Recycling Brecht: Materialwert, Nachleben, Überleben 9783957491206, 9783957491282

Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom „Materialwert“ der Kunst entgegen.

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German Pages [215] Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Recycling Brecht
Mülltrennung
Willkommen Im Pädagogium – P/re-enacting The Lehrstück
Auftritt Der Vier Agitatoren
Die Praxis Der Historisierung Zwischen Fakt Und Fiktion
Trennung Und Zusammenstoss Der Rhythmen
Film Als Theater Nach Brecht
Vom Epischen Theater Zum Science-fiction-film
Vorsätzliche Personenstandsänderung
Die ästhetik Der Lücke
Schattendramaturgie
Upcycling Brecht
Zwischen Text Und Tanz
Recycling Mick Levcik
Die Strasse
Autorinnen Und Autoren
Recommend Papers

Recycling Brecht: Materialwert, Nachleben, Überleben
 9783957491206, 9783957491282

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Recycling Brecht Materialwert, Nachleben, Überleben Herausgegeben von Günther Heeg Recherchen 136 © 2018 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Sibyll Wahrig Coverabbildung: Bertolt Brecht. © bpk / Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie / Konrad Reßler Printed in the EU ISBN 978-3-95749-120-6 eISBN 978-3-95749-128-2

Recycling Brecht Materialwert, Nachleben, Überleben Herausgegeben von Günther Heeg unter Mitarbeit von Caroline Krämer und Helena Wölfl

Recherchen 136

Inhalt

Vorwort Günther Heeg Recycling Brecht Theater exponierter Affekte als Medium einer transkulturellen Gemeinschaft

WIEDERHOLUNGEN Mülltrennung Jeanne Bindernagel und Michael von zur Mühlen im Gespräch über eine deutsche Obsession Michael Wehren Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück Zu friendly fires Arbeit an der Geschichte des Theaters der Zukunft Francesco Fiorentino Auftritt der vier Agitatoren Freud, Marx, Lenin und Brecht Andrea Hensel Die Praxis der Historisierung zwischen Fakt und Fiktion Jonathan Littells Die Wohlgesinnten

TRENNUNGEN/ÜBERTRAGUNGEN Mai Miyake Trennung und Zusammenstoß der Rhythmen Dynamische Zustände in der Fatzer-Inszenierung von Chiten Carolin Sibilak Film als Theater nach Brecht Der Verfremdungseffekt in einer Inszenierung von Mozarts Zauberflöte Hyun Soon Cheon

Vom epischen Theater zum Science-Fiction-Film Alexander Kluges Auseinandersetzung mit Brecht in Der große Verhau Veronika Darian und Jana Seehusen Vorsätzliche Personenstandsänderung Unwürdiges Alter, glaubwürdiges Geschlecht? Erzählt nach Brecht

RESONANZEN Chikako Kitagawa Die Ästhetik der Lücke Resonanzen des Nô-Theaters im Musiktheater Toshio Hosokawas Eiichiro Hirata Schattendramaturgie Ein Phänomen bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater Eun-Soo Jang Upcycling Brecht Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache Suk-Kyung Lee Zwischen Text und Tanz Körper und Raum in Falk Richters Inszenierung von TRUST Patrick Primavesi Recycling Mick Levčik René Polleschs Bearbeitung der Antigone mit Brecht Thomas Lehmen Die Straße

Autorinnen und Autoren

VORWORT

Frech und treuherzig blickt der junge Brecht im Ledermantel in die Kamera des Augsburger Fotografen Konrad Reßler1, die Zigarre wie vergessen in der rechten Hand, die Linke betont lässig von der Stuhllehne hängen lassend. Die Ausstaffierung mit dem viel zu großen Ledermantel, der wie zur Abwehr eines Schlags eingezogene Kopf, die Steifheit des linken Arms und der gekrümmten Hand halten den Augenblick fest, in dem die lebendige Bewegung des Körpers überzugehen droht in die Pose. Noch aber ist sie nicht vollzogen. Darauf weist die komische Inkongruenz von gespielter Größe und Coolness einerseits und andererseits dem Unwohlsein und der Unbehaglichkeit desjenigen, dem Haltung wie Kleidung zu groß sind. Zwischen der intendierten Pose und ihrer komischen Verfehlung blitzt die Geste der schamhaften Bedeckung auf. In ihr artikuliert sich der Körper Brechts, frei von der Erstarrung, die sein Bild in der Gegenwart vielerorts ausmacht. Der Erstarrung des Autors und Theatermachers Brecht zum Bild und Denkmal seiner selbst entgegenzuwirken, ist das Ziel dieses Bandes. Den im Mausoleum des Epischen Theaters begrabenen Brecht setzt das Buch einer Praxis des Recyclings aus, die ihn auf seinen „Materialwert“2 für die Gegenwart hin befragt. Die Autorinnen und Autoren folgen damit einem Verfahren, das Brecht selbst angewandt hat. Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom Materialwert der Kunst entgegen. Er verabschiedet die Vorstellung einer überzeitlichen Dauer der Werke und rät, deren einzelne Teile bedenkenlos „herauszuhacken“3 für ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sein Vorschlag betont den Zeitkern von Kunst und zielt auf eine weitreichende Praxis der Wiederholung, Aneignung und Transformation historischer Artefakte und künstlerischer Praktiken. Diese bisher kaum reflektierte Theorie und Praxis Brechts wird hier rekonstruiert und auf ihn selbst angewendet. Die Beiträge dieses Bandes, Ergebnis einer internationalen Forschungskooperation zwischen Deutschland, Japan, Korea und Italien, gehen der Frage nach dem Materialwert Brechts in seinen eigenen Arbeiten und in seinem Nachleben in Theater und Film unserer Zeit nach. Sie fokussieren Verfahren Brechts, die für die Gegenwart nicht nur von künstlerischer, sondern auch von politischer Bedeutung sind, darunter Praktiken der Historisierung, der transmedialen „Trennung der Elemente“4, der opernhaften Intensivierung von „Zuständen“5 und des szenischen Reenactments klassischer Werke. In der Einleitung erläutert der Herausgeber Günther Heeg (Leipzig) die Grundzüge der Praxis des Recyclings im Kontext der „Materialwerttheorie“ Brechts und des Konzepts des Nachlebens. Von hier aus wirft er einen Blick auf zukünftige Perspektiven des Überlebens von

und mit Brecht. Die folgenden Beiträge sind in drei Sektionen eingeteilt, die spezifische Felder und Praktiken des Recyclings beschreiben. Die mit „Wiederholungen“ überschriebene Sektion greift Theoreme und Stücke von Brecht und Zeitgenossen auf, um sie auf ihren Gebrauchswert für die Gegenwart hin zu befragen. Die Dramaturgin Jeanne Bindernagel und der Regisseur Michael von zur Mühlen (Halle) setzen sich in einem Gespräch über ihre Inszenierung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Brechts Forderung der „Trennung der Elemente“ auseinander. Michael Wehren (Leipzig) unterzieht Brechts Theorie der Pädagogien einer Revision aus der Sicht gegenwärtiger Theaterarbeit. Francesco Fiorentino (Rom) folgt in seiner Analyse der dramaturgischen Struktur der Maßnahme Freuds Diktum „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Andrea Hensel (Leipzig) erläutert und überprüft Brechts Praxis des Historisierens am Beispiel des Romans Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell. Die unter der Überschrift „Trennungen/Übertragungen“ versammelten Beiträge untersuchen Anwendungen, Weiterschreibungen und Überschreitungen Brechts in der künstlerischen Praxis der Gegenwart. Mai Miyake (Tokio) analysiert die aus der „Trennung der Elemente“ hervorgehende Rhythmisierung an einer japanischen Aufführung von Fatzer durch die Gruppe Chiten aus Kyoto. Carolin Sibilak (Berlin) beschreibt eine aktuelle Erscheinung des Verfremdungseffekts in der Berliner Inszenierung der Zauberflöte durch die britische Theatergruppe 1927 und Barrie Kosky. Hyun Soon Cheon (Jinju) folgt den Spuren der Wiederkehr des Epischen Theaters in einem Science-Fiction-Film von Alexander Kluge. Veronika Darian (Leipzig) und Jana Seehusen (Berlin) schreiben Brechts Erzählung Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen auf eine die Grenzen von Kunst und Wissenschaft, Vergangenheit und Gegenwart überschreitende Weise sprachbildnerisch fort. „Resonanzen“, die dritte Abteilung des Bandes, nimmt transkulturelle Affinitäten zwischen Konzepten und Praktiken unterschiedlicher kultureller Herkunft in den Blick. Chikako Kitagawa (Tokio) untersucht Ähnlichkeit und Differenz von Brechts Gestus des Raum-Lassens und der Ästhetik der Lücke im Nô und dem Musiktheater Toshio Hosokawas. Eiichiro Hirata (Tokio) geht dem Phänomen der offizielle Lesarten konterkarierenden „Schattendramaturgien“ bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater nach. Eun-Soo Jang (Seoul) widmet sich dem zeitgenössischen Theater nach Brecht im Doppelsinn des Wortes. Suk-Kyung Lee (Seoul) sucht Resonanzen Brechts in der Theaterarbeit von Falk Richter auf. Patrick Primavesi (Leipzig) beschreibt das wechselseitige Recycling von Brecht und René Pollesch in dessen Aneignung des Antigone-Modells. Den Abschluss des Bands bildet der Highway-Essay „Die Straße“ von Thomas Lehmen (Berlin). Er öffnet noch einmal einen Raum des Transits, in dem die Wiederkehr Brechts in der Gegenwart geschieht. Der Herausgeber dankt allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre intensive Mitarbeit an der

Idee des Recycling Brecht. Ein ganz besonderer, herzlicher Dank geht an Caroline Krämer und Helena Wölfl, die die Entstehung des Buchs von Beginn an redaktionell begleitet und engagiert vorangetrieben haben. Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit hat auch diesem Buch hilfreich zur Seite gestanden und es in gewohnter Weise souverän lektoriert. Dafür gebührt ihm großer Dank.

Leipzig, im Mai 2018 Günther Heeg 1

Koetzle, Michael (Hg.): Bertolt Brecht beim Photographen. Porträtstudien von Konrad Reßler, Berlin 1989. Siehe auch die Umschlagabbildung des vorliegenden Buches.

2

Brecht, Bertolt: [Gespräch über Klassiker], in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im folgenden GBA), Bd 21, S. 309–315, hier S. 311; siehe dazu auch die Texte „Materialwert“. in GBA Bd. 21, S. 285f. und „Der Materialwert“ in GBA Bd. 21, S. 288f.

3

In einem „Materialwert“ überschriebenen Text spricht Brecht vom „Heraushacken von organischen Teilen aus Dichtungen“, GBA Bd. 21., S. 285.

4

Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: GBA Bd. 24, S. 79.

5

Absicht des Epischen Theaters ist nach Walter Benjamin die „Entdeckung der Zustände“, vgl. Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)], in: Gesammelte Schriften Bd. II.2, S. 519–531, hier S. 522.

Günther Heeg

RECYCLING BRECHT Theater exponierter Affekte als Medium einer transkulturellen Gemeinschaft

I. Brechts Wiederkehr Nachleben Brecht ist tot. Nicht nur der physische Körper, der am 14. August 1956 gestorben ist, sondern auch die „Idee Brecht“, sein geistig-praktisches Wirken unter wechselnden historischen Umständen. Ihr wird man nur gerecht, wenn man ihr keine überzeitliche Dauer zuspricht, sondern sie als historische begreift: dem Wechsel der Zeitläufe, dem sie entsprungen ist, zugleich ausgeliefert und darin wiederkehrend in veränderter Gestalt. Die Gestalt, in der die „Idee Brecht“ nach Brechts Tod auf uns zukommt, ist die des Nachlebens. Dessen Aggregatzustand ist der des Gespenstes. Das muss uns nicht betrüben. Denn gerade die gespenstische Existenz von Brechts Nach-Leben, als solche erkannt und bewusst ausgestellt, ist in der Lage, die Gegenwart in ein unvertrautes, nicht geheueres Licht zu stellen. Das gespenstische Nachleben Brechts infiziert die Gegenwart mit seiner Zwitterexistenz zwischen Leben und Tod und lässt diese selbst als gespenstisch erfahrbar werden. Ist damit aber das feststehend Wirkliche als ein Bezweifelbares und Unwirkliches in Frage gestellt, schärft sich der Sinn für die Dimension des Möglichen. Darin liegt das Potential an Zukunft, das das Brecht-Gespenst mit sich bringt. Wie muss man sich das Brecht-Gespenst vorstellen? Substanzlos, gestaltlos, organlos vor allem. Da ist nichts, was sich organisch zur Gestalt eines Zusammenhangs fügte. Der übergeordneten Idee des Epischen Theaters etwa, in die sich alle einzelnen Theoreme und Szenen angeblich einfügen ließen und der das, was nicht passt, herausgeschnitten wird und unter den Tisch fällt. Beginnend mit Ernst Schumachers Drei-Phasen-Theorie der Entwicklung Brechts1 vom anarchischen Nihilisten über den mechanischen Materialisten und Behavioristen hin zum sozialistischen Humanisten hat es immer wieder Anstrengungen gegeben, einen substantiellen Brecht von seinem Beiwerk zu trennen. Dem wirkt das Brecht-Gespenst entgegen. Kernlos, wie es ist, führt es den ganzen Reichtum seiner poetischen Texte und alle Prunkstücke der brechtschen Theorie als einen unsortierten Theaterfundus an Kostümen, Gesten und Masken vor. Es bringt damit eine Uneigentlichkeit und mangelnde Ernsthaftigkeit (buchstäblich) ins Spiel, die Brecht selbst als geheimen Antrieb seines Schaffens geahnt hat. In diesem Sinn äußert er sich 1934 in einem Gespräch mit Walter Benjamin, von dem dieser

berichtet: Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. „Wie ist das? Ist es ihnen eigentlich ernst?“ Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.2 Brecht hält hier für erlaubt, was dem Brecht-Gespenst in unseren Tagen gefällt: Es offenbart seine ganz und gar uneigentliche, nicht substantielle3 Existenz als eine Erscheinung des Theaters. Die Theatererscheinung des Brecht-Gespensts aber ist ein zeitgemäßes Gegengift zum Dogmatismus fundamentalistischer Weltanschauungen wie zu den Doxa der gesellschaftlichen Verhältnisse, der stillschweigenden Hinnahme des Gegebenen als unveränderlich und unverrückbar. Das Theater-Gespenst des toten Brecht lädt die Gegenwart nicht vor ein Tribunal, sondern dazu ein, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Es ist gerade das SpielerischArtistische, das Unverantwortliche seiner Textmasken, die keine Botschaft und kein Heil verkünden, die Bedeutungslosigkeit seiner Gesten4 und seine ostentativ vorgestellten szenischen Maskeraden, die alles vermeintlich Eigentliche und Eigene – feste Überzeugungen, sichere Identitäten, konsistente Lebensgeschichten – als uneigentlich und fremd erscheinen lassen. Mit dem Abstand zur Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit dieser Welt des Eigentlichen und Eigenen wächst das Verlangen, sich dem Fremden zu nähern, die Angst vor dem Fremden aufs Spiel zu setzen und das vemeintlich Eigentliche und Eigene ins Spiel zu bringen. Das Theater-Spiel, zu dem das Brecht-Gespenst einlädt, ist ein privilegiertes Medium des transkulturellen Umgangs unter Fremden. Damit ist das Brecht-Gespenst auf der Höhe unserer Zeit. Materialwert Der Mangel an Ernst, der dem brechtschen Nachleben anhaftet, ruft den Unwillen all derer hervor, die mit dem Dichter Staat, Bildung und Moral machen wollen. Ihnen ist es ernst mit Brecht oder besser: Sie wollen Brecht dem Ernst einer guten und dauerhaften Sache dienstbar machen. Das erfordert, die gespenstische Existenz seines Nach-Lebens und damit seinen Tod zu leugnen und sein ungebrochenes Fortleben in der Gegenwart zu behaupten. Die Vorstellung, die das bewirken soll, ist die des Erbes. Gleich einem Besitz soll Brechts Werk von einer Generation weitergegeben und bewahrt werden – eine ununterbrochene Kette, die sein dauerhaftes Fortleben garantiert. Die Anforderung, die damit an die Träger dieser Kette, die Erben, ergeht, ist der Totenkult. Der Totenkult (um) Brecht(s) tut dem toten Dichter keinen Gefallen. Er führt zur Versteinerung Brechts als Denkmal seiner selbst. Beispielhaft dafür ist das Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble.5 Die getreulich von einem Meisterschüler auf

den nächsten, von einer Schauspielergeneration auf die folgende weitergereichten Prinzipien seines Theaters haben ein Mausoleum geschaffen, in dem die Texte Brechts eingeschlossen und vor Gebrauch geschützt sind. Die Wächter vor den Toren des Mausoleums sind all jene, die Brecht immer noch reduzieren auf das ABC des Epischen Theaters: auf die sogenannten großen Stücke des Exils, Mutter Courage, Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis, auf den Vorrang der Fabel und ihre dialektische Bedeutungsstiftung6, auf den sozialen Gestus, auf das sprechende Bild der Szene, auf den demonstrierenden Schauspieler7 und generell auf den Primat der Vernunft gegenüber dem Gefühl, auf die soziale Verantwortung und die politische Intention dieses Theaters. Um nicht missverstanden zu werden: All das ist auch Brecht, all diese Theoreme und Praktiken können seinen Texten entnommen werden. Aber die Entnahme und anschließende Kanonisierung der herausgenommenen Stellen übersieht das Viele, das Andere, zum Teil innerhalb des Kanonisierten selbst, das dem entschieden widerspricht, das abweicht und nicht aufgeht im Kanon oder ABC des Epischen Theaters. Dazu gehören zum Beispiel die frühen Stücke, Baal, Trommeln in der Nacht, Im Dickicht der Städte u. a., dazu gehören die Lehrstücke und das Fatzer-Fragment, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und nicht zuletzt die Schattendramaturgien8, die in Stücken wie Herr Puntila und sein Knecht Matti und Leben des Galilei die eindeutige Aussage des Epischen Theaters konterkarieren. Früh schon hat Brecht mit der Vorstellung gebrochen, man könne künstlerische Hervorbringungen einer bestimmten Zeit als kulturelles Erbe dauerhaft in Besitz nehmen. Ende der 1920er Jahre setzt er den Erbebewahrern die These vom „Materialwert“ der Werke entgegen. In einem Rundfunkgespräch mit Herbert Ihering, dem großen Theaterkritiker der Weimarer Republik, das von dessen Buch Reinhardt, Jessner, Piscator, oder Klassikertod?9 ausgeht, stellt Brecht fest: Der Besitzfimmel hinderte den Vorstoß zum Materialwert der Klassiker, der doch dazu hätte dienen können, die Klassiker noch einmal nutzbar zu machen, der aber immer verhindert wurde, weil man fürchtete, daß durch ihn die Klassiker vernichtet werden sollten10. Auf dem „Materialwert“ von Kunst zu insistieren, heißt sich verabschieden von der Idee der Geschlossenheit und Ganzheit der Werke. Zu fragen ist stattdessen nach der Brauchbarkeit einzelner künstlerischer Praktiken. Brecht rät, einzelne Teile eines Werks bedenkenlos „herauszuhacken“ aus dem Ganzen. Das Stück ‚Wallenstein‘ zum Beispiel enthält neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert; die historische Handlung ist nicht übel eingeteilt, der Text auf ganze Strecken hinaus, richtig zusammengestrichen und

mit anderem Sinn versehen, schließlich verwendbar.11 Was Brecht hier in schnoddrigem Ton vorschlägt, ist eine theoretisch weitreichende Praxis des Recyclings historischer Artefakte und Kulturobjekte. Sie trägt dem prinzipiellen Bruch Rechnung, der uns von jeder Vergangenheit trennt, und pointiert die Verfallszeit der Werke. Denn damit der Materialwert eines Werks sich zeigen kann, muss alles, was man geistige Durchdringung und Beseelung nennt, zuvor abgestorben sein. Wie kaum ein anderer ist Brecht ein Autor, der die Vergänglichkeit als Ingredienz menschlicher Existenz und des eigenen Schaffens bedenkt. „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie / Hindurchging, der Wind! / […] Wir wissen, daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“ heißt es im Gedicht Vom armen B. B.12 Und in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, dem Katechismus des endlichen Lebens für Städtebewohner, singt der Chor der Männer: Unter unseren Städten sind Gossen In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch. Wir sind noch drin. Wir haben nichts genossen. Wir vergehen rasch. Und langsam vergehen sie auch.13 Selbst in das Konzept der Verfremdung, Herzstück von Brechts Theatertheorie und -praxis, geht das Vergehen ein. „Verfremden“, so Brecht, „heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen“ (Hervorhebung – GH).14 In Brechts Idee des Historisierens ist die Vorstellung von historischer Zeit als einer Zeit der Vergängnis eingelassen. Ist die Vergänglichkeit und das Vergangensein der Werke die Voraussetzung des Recyclings, folgt daraus: Nur als Bruchstücke und Überreste gehen die Werke von einst in den Akt ihrer Wiederholung und Aneignung in der Gegenwart ein. Recycelt werden nicht Werke, die ihre ununterbrochene Präsenz behaupten, sondern Zitate und Gesten15 (auch wenn sie das Ausmaß von ganzen Stücken annehmen). Beide sind herausgebrochen aus dem Zusammenhang, in dem sie einst standen, beide sind Agenten des Nachlebens. Als Zitate und Gesten aber verweisen sie auf den Sinnzusammenhang, in dem sie einst standen: die Fabel. Die Fabel ist für den späten Brecht die Garantin einer widerspruchsreichen, gleichwohl sinngebenden historischen Erzählung als Instrument in der kulturellen und politischen Auseinandersetzung der Zeit. So heißt es im Prolog zu Brechts Bearbeitung von Lenz’ Der Hofmeister, die Fabel zusammenfassend: „Will’s euch verraten, was ich lehre: / Das ABC der Teutschen Misere!“16 Brechts spätes, dem Lagerdenken zwischen Ost und West geschuldetes Insistieren auf der Fabel17 übersieht, dass die einzelnen Teile, Szenen, Kommentare, Songs und Gedichte in seinen Stücken stets einen Eigensinn entfalten, der sich der Synthese einer konsistenten

Erzählung verweigert und über sie hinausgeht. Die Vergänglichkeit der Werke, die sich in ihrem Nachleben zeigt, befreit die Einzelteile von den theologischen Schlacken, die dem „fabelhaften“18 Epischen Theater anhängen und bewahrt zugleich den Anspruch des Vormaligen, ein sinnvolles Ganzes zu sein. So sind die Zitate und Gesten, die aus der Vergangenheit auf uns zukommen, gezeichnet von den Spuren historischer wie künftiger Zeit. Befreit vom Systemzwang und dem Anspruch auf dauerhafte Sinnstiftung, können sich die gestischen Zitate frei bewegen und begegnen. Gestische Zitate, die in Konstellationen treten und Verbindungen eingehen, sind der Zweck des Recyclings. Die Bruchstücke und Überreste des Brecht-Gespensts können so Koalitionen bilden auf Zeit, sie verlassen und an anderen Orten wieder auftauchen. Baal trifft den jungen Genossen aus der Maßnahme, Mahagonny meets Mutter Courage, Galilei liest die Hauspostille, Tragödie trifft auf Lehrstück, der gute Mensch von Sezuan hat einen Vetter: Mann ist Mann usw. Was hier an den Arbeiten Brechts vorgeführt wurde, gilt natürlich auch für die intertextuellen Verbindungen mit anderen Autoren, den berühmt-berüchtigten „Fremdtexten“, die, in Inszenierungen von Brechts Stücken eingefügt, gegenwärtig noch zum Verbot von Aufführungen führen können. Der Rekurs auf den Materialwert Brechts und das Verfahren des Recyclings zielen auf eine andere Vorstellung vom Nachleben Brechts. Er hat den Vorteil, dass sie sich auf Brechts eigene Praxis berufen kann. Sie zu verbreiten, tut Not, auch und gerade vor dem 1. Januar 2027, dem Tag, an dem Brechts Arbeiten „frei“ sein werden. Überleben Eine anschauliche Vorstellung vom Nachleben Brechts gibt die japanische Theatergruppe Chiten, die von dem Regisseur Motoi Miura geleitet wird. In ihrer Produktion Brechtseller, die im September 2016 am Theater Underthrow in Kyoto Premiere hatte, zeigen sie einen exemplarischen Umgang mit dem Materialwert Brechts. Sechs Stühle stehen auf der Bühne, die Sitzfläche fehlt. Im Hintergrund die Rückseite eines Klaviers, es könnte auch eine Anrichte oder ein Altar sein. Ein breites viereckiges Tuch – es mutet wie eine Vereinsfahne aus dem 19. Jahrhundert an – wird wie ein Stück Vorhang von links nach rechts über die Bühne getragen: Die Brechtgardine, an die der Vorgang erinnert, hat Patina angesetzt. Die Akteure nehmen auf den Stühlen Platz und fallen durch. Schreck lass nach! Die erste mimische Geste eines jeden ist ein buchstäbliches Zeichen des Ent-setztseins. Es ist der Grundakkord des Abends: der Schrecken, der nach Brecht zum Erkennen nötig ist, der oft übersehene Nullpunkt des gestischen Theaters. Dann werden Brecht-Zitate aus einzelnen Stücken vorgetragen. Es beginnt mit den humanistischen Phrasen der Götter aus Der gute Mensch von Sezuan und dem Eiapopeia der Schwarzen Strohhüte, der Heilsarmee der Heiligen Johanna der Schlachthöfe: „Ei wie süß ist Gottes Wort“. Allmählich gleiten die Texte über zu Mahagonny und Baal, zur nackten Realität des Überlebenskampfs, zum Lob der materiellen Genüsse und weiteren Themen, Motiven und

Stücken Brechts. Dabei zeigt sich der Doppelsinn des Titels „Brechtseller“: Was oberflächlich nach einem „Best of Brecht“ klingt, offenbart beim genauen Zuhören die ganze Vielfalt der Diskurse bei Brecht jenseits ihrer Einhegung durch Rolle und Fabel. In einer vollkommen aideologischen Sprache entfaltet sich ein Spiel gestischer Sprachmasken, hinter denen sich kein eigentliches Gesicht des Autors Brecht verbirgt. Eine weitere Bedeutung des Titels „Brechtseller“ drängt sich auf: Quer durch die Diskurse zieht sich die Existenzweise des Kaufens und Sichverkaufens (Sichverkaufenmüssens). Unhintergehbar ist die Unbeständigkeit der Zirkulationssphäre, der die haltlosen Existenzen ausgesetzt sind. Aus der Existenzerfahrung kommt das gestische Spiel der Akteure. Die da spielen, haben keine Zeit für Handlung, Rolle und den Zusammenhang einer Fabel. Sie stoßen die Texte unmittelbar aus, schreien sie heraus, sodass die Körper, entblößt vom Schutz der Rolle, mitgehen und sich zeigen. Es sind zweifache Körper, die sich auf diese Weise ausstellen: die Körper der Akteure und die Sprachkörper. Beide sind von der Unterbrechung der Handlung, der Aussetzung der synthetisierenden Bedeutung geformt: korporale Sprachgesten. Die korporalen Sprachgesten der Akteure von Chiten zeigen nicht auf etwas, um uns zu belehren, sie zeigen zuvörderst sich: Sie setzen sich aus. Aussetzung ist der Zustand, in dem die Werke Brechts um ihr und unser Überleben in der Gegenwart ringen. Gleich denen, die nach dem Untergang von Schiff und Heimat auf einem Floß oder Boot ausgesetzt sind, kämpfen die Bruchstücke und Überreste von Brechts Œuvre ums Überleben. Es gelingt nur in der Form der Aussetzung des Ganzen, in der gespenstischen Gestalt der literarischen und korporalen Sprachgesten. In ihnen ist die Möglichkeit des Überlebens von und mit Brecht angelegt.

