Rechtfertigung und diese Anerkennung eine Schneise geschlagen hat. 2.2.6 M wie Mut Wie oft verlässt uns der Mut. Wir wollen dem Menschen, den wir heimlich verehren, unsere Liebe gestehen und machen kurz zuvor einen Rückzieher. Wir wollen eingreifen, wenn wir sehen, wie sich gewaltbereite Jugendliche einem Hilflosen am Bahnhof nähern, doch dann schauen wir weg. Wir möch-
313 ten in der Lebensmitte einfach mal aussteigen und etwas ganz Neues beginnen und bleiben brav in den eingefahrenen Bahnen des Gewohnten. Wir möchten aus Klischees und Rollen ausbrechen und tun doch, was von uns erwartet wird. Wir möchten unser Leben auf den Kopf stellen und ab morgen ein guter Mensch sein, der sich politisch und für die Umwelt und gegen Gewalt engagiert, um dann in den Nachrichten zu sehen, wie andere das machen, und es dabei belassen. Mutig, das sind wir im besten Fall im Kopf und im Willen, aber im Herzen, da fehlt etwas, da fehlt es an einem Letzten, das uns über die Schwelle trägt, die umso höher wird, je länger wir mutlos in der Ecke hocken. In der Reformation begegnen uns viele mutige Männer und Frauen. Männer und Frauen, die aus Klischees und Rollen ausbrechen und alles auf den Kopf stellen, nicht, weil sie ein guter Mensch werden wollen, sondern weil sie sehen, wie wenig gut ist in der Welt um sie herum. Sie stehen für ihre Überzeugungen ein, manche bis in den Tod. Sie lehnen sich auf gegen politische und geistliche Machthaber, und mit dem Mut der Verzweiflung kämpfen sie den Kampf, den zu kämpfen sie als konsequente Verteidigung des Wortes Gottes begreifen. Luther war so einer, denn es bedeutete zweifellos Mut, sich, den sicheren Tod vor Augen, auf das eigene Gewissen zu berufen und dem treu zu bleiben, gegen alle Anfeindungen. Zu denken ist aber auch an die Täufer, an Thomas Müntzer, an die Bauern und an die vielen, die in der Verfolgung standhaft geblieben sind und ihre Überzeugung nicht verraten haben. Dieser Mut eint viele berühmte Gestalten und viele Namenlose der Reformation, so unterschiedlich sie sonst auch gewesen sein mögen. Ihr Mut war gespeist aus Glauben, und er unterscheidet sich bei den meisten dadurch, dass er sich nicht in wildem Draufgängertum erschöpfte, sondern sein notwendiges Korrektiv in einer tiefen Demut gegenüber diesem Größeren des Wortes und Willens Gottes fand. Die Geschichte des Protestantismus ist – wie die des Christentums insgesamt – durchaus auch eine Sammlung von Mut-Geschichten. Immer wieder haben Menschen gezeigt, was bewegt werden kann, wenn mutig genug protestiert, eingeschritten und gekämpft wird. Wer für Gott ist, der muss an manchen Stellen auch „gegen“ sein. Es braucht Courage und Mut, das zu äußern und in Gedanken, Worten und Werken zu leben. Das kann nur gelingen, wenn man bereit ist, in diesem mutigen Handeln auch Schuld auf sich zu nehmen. Das kann nur gelingen aus der Kraft heraus, die das Lebenswort Gottes für jeden einzelnen bedeutet. Und das wird und muss gelingen, weil die Welt den Mut des Christen braucht, für den einer das Kreuz auf sich genommen hat, damit jeder sein Kreuz tragen und dem anderen dessen Kreuz abnehmen kann. Dieses Zusammenspiel aus Mut und Demut macht zu reformativen Menschen.
2.2.7 A wie Anfechtung Wir leben in einer Gesellschaft, die ins Gelingen verliebt ist. Mehr als das: Sie gaukelt vor, dass man schön, reich, erfolgreich, begehrenswert sein kann, wenn man es nur fest genug will und alles dafür tut, was man tun kann. Scheitern, Misslingen, Schwäche – sie machen nicht nur umgangssprachlich zu Opfern. Und wenn man aus irgendeinem Grund aus dem Tritt gerät, dann ist schon beinahe alles vorbei. Nach den Verlierern fragt niemand mehr. Und selbst Gewinner können morgen schon wieder vergessen sein, weil unsere Zeit ständig neue Gewinner sucht. Jedes Jahr einmal „The Voice“, den „Superstar“, das „Supertalent“, den Tanzmeister und den Dschungelkönig. Politiker müssen sich schon im Vorhinein als Sieger präsentieren und selbst eine Wahlschlappe noch als heimlichen Sieg verkaufen können. Und das alles gilt irgendwie auch im Glauben. Wer einmal glaubt, dem kann nichts mehr passieren, das ist eine landläufige Meinung. Aber: „Fest“ und „stark“ im Glauben können nur diejenigen sein, die alles ausblenden, was um sie herum geschieht. Die allem einen Sinn verleihen und die so sehr ins Gelingen verliebt sind, dass sie Scheitern und Schwäche für Fehler im System halten, die es schnellstens auszulöschen gilt. Allen anderen begegnen sie, die letzten Fragen: Was, wenn das alles nur eine menschliche Erfindung ist? Wenn die Kritiker und Skeptiker Recht haben und der Glaube nichts weiter ist als eine große Illusion? Wenn nach dem Tod nichts mehr kommt? Wenn es diesen Gott gar nicht gibt? Zeugen nicht all die schrecklichen, fürchterlichen und traurigen Geschehnisse in der Welt davon, dass dieser Gott gar nicht existieren kann? Oder aber ein ganz anderer Gott ist, als wir ihn uns landläufig vorstellen? Was passiert, wenn ein Schicksalsschlag, der Tod eines geliebten Menschen, Arbeitslosigkeit, Altersarmut oder Einsamkeit so treffen, dass man nicht mehr an den gütigen, „lieben“ Gott glauben mag? Die Reformatoren haben sie wiederentdeckt, diese Anfechtung. Vielleicht ist die Entdeckung der Anfechtung in bestimmter Hinsicht sogar die wichtigste Entdeckung Luthers. Denn er hat ernstgenommen, dass der Glaube und seine Gewissheit schweren Krisen ausgesetzt sind und hin und her wanken können. Er hat gesehen, was Traurigkeit und Zweifel, Hader und Klage für den Menschen bedeuten und dass man sie nicht einfach wegdiskutieren oder mit einem billigen „Es hat schon alles einen Sinn“ schönreden kann. Kein Deckmantel ist, das hat er erkannt, so dick, dass die darunter liegende Fratze des Bösen und Schrecklichen und Traurigen und Trostlosen nicht doch durchschimmert. Der verborgene Gott bleibt verborgen und keine süßlich-verklärende Theologie kann ihn an die Oberfläche zerren. Im Letzten, im Allerletzten entzieht sich Gott dem Verstehen und Wollen und
314 Deuten. Luther hat aber noch mehr getan: Er hat der Anfechtung einen festen Platz gegeben. Indem er formulierte, Gebet, intensives Nachdenken über die Schrift und Anfechtung machten einen Theologen zum Theologen, hat er die Tyrannei des Gelingens aufgebrochen und der Schwäche, dem Scheitern, der Frage, der Erschütterung inmitten der Glaubensgewissheit Raum gegeben. Das ist ein ungeheurer Schatz, fragen und klagen zu dürfen. Schwach sein zu dürfen. Nicht unter dem Zwang zu stehen, dass alles immer stimmen und gelingen muss. Nicht auch noch dem Sinnlosesten einen Sinn abtrotzen und zuschreiben zu müssen. Angst vor dem Tod haben zu dürfen. In Trauer und Verzweiflung fast vergehen zu wollen oder der Melancholie zu erliegen. Und dies alles auch dem Anderen zuzugestehen und darin echte Seelsorge zu betreiben und echten Trost zu spenden. Das ist ein ungeheurer Schatz, sich in all diesem Fragen und Klagen und Anklagen, in aller Anfechtung diesem Gott aussetzen zu dürfen. Und sich ihm im Allerletzten auch in diesem Fragen und Klagen und Anklagen – anzuvertrauen. Die Kirche braucht dies allemal. Aber auch der Gesellschaft wäre viel geholfen, würde sie nicht die Möglichkeit des Scheiterns und Nicht-Gelingens ausblenden. Den Luther der Anfechtung – den braucht die Gesellschaft dringender denn je. Das würde zu reformativen Menschen machen. 2.2.8 T wie Toleranz Toleranz ist eines der höchsten Güter und für das menschliche Miteinander unerlässlich. Erfunden haben die Reformatoren die Toleranz nicht. Nur den deutschen Begriff. Das lateinische „tolerantia“ gab Luther das erste Mal mit dem deutschen Lehnwort „Toleranz“ in einem Brief 1541 wieder. Darin rät er allerdings gerade nicht zur Toleranz, denn es ging um die Rechtfertigungslehre, in der man nicht nachgeben dürfe. Die Reformatoren haben sehr klare Grenzen der Toleranz gezogen. Vor allem gegenüber Andersgläubigen wie den Juden und den Türken, den Schwärmern und natürlich dem Papst und seinen Anhängern, und sie haben sich dabei auch zu manchen Fehlurteilen und Abscheulichkeiten hinreißen lassen. Wir sind heute weiter und können und wollen und müssen die eigene Überzeugung nicht über diejenige Anderer stellen. Wir haben gelernt, Wahrheitsansprüche und Deutungshoheiten zu relativieren und das, was wir für die Wahrheit halten, nicht gewaltsam Anderen überzustülpen. Vor allem haben wir gelernt, dass politische Toleranz und juristische Gleichberechtigung auch dann gelten können, wenn es religiöse oder sonstige Differenzen gibt. Toleranz ist aber nicht identisch mit einer Vergleichgültigung oder gar mit Uniformität – und das wird gerne vergessen. Da gilt es, bei den Reformatoren noch einmal genauer hinzuschauen. Denn in bestimmter Hinsicht waren sie sogar weiter als wir, denn sie haben die
„Toleranz Gottes“ zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gehabt. Diese Toleranz Gottes erduldet den, der durch Gottes zusagendes Wort bereits gerechtfertigt ist, gleichwohl aber sich selbst weiterhin als Sünder erfährt und auch von der Welt als solcher wahrgenommen wird. Die Liebe Gottes übt Geduld, wo nach menschlicher Erfahrung jeder Geduldsfaden reißen würde. Toleranz richtet sich immer auf das und den, der einem weh tut, der mit einem nichts zu tun haben will, der alles andere als liebenswert ist. Daraus resultiert ein Zweites: Damit aus dem gleich Gültigen nicht ein Gleichgültiges wird, braucht es bei aller Toleranz auch das klare Wort, den klaren Standpunkt. Die Reformatoren nennen diese Art, im Dialog bestimmt und tolerant zugleich aufzutreten, assertorisches Reden. Die feste Überzeugung, dass Jesus Christus Weg, Wahrheit und Leben ist, und das ebenso feste und klare Bekenntnis dazu schließen Dialog nicht aus und ab, sondern eröffnen ihn. Vom fairen Dialog lebt Gesellschaft, lebt Politik – oder besser: sollten sie leben. Denn den brauchen wir, wir haben ihn nicht. Damit er fair und konstruktiv wird, braucht es Toleranz auf der einen Seite und durch Argumente gestützte Positionen auf der anderen Seite. Dann gäbe es eine gute Streitkultur – einen solchen streitbaren Luther gälte es im 21. Jahrhundert wiederzuentdecken. Reformativ zu sein würde dann in unseren Tagen bedeuten, Gott als den zu bekennen, der alle seine Geschöpfe inmitten ihrer Unzulänglichkeit liebt und erduldet und eben darum diese Geschöpfe auch zu lieben. Man muss nicht ihre Positionen und Anschauungen teilen. Aber man hat ihnen mit Respekt, Geduld, Freundlichkeit und auch mit Klarheit und Verlässlichkeit zu begegnen. 2.2.9 I wie In-Frage-Stellen Was ist Wahrheit? So lautet die Frage, die Pontius Pilatus im Prozess gegen Jesus grundsätzlich stellte. Unsere Frage heute ist ungleich schärfer; sie geht weit über das hinaus, was Pilatus wissen wollte. Unsere Frage heute lautet vielmehr: Gibt es sie überhaupt – die Wahrheit? Im Gegensatz zu damals scheint die Antwort darauf klar zu sein: Nein, es gibt sie nicht. Es darf sie auch nicht geben, denn das würde das bedeuten, was es all die Jahrhunderte hindurch bedeutet hat: einen Machtanspruch, der es erlaubte, im Namen irgendeines Gottes Kriege zu führen, der es erlaubte, andere gewaltsam mit der eigenen Wahrheit zu missionieren, der es erlaubte, den Namen Gottes für alles Mögliche und Unmögliche zu missbrauchen. Für die Reformatoren war die Wahrheitsfrage keine Frage. Sie hätten nicht so gerungen und gekämpft, so vieles riskiert und so vehement dafür eingestanden, wenn es sich um irgendeine Möglichkeit, eine Wahrscheinlichkeit, eine Option unter vielen gehandelt hätte. Dabei ging es ihnen aber bei weitem nicht um einen Machtanspruch. Vielmehr ging es ihnen
315 darum, den fragenden Menschen eine Antwort auf ihr Leben zu geben, ihnen Trost, Gewissheit und Freiheit zuzusagen und die eine Wahrheit als verlässlich und gewiss gegen alle anderen Trugbilder und Lügengespinste zu verkünden: den einen Gott, den sie neu entdeckt haben, als den treuen und zuverlässigen ins Leben jedes Einzelnen zu holen gegen alle Götzen und Götter, die viel versprechen, aber nichts oder nur wenig halten. Sie haben geschrieben und gepredigt und gelehrt, geordnet und gestritten, gelebt und gekämpft für den Menschen, der ein Recht auf Wahrheit hat. Das macht ihre Theologie so lebendig und so nah. Das macht ihre Theologie immer zugleich zur Seelsorge. Und liest sich auch bei schwierigsten Themen manches Mal wie ein Gebet oder ein Trostbrief. Die Wahrheit zu bekennen, war für sie nicht der Freibrief zu arroganter Selbstgefälligkeit, sondern der Auftrag zu orientierendem und verlässlichem Dienst am Menschen. Es ist gut, wenn wir heute vieles in Frage stellen. Wenn wir nicht für selbstverständlich nehmen, was andere uns glauben machen wollen. Im postfaktischen Zeitalter allemal. Wir können uns informieren, Informationen vergleichen, Angebote abwägen, Kritik üben, mitbestimmen. Dazu ist – worauf die Reformatoren alle größten Wert gelegt haben – eine umfassende Bildung unerlässlich, soll es nicht beim Stammtischgestammel bleiben, sondern konstruktiv mitgestaltet werden. Je mehr Politik in Bildung investiert, desto besser. Und wenn eine Opposition täte, was ihre Aufgabe ist, könnte das In-Frage-Stellen sogar institutionalisiert sein; nicht aus prinizipieller Gegnerschaft heraus, sondern damit die Regierenden lebendig bleiben und nachdenklich bleiben. Wir können und müssen auch uns selbst in Frage stellen, ob wir Selbstbewusstsein und Demut in einem guten Gleichgewicht halten. Dass die Wahrheitsfrage dabei kein Hindernis ist und eine Antwort darauf nicht in einem religiösen oder welchen Dünkel auch immer enden muss, haben die Reformatoren meistenteils eindrucksvoll bewiesen. Es ist gut, wenn man sich von nichts und niemandem in Anspruch nehmen lässt als von diesem Gott, der den Menschen als sein Gegenüber gewollt hat. Aber von diesem – um Gottes und des Nächsten willen – auf jeden Fall. Der Wahrheitsfrage nicht aus dem Weg zu gehen, das wäre reformativ. 2.2.10 V wie Vertrauen Es scheint eine der schwierigsten Fragen überhaupt zu sein, was „Glaube“ ist. Viele verwechseln „Glauben“ mit „Meinung“ und bringen von dort aus Wissen und Glauben sowie Vernunft und Glaube in einen Gegensatz, der gar keiner ist. Manche verwechseln „Glauben“ auch mit einem historischen Faktenwissen, mit einem Für-wahr-Halten. Manche meinen, man könnte sich für den Glauben entscheiden – einer der Gründe, warum viele ihre Kinder
erst taufen lassen möchten, wenn sie angeblich bereit dazu sind, das heißt, dem Glauben zustimmen können. Schon von dort aus ist es schwierig geworden, über den Glauben zu reden, sich zum Glauben zu bekennen, den Glauben zu leben. Dazu gesellen sich noch ganz andere Probleme, die vor allem etwas mit der „Glaub-Würdigkeit“ zu tun haben: Dass man Gott nicht beweisen kann, scheint seine Existenz auf wankende Füße zu stellen; dass so viel Unrecht, Not und Leid in der Welt ist und er nicht eingreift, macht seine Situation nicht besser; dass es viele Anbieter gibt, die das Heil versprechen, lässt die Frage aufkommen, warum gerade er als Gott die besseren Karten haben sollte; schließlich provozieren der allseits gelobte Pluralismus und das Vorkommen religiöser Momente in Fußballstadien, Comics, Filmen und der Werbung die Überlegung, warum es gerade dieser Gott sein soll, dem man sich ausliefert, und ob nicht Religion sowieso ein Sammelsurium dessen ist, wonach man Sehnsucht hat – was wiederum bei jedem und jeder anders aussehen könnte. Auch die Reformation und Luther hatten es mit einem Glaubensbegriff zu tun, der in vielerlei Hinsicht missverstanden wurde. Was aber verstand Luther unter Glauben? Dazu gibt es eine wunderbare Textstelle: „Glaube ist nicht der menschliche Wahn und Traum, den etliche für Glauben halten […]. Glaube aber ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott. […] Oh, es ist ein lebendiges, wirkendes, tätiges, mächtiges Ding um den Glauben, sodass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass Gutes wirken sollte. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind. Sondern ehe man fragt, hat er sie getan, und ist immer im Tun. […] Glaube ist eine lebendige, unerschütterliche Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal darüber stürbe. […] Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und hat Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden – Gott zur Liebe und zum Lob, der ihm solche Gnade erzeigt hat“. Treffender kann man es nicht ausdrücken. Glaube ist Zuversicht, Vertrauen, Hoffnung; er schenkt Trost, macht gewiss und führt in die Freiheit zum Dienst am Nächsten. Wer glaubt, ist kein frommer Naivling, dem man erstmal erklären muss, wie die Welt funktioniert. Er ist vielmehr derjenige, der der Sonne erlaubt, seinen Raum zu durchfluten. Das ist ein schöner Vergleich: Die Sonne scheint, ob die Jalousien geöffnet sind oder nicht; wenn man sie aber öffnet, dann zwingt man die Sonne nicht zum Erscheinen, man erfährt jedoch, was sie alles kann, man erfährt ihre Wärme und ihr Licht und fühlt sich wohler als zuvor; umgekehrt stellt man die Sonne nicht ab, wenn die Jalousien nicht geöffnet werden, aber man bringt sich um diese wunderbaren Erfahrungen. Glaube ist also der Erfahrungsraum für eine Wahrheit, die sich dem Menschen mitteilen will, damit er aus dieser Erfahrung leben kann; wenn man sich ihr nicht öff-
316 net, ist sie immer noch Wahrheit – aber eine, deren lebenspendende und lebensgestaltende Wirkung man nicht genießen kann. Dass sie aber dennoch Wahrheit ist und bleibt und dies für jeden Einzelnen ist und bleibt, wie immer man mit ihr umgeht – das begründet ihre Glaubwürdigkeit, das begründet, dass man ihr vertrauen kann. Sie hängt nicht von dem Menschen und seiner Zustimmung ab, sie hängt nicht von Wirtschaftlichkeit oder Nützlichkeit ab, sie ist nicht bloß plausibel oder logisch, im Gegenteil ist sie manchmal skandalös und erscheint wie eine Torheit. In einer Welt der Lüge, des Betrugs, der unsicheren Ausgänge und Risiken ist es gut, sich auf eins verlassen zu können: dass der Glaube bereits der Erweis des Daseins und Soseins Gottes ist. Gott muss nicht bewiesen werden, denn er erweist sich selbst in seinem Für-uns-Sein. Gott muss nicht auf seine Vertrauenswürdigkeit überprüft werden, denn seine Treue zu seiner Schöpfung, die doch so gerne etwas anders wäre als seine Schöpfung, hat allen Prüfungen standgehalten. Es wäre wichtig, wenn Kirche und die Menschen in ihr es schafften, solchen Glauben zu vermitteln und dafür einzutreten. Und die Wahrheit gegen alle Wahrscheinlichkeit, gegen alle Vermutungen und Eventualitäten als etwas vorstellten, das es wirklich gibt und das man suchen darf. 3. Wir brauchen … Was bleibt vom Reformationsgedenken 2017, wenn der 31. Oktober vorbei und die letzten Blätter eines Poporatoriums verweht sind? Was bleibt außer einem Überdruss an Luther und der Reformation in einer Gesellschaft, die säkular ist, in einem Land, das völlig zu Recht und Gott sei Dank Kirche und Staat zu trennen weiß? Natürlich hat sich das, was die Reformatoren und allen voran Luther wollten, an eine Gesellschaft gerichtet, für die Kirche und Religion so selbstverständlich zum Leben gehörten wie das tägliche Brot, für die Fragen nach Seelenheil und ein christliches Leben existenziell waren und in denen Kirche und Staat beide für das Wohl des Menschen zuständig waren und schon von daher nicht gut getrennt werden konnten. Das ist heute anders. Und doch: Die Antworten der Reformatoren, ihre Grundeinsichten in das, was den Menschen ausmacht und ihn bestimmt, was er ist und was er braucht, sind so fundamental, dass sie auch auf scheinbar andere Fragen passen. Das sollte mit dem Stichwort „reformativ“ verdeutlicht werden. Es wäre wichtig, wenn Kirche und Staat bei aller notwendigen und sinnvollen Trennung – keiner mit Verstand käme auf die Idee, diese Trennung aufzuheben – sich gegenseitig als zwei Kräfte mit je eigenem Aufgabenbereich wahrnehmen würden, die aber an entscheidenden Stellen Überschneidungen aufweisen. Kirche hat die Welt als Gottes Schöpfung zu bejahen und ihr
als gefallener Schöpfung kritisch gegenüber zu sein; so hat sie ein Auge zu werfen auf Politik und Gesellschaft und ihre Entwicklungen – und sie hat für sie zu beten. Sie hat sich aber auch einzumischen, wo es unumgehbar ist, im oben beschriebenen Sinne. Umgekehrt hat der Staat die Theologie wahrzunehmen und sich ihr nicht in den Weg zu stellen, wenn das, was sie sagt und tut, nicht im Widerspruch zu den Werten der demokratischen Grundordnung steht. Staat und Gesellschaft sind nicht so religionslos, wie manchmal behauptet wird – sie haben nur andere Ausdrucksformen gefunden, die nicht notwendigerweise in kirchliche und kirchensoziologische Schemata passen. Das wiederum müssen Kirche und Staat wahrnehmen und damit gestaltend umgehen. Das können sie aber nur, wenn sie miteinander im Gespräch bleiben. Dafür ist das Reformative im Rückgriff auf das, was Luther und die reformatorischen Bewegungen geleistet haben, eine gute Ausgangsbasis. Mit diesem „kernigen“ Luther kann man auch über 2017 hinaus Staat machen. Literatur 1
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So ein Holzschnitt von 1617, der einen Traum Friedrichs des Weisen abbildet, vgl. etwa die Abbildung des Exemplars des Deutschen Museums Berlin auf https://www.deutsche-digitale-bibliothek. de/item/DFRXE7NKDZ6BFBL3DBOLTRQZIWGFK MCA (zuletzt aufgerufen am 29.3.2017). Ein Exemplar befindet sich im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, vgl. http://objektkatalog. gnm.de/objekt/HB7191 (zuletzt aufgerufen am 297.3.2017). Ein Beispiel ist der Dukat aus Frankfurt von 1817, anzusehen etwa auf https://www.numisbids.com/ n.php?p=lot&sid=332&lot=2035 (zuletzt aufgerufen am 29.3.2017). Die beiden bekanntesten sind vielleicht das in Wittenberg (1821) und jenes in Worms (1868). So auf einer Feldpostkarte, vgl. etwa https://www. ekd.de/aktuell/edi_2016_03_08_ausstellung_lutherbilder_worms.html (zuletzt aufgerufen am 29.3.2017). Die folgenden Ausführungen haben – bis in wörtliche Übernahmen hinein – ein Vorbild in der Broschüre „Gott neu entdecken“ der EKHN von 2016 (zum Download auf http://gott-neu-entdecken. ekhn.de/infos-medien/gott-neu-entdecken.html, zuletzt aufgerufen am 30.05.2017). Als Mitglied des Theologischen Beirats habe ich die Idee, das Wort „Reformation“ als Akrostichon zu verwenden, geliefert sowie die dort versammelten Texte zu etwa 95% gestaltet. Daher sind Überschneidungen gewollt und legitimiert. Und das Wort wird immer gerne bemüht, wenn es um Reformprozesse in der Kirche gehen soll, vgl. dazu etwa „Ecclesia semper reformanda. Reform und Erneuerung im Leben evangelischer Kirchen in Europa“ (Agenda 11), revidierte Fassung 2012,
317 vom Rat der GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa) zur Diskussion auf der Vollversammlung 2012 freigegeben. Zur Diskussion um den Ursprung der Formel vgl. etwa Campi, Emidio: „Ecclesia semper reformanda“. Metamorphosen einer altehrwürdigen Formel, in: Zwingliana 37 (2010), 1-19. Campi weist glaubhaft nach, dass im
protestantischen Bereich erst Karl Barth die Formel geprägt hat. Vgl. ebenso vgl. Mahlmann, Theodor: Ecclesia semper reformanda. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung, in: Johansson, Torbjörn/ Kolb, Robert u.a. (Hg.): Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2010, 381–442.
318 Martin Treu
Luther – der Fürstenknecht?! 1. Hinführung Der Genius loci verlangt danach, sich in Torgau mit der politischen Seite der Reformation zu befassen.1 Die Residenz der sächsischen Landesherren, die Luther 42 mal dienstlich besuchte steht in ihrer baulichen Gestalt noch heute für das Selbstverständnis der ernestinischen Wettiner im Spannungsfeld von Glaube und Macht. Dem haben in jüngerer Zeit verschiedene Ausstellungen Rechnung getragen.2 Wo gefeiert wird, finden sich Kritiker. Die Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit verlangt das. Oft sind die negativen Urteile so stereotyp wie die positiven: Luther der Antisemit, der Frauenfeind, der Hexengläubige und schließlich der Fürstenknecht. Ein Teil dieser Urteile desauviert sich selbst durch die Unfähigkeit oder die Unwilligkeit des Urteilenden zu geschichtlichem Denken. Man wundert sich bei manchen Einlassungen, warum nicht auch Luthers mangelndes Umweltschutzbewusstsein thematisiert wird: Nach allem, was wir wissen, trennte der Mann nicht einmal seinen Müll! Aus solchen Negativurteilen greift dieser Beitrag die Frage nach Luthers politischer Ethik auf, um zuerst einmal den zeitlichen Abstand zwischen Luthers Denken und unserem deutlich heraus zu stellen. Dabei gilt: Der Abstand Luthers zu den Zeiten Jesu im Neuen Testament ist deutlich geringer, als sein Abstand zu unserer Gegenwart. Rechnerisch ist dieses Unsinn, in der Sache aber klar belegbar. Man denke nur an die agrarisch basierte Ökonomie und das religiös zentrierte Weltbild. Gleiches gilt auch für die Formen der politischen Machtausübung. Die Demokratie nach westeuropäischem Verständnis ist ein Kind der französischen Revolution. Ihr Rückbezug auf die griechische Polis ein produktives Missverständnis. Ähnlich wie Luthers mangelndes Umweltbewusstsein kann man auch einklagen, dass es ihm an Demokratieverständnis fehlte. Luthers Kritiker haben gewöhnlich kein Problem mit dem Reformator, sondern mit der Bibel. Sie wissen es nur nicht. Das trifft auch auf das Thema der politischen Ethik zu. Für die Nachgeborenen fast monoton ist es eine einzige Bibelstelle, die Luther ad nauseam anführt: Römerbrief 13, 1-4. Der erste Vers lautet in der Revision des Luthertexts von 1984: „Jedermann sei untertan, der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.“ Die Intention des Paulus ist klar: Die winzige und verfolgte Minderheit der Christen sollte nicht durch politische Querelen auffallen. Die Argumentation enthält aber einen potentiell gefährlichen Umkehrschluss im zweiten Satz: Jede faktisch vorfindliche politische Herrschaft beruht auf einer göttlichen Setzung, egal wie sie zustande gekommen
ist und gleichgültig welche Resultate sie für die Beherrschten zeitigte. Bei seinem Auftritt vor Kaiser und Reich in Worms 1521 betonte Luther am Ende seiner Rede, dass sein Gewissen in Gottes Wort gefangen sei. Das hat man als Standfestigkeit bewundert. Die gleiche Standhaftigkeit mit Bezug auf die Bibel in rebus politicis ist ihm dagegen als Starrsinn angekreidet worden. Dabei gibt er seine Abhängigkeit vom Gotteswort an einigen Stellen durchaus bedauernd zu, aber ändern lässt sich nichts. Aus seiner Umwelt kennt Luther zwei Formen von Herrschaft, die einer Einzelperson und die einer Gruppe. Allerdings hatten die städtischen Magistrate nichts mit modernen Demokratien zu tun und die Fürsten und Grafen nichts mit Absolutismus. Beides sind Produkte viel späterer Zeiten. Er bevorzugte zweifellos die Einzelherrschaft als die dem biblischen Zeugnis angemessenere, wenn man an Jesus Christus als dem König denkt. Die Kollektivregierungen der Städte blieben ihm nach den Erfahrungen der Anarchie, die er 1509 in Erfurt machte, dagegen auf Dauer suspekt. Zentrale Aufgabe jeder Obrigkeit war es, für die Sicherheit ihrer Untertanen zu sorgen. Das klingt prima facie banal, doch sollte man an Syrien und den Südsudan denken. Im deutschen Reich war erst 1495 das Recht des Adels auf Fehden eingeschränkt worden. Eine völlige Abschaffung ließen die fehlenden Sicherheitsstrukturen nicht zu. Selbst die Kurfürsten hatten permanent nur wenige Bewaffnete im Dienst. In den Städten sollten die Bürger als Wachen auf den Mauern für Sicherheit sorgen, allerdings konnte man sich davon frei kaufen. Die Absicherung der Landstraßen gegen Raub und Mord ließen sich die jeweiligen Landesherren teuer bezahlen, ohne ihren Aufgaben vollständig gerecht zu werden. Zu diesen objektiven Defiziten tritt in Luthers Theologie sein Verständnis vom Menschen nach dem Sündenfall hinzu. Schon im Alten Testament, das die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies schildert, mehr noch aber im Neuen und bei den Kirchenvätern wird um die Frage gerungen, welche Fähigkeiten dem Menschen nach dem Sündenfall geblieben sind. Wenn der Sohn Gottes kommen musste, um alle zu erlösen, mussten also auch alle Menschen Sünder sein. Luther hat diesen Gedanken vehement verfochten und in seinem Modell von den zwei Regierweisen Gottes auf Erden veranschaulicht.3 Zum einen herrscht Gott über die Christen mit dem Evangelium. Die aber sind eine winzige Minderheit auf Erden, wenn auch erst im jüngsten Gericht klar werden wird, wer dazu gehört und wer nicht. Doch bleibt es eindrücklich, dass für Luther in der sich explizit christlich verstehenden
319 Gesellschaft, die wirklichen Christen „weit voneinander wohnen“. Die übergroße Mehrheit der Menschen mag sich vielleicht christlich nennen, sonntags zum Gottesdienst gehen und Almosen geben. Aber sie tut dies nicht aus dem Glauben heraus, sondern aus minderwertigen Motiven wie Ehrsucht oder Anpassungsdruck. In dieser Mehrheit finden sich Kriminelle jeglicher Art. Deswegen hat Gott die Obrigkeit eingesetzt um den Räubern und Mördern zu wehren. Dabei spielt es für Luther keine Rolle, ob die Regenten zu Unrecht auf den Thron gekommen sind, ein despotisches Regime führen und ihre Untertanen auspressen. Dafür werden sie am jüngsten Tag ihren Lohn empfangen. In dieser Welt ist noch der schlechteste Regent besser als keiner. Denkt man entlang dieser Richtung konsequent weiter, so kann man wirklich als Fürstenknecht enden. Allerdings zieht Luther schon 1523 eine deutliche Grenze im Titel der entsprechenden Schrift: „Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihre Gehorsam schuldig sei“.4 Damit wird schon deutlich, dass es eine Grenze gibt. Sie verläuft bei der Vermischung der beiden Reiche. In der Welt regiert die Obrigkeit durch das Schwert, in der Kirche das Wort Gottes durch die Predigt. Auslöser des Sermons war ein Edikt des sächsischen Herzogs Georg, der der Reformation feindlich gegenüber stand und deswegen die Abgabe der gedruckten Exemplare von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments von seinen Untertanen forderte. Übrigens gegen die Erstattung des Kaufpreises. Für Luther lag der Fall klar: Der Herzog versuchte die Seelen zu regieren und in Glaubensdingen zu herrschen. Allerdings erlaubte er den Untertanen nur passiven Widerstand. Freiwillig sollten die Bücher nicht ausgeliefert werden. Im schlimmsten Fall blieb nur die Auswanderung in einen anderen Herrschaftsbereich. Im Folgenden sollen vier Briefe Luthers an regierende Fürsten aus der Frühzeit seiner Tätigkeit näher vorgestellt werden, wobei daran zu erinnern ist, dass das 16. Jahrhundert Privatheit anders verstand als unsere Gegenwart, das heißt, dass solche Briefe immer auch den Charakter öffentlicher Sendschreiben hatten. Den Abschluss bildet eine kurze Darstellung der Chronologie von Luthers Bauernkriegsschriften, die für den Vorwurf „Fürstenknecht“ immer wieder als Beleg herangezogen werden. 2. Der Bischof und der Wolf Mit Datum vom 31. Oktober 1517 sandte der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luder einen Brief an seinen höchsten Vorgesetzten, den Kardinal Albrecht von Hohenzollern, Erzbischof von Magdeburg und Mainz, Primas des Reichs. Zum ersten Mal unterzeichnete der Briefschreiber mit ‚Luther‘, unter dieser Namensform sollte er weltberühmt werden. Dies brachte die Ablassaffäre ins Rollen, den Protagonisten vor Kaiser und Reich in Worms
und schließlich als Junker Jörg ab April 1521 auf die Wartburg. Allerdings blieb er vornehmlich, wenn auch nicht nur durch Georg Spalatin in Verbindung mit den Wittenbergern. So erfuhr er im Spätjahr 1521 auch, dass Kardinal Albrecht plante, seine Reliquien mitsamt dem dazugehörigen Ablass erneut in Halle auszustellen. Gleichzeitig ging der Kirchenfürst gegen Priester, die sich verheirateten, mit Gewalt vor.5 Schon am 7. Oktober kündigte Luther bei Spalatin an, den Kardinal „privat wie öffentlich mit seinem halleschen Bordell anzugreifen.“ Die öffentliche Schrift erschien so nicht, sondern wurde in einem anderen Zusammenhang umgearbeitet. Erhalten aber ist der Brief an Albrecht. Er ist auf Deutsch verfasst, da Albrecht kein Latein konnte.6 In der Einleitung verweist Luther auf seine vorher gehenden zwei Schreiben, die in höflichem Ton um die Aufhebung des Ablasshandels gebeten hätten, aber keine gebührenden Antwort erhielten. Luther habe sich zurückgehalten, auch damit das „Haus Brandenburg verschonet“ (Cl 6. 78, 2) wird. Damit berührt Luther ein Thema, das in der Gegenwart erklärt werden muss. Der Ehrbegriff des Hochadels und die fürstliche Solidarität, die sich auch in fiktiven Verwandtschaftsbeziehungen äußern konnten, überspannten konfessionelle Gräben. Albrecht von Hohenzollern-Ansbach, der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens und seit 1525 erste Herzog in Ostpreußen gehörte mit Sicherheit zu den entschiedensten Lutheranhängern. Kritik an seinem Meister äußert er nur, wenn es galt den Ruf des Hauses Brandenburg zu schützen. So tritt er fürbittend für seinen Namensvetter ein, obwohl er dessen Glauben strikt ablehnt. Im Hauptteil des Briefes rekapituliert Luther den Anlass: „Es hat jetzt Euer Kurfürstliche Gnaden zu Halle wieder aufgerichtet den Abgott, der die armen einfältigen Christen um Geld und Seele bringt, womit er frei und öffentlich bekennt, dass alle ungeschickten Handlungen und Aussagen, die durch Tetzel geschehen waren7, nicht allein seinem, sondern auch des Bischofs von Mainz Mutwillen zugemessen werden müssen, obwohl ich ihn damit verschonen wollte. … Ich will es weder leiden noch schweigen, dass der Bischof von Mainz vorgeben sollte, er wisse nichts (vom Ablass) oder es sei nicht seine Aufgabe, Rechenschaft zu geben, wenn es ein armer Mensch von ihm begehrt und sollte doch wohl darum wissen und frech fort und fortfahren, damit es ihm Geld tragen soll. Mir ist nicht des Schimpfs (Spaß oder Witz), man muss anders davon singen und sagen: Daher ist es meine untertänige Bitte, Euer Kurfürstliche Gnaden wollten das arme Volk unverführt und unberaubt lassen und sich als ein Bischof erzeigen und nicht als ein Wolf. Es ist offensichtlich genug, dass der Ablass lauter Büberei und Trügerei sei und allein Christus dem Volk gepredigt werden soll. Deswegen kann Euer Kurfürstliche Gnaden nicht mehr durch Unwissen-
320 heit entschuldigt werden.“ (Cl 6, 78,15-79,6) Wie eine Stahlkugel im Schaumgummiball hält Luther die Formalien korrekt ein, verwendet den angemessenen Titel und richtet eine „untertänige“ Bitte an den Kirchenfürsten. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel, dass er die Erfüllung seiner Bitten erwartet und dies nicht wegen seiner Person, sondern wegen seines Auftrags. „Derselbige Gott lebt noch, da zweifle niemand daran. Kann auch die Kunst, dass er einem Kardinal von Mainz widerstehe, wenn gleich vier Kaiser zu ihm hielten. … Eure Kurfürstlichen Gnaden denken nur nicht, dass der Luther tot sei. Er wird auf den Gott, der den Papst gedemütigt hat, so frei und fröhlich pochen und ein Spiel mit dem Kardinal von Mainz anfangen, dass er nicht erwartet. … Darum sei Euere Kurfürstliche Gnaden endlich und schriftlich gesagt sein: Wo der Abgott nicht abgetan wird, muss ich wegen göttlicher Lehre und christlicher Seligkeit mir das eine nötige, dringende und unvermeidliche Ursachen sein lassen, Euer Gnaden wie den Papst öffentlich anzugreifen, solchem Vorhaben fröhliche Einrede tun, alle vorigen Greul des Tetzel auf den Bischof von Mainz schieben und aller Welt anzeigen den Unterschied zwischen einem Bischof und einem Wolf.“ (Cl 6, 79, 15-34) Luthers zweites Thema stellt der Priesterzölibat dar. Hier befindet er sich auf delikatem Terrain, da Albrecht, wie viele seiner Standesgenossen im Konkubinat lebte, Luther dies aber nicht ausdrücklich feststellen wollte: „Euer Kurfürstliche Gnaden sehe darauf, dass wenn solches (die Verfolgung verheirateter Pfarrer) nicht abgestellt wird, welch Geschrei aus dem Evangelium sich erheben wird, so dass man sagt, wie fein es den Bischöfen anstünde, dass sie ihre Balken zuvor aus den Augen rissen und es recht wäre, dass die Bischöfe zuerst ihre Huren von sich trieben, ehe sie fromme Eheweiber von ihren Ehemännern scheiden wollten.“ (Cl 6, 80, 18-21) Ganz auf den Generalton eingestimmt, endet der Brief mit einer Mischung aus Mahnung und Drohung: „Schweigen werde ich nicht und wenn es mir auch nicht gelingt, hoffe ich doch, ihr Bischöfe sollt euer Liedlein nicht mit Freuden hinaussingen. Ihr habt sie noch nicht alle vertilgt, die Christus gegen eure abgöttische Tyrannei erweckt hat. Hierauf bitte und erwarte ich Euer Gnaden richtige schleunige Antwort innerhalb von 14 Tagen, denn nach dieser Frist wird mein Büchlein gegen den Abgott zu Halle erscheinen, wo nicht kommt eine allgemeine Antwort.“ (Cl 66, 8028-814) Die Fristsetzung ist eine Dreistigkeit, da Luther nicht wissen kann, wo sich Albrecht gerade aufhält, zumal er einen Abstimmungsbedarf mit den kurfürstlichen Räten durchaus für angemessen hält. Gleichzeitig führt der Schlusssatz noch einmal Luthers Sendungsbewusstsein vor Augen. Albrecht reagiert im gewünschten Sinne. Durch seinen Rat, den Humanisten Wolfgang Capito lässt er ein eigenhändi-
ges Schreiben übermitteln, in dem er erklärt, dass die Missstände längst abgestellt seien, was nicht stimmt, und dass er fromme Belehrung gern erdulden will, was ein bezeichnendes Licht auf die Frömmigkeit des jungen Hohenzollern wirft.8 3. Die Reliquien des weisen Kurfürsten Ungewöhnlich war es, dass Luther bei aller theoretischen Hochachtung für die Obrigkeit, einen angesehenen Reichsfürsten praktisch mit einem Brief befehdet. Aber der Kardinal Albrecht war immerhin sein erklärter Feind. Wie ging Luther mit seinen Anhängern unter den Mächtigen um, genauer gesagt seinem Beschützer Friedrich III. von Sachsen?9 Der hatte für Luthers Wartburgaufenthalt gesorgt und wäre offensichtlich zufrieden gewesen, wäre sein Schützling weiterhin dort geblieben. Luther wollte ursprünglich Ostern 1522 nach Wittenberg zurückkehren, hörte dann aber von den Verwerfungen in der Stadt, die mit den Namen von Gabriel Zwilling und Andreas Bodenstein aus Karlstadt in Verbindung stehen. In diesem Zusammenhang ist weniger wichtig, was in Witteberg tatsächlich geschah, sondern was Luther glaubte über das Geschehen zu wissen.10 So machte er sich ohne Wissen des Kurfürsten auf den Heimweg und kündigte dies dem überraschten Herrscher in einem der eindrucksvollsten Briefe an, die er je geschrieben hat. Gleichzeitig setzt er mit einer Ironie ein, die sich einem Herrscher gegenüber normalerweise als nicht gerechtfertigt zeigt. So parodiert er mit dem Briefanfang Friedrichs Leidenschaft des Sammelns von Reliquien: „“Gnade und Glück von Gott dem Vater zum neuen Heiltum (Reliquie). Solchen Gruß schreibe ich nun mein gnädigster Herr, anstatt meiner Ehrerbietung. Euer fürstliche Gnaden hat nun lange Jahre nach Heiltum in allen Ländern suchen lassen, aber nun hat Gott die Begierde Eurer fürstlichen Gnaden erhört und heim geschickt ohne alle Kosten und Mühe ein ganzes Kreuz mit Nägeln, Speeren und Geißeln. Ich sage abermals: Gnade und Glück zu dem neuen Heiltum. Euere fürstliche Gnade erschrecke nur nicht, ja strecke die Arme getrost aus und lass die Nägel tief eingehen, ja danke und sei fröhlich. Also soll und muss es gehen, wer Gottes Wort haben will, (der bekommt) das nicht nur allein sondern auch das Toben von Hannas und Kaiphas, Judas unter den Aposteln und Satan unter den Kindern Gottes.“ (Cl 6, 98, 4-13) Die einzige heilsame Reliquie, die Luther kennt, ist das Kreuz Christi. Dessen Leiden und Tod erlöst den Sünder. Der Kurfürst wird nun aufgefordert, so wie Christus zu leiden. Woran? An Luthers Rückkehr, die dem Fürsten neue Feindschaften unter seinen Standesgenossen erwecken wird. Der folgende Satz Luthers ist auch für die Frage bedeutsam, ob die Prägung des Beinamens „der Weise“ für den Kurfürsten schon zu Lebzeiten geschah. Dass Luther der Urheber war, dürfte unstrittig sein:
321 „Euer fürstliche Gnaden sein nun klug und weise und richte nicht nach Vernunft und Ansehen des Wesens, verzage nur nicht, es ist noch nicht dahin, da Satanas hin will. Euere fürstlichen Gnaden glaube mir Narren doch auch ein wenig. Ich kenne nämlich diese und andere Kniffe Satans. Darum, fürchte ich mich auch nicht. Das tut ihm wehe. Es ist noch alles im Anfangen, lasst die Welt schreien und verurteilen. Lass fallen, was da fällt, auch St. Peter und die Apostel.“ (Cl 6, 98,14-20) Man wird diese Passage nur richtig bewerten können, wenn man die tiefe Frömmigkeit des Fürsten in Rechnung stellt. Luther tat dies indem er den Kurfürsten als Mitstreiter im Endkampf gegen den Satan vereinnahmt. Gleichzeitig legt dieser sehr persönlich gehaltene Brief nahe, wie sehr sich Luther für das Seelenheil seines Fürsten verantwortlich sah. Eine Reaktion Friedrichs auf diesen Brief ist nicht überliefert. Er hat aber seinem Verfasser bei ihm offensichtlich nicht geschadet. Allerdings erwies sich das Schreiben als nutzlos für den sächsischen Hof, wollte man öffentlich demonstrieren, dass den Kurfürsten keine Verantwortung für die Rückkehr Luthers traf, ja dass sie gegen dessen Willen stattfand. Deswegen erwartete der Hof einen weiteren Brief Luthers, der diesen Intentionen entgegen kam. Luther lieferte am 5. März von Borna aus, wo er sich bei dem kursächsischen Geleitsmann Michael von der Straßen auf die letzte Etappe seiner Reise vorbereitete, wenn auch wohl nicht so, wie es der Kanzler Georg Brück gerne gesehen hätte. Luther hält sich nun genauer an die stilistischen Regeln und hofgerechten Anredeformeln, allerdings wird schon in der Adresse der korrekt betitelte Fürst als mein „Patron“ angesprochen. In der Eingangspassage erklärt Luther, dass sich seine Aufforderung an den Kurfürsten „weise“ zu sein, auf die Bewertung der Vorgänge in Wittenberg richteten und nicht etwa auf Luthers Absicht, die Wartburg zu verlassen.11 Danach beschreibt Luther auch mit Blick auf andere Leser seine Mission: „Von meiner Sache, gnädigster Herr, antworte ich so: E. K. F. G. weiß oder weiß sie es nicht, so lasse ich es ihr hiermit kund sein, dass ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unseren Herrn Jesus Christus habe, dass ich mich wohl hätte rühmen und schreiben mögen (wie ich es denn hinfort tun will), ein Knecht und Evangelist (zu sein). Dass ich mich aber zum Verhör und Gericht erboten habe, geschah nicht, weil ich daran zweifelte, sondern aus überfließender Demut, um die anderen zu locken.“ (Cl 6, 100, 18-25) Mit diesen Ausführungen stellt sich Luther auf eine Stufe mit dem Apostel Paulus.12 In solcher Deutlichkeit hatte er seinen prophetischen Anspruch vorher noch nicht artikuliert. Dazu mussten Freunde wie Gegner Stellung beziehen. Zu den letzteren zählte seit der Leipziger Disputation von 1519 auch der sächsische Herzog Georg, ein Vetter Friedrichs und hoch gebilde-
ter Mann. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, Luther und dessen Reformation zu bekämpfen, und tat dies mit großem materiellem und persönlichem Einsatz. So hatte er sich wegen der Wittenberger Unruhen beim Reichsregiment in Nürnberg beschwert, was den ernestinischen Räten einiges Kopfzerbrechen bereitete. Darauf geht Luther im zweiten Teil seines Briefes ein. Er erinnert an seinen Einzug in Worms: „… wenn ich gewusst hätte, dass so viele Teufel auf mich gehalten hätten als Ziegeln auf den Dächern sind, wäre ich dennoch mitten unter sie gesprungen mit Freuden.“ Da Georg aber weniger als ein Teufel ist, muss man ihn in dieser Sache nicht fürchten. In Luthers Diktion: „Das weiß ich je von mir wohl: Wenn diese Sache zu Leipzig also stände wie zu Wittenberg, so wollte ich doch wieder hineinreiten, wenn es auch (E. K. F. G. verzeihe mein närrisches Reden), neun Tage eitel Herzog Georgen regnete und ein jeglicher wäre neunfach wütender, denn dieser ist. Er hält meinen Herrn Christus für einen Mann aus Stroh geflochten; das können mein Herr und ich eine Zeit lang wohl leiden.“ (Cl 6, 101, 16-21) Sendungsbewusstsein gepaart mit Ironie erwies sich als unschlagbare Waffe in den literarischen Auseinandersetzungen der Zeit. Georg erfuhr von dem Brief und verlangte von Luther eine persönliche Entschuldigung, was sein Ansehen im Reich auch nicht besserte. Aus Sicht der kurfürstlichen Räte hätte dies das Ende des ‚offiziellen Entschuldigungsbriefs‘ Luthers sein sollen. Aber der hielt sich an keine Regeln, sondern setzt erneut ein: „Solches sei E. K. F. G. geschrieben in der Bedeutung, dass E.K.F.G. wisse, ich komme nach Wittenberg in einem viel höheren Schutz als dem des Kurfürsten. Ich hab es auch nicht im Sinn, von E.K.F.G. Schutz zu begehren. Ja, ich meine, ich wollte E.K.F.G. mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu, wenn ich wüsste, dass mich E.K.F.G. könnte und wollte schützen, so wollte ich nicht kommen. In dieser Sache soll und kann kein Schwert raten oder helfen. Gott muss hier allein wirken, ohne alle menschlichen Sorgen und Zutaten. Darum: Wer am meisten glaubt, der wird am meisten schützen. Derweil ich nun spüre, dass E.K.F.G. noch sehr schwach im Glauben (sind), kann ich in keiner Weise E.K.F.G. als den Mann ansehen, der mich schützen oder retten könnte. Da nun E.K.F.G. begehrt zu wissen, was sie tun soll in dieser Sache, besonders weil sie meint, sie habe viel zu wenig getan, antworte ich untertänig: E.K.F.G. hat schon allzu viel getan und sollte gar nichts tun. Denn Gott will und kann es nicht leiden: E.K.F.G. oder mein Sorgen und Treiben. Er will es ihm gelassen haben, so und nicht anders, da mag sich E.K.F.G. nach richten. Glaubt E.K.F.G. dies, so wird sie sicher sein und Frieden haben, glaubt sie es nicht, so glaube ich es doch und muss E.K.F.G. Unglauben lassen seine Qual in Sorgen haben, wie es sich allen Ungläubigen gebührt zu leiden.“ (Cl
322 6, 101, 29-102, 16) Luthers Feind zu sein, barg offensichtlich Gefahren, wie die Fälle Albrecht und Georg belegen. Aber sein Freund und Anhänger zu sein, vor allem wenn man ein regierender Fürst war, stellte auch nicht das reine Vergnügen dar. Der Brief endet mit einer abwägenden Darlegung der politischen Weiterungen, die sich aus Luthers Rückkehr von der Wartburg ergeben konnten. So hofft der Reformator, dass sich Friedrich nicht zum „Stockmeister“ also Gefängniswärter der Reiches machen lässt, betont aber gleichzeitig, dass der Obrigkeit, in diesem Fall dem Kaiser, kein aktiver Widerstand entgegengesetzt werden dürfe. 4. Der Graf und der Mammon Die Herkunft Luthers wird immer wieder missverstanden. Mal gilt er als Thüringer, mal als Sachse, wobei das heutige Sachsen zu Luthers Zeit Meißen hieß. Aber er war Mansfelder, ein bis auf den heutigen Tag sehr eigener Menschenschlag. Die regierenden Grafen teilten Herrschaft und Einkommen, vor allem aus dem Kupferbergbau, in verschiedene Linien auf, die nach dem Sitz auf der gemeinsamen Burg Vorder-, Mittel- und Hinterort hießen. Die einzelnen Linien waren unter einander auch in Sachen der Religion uneins. Luthers Versuch, sie im Februar 1546 miteinander zu versöhnen, kostete ihn im Wortsinn das Leben.13 Grundsätzlich führten die Grafen eine prekäre Existenz, da ihre ökonomische Basis fast ausschließlich auf dem Bergbau beruhte, dessen Ausbeute extremen Schwankungen unterlag. Dabei bewirtschafteten die Grafen die Schmelzhütten teilweise durch Angestellte, sogenannte Herrenfeuer, teils ließen sie Pächter gegen eine feste Abgabe aus dem Ertrag arbeiten, sogenannte Erbfeuer.14 Seit den 30er Jahren gingen die Erträge zurück. Das führte dazu, dass die Grafen den ökonomischen Druck auf ihre Untertanen erhöhten. Deswegen wendet sich Luther 1542 an Graf Albrecht IV. von Mansfeld-Hinterort, der als erster die Reformation in seinem Herrschaftsgebiet einführte und generell als treuer Lutheraner galt.15 Einleitend betont Luther, dass er als Landeskind dem Grafen besonders verpflichtet ist. Hier geht es nicht um Lokalpatriotismus, wie diese Sätze oft missverstanden worden sind, sondern Luther versucht, eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, da er dem Grafen einige unangenehme Wahrheiten zu sagen hat. Offensichtlich hatte sich der Graf seit längerer Zeit des Sakraments enthalten und keine Predigten mehr besucht mit dem Hinweis auf die Prädestination. Wenn er erwählt sei, nütze ihm die Kirche nichts. Im Fall seiner Verwerfung gilt das ebenso. Luther versucht seinem Landesherrn mit biblischer Grundlage zu erklären, was mit dieser theologischen Denkfigur gemeint ist, kommt dann aber zu sehr praktischen Konsequenzen: „Demnach bitte ich Euer Gnaden ganz herzlich, E.G. wollte sich dem Wort und Sakrament nicht entziehen. Denn
der Teufel ist ein böser Geist, E.G. viel zu listig, wie denn alle Heiligen geschweige denn alle Menschen und ich selbst wohl erfahren haben, wenn ich auch nur einen Tag mich versäume (ohne Wort und Sakrament lebe). Denn es wird der Mensch kalt und je länger umso mehr, und wenn schon keine Frucht mehr da wäre, so wäre das genug, dass der Teufel dennoch zur selbigen Stunde weichen muss und dem Herzen eine Hitze zukommt. So fühlen E.G. selbst wohl, wie sie bereits kalt und auf den Mammon geraten sind, gedenken sehr reich zu werden. Auch, wie die Klagen gehen, die Untertanen also hart und scharf zu bedrücken, sie von ihren Erbfeuern und Gütern zu bringen und schier zu Leibeigenen zu machen. Welches doch Gott nicht leiden wird und wenn er es zulässt, wird er die Grafschaft bis auf den Grund verarmen lassen, denn es (das Kupfererz) ist seine Gabe, die er leichtlich wieder nehmen kann.“ (WA Br. 9, 628, 74-86) Der Gedanke, dass Gott einem offensichtlichen Sünder seine Wohltaten auch wieder entziehen kann, findet sich bei Luther wiederholt. Tatsächlich sollte der Rückgang der Erzförderung bereits im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts den faktischen Bankrott des Grafenhauses bewirken. Dabei ist Luthers Umgangston mit Graf Albrecht 1542 maßvoller und seelsorgerlicher als seine Briefe an Friedrich und Albrecht von 1521/22. Dahinter dürfte auch ein resignativer Anteil an Lebenserfahrung stehen, der Luthers letzte Jahre verdunkeln sollte. Das wird auch in der Schlusspassage des Briefes deutlich: „Solches schreibe ich, wie ich meine, E.G. zur letzte (zum Abschied), da mir nun das Grab näher ist, als man vielleicht denkt und bitte wie zuvor, dass E.G. sanfter und gnädiger wollten mit E.G. Untertanen umgehen, sie lassen bleiben (sc. in ihrem Eigentum), so werden E.G. auch bleiben durch Gottes Segen hier wie dort (sc. im Jenseits). … Summa, es ist mir zu tun um E.G. Seele, die ich nicht kann leiden aus meiner Sorge und Gebet verstoßen zu lassen (denn das ist bei mir gewiss aus der Kirche verstoßen zu sein).“ (WA Br. 9, 629, 98-110) Luther begründet diese Intervention mit Ezechiel 3,17f, die er als Drohung an die Prediger durch Gott versteht, sich nicht fremder Sünde teilhaftig zu machen. Genützt hat der Brief in der Sache nichts. Auch Luthers Verwandten verloren ihre Erbfeuer. 5. Zur Chronologie von Luthers Bauernkriegsschriften Die behandelten Beispiele von Briefen Luthers an Regenten, seien es Anhänger oder Gegner, haben eines gemeinsam: Keine Angst vor Fürstenthronen. Das Sendungs-, nicht Selbstbewusstsein des Reformators besteht vor jedem weltlichen Machtanspruch. Wie kommt es dann zum Urteil: Fürstenknecht? Der Anfang dürfte bei Thomas Müntzer liegen, der 1524 eine Schrift „Wider das sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“ erscheinen ließ, in der er behauptete, Luther hätte sich in Worms
323 nur in Lebensgefahr befunden, wenn er widerrufen hätte. So sinnlos in der Historiographie ‚Was wäre, wenn – Fragen‘ sind, so findet sich doch hier ein erster Ansatz einer Lutherkritik aus den eigenen Reihen. Denn Müntzer hatte seine Laufbahn als Lutherschüler begonnen. 1519 nannte ihn eine altgläubige Quelle als erster „Lutheranus“. Unzweifelhaft stellt das Jahr 1525 eine Epochenwende dar. Friedrich der Weise stirbt, Luther heiratet und engagiert sich im sogenannten Bauernkrieg. Es ist hier nicht der Ort auf den Konflikt insgesamt einzugehen, der weder ein Krieg war, noch vornehmlich von Bauern geführt wurde.16 Wichtig bleibt, dass in seinem Ergebnis Luthers Ansehen gerade unter seinen Anhängern schwer und auf Dauer beschädigt wurde. Die hat bis heute Nachwirkungen. Dabei blieben die Grundüberzeugungen des Reformators unverändert, nur die Geschwindigkeit der Abläufe überforderten ihn und die Druckerpresse, wie zu zeigen ist. Im März 1525 erschienen in Memmingen die sogenannten 12 Artikel der Bauernschaft, die in zwei Monaten 28 Auflagen erfuhren. Sie unterscheiden sich von früheren Beschwerdeschriften der Bauern durch die Berufung auf ein „göttliches Recht“, das aus dem Evangelium abzuleiten sei, und der Bereitschaft, Luther und Melanchthon als Schiedsrichter im Konflikt zu akzeptieren. Luther fühlte sich dadurch verpflichtet, mit seiner „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“ zu antworten, die er wahrscheinlich am 20. April begann. Die Schrift besteht aus einer Ermahnung an die Fürsten und Herren und einem zweiten, längeren Teil an die Bauern. Beide Seiten, so Luther trügen Verantwortung an dem Konflikt, aber jeder Kampf der Untertanen gegen die Obrigkeit sei durch Paulus verboten.17 Die umfangreiche Ausarbeitung Luthers erschien allerdings erst, als der Bauernkrieg in Oberschwaben längst voll entbrannt war. Der Reformator befand sich Ende April in der Grafschaft Mansfeld und erlebte in Nordthüringen hautnah, wie der Aufstand um sich griff. Deswegen, weil nun Gewalt im Spiel war, ließ er seine „Ermahnung“ mit einem Anhang erneut drucken, der den Titel bekam „Auch wider die reubischen und moerderisschen rotten der andern bawren“ (Hervorhebungen M.T.). Aus dem Titel geht klar hervor, dass es sich nicht um eine eigenständige Schrift handelt, sondern um den Versuch, zwischen friedlichen und gewalttätigen Bauern zu differenzieren. Hier finden sich nun jene Luther immer wieder angelasteten Passagen: „Darum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann und gedenken, dass nichts giftigeres, schädlicheres, teuflischer sein kann, denn ein aufrührerischer Mensch, als wie man einen tollen Hund totschlagen muss. Schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land dazu.“18 Bei aller Härte stellen diese Sätze auch den Ausdruck einer gewissen Verzweiflung dar. Zumindest für den Thüringer Bauernkrieg
gilt, dass die dilatorische Behandlung der Angelegenheit durch die sächsischen Kurfürsten erst die Katastrophe von Frankenhausen ermöglichte. Im albertinischen Sachsen, wo frühzeitig und hart durchgegriffen wurde, blieben die bäuerlichen Verluste auf ein Minimum beschränkt. Luthers Problem bildete im Bauernkrieg das Timing. Als er zum Frieden aufrief, war die Gewalt durch die Bauern schon ausgebrochen. Als er zum Kampf trommelte, lagen bereits 6.000 tote Bauern bei Frankenhausen und Luther stand als Bluthund da. Dieser Eindruck verstärkte sich noch in der Öffentlichkeit, da die Nachdrucker den Anhang als selbstständige Schrift behandelten und somit aus dem Zusammenhang mit der „Ermahnung“ rissen. Erwartungsgemäß reagierte die altgläubige Seite mit Kritik. Johann Cochläus lieferte deutsch und lateinisch einen bissigen Kommentar zu Luthers Bauernschrift. Danach wäre Luther nicht nur der geistige Urheber des Aufstandes, sondern er habe im entscheidenden Augenblick die Bauern verraten, um den Fürsten zu schmeicheln. Weniger erwartbar war, dass dieses Argument auch bei seinen Freunden und Anhängern Schule machte. Als Beispiel sei nur Nikolaus von Amsdorf genannt, der aus Magdeburg Luther wissen ließ, die dortigen Pfarrer hielten ihn für einen „adulator principum“, also einen Fürstenschmeichler.19 Vor allem die Mansfelder Räte meldeten Kritik an Luthers Haltung an. Der reagierte mit einem offenen Brief an den Mansfelder Kanzler Kaspar Müller „Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern“. In ausführlichen, in der Wiederholung ermüdenden Wendungen macht Luther deutlich, dass er trotz des Massakers an den Bauern und den danach einsetzenden Verfolgungen der Mitläufer nichts von seinen Behauptungen zuzunehmen gedenkt. Sein Fazit bleibt: „Aufruhr ist eine Sintflut aller Untugend“. (StA 3, 166,26) Wahrscheinlich war es diese Schrift, die nicht mehr in der Hitze des Gefechts verfasst wurde, sondern in der Folgezeit, als die Rechnungen der Henker für geleistete Dienste immer länger wurden, die eine dauerhafte Entfremdung von Teilen von Luthers Anhängerschaft bewirkte. Er selbst blieb bei seiner Überzeugung, dass auch die schlechteste Ordnung besser sei als die Anarchie. Die Ausführungen über die Obrigkeit im Römerbrief wurden für ihn nun gänzlich unverhandelbar. Es wäre anachronistisch, Luther und sein Verständnis von Obrigkeit als typisch oder bestimmend für das spätere spezifisch deutsche Verständnis von Politik, wie es Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ beschreibt, in Anspruch nehmen zu wollen. Aber als Ahnvater einer liberalen Demokratie taugt der Reformator ebenso wenig. Literatur
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Die folgenden Ausführungen sind als Resümee der bisherigen Forschung gedacht. Gleichzeitig soll Luther ausführlicher zu Wort kommen, als das
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sonst üblich ist. Der Originalton des Reformators ist durch nichts zu ersetzen. Vgl. Luther und die Fürsten, Katalog zur Ausstellung hg. von Dirk Syndram u.a., Dresden 2015. Der Begriff „Zwei-Reiche-Lehre“ sollte in seriöser Forschung nicht verwendet werden. Er stammt aus der dialektischen Theologie Karl Barths und war abwertend polemisch gemeint. StA 3, 27–71. Vgl. Cl 71, Anm. 10 Zu den Vorgängen vgl. Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2, S. 221–24, Berlin (Ost) 1989. WA Br. 2, 405–409, Nr. 442 vom 1. Dezember 1521. Zitiert wird wie auch im Folgenden nach Luthers Werke in Auswahl, Bd. 6 hg. von Hans Rückert, Berlin 1933 als Cl 6 mit Seiten- und Zeilenangabe und modernisiertem Deutsch. Tetzel starb im Sommer 1519 in Leipzig. WA Br. 2, 421, Nr. 448 vom 21.12.1521, manu propria.