Chiten: Brechtseller in der Inszenierung von Motoi Miura, Theater Underthrow in Kyoto, 2016. Foto: Hisaki Matsumodo

Chiten: Brechtseller in der Inszenierung von Motoi Miura, Theater Underthrow in Kyoto, 2016. Foto: Hisaki Matsumodo

Das Überleben Brechts, das Zukunft enthält, ist ein Überleben im Werden. Es ist im Werden durch das Recycling der Bruchstücke seiner Werke. Die literarischen und korporalen Gesten erzeugen einen gespenstischen Raum, in dem sich die Geister aller Materialien und Überreste Brechts treffen, die nicht zur Ruhe kommen. So entsteht eine virtuelle Raum-Zeit mit einer

Fülle von Konstellationen zwischen einst und jetzt. Eine dynamisch-bewegte Sphäre zwischen Zeiten und Räumen, die keine kulturellen Grenzen kennt. Ein offener transkultureller Raum der Begeisterung und der Inspiration.

II. Brechts Aussichten Die Formen und Möglichkeiten des Überlebens von und mit Brecht – Unernst, Gespensterhaftigkeit, Aussetzung und „Begnügung mit der Geste“19 – öffnen den Blick auf gegenwärtige politische und ästhetische Herausforderungen, für die eine erneute Befassung mit Brecht zukunftsverheißend ist. Dazu gehört zum einen Brechts lebenslange Thematisierung des Fremden und eine daraus sich entwickelnde Arbeit an der Idee eines Transkulturellen Theaters. Und zum anderen gehört dazu Brechts Auseinandersetzung mit der Oper und die Vorstellung eines Theaters der exponierten Affekte als Medium einer zukünftigen transkulturellen Gemeinschaft. Die beiden Perspektiven ergänzen einander. Ohne Halt leben. Brechts Idee eines Transkulturellen Theaters Viele stellen sich gegenwärtig die Frage, wie wir in einem Zeitalter der Globalisierung zusammenleben können, ohne aus dem Projekt der Moderne auszusteigen und unser Heil in Wunsch- und Trugbildern vormaliger Ordnungen zu suchen. Ordnungen, die vermeintlich ethnisch „rein“ und kulturell homogen sind. Ordnungen, die klar als die eigenen zu erkennen sind, die deshalb scharf geschnittene Identitäten ermöglichen, Identitäten, die auf der Abgrenzung gegenüber dem Fremden und auf seinem Ausschluss beruhen. Solche Ordnungen hat es nie gegeben, sie entfalten aber als Phantasmen eine gewaltige, gewalttätige Wirkung. Der Rekurs auf das christliche Abendland ist solch ein Phantasma, aber auch das wiedererstarkte Beharren auf der Nationalkultur, verstanden als Leitkultur. Dass solche Phantasmen fundamentaler, fundamentalistischer Ordnungen in der Gegenwart wieder wirkmächtig werden, hat nichts mit einem Rückfall in frühere, vermeintlich bessere Zeiten zu tun, sondern hat seinen Grund in den Auswirkungen der Globalisierung selbst. Kulturelle Hybridisierung und soziale und ökonomische Prekarisierung sind vielerorts Folgen der Globalisierung. Sie führen zu Unsicherheit, Desorientierung und dem Gefühl vollkommener Haltlosigkeit. Aus ihnen nährt sich der Wunsch nach einem Zurück in die Geborgenheit fundamentalistischer Gemeinschaften. Fundamentalistische Bewegungen sind Reaktionsbildungen auf die Prozesse der Globalisierung. Brecht hat die Dynamik von ungebremster sozialer Entfesselung und der Sehnsucht nach festem Halt und Ordnung gesehen. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs legt er die Positionen in Leben des Galilei dar und auseinander. Lange Zeit wurden die unterschiedlichen Standpunkte von Vertretern der Kirche und von Galilei und seinen Getreuen vorschnell ideologisch bewertet. Erstere waren die Reaktionäre und deren Äußerungen daher zu

verurteilen, mit Galilei und den Seinen dagegen zog die neue Zeit ein. Diese oberflächliche Konstruktion der Fabel, die durch eine virulente Schattendramaturgie der Tragödie konterkariert wird, hat der Regisseur Michael von zur Mühlen in seiner Inszenierung von Leben des Galilei am Theater Göttingen 201420 aufgegeben. Seine Inszenierung kennt keine Rollen mehr, sondern teilt die Texte unter einer Gruppe von Spielern rollenunspezifisch auf. Der Effekt ist überwältigend. Befreit von der Rolle und ihrer Bewertung hört man die Texte wie zum ersten Mal. Vor allem aber: Man hat Mühe, sie einzelnen politischen Positionen zuzuordnen. So erhalten alle gleiche Aufmerksamkeit und gleiches Gewicht. Das gilt vor allem für drei Schlüsseltexte aus Leben des Galilei: Galileis Erklärung des kopernikanischen Weltbilds für Andrea, die Rede des sehr alten Kardinals und die Rede des kleinen Mönchs. Alle drei umreißen genau die Herausforderung einer neuen Zeit, die wir als Globalisierung bezeichnen können. Die große Auftrittsarie des Galilei, in der er Andrea die Auswirkungen des neuen kopernikanischen Weltbilds auf die Verkehrsformen der Menschen und die soziale Ordnung erklärt, gipfelt in dem Satz: Es hat immer geheißen, die Gestirne sind an einem kristallenen Gewölbe angeheftet, daß sie nicht herunterfallen können. Jetzt haben wir Mut gefasst und lassen sie im Freien schweben, ohne Halt, und sie sind in großer Fahrt, gleich uns, ohne Halt und in großer Fahrt.21 Die Haltlosigkeit, von der hier die Rede ist, betrachtet Galilei als Befreiung aus der hierarchisch-autoritären Ordnung des ptolemäischen Weltbilds und seines sozialen Pendants. Anders sieht es der kleine Mönch, dessen Position Brecht gleichfalls Raum gibt: Ich bin als Sohn von Bauern in der Campagna aufgewachsen. Es sind einfache Leute. Sie wissen alles über den Ölbaum, aber sonst recht wenig. […] Es geht ihnen nicht gut, aber selbst in ihrem Unglück liegt eine gewisse Ordnung verborgen. […] Es ist ihnen versichert worden, daß das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, forschend, ja beinahe angstvoll, daß das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können. Was würden sie sagen, wenn sie von mir erführen, daß sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender.22 Brecht kennt den Sog zurück in die Geborgenheit des ptolemäischen Weltbilds. Dessen Glücksversprechen formuliert in Leben des Galilei der sehr alte Kardinal: Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit hierhin und

dahin rollt. Ich gehe auf der Erde, und die Erde ist fest unter meinen Füßen, und die Erde bewegt sich nicht, und die Erde ist der Mittelpunkt des Alls, und ich bin der Mittelpunkt der Erde, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir. Um mich kreisen, fixiert an acht kristallenen Schalen, das kleinere Licht der Sterne und das große Licht der Sonne, geschaffen mich zu beleuchten, damit Gott mich sieht – den Menschen, die größte Anstrengung Gottes, das Geschöpf im Zentrum, geschaffen nach seinem Bilde, unvergänglich23. Brecht kombiniert das ptolemäische Weltbild mit der Metapher des Theatrum mundi zum ptolemäischen Welttheater. Das ptolemäische Welttheater bedient perfekt die alte Theatersehnsucht: Im Mittelpunkt stehen und die Hauptrolle spielen! Das ist weiß Gott verlockend, verlockender jedenfalls als die Zufälligkeit und Überflüssigkeit eines Daseins im leeren Raum umherkreiselnder Steinklumpen. Die Vorstellung ist schwer auszuhalten. Brecht weiß aber, dass ein Dasein Like a Rolling Stone24, wie es bei Bob Dylan heißt, nicht rückgängig zu machen ist. Er geht von der Erfahrung aus, dass kein Ursprüngliches existiert, das Halt geben könnte, und dass die Kette der kulturellen Traditionen, die eine Gemeinschaft der Lebenden und Toten zusammenhält, gerissen ist und deren einzelne Bestandteile ohne den phantasmatischen Rahmen einer bestimmten Kultur frei fließen. Brecht hat die Vorstellung geschlossener, gegeneinander abgrenzbarer Kulturen, wie sie noch die Vorstellung des Interkulturalismus ausmacht, aufgegeben. Für ihn sind Kulturen im „Unterwegs“, gelöst von Ursprung und Tradition. Entfernt von ihrem Ursprungsort, freiwillig oder ins Exil getrieben wie Laotse und Brecht, existieren sie nur noch in Teilen: als Gedanken und Überlegungen, Gedichtzeilen, Bilder und Melodien, einzelne rituelle Verrichtungen und Haltungen. Verloren ist der Zusammenhang, das symbolische Universum der einen Kultur, in dem sie, außer im Phantasma geschlossener Kulturen, nie gestanden haben. „Ohne Halt und in großer Fahrt“ zu sein, ist eine Grunderfahrung Brechts – nicht nur gezwungenermaßen in der 15 Jahre dauernden Zeit des Exils, „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“, wie es im Gedicht An die Nachgeborenen25 heißt, sondern vor allem freiwillig in seiner gesamten lebenspraktischen, philosophischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit. Immer geht es Brecht darum, die eigenen Sitten und Gepflogenheiten in fremdem Licht erscheinen zu lassen. Fremdes sucht Brecht dabei nicht in fernen Ländern und exotischen Kulturen, sondern im Inneren der vermeintlich eigenen Kultur. Das alltäglich Vertraute und Haltgebende aus der Perspektive des Fremden zu betrachten, sind Ziel und Haltung des V-Effekts. Es handelt sich dabei nicht um eine bloße Theatertechnik. Es geht vielmehr um eine Praxis des In-der-Welt-Seins. Deren Motto könnte lauten: Ohne Halt leben. Ohne Halt zusammenleben als Fremde unter Fremden. Das ist in nuce das Programm eines Transkulturellen Theaters. Brechts transmediale Praxis oder Der Stachel des Fremden Wie kaum ein anderer vor ihm – Diderot vielleicht ausgenommen – hat Brecht über Theater

überhaupt und sein Theater in der Rede eines Fremden gesprochen. Die Künste der Malerei, des Romans, der Fotografie und des Films werden ihm zu Medien, mittels derer er sich über die eigene Kunst des Theaters verständigt. Wodurch ist dem jungen Brecht die Idee des VEffekts aufgegangen? Brecht hat ihn in einem Jahrmarktsgemälde gefunden, zu dem uns nur noch dessen Vorlage, das Historienbild Karls des Kühnen Flucht nach der Schlacht bei Murten überliefert ist. Woher nimmt Brecht die Technik der Montage? Bekanntermaßen vom Film, präziser: von Eisenstein. Und den Grundgestus? Vom malerischen Konzept des Tableaus bei Diderot. Und so fort. Was ist der Grund dieser Beziehung zum fremden Medium? Es ist, denke ich, ein doppelter: Zum einen lösen die Verfahren der anderen Künste offensichtlich eine Resonanz im Eigenen bei dem Stückeschreiber aus, die ihn anregt, die Grenzen des eigenen Mediums zu überschreiten. Brecht, so meine These, arbeitet grundsätzlich transmedial. Für ihn sind die Malerei, der Film, die Oper nicht fremde Künste, die außerhalb des Mediums Theater stehen, sondern sie markieren das Fremde im vermeintlich Eigenen selbst. Zum anderen aber bleibt das andere Medium doch unerreichbar fremd. Was Brecht zum Beispiel an Breughel oder Eisenstein beschreibt, lässt sich nicht eins zu eins im Theater umsetzen. Wäre dem nicht so, könnte Brecht Verfremdung, Montage und Grundgestus strikt in Termini des Theaters abhandeln. Das tut er gelegentlich. Dann aber fehlt der Abstand des unerreichbaren, grundsätzlich Fremden, der uns ein mögliches Anderes erfahren lässt jenseits dessen, was ist, weil man es offensichtlich hört und sieht. Brechts Theaterarbeit braucht den „Stachel des Fremden“26, von dem Bernhard Waldenfels spricht. Sein zukunftsweisendes Verfahren ist es, sich in seiner eigenen Theaterarbeit im Fremden zu bewegen und sich dessen Herausforderungen zu stellen. Zukunftsweisend ist es damit nicht nur als künstlerisches Vorgehen. An ihm zeigt sich ein grundsätzlicher Umgang mit dem Fremden, den Adorno, in Beziehung auf Joseph von Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, mit der Vorstellung einer „Schöne(n) Fremde“ verbunden hat. Die Konstellation von Eigenem und Fremden einer solchen „Schöne(n) Fremde“ hat Adorno als „versöhnten (gesellschaftlichen) Zustand“ verstanden. Ein solcher Zustand, so Adorno, „annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen“. Die von Adorno beschriebene Überkreuzung von Nähe und Ferne, Resonanz und Stachel, Eigenem und Fremden zeichnet Brechts transmediale Praxis aus. Die Oper als Herausforderung Brechts Äußerungen zur Oper sind vernichtend. In einer Notiz kurz vor der Aufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, bekanntermaßen eine Oper, hält er fest, dass es sich nicht lohne, gegen die Oper als Kunstgattung und „die Klasse, die hier genießt“, überhaupt noch „einen Schlag zu führen“. Was dieses (falsche) Genießen – Brecht ist nicht gegen das Genießen generell, im Gegenteil – in der Oper ausmacht, darüber gibt eine kleine Szene Auskunft, die sich in dem späten Stück Die Tage der Commune findet: „Frankfurt. Oper,

während einer Aufführung von ‚Norma‘. Aus einer Logentür treten Bismarck in Kürassieruniform und Jules Favre in Zivil.“27 Im Folgenden entwickelt sich ein Kuhhandel zwischen Bismarck, dessen Truppen Frankreich gerade niedergeworfen und besiegt haben, und dem französischen Ministerpräsidenten, der den Sieger servil um unauffällige Unterstützung im Kampf gegen die aufständische Commune bittet. Bismarck, der ihm die Bedingungen dafür diktiert, kann dabei seine Ohren nicht abwenden vom Gesang der sterbenden Norma, der Hohepriesterin des von den Römern unterworfenen Galliens. Bismarck: Horcht auf Musik, die herausdringt, weil er die Logentür aufgelassen hat. Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person. Na […] ihr seid mir ja komische Käuze. Waffenhilfe schlagt ihr schamhaft ab, aber eure Gefangenen sollen wir freigeben, hintenrum. Weiß ja, weiß ja, es soll nicht mit Hilfe einer fremden Regierung geschehen sein. Nach der Melodie „Ach Theodor, du alter Bock, greif mir nicht vor den Leuten untern Rock“, wie? Horcht wieder auf die Musik. Jetzt stirbt se, epochal.28 Die Figur Bismarck führt exemplarisch vor, was für Brecht das falsche Genießen in der Oper ausmacht. Der Tod der Norma, der die Unterwerfung Frankreichs und den Tod der Commune symbolisch doppelt, bereitet dem preußischen Ministerpräsidenten höchste Lust: „Jetzt stirbt se, epochal.“ Die äußerst affektive Grenzsituation verhilft dem Opernbesucher in Kürassieruniform zu machtvoller Leidenschaft, ohne dass sie Leiden schafft. Die Institution Oper, das „Kraftwerk der Gefühle“29, wie Alexander Kluge es genannt hat, versorgt im bürgerlichen Zeitalter dessen Protagonisten mit den Leidenschaften, die ihnen im bürgerlichen Alltag abhandengekommen sind. In der Rechenhaftigkeit des bürgerlichen Geschäftslebens stellen Aida, Madama Butterfly, Norma, Senta und ihre Leidensgenossinnen die emotionale Grundversorgung sicher, ohne die der Antrieb fehlt, die Geschäfte tagaus, tagein zu führen. Die Oper, das geht aus ihrem Widerspruch zum bürgerlichen Alltag hervor, ist hoffnungslos anachronistisch. Ihre Heldinnen mit ihren Leidenschaften finden darin keinen Platz mehr. Sie sind nur mehr Gespenster. Ihnen begegnet der bürgerliche Opernbesucher seinerseits in der Gestalt eines Untoten, eines Vampirs: Er saugt ihnen die Leidenschaften aus, um selbst wenigstens für einen Moment das Untote des bürgerlichen Alltags abzustreifen und leidenschaftliche Gestalt anzunehmen. Dieses Verhältnis zur Oper nennt Brecht kulinarisch. Der kulinarische Opernbesucher schert sich nicht um Libretto und Dramaturgie der Oper. Ihm sind die detaillierten und widerspruchsvollen Geschichten der Handelnden gleichgültig. Er nährt sich allein von der Leidenschaft eines Goldkehlchens, das für ihn leidet und stirbt. „Jetzt stirbt se, epochal.“ Brechts Kritik der kulinarischen Oper ist aktueller denn je in einer Zeit, die zunehmend von der kommerziellen Eventisierung des Musiktheaters geprägt ist. Für Brecht aber, den Kritiker der kulinarischen Oper, ist die Oper zugleich ein Faszinosum, das er der Kulinarik des falschen Genießens entreißen will. An der Oper erprobt Brecht das Modell eines Theaters der

exponierten Affekte. Ausgestellt sind darin die Gefühle, die sich der Unterbrechung und Aussetzung verdanken. Gefühle, die nicht die der Akteure und der Zuschauer sind, sondern die sich, als Ausgesetzte, zwischen Subjekten und Gegenständen frei bewegen, aber die Zuschauer wie Akteure angehen, sie heimsuchen und ihr Leben beeinflussen und bestimmen. Die Ausstellung dieser lebensbestimmenden Affekte in einem anderen „Kraftwerk der Gefühle“ ist der Impetus von Brechts Befassung mit der Oper. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Die Dreigroschenoper, Das Verhör des Lukullus und eine Reihe von Opernprojekten sind das Resultat dieser intensiven Befassung, die bei Brechts Arbeiten zum Musiktheater nicht Halt machen. Man kann einen Schritt weitergehen und sagen: Die Oper ist das Modell für Brechts Theater. Denn von der Oper, der barocken Opera seria, hat Brecht das Prinzip der Unterbrechung der Handlung durch die Arie übernommen. Wie in der Barockarie die Handlung sich in der Auslegung eines dem Geschehen zu Grunde liegenden Gefühlszustands verdichtet und vertieft, so arbeitet Brecht an einem Theater der Zustände, die die vermeintliche Notwendigkeit und Atemlosigkeit einer fortlaufenden Handlung unterbrechen. „Denn wie man sich bettet, so liegt man“30 – das ist der Lauf der Welt und die dabei auf der Strecke bleiben, sieht man nicht. Im Zustand, der Aussetzung der Handlung, die Brechts Theater anstrebt, sehen wir dagegen den Lauf der Welt mit fremden Augen. Fremde Augen, die uns anblicken und die uns, so erblickt, selbst in die Lage von Fremden versetzen. In den Arien, den Songs, den Liedern und Gedichten, die die Handlung bei Brecht unterbrechen, trifft uns die Erfahrung, dass das, was geschieht, nicht natürlich und selbstverständlich ist, sondern zutiefst fremd, mit emotionaler Wucht. „Nur die Nacht / Darf nicht aufhören / Nur der Tag / Darf nicht sein“, der Schrei des Jim Mahoney vor seiner Hinrichtung in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 31 lässt uns mit einem Mal erfahren, dass eine Welt, in der einem vor dem Morgen graut und die Gefühlswerte von Tag und Nacht sich in ihr Gegenteil verkehrt haben, falsch eingerichtet ist und der Änderung bedarf. Das Fremdwerden dessen, was täglich geschieht, das Fremdwerden unserer Hinnahme dieses Geschehens und die Erfahrung der Änderungsbedürftigkeit des Weltzustands durch die ebenso reflektierte wie affektiv aufgeladene Komposition und Ausstellung von szenischen Zuständen – das ist in nuce Brechts Programm eines Theaters als ein anderes „Kraftwerk der Gefühle“, einer Alternative zur kulinarischen Oper. Die Musiktheaterarbeit des Regisseurs Peter Konwitschny steht ganz im Horizont von Brechts Idee eines Theaters der exponierten affektiven Zustände. Eine Szene aus Konwitschnys Inszenierung der Oper Medea von Luigi Cherubini mag das verdeutlichen.32 Zu Beginn des dritten Akts sitzt Medea vor dem geschlossenen Vorhang, einer sehnsuchtbesetzten Meerlandschaft, auf der Spitze eines felsigen Dreiecks, das ins Proszenium ragt. Sie sitzt und kaut einen Apfel. Nichts weiter. Nur das Vorspiel zum dritten Akt, ein gewaltiges musikalisches Gewitter, entlädt sich über der Szene. Und Medea kaut den Apfel. Die Diskrepanz zwischen ihrer äußeren Ruhe und dem Sturm des Orchesters, der mit dem in ihrem Inneren korrespondiert, ohne ihn zu illustrieren, ist kaum auszuhalten. Denn sie konfrontiert uns mit einer Fülle von Überlegungen und widerstreitenden Gefühlen zu dem, was kommt, dem

Kindermord. Sie sind nicht auf eine Linie, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wer erwartet hat, dass er nun erfährt, was er zu denken und zu fühlen hat, dem wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Das ist der Sinn des musiktheatralen Zustands: Er setzt uns der Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Fremdheit der äußeren und unserer inneren Welt aus und fordert uns auf, sie anzunehmen und mit ihnen zu leben. In einer Zeit, in der allerorten einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge angeboten werden, die den Status quo festschreiben oder dahinter zurückfallen wollen – Fremde raus! –, ist das Lebenlernen, das Lebenkönnen mit Vieldeutigkeit, Differenz und Fremdheit ein erstes Ändern dessen, was ist. Wenn sich der Vorhang im dritten Akt von Cherubinis Medea nach dem Gewittersturm hebt, zeigt sich das Felsstück, auf dem Medea gesessen hat, als Teil einer Insel in einem Meer von Plastikmüll, der unsere Ozeane verstopft. Wenn der Vorhang am Ende fällt, liegen die Leichen von Medea und den Kindern am Strand, die Leichen jener Geflüchteten, die keine Aufnahme in Korinth gefunden haben – oder (heutzutage) in Lesbos oder an einem anderen Strand. Unaufdringlich, aber treffend verbindet Peter Konwitschny so die alte Geschichte mit unserer Zeit, ohne einfach gleichzusetzen. Vielmehr schafft er einen musiktheatralen Zustand der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, einen leidenschaftlich bewegten Zustand, in dem sich Fragen stellen, die auf eine zukünftige Antwort warten und der deshalb offen für Zukunft ist. In der Herstellung solcher Zustände setzt sich Brechts Idee eines Theaters der exponierten Affekte, eines anderen „Kraftwerks der Gefühle“ fort. Lost in transit. Frank Castorfs Inszenierung von Baal Baal, eines der frühesten Stücke Brechts, ist keines fürs Theater. Jedenfalls nicht für die an Drama, Figur und Rolle orientierten deutschen Stadttheater. Denn in Baal gibt es keine konsistente Handlung und Figuren, sondern nur die Exposition von Zuständen. Die Ausstellung von Zuständen ist nach Walter Benjamins Wort das Ziel des Epischen Theaters. In Baal, besonders in der ersten Fassung von 1919, sind die Szenen weit eher Zustandsbeschreibungen als durch die Handlung strukturiert. Es sind poetische Texte, voll von Lyrik und Lyrismen. Vieles trifft darin aufeinander: François Villon, Arthur Rimbaud und die Naturhymnik Walt Whitmans. Aber auch das Antipathos im Unterschied zu dem Stück Der Einsame von Hanns Johst, dem späteren Nationalsozialisten und Präsidenten der Reichsschrifttumskammer,33 das der Auslöser für den Baal gewesen sein soll. Es sind intensive, buchstäblich verdichtete poetische Zustände, die in Baal vorgestellt werden. In Parenthese gesagt: Das gilt für Brechts Stücke insgesamt. Viel zu wenig beachtet ist vielerorts, dass es sich bei Brechts Stücken in erster Linie um poetische Texte handelt, die stärker, widersprüchlicher und unauslotbarer sind, als es die Konstruktion von Fabel und Parabel zulässt. Baal steht hier paradigmatisch für das umfassend Poetische der Texte Brechts, weil das Stück frei ist von den späteren Maßgaben des Epischen Theaters, besonders denen von Primat der Fabel und sozialem Gestus. Um die poetischen Zustände in Baal erfahrbar zu machen in ihrer Vielschichtigkeit, Rhythmik und Schönheit bedarf es Schauspieler, die diese Texte sprechen können. Die sich verlassen auf die

Texte und ihnen einen Raum geben. Die sich freimachen von der Rolle und die Maske der Scham ablegen, die die Rolle ist. Die sich zeigen, anstatt nur auf etwas zu zeigen. Kurz: Es braucht Schauspielerinnen und Schauspieler, die bereit sind, etwas zu wagen, wenn Baal aufgeführt werden soll. Frank Castorf arbeitet mit solchen Schauspielerinnen und Schauspieler. Umso skandalöser und bedauerlicher ist es, dass diese Arbeit, die beispielhaft ist für ein zeitgemäßes Recycling Brechts, nach wenigen Aufführungen durch die Brechterben und ihre Sachwalter im Suhrkamp Verlag wegen der „Kontamination“ des Werks mit dem Fremden in Gestalt von sogenannten Fremdtexten verboten worden ist. Das ist eine Aktion, die Brecht zum zweiten Mal tötet und einsperrt ins Mausoleum. Es ist eine Aktion, die Brechts eigenen Intentionen und seiner Praxis vollkommen zuwiderläuft. Denn Castorf macht nichts anderes, als dass er die Materialwerttheorie Brechts auf Brecht selbst anwendet. Das heißt zunächst einmal, dass er die Texte von Baal in ihrer poetischen Materialität ernst nimmt, dass er und die Schauspieler Haltungen, Gefühle, Stimmungen und Mentalitäten aus dem Duktus und der Körperlichkeit von Brechts Sprache zu erspüren versuchen, indem sie den Texten nachlauschen, die sie gesprächsweise vortragen. Die Psychologie der Figuren und deren Beziehungen untereinander treten demgegenüber zurück. Man kann sagen, die Figuren des Stücks werden geöffnet durch den Materialwert der Texte, der Texte von Brecht und der der anderen Autoren – u. a. Rimbaud, Frantz Fanon und Heiner Müller. Der Rhythmus und Duktus, der Klang der Texte im Sprechen der Akteure entfalten einen Drive und Drang, der das Sprechen immer weiter treibt durch die Figuren hindurch und über sie hinaus.