9 Zum Folgenden vgl. Brecht, wie Anm. 4, S. 48–53. 10 Vgl. Natalie Krenz, Ritualwandel und Deutungshoheit, Tübingen 2014, 141–242. 11 WA Br. 2, 453–458, Nr. 455 vom 5. März 1522. 12 Vgl. Gal 1, 11f. 13 Vgl. die Beiträge in dem Sammelband Martin Luther und Eisleben, hg. von Rosemarie Knape, Leipzig 2007. 14 Vgl. dazu Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, hg. von Harald Meller, Halle 2009. 15 WA Br. 9, 624–630. Nr. 3716 vom 23.2.1542. Die komplizierte Überlieferungsgeschichte des Briefes muss hier nicht dargelegt werden, da sie zum Thema nichts beiträgt. 16 Vgl. Peter Blickle, Die Revolution von 1525, München2004. 17 StA 3, 105–133. 18 StA 3, 143,18–24. 19 StA 3, 148f.
325 Claus Scharf
Der gesamtdeutsche Protestantismus im gespaltenen Deutschland. Staat, Gesellschaftssystem und Kirche in der DDR im Spiegel der öffentlichen Verlautbarungen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945–1961 Einleitung Den Begriff „Kirchliche Zeitgeschichte“ soll es seit etwa 1970 geben.1 Aber noch als 1988 die Beiträge katholischer und evangelischer Wissenschaftler zu einer kirchengeschichtlichen Tagung über die Zeit nach 1945 im geteilten Deutschland und in der Schweiz im Druck erschienen, rückten die Herausgeber ihre Aufsatzsammlung in ein helles Licht vor dem eher dunklen Hintergrund einer noch recht lückenhaften Forschungsgeschichte. Im Vorwort bilanzierten sie nüchtern, dass sich die christlichen Kirchen im Kontrast zu der seit jeher intensiven Erforschung ihrer Anfänge oder der Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung gegenüber der Moderne, also dem 19. und 20. Jahrhundert, traditionell distanziert verhalten hätten. Insbesondere gehöre die Kirchliche Zeitgeschichte „nicht zu denjenigen Perioden kirchengeschichtlicher Betrachtung“, „die sich auf eine respektable akademische Tradition abstützen können“. Ein wissenschaftlicher Durchbruch sei überhaupt erst durch die Konfrontation der deutschen Kirchen mit dem Nationalsozialismus erzielt worden.2 Zweifellos war dieses Urteil seinerzeit berechtigt. Doch schon ein Jahr später wendete sich das Blatt total, als die kommunistischen Diktaturen in Europa zusammenbrachen und Deutschland vereinigt wurde: Denn seit 1989/90 erlebt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kirchlichen Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zumal im deutschsprachigen protestantischen Raum eine Hochkonjunktur mit einer kaum noch überschaubaren Fülle von Veröffentlichungen. Aus heutiger Sicht ist die Kirchliche Zeitgeschichte jedenfalls längst zu den prosperierenden Zweigen der Geschichtswissenschaft zu rechnen.3 Dabei sind es gerade die gegensätzlichen historischen und politischen, aber oft auch theologischen und kirchenpolitischen Standpunkte und Interpretationen zur Geschichte der evangelischen Kirche in der DDR, die seit deren Ende stets von neuem Einzelforschungen und Forschungsprojekte, Diskussionen und Publikationen anregen. Um die auch in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit divergierenden Auffassungen grob zu unterscheiden, sei als Repräsentant einer Hauptrichtung Joachim Gauck zitiert. Noch kurz vor seinem Abschied aus dem Amt des Bundespräsidenten pries der einstige Rostocker Pfarrer in einem Interview „die Entwicklungen unmittelbar vor und nach 1990“ als „eine der großen
Zeiten des deutschen Protestantismus“. Und seine Kirche rühmte er, von ihr seien „im ganzen Land […] machtvolle Impulse ausgegangen für die Veränderung der Gesellschaft bis hin zur Friedlichen Revolution 1989“.4 Hingegen hält eine entgegengesetzte Richtung die weit verbreitete Vorstellung, es habe in der DDR eine „protestantische Revolution“ gegeben, für vollkommen abwegig und argumentiert, nicht zuletzt auf der Basis der damals alsbald geöffneten Akten der Staatssicherheit, die evangelische Kirche habe die DDR überwiegend sogar stabilisiert, und manche ihrer regimetreuen Vertreter hätten im Einvernehmen mit linken Kritikern der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Bonner Republik der „Kirche im Sozialismus“ sogar noch höhere moralische Qualitäten, wenn nicht eine festere theologische Basis als den Kirchen im Westen zuerkannt.5 Gewiss fördert es die Fähigkeit zu einer abwägenden, historisch gesicherten Erkenntnis nicht gerade, wenn das Problem, wie sich die Kirchen in der DDR bis 1989 politisch verhalten haben, kategorisch auf eine „Heroisierung“ oder eine „Dämonisierung“ ihres Handelns6, auf Entscheidungen zwischen Widerstand und Anpassung, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Unfreiheit verengt wird. Bei solch unversöhnlichen Gegensätzen kann nicht einmal die Rede davon sein, die Wahrheit liege in der Mitte. Hingegen überzeugen konkrete Analysen. So gehört zu den zahlreichen Faktoren, die das Ende des SED-Regimes beschleunigten, zweifelsfrei der schlichte Befund, dass sich evangelische Kirchenvorstände und Gemeinden an vielen Orten der DDR als mutig genug erwiesen, alternativen politischen Gruppen in den 1980er Jahren Gastrecht zu gewähren.7 Zudem gehört zu einer selbstkritischen Rückschau die Einsicht, dass sich speziell der deutsche Protestantismus als Ganzes, also auch im Westen, überhaupt nur mühsam nach 1945 dem parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat annäherte. In den „Traditionen des Obrigkeitsstaates und der Untertanengesellschaft“ wurzelten jedenfalls die „alte Bundesrepublik und die DDR gemeinsam“.8 Insofern folgte auch der Förderverein Europa Begegnungen zu Torgau einem weiterführenden Ansatz, als er sich entschied, das Thema Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat in einer Tagungsserie kontinuierlich von der Zeit Luthers bis ins 20. und 21. Jahr-
326 hundert zu erörtern. Nicht zuletzt ist zu westlicher Überheblichkeit gegenüber den Kirchen in der DDR deshalb kaum Anlass, weil es immerhin bis 1985 dauerte, dass der Rat der damals allein bundesrepublikanischen Evangelischen Kirche in Deutschland eine Denkschrift unter dem Titel Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe veröffentlichte.9 Nach manchen Verlautbarungen der Gliedkirchen mit einer vergleichbaren Tendenz ermahnte erst diese Denkschrift die evangelischen Christen der westdeutschen Mitgliedskirchen nachdrücklich zum verantwortlichen Mitwirken am demokratischen Gemeinwesen. Seit der Vereinigung Deutschlands wurde dieser Denkschrift dann in den Jahren ihrer runden Jubiläen auch für die wiedervereinigten evangelischen Kirchen gedacht, und kompetente Kommentare bezogen die Mahnungen und Empfehlungen auf die jeweils aktuelle Situation von Politik und Gesellschaft in alten wie neuen Bundesländern.10 Die folgenden Ausführungen lenken hingegen den Blick zurück auf die Phase zwischen dem Kriegsende 1945 und der verschärften Trennung der beiden deutschen Staaten durch den Mauerbau in Berlin und den Ausbau der innerdeutschen Grenzbefestigungen im Jahr 1961, die dann 1969 tatsächlich zu einer institutionellen Teilung der evangelischen Kirche führten.11 Dass aber in dieser Phase bis 1961 überhaupt noch eine zwar nicht konfessionell einige, aber doch gesamtdeutsche evangelische Kirche existierte und dass deren Synode über die politische und gesellschaftliche Entwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone und seit 1949 in der DDR offen diskutierte, Beschlüsse fasste und veröffentlichte, ist seither außerhalb der Fachwissenschaften weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch gerade diese damals einzigartige, die innerdeutsche Grenze überschreitende Öffentlichkeit kirchlicher Stellungnahmen unter den Bedingungen einer spannungsgeladenen Konfrontation zwischen den zwei Militärblöcken in Europa und den zwei rivalisierenden Gesellschaftsordnungen auf deutschem Boden verdient im Rückblick in Erinnerung gerufen zu werden. Insofern verzichtet der Autor von vornherein auf eine Forschung in den Archiven und macht nur sparsam von aktuellen Forschungen Gebrauch. Stattdessen soll hier in der Hauptsache aufgezeigt werden, was die Evangelische Kirche in Deutschland bis 1961 über das SED-Regime veröffentlichte und wie die Synode der EKD als das „parlamentarische“ Organ dieser aus dem Kirchenkampf hervorgegangenen Kirche auf die zweite Diktatur in Deutschland und auf deren politische Praxis reagierte. Damit wird eine Frage zu den politischen und sozialen Entwicklungen vornehmlich in der DDR wieder aufgegriffen, die seinerzeit erstmals 1954 in einer Broschüre formuliert und mit einer Auswahl kirchlicher Texte beantwortet wurde: „Hat die Kirche geschwiegen?“12
Abb. 1: Hat die Kirche geschwiegen? Das öffentliche Wort der Evangelischen Kirche in den Jahren 1945–54, herausgegeben von Günter Heidtmann (1912–1970, Theologe und Journalist), Berlin: LettnerVerlag 1954.
Doch auch unabhängig von dieser Dokumentation gab es eigentlich keinen Bereich in der Zeitgeschichte Deutschlands nach 1945, für den die Quellenlage zeitgleich so günstig war wie für die Geschichte der deutschen protestantischen Kirche. Das Kirchliche Jahrbuch der EKD brachte jährlich umfassende chronikartige Darstellungen der Entwicklung der evangelischen Kirche in ganz Deutschland mit einer Fülle von Dokumenten und statistischem Material.13 Auch die Protokolle der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland erschienen seit 1948 jeweils ebenso im Druck14 wie ihre Beschlüsse und Verlautbarungen im Amtsblatt der EKD und in den führenden kirchlichen Zeitschriften. 1. Welcher Staat und welche Kirche? Die DDR und die EKD 1.1 Religion und Kirche im Marxismus-Leninismus Fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR muss vielleicht bereits daran erinnert werden, dass von Seiten des Staates und der kommunistischen Partei nicht etwa eine sachliche Kritik an der christlichen Religion und den Kirchen geübt wurde. Viel-
327 mehr wurde im Wesentlichen das ideologisierte Bild von Religion und Kirche tradiert, das Karl Marx und Friedrich Engels im Vormärz gezeichnet hatten. 1843/44 hatte der junge Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern über die Religion geschrieben: „Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt.“ Und berühmt wurde der Satz: „Sie ist das Opium des Volks.“ Die Kritik an der Religion im Rahmen seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie war für Marx jedoch nur die Einleitung zur Kritik von Politik und Gesellschaft, und er bezeichnete es als „die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“.15 In einem Aufsatz Sozialismus und Religion aus dem Jahre 1905 knüpfte Wladimir Iljitsch Lenin direkt an die Marxsche Interpretation an: „Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.“16 Im kommunistischen Lager nahmen maßgebliche Texte in der Mitte der fünfziger Jahre diese Deutungen auf. So definierte der Artikel Religion in der zweiten Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie 1955: „Religion […] ist eine der Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins, eine verzerrte, phantastische Widerspiegelung der über die Menschen herrschenden natürlichen und gesellschaftlichen Kräfte im menschlichen Bewusstsein. Religion ist der Glaube an die Existenz übernatürlicher Mächte, Götter, Geister, Seelen usw. Als Widerspiegelung des Unterdrücktseins und der Unwissenheit des Menschen ist die Religion ihrem Wesen nach wissenschaftsfeindlich.“17 Und als sich im gleichen Jahr der Kurs der SED gegen die evangelische Kirche in der DDR nach einer kurzen Lockerung erneut verschärfte, ging es der herrschenden Partei zwar vorrangig darum, die Westbindungen der Kirche zu drosseln und Loyalität zur DDR zu erzwingen, doch wurde diese tagespolitische Auseinandersetzung zugleich zur weltanschaulichen Konfrontation stilisiert.18 So erklärte 1956 auf der 3. Parteikonferenz der SED Paul Fröhlich, der 1. Sekretär der Bezirksleitung Leipzig, dass die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus „unvereinbar mit Aberglauben und Religion“ sei. „Unsere Weltanschauung ist wissenschaftlich-atheistisch, also gegen den Aberglauben gerichtet. Die Ideologie des Aberglaubens hemmt doch den Fortschritt.“19 Als kennzeichnend für die Haltung der Kirche zu solchen Attacken kann eine repräsentative Entgegnung gelten, mit der im gleichen Jahr 1956 der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob eine außerordentliche Tagung der Synode der EKD in der Berliner Marienkirche eröffnete. Einerseits räumte er eine historische Mitschuld der Kirche an
dem Zerrbild ein, das die SED von ihr verbreite: „Es wird immer nur jene Karikatur eines durch die Schuld der Christenheit verzerrten und entstellten Spiegelbildes der evangelischen Wahrheit an die Wand projiziert.“ Doch andererseits warf er der SED vor, vorsätzlich an diesem Zerrbild festzuhalten: „Es wird immer von neuem im Blick auf das so entworfene Klischee von der Unwissenschaftlichkeit und dem klassenbedingten Charakter gesprochen.“ Und im gleichen Sinn noch konkreter: „Auch im derzeitigen Schrifttum, das von marxistischer Seite zu den Fragen von Kirche und Religion Stellung nimmt, ist nirgends die Spur einer Kenntnisnahme und Stellungnahme etwa zum theologischen Werk Karl Barths, zu den geistlichen Motiven des Kampfes der Bekennenden Kirche, zu der Barmer Theologischen Erklärung oder zu den ökumenischen Dokumenten der jüngsten Zeit anzutreffen.“20 1.2 Das Selbstverständnis der DDR Auf dem Papier war die Kirche in der DDR nicht rechtlos. Nach der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 ging alle Staatsgewalt vom Volke aus.21 Der Text wies den Staat als eine parlamentarische Demokratie aus, die auf der Dreiteilung der Gewalten beruhte.22 Die Verfassung sagte den Bürgern volle Glaubens- und Gewissensfreiheit zu und stellte die ungestörte Religionsausübung unter den Schutz des Staates. Die Religionsgemeinschaften sollten sogar das „unbestrittene“ Recht genießen, „zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen“.23 Den Kirchen wurde ausdrücklich ihr Eigentum gewährleistet24, sie durften in Schulräumen Religionsunterricht erteilen25 und in Krankenhäusern, Altersheimen, Strafanstalten und anderen öffentlichen Einrichtungen Gottesdienst und Seelsorge ausüben.26 Doch die Verfassungswirklichkeit sah erheblich anders aus. Zwar blieben die Kirchen mit ihren 30.000 Mitarbeitern und 15.000 weiteren im diakonischen Bereich „Großinstitutionen“, „die größten im nichtstaatlichen Bereich überhaupt“.27 Doch schon vor der Gründung der DDR ließ die sowjetische Besatzungsmacht die im Potsdamer Abkommen verbriefte Religionsfreiheit allein für die Kirche und ihre hierarchische Struktur, aber nicht etwa für die evangelischen Vereine und Verbände und nur eingeschränkt für die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen außerhalb der Gottesdienste gelten. Diese Felder blieben auch in der Kirchenpolitik der DDR permanenten Konflikten mit den staatlichen Behörden ausgesetzt.28 Denn spätestens seit Generalsekretär Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR“ angekündigt hatte29, wurde der Staat auch offiziell zum Machtinstrument seiner angeblich herrschenden Klassen deklariert:
328 der Arbeiter und Bauern, geführt und repräsentiert durch die SED. Beschrieb die Verfassung die DDR noch als einen weltanschaulich neutralen Staat, so setzte die SED zunehmend darauf, mit Hilfe des Staatsapparates „die sozialistischen Ideen zum Siege zu führen“ und „unserer Weltanschauung zum Siege zu verhelfen“.30 1.3 Das Erbe des Kirchenkampfes und die Gründung der EKD Für Ende August 1945 hatte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm die Initiative ergriffen, die Vertreter der Landeskirchen und des Reichsbruderrates nach Treysa im Bezirk Kassel, Amerikanische Zone, zu einer Kirchenführerkonferenz einzuladen. Für die Intentionen bei der Neuordnung der deutschen evangelischen Kirchen war die programmatische Rede des lutherischen Bischofs zu Beginn der Tagung kennzeichnend: Zum einen sollten Lehren sowohl aus der Anpassung als auch aus dem Widerstand evangelischer Christen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus gezogen werden: „Selbstverständlich kann es sich nie und nirgends um die Restauration eines Kirchenwesens handeln, das im Jahre 1933 sich gegenüber dem Ansturm eines geschickt getarnten und mächtigen Feindes so hilflos gezeigt hat wie unsere evangelische Kirche in Deutschland.“31 Doch zum anderen suchte Wurm der insbesondere von Bayern und Hannover ausgehenden starken Tendenz zu einem Zusammenschluss allein der lutherischen Kirchen zu begegnen und für deren Gemeinschaft mit den Reformierten und den Kirchen der Union zu werben: „Wenn jetzt wieder ein öffentlicher Streit ausbrechen würde, um episkopale oder synodale Ordnung, um Union oder Konfession, wenn wir uns auflösen würden in Häuflein, deren jedes eine andere Parole in die Gemeinden hinaus senden würde, dann wäre jeder Kredit verspielt.“32 Und im Blick auf das Ende jeglicher deutscher Staatlichkeit mahnte er: „Nun ist dieser Gott, der ein Götze war, gefallen, und es fragt sich nun, ob wir Evangelischen ohne den eisernen Reif des Staatsdrucks nicht auseinander fallen, sondern zusammenbleiben, weil wir in den Nöten des Bekenntniskampfes gelernt haben, was Kirche ist, was sie fordert und was sie gibt.“33 Zwar trieben die lutherischen Kirchen die Gründung einer Vereinten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) erfolgreich voran, doch erklärten sie zugleich ihre Bereitschaft, „auch künftig im Bunde mit den bekenntnisbestimmten reformierten und unierten Kirchen […] für eine gerechte und würdige Ordnung der evangelischen Kirche“ sorgen zu wollen.34 So kam es zu einer letztlich einmütigen Entscheidung der Konferenz für eine Gemeinschaft aller evangelischen Kirchen Deutschlands. Beschlossen wurde eine Vorläufige Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland und als Leitungsgremium ein
Abb. 2: Theophil Wurm (1868–1953), 1929–1948 Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und 1945–1949 erster Vorsitzender des Rates der EKD mit seinem Stellvertreter Martin Niemöller (1892–1984), 1945–1955 Mitglied des Rates der EKD und 1947–1964 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau.
Rat dieser EKD berufen, zu dessen Vorsitzendem Bischof Theophil Wurm und zu dessen Stellvertreter Martin Niemöller, seit 1947 der Kirchenpräsident der Kirche von Hessen und Nassau, gewählt wurden.35 Besonders folgenreich war noch das Eintreten Martin Niemöllers, eines Mitbegründers der Bekennenden Kirche und KZ-Häftlings bis zum Kriegsende, für ein öffentliches Bekenntnis zur Schuld der deutschen evangelischen Christen an den Verbrechen des Nationalsozialismus vor der Welt.36 Dieses Bestreben mündete in das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945. Vor Vertretern der Ökumene, von der auch Hilfe für die notleidenden Deutschen erhofft wurde, bekundete der Rat der EKD im Namen der deutschen evangelischen Kirchen, sich mit dem deutschen Volk „nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden“ zu wissen, „sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. […] Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“37 Uneinsichtige kritisierten seinerzeit sofort die „Einseitigkeit“ eines protestantischen oder deutschen Schuldbekenntnisses38, während später die Kritik an der Unverbindlichkeit der Formulierungen und an der Nichterwähnung des Völkermords an den Juden überwog, den aber die Kirchenkonferenz im August 1945 von Treysa aus in einem Wort an die Gemeinden durchaus benannt hatte.39
329 Gerade weil sich Martin Niemöller mit seinem einst überaus konservativen Patriotismus auch noch seit seiner Befreiung 1945 politisch missverständlich geäußert hatte, war in Treysa gerade sein demonstratives Bekenntnis zu den Menschenrechten und zur Demokratie wichtig: „Wir als Kirche“ hätten „ein Interesse und eine Aufgabe, daß den Menschen Recht und Freiheit auch im öffentlichen und staatlichen Leben gegeben werde“. Die Demokratie habe „nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung, die das Recht und die Freiheit für den einzelnen verneint“.40 Erst am 13. Juli 1948 wurde von einer für diesen Zweck vom Rat einberufenen Kirchenversammlung, der ersten Synode der EKD, die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland beschlossen. Ihr Artikel 1 definierte diese gesamtdeutsche Kirche im Anschluss an die Entscheidungen von Treysa: „Die Evangelische Kirche in Deutschland ist ein Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen. Sie achtet die Bekenntnisgrundlage der Gliedkirchen und Gemeinden und setzt voraus, daß sie ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche wirksam werden lassen.“ Ohne ein neues Bekenntnis zu schaffen, berief sich die Grundordnung aber in Artikel 2 nun ausdrücklich auf die Bekennende Kirche: „In der Evangelischen Kirche in Deutschland wird die bestehende Gemeinschaft der deutschen evangelischen Christen sichtbar. Mit ihren Gliedkirchen bejaht die Evangelische Kirche in Deutschland die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. Sie weiß sich verpflichtet, als bekennende Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen. Sie ruft die Gliedkirchen zum Hören auf das Zeugnis der Brüder. Sie hilft ihnen, wo es gefordert wird, zur gemeinsamen Abwehr kirchenzerstörender Irrtümer.“41 Die Grundordnung bestimmte auch die Zusammensetzung und Rechtsstellung der Synode.42 Sie sollte aus 100 von den Synoden der Gliedkirchen gewählten und 20 vom Rat berufenen Mitgliedern bestehen. „Von den gewählten und berufenen Synodalen darf nicht mehr als die Hälfte Theologen sein.“43 In der Amtsdauer von sechs Jahren sollte die Synode in der Regel einmal im Jahr zusammentreten. Im Zeitraum bis 1961 geschah dies nicht 1953 und 1959, und 1956 wurde nur eine außerordentliche Tagung wegen der aktuellen Schikanen des SEDRegimes gegen die Kirche in der DDR einberufen. Zu den Aufgaben der Synode gehörte es, Kirchengesetze zu beschließen, Kundgebungen zu erlassen, die Arbeit der EKD und Fragen des kirchlichen Lebens zu diskutieren und dem Rat Richtlinien vorzugeben.44 Über Fragen, gegen die konfessionelle Bedenken erhoben würden, durfte die
Synode hingegen nicht ohne weiteres Beschlüsse verabschieden.45 Tatsächlich entschied die Synode in der Folgezeit möglichst überhaupt nicht durch Mehrheitsbeschlüsse, obwohl über viele konfessionelle und politische Probleme oft hart und temperamentvoll gestritten wurde. 1.4 Stellung und Aufgabe der EKD zwischen Ost und West Trotz der Gründung der Bundesrepublik und der DDR im Jahr 1949 blieb die EKD „als beinahe einziges Band zwischen ihnen“ bestehen.46 Bis 1961 fanden alle Tagungen des Rates und der Synode als gesamtdeutsche statt. Die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihren Gliedkirchen östlich und westlich des Eisernen Vorhangs hatte damit „einen weltgeschichtlich einzigartigen Platz angewiesen bekommen“.47 Ihre Gläubigen waren Bürger zweier einander feindlich gegenüberstehender „Obrigkeiten“, was nach den Worten des Ratsvorsitzenden Otto Dibelius, des Bischofs von Berlin und Brandenburg, der Kirche, besonders ihrer Leitung und der Synode, eine hohe politische Verantwortung aufbürdete.48
Abb. 3: Otto Dibelius (1880–1967), 1945–1966 Bischof von Berlin-Brandenburg, 1949–1961 Ratsvorsitzender der EKD.
Nach ihrem Selbstverständnis als protestantische Kirche hatte die EKD allein den Auftrag, die Botschaft von Jesus Christus zu verkündigen, sie ungeachtet der politischen und sozialen Voraussetzungen zu aktualisieren49 und, wie es die Barmer Erklärung gefordert hatte, „darüber zu wachen, daß sie diesen Auftrag nicht in den Dienst menschlicher Zwecke und Wünsche stellt oder stellen läßt“.50 Insofern war die Kirche zur Stellungnahme zu politischen und sozialen Fragen verpflichtet, hatte aber um der Reinheit der Verkündigung willen ihre Unabhängigkeit vom Staat und von irgendeiner parteipolitischen Richtung zu wahren. Grundsätzlich durfte sie sich weder mit der westlichen noch mit der kommunistischen Politik identifizieren. Natürlich gab es auch politische und kirchenpolitische Erwägungen, eindeutige Stellungnahmen zu meiden. So hätte es
330 beispielsweise eine eindeutige Bindung der EKD an die Politik der Bundesrepublik dem SED-Regime leicht gemacht, die Christen in der DDR zu Staatsfeinden zu erklären und als solche zu verfolgen51 oder die Kirche sofort politisch zu spalten. Daher sah es die Synode prinzipiell als ihre Pflicht an, alle ihre Äußerungen, auch und gerade die politischen, stets an ihre Gemeinden sowohl im Osten als auch im Westen zu richten, obwohl sie sich nicht dagegen schützen konnte, dass ihre Verlautbarungen, meist ungeachtet ihrer theologischen Begründungen, von Seiten des Westens oder des Ostens missverstanden oder politisch einseitig interpretiert und ausgenutzt wurden.52
Auftrag als „erledigt“.55 „Sie hatten erkannt“, kommentierte Grüber im Rückblick, „daß es mir letzten Endes nicht darum gegangen war, den sozialistischen Staat zu stärken, sondern die Evangelische Kirche freizuhalten für den Samariterdienst an den Menschen in Ost und West.“56
Andererseits verzichtete die Synode der EKD nicht deshalb auf eine Stellungnahme, weil sie vielleicht missbraucht werden konnte. Allerdings wurde um des gewünschten Erfolges willen in manchen Fällen ein diplomatisches Vorgehen bei den Behörden der DDR vorgezogen. Am 29. November 1949 hatte die EKD je einen Bevollmächtigten bei der Bundesregierung und bei der Regierung der DDR ernannt. Für die Verbindungen zur DDR-Regierung wurde Propst Heinrich Grüber nominiert, der sich im nationalsozialistischen Deutschland um die Rettung von Juden verdient gemacht hatte, von 1940 bis 1943 in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen war und persönliche Beziehungen auch mit kommunistischen Funktionären hatte.53 „Heinrich Grüber“, so Der Spiegel 1956 in einer Titelgeschichte im damaligen Jargon, „war vermutlich der beste Mann, den die Evangelische Kirche für den vorgeschobenen Posten im Kleinkrieg mit den Machthabern der Zone finden könnte.“54 Auf eigenen Wunsch wurde Heinrich Grüber im November 1958 jedoch vom Rat der EKD von dieser Pflicht entbunden, als die DDR-Regierung im Konflikt um die Militärseelsorge in der Bundeswehr mitteilte, sie betrachte seinen
Die grundsätzliche Frage, ob der durch die sowjetische Besatzungsmacht errichtete Staat Obrigkeit im Sinn von Römer 13 sei57, und ihm deshalb „jedermann“, d. h. jeder schriftgemäß handelnde Christ und jede schriftgemäß handelnde Christin, unter seiner Gewalt untertan sein müsse, wurde auf den Tagungen der Synode der EKD häufig und mitunter leidenschaftlich diskutiert, hat doch die Lehre der Kirche in diesem Punkt weitreichende politische Konsequenzen. Im Einklang mit dem seinerzeitigen Stand der theologischen Forschung stimmten die Synodalen nahezu einmütig darin überein, dass Römer 13 für jedes Staatsgefüge und somit auch für die DDR gelte. In dieser Frage waren sich konservative Lutheraner aus West und Ost, so z. B. Walter Künneth (Erlangen)58 und Ernst Sommerlath (Leipzig)59, mit Theologen, die im Westen zumindest wegen ihres kompromisslosen Auftreten gegen die Atombewaffnung der Bundesrepublik zu den „Linken“ zu rechnen waren, wie z. B. Martin Niemöller, Hans Iwand oder Helmut Gollwitzer, stets einig. Dabei versteht sich von selbst, dass die theologische Beurteilung eines Staates als von Gott gesetzter Obrigkeit weder rechtlich noch historisch zu bestätigen war und ist. Heinrich Vogel, Dekan der Theologischen Fakultät der HumboldtUniversität und zugleich Professor der Kirchlichen Hochschule in Berlin-West, erklärte dazu auf der Synode von 1956: „Das ist nicht zu sehen, nicht zu beweisen, aus keinen Werturteilen abzuleiten, sondern das ist eine Glaubensaussage.“60 Vogel war wegen seiner Sprachbegabung übrigens Autor der Entwürfe für die meisten Verlautbarungen der Synode und auch führend an der Formulierung einer Theologischen Erklärung beteiligt, die die Synode 1956 beschloss und die in zwei Sätzen die zeitgemäße evangelische Lehre von der Obrigkeit zum Ausdruck brachte: „Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt. Das Evangelium befreit uns dazu, im Glauben nein zu sagen zu jedem Totalitätsanspruch menschlicher Macht, für die von ihr Entrechteten und Versuchten einzutreten und lieber zu lei-
Abb. 4: Heinrich Grüber (1891–1975), seit 1945 Propst von St. Marien und St. Nikolai in Berlin, 1949–1958 Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR.
2. Staat und Kirche in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR im Spiegel der Vorträge, Diskussionen und Beschlüsse der Synode der EKD 2.1 Ist das SED-Regime Obrigkeit im Sinn von Römer 13, 1–7?
331 den, als gottwidrigen Gesetzen und Anordnungen zu gehorchen.“61 Offiziell bestand in der Obrigkeitsfrage und in der Auslegung von Römer 13 im Hinblick auf die DDR somit eine einheitliche Beschlusslage und Lehrmeinung innerhalb der EKD. 1959 widmete der Theologe Martin Fischer, Professor an der Kirchlichen Hochschule in Berlin, zu diesem Problemkreis Gustav Heinemann, der von 1945 bis 1967 dem Rat der EKD angehörte, eine Schrift, die von seelsorgerlichen Überlegungen geleitet war, als er zu den Wechselbeziehungen zwischen den Christen in der DDR und dem Staat Stellung nahm.62 Doch in einer Art Entgegnung schlug im Herbst 1959 der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Otto Dibelius, in seiner privaten Festschrift für Hanns Lilje, den Bischof von Hannover, alle bis dahin von der Synode verabschiedeten Beschlüsse in den Wind, als er Lilje um eine neue, positiv wertende Übersetzung des griechischen Wortes „exousia“, bei Luther „Obrigkeit“, bat. Im Bezug auf die DDR erklärte Dibelius: „Von Machthabern eines totalen Staates soll man nicht als von ,Obrigkeit‘ reden.“ Und: „Machthaber eines totalitären Regimes als ,Obrigkeit‘ zu bezeichnen, wäre ein Hohn auf die deutsche Sprache.“ Als neue, seiner Meinung nach sinngemäße Übersetzung für Römer 13, 1 schlug Dibelius vor: „Rechtmäßige Gewalt soll bei jedermann Gehorsam finden!“ oder: „Jeder füge sich in die Ordnungen ein, die von der rechtmäßigen Gewalt gesetzt sind!“63 Mit diesen eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmten Äußerungen entfachte Dibelius eine ungewöhnlich heftige Diskussion innerhalb der EKD, wobei er vor allem Widerspruch erntete, besonders von den Theologen.64 Nachdem er bereits einige Äußerungen ausdrücklich zurückgenommen hatte, befasste sich auch die Synode der EKD auf ihrer Tagung im Februar 1960 mit der Schrift des Bischofs.65 Obwohl die Synode, wie schon mehrmals in der Vergangenheit, sich geschlossen gegen die Diffamierung des Ratsvorsitzenden durch die DDRPresse wandte66, wurden die theologischen Meinungsverschiedenheiten offen ausgetragen. So forderte Professor Helmut Gollwitzer ein eindeutiges Bekenntnis der Synode zu ihrer Theologischen Erklärung von 1956, um die Lehre der Kirche in diesem Punkt nicht fragwürdig erscheinen zu lassen. Nicht in Zweifel gezogen werden dürfe auch die Stellung der Christen in der DDR zu ihrem Staat, die bisher mit folgender Aussage zu umschreiben gewesen sei: „Wir sind als Christen zwar in hartem Gegensatz zu der Weltanschauung, an die sich dieser Staat leider gebunden hat, und damit zu vielen seiner Methoden und Maßnahmen. Wir sind außerdem der Hoffnung, daß dieser Staat, ebenso wie der westdeutsche, eines Tages einmündet in einen gesamtdeutschen Staat. Aber wir sind nicht Staatsfeinde, sondern loyale Bürger der DDR.“67
2.2 Die Widerstandspflicht der Christen in der DDR Dass die Synode den SED-Staat fast einmütig als von Gott gesetzte Obrigkeit anerkannte, könnte den Anschein erwecken, die evangelische Kirche habe letztlich doch die Tradition der Bekennenden Kirche aufgegeben. Stattdessen geriet die evangelische Lehre vom Widerstand gegen eine tyrannische Obrigkeit in der Nachkriegszeit nicht nur nicht wieder in Vergessenheit, sondern wurde in der gesamten Kirche und auch in der Synode68 viel diskutiert und somit vervollkommnet. Die Theologische Erklärung von 1956 suchte die Gläubigen mit dem Bekenntnis zu ermutigen, dass das Evangelium dazu befreie, im Glauben jeglichen Totalitätsanspruch menschlicher Macht abzulehnen. Meist wurde damit die sog. clausula Petri aus der Apostelgeschichte aufgegriffen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“.69 In einem grundlegenden Vortrag über die öffentliche Verantwortung des Christen ging Martin Fischer 1952 vor der Synode in Elbingerode prononciert auch auf die Widerstandspflicht im ideologisierten Staat ein: „Widerstand gegen die Obrigkeit ergeht […] in Anerkennung ihrer Funktion, nie aus
Abb. 5: Günter Jacob (1906–1993), 1946–1967 Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche in der Neumark und der Niederlausitz, 1963–1967 Verwalter des Bischofsamtes der Ostregion der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg.
332 Gründen grundsätzlicher Revolution.“70 Und weiter: „Ist der Staat durch eine Ideologie über […] seine Funktion so hinweggeschritten, daß er nicht mehr der Erhaltung des Menschen dient, sondern daß die Menschen zur Erhaltung seiner ideologischen Postulate zu dienen haben, so haben die Christen mit ihren Werken an der Ideologie vorbei das Fällige, das Notwendige, das Gute zu tun und notfalls in solcher Tätigkeit zu leiden.“71 Nach einer für den kirchlichen Sprachgebrauch ungewöhnlich scharfen Kritik am „ideologisierten“ Staat und an den Verstößen gegen die Menschenrechte im SED-Staat erklärte Fischer immerhin auf dem Territorium der DDR: „Das bekannte Wort, daß sich zu Zeiten, in denen die Freiheit leidet, die Besten eines Volkes im Gefängnis treffen, sollte daran erinnern, daß es keine Ehre wäre, wenn die Christen in Gefängnissen fehlten.“ Und weiter: „Es kann ,Dienst‘, d. h. gebotener Gehorsam gegen Gottes Gebote sein, daß Christen sich eben dort befinden […]“.72 So sehr aber der einzelne Christ sich aufgerufen fühlen sollte, vor seinem Gewissen zu prüfen, ob im konkreten Fall Widerstand geboten sei, war es doch für die evangelische Kirche als ganze unmöglich, dem Staat aktiv zu widerstehen, erst recht in der Situation Deutschlands nach 1945. Günter Jacob, Generalsuperintendent der Berlin-Brandenburgischen Kirche, warnte in seinem Vortrag auf der außerordentlichen Synodentagung 1956 in der Berliner Marienkirche davor, die Kirche in die „Rolle eines politischen Widerstandszentrums“ und „ins Zwielicht der Ressentiments und Antiaffekte“ zu stellen. „Äußerungen aus der westlichen Welt wie die, daß die christlichen Kirchen in unserem Raum die stärksten Bollwerke gegen den Kommunismus seien, liegen in ihrer Primitivität auf dieser fatalen Linie.“73 Zusammengefasst bleibt festzuhalten, dass die Synode der EKD in ihrer überwiegenden Mehrheit in Übereinstimmung mit der modernen evangelischen Theologie jede Obrigkeit als „institutum Dei“, als von Gott eingesetzt, versteht.74 Aber um der Menschen willen, nicht um der äußeren Erhaltung der Kirche oder um der Bewahrung des Glaubens willen75, kam die Pflicht des Christen in Betracht, auf eigene Verantwortung „dem Staate den Dienst zu tun, vom Evangelium her ihm zum Verständnis seiner selbst zu verhelfen […]“76, und „unter Umständen“ könne „er nur noch so Gottes Willen erfüllen“.77 2.3 Die aktuellen Stellungnahmen der Synode und der Synodalen. Zur Lage der Bevölkerung in der DDR Lob oder Kritik an der Haltung und am Handeln der evangelischen Kirche in der DDR müssen an ihrem Selbstverständnis gemessen werden. Deshalb sind auch alle Stellungnahmen der Synode und einzelner ihrer Mitglieder zur Lage der Bevölkerung oder zur Behinderung des kirchlichen Dienstes in der
DDR vor dem theologischen Hintergrund des Auftrags zu würdigen, den sie in der Welt zu erfüllen hat: Gottes Gnade zu verkündigen und den Menschen zu helfen.78 2.3.1 Stellungnahmen für die Internierten und politischen Gefangenen In den ersten Nachkriegsjahren waren die von den Besatzungsmächten zunächst mehr oder minder mit Wohlwollen betrachteten Kirchen79 die einzigen deutschen Institutionen, die es, ohne um ihr Fortbestehen fürchten zu müssen, wagen konnten, für die Entlassung oder gerechte und humane Behandlung der Kriegsgefangenen, in Lagern Internierten und politischen Gefangenen öffentlich einzutreten.80 Im Rückblick irritiert jedoch, dass sich die EKD und einzelne ihrer Repräsentanten bis über die Gründung der beiden deutschen Staaten hinaus kaum für die Opfer des Nationalsozialismus, wohl aber gegenüber den vier Besatzungsmächten intensiv auch für die wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten und verurteilten Täter engagierten und sich in den Westzonen sogar von deren Anwälten instrumentalisieren ließen.81 Neben anderen Kirchenführern wie den Bischöfen Otto Dibelius, Hans Meiser, Hanns Lilje und dem Kirchenpräsidenten Martin Niemöller profilierte sich schon vor dem Nürnberger Prozess als ein Fürsprecher der Angeklagten alsbald vor allem Landesbischof Theophil Wurm als der erste Vorsitzende des Rates der EKD. Zeitgleich mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis bat er im Oktober 1945 die christlichen Kirchen des Auslands, „darauf zu achten, daß die Siegermächte sich nicht derselben Verstöße gegen Recht und Gerechtigkeit, gegen Barmherzigkeit und Menschlichkeit schuldig machen, die die Welt mit Recht dem nationalsozialistischen Regime zum Vorwurf macht“.82 Die Eisenacher Kirchenversammlung von 1948 beschloss ein Wort zur deutschen Not, in dem es hieß: „Drei Jahre nach dem Kriege sind immer noch nicht alle Kriegsgefangenen in die Heimat zurückgekehrt. Tausende werden ohne öffentlichen Richterspruch in Lagern gefangengehalten. Immer wieder werden Menschen unseres Volkes zur Arbeit in anderen Ländern genötigt. Wir bitten, diesem Zustand ein Ende zu machen.“83 Wenn dieses Wort auch noch mehr oder weniger an alle vier Besatzungsmächte gerichtet war, so wandte sich Bischof Dibelius im Rechenschaftsbericht des Rates vor der Synode der EKD 1950 in Berlin-Weißensee ausschließlich an die Adressen der Sowjetunion und der DDR: „Internierungslager unter der Verwaltung einer Besatzungsmacht hat es gegen Ende des Berichtsjahres nur noch in der Ostzone gegeben.“ Ein erheblicher Teil der Internierten sei auf die Initiative des Rates hin entlassen worden, die übrigen, vor allem viele Jugendliche, seien in der Mehrheit in die Verant-
333 wortung der DDR übergeben worden. „[…] es sei auch hier noch einmal mit Nachdruck wiederholt, daß die evangelische Kirche es für unvereinbar mit den elementaren Geboten der Menschheit [sic – C. S.] hält, daß in Friedenszeiten Konzentrationslager bestehen, in denen Menschen jahrelang auf einen Urteilsspruch warten müssen, ihren Angehörigen keine Nachricht geben und sich nicht nach den allgemein anerkannten Regeln des Rechts verteidigen können. Über die Leiden, denen Ungezählte in den Lagern ausgesetzt waren, und über die hohe Sterblichkeit erübrigt sich jedes Wort. […] In Lagern, die der festen Rechtsgrundlage entbehren, ist die Versuchung, die Gewalt zu mißbrauchen, so ungeheuer groß, daß schon deshalb diese Einrichtung von dem Gewissen der Christenheit entschlossen bekämpft werden muß.“84 Obwohl die evangelischen Kirchen gerade für die politischen Gefangenen bei den Besatzungsmächten das Meiste auf diplomatischem Wege unternahmen und erreichten, gab es dennoch 1954, nach der besonderen Verschärfung, die in der DDR dem „Neuen Kurs“ des Sommers 1953 folgte, erneut Anlass dafür, dass Dibelius im Rechenschaftsbericht vor der Synode bekannte, dass „unser ganzes Herz den politischen Gefangenen gehört. […] Wir lassen uns nicht dadurch irremachen, daß man uns entgegenhält, das seien alles Verbrecher, und keiner werde verurteilt, der seines Verbrechens nicht überführt sei.“85 2.3.2 Stellungnahmen gegen die Verletzung der Grundrechte Im gleichen Bericht wandte sich der Ratsvorsitzende Bischof Dibelius mit scharfen Worten auch prinzipiell gegen die politische Justiz in der DDR und „die Tatsache, daß wir doch noch immer keine Rechtssicherheit um uns haben“.86 Bereits 1952 hatte Martin Fischer in Elbingerode festgestellt: „Das Vertrauen zur Rechtsprechung ist für diesen Raum gründlich erschüttert.“87 Fischer verteidigte auch die Grundrechte des Menschen, wie sie in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen oder ebenso, wenn auch verstreut, in der Verfassung der DDR festgelegt waren88, als er gegen die persönliche Verunglimpfung der Gegner des SED-Regimes scharf protestierte: „In ideologisch bestimmten Staaten gibt es keinen achtbaren Gegner, dem gegenüber ritterlicher Kampf geboten sein könnte. Das schimpfende Herabsetzen zur vollendeten Ehrlosigkeit gehört in die Logik des Systems.“ Die Kirche aber müsse „Anwalt der Rechtlosen“ sein.89 Mit besonderem Nachdruck wandten sich die Synodalen wiederholt gegen den vom Staat ausgeübten Gewissenszwang.90 Unter anderem wurde verschiedentlich verlangt, die staatlichen Organe sollten
aufhören, Bürger zum Spitzeldienst zu nötigen.91 Wie während der Beratungen des Grundgesetzes an den entstehenden westdeutschen Staat richtete die EKD seit 1950 die Forderung auch an die DDR, verfassungsmäßigen Schutz für Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu gewähren.92 In der Kundgebung der Synode an die Gemeinden in ganz Deutschland von 1952 heißt es dazu: „Den Vielen […] unter euch, die sich in einer Lage sehen, in der sie nur mit verletztem Gewissen zur Waffe greifen könnten, sagen wir noch einmal, daß wir gewillt sind, nicht nur in der Fürbitte vor Gott, sondern auch vor den politischen Instanzen für die einzutreten, die aus Gründen des Gewissens den Kriegsdienst verweigern.“93 Im hier behandelten Zeitraum zeigte die Regierung der DDR in dieser Frage kein Entgegenkommen, wobei das Begehren der EKD besonders akut wurde, als die DDR im Herbst 1961 die allgemeine Wehrpflicht einführte. Mehrfach nahmen die Synode und die Synodalen auch öffentlich Stellung gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Verletzung von Eigentumsrechten in der DDR.94 Die Behinderung der Redefreiheit ging sogar so weit, dass die Synodalen aus der DDR dort von der Presse und von organisierten „Protesten aus der Bevölkerung“ aufgefordert wurden, vor der Synode bestimmte politische Ansichten zu vertreten, und ihnen mit Repressalien gedroht wurde, sollten sie den Forderungen nicht folgen. Auf diese Versuche, in die Arbeit der Synode einzugreifen, wies 1955 in Espelkamp Ludwig Raiser hin, als Jura-Professor und seit 1951 als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, von 1949 bis 1973 einer der einflussreichsten Synodalen: „Wir müssen uns […] klar darüber sein, daß unsere Brüder aus dem Osten hier in der öffentlichen Aussprache ihr Wort nicht mit der Deutlichkeit und dem Gewicht zum Ausdruck bringen können, um die wir gerade sie in dieser unserer schweren Not ganz besonders bitten möchten.“95 Als die Tagung der Synode 1958 in beiden Teilen Berlins eröffnet wurde, inszenierten in der Auseinandersetzung um den Militärseelsorgevertrag mit der Bundeswehr und um deren Atombewaffnung offizielle Stellen der DDR vor dem Sitzungssaal sogar Demonstrationen, die aber letztlich die Entscheidungsfreiheit der Synode nicht einschränken konnten.96 2.3.3 Stellungnahmen zur Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik des Staates In den öffentlichen Kundgebungen der Synode der EKD zur Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik ist es hingegen nicht immer leicht zu unterscheiden, welche Aussagen auf die Bundesrepublik oder die DDR gemünzt waren. So waren die wiederholten Forderungen der Synode, den Menschen als der Wirtschaft übergeordnet zu sehen, und der Dank an den Gesetzgeber für den Schutz des Sonntags und
334 damit auch der Freizeit der Arbeitnehmer durchaus nach Ost und West gerichtet.97 Anscheinend neutral formulierte die Theologische Erklärung der Synode von 1956: „Das Evangelium widerstreitet jedem Versuch, eine bestimmte menschliche Gesellschaftsordnung als absolut zu behaupten und sie mit Gewalt als letztes Ziel der Menschheit durchzusetzen.“98 Doch in der politischen Realität gehörte mehr Mut dazu, eine solche theologische Auslegung in Rostock oder Leipzig statt in München oder Hamburg von der Kanzel zu verlesen oder auch nur in einer Kirchenbank anzuhören. Martin Fischer setzte sich 1952 in einem bereits mehrfach zitierten Vortrag für eine bessere Altersversorgung in der DDR ein und knüpfte daran eine totale Verurteilung ihres Wirtschaftssystems an: „ […] auch zurückliegende Arbeit verdient Ehre. Um des Menschen willen muß der Überwertung des Nutzens und der Unterwertung des Menschen widerstanden werden. Offenbar ist das soziale Problem keineswegs nur ein Problem der privatkapitalistischen Länder, sondern möglicherweise in verstärktem Maße in Ländern, die das Kapital in die Hände des Staates zur Entscheidung seiner Führer legten. Unerträglich werden die sozialen Verhältnisse, wenn im Staatskapitalismus eine totale Bürokratie sich mit der Doktrin verbündet und in erbarmungsloser Logik am Menschen vorbei den Apparat bedient. Die Sozialisierung ist im Ansatz gefährdet, wenn sie mit Verunglimpfung verbunden ist.“99
dass weder Staat noch Kirche die Eltern von ihrer spezifischen Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder befreien könnten.103 Eine der wichtigsten Forderungen der EKD an die DDR-Führung war folglich, den Eltern das in der Verfassung der DDR verankerte Recht zur christlichen Erziehung ihrer Kinder zu gewährleisten.104 Grundsätzlich bestand die evangelische Kirche nicht auf der Einrichtung einer bekenntnisgebundenen Schule. Wohl aber bezeichnete Günter Jacob vor der Synode von 1956 das konkrete Dilemma christlicher Eltern in der DDR: „Daß die Nichtchristen ihre Kinder in einer Schule wissen wollen, in der das Evangelium nicht laut wird, ist selbstverständlich. Es ist aber ebenso selbstverständlich, daß die christlichen Eltern darunter leiden, wenn ihre getauften Kinder in einer Schule aufwachsen müssen, die nicht etwa weltanschaulich neutral ist, sondern im Unterricht das klare Ziel hat, die Kinder zum dialektischen Materialismus und d. h. also unter Berufung auf die Wissenschaft zum Atheismus zu führen. In der Literatur wird ja in aller Offenheit immer wieder die entscheidende Bedeutung der kommunistischen Erziehung für die endgültige Überwindung der religiösen Überreste unterstrichen.“ Die Kirche dürfe solche Spannungen im Verhältnis zum Staat keinesfalls bagatellisieren.105
2.3.4 Stellungnahmen zur Jugenderziehung des Staates, insbesondere zur Jugendweihe
Dass es der Synode in ihrer Kritik der staatlichen Jugenderziehung keineswegs vorrangig um die Selbstbehauptung und die Wahrung der Interessen der Kirche ging, sondern um die evangeliengemäße Funktion der Obrigkeit, zeigte sie mit dem Wort zur Schulfrage, das sie 1958 beschloss. Darin benannte es die Synode erneut ausdrücklich als die Pflicht des Staates, die Freiheit der Erziehung zu gewährleisten, aber mahnte zugleich: „Wo immer der Staat diese Freiheit verletzt und die Schule zu einem Instrument einer Weltanschauung macht, die mit Zwang durchgesetzt werden soll, untergräbt er seine eigene Autorität. Dann wird der Lehrer zum Funktionär und Techniker, der nicht mehr glaubwürdig erziehen kann. Die Kinder aber werden verführt, nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen, sondern immer die zweckmäßige Antwort zu suchen, die ihnen das Fortkommen sichert und die Existenz ihrer Eltern nicht gefährdet. So wird der Mensch nicht erzogen, sondern zerstört […]“.106 Die Schärfe der Kritik der evangelischen Kirche galt also dem Gewissensdruck, den der Staat durch seine Schulpolitik auf Kinder und Jugendliche ausübte. Denn in der Schule wurde ja nicht nur im Sinn des MarxismusLeninismus gelehrt, sondern die Kirche wurde obendrein weniger durch gesetzliche Regelungen als vielmehr durch alle möglichen praktischen Schwierigkeiten, die ihr staatliche Behörden bereiteten, am Erteilen von Religionsunterricht gehindert.107
In der erwähnten Entschließung zu Fragen der Ehe und Familie von 1954 erklärte die Synode auch,
Im Westen bekannt wurden die kompromisslosen Stellungnahmen der evangelischen Kirchen-
1954 referierte der Synodale Walter Knaut, ein Rechtsanwalt aus Calbe, vor der Synode in Berlin-Spandau über die Familiengesetzgebung der DDR und kam zu dem Schluss: „Eine neutrale Sorge für die Familie im Sinne rein administrativer Wohlfahrtspflege entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers in der Deutschen Demokratischen Republik. Die oft zitierte ,Sorge um den Menschen‘ bedeutet Förderung der Arbeitsfreude, des Arbeitsenthusiasmus, wie man gern sagt, und der Bereitschaft, sich am sozialistischen Aufbau zu beteiligen. Die Fürsorge des Staates der Ehe, Familie und Kinder hat keinen anderen Inhalt.“100 Die Synode verabschiedete dann eine Entschließung zu Fragen der Ehe und Familie, in der betont wurde, dass die Familienpolitik von den evangelischen Christen auch danach beurteilt werden müsse, ob der Staat sie „familienfremden Zielen und Ideologien unterordnet“.101 Und nach einer theologischen Begründung der Ehe hieß es: „Das staatliche Recht sollte diese innere Ordnung der Ehe am besten unberührt lassen.“102
335 leitungen gegen die seit November 1954 von der DDR geförderte Jugendweihe, die von ihren Initiatoren zwar als weltlicher feierlicher Eintritt „ins Leben“ gedacht war, aber nicht ausschließlich als Schlag gegen die Konfirmation. Die Haltung der offiziellen kirchlichen Gremien zur Jugendweihe blieb auch innerhalb der evangelischen Kirche nicht ohne Kritik, zumal vielen Christen und auch manchen Theologen die Einrichtung der Konfirmation in der praktizierten Form theologisch fragwürdig geworden war.108 Gerade der „Angriff von außen“ zwang alsbald die Kirchen und Gemeinden in ganz Deutschland, die bisher übliche Form der Konfirmation völlig neu zu überdenken. Als ein erstes Ergebnis der Beratungen wurde z. B. 1960 in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen eine neue Konfirmationsordnung eingeführt.109 Seit 1955 war die Jugendweihe ein stets wiederkehrendes Thema auf den Tagesordnungen der Synode der EKD. 1955 auf der ersten Tagung der zweiten Synode in Espelkamp verurteilte Bischof Dibelius im Rechenschaftsbericht des Rates scharf „diese massenhaften Vereidigungen“, die er mit ähnlichen nationalsozialistischen Veranstaltungen verglich. Zur Reaktion der Landeskirchen und der Pfarrerschaft in der DDR stellte er fest: „Wir haben uns einmütig dazu entschlossen, zu erklären: wer zu dieser Jugendweihe geht, kann nicht konfirmiert werden.“ Und: „Die evangelische Pfarrerschaft des Ostens hat sich mit einer Einmütigkeit, wie wir sie kaum jemals in diesen Jahren erlebt haben, um diese Parole geschart.“ Somit sei „dieser neue Schlag gegen die Kirche ein Schlag ins Wasser“ geworden.110 Gegen eine solche Interpretation des Geschehens wandte sich beispielsweise Johannes Hamel, von 1946 bis 1955 Studentenpfarrer in Halle und 1953 für mehrere Monate inhaftiert: „Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß dieser ,Sieg‘ darauf beruhte, daß die Gegenseite im Jahr 1954/55 verhältnismäßig schlecht präpariert war.“ Besonders prangerte Hamel die Inkonsequenz an, dass Kirchenzucht ausgerechnet gegenüber Eltern geübt wurde, die aus Furcht vor Nachteilen ihre Kinder zur Jugendweihe schickten, nicht aber z. B. gegenüber Kirchengliedern oder gar Pfarrern, die der SED angehörten. So sehe es danach aus, als wolle man mit der Kirchenzucht eine ohnehin für viele zweifelhaft gewordene kirchliche Sitte verteidigen, statt zu einer wirklichen Gewissensentscheidung in dieser Frage zu helfen.111 Vertreter der Kirchenleitungen bemühten sich in Verhandlungen mit den staatlichen Behörden der DDR über die Fragen der schulischen Erziehung und der Handhabung der Jugendweihe mehrfach darum, „daß den Beschwernissen der Kirche im Rahmen des Möglichen bei einer künftigen gesetzlichen Regelung Rechnung getragen“ werde.112 Verschiedentlich erhielten sie auch Zusagen, an die sich die
DDR in ihrer Schulpolitik in der Folge aber nicht gebunden fühlte.113 Stattdessen verstärkte sich wegen der Jugendweihe von Jahr zu Jahr der Druck von Seiten des Staates auf Eltern und Kinder, so dass von allen aus der achtklassigen Grundschule entlassenen Schülern 1955 15 Prozent, 1958 aber bereits 47 Prozent, in den Stadtkreisen sogar 50 bis 65 Prozent an der Jugendweihe teilgenommen haben sollen.114 Eine weltanschauliche Konzession, die auf eine Initiative des früheren Volksbildungsministers Paul Wandel zurückging, immerhin eines Mitglieds des Zentralkomitees der SED, wurde rasch wieder außer Kraft gesetzt: Er hatte veranlasst, das betont antireligiöse Buch Weltall, Erde, Mensch, das allen Jugendlichen bei der Jugendweihe überreicht wurde, durch einen weltanschaulich relativ neutralen Bildband Unser Deutschland zu ersetzen, und wurde vor dem Zentralkomitee dafür von Generalsekretär Walter Ulbricht persönlich heftig kritisiert.115 Die Synode revidierte ihre Haltung gegenüber der Jugendweihe zwar nicht ausdrücklich, doch ordnete sie in ihren Verlautbarungen der Tagungen von 1957, 1958 und 1960 die Vorbereitung und den feierlichen Akt der Jugendweihe stärker in den Rahmen der gesamten Jugenderziehung der DDR ein, was natürlich auch den Zielsetzungen des Staates entsprach. Mit dieser Sichtweise wurde es der Synode immerhin möglich, unbefangener und der Sache angemessener zu urteilen: So protestierte sie entsprechend dem kirchlichen Verkündigungsauftrag um des Gewissens christlicher Eltern und Kinder willen zwar weiterhin gegen die einseitige weltanschauliche Ausrichtung des gesamten staatlichen Bildungssystems, vermied aber zugleich den Eindruck, als ecclesia semper reformanda, „stets von neuem zu reformierende Kirche“, nur eine theologisch anfechtbare Tradition bewahren zu wollen, wie sie die Bestätigung der Taufe von Kleinkindern durch die Konfirmation von Vierzehnjährigen darstellt. 1957 berichtete Günter Jacob vor der Synode von den Gewissensnöten christlicher Eltern wegen der atheistischen Erziehung der Kinder in den Schulen und vom „Zwang zum wöchentlichen Fahnenappell, der zumeist unter der Fahne der FDJ abgehalten wird, also unter der Fahne einer Organisation, die laut Statut sich u. a. den Kampf gegen den sog. Aberglauben zum Ziel gesetzt hat.“116 1960 legte Präses Joachim Beckmann der Synode einen Bericht über die Arbeit des Ausschusses für Erziehungsfragen vor, der die am 12. November und 2. Dezember 1959 in der DDR erlassenen Verordnungen und Gesetze über das Schulwesen scharf kritisierte, da „das Schulgesetz den sich atheistisch verstehenden Sozialismus im Sinne des Marxismus-Leninismus zur Grundlage des Bildungsprogramms der Schule“ erhebe.117 Dass die Synodalen
336 nicht willens waren, diese Entwicklung der Schule in der DDR unwidersprochen hinzunehmen, belegen Sätze aus Beckmanns Bericht: „Die durch das Schulgesetz geschaffene Lage legt dem Gewissen christlicher Eltern und Lehrer neue schwere Lasten auf. Deshalb bittet der Erziehungsausschuß der Synode die Kirchen, alles zu tun, die evangelischen Eltern in ihrer Verantwortung für die Kinder zu bestärken. Es muß ihnen neuer Mut gemacht werden, in Elternversammlungen und in Begegnungen mit den Lehrern für ihre Kinder einzutreten und die verfassungsmäßig garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit zu fordern […]“118 Und bereits 1958 hatte die Synode in einem Wort zur Schulfrage beschlossen: „Die Kirche erinnert an die Freiheit, zu der allein Christus befreit119, an die hohen Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung. Wird sie nicht gehört, so wird sie sich nicht erbittern lassen, sondern dennoch dazu helfen, daß Menschen heranwachsen, die im Ganzen der Gesellschaft dienen, ohne ihren Glauben zu verleugnen.“120 2.4 Die aktuellen Stellungnahmen der Synode und der Synodalen zur Behinderung des kirchlichen Dienstes in der DDR Das Jahr 1945 brachte für die evangelische Kirche im ruinierten und flächenmäßig drastisch reduzierten Deutschland nicht nur das Ende des Krieges und die Befreiung vom totalen Staat des Nationalsozialismus. Vielmehr hießen viele Christen die Freiheit der Kirche von jeglicher staatlicher Bevormundung willkommen. In Westdeutschland wurde die evangelische Kirche seit 1945 und besonders seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 in jeder erdenklichen Weise vom Staat gefördert. Sie ist auch, was ihre äußere Gestalt und anerkannte Geltung betrifft, „nie […] repräsentativer und würdevoller in Erscheinung getreten als heute“.121 Gerade darin aber sahen manche Theologen schon Mitte der fünfziger Jahre eine „geistliche“ Herausforderung mit politischen Folgen, wenn die Kirche „die Luft dieser positiven Toleranz als das gottgewollte Normalklima hinnimmt und damit die Gefahr einer inneren Anfechtung für die heraufbeschwört, die unter ganz anderen äußeren Verhältnissen ihre ,protestantische Existenz‘ beweisen müssen“.122 Deshalb wurde in den Diskussionen und Beschlüssen der Synode der EKD nie die Situation der Kirchen in der Bundesrepublik als etwa zu erstrebender Status der Landeskirchen in der DDR dargestellt. Gerade die Bekennende Kirche und die Gemeinden auf dem Territorium der DDR waren für viele Christen und auch die Synodalen der EKD Beweis genug, dass christliches Leben auch ohne staatliche Unterstützung und notfalls gegen staatlichen Druck möglich war. Bei einer zahlenmäßig beachtlich großen Gruppe prominenter evangelischer Theologen und Synodaler führte diese Erkenntnis sogar zu einer scharfen Kritik der „Konfessionalisie-
rung“ des öffentlichen Lebens und der politischen Ideologisierung des Christentums in der Bundesrepublik. „Wenn man bei 6 Prozent Kirchenbesuchern so tut, als ob 92 Prozent der Menschen Christen wären, so ist das absolute Falschmünzerei“, polemisierte Martin Niemöller 1956 vor der Synode.123 Doch überhaupt ging es den Synodalen in ihren Stellungnahmen zur Behinderung des kirchlichen Dienstes in der DDR nicht darum, „irgendwelche Zeiten eines Öffentlichkeitsanspruchs einer Staatskirche zurückzuzaubern“.124 Stattdessen wäre die evangelische Kirche durchaus zufrieden gewesen, hätte sie die in der Verfassung der DDR von 1949 fixierten Rechte der Religionsgemeinschaften wahrnehmen können.125 Doch konnte sie sich in ihrer Verkündigung und Diakonie nicht einengen und zu einem „Institut zur Pflege religiöser Gefühle“ machen lassen, wie es der marxistischen Auffassung von der Kirche entsprochen hätte.126 Günter Jacob wandte sich 1956 direkt an die in der DDR Regierenden: „Wir können dem Staat nur sagen, welche Bewegungsfreiheiten die Kirche im Dienst des Evangeliums wahrnehmen wird, weil sie durch den Gehorsam gegen ihren Herrn dazu verpflichtet ist.“127 2.4.1 Stellungnahmen gegen die Behinderung der kirchlichen Verkündigung und Seelsorge Obwohl bis 1961 vor der Synode nie über die Behinderung von Gemeindegottesdiensten, kirchlichen Frauen- und Männerkreisen, Konfirmandenstunden und ähnlichen Veranstaltungen in kircheneigenen Räumen geklagt wurde, wurde Gemeinden in der DDR dennoch vielfach die Freiheit der Verkündigung beschnitten und häufig die Seelsorge verwehrt. Nach den Äußerungen von Synodalen wurde die evangelische Kirche vor allem am Erteilen von Religionsunterricht und an der Verkündigung und Seelsorge in staatlichen und kommunalen Krankenhäusern und Altersheimen, in Strafanstalten, unter der Kasernierten Volkspolizei und später der Nationalen Volksarmee oder auch in Stalinstadt, seit 1962 Eisenhüttenstadt, der „ersten sozialistischen Stadt“ der DDR, gehindert. Jugendliche Christen, die in der Jungen Gemeinde oder in der Studentengemeinde zusammenkamen, hatten – mit einer kurzen Unterbrechung nach dem 10. Juni 1953 – stets unter besonderen Erschwernissen zu leiden. Da der Kirche Baulizenzen oder Ausweichräume wie Schulräume, Gemeindesäle oder Gastwirtschaften meist verweigert wurden, fehlten vielen Kirchengemeinden Räume für ihre Veranstaltungen.128 Auch wurden Tagungen und Zusammenkünfte, die über einen Gemeindebezirk hinausgingen, selten genehmigt.129 In ihrem Bericht zur Lage der Kirche in der DDR monierte die Synode zudem die Behinderungen der kirchlichen Pressearbeit. Zum Teil wurde die kirchliche Presse verboten. So durfte seit Anfang 1953 keine evangelische Jugendzeitschrift mehr erscheinen, und
337 Ost und West 1956 und 1957 noch bewusst den Abschluss des Vertrages durch die EKD als Bestätigung der Einheit der deutschen evangelischen Christenheit angesehen und deshalb befürwortet hatte, wurde der Druck des Staates auf die Gliedkirchen in der DDR 1957/58 so stark, dass die Synode 1958 schleunigst erklärte, dass der Vertrag nur die westdeutschen Landeskirchen binde und die Kirchen in der DDR von der Verantwortung für das Abkommen befreit seien.133 Als Demonstration der Einheit der EKD war der Abschluss des Militärseelsorgevertrages also denkbar ungeeignet gewesen, und die zusätzliche Gefährdung der Kirchen und Gemeinden in der DDR hätte durch die Leitung der EKD abgeschwächt werden können, wenn von vornherein allein die westdeutschen Landeskirchen den Vertrag mit der Bundesregierung ausgehandelt hätten. Die Reaktion der DDR war jedenfalls zweifellos vorauszusehen gewesen.
Abb. 6: Otto Dibelius als Ratsvorsitzender der EKD 1957 nach der Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrages für die Bundeswehr mit Bundeskanzler Konrad Adenauer.
2.4.2 Stellungnahmen zur wirtschaftlichen Lage der Kirche in der DDR und zur Behinderung der kirchlichen Diakonie
generell hatten kirchliche Presseorgane krasse Begrenzungen ihrer Auflage hinzunehmen.130 Nicht immer betrafen die Behinderungen alle Gemeinden und Landeskirchen gleichermaßen, und selbstverständlich kamen auf den Tagungen der Synode der EKD, des höchsten „parlamentarischen“ Gremiums der gesamtdeutschen evangelischen Kirche, nur die für das Verhältnis von Staat und Kirche tatsächlich bedeutsamen Gravamina zur Sprache. Den täglichen „Kleinkrieg“ mit den staatlichen Organen hatten hingegen die Landeskirchen und Gemeinden in der DDR auszutragen. Und, wie erwähnt, waren die öffentliche Diskussion und der förmliche Protest nicht immer die geeigneten Mittel, die staatlichen Behörden zur Aufhebung von Maßnahmen zu veranlassen, die die Kirche bedrängten.
Die wirtschaftliche Notlage und eine mangelhafte Versorgung der Bevölkerung, bis 1948/49 noch über ganz Deutschland verbreitet, hielten in der DDR bis weit in die fünfziger Jahre an. Unter dieser Voraussetzung konzentrierte sich die Diakonie der EKD, die schon im August 1945 in Treysa das Evangelische Hilfswerk gegründet hatte, eindeutig auf die Gemeinden in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR. Eugen Gerstenmaier, der damalige Leiter des Hilfswerks, bedauerte 1950 vor der Synode in Berlin-Weißensee, dass es „nur mit unendlichen Schwierigkeiten“ möglich sei, die Liebesgaben des Hilfswerks, die zu jener Zeit noch vornehmlich aus ausländischen Spenden bestanden, in die „Ostzone“ gelangen zu lassen.134 Auch in der Folgezeit mühte sich die EKD überwiegend vergeblich darum, die Gemeinden und Kirchen in der DDR offiziell und in einem größeren Umfang wirtschaftlich unterstützen zu können.135
In eine besonders schwierige politische Situation geriet die EKD, als die Synode 1957 zwar einem Militärseelsorgevertrag mit der Bundesrepublik nach dessen Inkraftsetzung zustimmte, sich die DDR-Regierung aber weigerte, über ein ähnliches Abkommen mit der Kirche zu verhandeln.131 Für die Kirche war ausschlaggebend, dass sie sich für die Verkündigung und die Seelsorge unter den Christen in Uniform verantwortlich fühlte. Doch für die Regierung der DDR war der Abschluss des Militärseelsorgevertrages mit der Bundesrepublik ein willkommener Anlass, in ihrer Propaganda die Kirchenleitungen und alle, die sich nicht öffentlich von dem Vertrage distanzierten, als Helfershelfer der NATO und somit als Feinde der DDR zu diffamieren.132 Nachdem eine Mehrheit der Synodalen aus
Die missliche wirtschaftliche Lage der Landeskirchen in der DDR rührte vor allem daher, dass die Einnahmen aus Staatszuschüssen, Kirchensteuern und Sammlungen durch unterschiedliche Behinderungen von Seiten des Staates krass vermindert worden waren.136 Vor der Synode von 1954 berichtete Bischof Dibelius, dass die Staatszuschüsse an die Kirche seit Anfang 1953 unvermittelt überhaupt nicht mehr gezahlt wurden und im Rahmen des „Neuen Kurses“ seit dem 10. Juni 1953 nurmehr zu 70 Prozent.137 „Haus- und Straßensammlungen werden nur sehr zögernd, wenn überhaupt, genehmigt. […] Wir rechnen für das laufende Jahr mit einem Gesamtverlust von 20 Millionen DM gegenüber früheren Jahren. Die Gehälter der Geistlichen und der Emeritierten und Witwen, der Katecheten und Or-
338 ganisten stehen auf einem Niveau, das geradezu unerträglich geworden ist. Vor einiger Zeit kam ein Arbeiter zu seinem Pfarrer und sagte: ,Herr Pastor, in dem Anzug, den Sie anhaben, können Sie nicht länger gehen; hier haben Sie 300 Mark von mir, kaufen Sie sich einen neuen!‘ Ein solches Beispiel sagt mehr als alle langen Ausführungen.“138 Zu einem erheblichen Problem wurde es für die evangelischen Landeskirchen in der DDR, dass die staatlichen Finanzbehörden ihre Mitwirkung bei der Erhebung der Kirchensteuer versagten und die Kirchen organisatorisch überhaupt nicht darauf vorbereitet waren, Steuern einzuziehen. Außerdem wurde der Kirche diese Tätigkeit noch dadurch erschwert, dass ihr die Einsicht in die staatlichen Steuerunterlagen verwehrt wurde. „Durch eine Verfügung des Justizministers wird sogar die Kirchensteuer zu einer Forderung gemacht, die nicht durchgesetzt werden kann, also rechtlich einer Spielschuld gleichgestellt […]“.139 Neben den Beschränkungen der kirchlichen Einkünfte durch staatliche Verfügungen hatten die Landeskirchen in der DDR auch Enteignungen von Vermögenswerten, insbesondere von kirchlichen Anstalten, hinzunehmen. Wie bei vielen anderen Gelegenheiten konnte die Synode hierbei die betroffenen Kirchen nur durch ihr Wort moralisch unterstützen und den Rat bitten, sich nach besten Kräften um den Kirchen zumutbare Regelungen mit den staatlichen Behörden zu bemühen. Zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Anlässen wurden traditionsreiche kirchliche Stiftungen wie die Franckeschen Stiftungen in Halle, die Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg, Schloss Mansfeld, Kloster Roßleben und zahlreiche Anstalten der Inneren Mission enteignet und verstaatlicht, in denen zum Teil gewaltsame Übernahmen inszeniert wurden.140 1956 wurde die evangelische Bahnhofsmission in der DDR unter dem Vorwand abgeschafft, sie begünstige die „Republikflucht“ und unterstütze die westliche Spionage.141 Gerade die wirtschaftlichen Sanktionen der DDRRegierung gegen die evangelische Kirche verfolgten offenkundig das Ziel, allmählich das seit 1918/19 in Deutschland etablierte und auf Kooperation angelegte System einer „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche142 in eine vollständige Trennung umzuwandeln. Damit entfernte sich die DDR von ihrer Verfassung, die 1949 in Anlehnung an die Weimarer Verfassung von 1919 den Religionsgemeinschaften noch eine privilegierte Stellung eingeräumt hatte. 2.4.3 Stellungnahmen gegen die Bedrohung der theologischen Fakultäten an den Universitäten der DDR Bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 1961 bestanden noch an allen sechs Universitäten der
DDR evangelisch-theologische Fakultäten. Allerdings waren bereits die Lehrkörper überaltert und viele Planstellen seit Jahren unbesetzt. Gezielte staatliche Maßnahmen zur Aufhebung der Fakultäten unterblieben jedoch, obwohl Ministerpräsident Otto Grotewohl dem Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Otto Dibelius, schon 1952 mitgeteilt hatte, „daß die Theologischen Fakultäten aufhören müssen zu bestehen, daß der Staat aber bereit sei, bei der Einrichtung einer kirchlichen Akademie anstelle der Fakultäten als künftiger Ausbildungsstätte für den theologischen Nachwuchs zu helfen“.143 Gleichzeitig konnte Dibelius die Synodalen unterrichten, dass sowohl die Fakultäten als auch die Kirchenleitungen in der DDR sich gegen eine solche Aufhebung der Fakultäten geäußert hätten. In der anschließenden Diskussion wandten sich zwei gewiss nicht grundsätzlich „DDR-feindliche“ Theologen, Professor Hans Iwand und Kirchenpräsident Martin Niemöller, scharf gegen die beabsichtigten Maßnahmen der DDR-Regierung. Iwand warnte in dieser Frage vor für die Kirche gefährlichen Kompromissen, die die Freiheit der wissenschaftlichen Arbeit und der Verkündigung einengen könnten, und nannte es „besser, unter Gottes freiem Himmel Theologie zu treiben, als irgendwelche Ausflüchte, die uns dann angeboten werden, anzunehmen“.144 Niemöller wies ergänzend darauf hin, welchen Verlust eine Auflösung der evangelisch-theologischen Fakultäten weniger für die Kirche als vielmehr für das gesamte geistige Leben des deutschen Volkes bedeuten würde.145 Mit der reichen Tradition und der Funktion der theologischen Fakultäten an den Universitäten für die allgemeine deutsche Geistesgeschichte wurde dann auch der Beschluss begründet, mit dem sich die Synode einstimmig dafür aussprach, dass sich der Ratsvorsitzende für den Erhalt der Fakultäten engagieren solle. Zugleich lehnte die Synode in ihrem Beschluss eine Bindung der Fakultäten an die Kirche als „nicht erwünscht“ ab.146 Selbstverständlich verhinderte nicht etwa dieser Beschluss der Synode der EKD die Auflösung der Fakultäten. Vielmehr ließ die DDR-Regierung das Vorhaben aus politischen Erwägungen fallen. Für die Kirche selbst war die klare Stellungnahme hingegen von großer Bedeutung, verwarf sie damit doch jegliche staatliche wie kirchliche Aufsicht oder gar Gängelung der theologischen wissenschaftlichen Forschung und Lehre an den Universitäten. 2.5 Die Kirche und die Einheit Deutschlands 2.5.1 Stellungnahmen zur politischen Wiedervereinigung Obwohl sich die Synode der EKD seit 1948 fast auf jeder ihrer Tagungen für eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands aussprach, klagten die Sy-
339 nodalen nur selten die Sowjetunion oder die DDR direkt und offen als die Schuldigen an der Teilung Deutschlands an. Doch wurde auch nie grundsätzlich in Frage gestellt, dass die Einheit allein bei gleichzeitiger Freiheit ein erstrebenswertes Ziel sei. In den Diskussionen über die Wege und Möglichkeiten einer Wiedervereinigung bot die Synode mit ihren Mitgliedern aus fast allen demokratischen politischen Richtungen stets ein getreues Abbild der westdeutschen öffentlichen Meinung. Sehr heftig wurde z. B. die Frage debattiert, wie sich die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem auf die Chancen einer Wiedervereinigung auswirken werde.147 Als Gründe für den Wunsch nach der Einheit Deutschlands wurden nie ausschließlich politische, historische oder gar theologische – etwa das Volk als Schöpfungsordnung – angeführt, sondern allein die Not der unter der Teilung leidenden Menschen, seit 1949 besonders der Menschen in der DDR. So ist ein Satz aus der Theologischen Erklärung der Synode von 1956 kennzeichnend und repräsentativ für deren Haltung zur Einigung Deutschlands. „Das Evangelium ist nicht dazu da, um uns Deutschen die politische Wiedervereinigung zu schaffen; es öffnet uns aber das Ohr für den Notschrei der Opfer der Trennung und gibt uns die Freiheit, ihre Überwindung von Gottes Gnade zu erbitten, für sie zu arbeiten und alles zu unterlassen, was sie hindert.“148 Dieser theologische Rückhalt ermöglichte es derselben Synodentagung, einen Beschluss zur Einheit des Volkes zu fassen, in dem daran erinnert wurde, „daß die politische Ordnung im geteilten Deutschland nur als ein Provisorium anzusehen“ sei. Zugleich forderten die Synodalen, dass die Selbstbestimmung des deutschen Volkes in freien Wahlen unter internationaler Kontrolle ihren Anfang nehmen solle.149 2.5.2 Stellungnahmen zur Fluchtbewegung aus der DDR In der Öffentlichkeit der Bundesrepublik wurde die starke Fluchtbewegung aus der DDR bis zum 13. August 1961 vielfach als Beweis für die fehlende Freiheit und die bedrückenden Lebensverhältnisse in der DDR oberflächlich tagespolitisch ausgeschlachtet, und häufig wurden die hohen Flüchtlingszahlen mit Genugtuung publiziert, ohne dass den bevölkerungspolitischen Konsequenzen für die DDR hinreichend Beachtung geschenkt wurde. Die Evangelische Kirche in Deutschland und besonders ihre Gliedkirchen aus der DDR erkannten früh die Probleme, die eine solche Massenflucht für die verlassenen Gebiete verursachte, und Synodale brachten sie mehrfach offen zur Sprache. Doch neben den negativen sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen machte die evangelische Kirche auch theologische Bedenken gegen die Flucht geltend,
die auf dem oben dargestellten Verständnis von der Obrigkeit und vom Auftrag der Christen in der Welt basierten. Seit 1950 war der Berliner Theologieprofessor Martin Fischer auf den Tagungen der Synode ein unermüdlicher Warner vor einer „Kapitulation“ in der Form einer Flucht nach dem Westen.150 1952 appellierte er vor der Synode an die Christen in der DDR, nicht mit dem Gedanken an eine mögliche „Auswanderung“, also in einer Art von innerer Emigration, zu bleiben, sondern die Verantwortung als Christen an Ort und Stelle zu tragen, „abgesehen davon, daß die Auswanderung keineswegs immer möglich werden wird […]“.151 Und weiter mahnte Fischer in Elbingerode: „Westdeutschland hat 15.000 Ärzte zuviel, der Osten 10.000 Ärzte zuwenig“152, und selbst wenn die Zahlen zu großzügig aufgerundet gewesen sein sollten, war aus seinen Worten neben einem christlichen Gewissen auch ein nationales Verantwortungsbewusstsein zu erkennen. Obwohl die evangelische Kirche prinzipiell jede Gewissensentscheidung achtet, riefen die Landeskirchen in der DDR ihre Gemeindemitglieder von Jahr zu Jahr dringender zum Bleiben auf. So war in Martin Fischers Worten durchaus auch eine Anklage an den Westen und an die Christen im Westen enthalten: „Der Raum der bolschewistischen Ideologie ist so oft als Raum, in dem menschliches Leben nicht mehr möglich ist, hingestellt worden, daß der, der es hier aushält, verdächtigt wird, statt daß er in seiner besonderen Lage getragen, gestützt und verstanden würde.“153 Angesichts der Haltung der Kirche zur Flucht darf nicht unbeachtet bleiben, dass jedes öffentliche Reden vom Verlassen der DDR, auch das von den Kanzeln, wütende Angriffe der staatlichen Organe und der Presse zur Folge haben konnte. 2.5.3 Stellungnahmen zur Einheit der EKD Aus der Sicht von 1961 erschien es erstaunlich, dass nach der bis dahin sechzehnjährigen Teilung Deutschlands und trotz des sich ständig verschärfenden Gegensatzes zwischen den beiden deutschen Staaten die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland erhalten geblieben war. Besser, als manche Skeptiker vor Jahren angenommen hatten, hatte die EKD bis dahin alle theologischen, konfessionellen wie auch politischen Spannungen innerhalb der Kirche überstanden. In der Debatte um die Wiederbewaffnung, nachdem immerhin der Präses der Synode Gustav Heinemann wegen Adenauers Geheimverhandlungen mit den USA im Herbst 1950 als Bundesinnenminister zurückgetreten war, hatte Bischof Dibelius 1951 im Rechenschaftsbericht des Rates mutig erklärt: „Daß die Kirche in politischen Fragen einen einheitlich geführten Block bilde, ist kein evangelisches Ideal.“154 Und der rheinische Präses Beckmann äußerte sogar noch 1955, als die heftigen Diskussionen um den Beitritt der Bun-
340 desrepublik zur NATO die Synode bewegten: „Ich bin überzeugt, daß die Einheit der Kirche […] immer nur dann in Gefahr steht, wenn ein anderes Evangelium verkündet wird.“155 Die Beispiele und ihre Anlässe lassen die Motive der DDR-Regierung für ihre Bestrebungen seit 1950 verständlich erscheinen, die auf ihrem Staatsgebiet ansässigen Landeskirchen zu isolieren und deren Verbindungen mit dem Westen zu drosseln, um, wie Bischof Dibelius auch schon 1951 meinte, die evangelische Kirche in der DDR leichter politisch „gleichschalten“ zu können.156 Mit ihrem Vorhaben fand die DDR aber bis 1961 unter der Pfarrerschaft kaum Zustimmung. Nur wenige Geistliche unter Führung des Schweriner Domprobstes Karl Kleinschmidt und des Leipziger Theologieprofessors Emil Fuchs, die schon in der Weimarer Republik als SPD-Mitglieder gemeinsam an der Gründung des Bundes religiöser Sozialisten in Thüringen beteiligt gewesen waren, legten sich auf die politische Linie der SED fest und gründeten 1958 einen Bund evangelischer Pfarrer in der DDR. Doch waren dessen Auffassungen bis 1961 nicht auf der Synode der EKD vertreten. Und da dieser Pfarrerbund auch kaum Mitglieder hinzugewann, löste er sich schon 1974 wieder auf. 157 In vielen organisatorischen und das Verhältnis zum jeweiligen Staat betreffenden Fragen mussten die evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands notgedrungen ihre Konsequenzen aus der politischen Situation ziehen. Schon seit 1949/50 kamen die Bischöfe und Präsides der Landeskirchen in der DDR zu regelmäßigen und sehr oft zu außerordentlichen Ostkirchenkonferenzen zusammen, um über aktuelle, meist vom Staat verursachte Probleme kurzfristig zu beraten und evtl. gemeinsame Schritte zu vereinbaren.158 Daneben gab es aber auch institutionelle Verklammerungen. So bestand seit der Gründung der EKD 1948 in Ostberlin eine Berliner Stelle der in Hannover ansässigen Kirchenkanzlei, und in Ostberlin amtierte auch Propst Heinrich Grüber als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR. Selbstverständlich beklagte die Synode, dass die Beziehungen zwischen den Kirchen in der DDR und in der Bundesrepublik unter den rigorosen Beschränkungen des Reiseverkehrs durch die DDRBehörden litten.159 Zunehmend war es kaum noch möglich, von der Bundesrepublik aus die Gemeinden in der DDR mit Pfarrer- und Predigernachwuchs, mit Geld und Wirtschaftsgütern oder auch nur mit Literatur zu unterstützen.160 Dennoch war die Synode der EKD noch bis 1957 überzeugt, die Einheit der deutschen evangelischen Christenheit dadurch demonstrieren zu können, dass sie auch Probleme diskutierte und Beschlüsse fasste, die die Kirchen in nur einem Teil Deutschlands betrafen, so
die Seelsorge in der Bundeswehr oder die Jugendweihe in der DDR.161 Doch „die Kirchen überschätzten ihre Kraft“.162 Denn, wie erwähnt, wirkte sich der Militärseelsorgevertrag zwischen der Bundesrepublik und der EKD so schädigend auf die Landeskirchen in der DDR aus, dass sie schon 1958 offiziell aus der Verantwortung für diesen Vertrag entlassen werden mussten.163 Einerseits hatte die DDR-Regierung noch bis 1961 wenig Erfolg mit ihren Bestrebungen, eine Evangelische Kirche in der DDR zu schaffen. Doch andererseits hatten die gewaltsame Trennung der Kirchen in Ost und West voneinander, erst recht seit dem 13. August 1961, und der wachsende politische und wirtschaftliche Druck des Staates auf die Gemeinden in der DDR zur Folge, dass die Einheit der EKD, wenn auch nicht theologisch, so doch faktisch als Lebensgemeinschaft in Frage gestellt wurde. Der Rat und die Synode der EKD gerieten zunehmend in die Gefahr, zu bloßen Symbolen der Einheit der deutschen evangelischen Kirchen zu werden, während ihnen die Führung des kirchlichen Lebens, sofern es auch eine politische, eine wirtschaftliche und eine soziale Dimension hat, allmählich aus den Händen glitt. 3. Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche in der DDR nach 1945 (Zusammenfassung) Die Freiheit der deutschen evangelischen Kirche blieb nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und unter dem SED-Regime nicht lange erhalten, obwohl den Religionsgemeinschaften in der Verfassung der DDR von 1949 eine privilegierte Stellung zugebilligt wurde. Jede Äußerung der Kirchen und Gemeinden, die nicht dem überholten marxistisch-leninistischen Bild von der Kirche als eines zum Absterben verurteilten Instituts zur Pflege religiöser Gefühle entsprach, wurde von den Behörden und der gleichgeschalteten Presse der DDR einseitig politisch interpretiert und zum Anlass für Gegenmaßnahmen genommen. Im Sommer 1952 nach der II. Parteikonferenz der SED, auf der Walter Ulbricht den Aufbau des Sozialismus in der DDR ankündigte, begann mit Verhaftungen von Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern, mit der Verfolgung der Jungen Gemeinde und der Studentengemeinde sowie mit der Schließung und Zwangsenteignung kirchlicher Anstalten ein offener Kirchenkampf. In einer Besprechung mit den Bischöfen der DDR erklärte Ministerpräsident Otto Grotewohl am 10. Juni 1953 unerwartet, dass auch im Verhältnis des Staates zu den Kirchen ein „neuer Kurs“ eingeschlagen werden solle, und tatsächlich wurden viele kirchenfeindliche Maßnahmen aufgehoben oder abgemildert.164 Doch hielt diese „weiche Welle“ der Kirchenpolitik der DDR nur etwa ein halbes Jahr an, obwohl noch im Sommer 1954 mit Un-
341 terstützung staatlicher Behörden der gesamtdeutsche evangelische Kirchentag in Leipzig stattfinden konnte. Denn schon seit dem Winter 1953/54 verschlechterte sich die Lage der evangelischen Kirchen und Gemeinden in der DDR immer mehr. Die kompromisslose Haltung der Kirchenleitungen gegen die Jugendweihe, das Ausbleiben einer eindeutigen Absage der EKD an die Bündnis- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik und der Abschluss eines Militärseelsorgevertrages mit der Bundesregierung boten der DDR willkommene Anlässe zur Diffamierung und Schikanierung der Kirche. Seit 1958 wurden Besuche Westdeutscher in der DDR durch Reisebeschränkungen außerordentlich erschwert und von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik ganz unmöglich gemacht. Diese Maßnahmen verliehen dem geteilten Berlin für eine Übergangszeit eine große Bedeutung als Ort gesamtdeutscher kirchlicher Tagungen und privater Begegnungen von Christen aus West und Ost. Doch die Absperrung der Sektorengrenze durch die DDR-Regierung seit dem 13. August 1961 bedeutete einen Einschnitt auch für die Zusammenarbeit der kirchlichen Organe der Bundesrepublik und der DDR und der Institutionen der EKD, wofür die Aussperrung des erst im Frühjahr 1961 gewählten Ratsvorsitzenden Präses Kurt Scharf aus Ostberlin am 31. August symptomatisch war. Im Grunde wurde sofort deutlich, dass die Isolierung der Kirchen der DDR diese immer stärker zu einer eigenen Orientierung, zu einem eigenen Handeln und letztlich zu einer eigenen Organisation zwingen werde. Damit aber war auf eine zunächst unabsehbare Zeit das Fortbestehen der Evangelischen Kirche in Deutschland als eines gesamtdeutschen Daches über den deutschen Landeskirchen der Bekenntnisse der Reformation in Frage gestellt.
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Als Abkürzungen wurden verwendet: BS
Berichte über die Synoden der EKD, hrsg. von der Kirchenkanzlei der EKD EKD Evangelische Kirche in Deutschland KidZ Kirche in der Zeit (Zeitschrift) KJ Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland Literatur 1 So mit einer weiterführenden Reflexion über den Gegenstand und die Methoden der Forschung Wolf-Dieter Hauschild, Grundprobleme der Kirchlichen Zeitgeschichte, in: Ders., Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 2004, S. 15–72, zum Begriff S. 49, doch zu einer problemorientierten Bilanz der Forschung S. 63–72. 2 Victor Conzemius, Vorwort, in: Victor Conzemius/Martin Greschat / Hermann Kocher (Hrsg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Referate der internationalen Tagung in
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Hünigen / Bern (Schweiz) 1985, Göttingen 1988, S. 9. Die laufenden Forschungen zur Zeitgeschichte des deutschen Protestantismus sind am besten über die Periodika Kirchliche Zeitgeschichte und Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte zu verfolgen. Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit Corinna Buschow und Thomas Schiller vom Evangelischen Pressedienst (epd), 14. Oktober 2016, http://www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Interviews/2016/161014-epd.html, Zugriff am 12. März 2017. So schon früh die harsche Kritik eines Teils der Autoren, genannt seien Gerhard Besier und Friedrich Wilhelm Graf, in dem Band von Trutz Rentdorff (Hrsg.), Protestantische Revolution? Kirche und Theologie in der DDR: Ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext, theologische und historische Kriterien. Vorträge und Diskussionen eines Kolloquiums in München, 26.–28. März 1992, Göttingen 1993. Danach vor allem Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1945–1969. Der Weg in die Anpassung, München 1993; Martin Georg Goerner, Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958, Berlin 1997; Clemens Vollnhals (Hrsg.), Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1997. Diese wertenden Begriffe hier entlehnt aus der Einführung zum Druck eines Vortrags von Richard Schröder vom 2. Okt. 1989 in Berlin: Nochmals: Kirche im Sozialismus. Wie der Ostberliner Theologe Richard Schröder vor dem Fall der Mauer mit Marxisten diskutierte. Ein ZEITDokument, ZEIT-Online, 21. Febr. 1992. http:// www.zeit.de/1992/09/nochmals-kirche-im-sozialismus, Zugriff am 11. März 2017. So die Argumentation von Detlef Pollack, Die Legitimität der Freiheit. Politisch alternative Gruppen in der DDR unter dem Dach der Kirche, Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1990; ders., Der Umbruch in der DDR – eine protestantische Revolution? Der Beitrag der evangelischen Kirchen und der politisch alternativen Gruppen zur Wende 1989, in: Rentdorff (Hrsg.), Protestantische Revolution? S. 41–72. So besonders prägnant Anselm Doering-Manteuffel, Zeitgeschichte nach der Wende von 1989/90 aus der Sicht des Historikers, in: Joachim Mehlhausen (Hrsg.), … und über Barmen hinaus. Studien zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Festschrift für Carsten Nicolaisen zum 4. April 1994, Göttingen 1995, S. 613–625, hier S. 623. Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie: der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangeli-
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schen Kirche in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1985, 4. Aufl. 1990. Wolfgang Huber, „Demokratie wagen – Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985“. Festvortrag im Rahmen des 50jährigen Jubiläums der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München, 24. Okt. 2005, https://www.ekd.de/print.php?file=/vortraege/huber/051024_huber_muenchen.html, Zugriff 5. März 2017; Hans Michael Heinig, Der Protestantismus in der deutschen Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 24. August 2015, Nr. 195, S. 6. So begründet ihren Untersuchungszeitraum überzeugend die Kirchenhistorikerin Claudia Lepp, Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung 1945–1969, Göttingen 2005, S. 11. Als Überblicke mit unterschiedlichen Akzenten: Karl Dietrich Erdmann, Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten (= Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von Herbert Grundmann, Bd. 4, 9. Aufl.), hier dtv-Taschenbuch, Bd. 22, München 1980, S. 226–235; Christoph Klessmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. Aufl. Bonn 1991, S. 59–65. Günter Heidtmann (Hrsg.), Hat die Kirche geschwiegen? Das öffentliche Wort der Evangelischen Kirche aus den Jahren 1945–54, Berlin 1954, 3. Aufl. 1964. Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland, hrsg. von Johannes Beckmann, Bde. 72 ff. [im Folgenden KJ], Gütersloh 1949 ff. Berichte über die Synoden der EKD, hrsg. von der Kirchenkanzlei der EKD, Hannover 1948 ff. [im Folgenden BS]. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Ders., Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 208 f. Wladimir Iljitsch Lenin, Sämtliche Werke, Bd. 8, Wien / Berlin 1931, S. 566 f. Bolšaja Sovetskaja Ėnciklopedija, 2. Aufl., Bd. 36, Moskau 1955, S. 335 (Übers. des Verfassers). Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 303–314. Neues Deutschland, 27. März 1956, zitiert in: U. Jeremias, Die Jugendweihe in der Sowjetzone, Bonn 1958, S. 89. Zur Rolle Paul Fröhlichs Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 403–405. Günter Jacob, in: BS 1956, S. 23 f. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin o. J. (1955), Art. 3. Ebenda, Art. 51, 98, 127.
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Ebenda, Art. 41. Ebenda, Art. 45. Ebenda, Art. 44. Ebenda, Art. 46. Kurt Nowak, Zum historischen Ort der Kirchen in der DDR, in: Vollnhals (Hrsg.), Die Kirchenpolitik von SED u. Staatssicherheit, S. 9–28, hier S. 22. J. Jürgen Seidel, „Neubeginn“ in der Kirche? Die evangelischen Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ / DDR im gesellschaftlichen Kontext der Nachkriegszeit (1945–1953), Göttingen 1989, S. 73–92, 104 f.; Nowak, Zum historischen Ort der Kirchen in der DDR, S. 12–14. Walter Ulbricht, Abschlußreferat, in: Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der SED, 9.–12. Juli 1952, Berlin 1952. Dazu Seidel, „Neubeginn“ in der Kirche? S. 58 f. So ZK-Mitglied Karl Mewis, in: Ostsee-Zeitung, 23. Jan. 1958, zitiert in: Hans Schütze, „Volksdemokratie“ in Mitteldeutschland, o. O. (Bückeburg) 1960, S. 121. Theophil Wurm, KJ 1945-48, S. 9. Ebenda, S. 10. Ebenda. Wolf-Dieter Hauschild, Vom „Lutherrat“ zur VELKD 1945–1948, in: Mehlhausen (Hrsg.), … und über Barmen hinaus, S. 451–470, Zitat S. 455. KJ 1945-48, S. 15 ff. KJ 1945-48, S. 11, 22 und 29 ff. Ebenda, S. 26 f. Auch in: Heidtmann (Hrsg.), Hat die Kirche geschwiegen? S. 20. Zur Entstehung des Dokuments Armin Boyens, Das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 – Entstehung und Bedeutung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), H. 4, S. 374–397. Eine kluge Einordnung in die seinerzeitige theologische und moralphilosophische Auseinandersetzung bietet Joachim Mehlhausen, Die Wahrnehmung von Schuld in der Geschichte, Ein Beitrag über frühe Stimmen in der Schulddiskussion nach 1945, in: Ders. (Hrsg.), … und über Barmen hinaus, S. 471–498. Erdmann, Das Ende des Reiches, S. 229–231. Lasst uns nach Gottes Willen fragen. Wort der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland an die Gemeinden, Treysa – August 1945, in: Heidtmann (Hrsg.), Hat die Kirche geschwiegen? S. 18 f. Martin Niemöller, KJ 1945-48, S. 11 f. Text auch in: Martin Niemöller, Reden 1945–1954, Darmstadt 1958, S. 15. Dazu Matthias Schreiber, Hintertüre oder Platzkarte? Oder woran sich die EKD am fünfzigsten Jahrestag des Grundgesetzes erinnern soll, in: Günter Brakelmann / Norbert Friedrich / Traugott Jähnichen (Hrsg.), Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus, Münster 1999, S. 183–189, hier S. 184. KJ 1945-48, S. 95 ff.
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Ebenda, Grundordnung, Art. 22–27. Ebenda, Grundordnung, Art. 24,1. Ebenda, Grundordnung, Art. 23,2. Ebenda, Grundordnung, Art. 27. Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 2, Tübingen 1958, Stichworte: Deutschland: Kirche und Staat, Sp. 141; Erdmann, Das Ende des Reiches, S. 233. Über die Gründungsphase der beiden deutschen Staaten Lepp, Tabu der Einheit? S. 83–101. So Joachim Beckmann, in: KJ 1949, S. 1. Otto Dibelius, BS 1950, S. 27. Karl Kupisch, Protestantische Perspektiven (= unterwegs 1), Berlin 1957, S. 50 f. So KJ 1949, S. 1, im Anschluss an die Barmer Erklärung, These 6, https://www.ekd.de/glauben/ grundlagen/barmer_theologische_erklaerung. html, Zugriff am 21. März 2017. So Martin Fischer, BS 1952, S. 121. So Martin Niemöller, BS 1951, S. 117; KJ 1955, S. 59; Günter Jacob, BS 1956, S. 26. Rechenschaftsbericht des Rates, BS 1950, S. 417 f.; zur Person: Sigurd Rink, Der Bevollmächtigte: Propst Grüber und die Regierung der DDR (= Konfession und Gesellschaft 10), Stuttgart / Berlin / Köln 1996, S. 94–240. Propst Grüber: Im Lande meines Elends, in: Der Spiegel, 1956, No. 26, 27. Juni 1956, S. 18–25, hier S. 18. Zu Grübers Wirken in der DDR: Günter Köhler (Hrsg.), Pontifex, nicht Partisan. Kirche und Staat in der DDR von 1949 bis 1958. Dokumente aus der Arbeit des Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Regierung der DDR Propst D. Heinrich Grüber, Stuttgart 1974. Reinhard Henkys (Hrsg.), Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Dokumente zu seiner Entstehung, Witten / Berlin 1970, Dokument 8, S. 48. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/G/Seiten/HeinrichGr%C3%BCber. aspx?print=true, Zugriff am 27. März 2017. Brief des Paulus an die Römer, Kap. 13, 1–7. Walter Künneth, BS 1956, S. 66 ff. Ernst Sommerlath, BS 1954, S. 115. Heinrich Vogel, BS 1956, S. 109. Theologische Erklärung, BS 1956, S. 223. Martin Fischer, Obrigkeit (= unterwegs Bd. 10), Berlin 1959. Dazu Hartmut Fritz, Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur, Göttingen 1998, Epilog, S. 498 f. Otto Dibelius, Obrigkeit. Eine Frage an den 60jährigen Landesbischof, Berlin 1959, Privatdruck, hier zitiert nach Auszügen in: Junge Kirche, 1959, S. 491 ff. Dazu die kluge LangzeitInterpretation von Persönlichkeit und Werken: Fritz, Otto Dibelius, Epilog, hier S. 499–504. Hier eine Auswahl: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit …“ Eine Diskussion zwischen Otto Dibelius, Hanns Lilje und Ulrich Scheuner, in: Die Welt, 31. Okt. 1959; Schuldet der Christ dem Zonenregime Gehorsam? Beiträge von Friedens-
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burg, von der Gablentz, Iwand und Thielicke, in: DIE ZEIT, 6. Nov. 1959; Ernst Wolf, Die Stellung des Christen zum modernen Staat, in: JK 1959, No 12, S. 609 ff.; Martin Fischer zur Obrigkeitsdebatte, in: KidZ 1960, No. 4, S. 142 ff.; Die Christen und die Obrigkeit. Erklärung einer Arbeitsgemeinschaft innerhalb der Kirchlichen Bruderschaft vom 4. Juli 1960 in Heidelberg, in: KidZ 1960, No. 9, S. 318 f.; Ulrich Mann, Obrigkeit und Widerstand. Zur Debatte um den Dibeliusbrief, in: Evang.-Lutherische Kirchenzeitung 1960, No. 10, S. 149 ff. Otto Dibelius, Bericht vor der Berlin-Brandenburger Synode. Zum Thema „Obrigkeit“, in: KidZ 1960, No. 2, S. 46–50. Beschluss der Synode, in: KJ 1960, S. 57. Helmut Gollwitzer, KJ 1960, S. 79. BS 1950: Heinrich Vogel, S. 112; BS 1952: Otto Dibelius, S. 23 f.; Walter Künneth, S. 88 f.; Martin Fischer, S. 115; BS 1955: Hanns Lilje, S. 383 f.; BS 1956: Günter Jacob, S. 27; Hermann Dietzfelbinger, S. 37; Eugen Gerstenmaier, S. 81. Apostelgeschichte 5, 29. Martin Fischer, BS 1952, S. 110. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 115. Günter Jacob, BS 1956, S. 26. Martin Fischer, BS 1952, S. 109. Hans Iwand, Gott mehr gehorchen als den Menschen [Evangelisch-theologisches Gutachten zum Remer-Prozeß], in: 20. Juli 1944, hrsg. von der Bundeszentrale für Heimatdienst, o. O. (Bonn) 2. Aufl. 1954, S. 140 ff. Martin Schröter, BS 1956, S. 137. Martin Fischer, BS 1952, S. 109. BS 1956: Helmut Gollwitzer, S. 9 ff.; Günter Jacob, S. 17 ff.; Hermann Dietzfelbinger, S. 30 ff. KJ 1945–48, S. 1 f. Von einer „Stunde der Kirche“ („Hour of the Church“) unter dem Besatzungsregime, von der auch die Gründung der CDU begünstigt worden sei, spricht die amerikanische Zeithistorikerin Maria D. Mitchell, The Origins of Christian Democracy. Politics and Confession in Modern Germany, Ann Arbor, Mich., 2012, S. 35–37. Ebenda, S. 27 ff. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München dtv 1999, S. 135–174. Theophil Wurm, KJ 1945–48, S. 28. Ebenda, S. 186; unter dem Titel: … dass der Mensch Mensch bleibe, in: Heidtmann (Hrsg.), Hat die Kirche geschwiegen? S. 43. Otto Dibelius, BS 1950, S. 29. Otto Dibelius, BS 1954, S. 32. Dazu auch der Bericht der Berliner Stelle der Kirchenkanzlei der EKD, ebenda, S. 425. Otto Dibelius, BS 1954, S. 32. Martin Fischer, BS 1952, S. 113. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Art. 3, 6–16, 22, 31, 35, 39, 41, 134, 136.
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Martin Fischer, BS 1952, S. 106. Otto Dibelius, BS 1951, S. 30 f.; Ruf an die Gemeinden in Ost und West, ebenda, S. 218; Martin Fischer, BS 1952, S. 121; Bericht zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 225. Martin Fischer, BS 1952, S. 114; Bericht zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 228. Botschaft der Synode, KJ 1950, S. 9; Otto Dibelius, BS 1955, S. 55; Joachim Beckmann, ebenda, S. 348 ff. Kundgebung der Synode, BS 1952, S. 238 f. Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit: Botschaft der Synode, KJ 1950, S. 9; Otto Dibelius, BS 1952, S. 27; Bericht über die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 227. Zur Verteidigung von Eigentumsrechten: Otto Dibelius, BS 1952, S. 26 f.; Martin Fischer, ebenda, S. 114. Ludwig Raiser, BS 1955, S. 90. So die Berichte vom Beginn der Synode: BS 1958 und KJ 1958. Wort zur deutschen Not, KJ 1945–48, S. 186; Entschließung zu Fragen der Ehe und Familie, BS 1954, S. 302 ff.; Die Kirche und die Welt der industriellen Arbeit, BS 1955, S. 465 ff. Theologische Erklärung, BS 1956, S. 224. Martin Fischer, BS 1952, S. 114. Walter Knaut, BS 1954, S. 173. Entschließung zu Fragen der Ehe und Familie, BS 1954, S. 302. KJ 1954, S. 13; dazu auch der bedeutende schweizerische reformierte Ethiker Alfred de Quervain, ebenda, S. 102 ff. KJ 1954, S. 13. Ebenda. Vgl. Verfassung der DDR, Art. 44. Günter Jacob, BS 1956, S. 27 f. Dazu auch Friedrich-Wilhelm Krummacher, ebenda, S. 78, und Fritz Führ, BS 1958, S. 58 ff. Wort zur Schulfrage, BS 1958, S. 445. Joachim Beckmann, KJ 1960, S. 115 ff. Johannes Hamel, Christ in der DDR (= unterwegs 2), Berlin 1957, S. 13 ff. Neuordnung der Konfirmation. Beschluß der Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen vom 28. Juni 1960, KJ 1960, S. 36 ff. Otto Dibelius, BS 1955, S. 58 f. Hamel, Christ in der DDR, S. 14 ff. Joachim Beckmann, KJ 1960, S. 115. Protokoll der Besprechung vom 10. Juni 1953, BS 1954, S. 444; Otto Dibelius, BS 1957, S. 45 f.; Kommuniqué vom 21. Juli 1958, in: KidZ 1958, No. 8, S. 283; Joachim Beckmann, KJ 1960, S. 115. So ohne Quellenangabe Ulrich Rühmland, Mitteldeutschland. „Moskaus westliche Provinz“ – zehn Jahre Sowjetzonenstaat, Stuttgart 1959, S. 145.
115 Jeremias, Die Jugendweihe in der Sowjetzone, S. 91. Vgl. auch Otto Dibelius, BS 1957, S. 47. 116 Günter Jacob, BS 1957, S. 179. 117 Joachim Beckmann, KJ 1960, S. 116. 118 Ebenda. 119 Brief des Paulus an die Galater, Kap. 5, 1. 120 Wort zur Schuldfrage, BS 1958, S. 445. 121 Kupisch, Protestantische Perspektiven, S. 49. 122 Ebenda, S. 50. 123 Martin Niemöller, BS 1956, S. 71. 124 Friedrich Wilhelm Krummacher, BS 1956, S. 75. 125 Bericht über die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 225 ff. 126 Friedrich Wilhelm Krummacher, BS 1956, S. 75. 127 Günter Jacob, BS 1956, S. 25 ff. 128 Günter Jacob, ebenda, S. 27; Friedrich Wilhelm Krummacher, BS 1956, S. 77 f. 129 Bericht über die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 226. 130 Ebenda; Beschluß der Ostkirchenkonferenz, BS 1954, S. 448. 131 Innenminister Willi Stoph an den Ratsvorsitzenden Bischof Otto Dibelius, 4. März 1957, in: KJ 1957, S. 47 f. 132 So nach Otto Dibelius, BS 1957, S. 44. 133 Beschluß der Synode, BS 1958, S. 456; Eugen Gerstenmaier, ebenda, S. 288 ff.; Hans Iwand, ebenda, S. 287; Günter Jacob, ebenda, S. 283 ff. Hanns Lilje für die Kirchenkonferenz, ebenda, S. 202. 134 Eugen Gerstenmaier, BS 1950, S. 161 ff. 135 Joachim Beckmann, KJ 1951, S. 14; Otto Dibelius, BS 1954, S. 35 ff.; Walter Bauer, BS 1956, S. 53 f. 136 Bericht über die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 227. 137 Aus den seinerzeit veröffentlichten und hier allein benutzten Quellen der Synode gehen keine absoluten Zahlen hervor. 138 Otto Dibelius, BS 1954, S. 31. 139 Bericht über die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 227. 140 Ebenda; Otto Dibelius, BS 1950, S. 36, und BS 1955, S. 57; Vorlage betr. die Franckeschen Stiftungen, BS 1955, S. 781 ff.; Hans Schwidtal, BS 1957, 194 ff.; Beschluß betr. Roßleben, BS 1957, S. 641. 141 SBZ von A bis Z, Stichwort „Kirchenpolitik“. 142 So der Kirchenrechtler Ulrich Stutz 1926, hier nach RGG 3, Sp. 1327. 143 Otto Dibelius, BS 1952, S. 28 ff. Zum Kontext Nowak, Zum historischen Ort der Kirchen in der DDR, S. 17–21. 144 Hans Iwand, BS 1952, S. 35. 145 Martin Niemöller, BS 1952, S. 40. 146 Beschluß zur Fakultätenfrage, BS 1952, S. 226. 147 Helmut Gollwitzer, BS 1955, S. 358 ff. und anschließende Diskussion.
345 148 Theologische Erklärung, BS 1956, S. 224. 149 Verlautbarung „Einheit des Volkes“, BS 1956, S. 233 f. 150 Martin Fischer, BS 1950, S. 145 ff.; BS 1952, S. 112, 120, 133 f. 151 Ebenda, S. 112, 133. 152 Ebenda, S. 120. 153 Ebenda. 154 Otto Dibelius, BS 1951, S. 26. 155 Joachim Beckmann, BS 1955, S. 389. 156 Otto Dibelius, BS 1951, S. 27 ff. 157 KJ 1958, S. 172 ff., 187 f.; Jens Bulisch, Evangelische Presse in der DDR. „Die Zeichen der Zeit“ 1947–1990, Göttingen 2006, S. 338–342; Viola Vogel, Abgestorben? Religionsrecht der DDR und der Volksrepublik Polen (= Jus Ecclesiasticum 111), Tübingen 2015, S. 179.
158 Über die Beratungen liegt ein erster Protokollband vor: Michael Kühne (Bearb.), Die Protokolle der Kirchlichen Ostkonferenz 1945–1949, Göttingen 2005. 159 Beschluß zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirche in der DDR, BS 1956, S. 228; Beschluß „Einheit der EKD“, ebenda, S. 224 f.. 160 Ebenda; Günter Jacob, BS 1957, S. 173. 161 Beschluß „Einheit der EKD“, BS 1956, S. 229; Schulze, ebenda, S. 120 ff.; Hermann Kunst, BS 1957, S. 80. 162 Nowak, Zum historischen Ort der Kirchen in der DDR, S. 24. 163 Vgl. oben Anm. 133. 164 Otto Dibelius, BS 1954, S. 30; Protokoll der Besprechung von Vertretern der EKD und des Ministerrates der DDR, ebenda, S. 444.
346 Wolf Krötke
Kirche und Staat in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland heute 1. Theorie und Praxis der reformatorischen Unterscheidung von Staat und Kirche Ohne ein gewisses Maß an historischer Kenntnis der Reformationsgeschichte ist schwer zu verstehen, wie sich das Verhältnis von Kirche und Staat heute in Deutschland darstellt und wie es sich unter den Bedingungen des „sozialistischen Staates“ in der DDR gestaltet hat. In aller Kürze und deshalb auch ziemlich grob seien darum dem Blick auf das Verhältnis von Kirche und Staat heute und zur DDR-Zeit zwei reformatorische Grundsätze voran gestellt. Grundsatz 1: Eine reformatorische Kirche ist eine Anwältin der strengen Unterscheidung zwischen der Aufgabe der Kirche und der Aufgabe des Staates. Ausweis dessen ist Martin Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei“ aus dem Jahre 1524. Sie prägte die klare Unterscheidung zwischen der Aufgabe des Staates (der damals „Obrigkeit“ hieß) und der Kirche ein. Die Kirche ist mit ihrer Verkündigung des Evangeliums für das Heil der Menschen zuständig, d.h. dafür, worum es im Leben von Menschen in Zeit und Ewigkeit letztlich geht. Sie nimmt diese Aufgabe „allein mit dem Wort“ wahr, d.h. ohne alle Beanspruchung von weltlicher Macht. Der „Obrigkeit“ aber ist von Gott die Aufgabe zugewiesen, mit einer Rechtsordnung und der „Gewalt des Schwertes“ für einen äußerlichen Frieden unter den Menschen zu sorgen, die als Sünderinnen und Sünder im Verachten von Gottes Geboten das gesellschaftliche Zusammenleben gefährden. Grundsatz 2: Eine evangelische Kirche bejaht den Staat, weil er eine von Gott legitimierte Aufgabe wahrnimmt. Diese grundsätzlich staatsbejahende Haltung der Reformation begründete ihre Abwehr jeglicher Art von „Aufruhr“. Noch vor dem Ausbruch des Bauernkrieges hat Luther 1522 eine „Treue Vermahnung zu allen Christen“ verfasst, „sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“. Ihn leitete dabei die Vorstellung, dass Gott bestimmte Personen wie die Fürsten und den Adel mit der Aufgabe betraut hat, die Rechtsordnung in der Gesellschaft zu gewährleisten und durchzusetzen. Er hat die Fürsten, welche dieser Aufgabe nicht gerecht wurden, darum auch wüst beschimpft. Doch „Aufruhr“ von denen, die nicht mit der Wahrung und Durchsetzung der Rechtsordnung beauftragt sind, galt ihm als Ausbruch des Chaos, das der „Teufel“ anrichtet. Auf diesem Hintergrund sind seine viel verurteilten Aufforderungen an die Fürsten zu verstehen, die Bauern niederzumetzeln. Sie wurden zwar von Luthers Gegnern erst nach dem Ende des Bauernkrieges verbreitet, so dass man ihn nicht schuldig
sprechen kann, dieses Gemetzel veranlasst zu haben. Unentschuldbar bleiben sie trotzdem. Die Obrigkeit zu maßloser Gewalt anzustacheln geziemt dem „geistlichen Regiment“ nicht, dem es an erster Stelle darum gehen muss, dass die „Obrigkeit“ das Wohl der von Gott geliebten Menschen niemals aus den Augen verliert. Wirkungsgeschichtlich gesehen aber hat der Grundsatz der Bejahung einer unangreifbaren, von Gott eingesetzten „Obrigkeit“ zur Folge gehabt, dass sich die Kirchen der lutherischen Reformation schwer getan haben, mit der Ausbildung eines demokratischen Staatsverständnisses in Europa, welche den Staat „von unten“, vom Anspruch aller seiner Bürgerinnen und Bürger auf ihre gleiche Menschenwürde her begründet, Schritt zu halten. Dazu trug auch bei, dass der Grundsatz der Unterscheidung von Kirche und Staat nicht konsequent durchgehalten wurde. Weil sich keine Bischöfe für die Reformation gewinnen ließen, wurde die Leitung und Organisation der reformatorischen Kirchen den Landesherren übertragen. Es entstanden Landeskirchen, die auch nach dem Ende des Staatskirchentums im Jahre 1918 – freilich unter kirchlicher Leitung – bis heute Bestand haben. Ihr Profil erhielten sie durch den Augsburger Religionsfrieden des Jahres 1555, der nach dem 30jährigen Krieg im Westfälischen Frieden von 1648 bekräftigt wurde. Danach bestimmt die Konfession der Landesfürsten auch die Konfession der Bürgerinnen und Bürger seines Herrschaftsgebietes („cuius regio, eius religio“). Kirchen dieses Typos sind demnach Flächenkirchen, denen man nicht an erster Stelle durch das eigene persönliche Bekenntnis des Glaubens zugehört wie es in anderen Kirchen der Reformation (z.B. in den USA) der Fall ist, sondern durch das Wohnen in einem Gebiet. Das schließt nicht aus, dass solches persönliche Bekenntnis das Leben der Gemeinden vor Ort – in der „Parochie“ – prägt, ermöglicht aber auch, dass man ohne dieses Bekenntnis und eine dementsprechende Lebensführung „Mitglied“ einer solchen Kirche sein kann. Nach dem Ende der „Staatskirche“ war der religiös und weltanschaulich neutrale Staat einer repräsentativen Demokratie zu Beginn der „Weimarer Republik“ demnach mit dem Faktum konfrontiert, dass – bis auf wenige Ausnahmen – seine Bürgerinnen und Bürger Mitglieder entweder einer katholischen oder einer evangelischen Kirche waren. Weil alles Volk einer Kirche angehörte, wurde dem mit dem Begriff „Volkskirche“ Rechnung getragen. Die Präsenz einer solchen Volkskirche in der Gesellschaft aber war ein Politikum ersten Ranges. Denn sie bestimmte – repräsentiert durch die Kirchenleitungen – die Gesinnungen und Überzeugungen, die einen
347 demokratischen Staat tragen und auf die er angewiesen ist. Auf dem Hintergrund des Zutrauens zur Staatstreue der reformatorischen, aber auch der katholischen Kirchen und in der Erwartung der Beförderung einer humanen, die Demokratie stärkenden Gesinnung durch diese Kirchen hat die Weimarer Verfassung von 1919 darum den Kirchen den Status einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ zuerkannt. Zwar galt nach Artikel 137 der Staat und Kirche trennende Grundsatz: „Es besteht keine Staatskirche“. Doch diese Trennung war – wie der Fachausdruck heißt – eine „hinkende Trennung“. Der Staat sicherte den Kirchen in den Artikeln 136-141 aus den genannten Gründen Unterstützung – auch finanzielle Unterstützung – durch „Staatsleistungen“ zu. Wir müssen nun überspringen, wie sich die evangelischen Kirchen in der Weimarer Republik zum demokratischen Staat verhalten haben und warum sich das alte Obrigkeitsdenken angesichts des Auftretens eines „Führers“ seit 1933 noch einmal Bahn brach. Die „Bekennende Kirche“, die sich 1934 bei der Bekenntnissynode von Barmen formierte, hat sich jedenfalls gegen den Versuch, die Landeskirchen mit Hilfe der „Deutschen Christen“ nationalsozialistisch zu infiltrieren und sie der Machtausübung der Nazis „gleichzuschalten“ gewehrt. In der 5. These der Barmer Theologischen Erklärung wird der Staat ganz im ursprünglichen reformatorischen Sinne auf seine Aufgabe verwiesen, gemäß Gottes Anordnung „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“.1 Damit wurde einerseits dem Anspruch des nationalsozialistischen Staates widersprochen, „die einzige und totale Orientierung menschlichen Lebens“ zu sein. Andererseits sollte die Kirche davor bewahrt werden „über ihren besonderen Auftrag hinaus […] zu einem Organ des Staates zu werden“. Diese Bekräftigung des reformatorischen Staatsverständnisses war den evangelischen Kirchen in Deutschland bewusst, als 1949 unter dem Einfluss der westlichen Alliierten einerseits und der Sowjetunion andererseits zwei deutsche Staaten aus der Taufe gehoben wurden. Beide Staaten nahmen in ihre Verfassung die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung auf, welche den Kirchen freie Entfaltung und Förderung von Seiten des Staates versprachen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich daran gehalten, die DDR aber nicht – oder allenfalls nur in höchst eingeschränktem Maße. 2. Der sozialistische Staat als „Obrigkeit“ (?) Zum Wesen einer Diktatur gehört es, alle von ihr beherrschten Menschen mit allen möglichen Zwangsmaßnahmen zum Einstimmen unter ihr Diktat zu bewegen. Der DDR-Staat war – auch wenn er sich „demokratische Republik“ nannte – eine Diktatur, bei der die Elite einer Partei beanspruchte,
die „Diktatur des Proletariats“ ins Werk zu setzen. Die Ideologie, mit der dieser Anspruch begründet wurde, war die marxistische-leninistische Weltanschauung. Zu ihr gehörte als wesentliches Element die Behauptung, dass die „Religion“ absterben werde, wenn die „Bedürfnisse“ der arbeitenden Menschen durch eine gerechte, sozialistische Gesellschaftsordnung befriedigt werden. In einer solchen Gesellschaftsordnung hat eine Kirche demgemäß keinen Platz. Das Problem, mit dem sich die DDR-Regierung seit 1949 konfrontiert sah, war aber, dass 90 % der Bevölkerung Ostdeutschlands Mitglied der Evangelischen Kirche waren. Die Verfassung billigte ihnen zwar „Religionsfreiheit“ zu. Die Weltanschauung des sozialistischen Staates aber beurteilte sie als Werkzeuge des „Klassenfeindes“, welche den Kräften des Kapitalismus und Imperialismus dienstbar sind. Dementsprechend gehörte es von Anfang an zur Absicht der DDR-Staatsführung, dem „Absterben der Religion“ auf die Sprünge zu helfen. Die Kirche in der DDR wurde eine „Kirche unter Druck“, so wie sie etwa ein Beobachter aus der Schweiz beschrieben hat. Es wurde alles versucht, der Kirche in der Öffentlichkeit „den Mund zu verschließen oder ihre Stimme wenigstens mehr oder weniger tonlos zu machen“. Man wollte sie „von der Gesellschaft und insbesondere von der Jugend abschneiden“. Sie sollte auf den „Kult“ reduziert und „in den Winkel“ gedrängt werden, „um sie dort umso leichter lächerlich, verächtlich, wohl auch verhasst zu machen“. Ihre „wichtigsten Wortführer“ sollten mittels „der öffentlichen und geheimen Organe“ von den Gemeinden isoliert und vom Staat selbst geführt werden.2 Es ist hier nicht möglich, alle Etappen der Unterdrückung der evangelischen Kirchen durch den sozialistischen DDR-Staat und alle Phasen des Verhältnisses von Kirche und Staat im Osten Deutschlands aufzulisten. Deshalb sei auf Rudolf Maus Darstellung verwiesen.3 Unter dem Strich war die Macht-Politik des SED-Staates gegenüber den Evangelischen Kirchen jedenfalls von einem Erfolg gekrönt, der bis heute andauert. Es gelang, diesen Kirchen ihre Mitglieder abspenstig zumachen. Statt annähernd 90 % im Jahre 1949 waren 1990 nur noch knapp ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung Mitglieder der evangelischen Kirche. Dieser Erfolg verdankte sich nicht so sehr der offenen Verfolgung der ostdeutschen Christenheit, wie sie 1952/53 durch die Kampagne gegen die Jungen Gemeinden und Studentengemeinden als „Agentenzentralen des amerikanischen Imperialismus“ ins Werk gesetzt wurden. Angesichts der massenweisen Flucht zwar nicht nur der verfolgten jungen Menschen aus dem christlichen Milieu, sondern auch von Menschen aus Handwerksbetrieben und anderen selbständigen Wirtschaftsunternehmungen etwa in der Landwirtshaft wurde die DDRFührung eine Woche vor dem Volksaufstand des
348 17. Juni1953 von der Sowjetunion zurück gepfiffen. Es wurde ein „neuer Kurs“ verkündet, der mit der in der DDR-Verfassung garantierten „Religionsfreiheit“ im Einklang stehen sollte. Doch mit dem „neuen Kurs“ war es nicht so weit her. Das Bemühen, der evangelischen Kirche die Basis in der Bevölkerung zu entziehen, dauerte an. Ein Markstein dieses Bemühens war die Einführung der Jugendweihe im Jahre 1955, welche in dezidiert atheistischem Sinne gegen die Konfirmation gerichtet war. Mit Ausnahme der Thüringischen Landeskirche haben sich damals alle Landeskirchen der DDR darauf festgelegt, dass Jugendweihe und Konfirmation unvereinbar seien. Das Gros der Bevölkerung aber entschied sich für die Jugendweihe – mehr oder weniger genötigt von der Drohung, dass ohne diesen sozialistischen Bekenntnisakt kein Fortkommen der Jugend in der sozialistischen Gesellschaft möglich sei. Den nur locker mit der evangelischen Flächenkirche verbundenen Mitgliedern hat es nicht viel Kopfzerbrechen bereitet, angesichts dieser Drohung ihre Mitgliedschaft in dieser Kirche fahren zu lassen. Den Kirchenleitungen aber bereitete die Machtpolitik der Ausschaltung der Christenheit aus dem gesellschaftlichen Leben im Osten Deutschlands durch den Staat jede Menge Kopfzerbrechen. Dabei müssen wir im Auge behalten, dass die Landeskirchen in Ost und West noch über den Mauerbau im Jahre 1961 hinweg unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland eine organisatorische Einheit waren; die Evangelische Kirche der Union ist es „regionalisiert“ sogar auch geblieben. Eine Kirche, die es in ihrem Ausbreitungsgebiet also mit zwei unterschiedlichen Staatswesen zu tun hatte, musste sich darum positionieren, wie sie diese beiden Staaten theologisch unter einen Hut bekommen wollte. Die Faustregel dafür ist auf einer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) von 1956 in geradezu klassischer Weise formuliert worden. Sie lautete: „Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt und ihrer politischen Gestalt.“4 Das war eine sehr trickreiche Formulierung. Sie sagte nicht, dass die Staaten, mit dem es die Kirchen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland zu tun hatten, schon per se als Gottes Anordnung zu verstehen seien. Sie lief aber daraus hinaus. Weil ein wie immer zustande gekommener und ein sich wie immer gebärdender Staat durch das Evangelium unter Gottes Anordnung „gerückt“ wird, ist er im Grundsatz als ein von Gott gewollter Staat zu verstehen. Was die DDR betrifft, bedeutete das die Absage an eine Grundsatzkritik dieses Staates, der mit seinem totalitären Machtanspruch die Gemeinden und Abertausende von Christinnen und Christen schwer unter Druck setzte. Widerspruch gegen die-
sen Staat und Kritik an seinen Taten war demnach nur in Einzelfällen möglich. Er müsse, hieß es, mit der Leidensbereitschaft derer verbunden sein, die ihn erheben. Eine „Handreichung“ der Synode der Evangelischen Kirche der Union aus dem Jahre 1959 formulierte dementsprechend, dass sich jeder Staat – auch der „Diktaturstaat“ – in „Gottes Hand“ befinde. Das sei ein „Letztes“. Welche „Form“ er annehme, aber sei ein „Vorletztes“.5 Das „Letzte“ macht demnach den Christinnen und Christen den Gehorsam gegenüber dem Staat zur Pflicht. Das auf den Staat bezogene Kapitel dieser Handreichung ist darum mit der Überschrift versehen: „Unser politischer Gehorsam“. Nur im „Vorletzten“, im Einzelnen, kann es dementsprechend Kritik der Kirche am Missbrauch der sich in alle Lebensbereiche der Gesellschaft hinein erstreckenden Macht des sozialistischen Weltanschauungsstaates geben. Da es in der DDR kein Staatskirchenrecht gab, auf das man sich vor Gericht berufen konnte, bedeutete das faktisch, dass alle Probleme, die der Staat der Kirche auf allen ihren Ebenen schuf, durch „Gespräche“ mit den Funktionären in Partei und Staat zu klären waren, bei denen wechselnde ideologische Vorgaben der Parteiführung diese Funktionäre einmal gnädig und dann ein anderes Mal wieder ungnädig stimmten. Nicht erst von heute aus gesehen war diese Positionierung der Kirche in ganz Deutschland sowohl gegenüber dem Diktatur-Staat der DDR wie gegenüber dem Staat der repräsentativen Demokratie in Westdeutschland äußerst unbefriedigend. Denn sie reaktivierte faktisch das archaische Obrigkeitsdenken, das nun der Parteiherrschaft des SED-Staates wie einstmals den Fürsten einen grundsätzlich unhinterfragbaren Status zubilligte. Sie trug nicht der Tatsache Rechnung, dass die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland in diesem Sinne keine „Obrigkeit“ war. Es hat lange gedauert, nämlich bis zum Jahre 1985, in dem sich die westliche Evangelische Kirche in Deutschland mit der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ zur grundsätzlichen Bejahung der Demokratie als einer „Verfassungsform“ bekannte. Sie weise „eine Nähe zum christlichen Menschenbild“ auf, welche „die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet“.6 Doch das greift vor. Am Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wollte die Evangelische Kirche vor allem vermeiden, sich durch ihr Staatsverständnis als Partei im damals tobenden OstWest-Konflikt zu positionieren. Denn das demokratische Staatsverständnis des Westens galt der DDR-Führung als Werkzeug des „Klassenfeindes“. Diese Unterstellung sollte mit der Reaktivierung des Obrigkeitsdenkens abgewehrt werden. Es löste darum in der Evangelischen Kirche, aber noch mehr bei der DDR-Staatsführung helle Empörung aus, als der Berliner Bischof Otto Dibelius im Jahre 1959 die Meinung vertrat, dass das Obrig-
349 keitsdenken der evangelischen Tradition grundsätzlich überholt sei. Sein entscheidendes Argument war: Der Staat im 20. Jahrhundert müsse sich im Zuge der europäischen Demokratieentwicklung auf ein von allen Menschen einer Gesellschaft anerkanntes und insbesondere von der sog. christlichen Sittlichkeit getragenes Recht stützen. In der DDR dominiere dagegen die weltanschaulich begründete Machtausübung das Recht. Dibelius bestritt darum die Rechtmäßigkeit des DDR-Staates und schlussfolgerte daraus, dass Christen diesem Staat in ihrem Gewissen keinen Gehorsam schuldig seien.7 Das Vertrackte jenes Streites zwischen Dibelius und seiner Kirche, die von der übelsten Hetze der DDR-Propaganda gegen diesen als „konservativ“ verrufenen Kirchenmann begleitet war, bestand nun darin, dass sich ausgerechnet der in Deutschland sehr einflussreiche Schweizer Theologe Karl Barth auf die Seite der Anerkennung des DDR-Staates als „Obrigkeit“ schlug. Barth hatte eigentlich schon lange vor der Demokratie-Denkschrift von einer „Affinität“ des Evangeliums „zur Demokratie“ gesprochen.8 Im Ost-West-Streit aber wollte er vor allem die Freiheit der Kirche gegenüber allen politischen Systemen gewahrt sehen. Ein „dritter Weg“ „für ein freies, […] seinen eigenen Weg gehendes Europa“ erschien ihm deshalb als die politische Option, die in Ost und West von der freien Kirche ins Auge zu fassen ist, nicht aber die Parteinahme der Kirche für die westliche oder die östliche Position.9 Um diesen Weg zu gehen, empfahl er 1958 in dem berühmten „Brief an einen Pfarrer in der DDR“, der ihm all die Bedrückungen geschildert hatte, unter denen Christinnen und Christen in der DDR zu leiden hatten, „Loyalität“ gegenüber diesem Staat, wobei er präzisierte: „‘Loyalität‘ schließt den Vorbehalt der Gedankenfreiheit gegenüber der Ideologie, aber auch den Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell des Widerstandes gegen bestimmte Explikationen und Applikationen einer vorgegebenen Staatsordnung in sich“.10 Dieser Brief durfte in der DDR nicht veröffentlicht werden. „Dritte Wege“ waren den DDR-Ideologen noch verdächtiger als die offene Verneinung realsozialistischer Machtausübung. Einen „dritten Weg“ haben die Kirchen in der DDR denn auch tatsächlich nicht gesucht. Ihnen ging es je länger je mehr vielmehr darum, diesem diktatorischen Staatswesen das Beste abzugewinnen, was von einem Staat zum Wohle seiner Bürgerinnen und Bürger zu erwarten und zu fordern ist. Insbesondere nach der Errichtung der Berliner Mauer im Jahre 1961 blieb den Evangelischen Kirchen in der DDR auch gar nichts anderes übrig, als sich darauf einzustellen, dass sie nach menschlichem Ermessen auf unabsehbare Zeit unter dem von der gewaltigen Militärmacht der Sowjetunion gestützten sozialistischen Staat würden leben müssen. Es konnte nicht dabei bleiben, diesen Staat gewissermaßen nur zähneknirschend als „Obrig-
keit“ zu ertragen. Alleine schon um der Menschen christlichen Glaubens willen, die ihr Leben unter den Bedingungen der DDR-Gesellschaft führen mussten, war es nötig, sich in ein positives Verhältnis zum real-sozialistischen Profil des DDR-Staates zu setzen. Das geschah, indem sich der 1969 gegründete Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR selbst als „Kirche im Sozialismus“ profilierte. 3. „Kirche im Sozialismus“ Mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR – also des Zusammenschlusses der östlichen Landeskirchen zu einem selbständigen Verbund – wurde die organisatorische Einheit der Kirchen in ganz Deutschland beendet. Zwar bekannte sich dieser Bund im Artikel 4 seiner Grundordnung zum Ärger der Genossen im Zentralkomitee der SED zur „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“. Auch war es der DDR-Führung gar nicht so lieb, dass ihr die Kirche in der DDR jetzt als einheitlicher Verbund gegenüber trat. Sie hätten es lieber mit den einzelnen Landeskirchen zu tun gehabt, mit denen nach dem Prinzip „divide et impera“ (teile und herrsche) zu verfahren gewesen wäre. Dennoch entsprach die Trennung der DDRLandeskirchen von der EKiD ihrer Absicht, die Teilung Deutschlands auch kirchlich zu zementieren. Von Seiten der Kirche aber war die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit der Absicht verbunden, die ideologische Grundlage des DDR- Staates gerecht zu würdigen. Eine Rolle spielte dabei wiederum Karl Barth, der schon 1949 zu bedenken gegeben hatte, dass dem sozialistischen Staatswesen eine „konstruktive Idee“ zugrunde liege, nämlich die Lösung der „sozialen Frage“ und damit die Verwirklichung umfassender Gerechtigkeit in der Gesellschaft.11 Als die DDRRegierung im Jahre 1968 die Zustimmung zu einer neuen Verfassung, in welcher die Kirchen nur noch marginal vorkamen, von der Bevölkerung mit den üblichen Erpressungen erzwang, erklärten die ostdeutschen Bischöfe auf dieser Linie, dass sie sich als Staatsbürger „vor die Aufgabe gestellt“ sehen, „den Sozialismus als eine Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.“12 Doch wenn Bischöfe den Sozialismus verwirklichen wollten, dann ist das etwas anderes als das, was einer marxistisch-leninistischen Partei vorschwebte. Deshalb war man auf Parteiebene auch sehr damit einverstanden, dass die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ nicht besagte, die Kirche sei „für den Sozialismus“. Richtungsweisend für das Verhältnis von Kirche und Staat wurde vielmehr eine weitläufige Formel, welche der erste Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Albrecht Schönherr, auf der Synode des Kirchenbundes in Eisenach im Jahre 1971 verwendete. Sie lautete: Die Kirche ist „nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus“.