Baal mit Hong Mei in der Inszenierung von Frank Castorf, Residenztheater München, 2015. Foto: Thomas Aurin

Verfremdung ist die zweite Brecht-Operation, die Castorf an Baal wahrnimmt. „Verfremden“ aber „heißt historisieren“34. Castorf verfremdet, d. h., er historisiert den Baal, indem er ihn in die Zeit des Indochina- und Vietnamkriegs der 1950er und -60er Jahre versetzt. Das läuft nicht auf eine modische Aktualisierung hinaus, nach dem Motto: Baal bedeutet Krieg. Es handelt sich vielmehr um ein sehr genaues und sorgfältiges Ausloten der Affinitäten und Korrespondenzen, die durch die Versetzung erkennbar werden. Die Versetzung ist eine wechselseitige. Nicht nur finden sich die Baal-Akteure in die Feldlager und Bordelle des Vietnamkriegs versetzt, sondern es bricht auch die Zeit des späten 19. Jahrhunderts und des Ersten Weltkriegs, es brechen die Texte von Rimbaud und Brecht in die Vietnamwelt ein. Immer bleibt dabei ein Abstand zwischen beiden. Zeitliche und räumliche Versetzung, DysPosition, bedeutet nicht, dass die Akteure von Baal in der Vietnamwelt aufgehen. Vielmehr erscheinen sie als Fremdkörper in der fernöstlichen Szenerie: ins Bild hineingegeschnitten, vor einer vietnamesischen Dekoration gefilmt, ins asiatische Ambiente hineingebeamt. Deutlich wird das in einer der stärksten Passagen der Inszenierung: in der Parallelaktion von Francis Ford Coppolas Vietnamfilm Apocalypse now 35 und dem Nach- und Vorspielen großer Szenen des Films durch die Akteure. Erhalten die Schauspieler, die auf der Bühne gefilmt werden, zunächst via Filmbild einen Platz auf dem Kanonenboot, das in Apocalypse now bekanntlich

den Mekong hochfährt auf der Suche nach Oberst Kurz, so treten sie im Folgenden vor das Filmbild und spielen live jene Szene, die in der Redux-Fassung des Films von 2001 danach folgt. Captain Willard und seine Mannschaft sind bei französischen Plantagenbesitzern gelandet, deren Lage aussichtslos ist, die aber dennoch nicht weggehen und nicht lassen wollen von dem, was sie ihr Land nennen. Die Schauspieler sprechen diese Szene, während im Hintergrund, etwas zeitversetzt, die Filmszene läuft, sodass die Filmschauspieler den Nachklapp und das Echo bilden zu den Akteuren auf der Bühne. Man kann hier, in Abwandlung des Reenactments, von einem Pre-enactment sprechen, das die Nähe und die Ferne zwischen den Baal-Akteuren und den Apocalypse now-Schauspielern hervortreten lässt. Der gepflegte Konversationston der guten französischen Gesellschaft und deren melodramatische Blicke im Film werden durch das ruhige, nahezu naive und konzentrierte Vor-Sprechen der Bühnenakteure durchsichtig, durchhörbar auf die Erfahrung hin, die die Agierenden vor und auf der Leinwand verbindet: dass sie verloren sind. „Wir sind Verlorene. Auf uns kommt’s nicht an“36, das ist die Grunderfahrung, die die Baal-Welt und den Vietnamkrieg verbindet. Wie sehr sie einer wechselseitigen Versetzung der beiden Welten entspringt, zeigt sich im Folgenden, wenn die Baal-Darsteller sich im Habit und Habitus der französischen Gesellschaft zu Tisch begeben und in dieser Szenerie nun den Text der Eingangsszene aus Baal, den Text der Soirée beim bürgerlichen Kaufmann Mech, sprechen. Verloren ist aus bürgerlicher Sicht, wer aus der bürgerlichen Ordnung gefallen ist. Wer sich ihren Normen und Werten, ihrem Zeitdiktat und ihrer Ökonomie nicht länger beugt. Das trifft auf Baal ebenso zu wie auf die Soldaten in Vietnam, die der Kriegsmaschinerie auf unterschiedliche Weise zu entkommen versuchen. Baal, geschrieben am Ende des Ersten Weltkriegs, zur Zeit von Novemberrevolution und Münchner Räterepublik, markiert eine Fluchtbewegung aus der bürgerlichen Gesellschaft hin zur Asozialität. Aber Antibürgerlichkeit ist allenfalls der kleinste gemeinsame Nenner, der Baal und die Welt des Vietnamkriegs verbindet. Es ist ein gefährlicher Nenner überdies, denn leicht schlägt er um in romantische Verklärung von Krieg und prekärer asozialer Existenz. Was die Verlorenheit der Agierenden und Akteure auf Castorfs Bühne dagegen auszeichnet, ist die Verbindung von kolonialer Gewalt und Verausgabung des Selbst. Dass Baal kein liebenswerter Zeitgenosse ist, liegt auf der Hand. Er verführt die Frau seines Freundes, treibt sie zum Selbstmord, schwängert die Nächste, um sie sitzenzulassen, und bringt den Freund um, mit dem er ins Bett geht. Baal verleibt sich seine Umwelt ein. Er frisst sie. Er gebraucht und verbraucht die anderen, wie Kolonialherren sich fremde Länder, zum Beispiel Vietnam, einverleiben und verbrauchen. Aber, und das wird zu wenig gesehen: Er verbraucht auch sich, er verausgabt und verschwendet sich, er geht über seine Grenzen. Ich sage das nicht, um die Figur Baal zu retten, sondern um damit die Texte anzusprechen, die Baal beschreiben. Sie gehen über jede Ökonomie der Charakterisierung hinaus. Maßlosigkeit, Verschwendung und Überschreitung sind Qualitäten der Texte in Baal. Deshalb bietet das Stück keinen festen moralischen oder sozialen Maßstab, deshalb verschwendet es sich im Überschuss der Poesie gegenüber der Handlung und überschreitet

jede vernünftige Ordnung. Es ist eine Bataillesche Ökonomie der Verausgabung37 in Baal am Werk, die den „selbstischen Typus“38, von dem Benjamin in Bezug auf Brechts asoziale Helden wie Fatzer oder Baal spricht, erst zum potentiellen Revolutionär macht39 und die dem Kolonialisten Baal im Fortgang des Schreibens den Boden entzieht und ihn übergehen lässt in das aufgebrochene Selbst, den im doppelten Sinne Aufgebrochenen. Den, dessen kulturelle Identität zerbrochen ist, und den, der ohne Halt im Unterwegs ist. Sodass mit dem Verlust zugleich ein Aufbruch einhergeht.

Baal in der Inszenierung von Frank Castorf, Residenztheater München, 2015. Foto: Thomas Aurin

Die Verlorenen und Aufgebrochenen sind auf Castorfs Bühne präsent. Hier spielen sie am fremden Ort in Vietnam ebenjene Liaison von kolonialer Gewalt und Selbstverausgabung durch, die Brechts Text durchspielt. Sie spielen sie durch, aber sie handeln nicht. Auf Castorfs Bühne entwickelt sich keine Handlung. Die Zeit, immerhin viereinhalb Stunden, schreitet hier nicht fort, sie steht still im Raum. Aleksandar Denić, Castorfs genialer Bühnenbildner, hat eine veritable Raum-Zeit-Bühne entworfen, in der die verschiedenen Zeiten und Welten gleichzeitig präsent und unterschieden sind: Ein piranesisches Labyrinth aus Pagode, Restaurant und Bordell, aus Militärzelt, Hängebrücke, Tarnnetzen, Lampen, Kerzen, Seilen und Badestelle – und auch ein Hubschrauber darf nicht fehlen. Über allem zwei Leinwände, die jeden realen

Bühnenschauplatz aufbrechen, erweitern, doublieren und kontrastieren durch die Bilder der Livekamera, durch Video- und Filmeinspielungen. In diesem virtuellen Raum zwischen den Zeiten und Ländern hausen die Akteure. Hier leben, hier warten sie im Transit. Manchmal gehen sie sich an den Kragen oder an die Wäsche, zumeist jedoch sprechen sie mit großer Intensität, aber ohne psychologischen Ausdruck die Texte von Brecht und anderen. Und manchmal singen sie. Die Arie der Butterfly „Un bel di vedremo“40 zum Beispiel oder Händels „Lascia ch’io pianga“41. Es ist nicht die einzige Musik in dieser Inszenierung. Von Beginn an, wenn die E-Gitarre die Einstiegsconférance der Schauspieler kommentiert, wird die Aufführung von Musik getragen und begleitet. Damit sind nicht nur Jimi Hendrix’ Hey Joe 42, Riders on the storm 43 von den Doors und andere Rocklegenden gemeint, sondern die durchgehende Musikalisierung, die die Inszenierung im rhythmischen Zusammenspiel von Sprache, Gesang, Geräusch, Livemusik und eingespielten Tondokumenten auszeichnet. Castorfs Baal ist auch eine Oper. Die Oper, wir haben es gesehen, ist die Herausforderung von Brechts Theater. So wie sich in der klassischen Opera seria Handlung und Ausstellung der Gefühle abwechseln, so wird in Brechts Theater die Handlung durch die Exposition intensiver affektiver Zustände unterbrochen. Castorfs Bühne, auf der die Handlung ausgesetzt ist, exponiert solche Zustände. In ihnen staut sich die Zeit und wird Stasis. Das Agens der hochverdichteten affektiven Stasis ist die Wiederholung. Castorfs Schauspieler agieren, indem sie wiederholen. Wiederholen heißt nicht, das zeitlich und räumlich Entfernte historistisch auszumalen und zu vergegenwärtigen, sondern es gestisch zu zitieren. In der gestischen Zitation der Texte und Musikstücke überlagern sich Zeiten und Räume – Augsburg, der Erste Weltkrieg, Vietnam – und bilden dynamische Konstellationen, die sich affektiv verdichten und die Grenzen ihrer Herkunft überschreiten. Castorfs Raum-Zeit-Bühne ist ein Kraftwerk der Gefühle, wie es Brecht vorgeschwebt haben mag. Es wird betrieben durch die Aktionen derer, die im Transit ebenso verloren wie aufgebrochen sind. Fremd sehen sie uns an. Fremd berühren sie uns. Die fremde Berührung ist uns nah und fern zugleich. Sie lässt uns die eigene Verlorenheit im Transit erfahren. Und gibt uns eine Ahnung vom Glück des Aufbruchs, das sich darin auftun kann. 1

Schumacher, Ernst: Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933, Berlin 1955.

2

Benjamin, Walter: „Notizen Svendborg Sommer 1934“, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. VI, S. 524f.

3

In einer früheren Phase des Gesprächs mit Benjamin berichtet dieser von den Zweifeln Brechts nicht an der „Statthaftigkeit, wohl aber an der Durchschlagskraft seines Verfahrens“. Mit Bezug auf Gerhart Hauptmann bemerkt Brecht: „‚Manchmal frage ich mich, ob das eben nicht doch die einzigen Dichter sind, die es wirklich zu etwas bringen: Die Substanz-Dichter, meine ich.‘ Darunter versteht Brecht Dichter, denen es ganz ernst ist.“ (ebd., S. 525)

4

Unter der Überschrift „Die Begnügung mit der Geste“ vermerkt Brecht in einem Notizheft (BBA 827/12): „was immer du denkst verschweig es / geh hinaus mit uns mechanisch / geh wie einer grüßt: weils üblich / vollführ die bewegung die / nichts bedeutet“, zit. n. Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke, Frankfurt a. M. 1976, S. 103.

5

Siehe dazu Heeg, Günther: „Der Körper Brechts“, in: Ders.: Klopfzeichen aus dem Mausoleum, Berlin 2000, S. 15–38.

6

Siehe dazu Lehmann, Hans-Thies: „Fabel-Haft“, in: Ders.: Brecht lesen (= Recherchen 123), Berlin 2016, S. 147–164.

7

Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum.

8

Ebd. Als Schattendramaturgie bezeichne ich eine subkutane dramaturgische Konstruktion, die die intendierte Dramaturgie unterläuft und konterkariert.

9

Ihering, Herbert: Reinhardt, Jessner, Piscator, oder Klassikertod?, Berlin 1929.

10

Brecht, Bertolt: „Gespräch über Klassiker“, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im folgenden GBA), Bd 21, S. 309–315, hier S. 311.

11

Brecht: „Der Materialwert“, in: GBA Bd. 21, S. 288f., hier S. 289.

12

Brecht: „Vom armen B. B.“, in: GBA Bd. 11, S. 119.

13

Brecht: [Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in: GBA Bd. 2, S. 358.

14

Brecht: „Über experimentelles Theater“, in: GBA Bd. 22.1, S. 540–557, hier S. 554f.

15

Zur Zeitlichkeit der Geste siehe: Heeg: Das Transkulturelle Theater (= Recherchen 130), Berlin 2017, S. 149–166.

16

Brecht: [Der Hofmeister], in: GBA Bd. 8, S. 321.

17

Die letztliche Eindeutigkeit der Fabel, in der die Widersprüche vermeintlich aufgehoben sind, korrespondiert mit der Eindeutigkeit der politischen Parteinahme für das „richtige“ Lager im Kampf zwischen Faschismus (Kapitalismus) und Sozialismus (Stalinismus) während des Zweiten Weltkriegs und im Kalten Krieg.

18

Siehe dazu Lehmann: „Fabel-Haft“.

19

Brecht: „Die Begnügung mit der Geste“.

20

Premiere am Deutschen Theater Göttingen am 17. Mai 2014, Regie Michael von zur Mühlen, Dramaturgie Henrik Kuhlmann, Ausstattung Christoph Ernst.

21

Brecht: [Leben des Galilei (1938/39)], in: GBA Bd. 5, S. 11.

22

Ebd., S. 54.

23

Ebd., S. 64f.

24

Dylan, Bob: „Like A Rolling Stone“, erschienen auf dem Album: Highway 61 Revisited, Columbia Records 1965.

25

Brecht: „An die Nachgeborenen“, in: GBA Bd. 12, S. 87.

26

Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 2008.

27

Brecht: [Die Tage der Commune], in: GBA Bd. 8, S. 299.

28

Ebd.

29

In seinem Film Die Macht der Gefühle aus dem Jahr 1983 pointiert Alexander Kluge die Oper des 19. Jahrhunderts als privilegierten Ort der Produktion und Übertragung von Gefühlen, als „Kraftwerk der Gefühle“.

30

Brecht: [Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny], in GBA Bd. 2, S. 373.

31

Ebd., S. 375.

32

Premiere an der Oper Stuttgart am 2. Dezember 2017. Regie Peter Konwitschny, Bühne und Kostüme Johannes Leiacker, Dramaturgie Bettina Bartz.

33

Johst, Hanns: Der Einsame: Ein Menschenuntergang, München 1925.

34

Brecht: „Über experimentelles Theater“, S. 554.

35

Coppola, Francis Ford: Apocalypse now, 1979. Eine im Jahr 2001 veröffentlichte Director’s-Cut-Fassung unter dem Titel Apocalypse now redux fügte der Kinofassung etwa fünfzig Minuten neues Material hinzu.

36

Vgl. dazu auch Jean-Paul Sartres Formel für die Überflüssigkeit und Ortlosigkeit der Existenz: „(M)a place n’est nulle part, je suis de trop“, in: La nausée, Paris 1938, S. 169.

37

Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie, München 2001.

38

Benjamin: „Bert Brecht“, in: Gesammelte Schiften Bd II,2, S. 660–667, hier S. 665.

39

Bei Benjamin heißt es dazu: „[E]r [d. i. Brecht – GH] will den Revolutionär aus dem schlechten, selbstischen Typus ganz ohne Ethos hervorgehen lassen.“ (Ebd.)

40

Aus: Puccini, Giacomo: Madama Butterfly, Uraufführung in Mailand 1904.

41

Aus: Händel, Georg Friedrich: Rinaldo, Uraufführung in London am 24. Februar 1711.

42

Hendrix, Jimi: „Hey Joe“, erschienen auf dem Album: The Jimi Hendrix Experience, Polydor 1966.

43

The Doors: „Riders on the Storm“, erschienen auf dem Album: L.A. Woman, Elektra 1971.

WIEDERHOLUNGEN

MÜLLTRENNUNG Jeanne Bindernagel und Michael von zur Mühlen im Gespräch über eine deutsche Obsession

Jeanne Bindernagel und Michael von zur Mühlen haben an der Oper Halle als Dramaturgin und Regisseur gemeinsam Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny auf die Bühne gebracht. Hier unterhalten sie sich über ihre Erfahrung mit der Sprache Brechts und deren Fortschreibung für die Theaterfiguren und Affekte des 21. Jahrhunderts. Jeanne Bindernagel: Der Titel des Bandes Recycling Brecht legt nahe, dass man, um Brecht heute zu spielen, gegenüber seinen Texten und Theoremen ein Verfahren anwenden muss, das er selber auch für das Theater vorgeschlagen hat: eine Art Trennung der Elemente. Michael von zur Mühlen: Mülltrennung. J. B.: Eine deutsche Obsession. M. v. z. M.: Brecht ist Sondermüll und muss getrennt entsorgt werden? J. B.: Aber was sind die kontaminierten Teile und was kann in den Hausmüll gesteckt werden? M. v. z. M.: Es muss so funktionieren, dass am Ende wieder ein Rohstoff für das Theater gewonnen werden kann. Vielleicht ist Brecht auch schon längst geschreddert und man muss ihn eigentlich wieder upcyceln. J. B.: Das Upcycling wäre eine Form der Denkmalpflege. Etwas Brüchiges, Angeschlagenes soll nicht kaputt gehen, sondern in seiner Originalform erhalten werden. Das ist nicht das gesuchte Verfahren. M. v. z. M.: Als gut erhaltenes vermeintliches Original steht Brechts Werk dem Gegenwartstheater ja bereits allzu sehr zur Verfügung. In aller Regel stehen wir im Theater nicht vor den Trümmern, sondern vor einem versteinerten Brecht. Mir ist bei der Recherche zur Vorbereitung meiner Brecht-Inszenierungen immer wieder die Kanonisierung der Darstellungsweisen, die fehlende gedankliche Übersetzung, aufgestoßen. Die Interpretationen

von der Heiligen Johanna der Schlachthöfe beispielsweise: Man sieht gern heute noch die Heilsarmee über die Bühne ziehen. Wenn es ein bisschen aktualisiert sein darf, dann sind es wütende Globalisierungsgegner. Das hat natürlich auch etwas mit den strengen WerktreueAuflagen des Verlages zu tun, tatsächlich aber vor allem mit einer sakrosankten Haltung zu Brechts Texten und Theaterkonzepten. Hierzu sollte das Recycling als ein Gegenangebot dienen. J. B.: Das Recycling sollte sich nicht an einer Praxis der Aktualisierung orientieren, die dem Werk implizit in seiner Ganzheitlichkeit sowie jedem einzelnen seiner Elemente eine Übersetzbarkeit in die Gegenwart zuspricht und es heiligt: das Stück einfach knapp hundert Jahre nach vorne hieven und dafür jeder Figur symbolträchtig einen neuen Hut aufsetzen. M. v. z. M.: Das ist das eine Problem – das einer vordergründigen Aktualisierung; das zweite liegt in einer dahinter stehenden Annahme einer ungebrochenen Aktualität Brechts. Das Hauptproblem ist eine Gültigkeit aus sich heraus, die man den Texten zuschreibt. Johanna hatte beispielsweise eine wahnsinnige Konjunktur nach der Finanzkrise 2008/09. Man geht davon aus, dass das Stück für sich schon kritisches Potential bereitstellt, weil es den Kapitalismus kritisch betrachtet. Ich denke, dass man sich oftmals zu wenig Mühe macht, nach dem Abstand der Texte zur Gegenwart zu fragen, und die Rolle eines politischen und kritischen Theaters zu wenig reflektiert. J. B.: Eine produktiv widersprüchliche Erfahrung aus unserer Arbeit an Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny schließt sich hier an: Die Abbildhaftigkeit der Fabel hat sich bewahrheitet. Mahagonnys Zeichnung der kapitalistischen Logik lässt sich an der Gegenwart als evident darstellen. Die Oper selbst scheint Wirklichkeit hinreichend zu analysieren und anders herum scheint das politische Alltagsleben beständig Mahagonny aufzuführen. Die grotesken Überzeichnungen des Exzesses im letzten Akt etwa wurden von der Wirklichkeit überholt: Mit Slogans wie „Für die Freiheit der reichen Leute!“ lassen sich heute reale demokratische Wahlen gewinnen. Darüber könnte man in Kulturpessimismus verfallen, ebenso in ehrfurchtsvolle Starre vor der Weitsichtigkeit des Werks. Nichts davon würde aber zu einer Inszenierungsweise führen, die sich eine Haltung zutraut. Viel interessanter ist es doch, genau diese wahrscheinlichen Reaktionsweisen der Kunstanbetung als Indikator für ein gegenwärtiges Verhältnis der Menschen erlebten eigenen Handlungsunfähigkeit und ihrer materiellen Ausbeutung zu verstehen: Auf die Weltordnung von Mahagonny wird eher mit Melancholie und Selbstmitleid als mit Wut, Mut oder solidarischer Gegenwehr reagiert – auf dem Theater ebenso wie an der Wahlurne. Diesen gesellschaftlichen Zustand fassbar zu machen und befremdlich werden zu lassen, darin liegt eine Chance für eine heute relevante Inszenierungsweise – Oper als Katalysator gesellschaftlicher Affekte. Brechts Sprache und Weills Musik zeichnen diese Affekte vor. Nicht in der Fabel, wo diese dem Spektakulären

verschrieben werden, sondern in den Zwischentönen der Musik mit Anklängen von Choral, Liebessonett und Popkultur. Mit diesen Anteilen des Werks lässt sich Wirklichkeit sezieren. M. v. z. M.: Auf alle Fälle. Ich würde teilweise schon einen Schritt früher anfangen, beim Umgang mit der Figurenkonstruktion, weil viele Inszenierungen brechtscher Texte hier in einem Schema von „hier und dort“, von „gut und böse“ vereinfachen. Bei einer genauen Lektüre zeigen sich die Figuren bei Brecht ambivalenter und in unserer heutigen Erfahrung haben sich diese Zuschreibungen auch nochmal mehr verwischt. Wir können gar nicht mehr ausmachen, wer denn jetzt eigentlich in der Johanna der Mauler ist und wer seine kritischen Gegenspieler sind. Die ökonomischen Machtverhältnisse erlauben eine solche Zuschreibung vielleicht, aber in unseren eigenen sozialen Mustern und Denkweisen stehen wir alle vor dem Problem, das Mauler hat: auf der einen Seite Gutes schaffen, auf der anderen Seite aber beim Kapitalismus fröhlich mitmischen zu wollen, weil es zu einem solchen Willen keine Alternativen mehr zu geben scheint. Was bedeutet es für unser Leben, wenn ein Alternativmodell zum Bestehenden wegfällt, wie Brecht es in Johanna in den großen Arbeiterchören andeutet? Wie verändern sich dann die Kräfteverhältnisse innerhalb eines Stücks und was bedeutet das für die Darstellung der Figuren? Ebenso bei Galilei: In der Leistungsgesellschaft lassen sich Selbstdisziplinierung und Inquisition nicht so einfach scheiden, das Denken ist von internalisierten Anforderungen durchdrungen und man hindert sich selbst sehr gründlich am visionären Denken. Brecht sollte hier sozialpsychologisch gelesen werden. J. B.: Ich würde sagen: Brecht sollte als Konstrukteur von Sprache gelesen werden. Die Ambivalenz der Haltungen steckt schon in den Stücken. Sie besteht als sprachlicher Nebeneffekt, als Abweichung von den klaren Zuweisungen gesellschaftlicher Stellvertreterschaften durch einzelne Figuren. Diese Sprache stellt eine Logik der Affinitäten und der Lust daran aus, das politisch Fragwürdige auszusprechen und das moralisch Falsche auf der Bühne vorzuführen und auszutesten. Es ist nicht unbedingt so, dass die Sprache der Johanna diejenige ist, die eine besondere Kraft im Sprechen entfaltet. Brecht lässt auch die Stärke politisch problematischer Sagensweisen zu, macht das Begehren danach stark – was eine präzise gesellschaftliche Beobachtung ist, keine Agitation. Die Texte von Jim Mahoney verbleiben im Changieren zwischen Aggression und Vision, zwischen der Kälte ihrer sozialen Logik und der Zartheit des Kranich-Duetts mit Jenny. Die Anziehungskraft gesellschaftlicher Visionen steckt eben nicht allein im utopischen oder gar pragmatischen „Ändere die Welt, sie braucht es!“, sondern auch in den Verlockungen des radikalen Genießens und des Egoismus wie in Mahagonny, der Maßnahme oder Fatzer. Sicher auch in den weniger eindeutig darauf hingearbeiteten Stücken. Oder sie ist in Galilei zu entdecken in der Haltlosigkeit, in der der Kleine Mönch seine Welterfahrung beschreibt und gegen die Kränkung der eigenen Bedeutungslosigkeit angeht. Das ist eine Sprache der unentschiedenen, ergebnisoffenen gesellschaftlichen Affekte.