350 Dass die Verwendung der Formel von der „Kirche im Sozialismus“ ein Fehler war, hat Schönherr später in seiner Biographie eingeräumt13. Sie differenzierte nicht zwischen Staat, Gesellschaft und Ideologie. Sie klang so, als sei die Kirche „im Sozialismus“ wie in einem freundlichen Hause eingebettet und dementsprechend auch in seiner Ideologie beheimatet. Eigentlich konnte sie aber nur meinen, dass die Kirche für die Menschen in der sozialistischen Gesellschaft da sein wollte. In diesem Sinne verstand sich der Bund der Evangelischen Kirchen als eine „Kirche für andere“. Dieses Selbstverständnis implizierte in Schönherrs Interpretation jedoch mehr, als nur die allgemeine Absicht der Zuwendung der Kirche zu den Menschen. „Für andere“ hieß für ihn auch: Für die, welche den „Sozialismus“ aufbauen. Schönherr aktualisierte damit Überlegungen, die Dietrich Bonhoeffer 1944 im Gefängnis angesichts der zunehmenden „Religionslosigkeit“ in der Gesellschaft angestellt hatte.14 „Religionslos“ sein bedeutete für Bonhoeffer, weder im privaten noch im öffentlichen Leben auf Gott als „Problemlöser“ angewiesen zu sein, sondern die Welt selbst „autonom“ und mündig zu gestalten. Dass der weltlich ohnmächtige Gott in Jesus Christus Menschen, die nicht „religiös“ sind, zu solcher Mündigkeit frei macht, war der Ansatzpunkt für Bonhoeffers Verständnis der „Kirche für andere“, welche sich an der „mündigen“ Weltgestaltung beteiligt. Die Frage, was Bonhoeffer bei einer „Kirche für andere“, die im Bekenntnis zu Jesus Christus selbst „religionslos“ ist, eigentlich vorgeschwebt hat, ist bis heute nicht geklärt. Sie hat einen ganzen Bücher- und Aufsatzwald entstehen lassen, der weltweit auch heute noch anwächst. Schönherr aber taktete die Muster von Bonhoeffers Argumentationen in das Verhältnis der Kirche zum „Sozialismus“ in Gestalt seiner realen Verwirklichung durch den DDR-Staat ein. Er verstand den sozialistischen Staat mit seinem Totalanspruch auf die Macht in allen Bereichen des Lebens der Gesellschaft als Befreiung der Kirche von eigenen Machtansprüchen und gesellschaftlichen Privilegien. Seine radikale Klärung der Machtfrage helfe der Kirche, „allein ihren Herrn regieren (zu) lassen und auf alles eigene Regieren (zu) verzichten.“15 Im Sinne Bonhoeffers sei der historische und dialektische Materialismus als „militante Mündigkeitserklärung der Welt durch sich selbst und […] als ‚hoffnungsvolle Gottlosigkeit‘“ zu interpretieren.16 Hoffnungsvoll ist er, weil ihm die Vorstellung des Aufbaus einer gerechten Gesellschaft zugrunde liegt, an welchem Christen sich in „mündiger Mitarbeit“ beteiligen können. Wir lassen hier auf sich beruhen, was Bonhoeffer zu dieser Projizierung seiner Überlegungen auf den sozialistischen Machtstaat und seine Weltanschauung gesagt hätte. Dass der „real existierende Sozialismus die „mündige Welt“, der militante Athe-
ismus die „hoffnungsvolle Gottlosigkeit“ und der Aufbau des Sozialismus das „Tun des Gerechten“ sei, wurde damals auch innerkirchlich stark in Frage gestellt. Doch die Vorstellung von der „mündigen Mitverantwortung“ der Kirche beflügelte auch das Bestreben in der Kirche, in Sachen „Sozialismus“ mitzureden. Das jedoch war ganz und gar nicht im Sinne der Staatspartei. Als Heino Falcke 1972 auf der Bundessynode in Dresden unter der Überschrift „Christus befreit – darum Kirche für andere“17 angesichts der demokratischen Defizite sozialistischer Gesellschaftsgestaltung für einen „verbesserlichen Sozialismus“ eintrat, löste das größte staatliche Besorgnis aus. „Religiöses“ Hineinreden in den Sozialismus galt als „Revisionismus“, d.h. als besonders raffiniertes Agieren des „Klassenfeindes“. Auf Parteiebene verstand man dagegen unter der „Kirche im Sozialismus“ eine den Partei- und Regierungsbeschlüssen ergebene Kirche. Beides – das kirchliche Streben nach einem „besseren Sozialismus“ und das staatliche Zugeständnis, mit einer widerspruchslosen Kirche wohlwollend umzugehen – hat das Staat-Kirche-Verhältnis gegenüber den Anfangszeiten der DDR je auf seine Weise in Bewegung gebracht. Dass die Kirche durch ihre Kirchenleitungen beteuerte, „im Sozialismus“ und nicht in einer anderen Gesellschaftsordnung leben zu wollen, hat einerseits zu einer gewissen Entkrampfung dieses Verhältnisses gesorgt, das sich bis auf die Basis des Lebens der Gemeinden auswirkte. Exemplarisch dafür steht das „Spitzengespräch“ zwischen dem Vorstand des Bundes Evangelischen Kirchen in der DDR mit dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vom 07. März 1978.18 Bei diesem Gespräch wurden der Kirche eine ganze Reihe von Unterstützungen bei Bauvorhaben, bei Fernsehsendungen, bei Jubiläumsveranstaltungen zum 500. Geburtstag Martin Luthers, bei der Gefängnisseelsorge und bei der Einrichtung kirchlicher Kindergärten zugesagt. Mehr noch: Die Kirchliche Land- und Forstwirtschaft wurde den LPGs gleichgestellt. Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten sich jetzt der staatlichen Rentenversicherung bedienen. Die Einfuhr theologischer Literatur aus dem Westen wurde genehmigt. Vor allem aber war angesichts der Drangsalierung von Christinnen und Christen auf Ortsebene die Feststellung wichtig: „Das Verhältnis von Staat und Kirche ist so gut, wie es der einzelne christliche Bürger vor Ort erfährt“. In der Tat waren das Regelungen, welche die Ortsfunktionäre veranlassten, Christinnen und Christen nicht mehr bloß als „Klassenfeinde“ zu behandeln. Nur in der Bildungspolitik blieb die SED hart. Da war Margot Honecker, die Ministerin für die Volksbildung, vor! Junge Christinnen und Christen wurden weiterhin überwiegend von der höheren Schulbildung ausgeschlossen. Und auch sonst war das Zutrauen der SED zur Sozialismus-Treue der Kirche nicht allzu stark. Der Staatssicherheitsdienst
351 hat nicht aufgehört, die Kirche auszuspähen und versucht, sie durch „Inoffizielle Mitarbeiter“ zu manipulieren. Von einer Unterwanderung der ganzen Kirche durch diesen menschenverachtenden Geheimdienst, wie sie etwa Gerhard Besier konstruierte19 und wie sie westliche Journalisten Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts sensationsgierig aufgebauscht haben, kann zwar keine Rede sein. Dass die Wenigen in der Kirche, die sich zur geheimen Zusammenarbeit mit der Stasi verführen ließen, dennoch in einer christlichen Kirche zu viele waren, ist trotzdem wahr. Doch das ist ein Thema für sich, zu dem ich an anderer Stelle schon das Hinreichende gesagt habe.20 Tatsache bleibt auf der anderen Seite, dass sich der sozialistische Staat, indem er entgegen seiner Ideologie auch die Kirche für seine Ideologie einspannen wollte, einen äußerst lebendigen Vogel ins Nest gesetzt hatte, dem sich nicht einfach die Flügel stutzen ließen. Denn eine Kirche besteht nicht nur aus Kirchenleitungen, die wie ein Parteiapparat von oben nach unten „durchschalten“ können, was sie beschlossen haben. Eine Kirche ist ein lebendiges Gebilde von Gemeinden, in denen selbst, wenn man sie „unter Druck“ setzt, ein Geist lebendig ist, der sich nicht abstrakt kanalisieren lässt. So war Kirche in der DDR auch ein Ort in dieser Gesellschaft, in der im Grunde alle Werte einer wirklichen Demokratie ein zu Hause hatten. Hier wurde im Unterschied zu den Pseudowahlen in der DDR der Wert einer echten Wahl lebendig gehalten. Hier wurde die Wahrheit über „real existierenden Sozialismus“ ausgesprochen. Die Kirche hat sich für Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Freiheit der Bildung und Ausbildung eingesetzt. Sie hat sich für Menschen engagiert, die ungerecht behandelt wurden. In ihren Räumen konnten sich die Künste frei entfalten, die ansonsten in der DDR reglementiert wurden. In der Kirche fanden in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts basis-demokratische „Umwelt- und Friedengruppen“ Raum. Die Gründung der Ost-SDP wurde am „Sprachenkonvikt“, einer Kirchlichen Hochschule, in der auch die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ einen Ort hatte, geplant und in einem Pfarrhaus vollzogen. Kurz und gut: Die Evangelische Kirche in der DDR ist bei ihren Versuchen, den Sozialismus besser zu machen, als er in seinem realen totalitären Wesen war, eine Anwältin für die Wesenszüge eines demokratischen Staatswesens gewesen. Es war darum kein Zufall, dass diese Kirche im Jahre 1989 bei der „friedlichen Revolution“ zu einem der wesentlichen Konzentrationsorte des demokratischen Wandels der sozialistischen Gesellschaft wurde. Eine Zeit lang hat sie nach dem Fall der „Mauer“ und vor den ersten demokratischen Wahlen in der DDR sogar selber Regierungsverantwortung übernommen. Pfarrerinnen, Pfarrer und Gemeindeglieder übernahmen an den „runden
Tischen“ den Vorsitz. Es ging dabei nicht darum, staatliche Macht für die Kirche zu erlangen, sondern einem regierungsunfähigen Staat zu helfen, dass er sich demokratisch reformiert. Bemerkenswert an diesen Vorgängen ist, dass eine deutsche Evangelische Kirche hier zum ersten Mal in der deutschen Geschichte alle Obrigkeitshörigkeit abgeschüttelt und um der Menschen willen geholfen hat, ein demokratisches Staatswesen zu errichten. In der Geschichte des Umgangs der christlichen Kirchen mit der Staatsmacht – und insbesondere der deutschen Kirchen mit der Staatsmacht – ist der Anteil der Evangelischen Kirche an der gewaltlosen Umwälzung eines diktatorischen Regimes bis heute singulär. Diese Kirche stand 1989 diesmal nicht auf der Seite der unterdrückenden Gewalt, die sie mit Gottes „Ordnung“ rechtfertigte. Sie stand auf der Seite der Unterdrückten. Sie verstand Gottes „Anordnung“ für den Staat im Sinne von Barmen V so, dass sie gerade den Menschen zugutekommen soll, die unter unrechtmäßiger Gewaltausübung zu leiden haben. Sie zielte auf einen besseren Staat, als es der sozialistische Staat war. Aber sie zielte darauf nicht so, wie sich in der Geschichte die Ablösung eines Staates durch den anderen in schlimmer Regelmäßigkeit immer wieder vollzogen hat, nämlich mit Gewalt, Blut und Tränen. Die „friedliche Revolution“ in der DDR hat vor allem deutlich gemacht, dass Wege der Gewaltlosigkeit zur Veränderung von menschenverachtenden Regimen keine Illusionen sind. Sie sind möglich, ja sie können wirklich werden. 4. Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft Im Zuge der deutschen staatlichen Vereinigung im Jahre 1990 ist es auch zur Wiedervereinigung der deutschen Landeskirchen gekommen. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wurde in die Organisation der Evangelischen Kirche in Deutschland überführt. Nicht alle für die ostdeutschen Landeskirchen Verantwortlichen und nicht alle Gemeindemitglieder waren davon begeistert. Der Wert einer vom Staat getrennten Kirche, die ihre Angelegenheiten aus eigener Kraft regelt, war ihnen zum Ideal geworden. Dass der Staat (gegen Bezahlung!) Kirchensteuern einzieht, den Religionsunterricht verwaltet, Militärseelsorger der inneren Führung der Bundeswehr unterstellt, galt als ein Stachel im Fleisch der vom Staat unabhängigen „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“, wie sich der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR nannte. Man konnte in der Kirche damals und manchmal auch noch heute hören, dass diese in das gesellschaftliche System der Bundesrepublik Deutschland eingepasste Kirche nicht mehr die Kirche sei, für die man sich in der DDR eingesetzt hatte. Doch wirklich überzeugend war dieses Plädoyer für eine gegenüber dem Staat gegenüber völlig selbständige Kirche nicht. Niemand in der Kirche hat z.B. gefordert, die Theologischen Fakultäten aufzu-
352 lösen, mit denen der Staat der Kirche die immens hohen Ausbildungskosten abnimmt. Keiner hat sich beschwert, dass er die Diakonie mitfinanziert und das kulturelle Erbe der Kirche bewahren hilft. Vor allem aber schlug zu Buche, dass die Kirche in der DDR in Wirklichkeit gar nicht so selbständig war, wie es jenem Ideal vorschwebte. Trotz des geschilderten Drucks, den der sozialistische Staat auf die Kirche ausübte, hat er zu der bei seiner Gründung übernommenen Verpflichtung gestanden, Zahlungen an die Kirche zu leisten, zu der sich der preußische Staat im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 verpflichtet hatte. Außerdem wurde die Kirche in der DDR in großem Umfang von der Kirche in der Bundesrepublik finanziell gestützt. Offiziell wurde diese Unterstützung im Rahmen von Steinkohlelieferungen an die DDR abgewickelt, praktisch flossen darüber hinaus sehr viele Gelder und Materialleistungen von West nach Ost. Ohne diese Stützung, durch welche die Kirchen in der DDR auch von den Kirchensteuern der Bundesrepublik profitierten, wären sie so, wie sie lebten, gar nicht lebensfähig gewesen. Hinzu kommt, dass die Kirche in der DDR als Ganze und in Breite keineswegs eine bekennende „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ war. Wenn auch in klappriger Gestalt behielt sie (die Kirchtürme in fast jedem Ort zeigen es an!) die Struktur einer über das ganze Land verbreiteten Flächenkirche bei, für die ein Charakteristikum der „Volkskirche“ typisch war. Ein kleiner Kern engagierter, bekennender Christinnen und Christen ist umgeben von Menschen, die nur locker mit den Glaubensgrundlagen dieser Kirche verbunden sind. Die Kirche in der DDR hat dem Rechnung getragen, indem sie sich als Großinstitution in der Gesellschaft quasi wie eine Körperschaft öffentlichen Rechts organisierte. Sie erließ eigene Kirchengesetze, hatte eine eigene Gerichtsbarkeit, verlieh den Geistlichen Beamtenstatus, erhob eine Kirchensteuer (auch wenn die mehr eine freiwillige Spende war) und beanspruchte in dieser Gestalt, einen Platz in der sozialistischen Gesellschaft einzunehmen. Alles das aber passte nach dem Ende des sozialistischen Staates strukturell zu der Kirche, mit der die Kirche in der DDR laut der Verfassung des Kirchenbundes „eine besondere Gemeinschaft“ pflegte. „Unter dem Strich“ war in der DDR kein eigenes Kirchenmodell entstanden. Die Kirche in der DDR hat vielmehr versucht, das Kirchenmodell einer pluralistischen Gesellschaft mit besonderer Betonung des geistlichen Kerns einer Kirche unter den Bedingungen einer monistischen Gesellschaft zu praktizieren. In einer monistischen Gesellschaft bestimmt eine Religion, eine Weltanschauung oder eine politische Kraft wie das Königtum alle Bereiche des Lebens der Gesellschaft. In der pluralistischen Gesellschaft21 wird das gesellschaftliche Leben dagegen von verschiedenen, relativ voneinander unabhängig wirkenden Kräften in der Gesellschaft geprägt:
z.B. von der Wirtschaft und ihren Institutionen, von der Wissenschaft und ihren Institutionen, von Religionen und Weltanschauungen, von den Künsten, Sportverbänden, Medien und vielen anderen gesellschaftsrelevanten Kräften. Dem Staat aber fällt die Aufgabe zu, diesen Kräften einen Rechtrahmen zu setzen, dessen Durchsetzung durch staatliche Macht darauf zielt, dass alle diese Kräfte dem Gesamtleben der Menschen unter dem Gesichtspunkt Menschenwürde jedes einzelnen Menschen zu Gute kommen. Für die Kirchen bedeutet diese Gesellschaftsstruktur eines politischen Pluralismus, dass ihnen der Staat einen legitimen Platz im gesellschaftlichen Leben einräumt und von ihnen erwartet, dass sie ihren Beitrag für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in unserer Gesellschaft leisten. Das tun sie denn auch. Die evangelische Kirche heute ist eine eindeutige Anwältin der Demokratie, die sich für ihre humanen Grundwerte einsetzt. Die Zeiten, in denen vor allem Gehorsam gegenüber der „Obrigkeit“ als eigentlich „christlich“ galt, sind vorbei. Die Evangelische Kirche weiß sich für diesen Staat mit verantwortlich und stellt das in Worten und Taten gesellschaftlichen Engagements vielfältig unter Beweis. Politische Macht, die immer mit Druck und auch mit Gewaltausübung verbunden ist, darf sie dabei aber auf keinen Fall in Anspruch nehmen. Eine Kirche kann Menschen nur mit den Impulsen des Evangeliums für eine menschenfreundliche Gestaltung der Gesellschaft werben. Weltlicher Druck welcher Art auch immer verdirbt dieses Werben. Doch „Zumutungen“ an die Politik in ihrer Gesetzgebung und in ihrer Praxis gehen von der Evangelischen Kirche zweifellos beständig aus. Sie sind, wie Eberhard Jüngel gesagt hat, jedoch als selbstloser „Dienst“ zugunsten der Menschen in der Gesellschaft zu verstehen und nicht als „Bevormundungen“ des Staates.22 Im öffentlichen Diskurs unserer pluralistischen Gesellschaft aber verstummt die Frage nicht, ob die Regelungen des deutschen Staatskirchenrechtes, mit welchen der Staat den Dienst der Kirche mit dem Einzug der Kirchensteuern, durch den Religionsunterricht, mit der Militärseelsorge, den Theologischen Fakultäten usw. fördert, nicht eine ungerechtfertigte Privilegierung nun gerade dieser Religionsgemeinschaft gegenüber anderen Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften darstellen. Verletzen diese Regelungen nicht die weltanschauliche Neutralität des Staates? Bringen sie die Kirche nicht doch in die Abhängigkeit von der Macht des Staates? Theologisch streng geurteilt wird man zugeben müssen, dass es für unser deutsches Staatskirchenrecht eigentlich keine zwingenden Gründe gibt. Die meisten Evangelischen Kirchen der Welt existieren (abgesehen von den Staatskirchen z.B. in Skandinavien) ohne derartige rechtlich verfasste
353 Kooperationen von Staat und Kirche. Es gibt auch keinen im Auftrag der Kirche begründeten Anspruch auf die Förderungen, die der Staat der Kirche in Deutschland zuteilwerden lässt. Die Evangelische Kirche in Deutschland kann sich darum in aller Offenheit der Kritik stellen, die vor allem von atheistisch-säkularistischer Seite, aber auch von anderen Religionsgemeinschaften am staatlich unterstützten Wirken der Kirche geübt wird. Wenn andere Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die Voraussetzungen einer „Körperschaft öffentlichen Rechts“ erfüllen, wird sie ihnen zur Seite stehen. Das seit der Reformationszeit über die Aufklärung und das Werden eines demokratischen Staatswesens geschichtlich gewordene Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland aufzukündigen oder zu zerschlagen, ist jedoch weder von Seiten des Staates noch von Seiten der Kirche geraten. Auch wenn die Kirchen hierzulande anders als weltweit, wo die Christenheit rasant wächst, beständig Mitglieder verlieren, sind sie doch eine stabile Kraft demokratischer Gesinnung, humanen Geistes und kultureller Schaffenskraft, die dem Staat keinen Anlass geben, ihnen die Kooperation zu verweigern. Die Kirche aber kann die Möglichkeiten, die ihr in der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft eingeräumt werden, nicht anders verstehen als so, dass sie ihre Freiheit unterstützt, aus ihren eigenen Grundlagen heraus für eine gerechte, menschenfreundliche Gesellschaft im Namen der guten Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes einzutreten. Nach aller Erfahrung schränkt das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland diese Freiheit nicht ein. Denn es tangiert nicht die Freiheit der Kirche, bei gegebenen Anlässen mit der Politik des Staates hart ins Gericht zu gehen. Es ist auch mit keinen Auflagen verbunden, die auf die Staatshörigkeit der Kirche zielen. So, wie sich die Evangelische Kirche heute versteht, sind in ihr die beiden reformatorischen Grundsätze des Verhältnisses von Staat vielmehr in gewandelter, transformierter Gestalt lebendig. Sie besteht auf der Unterscheidung von Staat und Kirche und weist alles Hineinregieren in die Kirche, wie es der sozialistische Staat versuchte, ab. Aber sie bejaht den Staat, der nicht bloß mit dem „Schwert“, sondern mit einer Rechtsordnung dafür sorgt, dass sich das humane Potential der Kirche in der Gesellschaft entfalten kann.
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Literatur
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Vgl. Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, hg. von A. Burgsmüller und R. Weth, Neukirchen 1983, 38f. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik IV/2, ZollikonZürich 1955, 750. Rudolf Mau, „Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990)“, Leipzig 2005. Theologische Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland in Berlin 1956, in: Für Recht und
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Frieden sorgen. Auftrag der Kirche und Aufgabe des Staates nach Barmen V. Theologisches Votum der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1986, 110. Für Recht und Frieden sorgen, 112. „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe.“ Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1985, 12. Vgl. Otto Dibelius, Obrigkeit? Berlin 1949, 49ff. Karl Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde, München 1946, 31f. Die Kirche zwischen Ost und West, in: Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930–1960, hg. von K. Kupisch, Berlin 196, 142. Offene Briefe 1945–1968, hg. von D. Koch, Karl Barth Gesamtausgabe, V. Briefe, Zürich 1984, 429. Die Kirche zwischen Ost und West, in: Der Götze wackelt, 137. Zitiert bei R. Mau, Protestantismus, 95. …aber die Zeit war nicht verloren. Erinnerungen eines Altbischofs, Berlin 1993, 374. Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, München 1998, 402–598. Albrecht Schönherr, Impulse aus der Theologie Bonhoeffers für den Weg der Christen in der sozialistischen Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik, in: J. Rogge/G. Schille (Hg.), Theologische Versuche VI, Berlin 1975, 127. Vgl. a.a.O., 134. Vgl. Heino Falcke, Christus befreit – darum Kirche für andere. in: Zum politischen Auftrag der Gemeinde. Barmen II, Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, hg. von Alfred Burgsmülle, Gütersloh 1974, 213–232. Vgl. zum Folgenden R. Mau, Protestantismus, 132–136. Vgl. dazu meine Rezension zu Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche 1969-1990. Die Vision vom „Dritten Weg“, Frankfurt a.Main 1995: Geschichte verhacktstückt. Besiers einseitige Darstellung der DDR-Kirchen, Ev. Komm. 10 1995, 593–596. Vgl. Wolf Krötke, Mußte die Kirche mit der Stasi reden? in: Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft, Theologische Orientierungen im Übergang vom ‚real existierenden Sozialismus‘ zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, Tübingen 1994, 222–228. Vgl. zum Folgenden ausführlich: Eilert Herms, Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991; Michael Welker, Kirche im Pluralismus, Göttingen 1995. Eberhard Jüngel, Was ist die Aufgabe evangelischer Kirchenleitung? in: ders.: Indikative der Gnade - Imperative der Freiheit. Theologische Erörterungen IV, Tübingen 2000, 371.
354 Werner J. Patzelt
Religion und Politik, Kirche und Staat vor neuen Herausforderungen: Zur Rückkehr von Religiosität in eine religionsfreie Gesellschaft 1. Worum geht es? Lange Zeit galt die Aufgabe als gelöst, Religion und Politik möglichst spannungsfrei aufeinander zu beziehen. Einesteils ließ sich die als „Kirche“ organisierte christliche Religion über bewährte Rechtsformen in ein klares Verhältnis zum Staat setzen, nämlich von der Staatskirche über ein partnerschaftliches Kirche/Staat-Verhältnis bis hin zum Laizismus. Andernteils entfernte die – mit allgemeiner „Säkularisierung“ einhergehende – Privatisierung des Religiösen ohnehin viele Reibungsstellen zwischen Politik und Religion, ließ also religiöse Gestaltungswünsche im breiten Strom ganz legitimer, auch dissentierender Vielfalt aufgehen. Diese Domestizierung und Entöffentlichung von Religion wird nun brüchig. Erstens trägt dazu die Ausbreitung des Islam im weithin nur noch fassadenhaft christlichen Europa bei. Denn weder ist der Islam kirchenartig verfasst, d.h. mit Religionsführern ausgestattet, die als intern handlungsfähige Gegenüber des Staates auftreten könnten. Noch hat der Islam eine ihn prägende Tradition des für Europa so typischen Dualismus von Religion und Politik. Eben das macht vielen Muslimen eine Beschränkung von Religion auf das Privatleben unplausibel. Spiegelbildlich führt das zu Irritationen ihrer Mitbürger, für die nichts selbstverständlicher ist, als dass Religion reine Privatsache zu sein hat. Also wirkt es auf sie oft provozierend, wenn ein normaler Mitmensch seine Religiosität demonstrativ hervorkehrt – etwa durch Kleidung oder durch ein von gemeinsamen Alltagsroutinen abweichendes Verhalten. Zweitens öffnet sich für neue Religionen in Europa ohnehin freier Raum. Einesteils ist Religionskritik dort traditionell Kritik am Christentum, was diese Religion weitgehend in eine Defensivhaltung gegenüber dem jeweiligen kulturellen Komment gebracht hat. Das führte zu einem sehr flachen religiösen Profil der meisten Christen und zu vielen Versuchen von Kirchenverantwortlichen, bei zeitgenössischen Moden möglichst nicht anders denn als besonders willige Mitmacher aufzufallen. Andernteils legen europäische Politikprinzipien wie Liberalität und Pluralität gegenüber einer sich neu ausbreitenden Religion in erster Linie Aufgeschlossenheit und wohlwollendes Abwarten nahe, nicht aber eine Problematisierung möglicher Folgen ihrer wachsenden Popularität. Genau so gingen – und gehen – unsere Einwanderungsgesellschaften mit dem Islam um. Was aus diesen Entwicklungen inzwischen aber entstanden ist, vor allem an Parallelgesellschaftlichkeit und an Inseln von Dschihadismus, nährt durchaus Zweifel an der fortdauernden Stimmigkeit
bisheriger religionspolitischer Selbstverständlichkeiten. Solche Zweifel zu formulieren, führt aber noch nicht zu neuer Orientierung. Zu der kann es erst dann kommen, wenn die kulturellen und institutionellen Tiefenschichten jener neuen Erscheinungen im Verhältnis von Religion und Politik begriffen sind. 2. Zur evolutionsbedingten Zusammengehörigkeit von Politik und Religion Politik und Religion gehörten seit je zusammen. Die Evolutionsforschung kann zeigen, dass es individuelle und kollektive Überlebensvorteile verschafft, wenn man einen kognitiven Suchalgorithmus für nicht unmittelbar Erwartetes besitzt, zumal für hier-und-jetzt nicht Sichtbares. Das können die Gefahren sein, die mit nächstens knackenden Büschen verbunden sind, und ebenso Drohungen aus aufziehenden Gewitterwolken. Solche Fitnessvorteile im Blick, kann man sich gut erklären, warum der Glaube an Wesen, die „hinter den sinnlich erfassbaren Dingen walten“, individuell entstehen und kollektiv bestehen bleiben konnte. Solcher Glaube außerdem in Vorstellungen darüber münden, vor welchen Wesen man sich in Acht nehmen müsse, mit welchen anderen man sich aber auf die eine oder andere Weise verbünden könne. Im Übrigen macht die Evolutionspsychologie plausibel, dass die Fähigkeit zur Religiosität – nicht freilich irgendeine Religion selbst – schon angeboren ist, und zwar in etwa so wie die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen. Es scheint nämlich ein in der Kindheit liegendes Zeitfenster zu geben, in dem – die entsprechende kulturelle Umgebung vorausgesetzt – eine „Prägung auf Religiosität“ ebenso leicht und lebenslang nachwirkend möglich ist wie der Erwerb jener Sprache als Muttersprache, die im Alltag des Kindes gesprochen wird. Erst angeboren und dann auch kulturell genutzt, verschafft Religiosität vielerlei Ressourcen, die es erleichtern, komplexe Gesellschaften verlässlich zusammenzuhalten, zumal in Gefahren und in Konkurrenzlagen. Vier Beispiele genügen: − Erstens: Der Glaube an überirdische Kräfte, die einem im Kampf beistehen, gibt oft Mut auch dann, wenn die Lage eigentlich aussichtslos ist. Zum gleichen Zweck reicht oft auch der Glaube an etwas, das gleichwie „größer ist als man selbst“ – sei es die eigene Nation, sei es die geschichtliche Mission der Arbeiterklasse und ihrer Partei. − Zweitens: Der Glaube an einen Richter, vor dem man sich nach dem Tod verantworten muss, hält viele zur Befolgung von für göttlich gehaltenen Geboten auch dann an, wenn es eigentlich
355 sehr vorteilhaft wäre, solche Gebote zu brechen. Rousseau machte dies sogar zum Zentralelement der von ihm geforderten „Zivilreligion“. Ähnliches bewirken Denkfiguren wie „persönliche Ehre“ oder das „eigene Bild in der Geschichte“. Auch das transzendiert nämlich die eigene Existenz und gibt von daher dem eigenen Handeln Richtung und Verpflichtung. − Drittens: Jene Rituale, die – in je eigentümlicher Ausprägung – zu allen Religionen oder zu deren funktionalen Äquivalenten gehören, etwa zu politischen Ideologien, stiften oft Gemeinschaftserlebnisse. Diese vermögen auch unabhängig vom jeweiligen religiösen oder ideologischen Gehalt eine Gruppe zusammenzubinden, und solches Sozialkapital kann dann auch für ganz andere Zwecke weitergenutzt werden. − Viertens: Jene sozialen Gruppen, die sich um die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen der Menschenwelt und der Götterwelt annehmen, oder welche die richtige Verankerung der Gegenwart im übergreifenden Geschichtsprozess zu garantieren versprechen: sie schaffen meist nicht nur soziales und kulturelles Kapital, sondern häufen auch materielles und finanzielles Kapital an, was wiederum den davon profitierenden Personenkreis wachsen lässt. Das alles aber kann den Kern einer stabilen Herrschaftsordnung abgeben, also eines politischen Systems bzw. eines Staates. Ob es Geister oder Gott wirklich gibt, ist für das Eintreten dieser vier Folgen ganz unerheblich. Es reicht, dass viele Menschen – und nicht einmal alle – an Geister oder Götter glauben, oder an einen notwendigen Ablauf der Geschichte, bzw. dass sie solches immerhin für möglich und somit für erwägenswert halten. Diese realen Folgen einer irrealen Lagebeurteilung sind dann ihrerseits von allergrößter Bedeutung für die Entstehung von Kultur, von stabiler Gesellschaft, von aufrechterhaltbarer Herrschaft. Also muss es nicht wundern, dass wir in der Geschichte keinerlei Spuren von Gesellschaften oder Staaten ohne Religion finden. 3. Die Vielfalt des Religiösen Natürlich muss man bei der Suche nach Religion und ihren Spuren die Vielgestaltigkeit von Religion und Religiosität in Rechnung stellen. Erstens kann sich die Religion von Priestern und Gelehrten sehr anders ausnehmen als der Volksglaube, bei welchem außerdem vielerlei Vermischungen von alten und neuen Glaubensbeständen möglich sind. Zweitens kann Religion auftreten im Gewand von politischen Ideologien – und zwar auch von solchen Weltanschauungen, die sich klar als atheistisch oder streng wissenschaftlich verstehen. Und drittens kann Religion in jeder beliebigen Haltung zwischen innerer Aufrichtigkeit und verzweckendem Zynismus praktiziert werden, also ernst gemeint oder bloß aufgesetzt sein.
Natürlich gilt das alles nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart. Um das zu erkennen, müssen wir nur unseren europäischethnozentrischen Blick weiten. Nur im Grunde wir Europäer halten es für ziemlich selbstverständlich, dass die Rolle von Religion immer mehr abnehmen wird, dass die meisten Menschen also – gleichsam im Wortsinn – „zur Vernunft kommen“, und dass gar mit der Religion die, nächst dem Kapital, wohl andere zentrale Ursache von Unfriedlichkeit und Krieg verschwindet. Genau diese Folgen wünschen wir uns auch aus guten Gründen – und gelangen von daher leicht zum Werturteil, es sei doch eigentlich sehr gut, wenn Religion zunächst ins Private versickere und dann überhaupt aus einer Gesellschaft verschwinde. Aufklärung und Säkularisierung nennen wir das, und wir halten einen solchen Weg für gleichsam allen Gesellschaften vorgezeichnet, die nicht länger in einem dumpfen Aberglauben und in den daraus erwachsenden Konflikten verharren wollen. Zur Probe aufs Exempel verweisen wir gern auf unsere ostdeutschen Erfahrungen. Denn abgesehen von Tschechien und wohl auch Estland ist keine Gesellschaft so religionsfrei wie gerade die ostdeutsche – und funktioniert dennoch auf keinem geringeren ethischen Niveau als jene Gesellschaften, in denen sich durchaus noch einiges an Religiosität erhalten hat. So sehen diese Zusammenhänge viele. So kann man sie gewiss auch sehen, und auf dieses Erbe nicht zuletzt des Sozialismus mag mancher sogar stolz sein. Doch was man auf diese Weise in den Blick bekommt, ist eben nur ein ganz klein wenig von dem, was weltweit gelebte Praxis ist. Tatsächlich ist das heutige Europa mit seinen christlichen Fassaden, hinter denen nur noch wenig Religion lebt, weltweit – und historisch ohnehin – eine große Ausnahme. In Russlands Alltagsleben kehrt die Religion seit zwanzig Jahren wuchtig zurück. Die USA sind, bei all ihrer technischen und wissenschaftlichen Modernität, immer noch zutiefst religiös. Ähnliches gilt für südamerikanische Gesellschaften – und für Afrika erst recht. Die Chinesen geben zwar stolze Lippenbekenntnis zu ihrer gern bekundeten Areligiosität ab, kultivieren aber aufs neue Konfuzianismus und Taoismus als Religionsäquivalente – um vom revitalisierten Buddhismus ganz zu schweigen. Auch im übrigen Asien ist Religion sehr lebendig, einschließlich des Christentums. Und in den islamisch geprägten Staaten ist von einem Rückzug der Religion aufs Private oder gar von einer Säkularisierung ohnehin nichts zu sehen. Nur in Europa also ist die Illusion entstanden, Religion loszuwerden sei nicht nur möglich, sondern auch der normale Gang der Dinge. Deshalb ist man auch nur in Europa überrascht, wenn nun kulturelle, gesellschaftliche und politische Herausforderungen zurückkehren, die man überwunden glaubte. Erst recht ist es kein Wunder, dass Europa sich schwer tut mit der Entwicklung von Strategien,
356 die jenen Herausforderungen gerecht würden. Es haben nämlich genau jene Denkmuster und Überzeugungen Europa so erfolgreich und so freiheitlich gemacht, welche – als eine ihrer Nebenwirkungen – die Weitergabe des Christentums an nachrückende Generationen recht unwirksam haben werden lassen. Das aber schuf jenen Freiraum, in dem nun eine in Europa lange Zeit ganz randständige Religion – nämlich der Islam – sich nicht nur unübersehbar ausbreitet, sondern auch ehedem unerwartete politische Probleme hervorbringt. Um die Struktur dieser Probleme gut zu verstehen, was seinerseits die Voraussetzung wirksamer Problemlösungen ist, muss man allerdings ins Grundsätzliche des Verhältnisses von Politik und Religion hinabsteigen.
persönliche Religionspraxis der äußerlichen Bekundung religiös-politischer Loyalität nicht in die Quere kam. Aufs Säkulare eingeschrumpft, gehen auch viele heutige Gesellschaften so mit ihren Zivilreligionen um, die unsere etwa mit ihrem Glauben ans Grundgesetz und an dessen Werte. Spitzenpolitiker haben sich immer wieder und öffentlich zu unseren Verfassungsgrundsätzen zu bekennen, haben ihnen gemäß zu handeln, sollen an Staatsfeiertagen verfassungsfeiernde Zeremonien vornehmen; und was man selbst über nicht-störendes Unbeteiligtsein hinaus politisch glaubt oder will, das tut nichts weiter zur Sache. Rein politische Zivilreligion reicht dann als Transzendenzressource des Staates, womit persönliche Religionsfreiheit möglich wird.
4. Staaten mit Einheit von Religion und Politik Grundtatsachen sind, dass Religiosität gemeinsam mit unserer Spezies entstanden ist, und dass Religion – von welcher Art auch immer – sehr viel zum Aufkommen komplexer Gesellschaften beigetragen hat. Manche Archäologen verfechten sogar das Argument, der Übergang zur Sesshaftigkeit sei gerade deshalb erfolgt, weil die Errichtung und Unterhaltung religiöser Kultstätten eine um sie herum ansässige Bevölkerung brauchte – und somit, da zur Lebemsmittelversorgung erforderlich, Ackerbau und Viehzucht. Also habe Religion auch ganz materiell die Sesshaftigkeit als zentrale Voraussetzungen von Hochkultur geschaffen. Die ersten Hochkulturen, über die wir dank Archäologie und schriftlicher Quellen Näheres wissen, sind die der sumerischen Städtewelt im südlichen Mesopotamien sowie das Alte Ägyptische Reich entlang des Nils. Das bringt uns gut 5000 Jahre zurück in die Vergangenheit. In Sumer finden wir, dass der gesamte Wirtschaftsprozess sowie das politische Leben sich um die Haupttempel der Städte herum entfalteten. Deren Oberpriester oder Priesterkönige hielten jene Verbindung zwischen Menschen- und Götterwelt in Gang, die als lebensnotwendig erachtet wurde. Gleiches leistete in Ägyptens Altem Reich der Pharao, zu dessen Hauptaufgaben der ordnungsgemäße Vollzug religiöser Rituale gehörte. Kam es hier zu Störungen oder Fehlern, so zerbrach – so der zeitgenössische Glaube – auch die Ordnung in Kultur und Natur, musste also die Gesellschaft in Unordnung geraten, ja Krieg entstehen. Nicht anders bezog übrigens das klassische chinesische Denken Politik und Ritual aufeinander. Politische Autorität war auf diese Weise unmittelbar religiös legitimiert, ja im Grunde nur die irdische Erscheinungsform göttlicher Autorität. Und es reichte zur nachhaltigen Legitimierung solcher Staatswesen, wenn die Untertanen die politische Autorität nicht herausforderten sowie die religiösen Rituale ungestört vollziehen ließen. Was man persönlich glaubte, oder welchen Gottheiten man sich selbst hingab, war hingegen solange unwichtig, wie die
5. Das Neue: Religiöse Grenzen von Politik Etwas ganz Anderes kam mit dem Judentum in die Welt – und prägte dann auch dessen christliche und islamische Nachfolgereligionen, wenngleich in sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen des Verhältnisses von Religion und Politik. Das Neue war nicht nur, dass sich nun Gott selbst sein eigenes Volk berief, nämlich durch die Aufforderung an Abraham zur Auswanderung aus der sumerischen Welt, sondern obendrein, dass Gott selbst dieses Volk in einem Bund um sich herum einte. Bei den Juden tat er das durch Moses, später bei den Christen durch Jesus, für die Muslime abschließend durch Mohammed. Worin aber liegt die Brisanz einer so von Gott selbst verlangten Hingabe an niemanden anderes als sich selbst für die Organisation des Politischen? Das lässt sich aufs Klarste am Fall des Judentums erkennen. Erstens richtet sich das Bundesangebot Gottes an jeden Einzelnen. Nicht wie in Sumer und Ägypten verbündete sich Gott mit Herrschern, sondern mit jedem einzelnen Menschen, der seine Gebote hören und sie auch befolgen solle. Vor allem wollte Gott nicht Rituale von Königen oder Priestern; vielmehr suchte er, bildlich gesprochen, das Herz eines jeden Menschen. Das aber heißt bis heute: Gesellschaft wird gebildet als Gemeinschaft der Gläubigen, als religiöse Kongregation, als Volk Gottes, als Umma. Somit ist ein jeder aufgerufen, sich ganz persönlich mit Gott ins Benehmen zu setzen. Nicht länger darf er sich hinter Riten verstecken, die andere für ihn vollziehen, während er ansonsten glauben kann, was er will. Er muss schon ganz persönlich zu Gott stehen, braucht aber genau deshalb auch keinen Mittler zwischen sich und Gott. Er braucht allenfalls solche Anführer, die immer wieder einschärfen, was Gott will, und die regelverletzendes Verhalten dann eben auch so bestrafen, dass es fortan tunlichst unterbleibt. Doch die Macht solcher Anführer bricht sich stets an Gottes Geboten. Die aber kennt jedes Mitglied der Gesellschaft. Also darf auch jeder, der sich das zutraut, sein Wissen um Gottes Forderungen dafür nutzen, das Han-
357 deln jedes Anführers zu beurteilen – und zwar auch in der Öffentlichkeit und einem König ins Gesicht. Eben das war die Rolle jener vielen Propheten, die uns im Alten Testament begegnen. Zweitens braucht es, wenn Gott seinem Volk ohnehin klare Regeln gegeben hat, im Grunde keine regelsetzende politische Gewalt, ja auch keinen Staat. Es reichen Richter, die im mit Gott verbundenen Volk auf die richtige Regelanwendung achten; und allenfalls braucht es noch Gelehrte, welche die Regeln der Religion nötigenfalls klären und erklären. Offen bleibt dann freilich, was bei Sachverhalten zu tun ist, die von den bekannten göttlichen Regeln nicht abgedeckt sind. Sie reichen von Belangen militärischer Taktik über die Wirtschaftspolitik bis hin zur Pflege auswärtiger Beziehungen mit nicht zu Gottes Bund gehörenden Völkerschaften. Hier tut sich zweifellos Spielraum für genuin politische Entscheidungen auf, d.h. für solche Entscheidungen, die man – typischerweise unter Ungewissheit über ihre Folgen und somit geleitet von rein persönlichen Präferenzen – so oder anders treffen kann. Was aber wird, wenn religiöse Menschen behaupten, diese Entscheidungen wären mit Gottes Gebot unvereinbar, was – wenn massenhaft so geglaubt – den politischen Führern eines letztlich von Gott geleiteten Volks schlicht ihre Legitimität entzieht? Eben das war ein Dauerproblem für die jüdischen Königreiche. Um der Religion willen brauchte es sie gar nicht; und im Grunde salbte der Richter Samuel ja nur deshalb Saul zum ersten König der Juden, weil die sich immer wieder darüber empörten, dass sie keinen politisch handlungsfähigen König hätten wie die sie umgebenden Völker. Stets blieb deshalb die Legitimität eines jüdischen Königs von den „Propheten“ bedroht, also von solchen Leuten, die – warum auch immer – ihre Verpflichtung darin sahen, Verfehlungen der Könige gegen Gottes Wort öffentlich zu machen, und die anschließend forderten, der König möge Politik oder Lebensführung ändern – oder müsse um seinen Thron gebracht werden. Die Macht der Politik wurde dort durch die Macht von Religion beschränkt, wenngleich nicht in berechenbarer Weise, und schon gar nicht mittels verlässlicher Institutionen. Anders als Ägyptens Pharao war der jüdische König nämlich gerade nicht der religiöse Führer seines Volks. Bestenfalls war er ein hochangesehenes ausführendes Organ göttlichen Gesetzes, über das er allerdings kein Deutungsvorrecht besaß. Eine solche Lage macht die Stellung eines Spitzenpolitikers immer höchst prekär, und zwar unabhängig von den Inhalten der Religion, die ihm Grenzen setzt. Entsprechend instabil sind dann jene staatlichen Strukturen, die um die jeweilige Religion herum, doch an den Religionsführern vorbei errichtet werden. Also ist nicht aus rein religionsgeschichtlichen Gründen das im jüdischen Glauben angelegte Ver-
hältnis von Religion und Politik betrachtenswert. Wichtig ist es vielmehr, weil Christentum und Islam, von der gleichen Leitidee eines Bundes Gottes mit den Menschen ausgehend, durchaus andere – und einander sehr gegensätzliche – Institutionalisierungen des Verhältnisses von Religion und Politik entwickelt haben. Weil aber die „Rückkehr von Religion“ nach Europa sich vor allem durch die Ausbreitung des Islam in einer sich frohgemut entchristlichenden Kultur vollzieht, muss dieser grundlegende Unterschied begriffen werden, wenn man die aktuellen religionspolitischen Probleme von ihrer Verursachungsstruktur her verstehen will. 6. Religion und Politik in christlicher Balance Als die Römer die Herrschaft über das jüdische Siedlungsgebiet übernommen hatten, ließ sich deren politische Macht aus religiösen Gründen zwar für schlecht erklären, doch nicht mehr beseitigen. Was zur Zeit der jüdischen Königreiche als Versuch lobenswert war, einen vom rechten Weg abkommenden Herrscher zurechtzuweisen, galt nun als Aufruf zum Aufstand. Das sind die Umstände, in denen der Rabbi Jesus die seit über tausend Jahren überlieferten göttlichen Gesetze nicht aufheben, sondern erfüllen wollte. Konflikte konnten da nicht ausbleiben, sowohl mit den traditionellen Auslegern der Rechtsgrundlagen von Gottes Bund mit dem jüdischen Volk als auch mit der römischen Regierungsmacht. In eben dieser Lage formulierte Jesus seine für die Geschichte des christlichen Europa so folgenreiche Aussage, man müsse Gott geben, was Gottes sei – und dem Kaiser, was des Kaisers sei (Matthäus 22, 21; Lukas, 20, 25). Damit waren die Bereiche des Religiösen und des Politischen klar geschieden. Anders als in Sumer, in Ägypten oder im alten Judah sollten Religion und Politik nicht Seiten derselben Medaille sein. Sondern Politik sollte, solange sie sich nicht in religiöse Leben von Menschen einmischte, ihrer eigenen Logik folgen; und gleiches sollte für die religiöse Praxis gelten, solange sie nicht ins politische Leben eingriff. Wie so manches gute Prinzip klang auch dieses umso besser, je weniger folgenreich seine Anwendung war. Für jene kleine jüdische Sekte, als welche das Christentum begann, meinte Jesu Grundsatz im Grunde nur: Anders als die jüdischen Religionsgelehrten werden wir die Legitimität der römischen Staatsmacht nicht bestreiten – und also habt ihr Mächtigen auch keinen Grund, uns zu verfolgen. Noch weit jenseits des Horizonts lag die Frage, was der Grundsatz einer strikten Trennung von Religion und Politik wohl meinen solle, sobald ein Großteil der Bevölkerung christlich geworden wäre, ja gar die Regierenden selbst dieser Religion angehörten. Sollten sie bei ihrer Amtsführung dann religiöse Gebote nicht mehr ernstnehmen müssen? Als eineinhalb Jahrtausende später Niccolò Machiavelli genau das forderte und die „ragione di stato“ zum
358 politischen Leitprinzip erhob, also die Sicherung einmal erreichter politischer Stabilitätszustände, fing er sich den Vorwurf ein, seine Schriften wären „mit dem Finger des Teufels geschrieben“. Viel einfacher war es jedenfalls, dem Kaiser und Gott jeweils „das Seine“ zu geben, solange die Christen klar in der Minderheit und fern von politischer Macht waren. Paulus etwa stellte in der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts klar, der Christ habe jeder Obrigkeit untertan zu sein (Römer, 13, 1f). Und tatsächlich ist das Christentum unter jedem politischen Regime lebbar – mit dem alleinigen, doch wichtigen Unterschied, ob Christen auch für das private, in keiner Weise auf öffentliche Sichtbarkeit ausgehende Praktizieren ihrer Religion verfolgt werden oder nicht. Jedenfalls haben Christen bis heute keine grundsätzlichen Probleme damit, auch unter muslimischen, politisch-ideologischen oder atheistischen Regimen zu leben. Dennoch stellte sich gerade unter solchen Umständen die Frage, warum man wohl eine sich ganz offensichtlich gegen Gottes Gebote – etwa zur Nächstenliebe – vergehende Regierung ertragen solle. Die Antwort findet sich schon bei Paulus. Drei Jahrhunderte später wurde sie durch den Kirchenvater Augustinus systematisch entfaltet: Menschen haben nicht nur die Freiheit, Schlechtes zu tun, also „Sünden“ zu begehen. Sondern sie haben oft auch Lust auf das Tun des objektiv Schlechten, was im Christentum „Erbsünde“ heißt. Weil also Menschen immer wieder – und obendrein gerne – schlechte Dinge tun, braucht es Regierungen, die sie vom Tun des Schlechten möglichst abhalten – einesteils durch Unterweisung im Guten, also durch religiöse Erziehung, und andernteils durch Ermittlung und Bestrafung von Fehlverhalten. Obendrein ist damit zu rechnen, dass auch die Inhaber politischer Macht Sünder sind, also zum Tun des Schlechten neigen. Politik und Staat mitsamt verbrecherischem Regieren entstehen somit als Folge der Fähigkeit zum schuldhaften Tun. Im jüdisch-christlichen Mythos wird es in der Geschichte von „Adams Fall“ dargestellt, und evolutionsbiologisch erklärt es sich aus der Entkoppelung von Umweltreizen und eigenem Handeln. Bekanntlich wird in der Bibel von Eva und Adam bewusst das Verbot übertreten, vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen. Die gewonnene Erkenntnis aber bestand im Wissen darum, dass man sich an Regeln halten kann – oder eben auch nicht. Genau das eröffnet den Spielraum menschlicher Freiheit. Doch die Folge dann wahrscheinlicher Regelübertretungen ist, dass man nun nicht mehr „im Paradies“ lebt, sondern unter lebenslänglichen Sicherheitsrisiken, wie sie später Thomas Hobbes beschrieb. Aus ihnen aber befreit nicht der Glaube an einen guten Gott, sondern nur eine stabile Regierung – und idealerweise eine, die sich von Gottes Geboten leiten lässt. Genau dann wäre schon auf Erden jene Bitte aus dem „Vater unser“ erfüllt, die da lautet: „Dein Reich komme!“
Solange dieses „Reich Gottes“ aber nicht da ist, weil Menschen im Allgemeinen und Politiker im Besonderen auch – und vielleicht gar gerne – das Schlechte tun, sind Politik und Staat „notwendige Übel“ und als solche hinzunehmen. Anders als im Denken von Griechen und Römern sind sie nicht um ihrer selbst willen schätzenswert, oder immerhin aufgrund der von ihnen erbrachten gesellschaftlichen Ordnungsleistung. Sie sind wirklich nur notwendige Notbehelfe menschlichen Lebens, ja lohnen den letzten Einsatz wohl gar nicht. Und sich auf Politik einzulassen, macht zwangsläufig zum Sünder. Zwar gilt im Konfliktfall zwischen politischen und religiösen Pflichten, was schon Petrus – der von Jesus eingesetzte Leiter der damals noch kleinen Christenschar – so formulierte: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apostelgeschichte 5, 29). Weil aber zu Gottes Wort auch Weisungen gehören wie die aus Jesu „Bergpredigt“, wonach man ausgerechnet seine Feinde zu lieben habe, ließen sich Konflikte zwischen Religion und Politik grundsätzlich nicht mehr vermeiden, sobald Christen anfingen, ihrerseits politische Macht auszuüben. Daran aber führte kein Weg vorbei, sobald ganze Völkerschaften christlich geworden waren. 7. Geschichtliche Prägefaktoren von Europas besonderem Staat/Kirche-Verhältnis Tatsächlich hatte die christliche Mission im Römischen Reich, das den ganzen Mittelmeerraum umfasste, im Lauf weniger Jahrhunderte durchschlagenden Erfolg. Zuerst eine Religion städtischer Mittel- und Unterschichten, später auch eine von Intellektuellen und bald ebenfalls eine von Soldaten, durchdrang das Christentum immer mehr auch den ländlichen Raum. Neben intellektueller Publizistik machte gerade die innere Stärke seiner Anhänger während wiederholter Verfolgungszeiten das Christentum höchst überzeugend. Anfang des 4. Jh. legalisierte es Kaiser Konstantin; am Ende des Jahrhunderts wurde es unter Kaiser Theodosius praktisch zur Staatsreligion. Im Grunde war damit ein Konflikt aus den Zeiten der jüdischen Königreiche zurückgekehrt: Wo endeten die legitimen Machtmöglichkeiten von Chefpolitikern – und wer zog die Grenzen zwischen dem, was dem Kaiser und was Gott zu geben war? Wann konnte es sogar geboten sein, um Gottes willen – und nicht nur aus rein politischen Gründen – auch gegen christliche Monarchen vorzugehen? Die letztere Frage stellte sich brennend zwar erst beim Aufstieg des Absolutismus aus den Wirren der Religionskriege, nämlich bei den „Monarchomachen“ im späten 16. Jh. Und niemand weiß, welche institutionelle Form das europäische Christentum im Wechselspiel von Religion und Politik angenommen hätte, wäre nicht – anders als das noch fast ein Jahrtausend fortbestehende oströmische Reich – das weströmische Reich in mehreren Wellen von
359 Germanenvölkern erobert worden. Angesichts vieler Zerstörungen lebte die weitgehend christianisierte romanische Bevölkerung nun unter germanischer Oberherrschaft weiter. Also mussten Versorgung und Verwaltung – gerade unter jetzt erschwerten Bedingungen – fortgeführt werden. Eine staatliche Verwaltung unter zentraler Autorität aber fehlte, zumal der – nun ohne Westrivalen in Konstantinopel weiterherrschende – Kaiser für effektives Regieren viel zu weit entfernt war. Die germanischen Eroberer wiederum konnten nicht einfach in die Tradition der weströmischen Kaiser eintreten, mussten sie doch einesteils ihre Stammesrechte weiter respektieren, und hatten sie andernteils – soweit sie überhaupt christlich waren – die Religion ihrer neuen Untertanen in einer diesen sehr verhassten Variante angenommen, nämlich unter Bestreitung der Göttlichkeit des Religionsstifters Jesus. In diesen sehr besonderen Umständen formte sich das Christentum in einer ganz eigentümlichen Form aus, die dann ihrerseits die europäische Geschichte des Regierens so sehr prägte, dass diese Erscheinungsform des Christentums heute vielen wie die einzig mögliche vorkommt. Mindestens vier Faktoren sind zu betrachten. Erstens übernahmen seit der germanischen Eroberung die Strukturen der christlichen Gemeinden und Gemeindeverbände staatliche Funktionen. Bischöfe wurden, mangels zivilgesellschaftlicher Alternativen, obendrein Kommunalpolitiker, später Stadtherren, am Ende Fürsten. Das aber veränderte aufs tiefste den Charakter der Christengemeinden als „Versammlung der Gläubigen“ um Jesus als ihren Herrn. Genau das ist übrigens die Verdeutschung des Begriffs der „kyriaké ekklesía“, aus welchem Wortpaar wiederum die Bezeichnungen „Kirche“ und „church“ bzw. „église“ und „iglesia“ entstanden. Es entwickelte sich nämlich aus rein politischen Gründen jenes staatsähnliche Gebilde mit hierarchisch organisierten Amtsträgern, das wir unweigerlich im Sinn haben, wenn wir von „der Kirche“ sprechen. Anders als das Judenvolk im „Alten Bund“ fand sich das Christenvolk des „Neuen Bundes“ jedenfalls nicht in der Rolle von außerhalb „eigentlicher“ Politik Stehenden vor, sondern im Gehäuse einer durch und durch auch politischen Organisation. Römische Ämter von den Dekurionen über die Senatorenschaft bis hin zum Kaiser standen Pate bei der institutionellen Ausformung der kirchlichen Ämter des Bischofs, Kardinals und Papstes; und in den großen Papstliturgien bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil lebte das Hofzeremoniell des römischen Kaiserreiches nach. Ohnehin bildete das römische Staatsrecht im 12. Jh. später die Gussform des Kirchenrechts. Mit reichsrömischer Staatlichkeit hatte das alles viel zu tun, schon viel weniger aber mit jener um Wanderprediger gebildeten Assoziation städtischer Vereine, die am Anfang der Christenheit standen. Wir verkürzen die institutionellen Möglichkei-
ten des Christentums also sehr, wenn wir es nur in seiner Verengung auf Kirchlichkeit im Sinn von Para-Staatlichkeit wahrnehmen. Und wir machen es uns ebenfalls zu leicht, wenn wir die Spannungen zwischen den religiösen Ansprüchen und den politischen Handlungen der Kirche schlicht daraus erklären, dass Kirchenführer und Gläubige einfach heuchlerisch oder zynisch oder opportunistisch wären – weshalb man ihre religiösen Aussagen so wenig ernstnehmen müsse wie ihre politischen Ansprüche. Zweitens fehlte im germanisch eroberten Westreich ein stabiler und im Kern politischer Widerpart zur – ihrerseits auch politisch immer mächtiger werdenden – Kirchenorganisation. Die Reiche der Ostgoten und Westgoten und Vandalen, um nur die wichtigsten zu nennen, waren nämlich instabil und kurzlebig; und der Kaiser im fernen Konstantinopel konnte im 6. Jhd. zwar das Westreich teilweise zurückerobern, doch ohne Mitwirkung der nunmehr eingespielten Kirchenorganisation nicht mehr wirkungsvoll regieren. Das gelang im Grunde nur im weiterhin unangefochtener kaiserlicher Macht unterstehenden Griechenland, in Kleinasien und Syrien, doch schon viel weniger in Ägypten. Hingegen entzog sich der Patriarch von Rom kaiserlichen Weisungsversuchen mehr und mehr. Er hatte auch gute Gründe dafür. Denn bedroht von neu ins Land strömenden Germanen, diesmal den Langobarden, konnte dem römischen Bischof aufgrund der Schwäche des – inzwischen unter arabischen Druck geratenen – Römerreiches nicht länger aus Konstantinopel Schutz erwachsen. Für diesen Zweck stand die aufstrebende Macht des fränkischen Reiches in Aussicht. Das Zusammenwirken des römischen Bischofs mit ihm ließ sich umso leichter realisieren, als die Franken das Christentum in der immer schon von der römischen Kirche für richtig befundenen Variante angenommen hatten, nämlich unter Anerkennung der Göttlichkeit Jesu. Drittens entstand aus dem Bündnis zwischen dem Frankenkönig und dem römischen Patriarchen jener Staat/Kirche-Dualismus, den viele Europäer bis heute für eine Art alternativloser Erscheinungsform des Politik/Religion-Verhältnisses ansehen. Der römische Patriarch legitimierte den – nach germanischem Recht illegitimen – fränkischen Dynastiewechsel von den Merowingern zu den Karolingern; der fränkische König versprach dem Papst militärischen Schutz gegen andere Germanen, gegen die expandierenden Araber sowie gegen kaiserliche Truppen; alsbald ließ sich ein fränkischer König vom römischen Bischof zum Kaiser des als fortbestehend behaupteten weströmischen Reiches krönen; und das wiederum machte den Papst unabhängig vom bisher einzigen, nämlich oströmischen Kaiser – sowie, auf einige Jahrhunderte, zur legitimen Quelle politischer Gewalt oberhalb jeden Stammeskönigtums.