M. v. z. M.: Der Weg zu solchen Affekten ist für mich ein anderer als über die Sprache. Er führt über das Nachdenken über gesellschaftliche Konstellationen der Gegenwart und die fragwürdige Präsentation dieser in den Stücken. Man muss Figurenkonstellation aufsprengen, um zu zeigen, dass eine klare gesellschaftliche Haltung für die Figuren, die dort auf der Bühne zu sehen sind, kaum noch möglich ist. Innere Verstrickungen gegenüber einer unübersichtlichen gesellschaftlichen Realität sind zu groß geworden. Aus diesem gesellschaftlichen Dilemma heraus müssen die klar den Figuren zugeordneten Texte anfangen zu flottieren. J. B.: Mir geht es nicht um eine Sprache jenseits sozialer Verhältnisse, sondern um die Art und Weise ihrer Abbildung. Ich glaube, Sprache von den Figuren zu lösen, ist paradoxerweise ein Weg, etwas über die Verfasstheit des Individuums in unserer Gesellschaft herauszufinden. Es gibt keine reale Figur, keine Lebenslage, die sich widerspruchsfrei mit einer ethischen Haltung decken würde, die also entweder Johanna oder ihr Gegenpart sein könnte. Diese Vereindeutigung wäre auch eine Form von Kapitalismuskritik, die hinter der gelebten Wirklichkeit, die hinter der Adaptionsfähigkeit des Begehrens an die Lebensumstände zurückbleibt. Es gibt einfach keine Form von Recycling, bei der etwas oder jemand als der saubere ethische Rohstoff übrig bleibt in einem Haufen von Müll. Auch die politische Agitation für das gute Leben enthält Mischformen der Macht. Was diese Logik angeht, sind wir uns ja auch einig. Und diese Logik steckt absolut in der Form der Sprache Brechts: Der Wunsch, das Grausame auszuagieren, oder der, sich selbst als Heilsbringerin zu inszenieren und gleichzeitig etwas ganz Selbstbezogenes durchzusetzen. Wenn man diese Sprache und ihre figürlichen Positionen nicht als antagonistisch, sondern als sich gegenseitig verstärkend spricht, dann kommt man dem näher, wie Wirklichkeit funktioniert: Selbst dann, wenn man meint, man mache hier gerade kapitalismuskritisches Theater, ist man eigentlich ein Rädchen in dessen Getriebe, wenn auch ein stockendes Rädchen. M. v. z. M.: Ich komme in meiner Annäherung an die Wirklichkeit für das Theater über meine Vorstellung weiter, wie etwas auf der Bühne aussehen würde. Man merkt, wenn es nicht stimmt. Es kann jetzt nicht stimmen, dass da ein Arbeiterchor auftritt. J. B.: Weil es so eine Instanz einfach nirgendwo gibt? M. v. z. M.: Ja, also zumindest nicht hier. Und dann kommt man darauf, diesen Chor höchstens noch als eine Erinnerung zu inszenieren. Und später dann sieht man auf der Bühne in Weimar eine Vorstellung dieser alten großartigen Schauspielerin Rosemarie Deibel, die weit über siebzig Jahre alt ist, die einmal die Schauspielerin war im Ensemble in Weimar und die so sprechen kann wie Helene Weigel. Auf diese Weise entstehen oft auch die Lösungen, aus der Kombinatorik einer konkreten Seherfahrung, einer Erwartung und einer Analyse. Das Ergebnis dessen war dann: Die Arbeiter, für deren Instanz nur noch diese eine Figur stehen kann, die in

einem 1970er-Jahre-Kostüm ein bisschen wie Margot Honecker in Chile über die Bühne wankt – deren Emphase sich nicht mehr verbreitet, die sich nicht mehr im Gesamtgefüge einbettet. J. B.: Ich verstehe das als ein Plädoyer, nicht nach der richtigen Recycling-Weise von Brecht zu suchen, sondern die soziale Wirklichkeit der Theaterarbeit auch zur jeweils anderen Grundlage der Recycling-Frage zu machen. M. v. z. M.: Die soziale Wirklichkeit sowohl des Theaters als auch der Gesellschaft. Gerade so entstehen in der Arbeit von Christoph Ernst und mir Konzepte und Gefüge. Hätten wir denselben Brecht-Text statt in Weimar in Frankfurt gemacht, wäre man vielleicht auf etwas ganz anderes gekommen. Dazu noch ein Beispiel: In Weimar entstand unser Bühnenbild zu Johanna in Reaktion auf den dortigen Opernball, der wie in vielen Theatern abgehalten wird und in Dinner-Theaterveranstaltungen vergleichbar denen im Palazzo reine Kulinarik bietet. Bei Brecht gibt es ja diese Vergleiche von Kellnern und Schauspielern, die Abendunterhaltung verkaufen. Hat das kritische Theater selbst vielleicht längst die Funktion eines Opernballs übernommen – für eine andere Klientel mit entsprechenden habituellen Ansprüchen? Man kann sich Johanna vorstellen als eine inszenierte Dreingabe für Börsenvertreter, die aber doch noch ein schlechtes Gewissen haben und das ins Theater tragen. Das ist ein brechtscher Gedanke: Die sozialen Begebenheiten und deren Dialektik, in denen Theater gemacht wird, spielen eine entscheidende Rolle. J. B.: Das betrifft auch die sozialen Gegebenheiten, die man in der Arbeit am Musiktheater antrifft, die stark bestimmt sind durch sozioökonomische Zwänge, unter denen Sängerinnen und Sänger mit Erwartungshaltungen konfrontiert sind. Eine gelingende Darstellung wird an technische Normierungen des Singens als Handwerk geknüpft. Arbeitsweisen an der Oper, die Ausbildung hierzu und deren Rezensionen beschwören ständig das Risiko des Ausschlusses aus einer hierarchisch organisierten Gemeinschaft der „guten Musiker“. Diese Angst muss man ernst nehmen und nicht der Schwäche einzelner Protagonisten innerhalb dieses Systems zuschreiben. Gleichzeitig möchte man die Leute, mit denen man arbeitet, zum Anrennen gegen die Wände dieser Gummizelle ermutigen. Bei Mahagonny war das die ganze Zeit über auch ein Aushandlungsprozess. M. v. z. M.: Das ist ja immer ein Aushandlungsprozess zwischen Darstellern und Regie. In die Erfahrungen ersterer mit dem Theaterbetrieb gehen auch das dort übliche beharrliche Festhalten an der Kontinuität der Fabel und an der Geschlossenheit der Figuren ein, das die Darsteller unter Druck setzt. J. B.: Setzt man statt auf Fabel und Figuren auf Darstellerintuition im Spiel, besteht die Gefahr einer andauernden Befragung der Befindlichkeiten als Ausgangspunkt für die Analyse von

Wirklichkeit. M. v. z. M.: Aber man könnte es auch positiv formulieren, indem man davon ausgeht: Jede Aufführung ist ein Ereignis und immer wieder eine Suche oder ein neues Erfahrungsfeld. Es hat ja auch bei einigen Darstellern von Mahagonny sehr gut geklappt, immer wieder mit Lust auf die Bühne zu gehen und zu probieren, was bringt jetzt diese Aufführung? Was kann ich in dieser Aufführung noch Neues machen in dem abgesteckten Rahmen, wo kann sich etwas weiterentwickeln? Du musst sängerisch extrem im Stoff stehen, um das machen zu können. Und die Regie muss diese Freiräume in der Arbeitsweise herstellen. J. B.: Ich verstehe Mündigkeit in diesem Prozess als Vereinbarung: Es muss immer die akzeptierte Variante geben, dass nichts passiert, dass einfach die Müdigkeit von der Probe am Morgen zuvor, die Realität, in der jedes spielerische Erproben statthat, sich durchsetzt und kein Mehrwert produzierbar ist. M. v. z. M.: Dazu sind Darsteller aufgerufen, auch nach Tagesform zu spielen. Aber es gibt einen Unterschied dazwischen, sich auf diese Tagesform einzulassen und einem Abspulen auswendig gelernter Programmteile. Es ist ja was anderes, ob man einfach seinen Dienst nach Vorschrift macht oder ob man sagt: Ich bleibe jetzt die ganze Aufführung sitzen, weil ich so kaputt bin. Das wäre dann wieder sehr ehrlich oder sehr risikofreudig. Das finde ich toll und tatsächlich wahnsinnig schwer herzustellen. Dazu gehört sehr viel Selbstvertrauen und auch Vertrauen in die Möglichkeiten des Theaters. Ein anderes interessantes Problem, dem sich eine Praxis des Recyclings Brechts nähern sollte: Es gibt wirklich einen großen Unterschied zwischen dem Theoretiker Brecht und dem Praktiker der Modellinszenierungen mit seinen kanonischen Nachfolgern in Ost und West. Es klafft bei Brecht auseinander, was er dem Theater zutraut bzw. zuschreibt und was er erprobt – zumindest legen das die Aufzeichnungen nahe, die man von Mutter Courage etwa hat. Das wirkt schon wie ein Krippenspiel. In den Aufnahmen, die es von Proben zu Leben des Galilei gibt, ist er eigentlich mit Arrangement beschäftigt statt mit Inszenieren. Wer weiß, ob das damals etwas ganz Großartiges war. Das ist immer so schwer zu bewerten für ein Theater, dessen Umstände wir nur logisch erschließen und nicht erfahren können. Aber der Eindruck der Versteinerung ist stark, besonders für die Folgeinszenierungen der Brecht-Schüler. Deshalb finde ich, Recycling Brecht müsste heißen, die Praxis mit der eigenen Theorie zu schlagen, die so viel weiter geht. Warum ist beispielsweise Ibsens Werk nicht derart zur Erstarrung gekommen? Was hat da Freisetzung ermöglicht – abgesehen von den Prämissen der Nachlassverwaltung. J. B.: Ich glaube, es gibt in der Brecht-Nachfolge eine ideologische und ästhetische Hilflosigkeit, die ich gerade in der Beschreibung von Mahagonny als einen Gegenwartsaffekt

unserer Gesellschaft skizziert habe. Es fehlt die Kraft und die Lust, Geschichte und Geschichten entwerfend zu verfassen. Theater versteht sich selbst als reaktiv und agiert im Gestus der Dekonstruktion. Es scheint, als sei die Welt potentiell schon zu Ende erzählt und als seien die Spielräume für eine andere Wirklichkeit in dem Maß in die Enge gedrängt worden, dass Erstarrung die einzig adäquate Reaktion sei, theatral und politisch. Genau dieses Verhältnis zur Wirklichkeit verhandelt Brechts Sprache ja auch schon, sie stellt es als Problem vor. Entweder setzen Inszenierungen in der Folge dieses Problem absolut und produzieren kulturpessimistische Brecht-Abende oder sie ringen sich zu einer letzten großen Bewunderung des gesellschaftspolitischen Entwurfs der Stücke durch. Beides, Kritik und Entwurf, Gestaltung und Verwerfung stehen aber in den Stücken Brechts eigentlich immer in Konkurrenz und Aushandlung. Sie müssen für eine heute relevante Inszenierung jeweils gewichtet, geprüft und vielleicht auch negiert werden. Ich glaube, dass der Umgang mit Ibsen anders ist, liegt vor allem daran – und das ist jetzt für den Theaterbetrieb und für uns alle kein Kompliment –, dass seine Figurenzeichnung die Phantasie der Menschen in einer anderen Weise beflügelt. Durch die theatrale Behandlung der Figuren wird gern nahegelegt, es gehe mit ihnen um psychologische Fragen und damit individuelle, private Problemlagen. Wenn die Frauenfigur dabei noch zwischen Rächerin und Opfer angesiedelt ist, umso erfolgversprechender. Das sind anschlussfähige Erzählungen an unsere Gewohnheiten zur Identifikation, zur Selbstspiegelung unserer eigenen Lebensgeschichte. Deren Wert wollen wir doch beständig ermessen, unsere versagten Bedürfnisse nach Größe und Geborgenheit im großen Ganzen des Weltgeschehens einordnen, die Wunden lecken. Ich glaube, solche Geschichten zu erzählen, fällt einfach leichter, weil wir es gewohnt sind, uns mit der Privatisierung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit emotional über Wasser zu halten. Wohingegen eine gute Brecht-Spielweise Erzählungen andeuten könnte, in denen es eigentlich nicht um einen selbst geht, sondern um das potentielle Verschwinden, um ein anderes Verhältnis von Individuum und gesellschaftlicher Gewalterfahrung. Mag sein, dass deine Arbeitsweise bei Galilei eigentlich auf etwas anderes abzielte, aber dieses Untergehen im Text, das war schon eine sehr starke Seherfahrung. Dass da Figuren sind, die zwischen Lust und Depression durchdeklinieren, wie der Text sie überwältigt. M. v. z. M.: Darum geht es. Das hat aber auch mit einer grundsätzlichen Spielweise zu tun. Es geht nie um einfache Psychologie bei diesen Szenen, es geht um einen Zustand, der transportiert wird über die Behandlung des Textes. In der Inszenierung der Börsenszenen der Johanna war mir beispielsweise wichtig, die Figuren zu nivellieren. So entsteht ein durchgängiger Text und den haben die Darsteller staccato in einem Quintett hinausgebrüllt, in seiner unerbittlichen Maschine in einem irren Tempo, in dem es kein Halten gibt. Das ist eine Übersetzung für eine systematische Logik, in der es nicht auf den Einzelnen ankommt, die einfach stattfindet. Es ist richtig im Sinne Brechts, zu sagen: Es kommt auf das Individuum da nicht mehr an. Es geht um Vertreter.

J. B.: Wobei genau diese Erfahrung von den Figuren bei Ibsen eigentlich auch schon ausagiert wird, es wird nur anders auf die Bühne gebracht. Für mich ist der dialektische Kurzschluss zwischen einer Logik der Person im Kapitalismus und der Logik von deren Verschwinden in den Videoinstallationen von Lizzie Fitch und Ryan Trecartin angelegt, über die wir in der Erarbeitung von Mahagonny ja auch viel gesprochen haben. Hysterische Wiederholungsschleifen verdoppeln hier einen Umgang mit dem Körper und dem Sprechen, aus dem klar wird: Es macht eigentlich sehr viel Spaß, diese Sprache auszusprechen, für die man keine Verantwortung mehr hat. Diese immer gleichen Phrasen, in denen Nähe, Wut und Aggression und vor allem die Beschäftigung mit sich selbst transportiert wird. Diese Wiederholung hat etwas mit kindlicher Befriedigung zu tun und mit einer Form des In-KontaktBleibens mit der Wirklichkeit. Fitch und Trecartin schaffen einerseits armselige Kreaturen, die eher wie Geister durch die Wirklichkeit wandern, aber andererseits eine Form von Agency in dieser medialisierten Umgangsweise mit sich selber behaupten können und als sehr selbstbewusste Protagonisten eine Feier ihrer selbst erfahren. M. v. z. M.: Bei Trecatin und Fitch sehe ich den Umgang mit einer vorgefertigten Sprache, einem Produkt der Kulturindustrie, im Zentrum. Man könnte beim Anschauen der Videos denken: Ok, das ist jetzt einfach der Untergang der Zivilisation. Das Tolle ist aber, dass diese Arbeiten auch ein Sprung in ein anderes Verhältnis zu unserer Vorstellung von Individualität sein könnten. Und dieses Verhältnis ist nicht unbedingt schlimmer, sondern einfach anders. Irgendwo entsteht die Lust, den Ibsen hinter sich zu lassen als ein Problem. Und das Individuum auch. Über den Theoretiker Brecht hast du wohl keine Lust zu sprechen? J. B.: Führ nochmal aus, inwiefern der Theoretiker Brecht das schlagende Argument oder das schlagende Instrument sein könnte. M. v. z. M.: Die Theorie vermag die Praxis einfach anders durchzudenken bei ihm. Beim Galilei etwa gibt es diese schöne Tagebucheintragung, die besagt, man müsse alles nochmal von Grund auf neu aufstellen. Letztendlich bleibe der Text ptolemäisch und man müsse ihn eigentlich kopernikanisch werden lassen. Das werde aber nur gehen durch eine andere Praxis des Theaters. Eigentlich habe ich nur versucht, das ernst zu nehmen, auch übertragen auf die Figuren. Dann gibt es nicht mehr den großen Galilei-Darsteller, um den herum alle und alles kreisen. Kopernikanisch wäre, dieses Zentrum in ganz verschiedene aufzusprengen. J. B.: Das ist ein guter Gedanke für die praktische Arbeit mit Brecht. Ich habe eben gezögert, diese grundsätzliche Trennung von Theorie und Praxis mitzumachen, weil die Theorietexte von Brecht, mit denen ich bisher gearbeitet habe, die gleiche Ambivalenz in sich tragen wie die Theatertexte auch. Da gibt es nämlich einerseits eine fast schon stalinistische Strenge im Umgang mit dem gesellschaftlich Richtigen, beispielsweise im Text „Bemerkungen über die

chinesische Schauspielkunst“. Diesen Text entwickelt Brecht an der Spielweise Mei Lanfangs, wie er sie auf der Weltausstellung gesehen hat. Er exerziert daraus die gelingende Funktionsweise von Geste und Gestus für das epische Theater. Oberflächlich ist das eine Art Lehrtext, der besagt: So funktionieren die Gesten und durch Übung und Strenge im Umgang mit dem Körper wird so etwas erlernt! Und da gibt es eine gesellschaftliche Logik dahinter, die geht durch den Darsteller zum Zweck der Transformation! Und andererseits gibt es Passagen, die ergeben auf diese Lesart bezogen überhaupt keinen Sinn. Da rutscht der Gestus des Texts in eine offen erkennbare Poetik der Strenge ab, die das eigene Schreiben als Deutungshoheit über Theatertheorie infrage stellt. Das Schreiben verliert sich in Details und plötzlich merkt man, das ist eine Bildbeschreibung, die Brecht in den Text montiert hat. Mit deinem Hinweis könnte man sagen, er hat dem Text verschiedene Zentren gegeben, die erst zu erkennen sind, wenn man ihnen im Lesen Raum gibt. Und deswegen ist meine Erfahrung mit Brecht-Theorietexten immer, um deinen Vorschlag zu wenden, man müsse Brecht mit Brecht schlagen und zulassen, dass sein Denken im Ringen mit sich selbst erkennbar wird. M. v. z. M.: Das lässt sich auch auf die Weiterentwicklung seines Denkens übertragen, auf das ich mich in meiner Arbeit ja auch nicht als eine originäre Erfindung beziehe. Es hat Effekte nach sich gezogen und wiederum andere Verfahrensweisen und künstlerische Arbeitsweisen provoziert, die gilt es jetzt weiter zu schreiben. In Godards Alles in Butter gibt es diese Szene mit Yves Montand, der als Godards Alter Ego, als frustrierter und gescheiterter Autorenfilmer der Nouvelle Vague nun in dem Film blödsinnige Werbeclips für Rasierapparate dreht. Plötzlich gibt es da einen Einschub in einer Drehpause und Montand spricht über Brechts Anmerkungen zu Mahagonny und die Schwierigkeiten, politische Filme zu machen. In gewisser Weise konnte vielleicht der erste richtige Brecht-Regisseur Godard sein, weil er in einem anderen Medium gearbeitet hat. Und vielleicht muss man beispielsweise dessen Techniken, die den Sprung in das zeitgenössischere Medium Film geschafft haben, in das Theater rückübertragen. Das Theater war einfach zu langsam, es ist wahnsinnig beharrlich als Apparat und als Form menschlicher Gewöhnung an Arbeitsweisen. Theater hat einen Hang zur Konventionalisierung. J. B.: Wobei, wenn man sich heute einen Godard anguckt: Beharrlichkeit und zeitliche Streckung sind ihm auch nicht fremd. Gerade das führt für mich zu den affektiven Besetzungen. Ich gucke mir einen Godard genau wegen der produktiven Spannung an zwischen seiner Relevanz im Hier und Jetzt und einer Historisiertheit in der Arbeitsweise und in der Emphase gegenüber dem Medium Film. Es gibt im Sehen eine produktive Fremdheitserfahrung, eine Art Filter, der sich über die Wirklichkeit legt und die Frage nach ihrer adäquaten künstlerischen Beschreibung aufmacht. Ich glaube, dieser Filter entsteht auch durch die Nähe von Film und Theater in Godards Arbeitsweise.

M. v. z. M.: Ich meine vor allem das Diktum von der Trennung der Elemente. Man kennt ja diese Brecht-Inszenierungen nicht wirklich. Aber die Trennung der Elemente ist eben erstmals wirklich in den Godard-Filmen realisiert, wie es das Theater vorher gar nicht denken konnte. J. B.: Und das hat wiederum etwas damit zu tun, dass die Wirklichkeit, auf die Godard reagierte, schon Richtung Gesamtkunstwerk strebt. Trennung ist demgegenüber ein adäquates Verfahren. Dann wäre jetzt die Frage: Wie muss eigentlich eine Reaktion auf Brecht in der Gegenwart aussehen, in der die Synthetisierung von Sinneseindrücken perfektioniert wurde? In der einem praktisch alles als Gesamtkunstwerk entgegenkommt, in der Wirklichkeit als Überwältigung auftritt? M. v. z. M.: Das lässt sich noch nicht final beantworten, aber eventuell kann gerade die Oper als „Kraftwerk der Gefühle“, wie Alexander Kluge sie nennt, auf diesen Zustand der Gegenwart reagieren. J. B.: Ja, sie sollte die Synthetisierungsvorgänge der Wirklichkeit mit ihren ganz eigenen künstlichen Synthetisierungsweisen schlagen, sie bloßstellen und alt aussehen lassen.