360 Viertens ließ sich dieses Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Macht in einem mehr und mehr christianisierten „Abendland“ auch noch theologisch mit Feldvorteilen bei der Kirche ausdeuten. Zwei Schwerter gelte es zu führen: das der weltlichen und das der geistlichen Macht. Die geistliche Macht erstrecke sich auf das Innere jener Menschen, die es im Bund mit Gott zu halten gelte; die weltliche Macht ziele hingegen auf das äußere Verhalten der Menschen, unter denen doch Friede gesichert werden müsse; und weil die Anleitung zum gelingenden Leben und zum Frieden auf Erden nun einmal von Gott in den zehn Geboten sowie von Gottes Sohn im Evangelium geoffenbart worden sei, verwalte die Kirche genau jene Heilsgewissheiten, an denen sich alles politische Handeln auszurichten habe, falls es nicht sündhaft sein und sündhafte Politiker um ein gutes ewiges Leben nach dem irdischen Tod bringen solle. Auf diese Weise galt weiterhin die Feststellung des Petrus, dass man im Konfliktfall Gott mehr als den Menschen gehorchen müsse; zugleich galt der Satz des Paulus, dass ein Christ jede Obrigkeit – und also auch eine sündhafte – hinnehmen solle; und erst recht galt die Forderung Jesu, nicht nur Gott zu geben, was Gottes sei, sondern auch dem Kaiser, was politisch erforderlich wäre. Natürlich blieb weiterhin die genaue Grenzziehung zwischen den Zuständigkeiten von Politik und Religion umstritten. Doch anders als in den jüdischen Königreichen standen den Königen oder Kaisern nun quasi-staatliche Strukturen mit eigenen politischen Machtmöglichkeiten gegenüber, waren also aus den jüdischen Propheten, die sich allein auf Gott verlassen konnten, Inhaber auch höchst weltlich nutzbarer Macht geworden; und anders als in Sumer oder Ägypten durfte sich kein legitimer Herrscher je wieder ein persönliches Exklusivverhältnis zu Gott zuschreiben. Alles Regieren musste vielmehr jenen Dualismus von Staat und Kirche in Rechnung stellen, der zwar religiös in den jüdischen Wurzeln des Christentums angelegt, doch ohne die besondere Geschichte des weströmischen Reiches niemals so sehr institutionell verfestigt worden wäre. Weil aber gerade das christianisierte römische Reich zum Rollenmodell der seit dem Frühmittelalter entstehenden europäischen Staaten wurde, auch weil im Dualismus von Kirche und Staat bereits jene Gewaltenteilung angelegt war, die später zur Garantie staatsbürgerlicher Freiheitsrechte werden sollte, und weil obendrein christliches Denken von vornherein die gesamte europäische Staatlichkeit und deren ethischen Zielvorstellungen prägte, entstanden so – trotz allen konkreten Streits zwischen Kirche und Staat – ein Staatsdenken und eine Staatspraxis, welche Europas politische Ordnungsformen zutiefst kirchlich und christlich prägten. Die Säkularisierung entfernte von diesem Gebäude später allenfalls den Anstrich und vielerlei
Putz von Religion, ließ den institutionellen Rohbau aber unverändert. Dass den dann immer wieder politische Ideologien als säkulare Religionen mit jeweils zeitspezifischem Neuputz versahen, zeigt im Grunde nur, dass die Entfernung von Religion aus dem Bereich des Politischen eben doch ein gewisses Defizitempfinden auslöst – was, in Evolutionsperspektive betrachtet, auch gar nicht anders sein kann. 8. Zur europäischen Entwicklung des Staat/Kirche-Verhältnisses Im Grunde ist Europas ganze auf das Frühmittelalter folgende Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat im Besonderen, zwischen Religion und Politik im Allgemeinen, sehr leicht zu verstehen als ein Ringen um die Ausgestaltung jenes Dualismus: – Erstens konnte sich die Kirche über den Staat zu setzen versuchen, wie das die Päpste – nach tiefgreifenden Kirchenreformen – vom gewonnenen Investiturstreit des 11./12. Jh. bis zum verlorenen Machtkampf gegen das französische Königtum im frühen 14. Jh. unternahmen. – Zweitens konnte sich aber auch gerade der christliche Staat über die Kirche setzen wie in England und in den nordischen Königreichen während der Reformation, oder wie Deutschlands landesherrliches Kirchenregiment nach den Religionskriegen. – Drittens konnte es zu Geschäften auf Gegenseitigkeit zwischen Krone und Kirche kommen wie in den katholischen Staaten Spanien oder Frankreich. Möglich waren diese „Geschäfte auf Gegenseitigkeit“ nicht zuletzt deshalb, weil die katholische Kirche eben selbst wie ein Staat institutionalisiert war und somit einen Verhandlungs- und Vertragspartner abgab, der intern recht gut durchsetzen konnte, was er nach außen – dem Staat gegenüber – zusagte. Außerdem konnte in einer nicht allein auf Religion, sondern auch auf die griechische Philosophie und auf die scholastische Methodik gegründeten Kultur wie der europäischen das Vertrauen in die Richtigkeit des Glaubens durch das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Vernunft abgelöst werden. Flächendeckend vollzog sich das seit der Aufklärung. Die offensichtliche Möglichkeit wissenschaftlicher Irrtümer wurde gerade auch auf den Bereich des Glaubens übertragen, und die Verantwortung, sich zu irren oder nicht, wurde – spätestens seit der Reformation – ganz dem Einzelmenschen zugewiesen. Nicht mehr eine wie alternativlos auftretende und in diesem Anspruch auch politisch abgesicherte „Gemeinschaft der Glaubenden“ entlastete weiterhin den Einzelnen. Vielmehr wurde die Aufgabe existentieller Rückversicherung – oder des Verzichts auf sie – ganz in die Sphäre des Privaten gerückt. „Gewissensfreiheit“ wurde dabei gerade so zur Kehrseite des Eingehens persönlicher Risiken, wie
361 das die mit bürgerlicher Rechtsgleichheit errungene „Vertragsfreiheit“ im Bereich des Wirtschaftslebens war. Die Sphäre des Öffentlichen wurde auf diese Weise frei für jenen pluralistischen Streit, auf dem die später entstehende moderne Demokratie beruhen konnte. In ihr wirken Kirchen oft wie Fremdkörper, die nicht recht in eine auf Vernunft und menschengemachte Verträge gegründete Gesellschaft passen. Und für viele aufgeklärte Menschen wirkt Religion ohnehin nur dann als akzeptabel, wenn sie als Teil höchstpersönlicher Einstellungen behandelt wird, die ihrerseits keine Geltungskraft über individuelle Launen hinaus beanspruchen. Unter solchen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen ist eine Dominanz von Religion – oder gar einer Kirche – gewiss nicht mehr akzeptabel. Wo solche Dominanz immerhin rechtlich weiterbestand, wie im englischen oder nordeuropäischen Staatskirchentum, oder wie in der Festschreibung des Katholizismus als Staatsreligion bis 1984 in Italien oder wie in Malta bis heute, dort war derlei nur um den Preis einer Aushöhlung religiöser Bindungen sowie mancherlei Unplausibilität zu haben. Das trug zumal der Kirche mehr Schaden als Nutzen ein – und wird deshalb heute von den allermeisten europäischen Christen auch gar nicht mehr gewünscht. Die Alternative war die klare Trennung von Kirche und Staat, was sich im Übrigen leichter bewerkstelligen lässt als eine Trennung von Religion und Politik. Einen besonders scharfen Schnitt dieser Art machte Frankreich zu Beginn des 20. Jh. durch die Einführung des Laizismus. Sie zwingt den Staat beim Verhältnis zu in ihm aktiven Glaubensgemeinschaften allerdings in eine ziemlich passive Beobachterrolle. Religion geht ihn nämlich schlicht nichts an, solange sie nicht in die politische Öffentlichkeit drängt oder staatliche Gesetze verletzt. Eine solche Rolle des Staates wird aber dann problematisch, wenn sich in Religionsgemeinschaften Überzeugungen ausbreiten, die nicht länger zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten und habituellen Grundlagen des sie umgebenden Staates passen. Jahrzehntelang war das ein rein theoretisches, für praktisch unbeachtlich gehaltenes Problem. Durch Integrationsmängel bei einer stark angewachsenen muslimischen Minderheit mit unübersehbaren Radikalisierungstendenzen wurde inzwischen daraus – und zwar gerade im laizistischen Frankreich – ein durchaus nicht kleines, höchst praktisches Problem. Nach funktionierenden Lösungen wird noch gesucht. Einen Mittelweg ging Deutschland nach dem Ende des Kaiserreiches. Man ließ sich ein auf die Leitvorstellung eines „partnerschaftlichen Verhältnisses“ zwischen den – seit 1648 ohnehin nur in der Mehrzahl denkbaren – Kirchen und dem Staat. Dieser Leitidee liegt die Einsicht zugrunde, dass gerade der freiheitliche Staat europäischer Prägung auf kulturellen und habituellen Voraussetzungen grün-
det, die er selbst nicht reproduzieren kann. Das betrifft nicht nur die Tatsache, dass unsere politischen Institutionen und deren kulturelle Grundlagen seit dem Frühmittelalter in einer Ko-Evolution von christlicher Kirche und christlich geprägtem Staat entstanden sind und sich deshalb umformen werden, sobald dem Staat sein christliches Widerlager abhanden kommt. Sondern es wird ohne religiöse Mythen zur ganz besonderen Rolle des Menschen in Natur und Kultur obendrein schwierig, eine nicht nur akademisch, sondern auch emotional einleuchtende und deshalb praktisch wirksame Begründung für jene „Würde“ eines jeden Menschen zu finden, die alle staatliche Gewalt begrenzt und dadurch den Eckstein materieller Rechtsstaatlichkeit abgibt. Den Ausweg bildet das Kultivieren von Zivilreligion, d.h. einer Rückbindung des Staates an solche ihn übersteigende Prinzipien, die sich von jedem Exklusivitätsanspruch einer konkreten Religion fernhalten. Bei uns gehört zu solchen zivilreligiöse Praktiken die Behandlung des Grundgesetzes als „heiliger Schrift“ der Bundesdeutschen oder das Agieren der Repräsentanten unseres Staates als zivilreligiöse Prediger, etwa an Gedenk- und Staatsfeiertagen. Und klar zurück auf die genuin religiösen Wurzeln europäischer Staatlichkeit verweist es, wenn symbolisch wichtige Ereignisse – staatliche Trauerfeiern für die Opfer von Natur-, Gesellschafts- oder Politikkatastrophen, Staatsbegräbnisse, Parlamentseröffnungen usw. – von „ökomenischen Gottesdiensten“ wenn schon nicht eingeleitet, so doch garniert werden. Solche Partnerschaftlichkeit lebt der Staat, indem er den Kirchen bei ihrer Finanzierung sehr behilflich ist, gleichsam im Gegenzug kirchlichen Einrichtungen einen großen Teil sozialstaatlicher Aufgabenerfüllung überlässt, und obendrein den Religionsunterricht als ordentliches Schulfach vorsieht sowie die Ausbildung von Religionslehrern an öffentlichen Universitäten finanziert. Die Kirchen revanchieren sich für kirchenfreundliches Staatsverhalten durch fraglose Staatstreue bis hin zur Akzeptanz von Positionen, die – wie bei der Regelung der Abtreibung – nicht wirklich zur christlichen Lehre passen. Und die Gesamtgesellschaft verlässt sich im Grunde darauf, dass religiöse Menschen samt ihren Organisationen für ein halbwegs stabiles Wertefundament der Gesellschaft auch dort verlässlich sorgen, wo man selbst auf einem solchen Fundament zwar stehen will, in dessen Erhaltung aber nicht sonderlich investieren möchte. Dieses Arrangement funktioniert auch deshalb so gut, weil von den Kirchen nur noch ein auf Zimmertemperatur reduziertes Glaubensglimmen in die Gesellschaft abgestrahlt wird. An dem aber stört sich kaum jemand mehr. Lodert einmal doch gesellschaftswirksame Glaubensglut auf, so pflegen Kirche und Staat ziemlich im Gleichschritt gegen derlei „Fundamentalisten“ und „Integralisten“ Front zu machen. So entstand zwischen Kirche und Staat,
362 zwischen Religion und Politik eine recht kuschelige Komfortzone. In diese fährt nun der in Deutschland auflebende Islam wie ein Spielverderber hinein. Er erhebt Geltungsansprüche seiner Ordnungsprinzipien, die unter Kulturchristen als ebenso unfein gelten wie unter säkularisierten Multikulturalisten. Wo aber diese Ansprüche auf Widerstand treffen, dort ist im Einzelfall oft unklar, ob abwehrende Reaktionen sich wirklich gegen besondere Geltungsansprüche des Islam richten, oder ob sie eher von Antipathie gegen Religion überhaupt getragen werden, sofern diese sich nicht an die Absprache hält, mehrheitlich gewünschter Politik einfach nicht in die Quere zu kommen. Weiter kompliziert wird diese Gemengelage dadurch, dass es weder „den“ Islam gibt noch eine verlässliche Tradition einer solchen einzelnen Ausprägung des Islam, die zu den Voraussetzungen freiheitlicher Demokratien passt. Auch hier wird man also tiefer schürfen müssen. 9. Besonderheiten am Islam und deren Folgen für den europäischen Staat Jüdische, christliche und islamische Vorstellungen vom Verhältnis von Religion und Politik gleichen einander zwar an folgender Stelle: Gott beruft jeden Einzelnen ganz persönlich, gibt ihm Gebote für ein bis ins Jenseits gelingendes Leben, und wird so zum Mittelpunkt einer Gemeinde, die für ihren Gottesbezug der Vermittlung durch Politiker nicht bedarf. Doch diese drei Religionen unterscheiden sich sehr in ihrer Institutionalisierung des Verhältnisses zwischen der um Gott versammelten Gemeinde und dem gleichzeitig bestehenden Staat. Im Judentum ist politische Herrschaft ein im Grunde entbehrlicher, allenfalls einige praktische Vorteile verschaffender Fremdkörper. Das abendländische – nicht jedes! – Christentum wurde hingegen, dank seiner Ausformung als Ersatz des eroberungszerstörten weströmischen Verwaltungsapparats, zu einer Art von „internationalem politischen System“. Wieder anders liegt der Fall beim Islam. Mohammed als Religionsstifter, und seine Nachfolger nach dessen Vorbild, eroberten bestehende Staaten. Dort begnügten sie sich zunächst mit militärisch gesicherter Minderheitenherrschaft über die Bevölkerungsmehrheit und verließen sich ansonsten auf den Wunsch der Regierten, die ihnen auferlegten Nachteile im Generationenwechsel loszuwerden, nämlich durch Beitritt zur umma, zur muslimischen Glaubensgemeinschaft. Das Recht zu solchem – schon in kurzer Zeit sehr erfolgreichem – Eroberungshandeln gab Mohammed und seinen Nachfolgern, dass doch Gott selbst – durch den Mund des Engels Gabriel – dem Religionsstifter die bestmöglichen Richtlinien für ein individuell gelingendes Leben und für die kollektive Sicherung des Friedens auf Erden mitgeteilt hatte. Dieses Wissen konnte man nun aber verstehen als Pflicht, das „Haus des Friedens“ immer weiter auszudehnen, also eine islamische Welt zu errichten.
Die Kalifen von Damaskus und Bagdad machten zwischen dem 7. und dem 10. Jh. in ihren riesigen Herrschaftsgebieten zwischen Westafrika und Indien dann ja auch plausibel, dass Gott für die umma, die Gemeinschaft der Rechtgläubigen, sein Friedensversprechen wirklich einlöst. Abgesehen davon war die arabisch-islamische Expansion vor allem deshalb so nachhaltig erfolgreich, weil es sich bei den für den Islam gewonnenen Gebieten um fortbestehende Hochkulturen handelte, nämlich um die Südhälfte des jahrhundertealten römischen Reiches sowie um das Sassanidenreich, also das tausendjährige Persien. Und anders als die landnehmenden Germanen im weströmischen Reich verzichtete die dünne arabische Erobererschicht darauf, eigene Völkerschaften anzusiedeln, die angestammte Verwaltung in Unordnung zu bringen oder gar die vorgefundenen kulturellen Errungenschaften zu zerstören. Die Eroberten mussten, um gut weiterzuleben, nichts weiter tun, als sich der politischen Macht des Kalifats zu unterwerfen und irgendwann später, sobald das eben vorteilhaft erschien, den fünf leicht einzuhaltenden Geboten des Islam zu folgen: Ablegung des Glaubensbekenntnisses vor Zeugen, mehrmaliges tägliches Gebet, alljährliches Fasten, Almosengeben, einmalige Wallfahrt zu den heiligen Stätten. Insofern war muslimisch zu werden keine schreckliche Perspektive – zumal nicht in Zeiten, da ohnehin nirgendwo freiheitliche Staaten bestanden. Zum noch heute belastenden Problem des Islams wurde freilich, dass – anders als im Judentum und zumal im westlichen Christentum – die religiöse und die politische Führerschaft zweihundert Jahre lang in einer einzigen Hand lagen, nämlich in der des Kalifen. Diese politische Macht konnte sich, ganz anders als im Judentum, auch von vornherein auf einen gut ausgebauten Verwaltungs- und Militärapparat verlassen, nämlich den des römischen bzw. sassanidischen Reiches. Also war die politische Macht gerade seitens einer ohnehin muslimischen Zivilgesellschaft allenfalls zu belästigen, doch nicht zu erschüttern. Die geistliche Macht hingegen hatte, ganz anders als im Christentum nach Zerstörung des weströmischen Reichs, gerade keinen eigenständigen Verwaltungs- und somit Machtapparat zur Hand. Ihr fehlten somit bereits die Voraussetzungen von „Kirchlichkeit“ im abendländischen Sinn. Also konnte auch kein an der Spitze einer „Kirche“ stehender religiöser Führer einem Kalifen entgegentreten. Zwar fehlte es nicht an Religionsgelehrten, der ulema. Doch dieser Personenkreis war – anders als im christlichen Bereich – nicht hierarchisch organisiert, entwickelte auch keine kohärente Theologie und war somit schon rein strukturell nicht in der Lage, der Staatsmacht eine hier und jetzt wirksame Schranke göttlichen Rechts zu setzen. Diese Rolle übernahmen allenfalls vielerlei muslimische Sekten, deren lokale Rebellionen die Kalifen ununterbrochen beschäftigten – und somit
363 erst recht deren Praxis religiös eingekleideter Gewalttätigkeit förderten. Zwar musste der Kalif wie jeder Muslim die Gebote des Korans erfüllen und dem – in den Hadithen festgehaltenen – Beispiel des Propheten folgen. Doch überall dort, wo das islamische Recht – die Scharia – nichts Präzises festlegte, hatten der Kalif und die späteren osmanischen Sultane richterliche und herrscherliche Befugnisse, die von keinerlei Gewaltenteilung eingeschränkt wurden. Das lief hinaus auf politische Despotie im Namen Gottes oder des Friedens, und das auch noch ganz gemäß dem Vorbild eines Eroberer-Propheten. Weil außerdem – abgesehen von der Zerstörung Mesopotamiens durch den „Mongolensturm“ des 13. Jh. sowie von der im 15. Jh. abgeschlossenen Rückeroberung Spaniens durch christliche Königreiche – bis zum 19. Jh. keine auswärtige Macht die Staaten der Fatimiden, der Mamluken und der Osmanen zu erschüttern vermochte, blieb dieses Verhältnis einer Religion, die willig ein Machtregime umkleidete, und einer Politik, die sich nach eigenem Ermessen religiös legitimierte, in der islamischen Welt bis zum Zeitalter des westlichen Imperialismus bestehen. In dieser Kultur, die vom Glauben an ihre grundsätzliche Perfektion und wohlbegründete Überlegenheit geprägt war, formte sich der Islam aus als „Religion der öffentlichen Ordnung“. Dies wurde durch Gebetsrufe, Gebetshaltung und Bekleidung auch allzeit kenntlich gemacht. Hingegen lief ein individueller Rückzug ins Privatreligiöse auf Sektenbildung hinaus, auf fragwürdige Abkehr von der umma, nachgerade auf den Abfall vom Glauben. Das aber berührte die auf öffentlichen Glauben gegründete politische Ordnung und durfte von dieser somit bestraft werden. Die im 19. Jh. so leicht durchgesetzte Vorherrschaft des Westens über die Kapitalen der islamischen Welt demütigte die seit Eroberungszeiten so selbstgewissen Muslime zutiefst. Im 20. Jh. versandeten dann die – ohnehin nur halbherzig unternommenen – Versuche, die eigene Rückständigkeit gegenüber dem Westen durch ausgebliebene Modernisierung der islamischen Kultur zu erklären, etwa durch das Fehlen einer textkritischen Theologie, einer praxiskritischen Rechtswissenschaft sowie der Seitenstücke zur westlichen Renaissance, Reformation und politischen Liberalisierung. Das Aufbegehren gegen die – durchaus nicht von ihren wirklichen Ursachen her verstandene – wirtschaftliche und militärische Dominanz des Westens, ihrerseits verschlimmert durch das Aufblühen des neu gegründeten, ganz westorientierten Staats Israel im jahrhundertelang arabischen Siedlungsgebiet, nahm vielfach die Form einer Rückbesinnung auf die große Zeit des Propheten und seiner Nachfolger an. Diese Rückbesinnung erweiterte sich auf die Ablehnung westlicher Politik- und Gesellschaftsmuster, ja führte mitunter zur Vorstellung, es gelte – falls Gott dazu die Gelegenheit böte – den gottlos und deshalb de-
kadent gewordenen Westen endlich auf den Pfad des richtigen Glaubens zu führen, also in Europa das Werk des Propheten zu vollenden. Auch unter der wachsenden muslimischen Minderheit in Europa findet dieser Gedanke inzwischen seine Anhänger. Vor allem die haben wir im Sinn, wenn wir vom „Dschihadismus“ oder vom „Islamismus“ sprechen. Den Islamisten bieten sich im ehemaligen „christlichen Abendland“ auch keine schlechten Wirkungsbedingungen, zumal ja Muslime als einfach andersreligiöse Mitmenschen sehr wohl willkommen sind: – Erstens ringen sich säkulare und liberale Gesellschaften wie die Westeuropas sehr ungern zur Einsicht durch, nicht jeder Mensch teile ihre Vorstellungen vom guten, jeden nach seiner eigenen Façon selig machenden und also möglichst religionsfreien Leben. Dass hingegen gerade in persönlicher und gemeinschaftlicher Religiosität eine tief befriedigende Ausrichtung des eigenen Lebens liegen könnte, wirkt auf säkulare und liberale Westeuropäer wie eine ziemlich komische Idee. – Zweitens haben sich die „progressiven“ intellektuellen und akademischen Schichten Europas zur Richtschnur gemacht, Anderskulturelles möglichst nur als Bereicherung des hierzulande Bestehenden aufzufassen, möglichst nie aber als potentielle Bedrohung. Also muss man sich – so das linke und liberale Dogma – selbst im Fall einer zahlenstarken Zuwanderung um eine gerade auch kulturell relevante Veränderung der Zusammensetzung europäischer Bevölkerungen keinerlei Sorgen machen. Ob dieses Dogma aber auf Dauer glaubwürdig bleibt? – Drittens hat man sich in Europa so sehr an das lau gewordene Christentum als anscheinend „normaler“ Erscheinungsform von Religion gewöhnt, dass die Vorstellung gar nicht mehr nahe liegt, Religion besitze bereits an sich eine große politische Brisanz. Verkannt wird also, dass Europas Christentum gar keinen Normalfall darstellt, sondern nur das ausnahmeartige Ergebnis einer wechselseitig pazifizierenden Ko-Evolution von Religion und Politik. – Viertens wirken Schuldgefühle hinsichtlich der Zeit von Kolonialismus und Imperialismus in der Weise nach, dass man Schlechtes und Fehler mitsamt allen Folgen vor allem Europa und dessen Kultur zuschreiben will, nicht aber kulturellen Merkmalen und politischen Praxen anderswo. Also habe Europa nicht Änderungswünsche an andere zu stellen, sondern sich selbst zu ändern – und die Einwanderung aus ehedem imperialistisch unterjochten Gebieten wäre ein ganz wünschenswerter Anlass genau dafür. – Fünftens haben sich Kitschbilder vom Islam in geschichtlichen Wissenslücken festgesetzt. Sie beschönigen sowohl den Islam als auch dessen politische Folgewirkungen. Zentrales Kitschbild ist die „kulturelle Überlegenheit des Islam“ wäh-
364 rend des „finsteren Mittelalters“ eines christlich gewordenen Abendlands. Tatsächlich aber erkennt man hier die – im Vergleich mit germanischer Eroberergrobheit – gewaltige Überlegenheit jener antiken Kultur, die ab der Renaissance freilich gerade in Europa neu zum Leben erweckt wurde, während sie in den islamischen Ländern nach Auslöschung des oströmischen Reichs weitestgehend erstickte. Ergänzendes Kitschbild ist das von der „andalusischen Synthese“. Die allerdings bestand vor Europas Renaissance und vor dem Sterilwerden einer nur noch islamischen, nicht mehr auch jüdischen und christlichen Kultur der arabischen Welt. Diese Wunderwelt aber hätten Spaniens christliche Königreiche ebenso schuldhaft zerstört wie Europas Imperialisten Jahrhunderte später die so schön exotische „orientalische Welt“. Also gelte es nun, sich vor islamischer Kultur in Demut zu üben und geschichtliche Schuld durch heutiges Entgegenkommen abzutragen. Diese Denkmuster führen zu falschen Lagebeurteilungen und zu irrigen Handlungsratschlägen. Was aber wäre wirklich zu tun? 10. Was tun? Erstens gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass die „Rückkehr von Religiosität“ in Europas religionsmüde Gesellschaften vor allem in der Ausbreitung des Islams bestehen wird, nicht aber in einer Revitalisierung des Christentums. Die kann zwar eines Tages kommen – doch wohl erst dann, wenn die volkskirchlichen Fassaden weitgehend eingestürzt sind und nicht mehr die Aussicht auf Arbeit und Karriere, sondern nur noch der Glaube selbst zum Christentum zieht. Das aber heißt: Die Rückkehr von Religiosität wird gewiss keine Bestätigung des bereits Bestehenden oder die Wiederkehr von Gewesenem bringen, sondern etwas Neues und noch Unbekanntes. Also gilt es – zweitens – ernstzunehmen, dass der Islam nicht in gleicher Weise mit den uns vertrauten säkularen, liberalen Gesellschaften kompatibel ist wie jenes Christentum, das diese Gesellschaften durch Tun oder Lassen gerade so werden ließ, wie sie eben geworden sind. Einfach zuzusehen, wie islamische Gemeinden sich in Deutschland und Europa ausbreiten, die Dinge also treiben zu lassen, ist deshalb nicht anzuraten. Falls wir aber – drittens – unsere liberalen und pluralistischen Gesellschafts- sowie Politikprinzipien nicht aufgeben wollen, die ihrerseits wertvolle kulturelle Errungenschaften sind, verbietet es sich, die Religionsfreiheit einzuschränken – weder speziell für Muslime noch ganz allgemein. Viertens lässt sich politisch sehr wohl durchaus darauf einwirken, dass die Zuwanderung aus islamischen Kulturkreisen während der nächsten Jahrzehnte nicht so große Ausmaße annimmt, dass die Integration von neu ins Land Kommenden lokal und
regional misslingt. Das wäre der Fall, wenn sich in muslimischen Nischen- oder Parallelgesellschaften nachhaltige Formen von Religiosität entwickeln, die im Widerspruch zu unserer pluralistischen, weltanschaulich neutralen Staatlichkeit stehen. Und gerade weil der Islam eine Religion der öffentlichen Ordnung ist, weil er außerdem in seiner bisherigen Tradition keine institutionellen Widerlager zu politischer Machtentfaltung kennt, sofern die sich auf göttliche Gebote stützt, ist es vorrangig, dieser Religion neue Entwicklungspfade zu bahnen, auf denen sie mit zwar wertgebundenen, doch pluralistischen Verfassungsordnung vereinbar wird. Dafür braucht es – viertens – eine große Bandbreite von Tun und Lassen. Vermutlich ist auch die folgende Liste noch nicht vollständig: − Verzicht auf kulturalistischen Rassismus, weil der jeglicher Integration spannungserzeugend entgegenwirkt. − Hinwirken darauf, dass in den Moscheen – wie in den christlichen Kirchen – normalerweise auf Deutsch gepredigt wird. Dafür braucht es die Ausbildung von Imamen – wie von Pfarrern – an deutschen Hochschulen. − Einrichtung von Instituten für islamische Religions- und Rechtslehre, um hierzulande Chancen für die Entstehung einer rational diskursfähigen islamischen Theologie und Pastoral zu eröffnen. Die aber braucht es für die Ausbildung solcher Imame, die – wie von christlichen Pfarrern erwartet – auch im Rahmen ihrer Religion zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. − Einführung von islamischem Religionsunterricht – parallel zum katholischen oder evangelischen Religionsunterricht – an allen öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach, natürlich mit der Möglichkeit, statt des Religionsunterrichts ein Fach wie „Ethik“ zu wählen. Nur so stellen wir nämlich sicher, dass die der staatlichen Aufsicht unterstellten Schulen ihren wichtigen Beitrag zum Heranwachsen neuer Generationen von muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern leisten können. Fünftens sind institutionelle Lösungen dafür zu finden, dass sich staatlicherseits mit solchen Organisationen verbindliche Verträge schließen lassen, die wirklich die Mehrheit der deutschen Muslime repräsentieren, obwohl diese Religion eben keine – für den Staat sehr bequeme – hierarchische Kirchenstruktur kennt. Dass noch ganz unklar ist, wie der Staat unter den Muslimen jenen Partner finden könnte, den in der abendländischen Tradition immer schon die Kirche darstellte, heißt ja nicht, dass eine Lösung dieses Problems unmöglich sein muss. Es wird eben jenes Wechselspiel von Versuch und Irrtum brauchen, das ohnehin den Modus aller kulturellen und institutionellen Evolution darstellt. Sechstens müssen wir uns klarmachen, dass offene, freiheitliche, friedliche Gesellschaften wie die unsere höchst störanfällig sind, und zwar gerade
365 durch Anschläge auf ihr Alltagsleben und auf ihre Infrastruktur. Ebenfalls haben wir als Tatsache zu akzeptieren, dass derzeit – also im Zeitalter „asymmetrischer Kriegführung“ – einige islamistische Terrorgruppen diese Verletzlichkeit unserer Gesellschaften zum funktionalen Äquivalent der Feldzüge des Propheten und seiner Nachfolger zu machen versuchen. Viele in Europa wollen Terroranschläge immer noch vor allem als Untaten von Einzelnen verstehen und weisen deshalb jede Befürchtung zurück, aus alledem lasse sich durchaus eine erfolgsträchtige Strategie machen. Solcher Naivität sollten wir nicht folgen, sondern unsere Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden in die Lage versetzen, den Kampf um den störungsfreien Fortbestand unserer freiheitlichen Gesellschaften erfolgreich zu führen. Siebtens bleibt sowohl für das länger schon im Land bestehenden Christentum als auch für den sich neu im Land ausbreitenden Islam die Herausforderung, sich – in Wahrnehmung des Rechts auf aktive Religionsfreiheit – durch öffentliche Präsenz sichtbar zu machen bzw. gegeneinander zu behaupten. Hier kann der weltanschauungsneutrale Staat nicht mehr tun, als die jeweiligen Versuche der Religionen zu ermöglichen. Optisch dominiert weiterhin das Christentum, denn allenthalben finden sich Kirchen, wenngleich meist leer und nicht selten einer Umwidmung für andere Funktionen entgegensehend. Doch Moscheen mitsamt Minaretten werden inzwischen gebaut, oft auch ausgehend auf Wirkung im Stadtbild. Das ist vom religionsneutralen Staat zwar stadtplanerisch und baurechtlich zu begleiten, doch nicht zu unterbinden. Eine andere Sache ist die Veränderung des Aussehens öffentlicher Räume durch immer mehr Leute, die traditionell islamtypische Bekleidung tragen. Es wird wohl noch längere Zeit umstritten sein, in welchem Umfang man derlei aus welchen Gründen hinnehmen muss, ja gar begrüßen soll. Einesteils lassen sich Bekleidungsvorlieben jener persönlichen Lebensführung zurechnen, in die sich der Staat nicht einzumischen hat. Andernteils lässt sich vorbringen, um des gesellschaftlichen Zusammenhalts willen sei jede demonstrative Zurschaustellung von religiöser bzw. kultureller Besonderheit abzulehnen, sofern es sich nicht um reguläre Amtstrachten oder um reine Folklore handele. Soweit islamische Religionslehrer darauf hinweisen, Bekleidungspraxen seien gar nichts Konstitutives für den Islam, sondern allenfalls dessen zeitabhängiger Ausdruck, entsteht ohnehin Freiraum für Argumente dahingehend, eine Mehrheitsgesellschaft müsse nicht jegliche ihr angediente kulturelle Zutat akzeptieren. Jedenfalls sollte man solche Debatten
nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sich auch um einen eigenen, mit unserer freiheitlichen Ordnung vereinbarenden und deshalb wohl differenzierten Standpunkt bemühen. Das scheint aber auch deshalb schwierig zu sein, weil im Hintergrund der Debatte um das immer deutlichere Sichtbarwerden des Islam in Europa wohl der folgende Eindruck steht: Das Christentum haben wir, um der Freiheit und Demokratie willen, mittlerweile domestiziert; warum also sollten wir uns die gleichen Schwierigkeiten mit einer neuen, durchaus noch nicht auf unser Staatswesen angepassten Religion erneut aufladen – statt bei ihr lieber gleich den Anfängen zu wehren? Tatsächlich wird von vielen das Christentum als weiterhin schwindend, der Islam aber als sich ausbreitend angesehen. Das wiederum plausibilisiert den Eindruck, „Rückkehr von Religion“ bedeute im Grunde die „Islamisierung des Abendlandes“ – und somit die Selbstaufgabe der kulturellen und politischen Errungenschaften Europas. Letzteres aber wird sich kaum einer wünschen. Also wäre es gut, wenn sich tausendfach die öffentlichkeitswirksame, gerade unter Muslimen populäre Figur des „deutschen Verfassungspatrioten islamischen Glaubens“ fände. Der nämlich könnte entsprechenden Phobien ganz persönlich mit erheblicher Überzeugungskraft entgegentreten. Insofern kann man es schon als eine gesellschaftswichtige Aufgabe von muslimischen Deutschen ansehen, die Vereinbarkeit von Islam und grundgesetzbasierter Freiheitlichkeit ausdrücklich und – dank mannigfacher politischer Beteiligung – auch öffentlichkeitswirksam vorzuleben. Aufgabe von Deutschen jedweder Religion oder Herkunft ist es dabei, die genannten Rahmenbedingungen für das Gedeihen eines zu unserer politischen Ordnung passenden Islam zu fördern. Und wie genau das gehen kann, darüber gilt es mit möglichst guten Argumenten zu streiten. Wenn es unter solchen Umständen den Christen in Europa hart ankommen sollte, dass nicht mehr sie das „Salz der Erde“ wären, dann bestünde für sie der rechte Weg darin, den eigenen Glauben wieder neu zu entdecken, ihn ernstzunehmen und auch im Alltag öffentlich zu bezeugen. Gelegenheiten dazu bietet ihnen nämlich unser Staat ebenso wie den Muslimen und überhaupt allen Angehörigen jeder Glaubensgemeinschaft. Im Übrigen sollte zu denken geben, dass gerade praktizierende Christen heute sehr geringe Schwierigkeiten damit haben, Muslime zunächst einmal zu bewillkommnen. Irgendwie passt eben doch das Christentum besonders gut zu jenen freiheitlichen Staatswesen, die wir aus guten Gründen mögen.
366 Frank-Lothar Kroll
Konservatismus in Deutschland nach 1945 – Probleme und Perspektiven 1. Aktuelle Positionsbestimmung Konservative Politik hat heute in Deutschland keinen leichten Stand. Das gilt für ihre theoretische Begründung ebenso wie für ihren praktischen Orientierungsrahmen. Umso interessanter sind daher Positionsbestimmungen, die eine solche Politik grundieren und – jenseits parteipolitischer Barrieren – Impulse für eine Neubestimmung des Konservatismus in der Gegenwart vermitteln können. Wie so oft – und konservativem Denken gemäß – empfiehlt sich bei einer solchen Positionsbestimmung zunächst ein Blick in die Geschichte. Dabei sind zunächst, in einem ersten Argumentationsschritt (2.), die immanenten Schwierigkeiten darzustellen, denen der Konservatismus in Deutschland nach 1945 begegnete. Anders als vielfach angenommen, waren konservatives Denken und konservative Politik in der Bundesrepublik Deutschland meinungsführend.1 Ein Hauptgrund für diese mangelnde Meinungsführerschaft des deutschen Konservatismus nach 1945 lag in der vielbeschriebenen „Verwestlichung“ Westdeutschlands. Die Langzeitfolgen dieses Verwestlichungsprozesses beschränkten die konkreten Wirkungsmöglichkeiten der deutschen Konservativen nachhaltig und dauerhaft, was im zweiten Teil dieser Abhandlung ausführlicher darzustellen ist (3.). In einem dritten Teil werden dann jene Denkinhalte skizziert, die den Konservativen seit der Fundamentalherausforderung der Französischen Revolution für die Dauer von anderthalb Jahrhunderten ihr geistiges Format und ihre intellektuelle Spannkraft verliehen haben (4.). Ausgehend von den so ermittelten historischen Befunden werden abschließend (5.) einige ausgewählte Gesichtspunkte diskutiert, die einer aktuellen Neuverortung des Konservatismus in der Berliner Republik dienlich sein könnten. 2. Die Last der Vergangenheit Jede Bestandsaufnahme zur Situation des deutschen Nachkriegskonservatismus hat die Schwierigkeiten in Rechnung zu stellen, mit denen das Bekenntnis zu traditionell konservativen Positionen seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zu rechnen hatte. Es gab zahlreiche Gründe, die eine rasche Neuformierung konservativen Denkens erschwerten und konservative Parteibildungen nach 1945 faktisch ausschlossen. Fünf Ursachen fielen hier vorrangig ins Gewicht.2 Erstens: Die konservativen Führungseliten Deutschlands schienen infolge ihrer Beteiligung an Hitlers Machtergreifung nachhaltig diskreditiert. Tatsächlich hatten nicht nur zahlreiche konservative Politiker den
Systemwechsel vom 30. Januar 1933 begrüßt und an seinem Zustandekommen mitgewirkt. Auch eine nicht minder große Zahl konservativer Publizisten aus dem Umfeld der die Weimarer Rechtsintelligenz bündelnden Ideenbewegung der „Konservativen Revolution“ hatte in Veröffentlichungen vor 1933 manche Verwandtschaft zu spezifisch nationalsozialistischen Auffassungen offenbart. Solche Verwandtschaftsbeziehungen ließen die weitgehende Übereinstimmung zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus vielfach als geradezu zwangsläufig erscheinen. Die Tatsache, dass zahlreiche Repräsentanten der „Konservativen Revolution“ zu den frühesten Gegnern und Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zählten – allein im Gefolge der Röhm-Krise von 1934 wurden Dutzende prominenter konservativer Regime-Kritiker ermordet –, vermochte eine solche Sichtweise ebenso wenig zu erschüttern, wie der Umstand, dass der einzig ernstzunehmende Aufstandsversuch gegen das Hitlerregime, die Erhebung des 20. Juli 1944, im Kern ein konservatives Unterfangen gewesen ist – wenn man so will: ein Militärputsch von Rechts.3 Zweitens: Der hartnäckig behaupteten Wesensverwandtschaft zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus haben die Propagandisten des Dritten Reiches selbst starken Vorschub geleistet. Dem geschickt inszenierten „Tag von Potsdam“ als vermeintlichem Symbol nationaler Versöhnung zwischen dem „alten“ und dem „neuen“ Deutschland am 31. März 1933 folgten noch manche weitere Vereinnahmungsversuche konservativer Positionen seitens des NS-Regimes. Das Spektrum solcher Vereinnahmungen war weit. Es umfasste die gesamte Palette konservativer Begrifflichkeiten. „Autorität“ wurde von den Nationalsozialisten nicht weniger lebhaft eingefordert als „Tradition“; „Hierarchien“ galten den braunen Machthabern ebenso als Grundlage des von ihnen beanspruchten gesellschaftlichen Neubaus wie die Kategorie des „Gemeinwohls“; „Nation“ und „Reich“ waren selbstverständliche Bezugspunkte nationalsozialistischer Rhetorik; und sogar der namensprägende Hauptbegriff des Nationalsozialismus, das Schlagwort vom „Nationalen Sozialismus“, war tief in der Ideenwelt der „Konservativen Revolution“ verwurzelt.4 Deren Verfechter wurden denn auch nach 1933 durch das Regime teils für sich reklamiert – wie etwa Arthur Moeller van den Bruck – teils heftig bekämpft – wie etwa Ernst Niekisch – teils schlichtweg umgebracht – wie etwa Edgar Julius Jung –, oder sie wurden dem Versuch einer Uminterpretation unterzogen, wie vor allem Oswald Spengler. Jedenfalls waren
367 damit Grenzen verwischt zwischen Nationalsozialismus und Konservatismus,5 und es war – wohlgemerkt: von nationalsozialistischer Seite – der Boden bereitet für die später, nach 1945, so wohlfeile Ineinssetzung beider Denkhaltungen. Nicht zuletzt die alliierten Kriegsgegner Deutschlands haben sich dann diese „Kongruenzthese“ weitgehend zu Eigen gemacht. Drittens: Die Schwierigkeiten einer Wiederbelebung des politischen Konservatismus in Deutschland nach 1945 hingen darüber hinaus mit einem demographischen Aspekt zusammen. Ein Großteil der konservativen deutschen Führungseliten hatte sich, wie erwähnt, angesichts der wachsenden Radikalisierung der nationalsozialistischen Kriegführung zum Entschluss einer gewaltsamen Beseitigung des Diktators durchgerungen. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler erfolgte seitens des Regimes die blutige Abrechnung mit den am Putschversuch Beteiligten, die in überproportional großer Zahl dem Kreis der preußischen Hocharistokratie entstammten. Ein Blick in die Totenlisten des 20. Juli 1944 liest sich über weite Strecken beinahe wie ein Auszug aus dem Adelsregister der brandenburgischpreußischen Armee der 1740er- und 1750er-Jahre. Durch diesen hohen Blutzoll wurde gerade diese soziale Schicht, die einer spezifisch preußisch-konservativen Haltung in erster Linie verpflichtet war, weitgehend dezimiert – sie wurde faktisch ausgerottet. Eine Reaktivierung des vor 1933 maßgeblich gewesenen konservativen Milieus war daher in den Jahrzehnten des Wiederaufbaus ausgeschlossen. Kein Geringerer als Heinrich Böll hat das übrigens in einem seiner letzten Interviews mit Rene Wintzen 1981 lebhaft beklagt.6 Viertens: Dem deutschen Konservatismus fehlte nach 1945 jedoch nicht nur ein wesentliches Element seiner ehemaligen sozialen Trägerschaft. Es ermangelte ihm auch eines Großteils seiner einstigen geographischen Basis. Die Vertreibung von etwa sieben Millionen Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches – vor allem aus den preußischen Provinzen Schlesien, Ostpreußen, Ostbrandenburg und Ostpommern –, die immerhin ein Viertel des damaligen deutschen Reichsgebietes ausmachten, vernichtete jenes ausgeprägt konservative Regionalmilieu, das mit dem zumeist polemisch gebrauchten Begriff „Ostelbien“ doch nur sehr unzureichend umschrieben ist. Es hatte seine Kraftströme aus einem noch größtenteils patriarchalisch geprägten Lebensumfeld bezogen, dessen jahrhundertelang gewachsene Sozialstrukturen in den neuen Ankunftsräumen der Heimatvertriebenen, selbst in relativ konservativen Gegenden wie Bayern, Schleswig-Holstein Mecklenburg oder Nordhessen, keine Geltung mehr besaßen. Ent-
sprechende Zuschreibungsmuster lebten dort allenfalls in Form folkloristischer Reminiszenzen weiter. Fünftens: Zugrunde ging mit der Katastrophe von 1945 aber weitaus mehr als nur das konservative Sozialmilieu der Vertreibungsgebiete des deutschen Ostens. Als Folge von Krieg und Zerstörung, als Resultat von Flucht und Vertreibung, als Ergebnis von beruflicher Entwurzelung und sozialer Destabilisierung wurden auch im verbleibenden Restdeutschland die traditionell überlieferten Klassenzuordnungen hinfällig. Eine gigantische Bevölkerungsverschiebung veränderte in kürzester Zeit sämtliche erprobten Gesellschaftsstrukturen. Sie ließ gewohnte Schichtungen obsolet werden, und sie bewirkte nicht nur einen rapiden Umbruch konventioneller Denkweisen, sondern auch einen ebenso raschen Wandel von Lebensstilen und Verhaltensformen, wodurch die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, aufs Ganze gesehen, zur „Mitte“ hin formatiert wurde. Das war im Übrigen nur eine Weiterführung gesellschaftspolitischer Prozesse, die schon im Dritten Reich begonnen hatten. Zahlreiche Maßnahmen der NSSozialpolitik hatten die Einebnung alter, dem kaiserlichen Deutschland noch selbstverständlicher Milieuunterschiede auf den Weg gebracht. Der damit eingeleitete Trend zur sozialen Vereinheitlichung, der mit einer partiellen Abwertung der Kategorie des „Bürgerlichen“ als eines kulturellen und gesamtgesellschaftlichen Leitbildes einherging, set zte sich nach 1945 unter zwar veränderten Rahmenbedingungen, dafür aber umso rasanter fort.7 Er entzog hierarchischen Rollenmustern ihre Basis, er generierte die von Helmut Schelsky schon 1953 hellsichtig diagnostizierte „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“,8 und er schuf ein zunehmend akzeptiertes Lebensideal, dessen uniformierende Normsetzungen einem gedeihlichen Wachstum konservativer Ordnungsbilder alles andere als zuträglich gewesen sind. Trotz solcher Hemmnisse, die dem deutschen Nachkriegskonservatismus ein bruchloses Anknüpfen an konservative Positionen aus den Jahren vor 1933 auf politischem Gebiet faktisch verwehrten, dominierten im Rahmen des antitotalitären Konsenses in der frühen Bundesrepublik im kulturellen Bereich zunächst durchaus noch konservative Denkmuster. Hier bewegte man sich weitgehend in den Bahnen betont abendländischer Vorstellungshorizonte, etwa auf dem Feld der Belletristik, wo christlich-humanistisch orientierte Autoren aus dem Umfeld der „Inneren Emigration“ die literarische Szene beherrschten.9 Vergleichbares galt für den Bereich der Wissenschaften und für den der Publizistik.10 Bis etwa 1960 waren hier überall Elemente aus dem Traditionsbestand des Kaiserreichs lebendig. Sie speisten sich aus der kleindeutsch-borussischen, protestantisch dominierten politischen Kultur
368 des Hohenzollernstaates, aber auch aus spezifisch katholisch-konservativer Überlieferung, namentlich in Bayern. Dadurch besaßen die 1950er-Jahre in intellektueller Hinsicht weitaus mehr Ähnlichkeiten mit den 1920er- und frühen 1930er-Jahren als etwa mit den 1970ern oder den 1980ern.11 So kann man die Zeit zwischen 1945 und 1960 als die letzte Etappenstation im Entwicklungsgang einer noch genuin deutsch geprägten politischen Ideenlandschaft bezeichnen, bevor diese Ideenlandschaft in einer anderen Ordnungsvorstellung aufging: in der Ordnungsvorstellung des „Westens“. Die Bedeutung dieses Transformationsprozesses kann für die Entwicklung des deutschen Konservatismus nicht hoch genug veranschlagt werden. 3. „Westernisierung“ und „Amerikanisierung“ Den deutschen Konservativen blies nach 1945 nämlich nicht nur aus den bereits genannten Gründen der Wind ins Gesicht. Es gab darüber hinaus einen zumindest ebenso gewichtigen Ursachenkomplex, der einer politischen Meinungsführerschaft des deutschen Nachkriegskonservatismus vehement entgegenwirkte. Dieser Ursachenkomplex hing unmittelbar mit der Dominanz der Kultur der Sieger zusammen. Sie brachten ihre eigenen gesellschaftlichen Leitbilder mit, und sie implantierten diese Leitbilder dauerhaft zunächst in das politisch-gesellschaftliche System der „alten“ Bundesrepublik, seit 1990 dann auch in dasjenige des vereinigten Deutschlands.12 Die Implantation westlicher Demokratievorstellungen ist den Deutschen – jedenfalls bis heute – nicht schlecht bekommen. Die aufs Ganze gesehen ausgewogene politische Kultur des Bonner Teilstaates profitierte ebenso davon wie die Institutionalisierung der gesamtdeutschen Berliner Republik in den Jahren nach 1990. Aber wie jeder Gewinn mit einem Verlust erkauft wird, so hatte auch dieser Verwestlichungsprozess seinen Preis. Die nicht eben geringfügigen Kosten trugen langfristig – die deutschen Konservativen. Das galt nicht unbedingt für die allgemeine Voraussetzung dieses Prozesses: die Integration der westlichen Besatzungszonen Deutschlands in den sich formierenden Westblock. Dieses Integrationswerk bot einen Rahmen, dem sich auch die deutschen Konservativen prinzipiell einzufügen vermochten. Doch eingehegt von diesem militärisch-politischen Integrationsrahmen vollzog sich die Vermittlung von Westlichkeit an die Westdeutschen (und später dann an die Bürger der erloschenen DDR) unter intellektuellen Vorgaben, die in ihren Konsequenzen allesamt auf den Abbruch genuin deutsch-konservativer Denkhaltungen und Traditionsbestände hinausliefen. Dies geschah auf zwei unterschiedlichen Ebenen, die man auseinanderhalten muss, um der Komplexität des zu beschreibenden Vorgangs gerecht zu werden.