Michael Wehren

WILLKOMMEN IM PÄDAGOGIUM – P/RE-ENACTING THE LEHRSTÜCK Zu friendly fires Arbeit an der Geschichte des Theaters der Zukunft

Augen zu und durch (I) Die Drei: Hallo. Willkommen im Pädagogium. Schön, dass du da bist. (Die Drei begrüßen und umarmen alle Besucher.) Wir sind die Zukunft. Wir leben – in einer Welt nach der Revolution, in einer Welt der fortgesetzten Revolutionen, in einer Welt nach den Kämpfen der Klassen und nach dem Ende des Anfangs der Geschichte. Vor vielen Jahren haben die, die vor uns kamen, einen neuen Staat gegründet. Sie haben die Gesetze erlassen, nach denen das Kollektiv lebt und nach denen es die Gesetze ändert. Und auch diesen Ort, das Pädagogium, haben sie erschaffen. Wir alle gehen in das Pädagogium – zum Beispiel, um die drei Reden des Johann Fatzer zu sprechen, wenn wir eine Rede halten müssen. Oder um die Szene zu spielen, in der ein Verrat begangen wird, wenn wir einen Verrat begehen wollen. Oder um die Szene zu spielen, in der gegessen wird, wenn wir hungrig sind. Hier spielen und betrachten wir gleichermaßen, hier begegnen wir dem Egoisten Fatzer und uns selbst als Anderen. Wir alle leben so, wie es in den Vorschriften für die Pädagogien seit langer Zeit vorgesehen ist. Wir sprechen die Worte und vollführen die Gesten. Wir sind die Zukunft, in der es, was man früher „Theater“ oder „Politik“ oder „Publikum“ oder „Aufführung“ nannte, nicht mehr gibt. Und weil wir nicht mehr wissen, was diese Worte bedeuten, haben wir uns heute hier versammelt, um das Gründungsjubiläum des Pädagogiums zu feiern. YES! Heute wollen wir der Gegenwart, die wir jetzt sind, als einer Zukunft gedenken, die einmal Gegenwart war und heute Vergangenheit ist. Für diesen besonderen Tag sind wir in die Archive der Stadt hinabgestiegen und haben danach gesucht, wie die Vergangenheit uns, die Lehrstücke und das Pädagogium geträumt hat. Aber das Archiv des Pädagogiums und der Lehrstücke ist während der großen Erdbeben beinahe vernichtet worden. Nur wenige Dokumente sind erhalten geblieben. Und diese gehören zu einem Stück, einer sogenannten Performance, namens Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück aus dem Jahr 2017 vor unserer Zeitrechnung. Nur Bruchstücke dieser Aufführung sind überliefert: einige Bild- und Tonaufzeichnungen, diese Kostüme (Die Drei zeigen auf ihre Kleidung.), diese Kostüme (Die Drei zeigen auf

die Kleidung der Zuschauer.), diese Geräte, diese Perücken, eine Handvoll Gesten und einige Worte, die gesprochen wurden. Heute, jetzt, kehren wir zurück in das Jahr 2017. Wir kehren zurück in die Gegenwart, deren Zukunft wir gewesen sein werden und die versucht hat, uns zu träumen. Wir haben rekonstruiert, was wir konnten, und doch können sich Fehler in das von uns Rekonstruierte und seine Unvollständigkeiten eingeschlichen haben. Wir können manches falsch verstanden oder falsch zusammengesetzt haben. Wir erwarten eure Kritik. Wir zeigen es euch. POW! POW! POW! YES! – Und jetzt: Schließt die Augen.1 P/RE-ENACT! NOW! Die Inszenierung Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück von friendly fire (Premiere: 8. März 2017, Theaterpädagogisches Zentrum Lingen) beginnt mit einem Sprung in die Zukunft: Drei mit Headsets und mobilen Lautsprechern ausgerüstete, uniformsportiv gekleidete Performerinnen begrüßen das Publikum herzlich als Besucher eines Ortes namens Pädagogium und damit in einer fiktiven Zukunft „nach der Revolution“. Vorausgesetzt und zugleich sprachlich konstituiert wird, dass es sich bei allen Anwesenden (also Publikum und Performerinnen) um Bewohner dieser Zukunft handelt, denen auch das Pädagogium wohl bekannt ist. Dieses Pädagogium ist – das legen die Beschreibungen der Drei nahe – Schauplatz einer theatralen, spielerischen und sozialen Praxis, der Begriffe wie „Theater“, „Publikum“ oder „Aufführung“, aber auch „Politik“ und Ähnliches absolut fremd geworden sind. Kurz gesagt: Was diese Worte früher bezeichneten, gibt es nicht mehr. Doch dieser Sprung in die Zukunft wird sogleich durch einen Sprung in die Vergangenheit bzw. in die Gegenwart ergänzt: Denn als Grund des gemeinsamen Zusammenkommens erweist sich die Feier des Gründungsjubiläums des Pädagogiums, welche zugleich zum Anlass für einen Rückblick auf das eigene historische Gewordensein und die eigene Geschichte wird: „Heute wollen wir der Gegenwart, die wir jetzt sind, als einer Zukunft gedenken, die einmal Gegenwart war und heute Vergangenheit ist.“ Grundlage dieses Gedenkens ist der Gang in unvollständige, „beinahe vernichtet[e]“ Archive und der Fund einer Reihe von dort aufgefundenen Archivalien, die – selbst wiederum unvollständig – scheinbar eine Performance aus dem Jahr 2017 mit dem Titel Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück dokumentieren. Diese werden zur Grundlage einer gemeinsamen und möglicherweise fehlerhaften Rekonstruktion unserer tatsächlichen Gegenwart aus der fiktiven Gegenwart einer Zukunft heraus, die sich fragt, „wie die Vergangenheit uns, die Lehrstücke und das Pädagogium geträumt hat“. Uns, die Leipziger Theater- und Performancegruppe friendly fire2, interessiert seit Beginn unserer Arbeit die Konstruktion von Zeit-Räumen, in denen die Gespenster, Tiere und Monster der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umhergehen. Wir nutzen unterschiedliche Formate wie installative Performances, Theaterinszenierungen, Interventionen im öffentlichen Raum, Audiowalks und Stadtspaziergänge, um nach den Zukünften des 20. und 21. Jahrhunderts zu

fragen. Unsere Arbeiten oszillieren dabei zwischen Fakt und Fiktion bzw. Archiv und Halluzination und sind oftmals ebenso unheimlich wie lustig, ebenso intim wie fremdartig. Um diese Effekte und Wirkungen zu erzielen, nutzen wir „umgekehrte Ethnographien“3 und „Waswäre-wenn?“-Szenarien ebenso wie Praktiken der Verfremdung oder Historisierung, wie sie bei Brecht, aber auch in neueren Formen des Re- oder Preenactments zu finden sind. Wenn nach Alain Badiou die Zeit des Theaters im „Futur der Vergangenheit“4, also im Futur II, besteht und sich sein „Denken von Zeit […] in der Vergangenheit“5 vollzieht, dann ist unsere spezifische Theaterfrage, was das 20., das 21. Jahrhundert und damit auch die Gegenwart gewesen sein werden. Rückgriffe auf Brechts Versuche mit Verfremdung, Unterbrechung, Wiederholung und Historisierung haben hierbei von Beginn unserer Arbeit an eine Möglichkeit dargestellt, mit der Auflösung der Kohärenz von Gegenwart und Gegenwarten zu experimentieren, fremde Blicke aus unmöglichen anderen Orten zu erfinden und damit die vermeintliche Wirklichkeit der Gegenwart zu allegorisieren oder auch porös zu machen. Denn wie singt Leonard Cohen? „There is a crack in everything / That’s how the light gets in“6 – aber manchmal ist es vielleicht nicht das Licht, das hereinkommt, sondern es sind Gespenster, Tiere oder Monster, aus dem Diesseits oder Jenseits des „Häutchen[s]“7 Mensch und den „Grenzen des Menschlichen“8. Was sie von uns wollen und wie wir mit ihren Gegenwarten umgehen, ist eine ebenso ethische, ästhetische wie politische Frage, die über einen voluntaristischen Möglichkeitsraum hinausgeht und uns mit der Dimension des Heteronomen konfrontiert. Oder wie die Historikerin Aleida Assmann mit Bezug auf Fragen der Geschichtsschreibung formuliert: Die entscheidende Frage ist deshalb nicht mehr ausschließlich: Was wollen wir von der Vergangenheit und Zukunft, sondern inzwischen immer öfter auch: Was will die Zukunft, was will die Vergangenheit von uns?9 Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück beginnt jedenfalls mit einer sprachlichen Geste der Realisierung und Vergegenwärtigung: Die Zukunft ist bereits jetzt real bzw. wir sind jetzt diese bzw. in dieser Zukunft. Im Rahmen der Fiktion der Aufführung wären also nicht allein die Performerinnen Boten oder Zeugen einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Vielmehr sind alle Anwesenden bereits Teil einer umfassenden Fiktionalisierung, die ihnen neue, die alten ergänzende Identitäten vermittelt. Den Hintergrund jener Zukunft, die zu Beginn der Inszenierung als Gegenwart bzw. als gegenwärtig installiert wird und von der ausgehend unsere heutige Gegenwart als fremd rekonstruiert werden soll, bilden hierbei die Theaterexperimente Brechts aus den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, in denen sowohl die Lehrstücke als auch das Pädagogium eine zentrale Rolle spielen. Zur Geschichte der Lehrstücke und des Pädagogiums

Bertolt Brechts Theaterarbeiten dieser Zeit sind nicht allein von der Herausbildung dessen geprägt, was heute unter dem Namen episches Theater kanonisch bekannt-unbekannt ist. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine Reihe theatraler Experimente aus, die emphatisch Fragen des Politischen und der Politisierung aufgreifen, während sie zugleich die Institution des bürgerlichen Theaters, seine Praxis und die damit verbundene, spezifische Aufteilung des Sinnlichen radikal in Frage stellen. Diese zunächst wenig rezipierte Seite des brechtschen Werkes erwies sich nach Brechts Tod als eine Ansammlung andauernd produktiver Herausforderungen bzw. Probleme, die bis in die Gegenwart in Theaterpraxis und Theatertheorie hinein wirken. Insbesondere die in diesem Zusammenhang zu verortenden Lehrstücke sowie das sogenannte Fatzer-Fragment haben bis heute den Ruf, Formen eines „Theater[s] der Zukunft“10 darzustellen, und fungieren auch im frühen 21. Jahrhundert weiterhin als problematisch-produktive Referenz von Theorie wie von Praxis. Entstanden in der Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik und wahrscheinlich in Erwartung einer revolutionären Situation und eines (post)revolutionären, sozialistischen Staates entworfen, nahmen die Lehrstücke Impulse aus der Laienmusikbewegung und dem Agitprop ebenso auf wie aus der noch jungen Reformpädagogik, dem kommunistischen Teil der Arbeiterbewegung, den dazugehörigen Formen politischer Praxis sowie seinerzeit neuen Medien wie Rundfunk und Film. Hinzu kam eine radikale Politisierung der eigenen Praxis: So standen im Lehrstück Die Maßnahme in der Arbeit mit Proletariern die richtige Aneignung bzw. Anwendung revolutionärer Verhaltenslehren im tödlichen Kampf der Klassen und das „ABC des Kommunismus“11 im Vordergrund. Gerade am Beispiel des Scheiterns dieser Aneignung und seiner demonstrativen Wiederholung im Setting eines „Parteigericht[s]“12 sollte falsches Verhalten kollektiv erkannt bzw. bearbeitet und richtiges Verhalten gelehrt werden: „Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren.“13 Brecht und seine Mitarbeiter zielten mit diesen Versuchen auf eine radikale Neubestimmung des Verhältnisses von Zuschauern und Spielern sowie des Theaters als einem Ort kollektiver Praxis: „Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden.“14 Brecht stellte darüber hinaus eine „Theorie der Pädagogien“ in Aussicht, in der die „besonderen Gesetze des Lehrstücks“ ausgeführt werden sollten.15 Obwohl dieser Text letztlich weder geschrieben noch veröffentlicht wurde, erkundete Brecht die spezifische Form einer solchen Institution namens Pädagogium im Fatzer-Fragment sowie dem dazugehörigen Fatzerkommentar. Dort schreibt Brecht, dass „die jungen Leute“16 oder auch „die Spielenden“17 im Pädagogium Sätze sprechen, Gesten ausführen sowie „sich in die Handlung begeben“18 und dadurch einem nicht näher spezifizierten Staat nützen würden. Über das Pädagogium erfahren wir dort weiterhin Folgendes:

Wenn einer am Abend eine Rede zu halten hat, geht er am Morgen in das Pädagogium und redet die drei Reden des Johann Fatzer. Dadurch ordnet er seine Bewegungen, seine Gedanken und seine Wünsche. Weiter: wenn einer am Morgen einen Verrat ausüben will, dann geht er am Morgen in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der ein Verrat ausgeübt wird. Wenn einer abends essen will, dann geht er abends in das Pädagogium und spielt die Szene durch, in der gegessen wird.19 Wie viele andere Theatermacher und Leser haben auch uns, die Leipziger Theater- und Performancegruppe friendly fire, solche Entwürfe oder Vorwürfe einer theatralen Praxis fasziniert und herausgefordert. Denn: Wie stellte sich Brecht das genau vor? Warum schreibt Brecht in diesem klassischen Stil? Wie könnte eine solche Praxis heute praktisch aussehen, wie könnte sie schon heute funktionieren? Welche Form hätte die zu diesem Theater gehörende Gesellschaft? Kann es ein solches Pädagogium überhaupt diesseits einer anderen Gesellschaft geben? Was gäbe es dort zu essen und gibt es überhaupt etwas zu essen, wenn die Szene gespielt wird, „in der gegessen wird“20? Will man so ein „Theater“? Zu welchem Preis? Auf welche Weise? Will man es jetzt? Wer hat wo und wann, wie auf diese Frage geantwortet? Und wäre nicht über all diese Fragen hinausgehend danach zu fragen, was die Zukunft und die Vergangenheit von Pädagogium und Lehrstück von uns wollen, wozu sie uns aufrufen und herausfordern? Monströse P/Re-enactments Viel spricht dafür, die Lehrstücke und das Fatzer-Fragment als Grenzfiguren auf der Schwelle zum Monstrum und zum Monströsen zu betrachten. Nicht nur sind sie aufgrund ihrer politischen Entstehungskontexte nachhaltig beeinflusst von den Exzessen und Hoffnungen jenes „der Passion des Realen ausgeliefert[en]“21 „Jahrhundert[s] der Extreme“22, das als 20. Jahrhundert zugleich selbst als monströs und als Schauplatz ungeheurer Monstrositäten erscheint. Darüber hinaus erweisen sie sich als mit der Dimension des Monströsen im Sinne einer Vorwegnahme bzw. eines Vorscheins eines zukünftigen, anderen Theaters assoziiert. Insofern ergibt es Sinn, vom Monströsen zu sprechen, denn das Monstrum [ist] etwas, das zum ersten Mal auftaucht und folglich nicht erkannt oder wiedererkannt werden kann. Ein Monstrum ist eine Gattung, für die wir noch keinen Namen haben […] Sie zeigt sich einfach [elle se montre] – das ist die Bedeutung des Wortes „Monstrum“ –, sie zeigt sich in einem Wesen, das sich noch nicht gezeigt hatte und deshalb einer Halluzination gleicht, ins Auge fällt, Erschrecken auslöst, eben weil keine Antizipation bereit stand, diese Gestalt zu identifizieren.23 Monströs in diesem Sinne sind nicht nur die Kämpfe, Träume, Verbrechen und Zeiten aus denen

Brechts Versuche mit hervorgingen und die sie theatral bearbeiten bzw. verhandeln. Monströs sind auch die Theaterexperimente, Demonstrationen und Versuche der Lehrstücke sowie des Fatzer-Fragments, insofern sie sich und – noch immer – uns mit der Frage und der Form eines „Theater[s] der Zukunft“24 konfrontieren. Vielleicht wäre dieses Theater ja jener Szene in Fatzer nicht unähnlich, die ebenso „halluzinativ sein [muss] wie gestellt“25. Lehrstücke und Fatzer-Fragment berühren die Dimension des Monströsen, insofern sie sich mit einer noch „nicht erkannt[en]“ oder „wiedererkannt[en]“ – eben zukünftigen – theatralen Praxis auseinandersetzen bzw. sich ihr partiell aussetzen und ihre (Un)Möglichkeit(en) bereits heute demonstrieren oder zeigen. Tatsächlich realisierten die historischen Lehrstückversuche Brechts ihre anvisierten proletarischen und revolutionären Kollektive nicht bereits in der Gegenwart ihrer Entstehung oder Premiere – vielmehr nahmen die in und mit ihnen entworfenen Spielpraxen die Form „praktische[r] Demonstration[.]“26, wie im Fall von Der Flug der Lindberghs, oder „eine[r] Art Ausstellung“27, wie im Fall von Die Maßnahme, zukünftiger Nutzungen und Realisierungsformen an. Während Lehrstücke wie Die Maßnahme oder auch das FatzerFragment bezüglich Inhalt, Plot und Dramaturgie der Szene die Dimension der Wiederholung oder auch des Reenactments favorisieren – wie es das „Wir wiederholen den Vorgang“28 der vier Agitatoren in Die Maßnahme paradigmatisch auf den Punkt bringt – ist es die Dimension des Preenactments, welche die Darstellung der damit verbundenen zukünftigen Spielformen auszeichnet. Das heißt: Die Lehrstücke wurden präsentiert als bzw. als Präsentierte wurden die Lehrstücke vorläufige Formen im Sinne von Ankündigungen, Modellvorführungen oder Testläufen, die primär Demonstrationen, also Vorspiele zukünftig zu realisierender Spielformen darstellten – Theatralisierungen einer Kritik und Überschreitung bürgerlicher Formen von Theater (noch immer) als Theater im Abstand zwischen Theorie und Praxis. Oder, um es mit dem Messingkauf zu sagen: „Aus einer Kritik des Theaters wird neues Theater.“29 Die Formen dieser Preenactments reichen von den erwähnten Demonstrationen und Ausstellungen zukünftig zu realisierender Spielformen – wie man sie, wenn auch verwandelt, viele Jahre später auch noch in den heute kanonischen Texten des epischen Theaters wie Der kaukasische Kreidekreis finden wird – über fragmentierte chorische Szenenentwürfe bis hin zu Theoriebruchstücken und vereinzelten Schilderungen zukünftiger Theaterpraktiken aus der Perspektive eines kanonischklassischen Kommentars30, wie Brechts Äußerungen zum Pädagogium bereits teilweise gezeigt haben. Das Ausbleiben der Zukunft Das anvisierte, revolutionäre Theater des Pädagogiums und der Lehrstücke blieb historisch ebenso aus, wie der neue sozialistisch-kommunistische Staat. Auch eine verbindliche Rahmung der Lehrstückversuche, beispielsweise in Form der von Brecht in Aussicht gestellten „ausführlichen ‚Theorie der Pädagogien‘“ als Darlegung der „besonderen Gesetze des Lehrstücks“, sollte niemals escheinen.31 Die historische Stunde der Kollektive, auf die sich

Brechts Theaterversuche Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre beziehen und deren Horizont sie bildet, hat als historisch Ausgebliebene unserer Meinung nach eine Kluft hinterlassen, die auch mit einem Sprung für die Nachgeborenen nicht so einfach zu überbrücken ist. Sollten Pädagogium und Lehrstücke jemals Teil einer Konstruktion der „verfassungsgebende[n] Versammlungen der Menge [gewesen] sein, [welche in einer kommenden Gesellschaft die] gesellschaftliche Fabriken zur Produktion von Wahrheit“32 konstituieren, so wartet auch dieses Unternehmen als uneingelöstes Versprechen weiterhin auf seine Realisation. Ist man nun ein wenig ungerecht, könnte man sagen: Die Lehrstückforschung und theaterpädagogische Lehrstückpraxis haben dieses Ausbleiben des Lehrstücks weniger intensiv thematisiert als vielmehr supplementiert und im Kontext linker Reformbewegungen nach 1968 mittels der Lehrstücke das kritische Durcharbeiten gesellschaftlicher (Gewalt-)Verhältnisse auf der Ebene des eigenen Lebens und Erfahrens in den Blick genommen.33 Im Wechsel von szenischem Spiel und gemeinsamer Diskussion sollte Kritik am eigenen und fremden Verhalten geübt und ermöglicht werden – wobei das Spiel zugleich Anlass und Material der Diskussion generierte. Dabei wurde die Lehrstückpraxis, nachdem sie zuerst aus konzertanten Demonstrationen möglicher theatraler Spielformen unter Gebrauch von Laien, Chören, Schauspielern und neuen Medien bestanden hatte, Jahrzehnte später in Form seminarähnlicher Workshops und ähnlicher Formate theaterpädagogischer Praxis neu erfunden. Wobei diese Aneignungsbewegung in den letzten Jahren zum Teil im Namen historischer Authentizität kritisiert wurde – eine Haltung, die ebenso leicht einzunehmen wie angesichts der beschriebenen performativen Struktur der Lehrstücke zu kurz gegriffen ist. Für unsere Arbeit mit den Lehrstücken und dem Fatzer-Fragment war vielmehr entscheidend, dass die theaterpädagogisch grundierte Rezeption von Lehrstück und Pädagogium in dem Riss, der diese von ihrer Realisierung trennt, neue Praxisformen installierte. Was zuvor bei Brecht und seinen Mitarbeitern beispielsweise als „politisches Seminar“34 oder „Parteigericht“35 die theatrale Praxis und Imagination des Lehrstücks in der Gegenwart inspirierte bzw. unter den Bedingungen seiner noch nicht erfolgten Realisierung supplementierte, waren nun andere Formen wie die universitäre Vollversammlung, das wissenschaftliche Seminar oder die Wohngemeinschaft. So wurden Brechts Lehrstücke nicht zuletzt eine wichtige Inspiration für die sich konstituierende Theaterpädagogik und ihre ebenso theatrale wie soziale Praxis. Wie Brechts Experimente selbst gehören diese Versuche nach und mit Brecht unwiderruflich zur Faszinationsgeschichte des Lehrstücks bzw. des Pädagogiums und ihres immer wieder unvollendeten Ankommens in der Gegenwart. Es verschlägt einem fast den Atem, betrachtet man die Leidenschaft und Produktivität, die im Zusammenhang mit der Fortschreibung der brechtschen Theaterversuche freigesetzt wurde. Workshops, Seminare, Arbeitsprozesse und Sitzungen wurden vielfältig dokumentiert, archiviert und in zahlreichen Publikationen aufgearbeitet, während sich eine vielseitig ausdifferenzierte, größtenteils linksalternativ politisierte Theorie- und Praxislandschaft ausbildete.36