Auf einer ersten Ebene erfolgte die Vermittlung von Westlichkeit an die Westdeutschen in Form der ideellen Westintegration der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten Deutschlands in das westeuropäisch-atlantische Lager. In der Konsequenz dieser vielbeschriebenen „Westernisierung“13 ergab sich eine längerfristige Verschiebung des politischen Koordinatensystems im Sinne einer Abkehr von tradierten Positionen des deutschen politischen Denkens unter Einschluss seiner konservativen Varianten. Eine zweite Ebene der Vermittlung von Westlichkeit an die Westdeutschen bezeichnete den weitläufigen Komplex der „Amerikanisierung“14. Dies betraf vor allem den Bereich der Alltagswelt, des Medienmarktes und der Massenkultur. Anders als das Elitenphänomen der ideellen Westintegration besaß und entfaltete diese alltagskulturelle Komponente große Nachhaltigkeit. Sie erfolgte unter Einbeziehung nahezu aller sozialen Schichten, und sie bewirkte die dauerhafte Transformierung der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft in eine an „westlichen“ Standards orientierte Republik der Konsumenten. Das Bemühen der westlichen Siegermächte um die ideelle Westintegration („Westernisierung“) zielte auf eine Destruktion dessen, was man seitens der Alliierten – allen voran der Vereinigten Staaten – als Traditionsbestand eines vermeintlich nicht-westlichen, spezifisch deutschen Sonderbewusstseins für die katastrophale Entwicklungsrichtung der deutschen Geschichte verantwortlich machte. Die Hochschätzung militärischer Disziplin und das Festhalten an der monarchischen Kommandogewalt in Preußen zählten ebenso zu diesen Traditionen, wie die unterschiedlichen Ausprägungsformen deutschen aufklärungskritischen Denkens, die man mit dem Schlagwort „Ideen von 1914“ zusammengefasst hat.15 Auch die im politischen Bewusstsein vieler Deutscher tief verwurzelte Skepsis gegenüber Parteien und Parlamentsherrschaft empfand man auf westalliierter Seite als Ausdruck einer latent antidemokratischen Gesinnung. Nimmt man zu alledem noch die Betonung von Autorität und Hierarchie in Staat und Gesellschaft sowie die philosophischidealistische Konzeption von der Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes, gemäß derer „Freiheit“ als selbstverantwortete Unterordnung unter eine als sinnvoll anerkannte, weil dem Allgemeinwohl dienende Aufgabe definiert wurde, so hat man jene Elemente beisammen, die in den Augen der westlichen Sieger als typisch deutsches defizitäres Potenzial galten. Diese Elemente und dieses Potenzial sollten im Interesse einer Angleichung an eigene Modelle (und das hieß primär: an amerikanische Vorgaben) dauerhaft überwunden werden. Damit jedoch stand ein Großteil der Traditionen des deutschen politischen Konservatismus zur Disposition. Als Alternative zu solchen Traditionen formulierte die amerikanische Besatzungsmacht ein kohärentes Deutungsangebot, das den Deutschen die
369 Aufnahme in die Gemeinschaft der freien Völker versprach – wenn sie sich denn dazu verstehen wollten, die amerikanische politische Praxis als Vorbild und Maßstab uneingeschränkt zu akzeptieren. Das Ziel hieß: Westernisierung der westdeutschen Funktionseliten nach nordamerikanischem Vorbild. Als Mittel zur Realisierung dieses Zieles diente den amerikanischen Besatzern die im Umfeld von Franklin D. Roosevelt entstandene Ideologie des Konsensliberalismus. Diese Ideologie bildete kein festgefügtes politisches Programm. Sie setzte sich vielmehr aus einem lockeren Bündel verschiedenartiger inhaltlicher Vorgaben zusammen, deren Mittelpunkt der Antitotalitarismus bildete. Dies schloss das Bekenntnis zum System parlamentarischer Repräsentation ebenso ein wie das Prinzip des Verbändelobbyismus und der Parteienstaatlichkeit, den gesellschaftlichen Pluralismus, die Chancengleichheit und den Freien Markt. Solche konsensliberalen Signaturen hatten mit typischen Denkhaltungen des deutschen Konservatismus wenig gemein, und sie wurden von alliierter Seite denn auch als säkularer Gegenentwurf zu dessen überlieferter Weltauffassung empfunden und propagiert. Angesichts der engmaschigen Kontrolle des geistigen Lebens im Nachkriegsdeutschland durch die größte westliche Besatzungsmacht mussten sich die verbliebenen Verfechter konservativer Politik in irgendeiner Weise mit der konsensliberalen Ideologie arrangieren. Parallel zur ideellen Westintegration („Westernisierung“) verlief der weitaus umfassendere Prozess alltagskultureller Verwestlichung der Westdeutschen. Dieser in der Regel als „Amerikanisierung“ bezeichnete Prozess betraf breite Bevölkerungsschichten, denn er bezog sich auf jene Erlebnisfelder, die im Zeitalter der Massendemokratie für das Selbstverständnis einer Gesellschaft vorrangig relevant sind: Umgangsformen und Kommunikationsweisen, Freizeitgestaltung und Konsumverhalten, Populärkultur und Unterhaltungsindustrie, Kleidung, Mode, Sprachgewohnheiten. Es war dieser alltagskulturelle Verwestlichungsprozess mit seinen egalisierenden, nivellierenden und uniformierenden Tendenzen, der schon in den 1950er Jahren konservative Zeitgenossen auf den Plan rief. Einer von ihnen war der Literaturkritiker Friedrich Sieburg, der nicht müde wurde, die wachsende Übermacht amerikanischer Lebensformen zu beklagen. Ihr Einströmen empfand er als Zwang, und ihre Dominanz galt ihm als Nötigung – nicht als ein natürlicher Vorgang, sondern als ein unerwünschtes Diktat, das nur den aktuellen politischen und militärischen Machtverhältnissen geschuldet sei.16 Solche Beobachtungen stimmten freilich nur zum Teil. Denn bei der von Sieburg und anderen konservativen Publizisten so lebhaft beklagten „Amerikanisierung“ des deutschen Alltagslebens17 handelte es sich keineswegs um einen von der größten westlichen Siegermacht bewusst erzwungenen oder gar inszenierten Prozess. Die alltagskulturelle
Verwestlichung Westdeutschlands erfolgte vielmehr weitgehend unabhängig von der offiziellen amerikanischen Besatzungspolitik. Sie war von den Deutschen mehrheitlich gewollt, und sie wurde von ihnen mitgetragen. Das unterschied sie fundamental von der ideellen Westintegration, der „Westernisierung“. Diese war in der Tat keine bloße Offerte aus Übersee, die von den Deutschen entweder angenommen oder ausgeschlagen werden konnte. Die ideelle Westintegration wurde vielmehr seitens der amerikanischen Besatzungsmacht mit großer Entschiedenheit vorangetrieben, und sie traf bei vielen deutschen Intellektuellen auf erhebliche Widerstände. Solche Widerstände gelangten allerdings zumeist nur sehr verhalten zum Ausdruck, weil die rasch eskalierende Blockkonfrontation des Kalten Krieges – spätestens seit 1947 – auch die noch handlungsfähig gebliebenen konservativen westdeutschen Führungsschichten notgedrungen an die Seite Amerikas führte. Angesichts der akuten Bedrohung durch die Sowjetunion akzeptierten die deutschen Konservativen mehrheitlich die Westintegration als geringeres Übel im Vergleich zu einer möglichen Überwältigung durch die östliche Supermacht. Der Konsensliberalismus gewann in diesem Rahmen die Funktion einer Integrationsideologie. Sein Hauptzweck lag in der Überbrückung und Überwindung antiwestlicher Vorbehalte bei den Westdeutschen. Zugleich verband sich mit seiner Implantierung eine von der amerikanischen Besatzungsmacht bewusst vorgenommene Abschnürung der Quellen und Zuflüsse konservativer Programmatik. Differenziert vorgetragene Amerikakritik, wie sie vor 1933 zum festen Bestandteil des deutschen Konservatismus gezählt hatte, geriet seit 1945 in den Verdacht einer generellen Infragestellung mühsam errungener Freiheitswerte und wurde daher kaum mehr artikuliert.18 Stattdessen arrangierten sich die westdeutschen Konservativen mehrheitlich mit den Ordnungsvorstellungen des „Westens“, und das hieß weitgehend mit denen der USA. Sie fanden sich mit der repräsentativen Parteiendemokratie als der einzig noch verbliebenen Alternative zum Bolschewismus ab. „Westernisierung“ und „Amerikanisierung“ waren damit aus konservativer Sicht gleichsam der Preis, den die Westdeutschen zu zahlen hatten, um in den Schutzbereich des westlichen Lagers aufgenommen zu werden. So führte nicht erst die studentische Rebellion von 1968 zu einem rapiden Rückgang konservativer Deutungsangebote im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben Westdeutschlands.19 Bereits der Siegeslauf des konsensliberalen Leitbildes seit Beginn der 1950er Jahre hatte solche Deutungsangebote zusehends marginalisiert. 4. Historische Spurensuche Die bisher angedeuteten Probleme einer Reaktivierung konservativen Denkens und konservativer Po-
370 litik in Deutschland nach 1945 lenken den Blick nahezu zwangsläufig auf die Inhalte dieses Denkens und dieser Politik. Wie definierte sich – so ist nun zu fragen – konservatives politisches Denken in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg? Welche Elemente dieses Denkens – so ist weiter zu fragen – sind für die heutige politische Ideenlandschaft noch (oder vielleicht wieder) interessant? Wer so fragt, tut gut daran, den Begriff „konservativ“ zunächst wortgeschichtlich zu analysieren, d. h., ihn jenem historischen Umfeld zuzuordnen, innerhalb dessen er entstanden ist.20 „Conservare“ bedeutet bekanntlich „bewahren“ – im übertragenen Sinn auch „schonen“ oder „retten“. Eine „Konserve“ ist ein zylinderförmiges Blechbehältnis, dessen Inhalt man auch nach Jahren noch mit Genuss verspeisen kann, ohne dass einem dabei übel wird. Auf den Inhalt der Konserve kommt es freilich an, und wenn es dem Konservativen um Bewahrung von etwas Gewordenem ging und geht, so ist stets danach zu fragen, was der Konservative denn eigentlich konservieren wollte und will. Denn Bewahrung an sich, Konservierung ohne konkrete inhaltliche Bezugspunkte und fern aller bindenden Normen und Orientierungen, war und ist alles andere als ein konservatives Prinzip. Bestehende Zustände bewahren – das wollten 1989 auch die Fortschrittsgegner in Ost-Berlin, doch niemand käme wohl ernsthaft auf die Idee, Erich Honecker, Erich Mielke oder Egon Krenz als repräsentative Vertreter des deutschen Konservatismus für sich vereinnahmen zu wollen. Man kann in diesen Zusammenhängen Hermann Wagener zitieren, einen der profiliertesten Konservativen der Bismarck-Zeit, der als politischer Publizist, Parlamentarier und enger Berater des ersten deutschen Reichskanzlers maßgeblichen Anteil an der deutschen Sozialgesetzgebung der 1880erJahre hatte. „Konservative Gesinnung“, so meinte Wagener in den 1870er-Jahren, sei „etwas Höheres und Tieferes als der kleinmütige Wunsch, das, was man hat, möglichst langsam zu verlieren“21. Solche Worte verweisen auf eine idealistisch grundierte Programmatik und auf ein Potenzial an Werten, die man zu verteidigen und denen man gerecht zu werden gewillt ist. Ein halbes Jahrhundert nach Wagener hat der Kultur-soziologe Karl Mannheim den „Konservatismus“-Begriff dann als eine historisch bedingte Epochenformation eingeführt. Er grenzte ihn vom Begriff des Traditionalismus ab, welchen er als eine jederzeit und überall mögliche anthropologische Grundhaltung charakterisierte. Konservatismus hingegen bezeichnete er als eine Gesinnung, deren Entstehung und Entwicklung an bestimmte geschichtliche Zeitumstände gebunden war – an die geistig-politische Epochenkonstellation im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts.22 Folgt man dieser weithin akzeptierten Interpretation Karl Mannheims, so war (und blieb) konservative Politik, ungeachtet aller Formwandlungen ihrer
äußeren Gestalt, den Denkinhalten jener Zeit verpflichtet. Das wiederum schloss (und schließt) alle eilfertigen Übertragungen der um 1800 in Europa entstandenen Konservatismus-Problematik auf andere Weltregionen und auf Erscheinungsformen des politischen Lebens fremder Kontinente aus – einschließlich der politischen Kultur Nordamerikas, dessen „Konservatismus“ doch nur sehr bedingt mit dem Ideengehalt des europäischen Originals in Übereinstimmung gebracht werden kann.23 Die Bezugspunkte des historischen Konservatismusbegriffs ergeben sich somit aus den spezifischen Rahmenbedingungen seiner erstmaligen Verwendung im Umfeld der gesamteuropäischen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Französischen Revolution. Der englische Politiker und Publizist Edmund Burke war der erste europäische Intellektuelle, der in seinem Buch „Reflections an the Revolution in France“ 1790 der antirevolutionären Ausprägung konservativen Denkens programmatischen Ausdruck verlieh. Sein französischer Zeit- und Zunftgenosse Francois René Vicomte de Chateaubriand führte das Wort „konservativ“ 1818 im Rahmen der von ihm begründeten Zeitschrift „Le Conservateur“ als politische Selbstdefinition ein. Der Konservatismus stand also von Anfang an in einem gesamteuropäischen Bezugsfeld. Englische, französische und deutsche Intellektuelle waren an seiner Formierung gleichermaßen beteiligt. Auch im Zeitalter der Nationalstaaten blieb der Konservatismus in Europa eine internationale Bewegung.24 Von allen nationalen Ausprägungsformen hat der deutsche Konservatismus während seiner 200-jährigen Entwicklungsgeschichte wohl die meisten Kontinuitätsbrüche erlebt. Einstmals unangefochtene konservative Denkfiguren sind mittlerweile obsolet geworden, weil die konkreten politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhanden gekommen sind, auf die sie früher bezogen waren.25 Die Vergegenwärtigung solcher historischen Denkinhalte des deutschen Konservatismus ist gleichwohl kein müßiges Unterfangen. Im Sinne einer Kontrastdiagnose zur Gegenwart vermag sie vielmehr den Blick zu schärfen für die Bandbreite konservativer Argumentationsmöglichkeiten und für Defizite im aktuellen konservativen Ideenhaushalt. Drei Denkfiguren offenbaren hier eine besondere Relevanz; erstens: die konservative Funktionsbestimmung der Freiheit; zweitens: die konservative Einschätzung des Nationalen und der Nation; drittens: der konservative Umgang mit der Sozialen Frage. Erstens: Typisch für den Freiheitsbegriff der deutschen Konservativen war die heute nur noch schwer zu vermittelnde Auffassung von der Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes. Gemäß dieser Auffassung bestand Freiheit nicht in der Möglichkeit einer schrankenlosen Realisierung individuellen
371 Emanzipationsstrebens. Freiheit, die nicht auf echter Verantwortung basierte, galt vielmehr als eine gefährliche Illusion.26 Wer tun und lassen konnte, was er wollte, lieferte sich schutzlos den eigenen Begierden aus und geriet gerade dadurch in Unfreiheit, weil er von einem niemals zu stillenden Drang nach Befriedigung subjektiver Interessen getrieben wurde. Wirklich „frei“ war der Einzelne nach konservativer Überzeugung nur dann, wenn er sich in eine als notwendig und zugleich sinnvoll erkannte Ordnung einfügte, wenn er sich einer Lebensform verschrieb, deren Bindungen er zu akzeptieren und innerhalb derer er sich seinen Fähigkeiten entsprechend entfalten konnte. Nicht jedem durfte alles möglich sein. Überhaupt sollte nicht alles jederzeit möglich sein. Freiheit galt nicht als Freiheit von etwas – beispielsweise als bloße Abwesenheit von staatlichen Zwängen oder gesellschaftlichen Konventionen. Freiheit erschien vielmehr als Freiheit zu etwas hin – als Entscheidung für einen übergeordneten Wert und für eine transpersonale Institution, die diesen Wert verkörperte. Es ist unverkennbar, dass eine solche Sichtweise in denkbar größtem Kontrast zur westlich-liberalen Freiheitsauffassung steht, wie sie heute fast allerorts als die einzig denkbare Variante „freiheitlicher“ Gesinnung erscheint. Aus historischer Perspektive, im Blick auf die Freiheitskonzeption des deutschen Konservatismus, ist sie das jedoch keineswegs gewesen. Zweitens: Nicht nur die konservative Auffassung von Freiheit, auch die Einstellung der deutschen Konservativen zum Phänomen des Nationalen und zur Nation steht quer zu den geläufigen Fronten aktuell geführter Nationalismusdiskurse und Patriotismusdebatten.27 Denn die heute so gängige Gleichsetzung von Konservatismus und Nationalismus traf für die gesamte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs zu. Bis ins Zeitalter Bismarcks, bis zur kleindeutschen Nationaleinigung unter preußischer Führung, war der Nationalismus in Deutschland vielmehr eine Domäne der „Linken“, während die „Rechte“ damals zu den entschiedensten Gegnern nationalstaatlicher Bestrebungen zählte, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Die Konservativen wünschten die Beibehaltung föderativer Strukturen, sie erstrebten eine Stärkung lokaler, regionaler und partikularer Gewalten, und sie propagierten die Zusammengehörigkeit Europas als einer übernationalen, alle Völker umfassenden universalen Friedensordnung. Damit akzentuierten sie die „vorstaatliche“ und die „überstaatliche“ Ebene – unter bewusster Aussparung des Bereiches „national“ organisierter Staatlichkeit. Man mag in diesem Zusammenhang an Ernst Ludwig von Gerlach erinnern, den Gründer, langjährigen Führer und theoretischen Kopf der Konservativen Partei Preußens. Gerlachs gesammelte Kritik galt dem Überhandnehmen nationalstaatlicher Ge-
sichtspunkte im Denken und Handeln seiner Zeitgenossen, 1850 sprach er gar vom „Laster des Patriotismus“ und vom „Nationalitätenschwindel“, für den ein preußischer Konservativer nur Missgunst und Verachtung empfinden könne.28 Erst Bismarcks Reichsgründung von 1866 bzw. 1871 hat die preußischen Konservativen dann zu Verfechtern des Prinzips der Nation, zu Protagonisten des deutschen Nationalismus und zu Promotoren des machtstaatlichen Prinzips werden lassen. Diese spätzeitliche Entwicklung darf indes nicht den Blick für die Tatsache trüben, dass Konservatismus und Nationalismus im Deutschland der Vor-Bismarckzeit faktisch einander ausschlossen. Drittens: Starken Wandlungen unterworfen war auch die Haltung der deutschen Konservativen zur Sozialen Frage. Die ihnen heute zumeist unterstellte sozialpolitische Indolenz präsentiert sich in historischer Perspektive in einem gänzlich anderen Licht. Sozialpolitik war nämlich keineswegs die Errungenschaft des Sozialismus oder gar eine Folgewirkung des Liberalismus. Sozialpolitik rangierte vielmehr als eines der Kernanliegen des Konservatismus. Schon ein Vierteljahrhundert vor dem Auftreten von Karl Marx, in den 1820er- und 1830er-Jahren, hatten konservative Autoren wie Adam Müller oder Franz von Baader in engagierten Publikationen das Problem der Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten, den sogenannten Pauperismus, öffentlich angeprangert und damit erstmals Kapitalismuskritik auf deutschem Boden betrieben.29 Und wiederum war es der konservative Vordenker Preußens, Ernst Ludwig von Gerlach, der im Revolutionsjahr 1848 seinen Parteifreunden ins soziale Gewissen redete: „Nur in Verbindung mit den darauf haftenden Pflichten“, so meinte er damals, „ist das Eigentum heilig; als bloßes Mittel des Genusses ist es nicht heilig, sondern schmutzig. Gegen ein Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht. ... Heilig ist das Eigentum nur in den Händen derer, die nicht für sich besitzen, die also die an ihnen haftenden sozialen Pflichten voll anerkennen“30. Gerlach verlieh mit solchen Worten dem konservativen Standpunkt Ausdruck, dass persönlicher Besitz keine willkürlich verfügbare Manövriermasse individuellen Wirtschaftens darstelle, sondern als sozial gebundenes Sachgut firmiere, dessen Verwaltung die Verantwortlichkeit der Besitzenden gegenüber den Nichtbesitzenden einschloss. Nach 1850 haben führende preußische Konservative kühne Konzepte zur Lösung der Sozialen Frage entwickelt, um die Arbeiterschaft auf evolutionärem Weg, ohne gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung, in den monarchischen Staat zu integrieren. Einer von ihnen war der Publizist und Politiker Joseph Maria von Radowitz, ein persönlicher Freund König Friedrich Wilhelms IV. und kurzzeitig preußischer Außenmi-
372 nister. Radowitz entwarf ein interventionistisches Wirtschaftsmodell mit Staatsfabriken, Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer, Kapitalbildungsmaßnahmen zugunsten des Vierten Standes und progressiver Einkommenssteuer – das Programm eines konservativen Staatssozialismus, das mancherlei Nachahmer gefunden hat.31 So dachten Lorenz von Stein32 und – wiederum – Hermann Wagener33 intensiv über die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen Arbeiterschaft und Monarchie nach, das in Gestalt eines „Sozialen Königtums“ die notwendigen Reformmaßnahmen gegen die Herrschaftsansprüche und Klasseninteressen der Bourgeoisie auf den Weg bringen sollte.34 Es gehört zu den großen Verhängnissen der neueren deutschen Geschichtsentwicklung, dass die Ungunst der Umstände solchen zukunftweisenden Konzeptionen keine Chance zu einer erfolgreichen Realisierung eröffnete, dass der „konservative“ Sozialismus vielmehr durch die politisch so unfruchtbare Ideologie des Marxismus marginalisiert, verdrängt und der Vergessenheit überantwortet wurde. Das bis heute am reibungslosesten funktionierende Segment im deutschen Sozialsystem, das Prinzip der staatlichen Sozialversicherung, ist ein Ergebnis der konservativen Bismarckschen Sozialgesetzgebung aus den 1880er-Jahren, während es von der damaligen marxistischen Linken erbittert bekämpft wurde. 5. Die konservativen Konstanten Der Begriff der Freiheit, die Einschätzung der Nation und die Auffassung der Sozialen Frage – diese drei zentralen Referenzgrößen haben sich im Verlauf der nunmehr über 200-jährigen Entwicklungsgeschichte des deutschen Konservatismus erheblich gewandelt. Daher mag es in ihrem Fall angebracht sein, von konservativen Variablen zu sprechen. Damit sind jene Elemente und Motive konservativen Denkens gemeint, die ein hohes Maß an Veränderungspotenzial offenbaren und nicht immer und überall Geltung beanspruchen können. Neben diesen variablen Elementen und Motiven gibt es jedoch einen festen Kernbestand konservativer Denkinhalte, der sich – jenseits aller zeitgebundenen Akzentverlagerungen – über die Jahrhunderte hinweg erhalten hat und wohl auch in Zukunft konsistent bleiben wird. Diesen Kernbestand konservativen Denkens kann man als konservative Konstanten bezeichnen. Zum Fundus konservativer Konstanten gehört zunächst der Gedanke, dass all jene sozialen Formationen, die sich in kontinuierlicher Entwicklung dauerhaft behauptet haben, Respekt verdienen und bewahrenswert sind, weil sich in ihnen ein Erfahrungsschatz akkumuliert hat, dessen Wert schlechthin unersetzlich ist. Das Gewordene gilt dem Konservativen mehr als das Gemachte, zum horriblen Schreckbild gerät ihm die Gestalt des revolutionären Neuerers, der die Welt aus ihren Angeln heben und auf abstrakte Prinzipien gründen will, statt sie
aus dem Gegebenen heraus fortzubilden. „Neuerer“, so hat die konservative Schriftstellerin Ricarda Huch diesen unerquicklichen Typus treffend charakterisiert, „sind oft nicht gerade sympathische Menschen. Sie lieben es, sich hervorzutun, aufzufallen, das Naheliegende, Erforderliche gelingt ihnen nicht, wenigstens nicht so, dass sie sich darin auszeichnen können, oder sie haben gar nichts zu tun, wissen sich nicht zu beschäftigen und tasten planlos nach diesem und jenem. … Sie ... finden in sich selbst nie Befriedigung und halten sich an das Äußere, dem sie mit überlegener Kritik, ungeduldig, aber ohne Tüchtigkeit, gegenüberstehen“35. Eine Zeit, in der „Reform“ nicht mehr von vorneherein – wie seit den 1960er-Jahren – als positiv besetzter Begriff firmiert, dürfte solchen Worten verstärktes Verständnis entgegenbringen. Es gibt noch weitere konservative Konstanten. Zu ihnen zählt die Wertschätzung einer Ordnung, deren Struktur sich durch gestufte Mannigfaltigkeit auszeichnet. Eine solche Ordnung widerspricht den uniformierenden, nivellierenden und egalisierenden Tendenzen der Moderne, die als Verarmung und Verkümmerung ursprünglicher Daseinsvielfalt empfunden werden. Stattdessen gelten dem Konservativen Begriffe wie „Hierarchie“, „Autorität“ oder „Disziplin“ als willkommene Referenzgrößen. Sie bezeichnen für ihn keine repressiven Herrschaftsvokabeln, sondern gelten als Manifestationsformen überzeitlicher Werte, die – wenn sie denn als rechtlich verantwortet und sozial sinnvoll anerkannt sind – in ihrem Kern jedem Neuerungsdruck widerstehen und in ihrer Legitimität nicht ständig angezweifelt werden müssen. Der Bezug auf solche Referenzgrößen verleiht dem Konservativen Gelassenheit und jenen „langen Atem“, der ihm den Luxus erlaubt, nicht immer Kritik üben und Zweifel säen, nicht überall nach Zwecken fragen und rationale Nutzanwendungen einfordern zu müssen. Die Gelassenheit des Konservativen speist sich aus seiner Bereitschaft, Normen und Werte auch dann zu akzeptieren, wenn sie sich einer unmittelbar sichtbaren Nutzanwendung entziehen. Denn der Konservative weiß um die ebenso verborgene wie eminente Bedeutung, die solche Normen und Werte für die sittliche Grundierung moderner Gesellschaften besitzen. 6. Perspektiven für die Zukunft Der Respekt vor Gewachsenem, das sich bewährt hat, eine tiefsitzende Skepsis gegenüber allen Varianten von Neuerungssucht sowie eine ebenso stark ausgeprägte Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Normierungszwängen – diese Trias konservativer Konstanten findet ihre Letztbegründung im konservativen Bekenntnis zur Ungleichheit der conditio humana. Gleichheit – so hat es der konservative preußische Historiker und Publizist Heinrich Leo in den 1850er-Jahren formuliert – gebe es nur im Leichenschauhaus. Wo Leben sei und noch
373 keine Verwesung herrsche, existiere stets auch Ungleichheit.36 Deren Beseitigung erschiene weder wünschenswert noch ersprießlich. Und tatsächlich: Mannigfaltigkeit bietet bessere Daseinsperspektiven als ödes Einerlei, Hierarchien ermöglichen effektivere Profilbildungen als plane Ebenen, Eliten leisten mehr als die Massen, Regsamkeit verdient höheren Respekt als träges Verharren – und überhaupt rangieren alle Ausnahmeerscheinungen oberhalb der Summe der weniger Begabten, der Durchschnittlichen und Unbedeutenden, weil gerade solche Ausnahmeexistenzen dosierten gesellschaftlichen Fortschritt, wie der Konservative sich ihn wünscht, am ehesten anzuregen und zu realisieren vermögen. „Fortschritt“ ist für den Konservativen nämlich eine durchaus akzeptierte Selbstverständlichkeit. Um seiner Nachhaltigkeit willen strebt der Konservative jedoch danach, ihn nur innerhalb fester Verankerungen zu wagen – im Wissen darum, dass jeder Fortschritt unweigerlich mit Verlusten erkauft wird, und dass solche Verluste am ehesten durch die Existenz funktionserprobter Bindungen zu kompensieren sind. Daher erweist sich die konservative Vorliebe für Gebundenheit und Ordnung als Konsequenz einer anthropologisch legitimierten Überzeugung, gemäß derer die Akzeptanz überindividueller Regelwerke nicht nur Halt vermittelt und Sicherheiten verbürgt, sondern auch der Herausformung gruppenspezifischer Identitäten dienlich ist, ohne deren Existenz ein Leben in der Geborgenheit schlechthin undenkbar erscheint – seien es nun die Bindungen der Heimat oder des Berufs, der Familie oder der Religion, der Landschaft oder der Nation, der Kultur oder der Moral. Die Sehnsucht nach solchen Bindungen wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, in den vergangenen Jahren wieder verstärkt verspürt. Man muss kein Konservativer sein, um solche Sehnsucht zu empfinden. Aber vielleicht könnte diese Sehnsucht Anlass und Gelegenheit bieten, ein Konservativer zu werden.
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Typische Beispiele für den kritischen, teilweise denunziatorischen Umgang mit der Konservatismus-Thematik vor allem in den 1970er Jahren bieten die beiden – allerdings sehr materialreichen und wissenschaftlich einwandfreien – Studien von Greiffenhagen, Martin: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. München 1971 und Grebing, Helga: Konservative gegen die Demokratie. Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Frankfurt am Main 1971. – Die „Gegenseite“ wird markiert durch kämpferische Selbstzuschreibungen aus dezidiert konservativer Perspektive vor allem von Mohler, Armin: Von rechts gesehen. Stuttgart-Degerloch 1974; Ders.: Deutscher Konservatismus seit 1945. In: Die Herausforderung der Konservativen. Absage an Illusionen, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Mün-
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chen 1974, S. 34–53; Kaltenbrunner, Gerd-Klaus: Der schwierige Konservatismus. Definition – Porträts, Herford u. a. 1975. Vgl. für das Folgende ausführlich Kroll, Frank-Lothar: Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945. In: Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Berlin 2005, S. 4–24, mit aller maßgeblichen Literatur; ferner – aus aktueller Perspektive – Winckler, Stefan: Die demokratische Rechte. Entstehung, Positionen und Wandlungen einer neuen konservativen Intelligenz, Frankfurt am Main 2005. Vgl. dazu speziell Mohler, Armin/Weissmann, Karlheinz: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz, 6. völlig überarb. und erw. Aufl. 2005, S. 201–205. Erhellend hierfür Weissmann, Karlheinz: Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890 bis 1933, München 1998, hier S. 255 ff; zuletzt Kroll, Frank-Lothar: „Volksgemeinschaft.“ Zur Diskussion über einen umstrittenen Integrationsfaktor nationalsozialistischer Weltanschauung, (2013). Wiederabgedruckt in: Ders.: Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandpotenzial seiner Gegner, Berlin 2017, S. 125– 141. Dazu Kroll, Frank-Lothar: Konservative Revolution und Nationalsozialismus. Aspekte und Perspektiven ihrer Erforschung. (2000). Wiederabgedruckt in: Ders.: Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandpotenzial seiner Gegner, Berlin 2017, S. 191–205. Vgl. Böll, Heinrich: Eine deutsche Erinnerung. Interview mit René Wintzen, München 1981, S. 34 f. Zur Krise des bildungsbürgerlichen Selbst- und Sozialbewusstseins und zum generationell bedingten „Abschied vom Bürgertum“ in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft vgl. Nolte, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 326 ff., mit der zutreffenden Feststellung, „dass die Norm des Bürgerlichen sich immer mehr an ... unteren und mittleren Mittelschichten statt an der Oberschicht oder gehobenen Mittelschicht orientierte“ (328); vgl. neuerdings auch die wichtige Studie von Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, hier S. 291 ff. Zur nationalsozialistischen Konzeption vom „Ende des bürgerlichen Zeitalters“ vgl. zusammenfassend Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a., 2. durchgesehene Aufl., 1999, S. 35 ff. Erstmals formuliert bei Schelsky, Helmut: Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft (1953). Wiederabgedruckt in: Ders.: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 331–336;
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dazu direkt Braun, Hans: Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er-Jahre. In: Archiv für Sozialgeschichte 29/1989, S. 199–223. Vgl. beispielhaft die neueren Sammelbände von Kroll, Frank-Lothar (Hrsg.): Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und Drittes Reich, Berlin 2003; Braun, Michael/Guntermann, Georg (Hrsg.): „gerettet und zugleich von Scham verschlungen“ Neue Annäherungen an die Literatur der „Inneren Emigration“, Frankfurt am Main 2007; Kroll, FrankLothar/von Voss, Rüdiger (Hrsg.): Schriftsteller und Widerstand. Facetten und Probleme der „Inneren Immigration“. Göttingen 2012. Vgl. – mit weiterführender Forschungsliteratur – Kroll, Frank-Lothar: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 31–35; knapper Ders.: Kultur, Bildung und Wissenschaft im geteilten Deutschland 1949–1989. In: Archiv für Kulturgeschichte 85/2003, S. 119–142, hier S. 126 f.; zuletzt Eckel, Jan: Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 89–111. So Müller, Guido/Plichta, Vanessa: Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutsch-französischen Verständigungsinitiativen und konservativ-katholischen Integrationsmodellen 1923–1957. In: Journal of European Integration History 5/1999, S. 17–47. Vgl. zusammenfassend Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999, hier S. 149– 180; Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, hier S. 34 ff., 58 ff.; perspektivenreich aus konservativer Sicht Zitelmann, Rainer/Weissmann, Karlheinz/Grossheim, Michael (Hrsg.): Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt am Main u. a. 1993. Zum Begriff und Problem vgl. grundlegend Doering-Manteuffel, Anselm: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er-Jahre. In: Dynamische Zeiten. Die 60er-Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, hrsg. von Axel Schildt/ Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers, Hamburg, 2. Aufl., 2003, S. 311–341; Gassert, Philipp: Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung. In: Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, von Jörg Baberowski, Eckart Conze, Philipp Gassert, Martin Sabrow, Stuttgart u. a. 2001, S. 67–89. Zum Begriff und Problem vgl. grundlegend Doering-Manteuffel, Anselm: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte 35/1995, S. 1–34; Schildt, Axel: Sind die Westdeutschen amerikanisiert wor-
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den? Zur zeitgeschichtlichen Erforschung kulturellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B50/2000, S. 3–10; materialreich Maase, Kaspar: Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992, hier S. 9 ff., 21 ff. Dazu Mommsen, Wolfgang J.: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen „Sonderwegs“ der Deutschen, in: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, von Wolfgang J. Mommsen, Frankfurt am Main 1990, S. 407–421; See, Klaus von: Freiheit und Gemeinschaft. Völkisch-nationales Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, Heidelberg 2001. Vgl. Sieburg, Friedrich: Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, S. 170 f.; dazu sehr instruktiv Kraus, HansChristof: Als konservativer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik. Das Beispiel Friedrich Sieburg. In: Kroll (Hrsg.): Die kupierte Alternative (wie Anm. 2), S. 267–297. Dazu speziell Ermarth, Michael: „Amerikanisierung“ und deutsche Kulturkritik 1945–1965. Metastasen der Moderne und hermeneutische Hybris. In: Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, hrsg. von Konrad H. Jarausch/Hannes Siegrist, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 315 ff. Vgl. aber Gassert, Philipp: Gegen Ost und West. Anti-Amerikanismus in der Bundesrepublik. In: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, Bd.1: 1945–1968, hrsg. von Detlef Juncker, Stuttgart u. a. 2001, S. 944–954. Dazu als vorläufige Bilanz Becker, Hartmuth/ Dirsch, Felix/Winckler, Stefan (Hrsg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz u. a. 2003; Schildt, Axel: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44/2004, S. 449–478; Hacke, Jens: Der Staat in Gefahr. Die Bundesrepublik der 1970er-Jahre zwischen Legitimationskrise und Unregierbarkeit. In: Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, hrsg. von Dominik Geppert/Jens Hacke, Göttingen 2008, S. 188–206. Für das Folgende sehr anregend Weissmann, Karlheinz: Das konservative Minimum, Schnellroda 2007, S. 22 ff. Zitiert nach Schoeps, Hans-Joachim: Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., Berlin, 5. Aufl., 1981, S. 246; zu Wagener vgl. noch Saile, Wolfgang: Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus, Tübingen 1958. Vgl. Mannheim, Karl: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hrsg. von David
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Kettler/Volker Meja/Nico Stehr, Frankfurt am Main 1984, hier S. 92 ff. Für den Zusammenhang noch immer instruktiv Epstein, Klaus: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806, Berlin 1973, hier S. 19 ff.; ferner Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986. Vgl. aber Zellenberg, Ulrich E.: Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus in den USA. In: Stand und Probleme der Erforschung des Konservatismus, hrsg. von Caspar von SchrenckNotzing, Berlin 2000, S. 175–193; Frohnen, Bruce/ Beer, Jeremy/Nelson, Jeffrey O. (Hrsg.): American Conservatism. An Encyclopedia, Wilmington 2006. Zum Grundsätzlichen Schrenck-Notzing, Caspar von: Gibt es eine konservative Internationale? In: Die Herausforderung der Konservativen. Absage an Illusionen, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, München 1974, S. 54–65. Dies wird deutlich im Blick auf die weiterhin nützlichen Sammelbände von Kaltenbrunner, GerdKlaus (Hrsg.): Rekonstruktion des Konservativismus, Freiburg i.Br. 1972 und Schumann, Hans Gerd (Hrsg.): Konservativismus, Köln 1974; vgl. zuletzt explizit Schwentker, Wolfgang: Die Erben Edmund Burkes. Der europäische Konservativismus in den Revolutionen von 1848/49. In: 1848/49 in Europa und der Mythos der Französischen Revolution, hrsg. von Irmtraud Götz von Olenhusen, Göttingen 1998, S. 134–152. Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. überblickshaft Schildt, Axel: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. Vgl. zum Ganzen Mommsen, Wolfgang J.: Die „deutsche Idee der Freiheit“. In: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830– 1933, von Wolfgang J. Mommsen, Frankfurt am Main 2000, S. 133–157. Dazu jetzt sehr instruktiv Rößler, Matthias (Hrsg.): Einigkeit und Recht und Freiheit. Deutscher Patriotismus in Europa, Freiburg i.Br. 2006; vgl. ferner Weissmann, Karlheinz: Nation?, Bad Vilbel 2001, hier S. 193 ff.; sowie Schwilk, Heimo/Schacht, Ulrich (Hrsg.): Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt am Main u. a. 1994. Zitate bei Schoeps: Das andere Preußen (wie Anm. 21), S. 66, 65; zu Gerlach grundlegend und umfassend Kraus, Hans-Christof: Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen, Göttingen 1994; knapp zusammenfassend Ders.: Ein altkonservativer Frondeur als Parlamentarier und Publizist. Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877). In: Konservative Politiker in Deutschland. Eine
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Auswahl biographischer Porträts, hrsg. von HansChristof Kraus, Berlin 1995, S. 13–35; zum „Nachleben“ entsprechender Positionen sehr erhellend Ders.: Altkonservatismus und moderne politische Rechte. Zum Problem der Kontinuität rechter politischer Strömungen in Deutschland. In: Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte, hrsg. von Thomas Nipperdey/Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Ulrich Thamer, Berlin 1993, S. 99–121. Vgl. zusammenfassend Müller, Johann Baptist: Der deutsche Sozialkonservatismus. In: Konservatismus. Eine deutsche Bilanz, von Helga Grebing/ Martin Greiffenhagen/Christian Graf von Krockow/ Johann Baptist Müller, München 1971, S. 67–97; Blasius, Dirk: Konservative Sozialpolitik und Sozialreform im 19. Jahrhundert. In: Rekonstruktion des Konservatismus, hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Freiburg i.Br. 1972, S. 469–488; Hornung, Klaus: Die sozialkonservative Tradition im deutschen Staats- und Gesellschaftsdenken. In: Soziales Denken in Deutschland zwischen Tradition und Innovation, hrsg. von Jörg-Dieter Gauger und Klaus Weigelt, Bonn 1990, S. 30–68. Zitiert nach Schoeps, Hans-Joachim: Preußentum und Gegenwart. In: Konservative Erneuerung. Ideen zur deutschen Politik, von Hans-Joachim Schoeps, Berlin, 2. Aufl., 1963, S. 94 f. Vgl. zuletzt zusammenfassend Barclay, David E.: Ein deutscher „Tory democrat“? Joseph Maria von Radowitz (1797–1853). In: Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Berlin 1995, S. 37–67. Vgl. Blasius, Dirk: Lorenz von Steins Lehre vom Königtum der sozialen Reform und ihre verfassungspolitischen Grundlagen. In: Der Staat 10/1971, S. 33–51. Vgl. Hornung, Klaus: Preußischer Konservatismus und Soziale Frage. Hermann Wagener (1815– 1889). In: Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Berlin 1995, S. 157–183, hier S. 171 f. Vgl. Wagener, Hermann: Die Lösung der Sozialen Frage, Bielefeld u. a. 1878; zum Ganzen jetzt umfassend Kroll, Frank-Lothar: Die Idee eines sozialen Königtums im 19. Jahrhundert. In: Inszenierung oder Legitimation? Die Monarchie in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein deutsch-englischer Vergleich, hrsg. von Frank-Lothar Kroll und Dieter J. Weiß. Berlin 2015, S. 111–140. Huch, Ricarda: Menschen und Schicksale aus dem Risorgimento, Leipzig 1950, S. 8 f. Vgl. Schoeps: Das andere Preußen (wie Anm. 21), S. 188; zu Leo vgl. Maltzahn, Christoph von: Heinrich Leo (1799–1878). Ein politisches Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik, Göttingen 1979.
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Diskussion (Bearbeitung, Dr. Uwe Niedersen) Religiosität und bundesdeutsche Gesellschaft Prof. A. Lexutt (Gießen) führte auf eine entsprechende Frage aus, dass auch in der bundesdeutschen Gesellschaft sehr wohl Religiosität herrsche und eine Sehnsucht nach Antwort auf letzte Fragen, auch wenn dafür andere Bezeichnungen verwendet würden und diese Religiosität weder in explizit christlicher, geschweige denn kirchlicher Sozialisation ausgedrückt und gelebt werde. Insofern sei es für Kirche und Theologie wichtig, die Fragen der Menschen wahr- und ernstzunehmen und auf das religiöse Element darin zu befragen, ohne zugleich mit offensichtlich religiösen Antworten zu erschlagen. Insbesondere die Schule sei dazu ein wichtiger Raum. Ganz gewiss sei es richtig, dass sich das Christentum in der Gegenwart und für die Zukunft wandeln müsse. Die spezifisch christlichen Pointen sollen dabei aber gerade nicht verschliffen werden. Gefordert sei ein reflektiertes Christentum, das in dieser kritischen Reflexion in ständigem Dialog mit sich selbst, aber auch mit äußeren Anfragen von Religionen, Ideologien und Überzeugungen aller Art tritt. Die dazu nötige Toleranz könne sich dabei von dem Gedanken der tolerantia Dei (das Erdulden Gottes) leiten lassen, die mit Luther neu zu entdecken wäre. Dass die Theologie politisch sein müsse, gewissermaßen nicht die Wahl habe, es zu sein oder nicht zu sein, sei spätestens darin gegründet, dass mit Jesus Christus Gott in die Welt kam und sich die Nachfolger Christi damit in ein Verhältnis zu dieser Welt setzen müssten. Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) mit einer Anmerkung zu „Ökonomie (Vermarktung) und Kirchenfesten“ Die Aufregung um Luthersocke und Co. ist unnötig und scheinheilig. Unnötig weil es der Markt richtet, scheinheilig, weil die Kritiker in der Regel in durch Staat und Gesellschaft gesicherten Existenzen leben. Die Aufmerksamkeitsökonomie ist seitens der Kirche oft noch nicht in allen Details bedacht worden. Ein Gegenbeispiel allerdings ist die Vermarktung des Kirchentags in Berlin und Wittenberg. Will man mit den Massenmedien größere Reichweiten erzielen, muss man deren Regeln folgen. Man muss nicht mitspielen, aber wenn, muss man nehmen, was ausgeteilt wird. Zum politischen Auftrag der Kirche Prof. A. Lexutt (Gießen) wurde die Frage gestellt, ob die verschwindend geringe Bedeutung von Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung nicht von
vornherein dagegenspreche, einen öffentlichen Auftrag der Kirche überhaupt anzustreben. Es ist eine Differenzierung zwischen römisch-katholischer Repräsentanz in den Medien und solcher evangelischer Amtsträger und Amtsträgerinnen festzustellen. Dies liege an der Universalität der römisch-katholischen Kirche, die den Äußerungen und Handlungen des römischen Bischofs einen entschiedenen Vorteil und größere Aufmerksamkeit garantiere. Das Interesse von Angehörigen anderer kirchlicher Gemeinschaften (es wird das Beispiel der autokephalen georgisch-orthodoxen Kirche benannt), ihre Kirche möge sich politisch aktiv engagieren, zeige wie dringend ein öffentliches „Zeugnis“ der Kirche gerade in den Gesellschaften ist, die lange unter Unterdrückung und fehlender Autonomie gelitten haben. Letztlich gelingen könne aber die Wahrnehmung eines solchen Auftrags nur durch das Engagement Einzelner, wofür zahlreiche bundesdeutsche Politiker und Politikerinnen ein Beispiel lieferten, die parteipolitisch agierten und sich dort bewusst mit ihrem christlichen Gewissen einbrächten. Prof. W. Patzelt (Dresden) hatte zu der gelegentlich auftauchenden Behauptung von einer „Komfortzone“ zwischen Kirche und Staat angemerkt: Sicher müsse man hierbei stärker differenzieren. Die Rede war aber von den Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, wo zumal protestantische Kirchenführer immer wieder herausgehobene politische Positionen erreichen – was ohne die Pflege eines recht konsensuellen Näheverhältnisses schwerlich gelänge. Kirche und deutsch-deutsche Teilung Prof. A. Lexutt (Gießen) merkte zu der Nachfrage, ob die Westkirche in der Zeit der deutsch-deutschen Teilung möglicherweise zu wenig politisch gewesen sei an, dass die Kirche in Westdeutschland beispielsweise anlässlich der Wiederbewaffnung und der atomaren Rüstung schon früh sehr deutlich Position bezogen hat – und zwar alles andere als eine konservative –, durch die Ostdenkschrift politisch sogar wegweisend geworden ist und etwa in Fragen der Sexualethik klare und zeitgemäße Orientierung gegeben hat. Bei der Frauenordination indes und auch im Blick auf die intrakonfessionelle Ökumene (Leuenberger Konkordie 1973) habe sie ein überraschend unbewegliches und langsames Vorwärtsdenken an den Tag gelegt. Auch im Blick auf die europäische Einigung war sie lange zurückhaltend, um die Brüder und Schwestern in Ostdeutschland nicht zu isolieren und in Schwie-
377 rigkeiten zu bringen. Es zeige sich, wie schwierig es insgesamt ist, den schmalen Grat zwischen Tradition und Innovation zu gehen. Hier habe es die römisch-katholische Kirche deutlich leichter, weil sie ein anderes Verhältnis zur Tradition habe, die sie auf einer Ebene mit der Autorität der Heiligen Schrift sieht. Das von Prof. Kroll definierte „konservative“ Element (siehe Vortrag von F.L. Kroll, in diesem Buch) sei im Protestantismus klar erkennbar im Freiheitsbegriff sowie im sozialen Auftrag. Die „Nation“ sei trotz vieler gegenläufiger Momente in der Kirchengeschichte kein Wert für den Protestantismus, weil Gottes Reich universal gedacht sei. Im 19. Jahrhundert – etwa bei einer Gestalt wie Johann Hinrich Wichern – seien alle drei Momente zusammen gekommen.
Zur „Entweltlichung“ der Kirche
Prof. W. Krötke (Berlin) äußerte sich (nach Anfrage), ob Personen, die 1989 am gesellschaftlichen Umbruch beteiligt waren, noch weiter in der Politik eine Rolle gespielt haben. Viele, die sich 1989 politisch engagiert haben, sind in ihren Beruf zurück gekehrt. Andere haben Karriere gemacht. Angela Merkel und Joachim Gauck sind da das beste Beispiel. Aber auch aus meinem persönlichen Umfeld in der Kirchlichen Hochschule von Ostberlin (“Sprachenkonvikt”) waren und sind viele in der Politik aktiv. Der viel zu früh verstorbene Kollege Wolfgang Ullmann war Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow. Markus Meckel war Außenminister der ersten frei gewählten DDR-Regierung; Richard Schröder Fraktionsvorsitzender der SPD. Stephan Steinlein ist gerade Chef des Bundespräsidialamtes geworden, nachdem ein anderer Konviktualer – David Gill – aus diesem Amt ausgeschieden ist. Thomas Krüger ist seit Jahren Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Ich könnte noch viele nennen, deren Stimme bis heute in der Politik gewichtig ist.
Würde denn tatsächlich eine „Entweltlichung“ gewünscht? Ob man diese wünscht ist nebensächlich, insofern sie aufgrund realer Entwicklungen ohnehin kommen wird. Verstandesgeleitet sollte man sich dann auch bereitwillig auf sie einlassen. Das Gefühl kann einem aber auch anderes sagen – etwa: dass es schon traurig ist, wenn die Schönheit der europäischen Form des Christentums (Kirchenbauten, Kirchenmusik, Liturgie …) schwindet. Doch zumal der Katholizismus mit Liturgien vor Barockkulissen zu sehr mit einer versinkenden Lebenswelt verbunden ist, als dass man sich weigern dürfte, diese Ausprägungsform des Christentums loszulassen – wenngleich schweren Herzens. Doch die Kirche wandelte sich nun einmal bei ihrem Gang durch die so unterschiedlichen Zeiten, und das Wesentliche an ihr ist nun einmal nicht ihre je konkrete historisch-kulturelle Gestalt.
Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) Die Behandlung der Geschichte der DDR krankt nach wie vor an einer zu geringen Differenzierung in den Urteilen. Die DDR war kein monolithischer Block, das wäre ihre eigene Binnensicht und wie alle ihre Propaganda gelogen. Vielmehr muss räumlich (Berlin, Großstadt, Kleinstadt, Dorf) und zeitlich (50er, 60er, 70er, 80er Jahre) unterschieden werden. So wird man die Bedeutung der Existenz der staatlich alimentierten theologischen Fakultäten nicht gering schätzen dürfen. Das Lutherjubiläum von 1983 kann zurecht als Anfang vom Ende der DDR verstanden werden. Eine soziologisch offene Frage ist, ob das kirchliche Personal, zumal in leitenden Stellungen, eine gewisse Affinität zu sozialdemokratisch/sozialistischen Positionen besaß. Der Ost-Ableger der SPD wurde, mit einer Ausnahme, von Pfarrern gegründet.
Prof. W. Patzelt (Dresden) äußerte sich zu dem Hinweis, ob es nicht an der Zeit sei, das überkommene Staat/Kirche-Verhältnis in Frage zu stellen. Ja gewiss, zumal die – historisch kontingenten – „para-staatlichen“ Kirchenstrukturen ohnehin mehr und mehr fassadenartig werden. Es wird ohnehin zum weiteren Schrumpfen der Kirchen kommen, im Zusammenhang damit wohl auch zur – etwa von Benedikt XVI. angeratenen – „Entweltlichung“ der Kirche. Das wird den Raum öffnen für neue geistliche Bewegungen sowie für eine Rückkehr zu jenen vereinsartigen Strukturen, welche die frühe Christenheit kennzeichneten und denen man im protestantischen Bereich ohnehin näher ist als im katholischen.
Prof. W. Patzelt (Dresden) erhielt zwei weitere Fragen: Ist die Rede von „dem“ Christentum nicht zu undifferenziert? Ja, ebenso wie die Rede von „dem“ Islam. Doch wenn es auf engem Raum sehr Komplexes in den Grundzügen seiner Zusammenhänge darzustellen gilt, muss man eben vergröbern. Wichtig ist dann nur, dass die hervorgehobenen Züge des Gesamtbildes stimmen. Ist die Parallelstellung von Moses, Jesus und Mohammed wirklich angebracht? Sofern nur auf die Persönlichkeiten der drei sowie auf den Umgang mit jenen Texten geblickt wird, die religionsstifterisch mit ihnen in Verbindung stehen, ist das ein völlig treffender Einwand. Doch gleich ist jeweils, dass von ihnen die Gemeinschaft der Glaubenden, der Bund der Regierten mit Gott – und nicht mit ihrer Regierung – als für Menschen wesentlich vor Augen gestellt wurde. Das aber verändert das Verhältnis von Religion und Politik aufs
378 gründlichste, zumal im Vergleich zu den Kulturen Sumers und Ägyptens. Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) ergänzte einige Aussagen von W. Patzelt wie folgt: Man kann die Sonderrolle Europas in Fragen der Religiosität gar nicht krass genug herausstreichen. Das gilt nicht für das orthodoxe Europa. Von Griechenland bis Russland ist die Religion allgegenwärtig, öffentlich wie privat. Gebildete Vertreter des Islams kennen Luther in folgenden Zusammenhängen: Er hat sich für den Erstdruck des Korans (Basel 1539 lateinisch) eingesetzt. Seine Abschaffung der Bilder und des Heiligenkults ähnelt den Reformen des Wahabitentums. Er war ein glühender Antisemit. Gleichzeitig lag seine Tragik darin, dass er nicht dem reinen Islam der arabischen Welt begegnet ist, sondern zeitbedingt dem degenerierten der Türken. Gerade gebildete arabische Muslime sind der Überzeugung, dass die Übernahme der Macht durch die Muslime in Europa nur eine Frage der Zeit in näherer Zukunft sei. Begründet wird dies mit der höheren Geburtenrate und der Degeneration der Europäer, die sich in Religionslosigkeit und sexueller Perversion verlieren. Dies alles sind meine (M. Treu) Erkenntnisse aus Gesprächen über Jahre hinweg in Wittenberg.
Dr. M. Treu (Lutherstadt Wittenberg) zum Schicksalsjahr 1525 1525 ist ein Schicksalsjahr in Luthers Reformation. Luther verliert die Bauern als Anhänger, wobei unklar bleibt, wie weit sie ursprünglich seine Anhänger waren oder ob es sich um ein produktives Missverständnis handelte. Ein indirektes Ergebnis der Reformation besteht darin, dass nach dem Abklingen der Gewaltexzesse der Fürsten, die Bauern zunehmend den Rechtsweg beschreiten und Konflikte vor das Reichskammergericht bringen. Die Gründung des Kirchenbundes in der Weimarer Republik geschah so: Aus dem Lutherhaus wurde der Tisch aus der Lutherstube geholt und in der Schlosskirche neben dem Grab Luthers aufgestellt. Darauf wurde die Gründungsurkunde unterzeichnet. Die Zeremonie verstand sich als Entgegenkommen der borussisch-unierten Mehrheit der Kirchen gegenüber den konfessionellen Lutheranern. Abgesehen von dem barbarischen Verstoß des Denkmalschutzes wird der Gegensatz zwischen unierten und lutherischen Kirchen heute kaum mehr verstanden, bot aber nach 1918 immer noch Anlass zu Konflikten. In den Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass die Rede von der Ecclesia Semper reformanda nichts mit Luther zu tun hat, sondern aus dem Kalvinismus des frühen 20. Jahrhunderts stammt.
379 Uwe Niedersen
Glaubensfragen und Wissensfragen. Zur Koordination nichtkompatibler Bereiche 1. Zueinander nichtkompatible Bereiche, ihr Begegnen und Zusammenbinden. Allgemeine Bemerkungen Der Träger des hier vorliegenden Buches „Reformation in Kirche und Staat“ ist der Förderverein Europa Begegnungen e.V. in Torgau. Laut Satzung beschäftigt er sich mit „Begegnungen in der Geschichte“. Was begegnet sich in der Geschichte? Man wird antworten wollen, dass es stets Menschen sind, die sich begegnen. Genauer gesagt ist das sich Begegnende das Denken im Menschen und seine sprachliche Entäußerung. Die Sprache ist das vom Menschen Erdachte. Das Erdachte erhält mittels festgelegter und vereinbarter Begriffe Form und Inhalt. Bezeichnen die Begriffe grundsätzlich unterschiedliche Gegenstände, so, wie es sich beispielsweise bei den Bereichen Kirche und Staat, Religion und Politik oder eben auch bei Glaube und Wissen handelt, dann sind sie nicht vergleichbar (nichtkompatibel); obgleich sie zueinander in Beziehung stehen und sich begegnen. Bei allen zueinander nichtkompatiblen Bereichen tritt bei derem Begegnen stets das Problem der Koordination auf.1 Wie kann es gelingen, Nichtkompatibles zu koordinieren, d.h. mit dem Begegnen in eine Zusammenbindung zu bringen? Der folgende Aufsatz wird sich mit der Beantwortung dieser Frage beschäftigen. Aber, noch etwas! Dass der Mensch überhaupt eine solche, auf den ersten Blick doch eher eine etwas sperrige Angelegenheit fortlaufend bewältigt, stellt eine Art Ur-Tätigkeit der Menschheit dar: Menschen sind bestrebt und zwar in immer wieder neuen Ansätzen und auf der Grundlage ihrer jeweiligen Gegenständlichkeit (ihrer Konservation-Struktur), das ganz Andere, möglichst das Bessere in den Vorblick zu nehmen. Besseres kann durch Kritik im selbigen Bereich und durch die Koordination von an sich unvergleichbaren Bereichen erreicht werden. Wenn Begegnendes keinerlei vergleichbare, koordinierbare Seiten besitzt, es also zueinander prinzipiell nichtkompatibel ist, dann kommen Zusammenbindungen gar nicht zu Stande. Sie bleiben ergebnislos. Verschiedene Interessenten oder Interessengruppen können sich so fremd und teilnahmslos, unversöhnlich gegenüberstehen, dass einem logischen oder vernünftigen Vermitteln kein Erfolg beschieden sein wird. Begegnendes wiederum, das sich in jeder Hinsicht gleicht, wird sich lediglich addieren und der Quantität des Ganzen Zunahme leisten.
Von Interesse sind schließlich Begegnungen, und die sollen hier besprochen werden, bei denen zwischen den Begegnenden das Problem ihrer Koordination auftritt. Solche Bereiche sind dadurch gekennzeichnet, dass sie jeweils ihren eigenen, spezifischen Gegenstand besitzen. Ihre Innerung, ihr spezieller Code (oder wie das Wesentliche auch benannt werden soll) sind somit unterschiedlich definiert. Sie sind als zueinander nichtkompatible Bereiche oder in der Bewegung als „desperate“ Linien zu betrachten. Dennoch können Begegnende mit verschieden definierten Inhalten einen Bezug zueinander finden, wie das etwa bei „Kirche“ und „Staat“, bei „Glaube“ und „Wissen“ und bei weiteren, ähnlichen Begriffsgruppen möglich ist. Begegnungen von solchen Bereichen können sich in Form eines Zusammenbindens (Verschleifens) vorgestellt werden. Dabei entstehen einerseits neue Qualitäten. Mitunter sind das sogar Verbesserungen, die andererseits die unterschiedliche Gegenständlichkeit beider Bereiche gestärkt hervortreten lassen können. Mit anderen Worten, die jeweilige (verschiedene) Kennzeichnung, etwa die von „Kirche“ und „Staat“, bleibt trotz der Koordination erhalten. Die durch die Zusammenbindung auftretenden Neuerungen entwickeln mitunter Tochter-Bereiche, die wiederum Eigenständigkeit anzeigen. (Die Prozessstrukturen solcher Verschleifungen und Zusammenbindungen werden folgend kapitelweise behandelt, um dann letztendlich wesentliche Inhalte der zueinander nichtkompatiblen Bereiche in eine dynamisch-bildliche Veranschaulichung zu bringen.) Eine Frage tut sich hier auf: Wie müssen die Verhältnisse und Situationen zwischen nichtkompatiblen Bereichen wie „Kirche“ und „Staat“ geordnet und beschaffen sein, damit zwischen ihnen Begegnungen und Zusammenbindungen vonstatten gehen? Tatsächlich ist die Koordination von Konträrem nur unter bestimmten Bedingungen möglich. Situationen, in welchen sich Nichtkompatibles begegnen kann, schließlich Zusammenbindung erfolgt und neue Qualitäten, bei gleichzeitigem Erhalt des Konservativen, zu verzeichnen sind, müssen sensitiv sein. Sensitiv sein heißt, Veränderungen gegenüber affin sein und durch (mitunter kleinsten) äußeren Impulsen auslösend zu reagieren im Stande sein. Eine sensitive Situation liegt in einem Bereich vor, wenn es in ihm fortlaufend Spannungsverhältnisse durch ein entstehendes und bestehendes Konfliktpotenzial gibt.
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Abb.1: Der Croy-Teppich; Auftraggeber Herzog Philipp I. von Pommern-Wolgast, um 1554 hergestellt. Den neuen, informativeren Zustand, den ein Croy-Teppich Betrachter einnehmen kann, beruht auf die Vermittlung der personell verschiedenen Bildbereiche durch den Künstler (Peter Heymann). Eine bildliche Zusammenbindung erfahren sächsische Kurfürsten und pommersche Herzöge (nebst deren Familienangehörigen) mit Martin Luther (erhöht, wie der Gekreuzigte) sowie Philipp Melanchthon (links, bei den Ernestinern) und Johannes Bugenhagen (auf der pommerschen Seite). Der Croy-Teppich ist ein Bekenntnisbild der weltlich Mächtigen zur Neuen Kirche und der Reformatoren gegenüber ihrer Obrigkeit. Die Vertreter von Staat und Kirche sind es, die als Konfessionalisierer dem dabei erwachsenen Ganzen Bestand geben wollen. (Quelle: Pommersches Landesmuseum Greifswald)
Das Begegnen und Zusammenbinden zum ganz Anderen (unter Beibehalten des Eigenen und seiner Tradition) geschieht stets über Vermittler. Vermittler, das sind Menschen mit besonderen Ideen, mit überzeugenden Denkinhalten und anschaulichen Erzählungen. Durch ihre Information in Wort und Schrift oder über die Anschaulichkeit von Bildern verhelfen sie Anderen, etwa dem Bildbetrachter, in einen neuen Zustand zu gelangen (Abb. 1). Berühmte Vermittler waren somit die Reformatoren und kurfürstlichen Räte oder im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Geburt von Gottes Sohn oder der Frohen Botschaft Propheten wie Jesaia aber auch Johannes der Täufer mit seinen aufklärenden Predigten. Um mehr Anschaulichkeit und Verständnis für die bisher genannten tragenden Begriffe im Zusammenhang mit dem Koordinationsproblem zu erreichen, werden wir nun folgend am Beispiel der beiden Zentren der Lutherischen Reformation (Wittenberg das geistige und Torgau das politische) mit
der Gegenüberstellung und Zusammenbindung der Bereiche „Kirche“ und „Staat“ die Erläuterungen fortsetzen. Zur Erweiterung und zugleich zur Präzisierung verschiedener Seiten des Koordinationsproblems wird anschließend aus dem Alten und dem Neuen Testament das „Gesetz und Gnade“-Beispiel herangezogen. Da die Erzählung „Gesetz und Gnade“ in Form von (u.a.) Holzschnitten und Cranach-Bildern vorliegt, lässt sich das Zusammenbinden der beiden Bereiche anschaulich nachzeichnen. Übrigens, die Zusammenbindung von „Gesetz und Gnade“ wird sich deutlich von dem Typus „Kirche“ und „Staat“ unterscheiden. Das sei bereits hier mitgeteilt. Denn, beim Lösen des Koordinationsproblems zwischen „Gesetz“ und „Gnade“ ist von einer inhaltlich innerkirchlichen Angelegenheit auszugehen. Der hierbei ablaufende Prozess, d.h. die machtvollen Gegensätze sind als Abfolge, also in einem Nacheinander zu betrachten. Der Staat und der kurfürstliche Herrscher spielen in diesem „Stück“ keine Rolle.
381 Folgend, bei „Kirche“ und „Staat“ ist das anders. Die Koordination erfolgt hierbei in Form eines nebeneinander stehenden Miteinanders. Also, zuerst „Kirche“ und „Staat“ und dann „Gesetz“ und „Gnade“. 2. Kirche und Staat. Wittenberg ist das geistige und Torgau das politische Zentrum der Lutherischen Reformation Weil das damalige 16. Jahrhundert sich in seinen reformatorischen Bestrebungen besonders interessengeladen zeigte und zuhauf existenzsichernde bzw. Vorteile verschaffende Situationen zu schaffen waren, kooperierten „Kirche“ und „Staat“ so einvernehmlich miteinander, dass dem ein neues, ein die Bereiche „Kirche“ und „Staat“ verschleifendes und dabei gestärkt hervorgehendes konfessionsstaatliches Gebilde entwuchs. Dieses besondere Zusammenwirken von Kirche und Staat wird mit dem Begriff „Konfessionalisierung“2 bezeichnet, (siehe hierfür nochmals die Anschaulichkeit des Croy-Teppichs, Abb. 1). Der Staat wollte „Konfessionsstaat“ und die Kirche „ Konfessionskirche“ sein. „Konfessionalisierung“ bedeutet, dass bei der Durchsetzung und Verbreitung der (neuen) lutherischen Glaubensrichtung Kirche und Staat durch Bildung, Erziehung, Verwaltung und Staatsführung nicht nur gleichsam beteiligt waren, sondern die genannten Tätigkeitsbereiche von beiden in einer Zusammenbindung gesucht und geplant „bewirtschaftet“ wurden. Konfessionalisierung wurde zur gemeinsamen „Geschäftsgrundlage“ der neuen Kirche und des an Existenzerhaltung und Machtzuwachs interessierten kurfürstlichen Staates. Lutherische Reformation war eine Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat, welche im Wesentlichen in Wittenberg, dem geistigen und in Torgau, dem politischen Zentrum verortet war. Mit der Aussage, dass es ein „geistiges“ und ein „politisches“ Zentrum der Reformation gab, stellen wir Wittenberg und Torgau nicht ausschließlich nebeneinander oder gar entgegen. Wir entzweien damit auch nicht grundsätzlich solche zusammengehörenden Systeme wie „Kirche“ und „Staat“, „Glaube“ und „Macht“ oder „Religion“ und „Politik“. Es gab keine prinzipielle Trennung beider Bereiche (Regimente), keine durchgängige „Zwei-Regimente-Lehre“. Vielmehr synthetisierte sich die Wittenberger Reformation und das diesen Prozess unterstützende Torgauer politische und konfessionsbildende Zentrum zum lutherischen Konfessionsstaat kursächsischer Prägung. Melanchthon nannte die beiden Städte „Schwestern“; im preußischen Torgau kam im 19. Jahrhundert dafür das „Mutter-Amme-Bild“ auf. Letzteres bezeichnet allerdings ein wertendes Nacheinander: Zuerst Wittenberg als die Mutter, dann Torgau, die Amme.
Es ist längst wissenschaftlich belegt, dass in Torgau, hier in seinem Residenzschloss, der politische, konfessionsbildende Mittelpunkt der Lutherischen Reformation zu sehen ist. Vor allem von Torgau aus erfolgte die fortlaufende Berührung zwischen Glaube und Macht. Wie wollen wir vorgehen, um über die Bereiche „Kirche und Staat“ und deren Zusammenbindung erzählen zu können? Zuerst einmal wollen wir unterscheiden, d.h. die unterschiedliche Wesenheit bei „Kirche“ und „Staat“ aufzeigen, um dann anschließend zu überlegen, wie eine Zusammenbindung beider Bereiche erfolgen kann. Der Blick auf „Reformation und Torgau“ im 16. Jahrhundert lenkt auf das Verhältnis zwischen der neuen Kirche und dem damaligen sächsisch-kurfürstlichen Staat oder (mit anderen Worten) auf Glaube und Macht, organisiert und ausgeführt als Religion und Politik.3 Beide Bereiche, „Kirche“ und „Staat“, sind von ihrem inneren Wesen her nicht besonders übereinstimmend. Sie sind nichtkompatibel. Kurz gesagt: Mit Kirche kann kein Staat organisiert und regiert werden und der Staat kann die Sache und das Wesen von Kirche nicht ersetzen und, was sein Programm betrifft, schon gar nicht hinreichend ausfüllen. Welche verschiedenen Bestimmungen sind es, die „Staat“ und „Kirche“ für sich unverwechselbar machen? Der „Staat“ wird in seiner Alltäglichkeit nach Kriterien der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit regiert. Die Regierenden haben der Leute Eigentum zu mehren und Schaden von der Bürgerschaft abzuwenden. Gesetz und Ordnung sind zu garantieren, Zumutbarkeit muss bedacht sein. Das ist des Staates Wesensbestimmung. Daraus entwickelt sich sein Programm. Bei Luthers Kirche geht es hingegen um die Gnade Gottes, die grundsätzlich gilt. Der Mensch schafft sich nicht den gnädigen Gott durch einen (wie auch immer) erarbeiteten, abgeleisteten und ausgeschmückten Glauben. Sondern, wenn der Mensch glaubt (an den Kreuzestod von Jesus Christus), eröffnet er sich den Erfahrungsraum, was Gnade für ihn bedeutet. Auch das ist eine Wesensbestimmung, aus welcher Botschaft und Programm wurden. Es ist die Frohe Botschaft, das Evangelium und zugleich das Programm der neuen christlichen Freiheit. Bei allem Getrenntsein gibt es die Existenz von „Kirche“ und „Staat“ vor allem als Zusammenbindung, etwa in Form des Konfessionsstaates. Das Wechselwirken, das Kooperieren oder wie auch immer die einenden Prozesse zwischen den Bereichen „Kirche“ und „Staat“ in der Realwelt benannt werden, stets benötigen sie Vermittler, um
382 die unterschiedlichen, vom Gegenstand her so gar nicht zueinander passenden Inhalte und Programme zu verschleifen. Die Vermittler während der Reformationszeit, wie oben gesagt, waren einerseits die Kurfürsten und ihre Räte sowie andererseits Luther und die Reformatoren mit ihren Bekenntnissen und Worten. Neben dem Croy-Teppich (Abb. 1) gibt es eine weitere einprägsame Veranschaulichung eines gemeinsamen Wirkens der damaligen Großen Männer in Glaube und Macht. Es ist ein Gemälde von Lucas Cranach (Abb. 2), welches geistliche und weltliche Große Männer, die Vermittler und Konfessionalisierer vereint abbildet.