Die Geschichte des brechtschen „Theater[s] der Zukunft“37 erweist sich dem interessierten Blick in diesem Sinne als ein Archiv kulturellpolitischer Entwicklungen des 20. sowie des 21. Jahrhunderts und der mit ihnen verbundenen, grundsätzlichen Fragen nach Theater, Kollektiv, Politik und Pädagogik. Auf die anhaltenden Versuche, Pädagogium und Lehrstück entweder zu realisieren oder zu verabschieden, reagiert unsere Inszenierung mit der Exposition einer monströsen Kopplung von Reenactment und Preenactment, bei der sich Geschichte und Geschichtlichkeit in immer neuen Konstellationen einstellen und die Gegenwart ihren festen Ort verliert. Vom Pre- zum Reenactment Besteht die Eingangsgeste von Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück in der Konstitution einer historisch niemals realisierten Zukunft als unserer geteilten Gegenwart, so besteht die zweite Geste der Inszenierung darin, unsere Gegenwart zu rekonstruieren bzw. zurück in unsere Gegenwart zu reisen. Der Übergang zwischen diesen Gegenwarten vollzieht sich in Form einer Übung, die eine „Rückkehr zur Gegenwart“38 einleitet und von den Performerinnen angeleitet wird: Wir bilden einen Kreis. Schließt die Augen. (Musik) Wir vergessen, was das ist: die Gegenwart. Wir vergessen, was das ist: das Pädagogium. Wir reisen zurück in die Gegenwart der Vergangenheit. Wir reisen zurück in unsere Gegenwart als Zukunft. Wir vergessen unser Vergessen. Wir verlernen unser Verlernen. Wir wissen nicht mehr, was das ist – ein Publikum. Aber ihr werdet jetzt – ein Publikum. Wir wissen nicht mehr, was das ist – ein Performer. Aber wir werden jetzt – Performer. Wir wissen nicht mehr, was das ist – eine Aufführung. Aber wir rekonstruieren jetzt – eine Aufführung. Heute werden wir so tun, als ob ihr wüsstet, was das ist: ein Publikum. Und wir werden so tun, als ob wir wüssten, was Performer sind. Ihr werdet so tun, als ob ihr nicht wüsstet, was das ist: ein Pädagogium. Und wir werden so tun, als ob wir nicht wüssten, was ein Lehrstück ist. Öffnet JETZT die Augen. Der Übergang konstituiert zwar zunächst das „Wir“ einer Kollektivität, wendet sich dann jedoch dem Prozess eines Vergessens und der Trennung dieses „Wir“ von einem „Ihr“ zu, der zur Bedingung einer Rückkehr in die Gegenwart wird. Dabei wird die Situation als doppeldeutiges performatives Spiel mit dem Als-ob der theatralen Situation lesbar: Das Vergessen, zu dem aufgefordert wird, verdoppelt den bereits vorhandenen szenisch-sozialen Kontrakt der Theatersituation des Als-ob. Hierauf folgt die Wiederholung des Beginns jener Performance, deren Spuren angeblich in den Archiven gefunden wurden – zumindest jener Teile, die sich aus „den überlieferten Dokumenten“ ableiten lassen. Die Inszenierung beginnt nun ihre eigene Wiederholung in Szene zu setzen und offen in ihrer Medialität auszustellen. Die drei Performerinnen beginnen, eine Reihe von festgelegten Positionen abwechselnd

nacheinander einzunehmen sowie eine Reihe sich wiederholender Gesten auszuführen, während sie auf Englisch vom Probenprozess der Inszenierung sprechen: We worked on this project for a really long time. We rehearsed everything. Every gesture. Every position we take. And every walk we make. We rehearsed what we do and how we do it. We rehearsed how we communicate with the audience, with you and how we bond with them, with you and you, and you. Das Ergebnis dieser „Probenarbeit“39, so versichern Die Drei, war „simply – amazing“. Berichtet wird davon, dass alle Beteiligten klatschten, sich freuten, schrien, lachten und gleichzeitig weinten, kritisches Bewusstsein entwickelten und zugleich voller Freude waren – man könnte fast meinen, dass es sich um einen Wunschkatalog von Rezeptionserlebnissen bzw. -zuständen handelt. Die Drei rufen es denn auch laut aus: „It was everything the Lehrstück was ever supposed to be!“ Die rekonstruierte Performance erweist sich so als Bericht von einem ebenso erfolgreichen Proben- wie Aufführungsprozess, an dessen Ende die Einlösung aller Versprechen und utopischen Potentiale des Lehrstücks steht bzw. gestanden hat – denn diese Realisierung des utopischen Potentials lässt sich nicht wiederholen: The thing is… we forgot everything. We forgot every single minute of the performance. Everything is lost. Forever. Forever ever? Forever ever. We cannot show you anything we did. But instead, we can show you something from the archive. Let’s have a look. Dieses Vergessen des gerade noch Erreichten und Erarbeiteten realisiert nicht nur das „Trauma der Probe“40, sondern wird im Folgenden auch zum Einsatz der vermeintlich supplementären Dimension des Medialen. Da aufgrund einer Gedächtnislücke und einer fehlenden Erinnerung nicht gezeigt werden kann, wie das Lehrstück realisiert wurde und seine Versprechen einlöste, wird anstelle dessen ein Blick auf das Archiv der Lehrstückgeschichte geworfen, d. h.: Eine Nutzung des Lehrstücks wird anhand von Archivalien demonstriert. Und tatsächlich beginnt nun ein Beamer, eine alte Videoaufnahme abzuspielen. Zu sehen sind zusammengeschnittene Schwarz-weiß-Aufnahmen und Szenen eines lehrstückbasierten Theaterseminars auf der Eichenkreuzburg aus dem Jahr 1980. Die Szenen beinhalten ebenso Spielversuche mit Originaltexten von Brecht – und zwar aus Das Badener Lehrstück vom Einverständnis – wie Diskussionen der Teilnehmer im Anschluss an diese. Deutlich sind hierbei noch die Spuren der 1970er Jahre in Kleidung, Habitus und Sprache der Beteiligten ablesbar.41 Einfache Aufwärmund Spielübungen stehen neben marxistisch geprägten theoretischen (auch gespielten) Gesprächspassagen, dazwischen liegen Spielversuche mit Brechts Texten, die wiederum unterschiedlich szenisch gerahmt sind und unterschiedliche Grade von Improvisation

aufweisen. Eine etwas ungeübt klingende Stimme sagt aus dem Off: Ziel des Seminars war es zu untersuchen, inwieweit Brechts Lehrstücke heute noch aktuell sind, ob sie etwas mit Jugendlichen und ihren Problemen zu tun haben und ob man mit dieser experimentellen Spielweise daran arbeiten kann.42 Archiv und Verstehen Dieses Video stammt aus dem Bestand des Deutschen Archivs für Theaterpädagogik (Hochschule Osnabrück), welches zugleich als unser Kooperationspartner eine entscheidende Rolle für die Produktion spielte. Denn die bereits erwähnten, umfangreichen Dokumentationen der Lehrstückversuche bilden heute einen nicht unerheblichen Teil des Archivbestandes.43 Wenn die Rezeptionsgeschichte der Werke denselben nicht äußerlich bleibt – ja, wenn man in Erwägung zieht, dass sie bis zu einem gewissen Grad symptomatische Fortführungen und Neubearbeitungen der im Werk, mit Adorno gesprochen, stillgestellten Konflikte darstellen44 –, dann gilt es, diese Bestände diesseits einer Rückkehr zu Brecht im emphatischen Sinn erst noch zu entdecken und damit zu wiederholen. Und so wiederholen bzw. übernehmen die drei Performerinnen nach dem Ende des Videos einzelne Sätze und Gesten aus der Aufzeichnung, während sie sich, nachdem sie demonstrativ die Aufzeichnung gemeinsam mit dem Publikum angeschaut haben, wieder dem Publikum zuwenden. Laut Agamben ist die Geste […] dadurch gekennzeichnet, dass man in ihr weder etwas hervorbringt bzw. macht noch ausführt bzw. handelt, sondern etwas übernimmt und trägt. Das heißt, die Geste eröffnet die Sphäre des ethos als die dem Menschen eigenste Sphäre. […] Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit [medialità], das Sichtbarmachen eines Mittels [mezzo] als solchem.45 Im weiteren Verlauf der Inszenierung wird dieses Übernehmen und damit auch das körperliche Aneignen von Gesten und Worten wiederholt, wenn weitere Aufnahmesequenzen des Theaterseminars gezeigt werden: Diesseits einer Privilegierung der Ursprünge war es uns wichtig, unter Wahrung der historischen, ästhetischen und biographischen Distanz auf das von uns Gehörte und Gesehene zu antworten, uns ihm gegenüber zu verantworten – Gesten und Worte zu übernehmen, für eine, wenn auch nur kurze, Zeit zu tragen und hierbei in der Situation der Aufführung in einem neuen Zusammenhang zu prüfen. Während unserer Recherchearbeit im Deutschen Archiv für Theaterpädagogik in Lingen sichteten wir eine Vielzahl von Protokollen, Berichten, Ton- und Videoaufnahmen solcher Lehrstückspielversuche. Dabei entstand die Vorstellung, sie wie Brechts eigene Demonstrationen der Lehrstücke als Platzhalter einzusetzen. Die Funktion eines solchen

Platzhalters ist jedoch immer eine doppelte: Zwar überbrückt sie in gewissem Sinne eine Distanz, indem sie sich im Abstand einrichtet – doch hält sie als Medium und Vermittler ebenso diese Distanz aufrecht bzw. manifestiert sie geradezu. Und so führt auch die Nachahmung der Gesten und Worte zwar zu einer Übernahme und damit auch zu einer Übertragung, doch wird diese nicht zur Grundlage einer Identifikation, sondern einer situativen Befragung der Vergangenheit sowie einer In-Frage-Stellung unserer heutigen Gegenwart aus der Perspektive der erneut als Gegenwart durch die Performerinnen aktualisierten Zukunft: (Windgeräusche, Flüstern) Halt. Wir müssen euch etwas sagen: Wir verstehen die Gegenwart unserer Vergangenheit nicht. Wir haben gehört, dass die Lehrstücke den Unterschied zwischen Zuschauenden und Handelnden abschaffen wollten – aber was soll das denn sein: der Unterschied zwischen Zuschauenden und Handelnden. Mit diesen Worten richten sich die Performerinnen heiter und amüsiert an das Publikum und setzen die Reihe aus zukünftiger Sicht unverständlicher Begriffe fort: Was ein Theater, ein Schauspieler, ein Dramaturg, ein Applaus, ein Auftritt oder eine Klasse sein soll, ist ebenso unverständlich wie die Frage, ob es vor der Revolution kein Pädagogium gab – denn was sollte das denn sein, eine Zeit vor der Revolution? Alle diese Begriffe sind in der Gegenwart natürlich wohlbekannt. Sie gehören zum Standardrepertoire des Redens über Theater bzw. Politik und werden in dieser Passage weniger dekonstruiert oder kritisiert als vielmehr einer Unvorstellbarkeit überantwortet. Damit aber wird ein Perspektivwechsel vollzogen: An die Stelle der historischen Rede über die Nichtrealisierbarkeit und Fremdheit der Lehrstücke, ihre Unzeitigkeit und ihr Ausstehen tritt eine Irrealisierung der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft der Lehrstücke und des Pädagogiums. Aus ihrer Perspektive erscheinen unsere Wirklichkeit und ihre leitenden Kategorien nicht nur als inkohärent und unsinnig, sondern als geradezu unvorstellbar. Wir denken, dass dies heute ein Potential von Theater in den vielfältig verstrickten und überlagert-assoziierten Prozessen von Politik und Politischem sein könnte: der Gegenwart ihre Glaubwürdigkeit, ihre Plausibilität, ihre Kohärenz und ihre Normativität zu nehmen. Vielleicht wäre das auch in gewisser Weise eine Wiederkehr der brechtschen Verfremdung: sich selbst und andere sowie die geteilte Welt und die Welt des Teilens in ihrer Nichtplausibilität, Undurchsichtigkeit und Unverständlichkeit und damit auch mit Bezug auf die Dimension des Realen wahrzunehmen. Das wäre Teil einer Erfahrung der „Undurchsichtigkeit des Subjekts“46, seiner gesellschaftlichen Rahmungen sowie seiner ebenso ambivalenten wie produktiven „Vulnerabilität und Interdependenz“47 im Sinne einer „Inkohärenz des Subjekts“48, die zugleich politisch und theatral ist. Rundgang durch die Zukunft

Was für die drei Performerinnen mit dieser Nichtvorstellbarkeit der Vergangenheit auf dem Spiel steht, ist die Vorstellung der eigenen Gegenwart als einer (möglichen) Zukunft – um die es ja seit Beginn der Aufführung zu tun war. Erneut reagieren sie auf diese Situation mit einem Gang ins Archiv. Während Klaviermusik zu hören ist, setzen Die Drei sich an zuvor von ihnen positionierte Tische und beginnen aus Archivalien, des Deutschen Archivs für Theaterpädagogik sowie Publikationen zur theaterpädagogischen Lehrstückarbeit zu lesen. Dabei mischt sich Theoretisches, Politisches, Privates und Öffentliches, Lustiges, Absurdes und Ernstes, ebenso wie Nachvollziehbares, Irritierendes und Fremdes auseinandertreten, während zugleich Aufnahmen von Archivmaterial an eine Wand projiziert werden. Gerade in der Premiere von Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück war das ein wichtiger Moment. Denn anwesend im Publikum waren Lehrstückakteure aus jener Zeit: Theoretiker wie Praktiker, deren eigene Geschichte und Geschichtlichkeit hier Gegenstand der Inszenierung wurde und deren körperliche Kopräsenz sie im Moment dieser Historisierung ebenso stark mit den präsentierten Bildern identifizierte wie auch von ihnen abtrennte. Die Passage endet mit dem zitierten Bericht einer Lehrstückspielerin über das befreiende und ermächtigende Gefühl, gemeinsam in einer Gruppe zu schreien – woraufhin die drei Performerinnen gemeinsam einen spitzen, hohen Schrei ausstoßen. Erneut werden jetzt die Anwesenden darum gebeten, einen Kreis zu bilden und die Augen zu schließen, worauf eine imaginäre Führung durch die Räumlichkeiten des Pädagogiums auf der Basis von Brechts Anmerkungen zum Pädagogium folgt. Diese Annäherung an die Theaterentwürfe Brechts involviert das Publikum auf der Grundlage einer Distanzierung: Damit ich die Räumlichkeiten und die mit ihnen verbundenen Praktiken des Pädagogiums vor mir sehen bzw. mir zeigen lassen kann, muss ich die Augen schließen und den visuellen Fluss der Bilder unterbrechen. Unter uns Laut Alain Badiou ist der Mord so etwas wie „eine zentrale Ikone“ des 20. Jahrhunderts und seiner „Passion des Realen“49. Wenn wir also die Frage stellen, was das 20. Jahrhundert gewesen sein wird, müssen wir auch fragen, was der Mord gewesen sein wird. Vielleicht ist es in diesem Sinne kein Zufall, dass Brechts wahrscheinlich ikonischstes Lehrstück Die Maßnahme und auch das Fatzer-Fragment sich um die Tötung eines bzw. den Mord an einem zentralen Charakter drehen. Diese Tötung bzw. dieser Mord wird zum Impuls für das Nachstellen der Geschichte dieser Tat, in dem alle beteiligten Spieler „von einer Rolle zur nächsten wechseln [müssen] und nacheinander den Platz des Angeklagten, der Kläger, der Zeugen, der Richter einnehmen“.50 Die Inszenierung greift dies sowie die Spielsituation der Maßnahme auf und führt sie ad absurdum: Wenn alle Spieler in Die Maßnahme nach Brecht auch einmal den erschossenen jungen Genossen und sein Gegenüber spielen sollen, dann haben wir uns alle irgendwann einmal gegenseitig getötet, uns beim Töten zugesehen und uns gegenseitig in der Kalkgrube verschwinden lassen:

Jetzt sind wir unter uns. Und unter uns sind diejenigen, die unter uns, im Kalk sind. Aber unter uns sind auch diejenigen, unter denen, im Kalk, wir sein werden: Die Geister aus Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Der Kalk spricht: „Das große Pädagogium ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer dabei sein will, melde sich! Wir sind das Pädagogium, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf ins Pädagogium!“ Das Unter-sich-Sein der Lehrstückspieler war bereits für Brecht ein wichtiger Aspekt der Lehrstücke. Im Gespräch mit Pierre Abraham führte er beispielsweise aus, Die Maßnahme sei „nicht gemacht, um gelesen […] [oder] gesehen zu werden“. Sie sei vielmehr gemacht, um „gespielt zu werden. Damit man es unter sich spielt.“51 Dem darin sich auch artikulierenden Immanenzphantasma folgt die Szene bis in die materialistisch-wortwörtlich-halluzinative Konsequenz: Wer unter sich ist, der ist bereits jetzt (prospektiv) im Boden, bei den Toten, d. h.: im Kalk. Und dieser Kalk spricht die Sprache der Anrufung bzw. des Aufrufs. Was der Kalk spricht, erweist sich als Umschrift jenes unheimlichen Aufrufs des Naturtheaters von Oklahoma, dem Franz Kafkas Charakter Karl Roßmann in Der Verschollene52 begegnet. Laut Walter Benjamin ist Kafkas Welt […] ein Welttheater. […] Und die Probe aufs Exempel ist: Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. […] den Bewerbern wird überhaupt nichts anderes zugetraut, als sich selbst zu spielen. Daß sie im Ernstfall sein könnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich des Möglichen aus.53 Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück endet so mit einer ambivalenten Geste der Inklusion und ihrer Faszination. Ob und wie man dem latent unheimlichen, aus dem Kalk erklingenden Ruf des Pädagogiums folgen sollte, ist weder gänzlich klar noch einfach so entscheidbar. Die drei Performerinnen reagieren auf diese ambivalente Anrufung jedenfalls mit einer affirmativen Übertragung. Mit den Worten „Auf ins Pädagogium!“ schalten sie das Licht aus, und ein letztes Mal erscheinen Aufnahmen des Theaterseminars auf der Eichenkreuzburg 1980. Dann, als wäre es noch nicht dunkel genug, fordern sie erneut zum gemeinsamen Schließen der Augen auf. Augen zu und durch (II) Die Drei: Schließt die Augen. Die Gegenwart träumt: Sie träumt vom Lehrstück und vom

Pädagogium. Die Gegenwart fiebert. Und wir, wir fiebern mit. Fiebern heißt: Üben. Betrachtet jetzt mit geschlossenen Augen eure Hände und eure Arme. Neben der Geschichte der Taten, die getan, und der Worte, die gesagt wurden, gibt es eine Geschichte der Taten und Worte, die gesagt und getan hätten werden können. Diese Geschichte ist der Fiebertraum der Lehrstücke, die Stunde des Pädagogiums. Wir kehren jetzt in die Gegenwart zurück und berühren die Zukunft auf der uns zugewandten Seite: Konzentriert euch. Betrachtet noch einmal mit geschlossenen Augen eure Hände und eure Arme. Erinnert euch an die Lehrstück-Gesten, die ihr ausgeführt und die ihr nicht ausgeführt habt. Erinnert euch an die Lehrstück-Szenen, die ihr gespielt, und an die Lehrstück-Szenen, die ihr nicht gespielt habt. Erinnert euch an die Lehrstück-Worte, die ihr gesprochen, und an die Lehrstück-Worte, die ihr nicht gesprochen habt. Erinnert euch an die Lehrstück-Wochen, die ihr erlebt, und an die Lehrstück-Wochen, die ihr niemals erlebt habt. Wiederholt leise, kaum hörbar die genauen Worte, die in den Lehrstück-Diskussionen gesprochen wurden, und die genauen Worte, die in den Lehrstück-Diskussionen nicht gesprochen wurden. Wir sind unter uns. Enter: the Ghosts. Exit: the Lehrstück. Öffnet jetzt die Augen. (Die Drei gehen auf einzelne Besucher zu und geleiten sie zum Ausgang.) Schön, dass du hier warst. Ich begleite dich noch zum Ausgang. And always remember: What happens in the Pädagogium, stays in the Pädagogium. 1

Auszug aus der friendly-fire-Performance Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück. Zitate aus dem bisher nicht publizierten Text der Inszenierung werden im Folgenden nicht separat nachgewiesen.

2

Im Kern bestehend aus Melanie Albrecht, Michael Wehren und Helena Wölfl.

3

Lange, Britta: Die Entdeckung Deutschlands. Science Fiction als Propaganda, Berlin 2014, S. 53.

4

Badiou, Alain: Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung, Wien 2015, S. 64.

5

Ebd.

6

Cohen, Leonhard: „Anthem“, in: Ders.: The Future, Colombia 1992.

7

Artaud, Antonin: „Das Theater und die Anatomie“, in: Ders.: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater, München 2002, S. 69–76, hier S. 69.

8

Vgl. zu diesem Begriff: Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2011.

9

Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 323f.

10

Manfred Wekwerth, hier zitiert nach Steinweg, Reiner (Hrsg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt a. M. 1976, S. 201.

11

Brecht, Bertolt: [Die Maßnahme. Lehrstück] (Fassung 1930), in: Ders.: Stücke 3. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 3, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1988, S. 73–98, hier S. 79.

12

Ders.: [Das Lehrstück „Die Maßnahme“,], in: Ders.: Schriften 4. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 24, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1991, S. 96f., hier S. 96.

13

Ebd.

14

Ders: [Zur Theorie des Lehrstücks], in: Ders.: Schriften 2. Teil 1. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 22, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 351f., hier S. 351.

15

Ders.: „Anmerkung“, in: Ders.: Schriften 4, S. 90f., hier S. 90.

16

Ders.: [Fatzer], in: Ders.: Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 1. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 10.1, S. 387–529, hier 524.

17

Ebd., S. 525.

18

Ebd.

19

Ebd., S. 517.

20

Ebd.

21

Badiou, Alain: Das Jahrhundert, Zürich 2006, S. 53.

22

Vgl. Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

23

Derrida, Jacques: „Übergänge – vom Trauma zum Versprechen“ (Interview mit Elisabeth Weber), in: Ders.: Auslassungspunkte. Gespräche, Wien 2002, S. 377–398, hier S. 390.

24

Manfred Wekwerth zitiert nach Steinweg (Hrsg.): Brechts Modell der Lehrstücke, S. 201.

25

Brecht: [Fatzer], S. 387.

26

Ders.: „Dichtung für Übungszwecke“, in: Steinweg: Brechts Modell, S. 66.

27

Brecht: [Das Lehrstück „Die Maßnahme“], S. 96.

28

Ders.: [Die Maßnahme], S. 77.

29

Ders.: Journale 1. Tagebücher 1913–1922. Journale 1938–1941. Autobiographische Notizen 1919–1941. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 26, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1994, S. 328.

30

Zum Zusammenhang von Klassischem und Kommentar vgl. Benjamin, Walter: „Kommentare zu Gedichten von Brecht“, in: Ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge. Gesammelte Schriften Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 539–572, hier S. 539: „Der Kommentar geht von der Klassizität seines Textes und damit gleichsam von einem Vorurteil aus.“

31

Brecht: „Anmerkung“, S. 90.

32

Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. 2002, S. 169.

33

Zur Entstehung der Theaterpädagogik in Deutschland im Allgemeinen bzw. der mit dieser verbundenen Lehrstückszene im Besonderen vgl.: Streisand, Marianne/Hentschel, Ulrike/Poppe, Andreas/Ruping, Bernd (Hrsg.): Generationen im Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I, Berlin/Milow/Strasburg 2005.

34

Eisler referiert von Tretjakow, zitiert nach: Steinweg: Brechts Modell der Lehrstücke, S. 120f., hier S. 120.

35

Brecht: [Das Lehrstück „Die Maßnahme“], S. 96.

36

Vgl. auch hierzu die Gespräche in: Streisand: Generationen im Gespräch.

37

Manfred Wekwerth zitiert nach Steinweg (Hrsg.): Brechts Modell der Lehrstücke, S. 201.

38

Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 10.

39

Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2009, S. 285.

40

Ebd.

41

Eine äußerst interessante Kontextualisierung dieses Seminars nimmt vor: Ruping, Bernd: „Das Lehrstück als leibhaftiger Diskurs. Zur praktischen Archäologie der Theaterpädagogik“, in: Massalongo, Milena/Vaßen, Florian/Ruping, Bernd (Hrsg.): Brecht gebrauchen. Theater und Lehrstück – Texte und Methoden, Berlin/Milow/Strasburg 2016, S. 101–128, insbesondere S. 101f.

42

Ebd., S. 101.

43

An dieser Stelle möchten wir noch einmal ganz herzlich Marianne Streisand und Bernd Oevermann für ihr Vertrauen, ihr Interesse und ihre Unterstützung danken. Ohne den Kredit der Institution und der mit dieser verbundenen Personen hätte das Projekt so nicht stattfinden können.

44

Vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 268: „Das Resultat des Prozesses sowohl wie er selbst im Stillstand ist das Kunstwerk.“

45

Agamben, Giorgio: „Noten zur Geste“, in: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 53–62, hier S. 59f.

46

Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a. M. 2007, S. 30.

47

Dies.: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016, S. 279.

48

Dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 95.

49

Badiou: Das Jahrhundert, S. 61.

50

Brecht referiert von Pierre Abraham, zitiert nach: Steinweg: Brechts Modell der Lehrstücke, S. 197–199, hier S. 197.

51

Ebd.

52

Kafka, Franz: Der Verschollene, Prag 2010.

53

Benjamin, Walter: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestags“, in: Ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge. Gesammelte Schriften Bd. II.2, S. 409–438, hier S. 422f.

Francesco Fiorentino

AUFTRITT DER VIER AGITATOREN Freud, Marx, Lenin und Brecht

Psychoanalyse und Revolution Die folgende Lektüre von Brechts Lehrstück Die Maßnahme soll als Versuch verstanden werden, das epische Theater, seine Intentionen und seine Struktur sowie dessen Fortschreibung bei Heiner Müller mit Hilfe von drei psychoanalytischen Begriffen zu beschreiben, die den kurzen und wegweisenden Titel eines Textes von Sigmund Freud bilden: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Mit diesen Begriffen bezeichnet Freud die drei Momente des analytischen Prozesses. Das erste Moment ist das eigentliche Ziel der Analyse: die Erinnerung von verdrängten traumatischen Ereignissen der Vergangenheit, die zu einer Veränderung im Subjekt führen soll. Dagegen agieren Verdrängunswiderstände, die sich vor allem in der Form von Wiederholung äußern. Anstatt sich daran zu erinnern, wiederholt der Analysierte das Vergessene und Verdrängte, ohne zu wissen, dass er es wiederholt. Doch ist die Wiederholung nicht nur die Manifestation eines Widerstands, sondern auch eine besondere Art der Erinnerung, die mit der Kontinuität der Verdrängung bricht. Sie steht am Anfang der Analyse, stellt sozusagen deren Ermöglichung dar. Die Analyse selbst, die Übertragung, die in ihr stattfindet, „ist selbst nur ein Stück Wiederholung und die Wiederholung ist die Übertragung der vergessenen Vergangenheit“.1 Erst durch diese Übertragung ergibt sich die Chance, den Wiederholungszwang als solchen zu erkennen. Dieses Erkennen reicht aber nicht, um den durch die Wiederholung agierenden Widerstand zu überwinden. Er muss eine besondere Behandlung erfahren, die Freud mit dem Begriff Durcharbeitung bezeichnet. Damit ist eine Arbeit gemeint, mit der man über die rein intellektuelle Erkenntnis hinaus zu einem Erleben der verdrängten Triebe oder Zusammenhänge gelangt, das dem „Abreagieren“ in der hypnotischen Behandlung gleichgestellt werden kann,2 das also eine starke körperliche Dimension hat, aber zu einer tieferen und dauerhafteren Veränderung des Subjekts als bei der Hypnose führt. Am Durcharbeiten betont Freud zwei Züge, die bei Brecht als zentrale Motive wiederkehren: Zum einen, dass es beschwerlich ist und Geduld erfordert; zum anderen, dass es „jenes Stück der Arbeit [ist], welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat und das die analytische Behandlung von jeder Suggestionsbeeinflussung unterscheidet“.3 Was Freuds Text so interessant macht für eine Lektüre des epischen Theaters und insbesondere des Lehrstücks Die Maßnahme, sind die überraschende Analogie zwischen dem darin

beschriebenen Vorgang des Durcharbeitens und der von Marx und Lenin formulierten Idee der proletarischen Revolution. Sie wird bei Marx als Gegensatz zur bürgerlichen Revolution begriffen. Diese beschreibt er als von einem Wiederholungszwang beherrscht, als von der Wiederkehr einer unverarbeiteten Vergangenheit bestimmt, die kastrierend auf die revolutionäre Libido wirkt, welche das Neue will und doch nur das Alte schafft: Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.4 Die geschichtlichen Akteure wiederholen vergangene Versäumnisse, statt sich an sie zu erinnern. Die Tradition funktioniert wie eine Triebrealität, die sich das Begehren nach Neuem der revolutionären Subjekte unterwirft, sich ihrer Kontrolle entzieht und sie zur Wiederholung immer desselben Scheiterns zwingt. Die proletarische Revolution beschreibt Marx metaphorisch als den Vorgang, in dem eine zweite Sprache endlich die Stelle der bürgerlichen „Muttersprache“ einnimmt und diese restlos verwischt. Der Kommunismus kommt so einem Zustand der freien Produktion in einer neuen Sprache gleich, die völlig von der sprachlichen Produktionsweise der Vergangenheit befreit ist, die „sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt“.5 Die Vergangenheit ist ein Hindernis. Um zu sich selbst zu kommen, muss das revolutionäre Subjekt die in ihm unbewusst wirkenden Strukturen der Vergangenheit überwinden. Diese Arbeit der proletarischen Revolutionen besteht in dieser Überwindung. Sie ist ein Durcharbeiten im Sinne Freuds. Sind bürgerliche Revolutionen in ihrem bewusstlosen Agieren rasch und kurzlebig, dramatisch und oberflächlich, ekstatisch und folgenlos, so sind proletarische Revolutionen dagegen geduldig und tiefgreifend, mühsam und folgenreich. Sie kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht6.