Abb. 2: Vermittler und Konfessionalisierer. Der ernestinische Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige (1503–1554) im Vordergrund mit (v.l.n.r.) Martin Luther (1483–1546), Magister Georg Spalatin (1484–1545), Kanzler Gregor Brück (1484–1557) und Philipp Melanchthon (1497–1560); dahinter (r. außen) die Reformatoren Johannes Bugenhagen (1485– 1558) und (r. darüber) Justus Jonas (1493–1555); evtl. über G. Brück (l.) der Drucker Johannes Lufft (1495–1584). (Lucas Cranach d.J., um 1543) (Repro, Archiv Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
Folgend benennen wir einige (längst nicht alle) Maßnahmen der Reformatoren um Luther und Anordnungen der damaligen Landesherrlichkeit, deren Sitz im Residenzschloss in Torgau war, welche dem Aufbau und Erhalt des neuen Konfessionsstaates und der sich ausbildenden Konfessionskirche dienlich waren. Wir zählen einfach auf, was da von Torgau, dem politischen Zentrum der Reformation ausging, um beim Leser eine Anschaulichkeit für Verschleifungen zu erzeugen: − Angeordnet und organisiert wurde etwa die Errichtung einer evangelischen Landeskirche und eines evangelischen Schulwesens; neue Schulordnungen wurden eingeführt. 1527–1529 nimmt die erste Kirchenordnung der Lutherischen Reformation von Torgau aus ihren Ausgang und zwar unter der Regentschaft des Kurfürsten Johann I. (der Beständige), u.a. Gottesdienst in deutscher Sprache und Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche wurde 1527 gegründet, deren erster Landesbischof war Kurfürst Johann der Beständige. − Abgefasst wurden Texte, die das neue Glaubensbekenntnis in Wort und Schrift darlegten; zu nennen sind die Torgauer Artikel, die in das Augsburger Bekenntnis eingingen. − Maler, Kirchenmusiker, Bildhauer sorgten dafür, dass durch Wiederholung von Bild- und Reliefprogrammen, auch durch Wiederholung von Melodien und Gesang (Johann Walter) eine Verinnerlichung des Evangeliums erfolgte. − Kontrollen in Form von Kirchen- und Schulvisitationen gingen beinahe alle von Torgau aus. Die vom Kurfürsten genehmigten Visitationsinstruktionen wurden in das Land getragen. 1527 wurde Melanchthons Unterricht für Visitatoren durch 18 Artikel festgemacht. Diese sind als „Torgauer Visitationsartikel“ bekannt geworden. Beurteilt wurden Theologen, Pfarrer, Lehrer, Ärzte, Hebammen und auch herrschaftliche Räte. − Es erfolgte eine Neuordnung der kirchlichen Finanzen: Armenfürsorge; Abschaffen des Bettelns und der Kontrolle des Bestandes der Mitglieder der Kirche; Aufnahme der Anzahl der Taufen sowie Eheschließungen und Bestattungen. Bereits 1538, unter Kurfürst Johann Friedrich I. (der Großmütige), wurde im Zuge der umfassenden Umbauten innerhalb des Residenzschlosses in Torgau die „Neue Kurfürstliche Kanzlei“ als ein repräsentatives Gebäude für die kurfürstlichen Amtsgeschäfte außerhalb des Schlosskomplexes erbaut; auch als das „Neue Kurfürstlich-Sächsische Amt“ bekannt geworden. Wenn auch in Wittenberg, etwa durch Hans Lufft, die Luther-Bibel gedruckt wurde, so kam doch vom politischen und konfessionsbildenden Zentrum Torgau aus die Erlaubnis, d.h. das kurfürstliche Privileg für den Bibeldruck: „Was Wittenberg edieret, hat Torgau zuvor privilegieret.“ (Abb. 3).
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Abb. 3: Titelblatt der Wittenberger Ausgabe des neuen Testaments in Luthers Übersetzung von 1546, kurz „Luther-Bibel“ genannt. Torgau gab das Vorrecht (das Privileg) für den Druck, der in Wittenberg erfolgte. Kurfürst Joh. Friedrich I. und Martin Luther knien gemeinsam unter dem Kreuz. Eine Hervorhebung des Kurfürsten, wie noch im Bild 2, war unterblieben. (Repro, Archiv Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
− Vis a Vis zur Torgauer Stadtkirche St. Marien, unweit der „Neuen Kurfürstlichen Kanzlei“, wurden verwaltungsinhaltliche und -organisatorische Aufgaben der Kirche in der neuen und ersten Superintendentur ausgeführt. Das war bereits ein kirchliches Amt. − Torgauer Landtage wurden abgehalten, ab 1550 (Kurfürst Moritz) und dann fortlaufend. Das waren Ständeversammlungen des Landes mit Beratungen, die die Abwehr des Calvinismus zum Ziel hatten. Bei der Gelegenheit wurden auch Anordnungen zu noch ausgedehnteren Visitationen ausgegeben. 3. Die „Gesetz-Gnade“-Prozessstruktur Folgend wird ein weiterer Fall von nichtkompatiblen Bereichen und deren Zusammenbindung behandelt. Mitgeteilt werden soll, wie die gegenständlich verschiedenen Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“ definiert sind, und wie sie, gründend auf dem Alten und auf dem Neuen Testament, in Beziehung stehen. Aufzuzeigen ist, inwiefern beide Bereiche, trotz unterschiedlichen Wesens, dennoch eine fortschreitende Zusammenbindung erfahren.
Gott reichte die Gebotstafeln Moses, um in das Sein von Menschen (von Geschöpfen) ein System oder eine Ordnung zu installieren. Gottes Gebote waren „Gesetz“. So steht es im Alten Testament geschrieben. Der aus dem Paradies verwiesene Mensch hatte diesem Gesetz zu genügen bzw. die Gebote zu erfüllen. Das allerdings war ein schwieriges Unterfangen, denn das reale Leben zeigte sich vielfältig, war reichlich ausgestattet mit Tücken, die zu Verfehlungen führten. Die Alltäglichkeit erbrachte abseitige Gelegenheiten. Es zeigte sich als ganz unmöglich, die konzentriert formulierten und in ihrer Strenge keinen Spielraum lassenden Gebote in der menschlichen Realwelt zu erfüllen. Die wiederkehrenden Verstöße gegen das „Gesetz“ ließen das Sündenkonto des Einzelnen anwachsen. Der Mensch lebte schon mit dem Gefühl, einen zornigen Gott hervorzurufen. Das hatte zur Konsequenz, dass der sündige Mensch im Sterben keinerlei Heilsgewissheit, d.h. keine Gewissheit besaß, ein ewiges Leben zu erhalten. Der Unglückliche trug bereits zu Lebzeiten Trauer, Angst, Furcht, Schrecken, Leid, Trübsal u.a. mit sich herum. Das war eine Situation voller belastender Schuld und schwerer Qual. Das „Gesetz“ des Alten Testaments sieht zum einen den Sünder und zum anderen den zornigen Gott. In einer solchen ausweglosen Situation entfremdete sich der Mensch von Gott und das Böse war ihm stets gegenwärtig. Martin Luther, der die Bibeltexte (Gottes Wort) studierte und Schriftenausleger war, fand in der Heiligen Schrift aber vor allem einen gnädigen Gott vermerkt. Schon im Alten Testament wurde dem Menschen angekündigt, dass er aus der zerknirschenden Situation des Sollens von Geboten, die in Gänze unerfüllbar waren, heraustreten und in einem neuen Zustand Verheißung finden könne. Was „Gnade“, das wäre der neue Zustand, dabei bedeutet, soll folgend dargelegt werden. In einem weiteren Schritt ist dann mitzuteilen, dass „Gesetz“ und „Gnade“, zwei zueinander nichtkompatible Bereiche, dennoch zusammenbindbar sind. Wie ist das mit der Gnade Gottes, welche einen grundsätzlichen Bestand hat? Der an das Kreuz geschlagene und den Kreuzestod erlittene Sohn Gottes, der ist es, der die Gesetzes(bzw. Gebote-) Überschreitungen der sündhaften Menschen mit dem selbst erfahrenen Martyrium abgilt. Der nach dem irdischen Tod auferstandene Jesus ist die Heilsgewissheit der Menschen. M.a.W., sein Triumph über den Tod ist zugleich ein solcher, welche die Heilsgewissheit der Menschen in Aussicht stellt. Er gibt ihnen Vertrauen in Gott. Jesus Christus vermittelt den Menschen den Weg zu Gott. In dem Sinne nimmt er eine Vermittlung vor. Der Menschen Glaube an Jesus Christus ist die prinzipielle Voraussetzung, göttliche Gnade zu empfangen.
384 Das Gesetz (die Gebote), welche Gott über Moses den Menschen reichen ließ, war bereits ein Angebot den Menschen gegenüber. Das Neue Testament mit der Frohen Botschaft, die die Heilsgewissheit für den Menschen enthält, war das erneute Angebot Gottes. Der gerechtfertigte Mensch geht somit aus beiden Angeboten Gottes hervor. Jedes der beiden Angebote, das eine als „Gesetz“ (Gebotstafeln) und das andere in Form der grundsätzlich geltenden „Gnade“ hat allerdings seine eigene Wesenheit. Die Annahme der beiden Angebote durch den Menschen erfolgt über das Zusammenbinden der nacheinander auftretenden, doch zueinander nichtkompatiblen Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“. Der Mensch ist ein vor Gott dann Gerechtfertigter, wenn er dem „Gesetz“ genügen will, wenn er sich also um die Einhaltung der Gebote bemüht. Trotz seiner Bemühungen werden sich Sünden nicht gänzlich vermeiden lassen. Die Frohe Botschaft, das Evangelium sagt dem Menschen, dass seine unvermeidbaren Verfehlungen durch Jesus abgegolten worden sind. Für Luther und die Reformatoren bestand in der damaligen Zeit die Aufgabe, diesen Kernbereich evangelischer Theologie den Menschen fasslich und anschaulich darzureichen. Ohne neue Sprachinhalte, ohne darüber zu predigen, konnte es keine neue Kirche geben.
Neben dem Instrument der Predigt, der Reden und Gespräche, neben der Vielzahl der gedruckten Texte hatte Luther auch, etwa mit Hilfe der Cranachs, die Malerei bemüht, um die unterschiedlichen Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“ sowie deren Zusammenbindung begreifbar zu machen. Das Zusammenbinden von „Gesetz“ und „Gnade“ erfolgt über Personen, die auf der folgend zu besprechenden Bilddarstellung (Abb. 4) als Vermittler eine zentrale Position erhalten haben. Schon im Alten Testament wird bei Jesaia die Geburt von Gottessohn durch die Jungfrau angekündigt. Johannes der Täufer ist dann derjenige, der hinzu tritt und gegenüber dem elenden, verzweifelten Menschen auf den Heiland weist und ihn vorstellt. Die Vermittler, Jesaia und Johannes, hatte der Künstler nicht nur zentral, vielmehr auch mit der entsprechenden Gestik ausgestattet, um des niedersitzenden Menschen Blick in Richtung Christus zu lenken. Als konkretes Bild wird folgend der Erlanger Holzschnitt „Gesetz und Gnade“ besprochen. Der Holzschnitt trägt die Überschrift „Ein schöne Figur/des Alten und neuen Testaments/darin kläglich angezeigt und augenscheinlich vorgebildet wirdt/was in einem jeden/durch die Propheten und Aposteln gelehrt und gehandelt sey worden/wie in der Schrift untern deutlich verfasst und erkleret ist.“ (Abb. 4)
Abb. 4: Erlanger Holzschnitt; Quelle: Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg
385 Mehrere Autoren hatten sich ausführlich zu dem Bildthema „Gesetz“ und „Gnade“ und dem hier behandelten Gegenstand geäußert. Was den Erlanger Holzschnitt zum „Gesetz und Gnade“-Thema betrifft, verweisen wir hier auf die Beschreibung des Bildes, die bereits Johannes Erichsen vorgenommen hatte: „Das Blatt zeigt ein ‚Welttheater‘, das durch den Baum in der Bildmitte sowohl horizontal in der Bildtiefe als auch vertikal geteilt ist: Vor dem Baum liegt eine Art Vorderbühne mit drei großen Personen, dahinter ein im Ansatz spiegelsymmetrischer Landschaftsprospekt in kleinerem Maßstab. Diese Landschaft wird durch den Baum zweigeteilt. Damit entstehen die beiden Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“. Sie sind zugleich gegensätzlich gekennzeichnet: Links sind die Äste tot, rechts lebendig, links tobt ein Donnerwetter, rechts herrscht Friede. Der Betrachter erkennt sich wieder in der zentralen Figur, die der (linken) Gesetzesseite zugewandt unter dem Baum sitzt: Diese stellt den ‚Menschen ohne Gnade‘ beziehungsweise ‚Adamita‘, den Nachkommen des sündigen Adam, dar – nackt und händeringend, schutzlos und verzweifelt. Ihm zugeordnet war ein fragender Vers aus dem Römerbrief; ‚Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leib des Todes?‘ (Römer 7,24). Die Antwort kommt von den beiden Gestalten, die, wenn auch den konträren Bildhälften (Bereichen) zugehörig, synchron auf den Gnadenakt der Erlösung (rechts) hinweisen und den Menschen zum Blick in diese Richtung veranlassen. Die linke ist der Prophet Jesaia, dessen Botschaft ‚Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, dessen Name wird sein Emanuel‘ einst wohl auf der Schrifttafel stand; die rechte ist der ‚Anzeiger Christi‘, Johannes der Täufer, mit der Aussage: ‚Siehe, dies ist das Lamm Gottes. Das auf sich nimmt die Sünde der Welt‘. ….Links empfängt oben Moses auf dem Sinai das Gesetz aus den Händen Gottes, welcher sich in Gewitterwolken verbirgt. In der Mitte probieren Adam und Eva die verbotene Frucht. Unten liegt ein Toter im Sarkophag vor einer Grabeshöhle. Die einst in den Schriftbändern beigegebenen Tituli lauteten offenbar ‚Gesetz‘, ‚Sündenfall‘ und ‚Tod‘. Rechts hingegen erwartet oben auf dem Berg Zion die Jungfrau den Gottessohn Emanuel, der sein Kreuz mit sich führt. In der Mitte, dem Sündenfall gegenüber, stehen der Gekreuzigte und das Lamm Gottes, die Prophezeiung des Täufers erfüllend. Unten schließlich entsteigt der Auferstandene siegreich dem Grabe und tritt den Tod nieder. Die zugehörigen Tituli müssen gelautet haben: oben ‚Emanuel‘ und ‚Gnade‘, mittig ‚unsere Rechtfertigung‘ und ‚unsere Unschuld‘, unten ‚unser Sieg‘. Bleiben noch zu betrachten zwei Szenen in den Ebenen zu Füßen der Berge: links die Anbetung der Ehernen Schlange als ‚Figur der Rechtfertigung‘ unter der Herrschaft des Gesetzes, rechts die Verkündung
der Frohen Botschaft an die Hirten, die offenbar keiner Erklärung bedurfte.“4 Welche Botschaft sendet uns der Holzschnitt in Bezug auf die Zusammenbindung der beiden zueinander nichtkompatiblen Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“? Hier ist als Erstes zu benennen, dass jeder Bereich seine eigene Gegenständlichkeit beim Zusammenbinden beibehält. Der Erhalt der jeweils begrifflichen Verschiedenheit von Bereichen des Alten und von solchen des Neuen Testaments ist die Voraussetzung ihrer Folge und ihres Begegnens. Begegnen und Zusammenbindung erfolgen über die Sprache des Täufers, der als Vermittler beider Bereiche den besonderen Erzählinhalt für den niedergeschlagenen, verängstigten Menschen zur Verinnerlichung und zur Wirkung bringt. Nun muss auf ein ins Auge springendes Problem aufmerksam gemacht werden. Dem Text Römer 3.28 schrieb Luther beim Verkünden der Frohen Botschaft eine zentrale Rolle zu. Die Stelle lautet: „So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“. Diese wichtige Aussage könnte allerdings bedeuten, dass der Bereich „Gnade“ allein, ohne Einhaltung der Gebote, für die Heilsgewissheit des Menschen als hinreichend gesetzt werden könnte. Es ist Gottes Sohn, der stets und ausdrücklich die menschlichen Verfehlungen auf sich nimmt. Aus erkenntnisstruktureller Sicht ist eine solche Auffassung schon deshalb nicht möglich, weil damit der Verlauf und die Wirkung des Prozesses beim Zusammenbinden nichtkompatibler Bereiche (hier „Gesetz“ und „Gnade“) verletzt werden würde. Beiden Bereichen, auch in der Phase des Zusammengebundenseins, bleibt grundsätzlich die Eigenständigkeit erhalten. Eine Gesetz und Gnade-Beziehung wäre mit dem Wegfall eines Bereichs gar nicht mehr relevant. Eine Mehrgewichtigkeit oder sogar eine Ausschließlichkeit des einen Bereichs, hier (ev.) des Gnade-Bereichs, ist aufgrund des Nacheinanders der zur Verschleifung kommenden Bereiche ausgeschlossen. Tatsächlich fand in Kursachsen (Torgau), um 1527, im Zusammenhang mit den Visitationen der durchzusetzenden Neuen Kirche im entstehenden Konfessionsstaat eine polemisch-inhaltliche Debatte statt, die vor allem von Georg Agricola und Philipp Melanchthon geführt wurde. Die gegensätzlichen Ansichten beider Reformatoren gingen als „Antinomerstreit“ in die Kirchengeschichte ein. Die Antinomer (Agricola u.a.) fragten: Welche Bedeutung besitze eigentlich noch der Bereich „Gesetz“, wenn der sündhafte Mensch über die Abgeltung durch Jesus Christus schließlich doch die Gnade Gottes erfahren würde? Agricola meinte, kein Buße-Tun nach der Sünde mehr in den Blick zu nehmen oder in den Predig-
386 ten über das „Gesetz“ (über die Gebote) nicht mehr ausführen zu müssen. Es genüge voll und ganz der Glaube, um Gottes Gnade zu erfahren. Das „Gesetz“ wäre somit kein tragender Begriff mehr und somit kein Gegenstand der Neuen Kirche. Der Bereich „Gesetz“ könne vielmehr vermittels einer juristischen Bearbeitung dem Staat und der weltlichen Regierung hin delegiert und überantwortet werden. Würden wir den Antinomern folgen, dann gäbe es, wie gesagt, gar kein Koordinationsproblem zwischen „Gesetz“ und „Gnade“. Dem Bereich „Gesetz“ wäre die Gegenständlichkeit genommen. Vielmehr ist es aber so, dass trotz der Gnade Gottes, die grundsätzlich besteht, weiter gilt, die Gebote zu beachten. Der Sünder hat sich schon und zwar auf sich rückbeziehend, mit seinem Ungemach zu beschäftigen. Luther sprach sich mehrfach gegen die Antinomer aus. Der „Antinomerstreit“ scheint nicht nur eine theoretisch-theologische Angelegenheit während der Reformationszeit gewesen zu sein. Der Streit hatte offensichtlich auch eine ganz praktische Seite in Luthers letzten Lebensjahren in Wittenberg. Hier das Vorkommnis: Luthers Anlass, sich 1545, im fortgeschrittenen Alter, in Torgau einzufinden, hatte einen überraschenden Grund. Neben dem damaligen Sakramentenstreit und Luthers Kritik gegenüber Juristen, die weiter auf das päpstliche Recht zurück greifen würden, gab es beim Reformator Verdruss über die Ehrbarkeit der Mode gewisser Frauen, weiter zeigte das Hausgesinde „übles“ Verhalten. Seiner Frau schrieb Luther, nachdem er Wittenberg aus Verdruss verlassen hatte, dass er in seinen letzten Erdentagen nichts mehr mit dem „unordentlichen Wesen zu Wittenberg“ gemein haben wolle. Offensichtlich ließen gewisse Leute „alle Fünfe gerade sein“ und das Bewusstsein, dass sie sündigten, war ihnen abhanden gekommen, denn göttliche Gnade war ihnen ja gewiss. Der Kurfürst Johann Friedrich in Torgau erschien behufs des verärgerten Luthers sogar auf dem Plan und schickte seinen Leibarzt Doktor Matthäus Ratzenberger nach Zeitz. Luther war dorthin „entflohen“, um seelische Ruhe zu finden. Luther kehrte nach seiner Gesundung über Torgau nach Wittenberg zurück, und soweit zu dieser Geschichte um Luther. Nun weiter zum Koordinationsproblem zwischen „Gesetz“ und „Gnade“. Weil die Zusammenbindung der beiden Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“ über Vermittler das ist, was die Theologie Luthers oder die der Neuen Kirche im Kern ausmacht, soll die sich dabei ausbildende Prozessstruktur erläutert werden. Fragen wir: Welche Abschnitte hat die Prozessstruktur? Der erste Abschnitt ist der Bereich „Gesetz“.
Es folgt der Bereich „Gnade“. Letzterer enthält „Jesus und Glaube“ sowie „Gott und Gnade“, d.h. die Aussagen des Evangeliums und damit der Neuen Kirche. Beide bauen sich nacheinander und dann nebeneinander bestehend auf. Da ist dann schon der dritte Abschnitt. Es ist der Bereich, in dem die Vermittlung vollzogen wird. Die Prozessstruktur lässt erkennen, dass der erste und zweite Abschnitt für sich gesehen keinen direkten Einfluss aufeinander ausüben können. Auf direktem Wege und jeweils aufeinander bezogen sind sie unvergleichbar. Es ist dann erst die Vermittlung, welche beim Begegnen der beiden nichtvergleichbaren Abschnitte (Bereiche) die Zusammenbindung vollzieht. Prophet und Prediger (Täufer) erfahren hierbei als „ausgezeichnete“ Menschen höchste Beachtung. (Über Begriffe wie das „ausgezeichnete Einzelne“ und die „singuläre Determination“ wurde an anderer Stelle umfassend ausgeführt.)5 Der „Ausgezeichnete“ hat sich als wesentliches Moment der Veranlassung bis zum heutigen Tag in der Funktion des Kirchenpredigers (von Amtswegen) erhalten. Es ist der Prediger in der Kirche, der mit den sich wiederholenden Inhalten, die Vermittlung vollzieht. Die Gemeinde nimmt das ständig wiederkehrende Wort im verlaufenden Kirchenjahr auch gar nicht übel. Die Wiederholung ist eine wesentliche Methode der Vermittlung. Das Vermitteln zweier Bereiche wurde dem Prediger zum Beruf (oder zur Berufung). Die Vermittlung erfährt durch Luthers Aussage noch eine Steigerung, wenn er sagt, dass überhaupt jeder Glaubende christlicher Prediger sei. Ein Christ solle somit schon in der Lage sein, die Frohe Botschaft Anderen zu vermitteln. Der Glaubende ist aber auch mit sich selbst oder auf sich selbst bezogen ein Prediger. In einem Akt der Rückgewendetheit zu sich selbst sollte er nicht nur über sein sündhaftes Leben nachdenken, er kann sich vielmehr selbstorganisierend eine Rüstung gegen das eigene Sündhafte geben. Das Begegnen mit dem Anderen erzeugt Anderes, mitunter Besseres, um etwa den eigenen Glauben weiter zu stärken. Hier, beim Vermitteln, ist die transzendentale (gedankliche) Freiheit des Christenmenschen verortet. Aus ihr entsteigt nicht nur theologisches Wissen (Theorie), vielmehr auch Nächstenliebe als Moment christlicher Praxis. Es existiert die Notwendigkeit, dem bedürftigen Mitmenschen gegenüber Hilfe zu geben. Vollzogene Seelsorge und Nächstenliebe sind in der Praxis Freiräume des Christenmenschen tätig zu sein. Das Bemühen um den Anderen ist für den Glaubenden außerdem ein Zugang zum Weltlichen. Wenn schließlich danach gefragt wird, ob die Bereiche „Gesetz“ und „Gnade“ in ihrer jeweiligen Gegenständlichkeit nach beider Zusammenbindung einzeln gestärkt, sprich inhaltlich informativer und äußerlich profilierter hervortreten, dann ist das zu
387 bejahen. Luther schreibt: „Aufgabe des Gesetzes sei es, Sündern ihre Schuld empfinden zu lassen und mit dem Bewusstsein ihrer Sünde zu beschweren. Die des Evangelium hingegen sei es gerecht, glücklich und beruhigt zu machen und das Gewissen zu besänftigen und aufzurichten.“ „Das Evangelium gebe, was das Gesetz verlange.“ (Zitiert nach J. Erichsen4) Man erkennt, dass nach dem Begegnenlassen von „Gesetz“ und „Gnade“ beide Bereiche mit noch deutlicherem (eben unverwechselbarem) Profil in Erscheinung treten. Weil Gnade angeboten wird, könne damit gerechnet werden, so (sinngemäß) Luther, dass der Mensch aus dem Zustand des Zusammengebundenseins beider Bereiche heraus, für ihn die Erfüllung der Gebote weniger problematisch sein würde. Folgend seien zu der genannten Problematik einige Gedanken zu Kant und Luther sowie Hegel und die Antinomer vorgenommen: Im Zusammenhang mit dem hier vorgestellten „Gesetz und Gnade“-Bild kommen wir nicht umhin, einige Bemerkungen zu Immanuel Kants Vorstellungen „Zum ewigen Frieden“ vorzunehmen. Wie wir sehen werden, zeichnet sich in Kants ethischer Sendung zum Friedensproblem, die er als Aufklärer vornimmt, in etwa die gleiche Prozessstruktur ab, die bereits bei Luther mit der „Gesetz und Gnade“-Veranschaulichung sichtbar wurde. Das Auftreten von „Aufklärung“, eine aus dem Menschen selbst erzeugte und hervortretende Denk- und Handlungsleistung, war mit eine Folge des Versagens der christlichen Religion, etwa bei der Vermeidung der kriegerischen Auseinandersetzung. Und der Dreißigjährige Krieg war damals das gewaltigste Elend, das die Menschheit im 17. Jahrhundert zu ertragen hatte. In seinem Aufsatz unter dem Titel: „Was ist Aufklärung“ vermerkte Kant folgende Kennzeichnung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“6 Der Königsberger Philosoph und Aufklärer mutete den Menschen einiges zu, vor allem Mut zur eigenen Tat zu haben und aus sich heraus aktiv zu werden. Seine diesbezügliche Devise war: „Du sollst! Also kannst Du!“.7 Um Kant in ein Verhältnis zu Luthers „Gesetz und Gnade“-Linie zu setzen, ist auf dessen Ethik zu
schauen. In der Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat Kant die wesentlichsten Gedanken einer säkularen Ethik ausgebreitet. Kant geht davon aus, dass im Menschen ein Dualismus angelegt ist: einerseits das Rohe, Eigennützige, die Gewalt, die Politik und andererseits (das oft nur in Spuren Vorhandene) Sittliche, Gemeinnützige, das Moralische und Vernünftige. Weil im Menschen die Tendenz (ein Antrieb) vorhanden ist, im Gegensatz zum nur Animalischen, das Andere, dabei eventuell das Bessere, zu erreichen, wird das, was nur spärlich angelegt ist, etwa Sitte und Vernunft, bedeutlungsvoll. Es ist ein „Antrieb“ im Menschen, welcher zum Bewirkenden wird und zwar von dem Rohen, etwa vom Krieg und von der Gewalt Abkehr zu nehmen und das Entwickeltere, das Vernünftige, etwa den Frieden und die Sittlichkeit, zu erreichen. Im Ergebnis dessen wird dann die Vernunft eine allgemeine Ausschüttung erfahren. Kant sagt, in der Natur (des Menschen) selbst ist die Möglichkeit angelegt. Damit ist so eine Art „Natur-Vorsehung“ gemeint, die man als einen Fall von Transzendenz in der Natur ansehen kann. Die genannte „Vorsehung“ sei von vornherein (a priori) der Natur zugehörig. Die Zugehörigkeit gilt dann auch über den Prozessverlauf zu erreichenden Endstand. Dieser, das prästabilierte Ziel, ist eine Situation der Dominanz von Vernunft. Das ist das Bessere, konkret der “Ewige Frieden“. Erstens, weil der o.g. Dualismus (Krieg/Frieden), weil das Potenzial (die Vorsehung), weil das Ziel (der Ewige Frieden) in der Natur sind, hat der äußere Vermittler in der Person eines Aufklärers (etwa in der des Philosophen Kant) dem Menschen mitgeteilt und gefordert: „Du sollst!“ Zweitens, weil die Vorsehung, etwa in den Segmenten Vernunft und Moral, in der Natur ist, tritt sie als Antrieb im menschlichen Tun in Erscheinung, meint der Philosoph Kant, dem Menschen seine Schlussfolgerung zuzumuten: „Also kannst Du!“. Beim „Du sollst! Also kannst Du!“ werden die nacheinander auftretenden Bereiche „das Rohe“ und dann „das Gereifte“ (als das Entwickeltere) zusammengebunden. Letztendlich sollte sich der Prozess „Frieden“, eben als das prästabilierte Ziel, verwirklicht zeigen. Wie war das bei Luther und der „Gesetz und Gnade“-Beziehung? Auch hier sind wir von einem Nacheinander, von einem Dualismus Gesetz und Gnade ausgegangen. Weil der Mensch das Andere, das Bessere, etwa die Heilsgewissheit, d.h. das den Tod Besiegende, das „Ewige Leben“ (quasi: als prästabiliertes Ziel) vor Augen hat, wird auch hier das dafür „Sittliche“ bedeutungsvoll. Das Sittliche stellt sich über das Gesetz, über die Moses durch Gott übergebenen Gesetzes- oder Gebotstafeln ein. Darauf ist das christliche Moral-Gesetz verfasst, um mit dem End-
388 zustand das Bessere zu erreichen. Der Mensch möchte nach dem Irdischen nicht im „Rohen“, nicht in der Hölle, weiteres Befinden haben. Das Abstrakte, das an Informativem angereicherte Gesetz Gottes, eignet sich aber nicht als Vermittler zu fungieren, um den von Natur aus eben auch böswilligen, triebhaften, unvernünftigen Menschen in paradiesische Zustände zu führen. Er sündigt weiter. Er wusste natürlich davon, und er bekam Angst vor der Verdammnis. Hinzu kam noch, dass die Menschen auf verschiedenen sozialen Ebenen ihr Leben vollzogen. Arm sein war in dem aufkommenden Wettstreit um die Gnade Gottes sehr nachteilig. Die Ungerechtigkeit als soziales Moment, das Unruhe schaffte, gesellte sich hinzu. Mit Jesus Christus trat das vermittelnde Moment auf. Er nahm auch die Sünden der benachteiligten Menschen mit auf; damit war die vermisste und angemahnte Gerechtigkeit einbezogen. Die Gnade Gottes war für jeden Glaubenden gegeben und das prästabilierte Ziel, das „Ewige Leben“, zumindest in der Vorstellung, erreichbar. Analog dem Vermittler Kant hätte Luther (oder bereits Johannes der Täufer) ausrufen können: „Du sollst (glauben)! Also kannst Du (Gnade, Heilsgewissheit empfangen)!“ Genau das ist die Frohe Botschaft, ist der Inhalt des Evangeliums. Kant steht von Luther nicht soweit entfernt. Das Fazit: Kant scheiterte mit dem „Zum Ewigen Frieden“ an seiner eigenen zu geringen Vermittlungs- und Erziehungskraft, welche nicht hinreichend die „NaturVorsehung“ im Tun der Menschen zu mobilisieren vermochte. Vorsehung ist das Eine, das Andere ist das dafür fortlaufende Aktivsein des Menschen. Die Vorsehung der Natur trägt einen Als Ob-Status. Das „Als Ob“ lässt sich eben nicht wie das Anschauliche beweisen. Kant konnte den Menschen nur ein „Wie-Wenn“ es die Vorsehung zum Besseren (zum Vernünftigen) in der Natur geben würde vorstellen. Man kann eine solche Quasi-Qualität nicht betrachten oder anfassen und auch nicht mechanisch beschleunigen. Das genannte „Als Ob“ ist aber auch nicht prinzipiell widerlegbar. Der Mensch, mit mehr oder weniger Mündigkeit ausgerüstet, entwickelt aus sich heraus die Umsetzung der Vorsehung in der Natur, hin zum angestrebten Friedensziel. Bis heute zeigt die Weltgeschichte aber mit jedem Zeittakt weiter Krieg und Frieden sowie Rohes und Gereiftes. Kant resümierte: „Es ist nicht mehr die Frage; ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, (Hervorhebung – U.N.) was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben, und diejenige Konstitution, die uns dazu die
tauglichste scheint (vielleicht den Republikanism aller Staaten samt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen, und dem heillosen Kriegführen, worauf, als den Hauptzweck, bisher alle Staaten, ohne Ausnahme, ihre innere Anstalten gerichtet haben, ein Ende zu machen.“8 Nun Einiges zu den Antinomern und zu Hegel: Luthers „Gesetz und Gnade“ – Linie wurde, wie im Text oben hingewiesen, durch die Antinomer (und auch durch die Wiedertäufer) unterwandert. Deren Argument war, dass Gottes abstrakte Gesetzestexte die staatliche Seite übernehmen und mit ihren Einrichtungen die Einhaltung bewerkstelligen und überprüfen sollen. Da Jesus die menschlichen Verfehlungen mit abgegolten hatte, seien Vernunft und Sittlichkeit als freie und unbeschwerte „Kräfte“ der Wirklichkeit immanent. Hegel spricht hier von dem „Einen“, von der Vernunft und der Wirklichkeit, in der Bewegung vereint. Begrifflichkeiten bei Hegel sind solche typischen Wortspiele wie die „vernünftige Wirklichkeit“ und die „verwirklichte Vernunft“. Der Kantsche Dualismus findet bei Hegel sein Ende. Das Abstrakte ist nunmehr konkret und real geworden. Die Vernunft ist in den wirklichen Sitten (in dem, wie wir leben), in den Gesetzen, im Recht eingebunden. Vernunft lebt, entfaltet und verwirklicht sich im und mit dem Staat. Der Staat oder die Macht, das ist das Recht! (Was man (der Staat) macht, ist rechtig (richtig!) Krieg und Frieden, Rohes und Gereiftes, Sitte und Unsitte oder Moral und Unmoral, die Dekadenz, alle diese Zustände sind zugleich. Die Antinomer und Hegel finden zusammen. Sie beseitigten den Dualismus von Gesetz und Gnade, von christlichen Moral (-Gesetzen) und praktischer Politik, von Glaube und Macht. Die nichtkompatiblen Bereiche gibt es nicht mehr. Die Position eines Vermittlers muss nicht mehr eingenommen werden. Ja, es gibt einen solchen gar nicht mehr. Das alles, bei Luther und Kant Genannte, ist nicht mehr einzubringen. Geist (Transzendenz) und Welt (Immanenz) schöpfen sich in ihrer Vereinigung fortlaufend selbst. Allerdings sind Vernunft und Sittlichkeit in den historisch ablaufenden Entfaltungsstufen von verschiedener Qualität. Was Recht ist, muss in einer anderen Zeit nicht mehr Recht sein. Bei Luther und Kant bleiben das Gesetz (die Gebote Gottes) und das Sittengesetz („Du sollst! Also kannst Du!) immer das Gesetz. Bei Luther oder im Evangelium werden solche Stellen ausgefüllt und zwar durch eine vermittelnde Symbolik, etwa durch „den Kreuzestod von Jesus Christus“. Bei Kant, hier bei seiner Wegweisung „Zum Ewigen Frieden“ fehlt übrigens ein solches anschauliches Symbol.
389 Das ist wohl der tiefere Grund dafür, dass der „Glaube“ als „Gesetz und Gnade“-Beziehung veranschaulicht und in Form (etwa) von Gemälden und Reliefs ausgestellt werden kann. Kants Linie (Prozess) „Zum Ewigen Frieden“ fehlt die vermittelnde, bildhafte Symbolik. In seiner „Natur-Vorsehung“ ist das Moment der Anschaulichkeit und Fasslichkeit wenig ausgebildet. Gemalte, ausgestellte Bilder hierzu, etwa solche von einer Natur-Vorsehung, sind unbekannt. Einst richtete, der Schreiber dieses Aufsatzes (U.N.) an Johannes Erichsen entsprechende Fragen: „Für mich ist momentan die Beantwortung der mir selbst gestellten Frage wichtig, ob es möglich ist, „Glaube“ auszustellen. Wenn man an einige Cranach-Bilder denkt, etwa an das Elias-Bild oder an „Gesetz und Evangelium“ bzw. überhaupt an alle „Gesetz und Gnade“ - Darstellungen, würde ich meinen, ja, „Glaube“ ist zu veranschaulichen und damit auszustellen. Nun die nächsten Überlegungen: Sind auch einige andere analoge Prozessstrukturen transzendentalen Denkens darstellbar? Konkret fällt mir dabei Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ ein. Auch darin zeichnet sich eine Prozessstruktur ab (analog zu „Gesetz und Gnade“). Kant meint: In der Natur liegt ein Plan, der den „rohen Menschen“, ob er will oder nicht, letztlich zum „Guten“ führt. „Du sollst! Also kannst Du!“ Meine Frage: Ist Ihnen bei Ihren Arbeiten schon einmal jemand vorgekommen, der die Kantsche Prozessstruktur „Zum ewigen Frieden“ bildlich oder anderweitig anschaulich (direkt oder indirekt) vorgestellt hat? Ich denke auch an Darstellungen von Herrschern in der Zeit der Aufklärung wie Friedrich der Große. Doch Menzels „Flötenkonzert in Sanssouci“ passt wohl hier nicht. Wie ist Ihre Meinung über Darstellungen von „Moral (Ethik) – Prozessstrukturen“, also von solchen, die vom „Bösen“ zum „Guten“ verlaufend sind? Welche existieren da? Sind diese einmal klassifiziert worden?“9 Johannes Erichsens Antwort: „Ich glaube nicht, dass man „Glauben“ als solchen ausstellen kann. Sie können Lehrbilder ausstellen wie die Gesetz und Gnade-Darstellungen oder Polemisches wie die „Antithesis figurata vitae etc.“ Wenn das Publikum damit etwas anfangen kann, liegt das aber nicht an der Selbst-Evidenz der Darstellung, sondern an einem Phänomen, das offensichtlich schon Luther bewusst war, als er 1525 die Funktion der Bilder als „zum Zeugnis, zum Gedächtnis, zum Zeichen“ und damit memorial definierte: Damit Bilder verstanden werden können, müssen ihr Inhalt oder doch wenigstens die einzelnen Elemente vorgewusst sein. Ein gänzlich unbekannter Inhalt lässt sich beschreibend zwar eingrenzen, aber m. E. niemals prima vista verstehen.
Kants „Ewiger Friede“ ist leider im allgemeinen kulturellen Bewusstsein wenig präsent. Ich kann Ihnen sagen, dass ich nie eine Umsetzung des Kant‘schen Textes in ein anderes Medium zur Kenntnis genommen habe, aber das schließt natürlich nicht aus, daß mal jemand so was versucht hat. Mit Ihrer letzten Frage habe ich mich, offen gestanden, nie beschäftigt - einem Kunsthistoriker geht das Handgreifliche ja nicht so leicht aus - und enthalte mich dazu einer voreiligen Meinung. Dezidiert meine ich aber nach langer Beschäftigung mit fürstlichen Porträts, dass Sie in der gemalten und gestochenen Herrscherpanegyrik der Aufklärungszeit nichts für Ihr Problem Passendes finden werden. Diesbezüglich wandelt die Kunst der zweiten Hälfte des 18. Jh. geradezu enttäuschend konsequent in den alten Bahnen. Und Menzel visualisiert natürlich nur das verklärte Bild, das sich das mittlere 19. Jh. von einer nationalen Größe machte ...“.10 Soweit einige Gedanken zur Veranschaulichung von Abstraktem. 4. „Wissen“ und „Glaube“ Nachdem über „Kirche“ und „Staat“ sowie über „Gesetz“ und „Gnade“ befunden und das Zusammenbinden jener zueinander nichtkompatiblen Bereiche als Prozessstruktur dargestellt wurde, sollen zwei weitere Bereiche und zwar „Wissen“ und „Glaube“ in ein Verhältnis gesetzt werden. Dem Lebenden ist, wie erwähnt, ein Ur-Verhalten eigen. Lebendes ist prinzipiell um Bestand bemüht. Dem Menschen geht es aber nicht nur darum, Bestehendes zu erhalten. Er ist darüber hinaus aktiv daran interessiert, aus sich heraus Anderes, möglichst Besseres zu finden. Weil der Mensch aber, trotz aller nur möglichen Denk- und Untersuchungsmethoden und mittels Konstruktionen niemals Vollständigkeit im Gewussten und keinen endgültigen Abschluss bei der Erkenntnis in Theorie und Praxis erzielt, hat sich bei ihm so etwas wie ein Bewusstsein von dem, was fehlt eingestellt. Im Bereich „Wissen“ bleibt es ständige Aufgabe, alle dort entwickelten Aussagen kritisch zu hinterfragen, sie zu überprüfen und wenn nötig, sie zu verändern. Der Mensch erhält seine Daseinsweise durch ein vorläufiges Wissen. Allerdings kann er damit recht passabel existieren. Er kann sogar voraussagen, dass, wann immer die gleichen Anfangsbedingungen vorliegen, der jeweilige Prozess mit gleichem Resultat wiederholbar ist. „Wissen“ und „Voraussage“ korrespondieren miteinander. Aber, trotz Erkennenserfolgen bleibt das Bewusstsein von dem, was fehlt. Das ist prinzipiell so. Das, was fehlt sind Wissen und Aktivität. Nichtwissen und Passivität sind stets gegenwärtig. Weil dem Menschen dennoch eine natürliche Neugier immanent ist, und zwar für das, was im Sinn-
390 lichen und im Nichtsinnlichen (Imaginären) fehlt, strebt er danach, Grenzen zu überschreiten, um das ganz Andere zu finden. Über die Intelligibilität (das Vorgestellte; die Nichtsinnlichkeit) kann er vom Bereich „Wissen“ in den Bereich „Glaube“ hinüber wechseln. Der denkende, aktive Mensch hat neben dem Bereich „Wissen“ ein Bewusstsein von dem, was fehlt, auch für den Bereich „Glaube“ (inkl. „Religion“) entwickelt. Im Bereich „Glaube“ gibt es ebenfalls Wissen und Nichtwissen. Wenn es bei „Glaube“ kein Wissen gäbe, dann würde dieser nicht existieren. Der Glaubende kann innerhalb seines Bereichs nur mit Wissen (also wissentlich) sagen: „Ich glaube an…“ Wenn es Wissen im Bereich „Glaube“ gibt, dann ist dieses freilich in einer anderen Weise hinterfragbar, überprüfbar und wiederholbar, als bei jenem Wissen, das als „Weltwissen“ oder im Wissenschaftsbereich als „wissenschaftliches Wissen“ bezeichnet wird. Gewusstes in den Bereichen „Glaube“ und „Wissen“ unterscheiden sich in Inhalt, Form und auch von der Wertigkeit her. „Glaube“ ist ein Für-Wahr-Halten im Zusammenhang mit Gott und auf der Grundlage von Gottes Wort. Das Wort Gottes allerdings wurde durch Menschen aufgeschrieben. Realität im Bereich „Glaube“ ist Gott bzw. Gottes Wort. „Wissen“ ist ein Für-Wahr-Halten auf der Grundlage der Natürlichkeit (der Natur und der Gesellschaft mit ihrem Recht, den Gesetzen und einer allgemein-gesellschaftlichen Zumutbarkeit für alle Mitglieder). Realität im Bereich „Wissen“ ist die „Natürlichkeit“. Weil mit der Markierung, einerseits einer „gott-wörtlichen“ und andererseits einer natürlichen Realität, die beiden Formen eines „Für-Wahr-Haltens“ (oder jeweils eines „Für-Unwahr-Haltens“) verschieden sind, haben „Glaube“ und „Wissen“ eine unterschiedliche Wesensbestimmung. Wesentlich für den glaubenden Menschen und für seinen Wissenserwerb ist es, einsichtig zu werden. Sein Anliegen ist, religiöse Einsicht zu erlangen. Der nichtglaubende (säkulare) Mensch hingegen strebt nach wissenschaftlichen Problemlösungen. Er wird sein Erkennen so ausrichten, dass er in der Lage ist, (weltliche) Voraussicht zu schaffen, etwa, um planen und optimieren zu können. So soll im weiteren Text wie folgt unterschieden werden: Wissen im Bereich „Glaube“ soll begrifflich mit (religiösem) Einsichtwissen und jenes im Bereich „Wissen“ soll mit (weltlichem) Voraussichtwissen geführt werden.
Was wissen wir unter Beachtung eines „Voraussichtwissens“? Das Erkennen, mit dem Anderes und Besseres erreicht werden soll, entwächst der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen. Erkennen beginnt nicht aus einem immer wieder völlig neuen Anfang heraus. Dem Suchenden liegt stets bereits vorhandenes Wissen vor. Gewusst wird neben einzelnen großen Theorien sehr viel über Einzeldinge. Doch schon in dem augenblicklichen Forscherglück und der Genugtuung, etwas von der Welt verstanden zu haben, wird dem damit Befassten zugleich seine Unwissenheit bewusst. Nichtwissen ist unendlich. Aber, nicht nur andere, ungelöste Probleme stellen sich mit dem erworbenen Wissen ein, viel kräftiger schlägt die Tatsache zu Buche, dass das, was an Voraussichtwissen (an wissenschaftlichem Wissen) festgemacht wurde, unsicher ist, stets einen vorläufigen Charakter besitzt. In dieser Form ist Erkennen ein andauernder Prozess und hat eben eine solche Tradition. Erkenntnistradition bedeutet, dass Lösungsversuche für anstehende Probleme immer wieder neu vorgeschlagen werden müssen. Das sind praktische wie theoretische Überlegungen. Diese werden geprüft und einer sachlichen Kritik unterworfen. Es wird hierbei probiert, in Frage gestellt, widerlegt, mit Anderem verglichen. Wenn das Ergebnis der Kritik widerstanden ist, erfolgt ein (vorläufiges) Akzeptieren. Bei Bedarf setzt der Widerlegungsprozess erneut ein. Dem Erkennen liegt die in Natur und Gesellschaft bewährte kritisch-rationale Methode „Versuch und Irrtum“ (trial and error) zugrunde (Karl R. Popper). Erkennen benötigt nicht die (ideologische) Aussage, dass es eine primär aufzufassende objektive Realität geben müsse, welcher der Mensch gegenüber steht, die er beobachtet, die er abzählt oder die er ausmisst. Zu schnell wäre der Forschende von einem solchen Erkenntnisoptimismus umfangen, der da sagt, dass alles in uns und um uns irgendwann abschließend erkennbar wäre. Ständiger Fortschritt oder sogar Erkennensabschlüsse seien, so angenommen, nur eine Frage der Zeit. Das ist unrichtig. Die Erfahrung von Fortschritt und Rückschritt beim Erkennen, das Scheitern großer Gesellschaftsutopien sollten Menschen kritischer gegenüber sich selbst und dem, was sie zu wissen meinen, auftreten lassen. Besonders war es in der jüngsten Vergangenheit (in der Moderne) das induktive Moment, das in Gesellschaft und Natur überstrapaziert und das mit viel zu viel Illusionen verbunden war. Es gilt eben nicht, wenn hin und wieder Einzelnes so ist, dass dann Alles so wäre. Es scheint ratsamer, ja, es empfiehlt sich, grundsätzlich mittels der Methode „Versuch und Irrtum“ zu arbeiten.
391 Kant sagte sehr treffend, dass der Mensch die Realität seines Gegenstandes selbst begründet: „Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“.11 Objektiv ist also nicht irgendeine dem Menschen gegenüberstehende und vorübergehend nicht erkannte Realität. Die auf den Menschen bezogene Realität wird vielmehr erst von ihm erzeugt und baut sich mittels der kritisch-rationalen „Versuch-Irrtum-Methode“ auf. Keine Theorie, keine Aussage des Menschen ist von Kritik befreit. Das ist prinzipiell so. So gedacht können auch keine Theorien, insbesondere keine über Höherentwicklungen in der Gesellschaft, zum Dogma werden. Es ist die kritisch-rationale Methode, die in sich ein Kontinuum trägt und grundsätzliche Wahrheitsansprüche nicht akzeptiert. Eine solche kritische Methode wäre dann als „objektiv“ zu bezeichnen. Somit ist die Rechtfertigung der kritisch-rationalen Methode und das so erzeugte „wissenschaftliche Wissen“ dann gegeben, wenn es wiederholter Kritik standhält. Die von bestimmten philosophischen Richtungen (Platon; Hegel; Frankfurter Schule) als „wahr“ bezeichneten Utopien einer perfekten Gesellschaft oder eines idealen Staates können keine Rechtfertigung erfahren, weil ihnen das Dogma anhaftet, unumstößlich zu sein. Obgleich gesellschaftliche Utopien mit diesseitigen Heilsversprechungen letztendlich ins Leere gingen, ist es aufgrund eines (nicht nur in der Mechanik) offensichtlich auch im Gesellschaftsbereich zu findenden „Trägheitsprinzips“ stets so, dass Änderungen jenes dogmatischen Zustandes, wenn sie denn überhaupt vonstatten gehen und trotz des Wegsterbens der Vertreter, gehörig viel Zeit in Anspruch nehmen. Einige diesbezügliche Bemerkungen zur Disziplin „Geschichte“ Selbst die Historiker hatten sich (wahrscheinlich um politisch korrekt zu sein) in der Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten auf mindestens zwei „ewige Wahrheiten“ eingelassen. Dogmatisch galt (erstens) der Satz, dass unzumutbare Durststrecken und selbstverständlich auch Menschenopfer den Weg in die „bessere Zukunft“ rechtfertigen würden. Wer von den einstigen Verfechtern war nach dem Scheitern der Utopien schon bereit, sich um die Opfer zu kümmern? Zweitens galt die unverrückbare Meinung, dass nur ein auszuarbeitender zentraler Plan her müsse, um die Ressourcen gerecht und gleich zu verteilen. Da der „Große Plan“ bald nach Fertigstellung zum allgemein-notwendigen „Gesellschaftsgesetz“ erkoren und bestimmt wurde, er sich aber praktisch als nicht umsetzbar erwies, waren es dann die Menschen, die aus Trägheit, Dummheit oder aus gesuchter Gegnerschaft, das Gute und Bessere, eben
das, was sich eigentlich gesetzmäßig durchzusetzen hatte, verhindert hätten. Schnell ausgemachten Widerständlern und Rädelsführern widerfuhren Sanktionen. Wiederum waren Menschenopfer zu beklagen, die dann bald, mitunter bewusst, vergessen wurden. Da gesellschaftliche Zusammenhänge höchste Komplexität besitzen, lässt sich fragen, ob es auch in diesem Bereich etwas Wissenschaftliches gibt. Gilt die kritisch-rationale Methode (außer in Naturwissenschaft und Technik) auch im geisteswissenschaftlichen Bereich, etwa in der Psychologie, Soziologie, in der Geschichte oder in ähnlichen komplexen Disziplinen? Schauen wir auf die Wissenschaftsdisziplin Geschichte und sehen hier nach, wie in diesem Zusammenhang Informationen und Erkenntnisse aufzuschreiben sind, um der einstigen Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen, um der Vergangenheit annähernd entsprechen zu können. Das funktioniert insofern, als das zu dem betrachteten historischen Zeitabschnitt Situationsanalysen angefertigt werden. Es wäre in dem Zusammenhang zu fragen, nicht „Warum?“, vielmehr „Wie?“ kam es zu einer Zusammenbindung jeweils nichtkompatibler Bereiche. Das sind Wissensfragen auf der Grundlage der Urteilskraft an die Geschichte. Irgendwelche Gesinnungsvorgaben können beim Blick in die Vergangenheit keine dominante, bestimmende Rolle spielen. Weil das, was die Geschichte von sich frei gibt, also etwas ist, was nicht von vornherein feststeht, kann aus der Geschichte auch nichts gelernt werden. Man lernt aus der Geschichte nur das, was man lernen will. Welchen Sinn macht es folglich, aus der Gegenwart heraus immer wieder gleiche Strukturen der Vergangenheit abschauen zu wollen? Will man sich letztendlich selbst darin spiegeln? Warum sollte der Fisch immer wieder erneut im Wasser ersäuft werden? Der Historiker hat sich vielmehr ein Verständnis für die jeweils historische Situation zu erarbeiten. Dabei ist historischen Zusammenhängen und den damals handelnden Personen mit Respekt zu begegnen. Das alles sind Momente bei der Erarbeitung einer Situationsanalyse. Mit dem Aufsuchen und Vollziehen einer solchen Analyse haben wir uns oben bereits beim Zusammenbinden von „Kirche“ und „Staat“ oder „Gesetz“ und „Gnade“ beschäftigt, siehe die vorherigen Kapitel im Aufsatz. Das Verschleifen, etwa das von „Kirche“ und „Staat“ in der Reformationszeit nach 1500, erbrachte, wie dargelegt, Aussagen zur jeweils verschiedenen Gegenständlichkeit beider Bereiche. Sie ließ Erkenntnisse zu, welche beim Zusammengehen von „Kirche“ und „Staat“, begrifflich mit „Konfessionalisierung“ bezeichnet, neue Qualitäten in Erscheinung treten ließen.
392 Geschichte kann tatsächlich einen Sinn erhalten, wenn wir danach fragen, wie es denn der jeweiligen Gegenständlichkeit, um beim Beispiel zu bleiben, zum einen die der „Kirche“ und zum anderen der des „Staates“ sowie deren prozessstrukturellen Zusammenbindung, eben der Konfessionalisierung, im Ergebnis begrifflich als Konfessionskirche und als Konfessionsstaat bezeichnet, im Laufe der Geschichte (und zwar bis heute) ergangen ist. Was abzulehnen, weil dogmatisch und sinnlos, ist, etwa die Geschichte der Zusammenbindung der Bereiche „Kirche“ und „Staat“ (nur) aus der Sicht der Säkularisierungstheorie aufschreiben zu wollen. Übrigens, umgekehrt ist es eben so wenig angebracht, Gleiches mit der der Säkularisierungstheorie entgegen gesetzten Theorie, der Persistenz von Religion zu versuchen. Das Wesen dieser gesucht verbreiteten Säkularisierungsthese ist die (mechanistische) Annahme, dass es in der modernen Weltlichkeit eine tendenziell abnehmende gesellschaftliche Koordination zum Bereich „Kirche“ gäbe, welche im Ergebnis zu einem prinzipiellen sozialen Bedeutungsverlust von Religion in der Gesellschaft führen würde. Die Säkularisierungsthese ist ein typisches Beispiel einer utopischen, dogmatischen Geschichtsschreibung. Ihr Wesensmerkmal ist, mit ganz bestimmten Fragen in die Geschichte hinein zu gehen, die sie freilich vorab, zu Gunsten des Fragestellers, versteht sich, schon beantwortet hatten. Wer die Welt so anschaut, wird stets bloß die eigene Brille wieder erkennen. Oder, wer Geschichte mit vorab gesetzten Themen hinreichend lange ablauert, wird mit der Zeit vereinzelt Brauchbares finden. Mittels eines passenden Einzelnen, das man fand, wird dann „Alles ist so!“ geschlussfolgert und ein „Für Alles gilt!“ (ausnahmslos) festgelegt. Es geht nicht um die Beantwortung der Frage, wie sich die Kirche oder wie sich der Staat im historischen Verlauf jeweils an Profil verloren oder auf Kosten des anderen Bereichs verstärkt hatte. Geschichte sollte, wie gesagt, aufschreiben, wie es der Idee und Methode einer Zusammenbindung von Kirche und Staat und wie es den dabei sich heraus gebildeten neuen Qualitäten (etwa den „Tochter-Bereichen“) in den jeweiligen Zeitperioden ergangen ist. Schließlich ist noch zu fragen, ob mit der Methode der Zusammenbindung nichtkompatibler Bereiche Fortschritte in der Menschheitsgeschichte erschaut werden können. Wenn mit dem Begriff „Fortschritt“ das Erschauen von Erscheinungsbildern der selbst zuvor eingepflanzten (künstlichen) Gesellschaftsgesetze verbunden ist, dann ist die Frage zu verneinen.
Wenn mit dem Begriff „Fortschritt“ im Zusammenhang mit der Zusammenbindungsmethode operiert werden soll, ist es geboten, den Begriff „Rückschritt“ mit aufzunehmen. Da aber der die Analyse des jeweiligen Zusammenhangs zugrunde legenden Zusammenbindungsmethode kein Maßstab immanent ist, erscheinen Fragen nach „Fortschritt“ und „Rückschritt“ nur mit einem allgemeinen Anspruch. Wirklich tragende Begriffe wären solche wie „Aufbau“, „Bestand“, „Alterung“ und „Vergänglichkeit“. Da es in der Geschichte keine ein- oder vorgezeichneten Entwicklungsstrukturen hin zum Höheren gibt, haben die Menschen selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Auf diese Weise kann der Geschichte Sinn gegeben werden. 5. Über das Erlangen von (religiösem) „Einsichtwissen“ Den soeben vorgenommenen Betrachtungen über „Wissen“, auch solchem über die Verwendung der kritisch-rationalen Methode und darüber, dass es einem Ziele setzenden Menschen bedarf, um in der Lebenswirklichkeit Besseres ausfindig zu machen, könnte entnommen werden, dass es hinreichend sei, „wissenschaftliches“ Wissen (Voraussichtwissen) anzuhäufen, etwa um im Alltag passabel und rundherum einträglich zu leben. Wenn auch das Wissen in Naturwissenschaft und Technik, in Psychologie, Soziologie, Geschichte und überhaupt in den wissenschaftlichen Disziplinen einen vorübergehenden Charakter besitzt, so sind doch Fortschritte zu verzeichnen. Diese sind mit Rückschritten verbunden und mitunter damit belastet, dass ein hoher Tribut, für das Erreichte, für das ganz Andere, zu zahlen war. Wenn trotz des enormen Mehrwissens, das Nichtwissen ebenso an Umfang zunimmt, dann ist es einfach natürlich, dass der Mensch nachsieht, ob es bei der Aufhellung von Nichtwissen weitere, eventuell andere Zugänge gibt, um im Leben zu bestehen. Das könnten Zugänge sein, die zu einem ganz anderen Wissen führen. Das kann ein Wissen sein, das fernab von dem kritisch-rational Erworbenen in Erscheinung tritt. Der Mensch befreit sich von der Last wissenschaftlichen Nichtwissens selbst, indem er sich „zu sich selbst rückwendend“ aufklärt. Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, führt zu einem rückbezogenen Regulieren. Was fehlt? Fehlt zur Ausschöpfung und Realisierung von Möglichem im menschlichen Dasein eine weitere, andere Art zu denken? Besitzen wir noch eine Denkart, neben der im kritisch-rationalen Wissenskreis benutzten; vielleicht eine solche, die in den Bereich „Nichtwissen“ hinein ragt? Kann der Mensch neben wissenschaftlichen auch anderen Denk- und Aussagemustern nachgehen?
393 Wenn es das Eine (Wissen) gibt, warum sollte es dann nicht auch das Andere (Glaube) geben? Wenn ein ganz anderer Zugang, im Ergebnis zwar kein Voraussichtwissen im Zusammenhang mit dem (wissenschaftlichen) Nichtwissen erwarten lässt, dann ist das Andere vielleicht das Erwerben von (religiöser) Einsicht (nicht von Voraussicht), was dem aktiven Menschen weiter hilft. Vielleicht ist es das, was ihn zu einem „ganzen“ Menschen macht. Das ganz andere Vorgehen, etwa ein rückgewendetes Denken in einer Situation, welche neben Wissen auch Nichtwissen erzeugt hatte, könnte ein Einsichtwissen erbringen. Wie aber lässt sich die ganz andere Art des Vorgehens, etwa ein „Versunkensein in sich selbst“ beschreiben? Wie glücklich, zufrieden und ausgeglichen wäre der Mensch an Geist, Seele und Leib, wenn es ihm gelingen könnte, durch Erwerb von Einsichtwissen, allerdings in einer selbst geschaffenen Glaubenswelt, sich rezeptiv und meditativ zu befreien! In dem hier beschriebenen Fall wäre das eine neue Realität in Form von Religion. Ein Einsichtwissen würde sich dem Voraussichtwissen hinzu gesellen. Fürst Pückler schrieb einst: „Es gibt nur zwei Dinge auf dieser Welt, die etwas wert sind: Aus sich selbst etwas schaffen, oder in seltenen, seligen Momenten eine Individualität verlieren im Allgemeinen, in Gott – sich auflösen in Liebe. Hier berührt der Mensch die entgegengesetzten und doch zusammenhängenden Pole ewiger Tätigkeit und unendlicher Ruhe.“12 Die bei Pückler besagten „zusammenhängenden Pole“ könnten als „Einsichtwissen“ und als „Voraussichtwissen“ begriffen werden. Die „Linken“ in unserer Zeit, wie die konkret auch immer definiert sind, werden einwerfen, dass das Problem mit dem Nichtwissen sich mit der Zeit lösen wird. Es sei stets im fortlaufenden Abbau begriffen. Der Springquell des Fortschritts würde für alle einmal so reichlich sprudeln, dass man sagen könne, der Himmel habe sich auf die Erde begeben. Doch ist die Sache mit dem unaufhörlich sprudelnden Quell nicht besonders wahrscheinlich. Die Utopie kann vielmehr so ausgehen, dass an Stelle des Himmels, sich eher Verhängnisvolles auf Erden auftut. Vielen Menschen, denen die Wissenschaften und das Weltwissen in Form von Naturwissenschaft und Technik, Recht, Gesetz und zumutbarer Ordnung vollkommen genügen, werden sagen, dass das sich nebenbei anhäufende Nichtwissen nicht störend sei. Glück, Zufriedenheit und das, was man ansonsten so täglich benötigt, liefert hinreichend der wissenschaftliche Fortschritt, wenn er denn auch mit Rückschritten verbunden ist.
Bei aller Achtung und Zuneigung für die Wissenschaften sowie dem, was Wissenschaft vermag und bei voller Sympathie dem funktionierenden Staat gegenüber, sei gefragt, ob bei einer tatsächlichen, bei einer möglichen vollen Lebensweise damit nicht doch nur das „halbe Leben“ oder ein „halber Mensch“ angesprochen wird. Wollen wir denn wirklich als „halbe“ Menschen unser Dasein fristen, wenn es doch möglich ist, als „ganze“ Menschen zu leben? Beim Zusammenleben von Menschen haben sich über die Zeit Traditionen ausgebildet. Das sind Regeln, Prinzipien und Überzeugungen, die einen ethisch-moralischen Rahmen bilden und die einen aus der Tradition heraus überlieferten Sinn für Gerechtigkeit und Anständigkeit erzeugt haben. Die Gedankenfreiheit, die freie Rede und das sich Einordnen, im Bemühen die Welt zu verbessern, sind ebenfalls Traditionen und grundlegende Werte, die nicht weiter zu rechtfertigen sind. In der Antike galt: Denken, in der Einsicht- und in der Voraussicht-Form sowie Demokratie. Später traten die Menschenrechte, in einer offenen Gesellschaft verwirklicht, hinzu. In dieser Tradition steht und auf diesen grundlegenden Werten konstituiert sich immer wieder neu die abendländische Lebensweise und Kultur bis in die Jetztzeit hinein. Der ganze, der wahre Mensch wird mit Glaube und mit Wissen, mit Voraussicht und mit (religiöser) Einsicht, mit Voraussichtwissen und mit (religiösem) Einsichtwissen seine Ganzheit und innere Harmonie erfahren. Gedanken und Ideen ranken sich insgesamt um solche grundlegende Fragen, wie die nach dem „Woher?“ und „Wohin?“ von Welt und Mensch, wie die nach solchen über das Diesseits und das Jenseits. Überlegungen der Altvordern zur Selbst- und Fremdbezogenheit in der frühesten Menschheitsgeschichte und um dem beängstigenden Nichtwissen Struktur, Inhalt und Methode zu geben, führten zum Wissenserwerb und zugleich zur Entstehung von Gottesglaube und Religionen. Viel brauchbares Wissen ist bei der Beantwortung solcher Fragen aufgeschrieben worden. Die Probleme, die angefallen waren, bildeten auch den Bereich, der neben einer wissenschaftlichen Neugier, auch die menschliche Rückbezogenheit und die bei aller weltlicher Geschäftigkeit eine inne haltende Demut eintreten lassen haben. Dabei ergibt sich folgende Frage: Haben christlicher Glaube, Einsicht, Einsichtwissen auch eine Struktur oder sind diese Bereiche in einer prinzipiellen Unschärfe und in einem persönlichen SichAus-Schweigen zu belassen? Folgend soll mittels der Methode des Zusammenbindens von nichtkompatiblen Bereichen ein Bearbeitungsvorschlag für das Problem, „Glaube“ und „Wissen“ zu koordinieren, unterbreitet werden.
394 Wir gehen folgend davon aus, dass „Glaube“ und „Wissen“ nichtkompatibel sind. Doch beide Bereiche sind koordinierbar (zusammenbindbar; miteinander verschleifbar). Den Bereich „Glaube“, welcher mit dem von „Wissen“ eine Verschleifung erfahren soll, beziehen wir in der folgenden begrifflichen Ausführung auf das Christentum, auf die Evangelische Kirche, konkret auf die Theologie Martin Luthers. Hier ein Einschub zur Erinnerung an jene Begrifflichkeit: Was war der Gegenstand der mit der Lutherischen Reformation entstandenen Neuen Kirche? Der an den Kreuzestod von Jesus Christus Glaubende entwickelt einen Erfahrungsraum zu Gott. In diesem Raum erscheint der jeweilige Mensch als Gerechter und Sünder. In diesem Raum wird der Mensch mitunter auch Zweifel an dem Wort Gottes haben, etwa an der Zusage, die Gerechtigkeit Gottes walten zu sehen. Mit auftretendem, auch persönlichem Leid, mit immer wieder ausbrechenden Kriegen und Katastrophen scheint mit Gott und dem Verhältnis zum Menschen nicht alles zum Besten bestellt zu sein. Aber, gerade in einen solchen Erfahrungsraum hinein kommt es zu einer Alles mildernden Eigenart, dass trotz leidvoller Einschnitte im Leben von Menschen, dennoch ein mächtigeres, umfassenderes, ein göttliches Trostwort dem bangenden Geschöpf entgegen tritt, welches das mitunter von der Erde zum Himmel Schreiende klein werden lässt, sich auflöst. In einem solchen lebendigen Erfahrungsraum (wieder inklusive mit Fortschritten und Rückschritten) erfährt der Mensch, was Gottes Gnade für ihn bedeutet. Nicht durch ein starkes politisches Engagement, nicht durch erbrachte Leistungen des Menschen Gott gegenüber wird die Wirkung von göttlicher Gnade freigesetzt. Das vollbringt vielmehr der Glaube. Luther war Schriftausleger und Seelsorger. Seine Theologie benennt eine doppelte Verantwortlichkeit des Menschen, einmal gegenüber Gott und das andere Mal gegenüber dem Mitgeschöpf. Aus letzterer Beziehung resultiert die Aufforderung, Nächstenliebe zu üben. Darüber hinaus hat sich der Christ bei der Suche nach einer besseren Welt auch der Verantwortung außerhalb der Kirche zu stellen. Aber alle daraus resultierenden guten Werke, so besagt es Luthers christliche Ethik, sind zwar notwendig, weil der Mitmensch so beschaffen ist, dass er Nächstenliebe nötig hat und das Weltliche (inkl. die Politik) so ausgelegt sind, die Mitwirkung der Menschen, auch der Christen zu erfahren. Doch keinesfalls sind diese Leistungen heilsnotwendig (Lexutt).13 Heilsnotwendigkeit wird grundsätzlich über den Glauben erreicht.
6. Universalität und Partikularität. Philosophie und Liebe Eine Strophe in Friedrich Schillers Gedicht „Die Weltweisen“ (1795) lautet: „Doch weil, was ein Professor spricht, Nicht gleich zu Allen dringet, So übt Natur die Mutterpflicht Und sorgt, dass nie die Kette bricht. Und das der Reif nie springet. Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, Erhält sie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe.“14 Schiller wollte den Philosophen, die sich mit verschiedensten Entwürfen über das Weltganze stets ausgelassen haben, d.h. quasi den Universalismus verschieden interpretierten und dabei Universalitäten entwarfen, Ernüchterung empfehlen und ihnen Zurückhaltung gebieten. Der Dichter erinnerte mit seinem Text an das „Ur-Sprüngliche“, an die Partikularität im Menschsein. Das ist, so gesehen, die Erhaltung der Menschheit durch Fortpflanzung und die von Nationen und Kulturen in der Tradition. Bei Schiller gipfelt die Partikularität im Menschen in den Begriffen „Hunger“ und „Liebe“. Beides sind Ur-Begriffe, d.h. sie sind in besagtem Zusammenhang nicht weiter zu hinterfragen, weil sie schon „Letztes“ sind. Die Inhalte beider Begriffe meinen Grundsätzliches. Doch damit die angesprochene Partikularität ihre Qualität behält und nicht ins bloße Animalische absinkt, kommt es über das Denken von Berufenen (in den Versen hier sind es die mit Philosophie sich beschäftigenden Professoren) zur Kritik, um eine Besserung am bestehenden (einfachsten) Zustand einzuleiten und um das ganz Andere, das Umfassendere zu erreichen. Philosophie und Kritik sind gleichbedeutend bzw. haben eine Gleichursprünglichkeit. Mit Kants Ideen „Zum Ewigen Frieden“ wurde oben im Text ein Beispiel dafür genannt, wie der Philosoph als Vermittler (oder als ein Erzieher der Menschheit) Anderes empfiehlt und den Weg zum Besseren weist. Doch wichtig ist der folgende Schluss: Philosophie (Kritik) und Liebe (hier Konservation) stehen sich nichtkompatibel gegenüber. Das ist dann schon einmal des Nachdenkens wert. Partikulär und zur Konservation gehörig sind dem Menschen die einzelnen geliebten und vertrauten Dinge, wie etwa das Vaterland, die Liebe zur Heimat, die Individualität, sein inneres und äußeres unverwechselbares Profil (seine Identität). An dem ursprünglichen und jeweils vorhandenen Bestand übt der Philosoph Kritik, um den (konservativen) Menschen zu verändern. Aber, kann denn der Mensch gegen sich selbst vorgehen? Kann er Widerstand gegen sich selbst leisten?
395 Es ist möglich. Das Philosophieren, das Kritiküben will ja über das Postulieren eines zu erreichenden anderen Zustandes das eigene Dasein erweitern, verbessern und stabilisieren. Aus dem Vertrauten heraus tretend und über seine Grenzen schauend nimmt der Mensch das mitunter Bessere gesucht in den Vorblick. Wilhelm Busch schrieb (in: Plisch und Plum) die hübschen Verse: „Warum soll ich nicht beim Gehen (Auch ’mal) in die Ferne sehen? Schön ist es auch anderswo, Und hier bin ich sowieso“.15 Der Universalismus im Menschen ist eine Eigenschaft, die ebenfalls zu seinem Wesenstand gehören. Universalismus bedeutet, dass der Mensch aus seinem Inneren hinaus greift. Er tritt aus sich heraus. Er sucht, er konstruiert, er bedenkt, er schafft Nützliches, und er verbreitet es. Über das Verbessern der inneren und äußeren Lebensbereiche beim Wissen, als auch beim christlichen Glauben, verstärkt der Mensch das, was er darzustellen vermag. Das geschieht durch Voraussichtwissen und durch (religiöses) Einsichtwissen. Der Universalismus oder die Universalitäten im Menschen sind auf das Ganze gerichtet. Hierbei das Bessere in den Vorblick zu nehmen, kann im ganz großen Maßstab bedeuten, die Daseinsweise einer ganzen Gesellschaft so zu verändern, dass die vorhandene, schlechte Gesellschaftsrealität verneint wird. Reformation und Revolution sind Beispiele, wie neue Universalitäten erreicht werden können. Auch die christliche Religion, als Artikulierung des menschlichen Gottesverhältnisses, besitzt einen philosophisch-sozialen Charakter und will Besseres erreichen. Die Verneinung des Vorhandenen soll im Christentum jedoch nicht über einen gewalttätigen, sozialen (weltlichen) Protest und Umsturz erreicht werden. Die Verneinung, als Schritt zum ganz Anderen, wird in ihrer Vollendung nicht in der Errichtung eines „Himmelreichs auf Erden“ gedacht. Im Christentum bilden das Diesseits und das Jenseits ein Kontinuum. Die Verneinung des Schlechten (des Todes) ist in seiner letztendlichen Erfüllung dem Jenseits zugedacht. Die Lutherische Reformation ist ein politisches, wie religiöses Phänomen. Die durch Vermittler erfolgte Umwandlung hin zum Besseren in Kirche und Staat, Konfessionalisierung genannt, wollte im 16. Jahrhundert niemals Revolution sein. Wegen dieser Unvollständigkeit der Reformation, den revolutionären Umsturz der weltlichen Herrschaftsverhältnisse eben nicht mit vorgesehen zu haben, markiert dieses außerordentliche Ereignis, die Öffnung und den Übergang zum “Liberalen System“. Wie machen sich nun „Kirche“ und „Staat“ (bzw. ihre Untergliederungen) die Sache des Universalismus im Menschen zu eigen?
Zur Kirche: Das Christentum (hier die Lutherische Kirche) macht sich die Sache des Universalismus im Menschen als „Glaube“ zu eigen. Zum Staat: Das weltliche Regiment (mit Wissenschaft in Natur und Gesellschaft sowie mit Recht und Ordnung in der Politik und Staatsführung) macht sich hingegen die Sache des Universalismus im Menschen in Form von „Wissen“, „Nutzen“ und „Zweckmäßigkeit“ zu eigen. Und noch einmal: Die Sache des Universalismus meint die Fähigkeit im Menschen, am Vorhandenen, etwa an „Kirche“ und „Staat“, Kritik zu üben. Stets ist es die Kritik gewesen, welche das Christentum in seiner Geschichte befähigt hat, etwas Anderes, mitunter das Bessere anzustreben. Im weltlichen Regiment ist es ebenfalls die Kritik, hier am wissenschaftlich und am juristisch Festgelegten und Bewahrheiteten, um mittels eines veränderbaren, immer wieder neuen Wissens, Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit zu erreichen. Mit allgemeinen Worten, es geht stets darum, die Suche nach einer besseren Welt zu vollziehen. Wenn jeweils „Glaube“ und „Wissen“ für sich das Andere durch Kritik am Vorhandenen erreichen, dann besteht, trotz der begriffsinhaltlichen Verschiedenheit, die Möglichkeit der Zusammenbindung beider Bereiche. Es sind die Partikularität und die Universalität im Menschen und die zwischen den Menschen, welche zu verschleifen sind. Gesucht wird letztendlich wiederum der Vermittler, der mittels einer allgemeinen, wesentlichen Aussage einem Zusammenbinden Inhalt und Methode zu geben vermag. Welche Person kann vermitteln? Oder konkret gefragt: Welche Aussage könnte aufgrund ihres allgemeinen Inhalts und ihres hinreichenden Begriffsumfangs geeignet sein, die Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ vermittelnd zu verbinden? 7. Das Zusammenbinden von „Glaube“ und „Wissen“. Die „Transzendenz“ als Methode Den bisherigen Überlegungen folgend kommt als begrifflich vermittelnde Klammer für die Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ der Universalismus im Menschen in Frage. Liegt mit dem Universalismus-Begriff schon so ein besonderes, belastbares Begriffsgebilde vor, dass das Vermögen eines Zusammenbindens der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ besitzt? Tatsächlich gab es Überlegungen des im vorigen Jahr verstorbenen Historikers und Philosophen Ernst Nolte, die auf den Universalismus-Begriff hinweisen und zwar in einer definierten, umfassenden und doch spezifischen (philosophischen) Version, die er im Begriff „Transzendenz“ sah.
396 Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Was besagt „Transzendenz“? „Transzendenz“ wird durch Nolte als Prozess (als Werden) definiert. So aufgefasst wird dessen Transzendenz-Begriff für unser Problem, Nichtkompatibles koordinieren zu wollen, zu einem tragenden Inhalt, nebst zu einer anwendbaren Methode. Nolte hatte mit seinem Transzendenz-Begriff allerdings Anderes im Sinn. In einem kurzen Briefwechsel (U.N.) mit ihm und bei gelegentlichen Telefonaten während seiner letzten Lebensjahre konnte besprochen werden, wie „Transzendenz“ zu verstehen ist. Dabei stellte sich in dem Gedankenaustausch heraus, dass Nolte im Zusammenhang mit Transzendenz vor allem darüber nachgedacht hatte, wie man Geschichte mittels der Philosophie bearbeitbar machen könnte. Es ging ihm um eine Philosophie, im Besonderen um einen Begriff für die Interpretation von Geschichte. Er fragte danach, wie es dem Fakt, nämlich dem der Transzendenz im Menschen im Verlaufe der Weltgeschichte und innerhalb der verschiedensten Gesellschaftsentwürfe ergangen worden war. Der Schreiber dieses Aufsatzes (U.N.) hatte hingegen Erkenntnistheoretisches im Sinn und benötigte konkret einen allgemeinsten Begriff zum Zusammenbinden von nichtkompatiblen Bereichen. Gegenüber Ernst Nolte wurde angemerkt, dass sein Transzendenz-Begriff wohl nicht weiter erklärbar zu sein scheint. So wurde von mir gefragt: „Welchen übergeordneten Begriff sollte man denn wählen, um „Transzendenz“ erklären zu können?“ Wie gesagt, diese Frage musste gestellt werden, da im Anschluss meiner damaligen Überlegungen über das Verhältnis von „Staat“ und „Kirche“ oder über das von „Gesetz“ und „Gnade“ (siehe die vorherigen Kapitel), mir eine Zusammenbindung von „Glaube“ und „Wissen“ vorschwebte, ohne, dass ich bereits einen Ansatz für ein Vermitteln erkannte. Wenn, etwa erkenntnistheoretisch, auf den Begriff „Glaube“ zu reflektieren wäre, dann müsste man über diesen Begriff hinaus letztlich auf etwas Unableitbares, ja noch Ursprünglicheres stoßen. Im Fall „Glaube“ könne das beispielsweise „Gott“ sein. Doch, mit welchem adäquaten philosophisch-erkenntnistheoretischen oder geschichtswissenschaftlichen Begriff sollten derartige Überlegungen, „Glaube“ hier und „Gott“ da, ausgeführt werden? Wir kamen in dem genannten Gedankenaustausch letztendlich nicht umhin, „Transzendenz“ inhaltlich durch zwei Varianten dargestellt zu sehen. Nolte beschrieb (erstens) die Variante, welche eine nur auf den Menschen bezogene, also eine eingeschränkte Transzendenz berücksichtigte und dann aber folgend (zweitens), nahmen wir die umfänglichere Variante, die uneingeschränkte, die auf das
Weltganze bezogene Transzendenz in die Überlegungen hinein. Mit der zweiten Variante, der uneingeschränkten Transzendenz, ist eine „Freiheit des Denkens zum Unendlichen“ gemeint. Kurzum, Transzendenz verzweigt sich zu einer eingeschränkten Transzendenz, das ist die auf den Menschen bezogene und die begrifflich der anderen Variante, nämlich der uneingeschränkten Transzendenz, untergeordnet ist. Wer es bildlich mag, könnte diese zweite, die einschränkungslose Transzendenz als das „Weltauge“ oder als das „Auge Gottes“ bezeichnen. Der eingeschränkte Transzendenz-Begriff ist (nach Nolte) wie folgt definiert: Transzendenz ist: rückgewendeter begegnenlassender Ausgriff zum Ganzen, (in: E. Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 518). Dabei sind Rückgewendetsein (oder Selbstreflexion) und Begegnen mit Anderem, eben die auf den Menschen bezogenen Einschränkungen des Begriffs „Transzendenz“. So gesehen kann man auch von der Transzendenz im Menschen oder überhaupt vom „transzendentalen Menschen“ sprechen. Noltes Definition der eingeschränkten Transzendenz wird hier benutzt, um die Ablaufstruktur des Zusammenbindens von nichtkompatiblen Bereichen zu vollziehen. So jedenfalls wird die Definition Noltes nun fortlaufend von mir verwendet. Das „Begegnenlassen“ in der Definition weist auf ein dem Eigenen Gegenüberstehendes hin. Das Gegenüberstehende (das Andere; der andere Mensch) hat ebenfalls eine durch Rückwendung erzielte Reife des Eigenen (einen Bestand der eigenen Gegenständlichkeit) in sich. Das Zusammenbinden lässt sich somit als einen reversiblen Prozess des Austauschs von Informationen vorstellen. Weil es durchaus denkbar wäre, dass diese auf den Menschen bezogenen Einschränkungen des Begriffs fortfallen könnten, käme man zur zweiten, umfassendsten Variante. Es würde sich ein ins Unendliche geöffnetes „Wesen“ oder etwas sich grundsätzlich Auftuendes, eben die uneingeschränkte Transzendenz, ergeben. Das Folgende ist hierbei wichtig (Nolte): „Die uneingeschränkte Transzendenz sieht zwar auch „Anderes“ sich gegenüber, bezieht aber dieses Andere nicht bestimmend auf sich zurück.“ Bezeichnet wird mit „uneingeschränkter Transzendenz“, wie erkennbar, ein Ur-Zustand, welchen der Mensch (der kantischen Erkennensauffassung gemäß) nicht begründen kann. Dieser Ur-Zustand soll aber Anderes sich gegenüber sehen. Das ist das Problem! Um die uneingeschränkte Transzendenz dennoch in das Verhältnis zu einem realen Anderen (konkret zum transzendentalen Menschen) zu setzen, müssen wir die Sprache verändern und so spre-
397 chen, Als-Ob die uneingeschränkte Transzendenz in Wirklichkeit eingeschränkt-transzendental sprechbar wäre (siehe nochmals das Kant-Zitat auf Seite 388). Ist das noch verständlich? Noch einmal! Wenn die uneingeschränkte Transzendenz „Anderes“ sich gegenüber sieht, dann ist das Andere der transzendentale Mensch. Der Mensch ist es, der die Beschreibung, das der uneingeschränkten Transzendenz gegenüberstehende Andere, zu übernehmen hat. Wer auch sonst?! Das Beschreiben muss mit Mitteln erfolgen, die nicht zu der üblichen, eingeschränkten transzendentalen Welt der Menschen gehören. Da das Mitgeteilte aber für Menschen verstehbar (fasslich und anschaulich) sein muss, gibt es letztlich nur die Möglichkeit, in einem „Als-Ob“ (in einem „Wie-Wenn“) zu sprechen, d.h. Als-Ob die uneingeschränkte Transzendenz das Andere (den Menschen) sich gegenüber sieht. Über das, was hierbei in der Sprache des „Als-Ob“ geäußert wird, muss man, um verstehbar zu bleiben, sich verständigen. Die Bibel scheint mir ein Produkt der Verständigung eines mit sich selbst oder mehrerer Menschen darüber zu sein, was als „Gottes Wort“ letztendlich aufgeschrieben worden war. Das scheint mir im Übrigen auch der tiefere Sinn dafür zu sein, die Heilige Schrift immer wieder erforschend auslegen zu können und Kritik zu üben. Bedenken wir, Luther war Schriftausleger. Einer solchen Als-Ob-Sprache folgend stünde der uneingeschränkten Transzendenz tatsächlich das real Andere, eben der transzendentale Mensch, gegenüber. Die uneingeschränkte Transzendenz besitzt somit eine eigene, in „Wie-Wenn“, in „Als-Ob“ gesprochene Form von Wirklichkeit. Diese (vom Menschen so gesprochene) „Quasi-Wirklichkeit“ sieht dann auch Anderes sich gegenüber. Der transzendentale Urzustand (die uneingeschränkte Transzendenz) hat eine Form von Wirklichkeit, die so beschaffen ist, Wie-Wenn in ihr die Möglichkeit existiert, „Gottes Wort“ dem Menschen anschaulich und fasslich, eben in der Form der Heiligen Schrift, zu übermitteln. Ein solcher Mensch, einen den die uneingeschränkte Transzendenz sich gegenüber sieht, kann (zum einen) aktiv, produktiv nützlich und (zum anderen) rezeptiv, meditativ über die uneingeschränkte Transzendenz sprachlich-anschaulich befinden. Die Ergebnisse dabei sind dann genau die „Wie-Wenn-Aussagen“ (Aussagesätze), über die sich die Menschen zu verständigen haben. Der Ur-Zustand ist als grundsätzlich und unverändert angelegt. Anderes sich diesem gegenüber sehend, kann nur im menschlichen Sprachraum behandelt werden.
Die Rückkoppelung von Anderem auf das Uneingeschränkte ist prinzipiell ausgeschlossen. Nichts kann Letzteres bestimmen. Es ist das Letzte. Ein beeinflussendes Verhältnis, weil Irreversibilität herrscht, gibt es nicht. Die uneingeschränkte Transzendenz stellt gleichsam das „Große Weltauge“ dar. „Weltauge“ ist ein Beispiel für eine Wie-Wenn-Veranschaulichung des Uneingeschränkten. Nolte: „Ob man sich eine solche Uneingeschränktheit als Pluralität oder als Unität vorstellt – als „Engel“ oder als „Gott“ – kann nicht ein Thema der Historiographie sein, sondern nur eines der Theologie oder Kosmologie, welchem der Historiker als solcher nicht näher treten kann. Seine letzte Frage ist zugleich seine letzte Thematik“.16 Und weiter, im gleichen Brief: „Die einschränkungslose Transzendenz darf nicht als schöpferische Anschauung im Sinne einer unermesslichen Tradition verstanden werden, d.h. als Prozess, der die Dinge nicht bloß erkennt, sondern auch hervor bringt, denn dann könnte man an dem Begriff „Transzendenz“ (wenn er ausschließlich „einschränkungslos“ gedacht wird) nicht festhalten.“ Eine solche Anschauung vom Entstehen und Vergehen (oder vom Zusammenbinden nichtkompatibler Bereiche – U.N.) habe vielmehr die menschliche Transzendenz (die eingeschränkte) zu bemühen. In diesen Bemühungen findet sich im Übrigen auch der Ursprung der Philosophie des „Als-Ob“. Ernst Nolte aber weiter: „Solange Transzendenz als menschliches und damit als eingeschränktes „Überschreiten“ von Grenzen verstanden wird, braucht die Frage nach der uneingeschränkten Transzendenz nicht gestellt zu werden. Der Begriff „uneingeschränkte Transzendenz“ kann als „Ausblick“ zwar auch von Historikern kombiniert werden, (in der Form des „Als-Ob“ – U.N.) aber er ist in dem Bereich, für den er zuständig ist, von ihm als Geschichtsdenker nicht fortzuentwickeln. Dieser Ausblick muss für ihn die Grenze („das Letzte“) sein.“ Es wäre für den Historiker tatsächlich ein Ausblick, wenn „Gott“, „Realität“ und folglich „uneingeschränkte Transzendenz“ in einer Behandlung durchdekliniert und verglichen werden könnten. Gott sah sich zwar dem Menschen Moses gegenüber, als er ihm die Gesetzestafeln überreichte, doch gab es nichts Eigentliches, schon gar nichts Bestimmendes, das von Moses auf Gott zurück reichte. Halten wir fest: Uneingeschränkte Transzendenz sieht Anderes sich gegenüber, etwa den denkenden Menschen, in welchem das Moment der eingeschränkten Transzendenz seine Heimstatt hat. Der transzendentale
398 Mensch kann Möglichkeiten der uneingeschränkten Transzendenz jenen des Reichs Gottes denken und sich darüber in Form einer „Als-Ob“-Sprache artikulieren. Was „Gott“ an sich ist, kann der Mensch nicht wissen. Alles, was er über Gott mitteilt, erfolgt in der menschlich-anschaulichen „Wie-Wenn“-Sprache seiner Erzählungen und Mitteilungen. So konnte Bonhoeffer in seiner Habilitationsschrift, 1929, schreiben: „Einen Gott, den „es gibt“, gibt es nicht“.17 8. „Realität“ als uneingeschränkte Transzendenz aufgefasst Überraschend ist und darüber kann man sich gar nicht genug wundern, dass der Wissenschaftler, wenn er „Realität“ als „uneingeschränkte Transzendenz“ bedenkt, zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. Es gilt hier zu beachten, das mit „Realität“ nicht die „objektive Realität“ des Materialismus, eine primär und unabhängig vom Menschen existierende Erscheinungsform gemeint ist. Auch „Realität“ außerhalb der Religion (als eine Form der uneingeschränkten Transzendenz aufgefasst) sieht sich Anderem, eben den (denkenden) transzendentalen Menschen gegenüber. Der Mensch kann aus einer solchen „Realität“ im mechanistischen Sinne nichts entnehmen, abtrennen, isolieren, teilen. Die Verhältnisse sind derart, dass für „Realität“, einschränkungslos gedacht, Nichts, d.h. nichts mechanistisch Traditionelles zu passen scheint. Die mit „Realität“ Befassten sind darin überein gekommen, hierfür eine „Wie-Wenn“-Sprache zu entwickeln und zu nutzen. Diese Sprache ist der (uneingeschränkten) „Realität“ so angemessen, dass der Mensch damit Nützliches vollbringen kann. Mit der „Wie-Wenn“-Sprache tritt er „Realität“ gegenüber und schreibt ihr damit Gedachtes vor. Der dabei gewonnene Nutzen zeigt, dass (der uneingeschränkten) „Realität“ eine solche „Wie-Wenn“Sprache „verständlich“ ist. Die Möglichkeit ist in ihr dafür vorhanden. Mehr und mehr wird ersichtlich, dass das, was über „Gott“, als eine Form uneingeschränkter Transzendenz ausgeführt wurde, auch für „Realität“ gilt. „Realität“ und das ist hierbei stets zu bedenken, als eine weitere Form der uneingeschränkten Transzendenz gedacht. Der Physiker Werner Heisenberg berichtet darüber, wie er in Bereiche vorgestoßen war, in welchen für gewonnene Erkenntnisse eine ganz neue Sprache benötigt wurde.18 Er stieß auf das oben behandelte eigenartige „Verhältnis“ zwischen uneingeschränkter und auf die auf den Menschen bezogene Transzendenz, indem die Realität von (uneingeschränkter) „Realität“ zu unterscheiden war. Heisenberg bemerkt in etwa: Solange niemand den Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens (die
Realität) bestimmt, solange hat das Teilchen gar nicht diese Parameter. Warum sollte es auch? Die uneingeschränkte „Realität“ sieht zwar Anderes, etwa die Realität von Teilchen mit Ort und Geschwindigkeit sich gegenüber. Aber, Teilchen mit Ort und Geschwindigkeit werden von der einschränkungslosen Realität nicht auf sich selbst zurück bezogen. „Realität“ hat somit eine eigene Form von Wirklichkeit, die so beschaffen ist, Wie-Wenn in ihr die Möglichkeit existiert, Teilchen als Moment der Realität nach Ort und Geschwindigkeit zu bestimmen. Heisenberg führt auch Fälle dafür an, wie hergebrachte Methoden und somit die traditionelle Sprache im Elementarteilchenbereich versagte. Wenn man im Bereich der Elementarteilchen etwas teilen will, muss soviel Energie aufgebracht werden, dass der Energiegehalt in den Produkten der Teilung größer gegenüber jenem Zustand, wie er im Ausgangsprodukt zuvor vorhanden war, sein würde. Der klassische Vorgang des Teilens verbietet sich somit als Methode im Elementarteilchenbereich. Gefragt wurde der Physiker auch: Wie findet (lokalisiert) man ein Teilchen (etwa ein Elektron)? Wenn man ein Teilchen genau lokalisieren will, benötigt man Wellen, deren Wellenlänge mindestens so klein ist, wie das Teilchen selbst. Besser ist, sie sind noch erheblich kleiner. Um ein Elektron zu finden, brauchen wir also Photonen sehr kurzer Wellenlänge. Die Wellenlänge ist aber umgekehrt proportional zum Impuls. Mit kurzer Wellenlänge geht also ein großer Impuls einher. Der große Impuls wirft aber das Elektron aus seiner Bahn. Er verscheucht es. Geht man sanfter vor und benutzt langwellige Photonen, so kann es wieder nicht lokalisiert werden (d.h. nicht gesehen werden). Werner Heisenberg ging dieser Erscheinung gründlich nach: Er kam zu der Erkenntnis, dass, den Ort eines Teilchens genau zu kennen, heißt, jede Information über seinen Impuls zu verlieren, und dass umgekehrt, jeder Versuch, den Impuls genau zu messen, zur Folge hat, dass man keine Aussage über den Ort mehr machen kann. Je genauer man eine dieser Größen bestimmt, desto ungenauer ist der Wert, den man von der anderen Größe erhält. Der Physiker gab dieser Beziehung den Begriff „Unbestimmtheitsrelation“. Das Benutzen der traditionellen Ansätze stieß, wiederum auf Grenzen. Heisenberg musste in den Bereich der imaginären Zahlen gehen (also solche, die nicht real sind und nur in der Vorstellung bestehen), um die Realität gegenüber von „Realität“ verstehen zu können. Die Beschreibung der Welt erfolgte mittels abstrakter Größen, die nicht zur (mechanistisch-anschaulichen) Welt gehören. Ist das nicht sonderbar?
399 Ab hier begann ein neues Programm, da die Grenze beim Benutzen von Wörtern der klassischen Wissenschaftssprache erreicht war. Da unsere Sprache jedoch vom Charakter her fasslich und anschaulich ist, müsse man sich, so Heisenberg, Bilder machen. Solche Bilder wären dann bereits die „Wie-Wenn“Form der Wirklichkeit. Das bis dato bestehende Postulat des Erkenntnistheoretikers Wittgenstein müsse somit neu bedacht werden, denn es lautet: „Darüber, worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen“. Heisenberg setzte dagegen: „Darüber, worüber man nicht sprechen kann, muss man sich verständigen“. Wahrscheinlich muss man sich Erzählungen ausdenken oder Bilder ersinnen und sich über die Bedeutung von Anschaulichkeit und Fasslichkeit darin, in Bezug auf (die uneingeschränkte) „Realität“, austauschen. An Bonhoeffers „Gott“ anlehnend lässt sich für Heisenbergs „Realität“ sagen: „Realität, die „es gibt“, gibt es nicht“. Und schließlich sei noch die Symmetrie der Aussagen, zu (da) „Gott“ und (hier) „Realität“ aufgeschrieben: Der transzendentale Urzustand (die uneingeschränkte Transzendenz) hat eine weitere Form von Wirklichkeit, die so beschaffen ist, Wie-Wenn in ihr die Möglichkeit existiert, „Realität“ dem Menschen anschaulich und fasslich, eben in der Form von „Bildern“ (über die wir uns zu verständigen haben) zu vermitteln. Wir können resümieren, das, was für den Bereich „Glaube“ ausgesagt wurde, „symmetriert“ sich mit dem Dargelegten im Bereich „Wissen“. Gottes Wort versteht sich als „Wie-Wenn“-Sprache solcher Menschen, die es einst aufgeschrieben haben. Es wird auf diese Weise verstehbar. Die Folge ist, dass damit Glaubensannahmen und –wahrheiten in der „Wie-Wenn“-Form erzeugt werden. Zu fragen, ob denn Gott tatsächlich, so wie in der Heiligen Schrift aufgeschrieben, gesprochen hat, verbietet sich. So hatte es sich bereits für Bonhoeffer verboten, danach zu fragen: Gibt es einen (den) Gott wirklich? Seine Antwort fiel entsprechend aus. Damit sich Menschen nach dem Verlassen des Paradieses in der (realen) Wirklichkeit als Gerechte empfinden und vernünftig existieren können, übergibt Gott Moses Gesetzestafeln, die es zu befolgen gilt. Wie aber lässt sich das Zusammenbinden zweier nichtkompatibler Bereiche, nämlich hier die uneingeschränkte Transzendenz (Gott) und da die auf den Menschen (Moses) bezogene Transzendenz vorstellen?
Fangen wir also wieder damit an: Gott sieht Anderes sich gegenüber. Das Andere wäre hier der (transzendentale) Moses. Gott wiederum ist seine eigene, durch den Menschen nicht fassbare Uneingeschränktheit, die aber so ist, „Wie-Wenn“ in ihr die Möglichkeit besteht, dass die Moses Gesetzestafeln aneigenbar wären. Mittels der Offenbarung und dem Auslegen der Heiligen Schrift (Gottes Wort) wird der Glaubende eine in die Tiefe gehende (religiöse) Einsicht erhalten. Er gewinnt in der transzendentalen Auseinandersetzung für sich Geborgenheit. „Wahrheit“ ist hierbei, dass Gott (in Form der uneingeschränkten Transzendenz) Anderes sich gegenüber sieht und dabei offensichtlich die Möglichkeit existiert, dass der Mensch zu diesem „Großen Thema“ Grundsätzliches aufzuschreiben vermag, das dann als Gottes Wort (die Heilige Schrift, die Bibel) gilt. Darüber hatten sich die Altforderen offensichtlich verständigt. „Wahrheit“ ist für den Glaubenden allein im „Göttlichen Wort“, aufgeschrieben als Menschenwort, zu finden. Mit der Auslegung der Heiligen Schrift tritt auch hier die „Kritik“ als Methode auf. Berufene (Gelehrte) und wohl auch Nichtberufene (Laien) können an den ausgelegten biblischen Texten Kritik üben. Luther meinte, dass sich Jeder kritisch-methodisch üben könne, im Besonderen in Oration (in der Rede, im Gebet), in Meditation (im Nachdenken, Nachsinnen) und in Tentation (im Prüfen; Untersuchen) und damit auch im Anfechten dessen, was andere Schriftausleger anbieten.19 Insgesamt werden (religiöse) „Einsicht“ gewinnende Aussagen durch Lesen, Beten, Reden, Nachsinnen, Nachdenken, Vergleichen, Anerkennen und wieder Anfechten teils verworfen und teils festgehalten. So entsteht immer wieder erneut konkretes Einsichtwissen. Das Einsichtwissen ist ähnlich dem Voraussichtwissen zeitunterworfen. Um für den Bereich „Glaube“, d.h. für die hier geschilderten Zusammenhänge Struktur und Inhalt zu markieren, sei erneut der Begriff „Transzendenz“, eben die auf den Menschen bezogene, bemüht. Der Mensch kann soviel Einsichtwissen anhäufen, wie er will, er wird nicht abschließend ergründen, was die uneingeschränkte, eben vermittlungslose Transzendenz (das Reich Gottes“) ist. Der Wissenschaftler kann soviel Voraussichtwissen produzieren, wie es ihm denn nur möglich ist, er wird nicht abschließend sagen können, was (uneingeschränkte) „Realität“ umfänglich ist. Im Gegenteil und das sehr zum Vorteil der Denkenden, Suchenden, Nachsinnenden, Lehrenden, Erziehenden, es werden sich durch das Verneinen der alten Aussagen mit dem Wissen über Einsichten und Voraussichten neue Felder auftuen. Aus methodischer Sicht bedeutet die christliche Frohe Botschaft, dass sich damit eine im Menschen angelegte Transzendenz auf tut. Die Trans-
400 zendenz im glaubenden Menschen lässt ihn unter Anwendung der kritisch-einsichtgewinnenden Methode bei der Bibelarbeit oder überhaupt in diesem Bereich mitunter Besseres in den Vorblick nehmen. Das geschieht wiederum über Fortschritte und Rückschritte. Ob aber mit der Überwindung des Todes schließlich das ganz Andere, sich etwa das „Paradies“ auf tut, bleibt unbestimmt. Denn, die uneingeschränkte Transzendenz, hier Gott, bezieht Anderes (etwa das Einsichtwissen von Glaubenden) nicht bestimmend auf sich zurück. Der Glaube als Heilsnotwendigkeit sieht zumindest eine solche Grenzüberschreitung, vom Leben hinüber zum ewigen Leben, in der Form eines „Als-Ob“-Denkens und -Sprechens mit vor. Mehr lässt sich über eine solche Richtung Ausschau haltend nicht sagen. Gibt es für den Glaubenden eine seinen Tod überwindende Entsprechung? Oder beginnt von hier ab das „Große Schweigen“. Eben das bleibt unbestimmt. Und doch, wenn bedacht wird, dass der glaubende Mensch mit seinem transzendentalen Bewusstsein in der christlichen Gemeinschaft „Kritik“ zu üben vermag, dann lebt er in einer recht passablen Welt. In ihr ist es möglich, dass die christliche Wahrheit als Einsichtwissen Prozesse auslöst, die sich wiederum gegen Partikularität und gegen lieb Gewordenes wenden können. Das Ergebnis kann „Glaube“ stabilisieren. Er kann aber auch destabilisiert werden. 9. Das Einsicht-Voraussicht-System In einer Übersicht (Abb. 5) (linke Kolumne) ist das zusammengestellt, was eingeschränkte Transzendenz im Menschen über Glaubensfragen im Allgemeinen und über Einsicht im Besonderen erbringen kann. Die andere Kolumne des Systems (rechts) zeigt in symmetrischer Gegenüberstellung analoge Inhalte über Voraussicht und über Wissensfragen, die sich in einer Art komplementärer Umkehrung zur linken Textsäule befinden. (Auf die Kombination, d.h. auf die Zusammenbindung der hier behandelten Bereiche (Säulen) „Glaube“ und „Wissen“, soll weiter unten noch ausgeführt werden.) Der diese Texte Schreibende (U.N.) hat eine naturwissenschaftliche Bildung und Erziehung fremdund selbstorganisiert genossen und erarbeitet. Es zeigt sich in meinem wissenschaftlichen Tun die Neigung, dass in Form von Begriffen und Aussagen angehäuftes Wissen zu ordnen und zu systematisieren ist. So wird folgend versucht, die in den Kapiteln zuvor beschriebenen Lebenshaltungen und Weltdeutungen des transzendentalen Menschen bezüglich der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ zu sortieren, gegenüber zu stellen und in einem System zu erfassen. Die Übersicht Abb. 5, fasst das Resultat dieser Bemühungen zusammen.
Weit davon entfernt in dieser Übersicht etwa die Eindeutigkeit eines „Periodensystems der Elemente“ oder das Niveau einer bestimmungsbuchreifen „Systematik des Pflanzen- und Tierreichs“ erreichen zu wollen, wird von mir dennoch die Meinung vertreten, dass sich da innerhalb der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ und beim Begegnenlassen beider Systeme doch Ähnlichkeiten und Symmetrien aufbauen, d.h., dass hier durchaus Sinnvolles benannt, verglichen und verschleift werden kann. Das „Etwas“ wird in der Vergleichbarkeit der horizontalen (waagerechten) Aussageebenen der beiden vertikalen (senkrechten) Anordnungen in Form der beiden Text-Säulen (Kolumnen) ersichtlich. Die Kolumnen (linke und rechte Säule) ergeben sich somit inhaltlich, von oben nach unten, durch die (vertikale) Setzung von Oberbegriffen, solchen von Transzendenz; Erkenntnis; Methode; Moral und Ethik und Standpunkte. Jede Kolumne, „Glaube“ und „Wissen“, ist für sich ein eigenes Begriffs- und Aussagesystem. Für den Aufbau der beiden Systeme gilt Ernst Noltes Transzendenzdefinition: rückgewendeter, begegnenlassender Ausgriff zum Ganzen. D.h., jede Kolumne als System, ob „Glaube“ oder „Wissen“ optimiert und minimiert sich (reift oder bleibt unreif) mittels der transzendentalen Tätigkeit des jeweiligen aktiven Menschen. Ein Tun des Subjekts bedeutet, dass dabei fortlaufend Informationen in das System „Mensch“ hinein genommen, d.h. „rückbezogen“ werden. Informationen, die rückbezogen (reflexiv) werden, bauen das Innere des Menschsein auf. Mit solchen unterschiedlichen Positionen über Lebenshaltungen und Weltdeutungen sowie über Erkennensweisen und deren Methoden „begegnen“ sich Menschen mit dem Äußeren. Sie vollziehen einen Ausgriff zum Ganzen. Ethik-Aussagen positionieren sich ebenfalls in den Systemen „Glaube“ und „Wissen“. Der aktive, denkende Mensch kann vermittels seiner in ihm wirkenden Transzendenz somit zugleich über ein „Glaube“- und ein „Wissen“-System verfügen. Wie ein jedes der beiden Systeme in Symmetrie zum anderen steht, wird vermittels der genannten Begriffe und Aussagen erfahrbar, wie es aufgebaut ist, siehe wiederum Abb. 5. Ist ein System, mit seinem spezifischen Inhalt und einer deutlichen Abgrenzung (über den Systemrand) zum Außen, einmal installiert, dann ist es relativ stabil, kaum (grundsätzlich) veränderbar. Freilich können in ihm einst kultivierte Felder (vielleicht vorübergehend) unbearbeitet bleiben, einst zu Tage Befördertes wieder zugeschüttet worden sein, doch das Wesen des Systems bleibt erhalten. Störungen von Außen laufen normalerweise ins Leere. „Glaube“ und „Wissen“ können trotz ihrer Verschiedenheit in einem und demselben Menschen eine Heimstatt finden.
401 Übersicht, Abb. 5 System von Lebenshaltungen und Weltdeutungen am Beispiel der zueinander nichtkompatiblen Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ Glaube
Wissen Das Transzendentale
Gott „Gott“, den „es gibt“, gibt es nicht das Wort Gottes, von Menschen aufgeschrieben
Realität „Realität“, die „es gibt“, gibt es nicht. die Realität (etwa Naturgesetze), von Menschen vorgeschrieben
Die Erkenntnis Einsicht (religiöse) Kontemplation, (religiöses) Versunkensein des Subjekts in sein Inneres Einsichtwissen (religiöses) (einsichtwissenschaftliches Wissen) (der Einsicht-)Schriftenausleger (Hermeneutiker) Offenbarungswissen
Voraussicht Voraussage von sich wiederholenden Ereignissen bei gleichen Ausgangsbedingungen Voraussichtwissen (voraussichtwissenschaftliches Wissen) der (Voraussicht-) Forscher (Wissenschaftler) Weltwissen
Die Methode Ausrichtung auf das Ganze; größerer Umfang, das Objekt ist umfassender als das Subjekt, ungenaue, verfließende Ränder des Objekts; Übergang zum nicht Bewahrheiteten und nicht mehr Verstehbaren; Ergebnis: Glaubensannahmen und Glaubenswahrheiten. Das sich Einstellen von Anderem und (ev.) Besserem durch mehr Verständnis und innigere Heilsgewissheit. Das Mittel: die anschaulich-fassliche Erzählung; Empfindung und Vermittlung von Weisheit, (bildlich gesprochen: die Geschichte hinter der Geschichte; die Rückseite des Spiegels). Was verstanden werden will, muss erzählbar sein. Intelligibilität (nicht-sinnliche Welt, nur durch den Intellekt wahrnehmbar); Religion, die Frohe Botschaft der Propheten. Theo- oder kosmozentrisches Denken Kritischer Hermeneutiker Prophet als Vermittler
Ausrichtung auf das Detail; größere Genauigkeit, das Subjekt zerteilt das Objekt, definierte Objektgrenzen (-ränder), Scharfe Abgrenzung des Erfassten und Bewahrheiteten gegen das nicht mehr Erfasste; Ergebnis: Wissensannahmen und Wissenswahrheiten. Das Ziel: Anderes und (ev.) Besseres (Nützlicheres) durch mehr Wissen und Forschen. Das Mittel: die rationale Erfassung; Berechenbarkeit, Sicherheit von Wissen, (die Geschichte selbst sowie der Spiegel an sich). Was nützlich sein will, muss falsifizierbar sein. Sinnliche Welt (als solche direkt wahrnehmbar); Natürlichkeit, die kritisch-rationale Methode der Wissenschaftler. Anthropozentrisches Denken Kritischer Rationalist Wissenschaftler als Vermittler
Moral und Ethik Empfangen: rezeptiv und meditativ Ohnmacht, Demut, Geborgenheit des Subjekts, Gnade und Liebe, Christliche Vernunft.
Handeln: aktiv, produktiv-nützlich Macht, Herrschaft, Einsamkeit des Subjekts, Fortschritt und Nutzen, Säkulare Vernunft.
Standpunkte Im Anfang war das Wort. Der Religionsglaube; das ewige Leben mit Gleichheit und Harmonie.
Im Anfang war die Tat. Das Natürlichkeitswissen; das (diesseitige) Leben, mit seinen Fortschritten und Rückschritten.
402 Wohl, weil der Mensch transzendental ist, hält er die Nichtkompatibilität von Systemen (hier „Glaube“ und „Wissen“) in sich aus. Oder zutreffender, das menschliche Netzwerk ist stabil, weil es die Unterschiedlichkeit von Systemen voraussetzt. Wie so etwas funktioniert, die Prozessstruktur dafür, soll im weiteren Text dargelegt werden. Das dynamische Netzwerk „Mensch“ ist verknüpft und bildet seine Ganzheiten aber auch auf den horizontalen (waagerechten) Begriffs- und Aussageebenen, Abb. 5. Die horizontalen Ebenen, die von den verschiedenen Begriffen (von denen der linken und der rechten Säule) ausgebildet werden, tragen trotz der Unterschiedlichkeit wiederum Gleiches in sich. So können diese Absätze auch als eine homologe Stufe bezeichnet werden, die die linke wie die rechte Kolumnen-Ebene zugleich strukturiert. Die Begriffe einer jeweiligen Ebene (links und rechts) wie Gott und Realität; Einsicht und Voraussicht; das Ganze und das Detail (Teil und Ganzes) benennen begrifflich zwar ihren artbildenden Unterschied („Gott“ ist hier nicht „Realität“ und umgekehrt), stimmen aber insoweit überein, als dass sie stets auf einen jeweils gleichen Oberbegriff rückführbar sind. „Gott“ und „Realität“ besitzen (homolog) den Oberbegriff (uneingeschränkte) Transzendenz; bei „Einsicht“ und „Voraussicht“ steht die Frage darüber, wie die Aneignung von Informationen geschehen soll; „das Ganze“ und „das Detail“ sieht die Einheit von Struktur und Methode als Oberbegriff. Das hier vorgeschlagene System von Lebenshaltungen und Weltdeutungen am Beispiel der zueinander nichtkompatiblen Systeme „Glaube“ und „Wissen“ ist, wie in der Übersicht, Abb. 5, dargestellt, bereits das Bild, oder es sind die Bilder einer Zusammenbindung von Verschiedenem (von Nichtkompatiblem). Die „Bilder“ müssen nun zum Laufen gebracht werden, quasi als eine „Filmschleife“ sind die Dynamik und die Prozessstruktur des Zusammenbindens nachzuzeichnen. Es ist der sich durch von Fremd und der sich durch von Selbst organisierende Mensch, welcher in sich die Transzendenz trägt, welche „Glaube“ und „Wissen“ zu vermitteln vermag. Der transzendentale Mensch tritt als Vermittler auf, sich Selbst oder nach Außen, dem „Anderen“ etwas vermittelnd. Das Zusammenbinden ist dann die Erscheinungsform des Vermittelns. „Transzendenz“ im Menschen ist der Oberbegriff. Die Tätigkeiten des Menschen lassen die Transzendenz im Menschen sich ausbilden. Vorstellbar wäre ein aktiver Mensch, der situationsgemäß, auf dem ersten Blick, Ebenen der rechten und der linken Kolumne durchwandert. Auf dem zweiten Blick sieht es dann aber so aus, wie wenn der Mensch, indem er wandert, die Ebenen mit diesem Tun erst erschafft.
Wir meinen also, dass der Mensch mehrere Welten lebt. Er kann einmal mehr im Bereich „Wissen“, dann wieder mehr im Bereich „Glauben“ existieren. Der Wille, sich nachdenkend im Rahmen „Glaube“ und „Wissen“ zu bewegen, können Potenziale im Menschen sein, die zur Auslösung drängen und die durch mitunter kleinste Ursachen eine tatsächliche Veranlassung erfahren. Potenziale entstehen durch Konflikte, welche durch die Versuche der Bewältigung des Kompatiblen und des Nichtkompatiblen, des Wissens und des Nichtwissens, der Einsicht und der Voraussicht, der Aktivität und der Passivität, der uneingeschränkten und der eingeschränkten Transzendenz, der Partikularität und der Universalität usw. im Menschen gebildet werden. Wahrscheinlich sind es, wie erwähnt, die einfachsten Impulse, Signale, Faktoren, welche die konkreten Veranlassungen und Auslösungen durch einen simplen „Anstoß“ vollziehen lassen. Über solche Anstöße, die in der „großen Energiegleichung“ des denkenden und handelnden Systems gar nicht vorkommen, organisiert der Mensch sich selbst „Ebenen“ und „Bahnen“, die ihn sich in dem einen oder anderen Bereich wieder finden lassen. Solche kleinsten Ursachen sind die „primären“ Vermittler beim Zusammenbinden solcher Bereiche, wie die von „Glaube“ und „Wissen“. Ergebnisse der Auslösungen können Verstärkungen sein, die die großen umfassenden Wirkungen (makroskopisch) zu Tage treten lassen. An dieser Stelle sei nochmals darauf hinzuweisen, dass das Zusammenbinden nichtkompatibler Bereiche fernab von den Vorstellungen der linearen Kausalketten der Mechanik vonstatten gehen, d.h. fernab einer Welt der Mechanizität und des Mechanismus, welche ja punktual Ergebnisse im Voraus aufgrund von zuvor definierter Ursachen mitteilen können. Das Fernab von der linearen Ursache-Wirkung-Beziehung der Mechanik bedeutet im Falle des aufeinander Einwirkens oder des begegnenlassenden Ausgriffs auf das Andere, innerhalb der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“, dass mit Glaube kein (wissenschaftliches) Wissen, kein Voraussichtwissen errungen werden kann. Umgekehrt ist es ebenso. Oben wurde im Text bereits darauf verwiesen, dass mit dem Evangelium kein Staat regiert werden kann. Anders gesagt, mit „Glaube“ und „Einsicht“ lässt sich ursächlich alles das, was auf der rechten Kolumne (Abb. 5) zum Gegenstand und zum Wesen von Wissen oder zur Voraussicht und zum Voraussichtwissen gesagt wurde, nicht bestimmen und nicht realisieren. Durch „Wissen“ und durch „Voraussicht“ lassen sich auch umgekehrt die Inhalte der linken Kolumne keinesfalls in einen, sagen wir, Einsichtwissen-Vorblick nehmen. Relevante Informationen im Bereich „Glaube“ können mit „wissenschaftlichem Wissen“ nicht erzielt werden.
403 Wie aber ist dann eine Erzählung über das Zusammenbinden von „Glaube“ und „Wissen“ konkret und spannend vorzutragen? Weil offensichtlich das Zusammenbinden von nichtkompatiblen Bereichen (fernab von jeder mechanistischen Vorstellung) von einer solchen hohen Komplexität ist, scheint es mir wichtig, nochmals auf Heisenberg zu verweisen, der beim wissenschaftlichen Denken und Forschen in Bereiche vorgestoßen war, in denen ein Kommunizieren in der üblichen Wissenschaftssprache unmöglich wurde. Er sprach von „Bildern“, über die man sich zu verständigen habe, um mit anderen Personen Informationen auszutauschen. Wittgenstein hingegen war der Meinung, in solchen Situationen besser im Schweigen zu verharren. Letzterer wäre, seinem erkenntnistheoretischen Kredo folgend, für eine prinzipielle Trennung der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ gewesen, ohne ein Zusammenbinden, ohne ein begegnenlassendes Ausgreifen zu neuen Qualitäten (d.h. zu anderem Ganzen). „Glaube“ und „Wissen“ im Getrenntsein hätten jeweils tatsächlich eine spezifische Einheit und Reinheit in ihrem Aussagenbereich zu verzeichnen, doch müssten zugleich erhebliche Informationsverluste (Leerstellen) bei dem Blick auf Denkmöglichkeiten des ganzen, des vollen Menschen hingenommen werden. Dieser tatsächlich vorkommende Zustand sollte in Anlehnung an Heisenbergs (mikroskopischer) Unbestimmtheit, einen ganz anderen Zustand ansprechend, als „makroskopische Unbestimmtheit“ (Leerstelle) bezeichnet werden. Wie können wir (makroskopische) Unbestimmtheiten, welche beim Begegnen von nichtkompatiblen Inhalten („Glaube“ und „Wissen“) entstehen, bearbeiten und dann erzählen? Vielleicht funktioniert es bildlich? Um einer hohen Anschaulichkeit zu genügen, sei das Bild von der Möbius-Schleife herangezogen, Abb. 6, welche ein relativ geschlossenes System abbildet, doch keinen abgeschlossenen, starren Raum darstellt. Die Schleife wird dynamisiert, indem da bildlich etwas, nämlich durch eingezeichnete Insekten, die in einem eigenartigen Ablaufen, einem Oben- und Unten-Sein, durch ihr Tun die Verschleifung (als Bild: die Schleife) ausbilden und beständig realisieren. Der Weg der Insekten ist nicht so, wie der eines Hamsters im Laufrad zu deuten. Vielmehr sagt die Möbius-Schleife aus, dass diese Lebewesen durch das Laufen die Verschleifungen selbst organisieren. Diese wird „erschaffen“. Diese Aktiven sind es, die durch ihre Bewegungen die Möbius-Schleife vorschreiben! In diesem Bild sind es emsige Tierchen, die den transzendentale Menschen symbolisieren und das Verschleifen (Zusammenbinden) von „Glaube“ und „Wissen“ zur vollen Wirklichkeit realisieren. Wenn die Schleifen der Abb. 6 auf das System, auf die Übersicht (Abb. 5), übertragen werden, dann
Abb. 6 Möbiusschleife, Holzschnitt von M.C. Escher, 1963 (Repro, Archiv Förderverein Europa Begegnungen e.V.)
entsprechen diese zuerst einmal den beiden aufgezeigten (starren) Text-Kolumnen. Die beiden Kolumnen stellen aber, in der Bewegung gesehen, die „Möbius-Verschleifungen“ dar. Wie werden aber starre Kolumnen zu (mobilen) Verschleifungen? Man muss sich vorstellen, dass die Inhalte der beiden Text-Säulen (Abb. 5) durch die symmetrierende Tätigkeit des transzendentalen Menschen erst entstehen, indem derselbe im Bereich „Wissen“ wandert, dabei Grenzen erkennt und nach einem nicht voraussagbaren Anstoß auswandert, um in den Bereich „Glaube“ einzuwandern. Im „Glaube“-Bereich wird er sich beim darin Bewegen wiederum auf „das ganz Andere“ besinnen. Kleine Ursachen lassen ihn auswandern (große Wirkung) und zwar wieder hinein in den „Wissen“Bereich usw. Dieses beschriebene transzendentale
404 Wandern des Menschen kann durch Möbius-Verschleifungen (Abb. 6) verbildlicht werden. Die Transzendenz im Menschen lässt ihn (als einen „ganzen“ Menschen) im „Glaube“- und im „Wissen“Bereich durch Denken und Tun diese Systeme gestalten und bildlich gesprochen, sich darin aufhalten. Da, wo der transzendentale Mensch über Inhalte der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ den begegnenlassenden Ausgriff zum Ganzen vollzieht, da wird das Verschleifen und Zusammenbinden realisiert. In dieser Situation entstehen dann die Potenziale, aus denen heraus kleine Ursachen, egal welchem der beiden Bereiche zugehörig, große Wirkungen, das Zusammenbinden erzielen. Es ist eben nicht zuvor bestimmbar, in welchem Bereich über Auflösungen Ergebnisse erzielt werden. Die grundsätzliche Verschiedenheit des Wesens der Bereiche „Glaube“ und „Wissen“ bleibt dabei erhalten. Die Potenziale, die zur Auslösung gelangen, werden im konkreten Tun der Politiker, der Kirchenleute oder eben anderer Personen in Erscheinung treten. In einem solchen Zuge entstehen Verhaltensweisen, die dort, wo sie sich besonders augenscheinlich zeigen, begrifflich mit „Politikerethik“ oder „Theologenrationalität“ benannt werden können. Was bleibt? Die Verschleifung oder Zusammenbindung von nichtkompatiblen Bereichen ist ein reales Problem, das der Mensch immer wieder erneut zu lösen hat. Die Möglichkeit der Herausbildung solcher Probleme und ihre Lösungsversuche können nur im freien Denken und Tun in einer „offenen Gesellschaft“ zu erwarten sein. Denjenigen, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat (Glaube und Wissen; Moral und Politik usw.) beibehaltend fordern, sollte zugestimmt werden, allerdings unter der Maßgabe, dass das Zusammenbinden von Nichtkompatiblem den übergeordneten Zustand des transzendentalen Menschseins darstellt. Literatur
Niedersen, Uwe (Hg.): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. I 1990 „Selbstorganisation und Determination; Bd. II 1991 „Der Mensch in Ordnung und Chaos“ usw. Duncker & Humblot, Berlin. 2 Reinhard, Wolfgang: Glaube und Macht – Zwei Reiche? sowie Burkhardt, Johannes: Die Bedeutung
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von Reformation und Konfessionsbildung für die Geschichte der Neuzeit, beide in diesem Buch. Hanke, Hansjochen: Die Reformation und Torgau, in diesem Buch. Erichsen, Johannes: Gesetz und Gnade. Versuch einer Bilanz, in: Luther und die Fürsten (Aufsatzband zur gleichnamigen Nationalen Sondeausstellung in Torgau), Hg. D. Syndram u.a., 2014. Niedersen, Uwe (Hg.): Komplexität – Zeit – Methode, Bd. I Halle (Saale) 1986; Bd. II „Gestalt und Selbstorganisation, Halle (Saale) 1988 usw., in: Wissenschaftliche Beiträge, Martin-Luther-Universität Halle - Wittenberg (A-Reihe). Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481–494. Kant, Immanuel: „Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ Werke, Bd. 11, S. 243. Kant, Immanuel: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, Werke (Akademie-Ausgabe) Bd. IV, S. 421. Niedersen, Uwe: e-Brief an Johannes Erichsen vom 5. Februar 2016. Erichsen, Johannes: e-Brief an Uwe Niedersen vom 16. Februar 2016. Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, Werke (Akademie-Ausgabe) Bd. IV, S. 320. Briefwechsel und Tagebücher des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, Bd. 3, S. 14 (Hg. Ludmilla Assing-Grimelli). Lexutt, Athina: Vom Kern der Nuss zur ganzen Frucht. Grundzüge der Theologie Martin Luthers und ihre Verankerung im Lutherischen Bekenntnis, in diesem Buch. Schiller, Friedrich: Die Weltweisen, in: Schillers sämtliche Werke in einem Bande, Cotta’scher Verlag Stuttgart und Tübingen 1840, S. 97/98. Busch, Wilhelm: Plisch und Plum, Werke Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. II, S. 450, Hamburg 1959. Nolte, Ernst: Brief an Uwe Niedersen vom 29. September 2015 (unveröffentlicht). Bonhoeffer, Dietrich: Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, in: Werke (17 Bde), Bd. 2, S. 112, München 1986, Hg. Hans-Richard Reuter. Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze, München 1969; Schritte über Grenzen, München 1971. Lexutt, Athina: Kernobst auf dem Markt der Möglichkeiten – Das Reformatorische in den Herausforderungen des langen 19. Jhdt., in diesem Buch.
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Autorenverzeichnis Prof. Dr. theol. Klaus Berger Landhausstraße 19, 69115 Heidelberg E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Olaf Blaschke Westfälische Wilhelms-Universität, Historisches Seminar Domplatz 20-22, D-48143 Münster E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Friedhelm Brusniak Lehrstuhlinhaber, Lehrstuhl für Musikpädagogik der Universität Würzburg Domerschulstraße 13, 97070 Würzburg E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Johannes Burkhardt Institut für Europäische Kulturgeschichte Eichleitnerstraße 30, 86159 Augsburg E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Rolf Decot Liebfrauenstraße 3, 55116 Mainz E-Mail: [email protected] Dr. Wolfgang Flügel Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Theologische Fakultät Reformationsgeschichtliche Sozietät, Raum 16 Franckeplatz 1 / Haus 30, 06110 Halle (Saale) E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Reiner Groß Zu den Mittelwiesen 5, 01731 Kreischa (Lungkwitz) Dr. Hansjochen Hancke Markt 4, 04860 Torgau Prof. D. Dr. Wolf Krötke Nordendstraße 60, 13156 Berlin E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll Technische Universität Chemnitz, Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Reichenhainer Straße 39, 09126 Chemnitz E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Langewiesche Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Tübingen, Seminar für Neuere Geschichte Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Athina Lexutt Institut für Evangelische Theologie, Kirchengeschichte Karl-Glöckner-Straße 21, D-35394 Gießen E-Mail: [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Matthias Müller Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Kunstgeschichte u. Musikwissenschaft Abt. Kunstgeschichte, Georg Forster-Gebäude Jakob Welder-Weg 12, 55128 Mainz E-Mail: [email protected] Dr. phil. habil. Uwe Niedersen Clara-Zetkin-Siedlung 9, OT Welsau, 04860 Torgau E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Werner J. Patzelt Technische Universität Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Politikwissenschaft, Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich 01062 Dresden E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Reinhard Historisches Seminar der Universität Freiburg, Mittlere und Neuere Geschichte Rempartstraße 15 KG IV, 79085 Freiburg i. Br. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Reinhold Rieger Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen Liebermeisterstraße 12, 72076 Tübingen E-Mail: [email protected] Dr. Claus Scharf Rieslingstraße 60, 55129 Mainz - Hechtsheim E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Mathias Schmoeckel Institut für Deutsche u. Rheinische Rechtsgeschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Adenauerallee 24 - 42, 53113 Bonn E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Dr. Andreas Tacke Universität Trier, FB III, Lehrstuhl Kunstgeschichte D-54286 Trier E-Mail: [email protected] Dr. Martin Treu Luther-Gesellschaft e.V., Geschäftsstelle Collegienstraße 62, 06886 Lutherstadt Wittenberg E-Mail: [email protected] Dr. Josef Ulfkotte Leharweg 7, 46282 Dorsten E-Mail: [email protected] Prof. em. Dr. Dr. h.c. theol. Eike Wolgast Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Historisches Seminar Grabengasse 3 – 5, 69117 Heidelberg E-Mail: [email protected]