Es ist eine Arbeit am Abbau von Widerständen, die Marx hier beschreibt: ein Kritisieren, ein ständiges Unterbrechen und Revidieren, eine dauernde Konfrontation mit der eigenen, bis zum Schrecken sich steigernen Skepsis. Worauf diese Arbeit zielt, ist eine Situation, in der kein Zweifel mehr möglich ist bzw. Ausdruck finden kann und es keine Möglichkeit mehr gibt, einen Schritt zurück zu tun, um die Lage aus einer anderen Perspektive zu beurteilen oder sich anders zu entscheiden. Die Revolution entspringt nicht einer bewussten Entscheidung, eines voluntaristischen Aktes, so als ob man beschließen könnte, all die Skepsis und die Widerstände beiseite zu lassen. Sie ist vielmehr die Folge eines existentiellen Engangements, das aus einer Alternativlosigkeit erwächst, die ihrerseits aber Ergebnis einer beschwerlichen Arbeit ist. Ähnliche Gedanken kommen bei Lenin vor. Ein revolutionärer Prozess ist für ihn keine graduelle Entwicklung, sondern eine durch Wiederholung gekennzeichnete Bewegung, die er in Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus – einem Text, mit dem sich Brechts Maßnahme bekanntlich intensiv auseinandersetzt – mit „einem schwierigen Aufstieg auf einen noch unerforschten und bisher unzuganglichen Berg“ vergleicht: Es wäre unmöglich, dabei nicht „manchmal im Zickzack zu gehen, manchmal umzukehren, die einmal gewahlte Richtung aufzugeben und verschiedene Richtungen zu versuchen“.7 Auch bei der proletarischen Revolution ist also die Wiederholung am Werke, aber eine, die nicht bewusstlos agiert und vielmehr dialektisch mit einer voranschreitenden Bewegung, mit einer prozesshaften Anpassung an die gegebene historische Situation verschränkt ist. Der Verlauf dieser Anpassung wird durch eine selbstkritische Reflexion und die Unterbrechung der bloßen Reproduktion der herrschenden Diskurse bestimmt, die erst den Raum für eine solche prüfende Betrachtung der eigenen Handlungen schafft, aber auch für das bewusste Erleben der „Ungeheuerlichkeit“ der eigenen Zwecke, wie Marx schreibt. Unterbrechen und Durcharbeiten: das epische Theater Mit einer solchen Unterbrechung beginnt Brechts Lehrstück Die Maßnahme: DER KONTROLLCHOR Tretet vor! Eure Arbeit war glücklich, auch in dieser Stadt Marschiert die Revolution, und geordnet sind die Reihen der Kämpfer auch dort. Wir sind einverstanden mit euch. DIE VIER AGITATOREN Halt, wir müssen etwas sagen! Wir melden den Tod eines Genossen. DER KONTROLLCHOR Wer hat ihn getötet? DIE VIER AGITATOREN Wir haben ihn getötet. Wir haben ihn erschossen und in eine Kalkgrube geworfen, darüber fordern wir euer Urteil.

DER KONTROLLCHOR Stellt dar, wie es geschah und warum, und ihr werdet hören unser Urteil. DIE VIER AGITATOREN Wir werden anerkennen euer Urteil8. Am Anfang steht eine kollektive Siegesfreude. Ein Chor empfängt vier Agitatoren nach einem „glücklich“ ausgeführten Auftrag. Sie unterbrechen aber mit ihrer Forderung den ideologischen Überschwang. Mit ihrer Unterbrechung schaffen sie die Szene einer Revolution, die – wie Marx wollte – sich selbst kritisiert, sich selbst analytisch beobachtet, in ihrem eigenen Lauf unterbricht und „auf das scheinbar Vollbrachte“ zurückkommt, um Ungedachtes zu bedenken, um sich der „Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“ auszusetzen. Indem die Agitatoren nach einem anderen Urteil fragen, erheben sie Einspruch gegen das Urteil des Chors, dass ihre Arbeit „glücklich“ war. Damit ist aber die konstituierende Geste des epischen Theaters in Szene gesetzt: die Infragestellung eines allgemeinen Konsens, die ein analytisches Nachdenken über Geschehenes ermöglichen will, das auch das Publikum einbeziehen soll. Im Programmheft der Uraufführung des Stücks am Großen Schauspielhaus in Berlin am 13. Dezember 1930 heißt es: Der Inhalt des Lehrstücks ist kurz folgender: 4 kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt durch den Massenchor. Sie haben in China kommunistische Propaganda getrieben und dabei ihren jüngsten Genossen erschießen müssen. Um nun dem Gericht die Notwendigkeit dieser Maßnahme der Erschießung eines Genossen zu beweisen, zeigen sie, wie sich der junge Genosse in den politischen Situationen verhalten hat. Sie zeigen, daß der junge Genosse gefühlsmäßig ein Revolutionär war, aber nicht genügend Disziplin hielt und zu wenig seinen Verstand sprechen ließ, so daß er, ohne es zu wollen, zu einer schweren Gefahr für die Bewegung wurde. Der Zweck des Lehrstückes ist also, politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren. Zur Diskussion soll durch diese Aufführung gestellt werden, ob eine solche Veranstaltung politischen Lehrwert hat.9 Der Zweck des Lehrstücks ist also ein doppelter: Es handelt sich zum einen darum, „politisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu lehren“. Zum anderen geht es darum, durch die Aufführung zu ermitteln, ob eine solche Art von Unternehmungen politisch sinnvoll ist. Das Ensemble der Schauspieler soll nicht einfach den Text mit seinen Thesen inszenieren, sondern ihn und die Absichten des Autors zur Diskussion stellen. Das Lehrstück will also nicht dadurch lehren, dass es eine politisch richtige Einstellung zeigt, sondern dadurch, dass es ein mit solchen Intentionen operiendes Theater problematisiert. Politisches Theater, das sich selbst kritisiert. Die Bedingung seiner Möglichkeit ist eine Unterbrechung, die einen vielfachen Prozess der

Urteilsbildung in Gang setzt. In Die Maßnahme betrifft er die Entscheidung der Agitatoren und deren Analyse durch ihre Inszenierung vor dem Chor; es betrifft auch die Urteilsbildung des Chors und ihre kritische Betrachtung durch die Zuschauer. Nachdenken über die Revolution mit den Mitteln des Theaters und kritische Betrachtung dieses Nachdenkens. Wir haben es also mit einer Szene zu tun, die nicht homogen ist, sondern immer geplagt und beseelt vom Schnitt der Selbstverdoppelung, von vielfältigen Spaltungen und ihren dialektischen oder auch dekonstruktiven Aufhebungen: angefangen von der Spaltung der Repräsentation in Darstellung und Kommentar, die für das epische Theater charakteristisch ist. „Stellt dar, wie es geschah und warum, und ihr werdet hören unser Urteil“, sagt der Chor zu den Agitatoren. Diese sollen nicht nur das Geschehen darstellen, sondern auch erklären. Sie sollen mit anderen Worten nicht nur die Fakten zeigen, sondern auch ihre Interpretation. Genau dies verlangt Brecht vom Schauspieler: Er soll zeigen, dass er die Fakten aktiv mitgestaltet, dass Fakten und Interpretationen nie klar zu unterscheiden sind, dass jede Darstellung der Faktizität von bestimmten Interessen geleitet ist. Wenn es so ist, dann sollte man bedenken, dass wir es hier mit Schauspielern zu tun haben, die zugleich Täter sind und die Fehler ihrer Opfer darstellen, um ihre Tat zu motivieren. Sie sind aber Täter, die nach einem anderen Urteil fragen, obwohl der Chor, der sein Urteil und sein Einverständnis schon ausgesprochen hat, sie als Helden der Revolution feiert. Insoweit drückt ihre Forderung einen Dissens aus, zeigt eine Verdrängung an, legt einen Widerstand offen. Sie bringt etwas in den Raum der Sichtbarkeit, was sonst hinter der Szene der siegreichen Revolution verborgen geblieben wäre: die Tötung eines jungen Genossen und alle zerreißenden Widersprüche, die sich damit verbinden. Auch dies ist eine für die epische Szene charakteristische Geste: Sie zielt auf „die Vorgänge hinter den Vorgängen“.10 Der Verfremdungseffekt, den sie sucht, lässt sich verstehen als eine Unterbrechung des Einverständnisses mit dem im öffentlichen Bewusstsein Gegebenen, die den Raum für die Wiederkehr und die engagierte Analyse des kollektiv Verdrängten schaffen soll. So arbeitet Brechts Theater gegen ein Dispositiv der Verdrängung, das man gleichermaßen im aristotelischen Theater und in den von Marx beschriebenen bürgerlichen Revolutionen am Werke sehen kann. Beide finden ein prägnantes Bild in der zitierten Anfangsszene. Dort erscheint der Chor von der ganz auf die Zukunft gerichteten Bewegung einer unaufhaltsam vorwärts kommenden Revolution erfasst, die – um es erneut mit Marx zu formulieren – „rascher von Erfolg zu Erfolg“ stürmt, in einer Überbietung ihrer „dramatischen Effekte“, von kurzlebigen Ekstasen getragen.11 Die Agitatoren halten diese Bewegung an, um etwas Vergangenes ins revolutionäre Bewusstsein zu heben, das es ohne Zögern hinter sich lassen will: die Tötung eines Genossen, die sie im Namen der Partei und ihren Anweisungen folgend begangen haben. Sie haben ihre Pflicht getan und sind für ihre Tat schon freigesprochen, ja sogar mehr oder weniger unbewusst gepriesen worden. Und dennoch verlangen sie ein Urteil, so als wollten sie ihre mörderische Tat voll in Kauf nehmen und damit jener Bürokratisierung des Schreckens entgehen, in der Hannah Arendt später eine „Banalität des Bösen“ erkennen wird. Damit ist eine fatale Störung des ethischen Bewusstseins gemeint, eine verhängnisvolle

Spaltung des Subjekts von der eigenen Tätigkeit. Wie Arendt gezeigt hat, handelte es sich bei den Henkern der KZs um anonyme Bürokraten, die ihre entfremdete Arbeit im „Sinne eines obszönen Geheimnisses, das dem öffentlichen Blick entzogen war“12, erledigten. Die Agitatoren in Brechts Lehrstück stellen dagegen das Grauenhafte ihrer Tat demonstrativ dar, mitten in der Szene der kommunistischen Öffentlichkeit, damit es den Charakter des Selbstverständlichen, d. h. des Unbefragten und Unvermeidbaren verliert. Etwas als selbstverständlich zu bezeichnen und anzunehmen, ist immer auch eine Form der Abwehr. Insofern hat der Verfremdungseffekt, dessen Ziel gerade die Dekonstruktion des Selbstverständlichen ist, immer mit dem Abbau von Widerständen zu tun. Sie betreffen bei Brecht nicht zuletzt die „Ungeheuerlichkeit“ der eigenen Zwecke und Taten. Insofern konstituiert die Wiederholung die Szene für eine Konfrontation mit dem Trauma des Realen, das stets abgewehrt wird, das aber „zum Erkennen nötig ist“. Die Wiederholung durch die Kunst ist für Brecht vor allem an diese Möglichkeit gebunden, das Schreckliche am eigenen Tun ins Bewusstsein zu integrieren. Die eigentliche Wahrheit des epischen Theaters besteht in der Begegnung mit dem traumatischen Kern des Realen, die das Spiel des Theaters ermöglichen kann. Man wiederholt, man bildet nach, um eine Distanz zu schaffen, die ein Erleben des unerträglichen Realen erlauben kann, das in der Wirklichkeit wegfällt, weil man im Schrecklichen sich selbst zu nahe ist. Deshalb fordert Brecht Selbstdistanz: „Jeder sollte sich von sich selbst entfernen. Sonst fällt der Schrecken weg, der zum Erkennen nötig ist“.13 Was Brecht mit seinem Theater zu verfolgen scheint, ist ein Durcharbeiten im Sinne Freuds: ein Prozess der reflektierenden und gleichsam körperlichen Integration des Verdrängten, der unvermeidlich „schmerzhaft“ ist, weil er den Zusammenbruch eines „riesige[n] Aufbau von Vorstellungen und Vorurteilen“14 und damit eine tiefe Reorganisation der psychischen Struktur bewirkt. Solches Durcharbeiten hat besondere formale Bedingungen. Seine Voraussetzung ist eine Entdramatisierung des theatralen Geschehens, eine Stilllegung jenes aristotelischen Dispositivs, das auch ein Dispositiv der Verdrängung ist. So entspricht die Unterbrechung der begeisterten Bewegung der Revolution, mit der die Szene des Durcharbeitens sich konstituiert, einer Unterbrechung des mitreißenden Flusses der dramatischen Repräsentation, einer Hemmung, nämlich der „Sucht, den Zuschauer in eine einlinige Dynamik hineinzuhetzen, wo er nicht nach rechts und links, nach unten und oben schauen kann“.15 Einem solchen Theater wird die Form einer diskontinuierlichen und multimodalen Darstellung entgegengesetzt, die Dramatisierung mit Bericht, Diskussionen und gemeinsamem Singen verbindet. Es ist eine Art der Darstellung, die in die Dramatik „die Fußnote und das vergleichende Blättern“16 einführen will, damit sie – wie bei Marx und Lenin die proletarische Revolution – ihren Lauf unterbrechen und umkehren kann, um andere Wege zu versuchen, andere Aussagepositionen zu erproben. In diesem Sinne kann man das Spiel, das durch die Agitatoren bzw. infolge ihrer Forderung nach einem Urteil über ihre Tat stattfindet, als eine Inszenierung des epischen Theaters sehen,

wenn man dieses als eine szenische Repräsentationsform versteht, die bewusst auf analytische Wiederholung baut und den Akt des Urteilens problematisiert. Sie betonen immer wieder, dass sie ein Gespräch oder einen Vorgang wiederholen. Dem entspricht Brechts Forderung, dass der Schauspieler den Wiederholungscharakter seines Spiels betont, dass er überhaupt die Wiederholung als Grundlage des szenischen Geschehens zeigt. Erst so können die fürs epische Theater charakteristischen Spaltungen und Verdoppelungen in Darstellung und Kommentar entstehen. Dies betrifft die Repräsentation als solche wie die Schauspieler, von denen Brecht einen kunstvollen Akt der Selbstverfremdung verlangt, eine Distanznahme von Emotionen, Haltungen, Gedanken und Verhaltensweisen, welche so zu Objekten einer Behandlung werden können. So soll der Schauspieler „das Behandeln der Dinge und Menschen“ als eine lustvolle Kunst lehren und der Zuschauer soll dadurch lernen, „das, was da nachgebildet, [zu] behandeln“.17 Wir haben es mit einem Theater zu tun, das dem Schauspieler die Position des „Subjekts, dem unterstellt wird, zu wissen“, des Subjekts einer Übertragung, zuteilt. Er ist bei Brecht immer wie der Zeuge einer Untat, der „nichts“ unterschlagen soll, „was zur Beurteilung der Untat zu erfahren nötig ist“: Der Zuschauer wird durch ihn „Material vorgelegt“, „vielfältiges und widersprechendes Material, das ganz durchzugehen er die Geduld aufbringen muß“.18 Die Geduld und die Partei Den Kontrollchor setzen die Agitatoren also in eine solche Position des Zuschauers, der ein komplexes Material vorgelegt bekommt und die Geduld haben muss, es durchzuarbeiten. Er kann diese jedoch nicht immer leicht aufbringen, denn es gibt spannungsreiche Momente, in denen er mit der Erzählung rasch fortfahren möchte: DER KONTROLLCHOR Sie verließen die Stadt! Die Unruhen wachsen in der Stadt Aber die Führung flieht über die Stadtgrenze Eure Maßnahme! DIE VIER AGITATOREN Wartet ab! Es ist leicht, das Richtige zu wissen Fern vom Schuß Wenn man Monate Zeit hat Aber wir Hatten zehn Minuten Zeit und Dachten nach vor den Gewehrläufen19

Bevor ein Urteil über die von ihnen ergriffene Maßnahme ausgesprochen werden kann, muss man die Situation, in der sie als die einzig mögliche erschien, genau in den Blick nehmen; man muss die Situationsgebundenheit und damit die Kontingenz eines blutigen Urteils anerkennen, das in kurzer Zeit und vor den Gewehren der Feinde gefällt wurde. Die Eile des Chors lässt sich als ein Widerstand gegen diese Erkenntnis lesen, als Abwehrreaktion gegen den furchtbaren Verdacht, dass es eine „bessere Möglichkeit“ hätte geben können, die in jener Situation nicht gefunden wurde. Ungedachte und versäumte Möglichkeiten zu entdecken, ist die oft unbewusste Absicht und auch der manchmal traumatische Effekt der Wiederholung. Es ist allzu verständlich, dass sich dagegen Widerstände aktivieren, welche die Verdrängung erneuern. So geschieht es hier, wenn die Agitatoren dem Chor ihre Maßnahme begründen: Bei der Kürze der Zeit fanden wir keinen Ausweg […] Fünf Minuten im Angesicht seiner Verfolger Dachten wir nach über eine Bessere Möglichkeit Auch ihr jetzt denkt nach über eine Bessere Möglichkeit Pause Also beschlossen wir: jetzt Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper. F u r c h t b a r i s t e s, z u t ö t e n. Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut Da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie Jeder Lebende weiß. Noch ist es uns, sagten wir Nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir Die Maßnahme.20 Eigentümlich an dieser Szene ist der zeitliche Sprung, der sich plötzlich und fast unmerklich vollzieht: eigentlich ein Kurzschluss zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der den Chor in die Lage bringt, in der sich die Agitatoren befanden. Das Wort „Pause“ bezeichnet die Zeit, in der die Agitatoren damals und der Chor jetzt eine alternative Lösung zur Tötung des jungen Genossen suchen, ohne sie zu finden. Ein paradoxes Spiel der Zeiten macht den Chor zum Komplizen der Entscheidung der Agitatoren, zum Mitverantwortlichen für ihre Tat. „Also beschlossen wir: jetzt“, sagen die Agitatoren: Die Entscheidung von damals geschieht jetzt, die Tötung von damals findet jetzt statt, von allen vollzogen.21

Was hier in Szene gesetzt wird, ist zunächst und vordergründig eine Legitimation der revolutionären Gewalt, die ihr moralisches Korrelat in einer revolutionären Ethik jenseits des Prinzips der Stellvertretung findet. Kein Netz von Abhängigkeiten, die den Einzelnen die Verantwortung abnimmt. Niemand, der die Schuld der anderen auf sich lädt. In einer revolutionären Situation gibt es keine unschuldigen Zuschauer. „Jeder, der sich gegenwärtig für den Kommunismus entscheidet, ist also verpflichtet, für jedes Menschenleben, das im Kampf für ihn umkommt, dieselbe individuelle Verantwortung zu tragen, als wenn er selbst alle getötet hätte“22, hatte Lukács 1919 in Taktik und Ethik geschrieben. Dies gilt auf beiden Seiten. Denn auch die Verfechter des Kapitalismus müssen „für die Vernichtung in den sicherlich folgenden neuen imperialistischen Revanchekriegen, für die kunftige Unterdrückung der Nationalitäten und Klassen die gleiche individuelle Verantwortung tragen“.23 Eine provokante These. Man könnte ihr entgegenhalten, dass, wenn jeder verantwortlich ist, alle freigesprochen sind und politische Gewalt damit eine kollektive Legitimation erfährt. Man könnte auch die Hypothese wagen, dass man das Insistieren auf die Notwendigkeit der ausgeübten Gewalt, auf ihre Unvermeidbarkeit und ihren Zwangscharakter eine symptomatische Verschiebung sein könnte, die nicht so sehr ein Gefühl der Schuld als vielmehr einen Genuss verschleiern soll, der mit der Ausübung von Gewalt verbunden ist. Solcher Genuss nähme so die Gestalt eines nicht symbolisierbaren Traumas an, das wie ein Makel am Subjekt haftet. Vielleicht ist gerade das Furchtbare ihrer Tat für die Agitatoren die Quelle eines uneingestehbaren Lustgefühls. Als Legitimation dient ein politischer Veränderungswille, der das kollektive Subjekt der Revolution begründet. Die gleichsam körperliche Identifikation mit ihm lässt die ausgeübte Gewalt als Selbstverstümmelung erleben, aber vielleicht doch auch als Triumph über ein Teil von sich selbst. Es handelt sich um eine Dynamik, die Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse so beschrieben hat: Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. […] „Freiheit des Willens“ – das ist das Wort für jenen vielfachen LustZustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren „Unterwillen“ oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu24. Die Befehle der Revolution werden zu einem inneren Befehl, dessen Ausführung Lust verschafft. Die Verinnerlichung der Gebote des revolutionären Über-Ichs ist mit einem Gewinn an Lust und Macht verbunden. Zum Preis, den man dafür zahlen muss, gehört die Geduld. Es ist ein häufig wiederkehrendes Motiv auch bei Lenin. Er betont die Notwendigkeit, zu lavieren, Übereinkünfte und Kompromisse zu schließen, wenn das hilft, das allgemeine Niveau

des proletarischen Klassenbewusstseins, des revolutionaren Geistes zu heben. Die Revolution ist eine mühsame, langwierige, schmutzige Arbeit. „Hier wäre es am allerschädlichsten, sich zu übereilen“, schreibt er 1923 in Lieber weniger, aber besser.25 Brecht hat diese Gefahr in der Figur des jungen Genossen verkörpert, der wie der Chor manchmal von Ungeduld getrieben ist. Sein Problem ist das Unvermögen, seine Gefühle zu beherrschen. Er kann den Zynismus der Ausbeuter sowie den Schmerz der Ausgebeuteten nicht ertragen. Er kann nicht mehr warten und geht sofort zur Tat über, weil er sein Mitleid nicht unterdrücken kann, obwohl es tödliche Folgen haben könnte. Wir kennen Brechts Abneigung gegen das Mitleid und das aristotelische Theater, das sich darauf stützte. Einleuchtend ist, dass er hier Mitleid mit dem politischen „Extremismus“ bzw. dem „Radikalismus“ in Verbindung bringt, den man – wie Slavoj Žižek vorschlägt – als ein Phänomen ideologisch-politischer Verschiebung lesen kann, „als einen Hinweis auf sein Gegenteil, eine Begrenzung, eine Weigerung, tatsächlich ‚bis ans Ende zu gehen‘“26, die mit dem Schutzschirm der Dringlichkeit bemäntelt wird. Was ist die Revolte des jungen Genossen, wenn nicht eine hysterische Reaktion, die seine Unfähigkeit bezeugte, am Umsturz der Grundlagen der bestehenden Ordnung mit einer geduldigen Arbeit beizutragen und die damit implizierte Frustration zu ertragen? Hierin beruht auch der Wiederholungszwang, den Marx an der bürgerlichen Revolution wahrnahm: Er ist eine Manifestation dieser Unfähigkeit, die an das Klasseninteresse so wie an eine narzisstische Fixierung gebunden scheint. Der junge Genosse nährt sich nämlich von pathetischen, allgemeinmenschlichen Stereotypen: „Mein Herz schlägt für die Revolution. Der Anblick des Unrechts trieb mich in die Reihen der Kämpfer. Ich bin für die Freiheit. Ich glaube an die Menschheit“.27 Sein Verhalten liest sich wie eine Illustration von Lenins These über die Spontaneität: „Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie“.28 Denn es reicht nicht, nach der Gesinnung einer Handlung zu fragen. Entscheidend ist, wie sie innerhalb des Klassenkampfes funktioniert. Die Revolte des jungen Genossen zeigt sich als ein politisches Handeln, das die hegemonialen ideologischen Koordinaten, gegen die es kämpft, nicht in Fragen stellt und deshalb der revolutionären Umgestaltung hinderlich ist. Es ist ein perfektes Beispiel für ein Agieren mit mangelnder theoretischer Analyse, das genau das verhindert, was es seinen Intentionen nach erreichen möchte, nämlich dass sich etwas grundlegend ändert. Das, was sein unmittelbares Begehren überschreitet oder was ihm entgegensteht, verwirft der junge Genosse: „[Ich] kündige alles Einverständnis mit allen, tue das allein Menschliche“.29 Im Vordergund steht das Ich: Ich sah zuviel. Darum trete ich vor sie hin Als der, der ich bin, und sage, was ist30 Anmaßende Illusion, das Wahre jenseits aller nicht nur rhetorischen Strategien, die den

politischen Kampf bestimmen, zu sagen. Als könne man sich selbst diesseits der gesellschaftlichen Masken wahrnehmen. Ein Problem, das Brechts Theater immer wieder beschäftigt, besteht darin, die Distanz der Abstraktion abzubauen, weil sie die Gefahr einer emotionalen Blindheit gegenüber dem konkreten Leiden der anderen in sich birgt, ohne aber einer traumatischen Unmittelbarkeit, einer verblendenden emotionalen Nähe anheimzufallen, wie es dem jungen Genossen geschieht, der meint, viel gesehen zu haben, während er einfach ohne Distanz gesehen hat. Sein Lob der Unmittelbarkeit wird durch ein Lob der Partei, gesungen vom Chor, kontrastiert: Denn der Einzelne hat zwei Augen Die Partei hat tausend Augen. Die Partei sieht sieben Staaten. Der Einzelne sieht eine Stadt. Der Einzelne hat seine Stunde Aber die Partei hat viele Stunden. Der Einzelne kann vernichtet werden Aber die Partei kann nicht vernichtet werden.31 Vielheit von Blicken, Zeiten und Räumen. Die Partei ist die organisierte Artikulationsform von Vielheit, die weiter und länger sieht, deren Fühlen und Denken das Feld der unmittelbaren Erfahrung transzendiert. Wir erkennen in diesen Zeilen die „leninistische“ Lehre der Partei, die besagt, dass es ohne die Partei keine Politik, sondern nur folgenlosen Widerstand, marginale Irritation gibt. Denn sie ist die Organisationsform, welche „durch langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der gegebenen Klasse“ theoretisches und praktisches Wissen produziert, Erfahrungen organisiert, die für die politische Praxis notwendig sind.32 Darüber hinaus wird die Partei bei Brecht als der unzerstörbare historische Agent der Revolution dargestellt, der über eine umfassende Einsicht in die historische Situation verfügt. Allerdings erscheint sein Wissen begrenzt, wenn man bedenkt, dass der Kontrollchor, der als Stimme der Partei fungiert, sich zu Beginn des Stückes mangelhaft über die Arbeit der Agitatoren informiert. Er, der zur Urteilsprechung aufgerufen wird, stellt sich als lehrende Instanz dar, sagt mitten im Stück zu den Agitatoren: „Lange nicht mehr hören wir euch zu als / Urteilende. Schon / Als Lernende“.33 Ein Richter, der vom Angeklagten lernt. Diese sprechen auch im Namen der Partei, als Teil der Partei, wenn sie den jungen Genossen von seiner individuellen Rebellion abzubringen versuchen. Sie erklären ihm, dass die Partei auch durch seine Gedanken spricht, dass er auch recht haben könnte, dass die Partei also nicht im Besitz der Wahrheit ist: Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen, und wir Werden ihn gehen wie du, aber

Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg Ohne uns ist er Der falscheste34 Die Wahrheit ist nur im Kollektiv; sie ist eine kollektive Produktion. Man muss auch die Gewalt sehen, die durch diese Worte spricht: Sie bestimmen das Feld, in dem Wissenproduktion legitim ist; sie bezeichnen die Partei als einzigen Ort, in der Wahrheit sein kann. Es ist noch einmal Žižek, der in diesem Zusammenhang einen interessanten Hinweis gibt. In Bezug auf diese Stelle schreibt er: „Genau wie in Lacans Formel des Diskurses des Analytikers ist das, was beim Wissen der Partei zählt, nicht sein Inhalt, sondern die Tatsache, dass die Partei den Platz der Wahrheit einnimmt“35. Wie in Lacans Theorie der Analytiker ist bei Brecht die Partei hier ein „Subjekt, dem unterstellt wird, zu wissen“, dessen Wissen aber andere produzieren (der Patient in der Psychoanalyse, das Proletariat im Kommunismus). Die Partei hätte also die Rolle eines kollektiven Subjekts der Übertragung, das das Proletariat braucht, um seine Wahrheit zu erarbeiten. Sie wäre das Medium, wodurch sich die Arbeiterklasse dezentriert, um zu seinem Klassenbewusstsein und seiner Freiheit zu kommen. Hier gilt der Mechanismus des psychoanalytischen Transfers: Damit jemand über sich selbst und die gegebenen Verhältnisse hinausgehen kann, braucht es eine „Instanz, der unterstellt wird, zu wissen“, und ihn das sein lässt, was er wirklich sein will. Ist das nicht genau die Rolle, die Brechts Lehrstücktheorie für die Gemeinschaft der Spieler vorsieht? Und die Gemeinschaft der Spieler ist beim Lehrstück alles. „Die Maßnahme ist nicht für Zuschauer geschrieben worden, sondern für die Belehrung der Aufführenden“, schreibt Brecht in einem Brief an Paul Patera von 1956.36 Kein Publikum ist vonnöten. Und ein jeder auf der Bühne muss bereit sein, sein „Ich“ auf das „Wir“ der theatralen Gemeinschaft zu gründen, sich durch den anderen dezentrieren zu lassen, um die melodramatische Zeit des narzisstischen Bewusstseins zu überschreiten. Solche Gemeinschaft erfährt durch Die Maßnahme eine prägnante Inszenierung. Wir haben es bereits festgestellt: Sie besteht aus Lernenden, die sich unter Anklage stellen, aus Richtern, die von Angeklagten lernen. Jeder kann recht haben, braucht aber den anderen, um die eigene Handlung anders erfahren und analysieren zu können, um überhaupt etwas in Erfahrung zu bringen, das ihn aktivieren könnte. Dass all diese Manipulationen, Versäumnisse, Widerstände, Verheimlichungen nicht ausschließen, wie das Stück klar macht, ist unvermeidlich. Es handelt sich um einen utopischen Entwurf: den einer „kollektiven Kunstübung“37, die mit einer neuen Art der kollektiven Wissensproduktion verknüpft wird: mit der Arbeit eines kollektiven, revolutionären Subjekts, das sich selbst beobachtet, analysiert, beurteilt, um zum Schauplatz eines schmerzlichen Prozesses der Wiederkehr des Verdrängten und der Konstruktion einer befreiten Zukunft zu werden. Heiner Müller und das Genießen

Als notwendige, zum Teil äußerst kritische Ergänzung zu dieser „leninistischen“ Utopie lässt sich Heiner Müllers Theaterarbeit lesen. Dies betrifft vor allem das Genießen der Gewalt, überhaupt das Genießen im Lacanschen Sinne als eine Kraft, die auf eine traumatische, nicht symbolisierbare Lücke im Subjekt verweist. Solches Genießen als Symptom, Produkt und Motiv der Revolution steht im Zentrum von Müllers Stück Mauser. „[E]ine Variante der Maßnahme“, hat er es in einem Interview genannt, „oder eine Fortsetzung“.38 Wenn die Agitatoren in Brechts Lehrstück der Bürokratisierung des Schreckens zu entgehen versuchen und das Grauenhafte ihrer Tat öffentlich ausstellen, damit es als unvermeidlicher Bestandteil einer jeden revolutionären politischen Handlung angesehen werden kann, so wird bei Mauser dieses Grauen der revolutionären Arbeit als Quelle von Genuss gezeigt. Bei Brecht war Gewalt zunächst dialektisch als etwas zu verstehen, das durch die bessere Zukunft, die sie hervorbringt soll, gerechtfertigt wird. Bei Müller ist die revolutionäre Gewalt nicht mehr etwas, das seine Rechtfertigung durch eine bessere Zukunft erwartet, sondern schon eine Manifestation dieser Zukunft. Sie ist nicht so sehr ein notwendiges Übel, das man für eine künftige Zeit des Glücks und der Freiheit erdulden muss, sondern vielmehr das Zeichen des geschichtlichen Scheiterns dieser Hoffnung. Programmatisch verfolgt ist der Verlust jener Distanz, die bei Brecht als das eigentlich Produktive an der Wiederholung erschien. Weiter heißt es im zitierten Interview: „[Es ist] eine sehr veränderte Form von Lehrstück, nicht einfach darlegend, sondern so, daß es nur möglich ist, wenn die Leute von vorneherein in den Vorgang hineingerissen werden“39. Eine Distanznahme von Brechts Produktion von Distanz, die vor allem sprachlich geschieht: Zum großen Teil aus einem hämmernden Sprachfluss bestehend, der von obsessiv rekurrierenden Elementen strukturiert wird, liest sich der Text wie eine virtuose, faszinierende literarische Inszenesetzung des Wiederholungszwangs, den Freud in Jenseits des Lustprinzips als Manifestation des Todestriebs entdeckte. Die Darstellung von revolutionärer Gewalt ist bei Müller von einer tiefen Ambivalenz gekennzeichnet. Dem namenlosen Henker, der im Auftrag der Partei die Feinde der Revolution zu töten hat, ist seine blutige Arbeit moralisch unerträglich geworden. Die Partei, die ihn trotzdem nicht aus seinem Dienst entlässt, vermag ihm keine Gewissheit über den Sinn seines Tötens zu geben. So wird er zum bewusstlos-orgiastisch tötenden Henker und deswegen selbst erschossen. Die Tatsache, dass eine, wenn auch lügenhafte Begründung der tödlichen Arbeit der Revolution unmöglich geworden ist, stellt auch ein erster Schritt zur ideologischen Befreiung dar, der zum Genuss freigibt. Es bleibt aber ein „pathologisches“ Genießen, das der Unterdrückte der eigenen Unterdrückung verdankt; ein schmerzhaft-lustvolles Töten, das jenseits des Lustprinzips, also auch jenseits aller Arbeit am Negativen steht. So hatte Brecht, wie nach ihm Fanon, die revolutionäre Gewalt in seinen Lehrstücken als eine Arbeit des Negativen verstanden, die deshalb primär als Selbst-Gewalt, als eine gewaltsame Umbildung des Subjekts zu begreifen ist. Genau in diesem Sinne hatten die Agitatoren der Maßnahme die von ihnen vollzogene Tötung des jungen Genossen dargestellt: als etwas, das ihren Körper

trifft, verstümmelt, umbildet. Diese Arbeit des Negativen ist bei Müller zu einer verdinglichten geworden, ihre subversive Kraft erscheint durch eine Tendenz zur ekstatischen (Selbst-)Destruktivität aufgehoben. Die Gewalt hat aufgehört, eine, wenn auch schmerzvolle, befreiende Arbeit zu sein, um zu einem brutalen Ausagieren zu werden, das sich aber der eigenen Verstrickung in einer Vernichtungsmaschinerie bewusst wird. Müllers Stück fragt danach, ob es überhaupt möglich ist, eine klare Trennlinie zwischen diesen zwei Formen von Gewalt zu ziehen. Zwischen Finger und Abzug der Augenblick War deine Zeit und unsre. Zwischen Hand und Revolver die Spanne war dein Platz an der Front der Revolution Aber als deine Hand eins wurde mit dem Revolver Und du wurdest eins mit deiner Arbeit Und hattest kein Bewußtsein mehr von ihr Daß sie getan werden muß hier und heute Damit sie nicht mehr getan werden muß und von keinem War dein Platz in unsrer Front eine Lücke Und für dich kein Platz mehr in unsrer Front.40 Wie soll man diese Lücke, diese fehlende Stelle in jeder Front verstehen? Wir können darin den Ort einer traumatischen Realität sehen, zu der wir einen angemessenen Abstand wahren müssen, um in unsere Lebenswelt eintauchen zu können. Es wäre der träge Rest, für den es keinen Raum darin gibt, was wir als Realität erfahren. Wir können aber auch – gut dialektisch – in dieser fehlenden Stelle etwas Negatives sehen, durch das wir hindurchgehen, damit Neues entstehen kann: Die Lücke wäre somit eine Produktion des Todestriebs, der – wie Benjamins destruktiver Charakter – seine Arbeit vollbringt, um leeren Platz zu schaffen, damit etwas wirklich Neues entstehen kann. Die absolute Negativität, die der Todestrieb darstellt, wäre damit aufgehoben. Die Herausforderung, die er darstellt, dialektisch domestiziert. Man kann aber die Lücke, die Müllers Mauser uns zu bedenken gibt, auch als ein in die symbolische Ordnung nicht integrierbares Etwas betrachten, das auf den Verlust der Stütze im großen Anderen, d. h. letztlich in einer gegebenen symbolischen Ordnung oder Instanz verweist. Ist dieser Verlust nicht das Zeichen einer authentischen revolutionären Erfahrung? Die Bedingung seiner Möglichkeit? Dies wäre ein anderer, nicht dialektischer Fluchtpunkt des Todestriebs, den man in Müllers Stück am Werke sieht. In ihrer Ambivalenz hat die verdinglichte tödliche Arbeit von Müllers Henker die volle Kraft eines Symptoms einer solchen Erfahrung des Verlusts, wenn man unter dem Symptom das Anzeichen einer vergessenen Wahrheit versteht, die im Modus der Verschiebung zu uns redet. Ein Symptom käme dann einem „verschobenen“ Versuch gleich, unerfüllte Wünsche und verpasste Gelegenheit zu retten. Diese Logik des Symptoms ist letzlich

dieselbe wie die der Revolution, wenn es wahr ist, dass die Zeit der Revolution – wie es Müller mit Benjamin wollte – die Zukunft ist, die in der Vergangenheit liegt, und dass wirklich revolutionäre Arbeit, die verpasste und vergessene revolutionäre Chance zu retten versucht. In diesem Sinne wäre die Gewalt, die in Mauser in Szene gesetzt wird, ein Symptom, das auf versäumte emanzipatorische Gelegenheiten, auf ihr Nachleben in der Gegenwart verweist. Im verzweifelten Genießen der Gewalt drücke sich dann ein unterdrücktes gegenwärtiges Begehren aus und zugleich ein gleichsam körperliches Andenken an ungelöste Ausweglosigkeiten der Vergangenheit. In beiden Fällen etwas, das der gegenwärtigen Dimension der Wahrheit, der Politik, der Interpretation gegenüber irreduzibel ist und deshalb nicht aufhört, sie zu quälen. 1

Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“, in: Studienausgabe, Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 1982, S. 205–215, hier S. 210.

2

Ebd, S. 215.

3

Ebd.

4

Marx, Karl: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Vorrede zur Dritten Auflage], in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 8. Berlin (Ost) 1972, S. 115–123, hier S. 115.

5

Ebd.

6

Ebd., S. 118.

7

Lenin, Wladimir Iljitsch: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Kap. 8, www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap08.html. (Letzter Zugriff: 20. Februar 2018)

8

Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 3 Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1988–1998, S. 75. Im Folgenden wird dafür die Sigle GBA mit Band und Seitenzahl verwendet.

9

GBA Bd. 24, S. 96f.

10

GBA Bd. 22.1, S. 519f.

11

Vgl. Marx, Karl: [Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte], S. 118.

12

Žižek, Slavoj: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt a. M. 2002, S. 161.

13

GBA Bd. 21.1, S. 280.

14

Ebd.

15

GBA Bd. 24, S. 59.

16

Ebd.

17

GBA Bd. 14, S. 386f.

18

GBA Bd. 22.1, 283f.

19

GBA Bd. 3, S. 121f.

20

Ebd., S. 123f.

21

Lehmann, Hans-Thies: „Lehrstück und Möglichkeitsraum“, in Ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (= Recherchen 12), Berlin 2002, S. 412–426.

22

Lukács, Georg: Taktik und Ethik. Politische Aufsätze I, 1918–1920, hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseler, Darmstadt/Neuwied 1975, S. 50.

23

Ebd.

24

Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, 6. Abt., Bd. II, hrsg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli, Berlin 1968, S. 27.

25

Lenin, Wladimir Iljitsch: Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 475.

26

Žižek, Slavoj: Die Revolution steht bevor, S. 95.

27

GBA Bd. 3, S. 75.

28

Lenin, Wladimir Iljitsch: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1989, S. 30.

29

GBA Bd. 3, S. 93.

30

Ebd.

31

Ebd.

32

Lenin: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Kap. 8.

33

GBA Bd. 3, S. 116.

34

Ebd., S. 120.

35

Žižek, Slavoj: Die Revolution steht bevor, S. 36.

36

In Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1976, S. 258.

37

GBA Bd. 24, S. 90.

38

Müller, Heiner: „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten. Ein Gespräch mit Horst Laube über die Langweiligkeit stimmiger Stücke und eine neue Dramaturgie, die den Zuschauer bewußt fordert“, in: Werke, Bd. 10, hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a. M. 2008, S. 52–73, hier S. 59.

39

Ebd.

40

Müller, Heiner: [Mauser], in: Werke, Bd. 4, 2001, S. 257.

Andrea Hensel

DIE PRAXIS DER HISTORISIERUNG ZWISCHEN FAKT UND FIKTION Jonathan Littells Die Wohlgesinnten

Historisierung bedeutet nach Brecht eine Verfremdung der Gegenwart: „Verfremden heißt historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.“1 Damit ist jedoch weder gemeint, dass die Vergangenheit schlichtweg in der künstlerischen Gegenwart abgebildet, verkörpert oder bestenfalls sinnlich erfahrbar gemacht wird. Noch geht es bei der Praxis der Historisierung primär um eine Versetzung in andere Zeiten und Räume. Die Praxis der Historisierung zielt vielmehr auf eine doppelte Bewegung aus historischer Wiederholung und gegenwärtiger Überschreitung, die überaus wichtig ist.2 Indem Charaktere, Vorgänge oder gegenwärtige Zeitgenossen als zeitgebunden, als historisch und vergänglich dargestellt werden, entziehen sie sich automatisch der eigenen Gegenwart und damit einer unreflektierten Einfühlung in die dargestellten, nicht-gegenwärtigen Ereignisse und Figuren. Gleichzeitig aber werden ebendiese Ereignisse und Figuren in der Gegenwart überschritten, sie werden mittels der Wiederholung aktualisiert und veränderbar. Durch die Praxis der Historisierung kommt es folglich zu einem Oszillieren der Zeiten, zu einem Hin-und-herSpringen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen historischer Darstellung und ihrer gegenwärtigen Aushandlung. Dieses Dazwischen, das im Medium der Kunst erzeugt wird, ist entscheidend für eine historische Erfahrung. Es ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Geschichte, die zwischen Annäherung und gleichzeitiger Distanznahme changiert und sich jenseits von unreflektierter Einfühlung und Verkörperung offenbart. Um die Praxis der Historisierung konkret zu veranschaulichen, bietet es sich an, einen Blick auf den Stücktext Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg zu werfen.3 Brecht verfasste Mutter Courage im Jahr 1938/39 im schwedischen Exil. Das Stück erzählt die Geschichte der Händlerin Anna Fierling/Mutter Courage, die den Krieg als wirtschaftliche Einkommensquelle zu nutzen versucht und infolgedessen ihre drei Kinder verliert. Dabei lässt sich der Inhalt unmittelbar auf die Gegenwart Brechts beziehen: Es wird der Vorabend vor dem Zweiten Weltkrieg verhandelt, vor der Inhumanität des Krieges gewarnt und die Wechselwirkung aus Krieg und wirtschaftlichen Interessen demonstriert, die auf dem Rücken der sogenannten kleinen Leute ausgetragen wird. Interessanterweise spielt das Stück aber nicht in den Jahren 1938/39. Als eine Chronik des

Dreißigjährigen Krieges betitelt, ist die Handlung zwischen den Jahren 1624 und 1636 angesiedelt. Dadurch wird eine Historizität der Handlung suggeriert, deren Aussage sich allerdings stets an die Gegenwart richtet.4 Der Effekt dieser doppelten Bewegung ist ein Hinund–her-Springen zwischen den Zeiten, ein Oszillieren zwischen der fiktiven Handlung inmitten des Dreißigjährigen Krieges und der gegenwärtigen Aussage, die sich an den Vorabend des Zweiten Weltkriegs richtet. Zum einen ruft diese doppelte Bewegung eine kritische Distanz von Seiten des Zuschauers hervor. Durch die Historizität der Handlung bzw. durch die Verfremdung seiner eigenen Gegenwart ist es ihm, d. h. dem damaligen Rezipienten, kaum möglich, sich mit den Figuren oder Geschehnissen zu identifizieren. Zum anderen wird die Geschichtsschreibung selbst verfremdet. Indem Brecht die Ereignisse aus der Sicht der „kleinen Leute“ schildert, wendet er die klassische Historie der Tradition, die unter Heerführern, Fürsten und Königen spielt, um: die Geschichte und ihre Zeit wird nicht mehr an den welthistorischen Individuen gemessen, es sind die Massen, die die historischen Daten setzen5. Paradoxerweise werden die „kleinen Leute“ in Mutter Courage jedoch nicht zu souveränen Akteuren der Geschichte. Weder sie noch die Titelfigur sind in der Lage, die Situation gestaltend zu verändern. Das bleibt die Aufgabe des Rezipienten. An ihn ist der Text gerichtet, seine Gegenwart – die in diesem Fall der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg entspricht – wird durch eine Praxis der Historisierung in kritischer Distanz verhandelt und das immer in Hinblick auf eine Veränderung, die sich in der bzw. in seiner Gegenwart vollziehen soll. Wenngleich Mutter Courage exemplarisch für die Praxis der Historisierung ist, so entfaltet das Konzept seine Wirkung nicht allein im Schaffen Bertolt Brechts. Betrachtet man in diesem Zusammenhang Literatur, Kunst und Theater nach Brecht, so lässt sich das Konzept gleichermaßen auf zahlreiche künstlerische Praktiken und Projekte übertragen. Das gilt auch für den Betrachtungsgegenstand des folgenden Beitrags: den Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell.6 Das Werk wurde auf Anhieb eine publizistische Sensation. Im Jahr 2006 auf Französisch veröffentlicht, erfolgten Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Italienische und Hebräische. Littell wurde mit zahlreichen Preisen – unter anderem mit dem Prix Goncourt – ausgezeichnet, der Roman wurde auch als Hörbuch7 aufgenommen und an den Theatern in Berlin, Wien und Basel inszeniert.8 Zeitgleich brach eine Welle kontroverser Diskussionen aus. Sie alle kreisen bis heute um das vermeintliche Tabu des Romans, das im Wesentlichen darin besteht, dass ein jüdischer Schriftsteller in die Psyche eines fiktiven SS-Offiziers eintaucht und einen monumentalen Epos von knapp 1360 Seiten erschafft, in welchem nach und nach „die Grenzen

zwischen Historie und Literatur verschwimmen“9. Diese Auflösung der Grenzen ist entscheidend für den Roman. Sie betrifft die Verknüpfung von Kunst und Geschichtsschreibung. Und sie betrifft im Falle der Wohlgesinnten das enge Verhältnis von Fakt und Fiktion.10 So verbindet der Roman die fiktive Biographie des Obersturmbannführers Dr. Maximilian Aue stets mit realen Tätern, Schauplätzen und Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Aus der Innensicht eines fiktiven Täters schildert er die Vernichtungsbewegung der deutschen akademischen Elite durch Europa. Diese Korrelation von real-geschichtlichen Tatsachen einerseits und erzählter, fiktiver Erinnerung andererseits führt zu der bereits genannten doppelten Bewegung aus historischer Wiederholung und gegenwärtiger Überschreitung und erzeugt dadurch ein Oszillieren der Zeiten.

Die fiktive Figur des Erzählers Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen. Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir. Ein bisschen lang ist sie wohl, schließlich ist viel geschehen, doch wenn ihr es nicht allzu eilig habt, werdet ihr vielleicht die Zeit erübrigen. Immerhin betrifft die Geschichte euch: Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft.11 Mit diesen ersten Sätzen des Romans begegnet uns der Protagonist und Ich-Erzähler, Dr. Maximilian Aue. Maximilian Aue ist ein hochgebildeter Obersturmbannführer und promovierter Jurist; er ist jung, begabt und homosexuell; er liest Flaubert und liebt Bach, er ist Weinkenner und spricht fließend Altgriechisch. Und er ist eine rein fiktive, eine unwahrscheinliche, aber dennoch eine mögliche Figur. Darauf besteht auch Maximilian Aue und postuliert geradezu penetrant die Authentizität und Glaubhaftigkeit seiner Person. Bereits die ersten Worte – „Lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist“ – lassen formal weder Zweifel an der Existenz seiner Figur noch an ihren Schilderungen zu. Dabei geht es jedoch nicht um den Gehalt an gesicherter, historischer Wahrheit. Vielmehr wird das authentische Moment durch die Behauptung von Authentizität und Menschlichkeit erzeugt, die der möglichen Täterfigur eigen ist und die sie selbst immer wieder akzentuiert: Ich halte mich nicht für einen Dämon. Für das, was ich getan habe, gab es immer Gründe, ob gute oder schlechte, weiß ich nicht, auf jeden Fall aber menschliche Gründe. Die, die töten, sind Menschen wie die, die sterben, das ist die schreckliche Wahrheit. Ihr könnt niemals sagen: Ich werde nicht töten, das ist unmöglich, höchstens könnt ihr sagen: Ich hoffe, nicht zu töten. […] Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich

bin wie ihr!12 Zu dieser teilweise höchst beklemmenden Nähe, der man sich nur schwerlich entziehen kann, tragen vor allem Sprache, Ton und Duktus der Erzählung bei. Gleichzeitig ist es genau derjenige Duktus, der den Leser immer wieder in eine kritische Distanz rücken lässt, der Einfühlung und jegliche Identifikation verhindert und der ihm nicht selten den Boden unter den Füßen entzieht. Max Aue begegnet dem Leser niemals eindeutig, sondern stets in einem Dazwischen aus nicht-rechtfertigender und nicht-entschuldigender Sprache sowie in einer Mischung aus „Manieriertheit, Distanz, Natürlichkeit und Unmittelbarkeit“13. Dies zeigt sich an unzähligen Beispielen des Romans, so auch an der folgenden Beschreibung einer sogenannten Aktion im ukrainischen Schitomir, bei der im Sommer 1941 ca. sechshundert Menschen jüdischer Herkunft und/oder kommunistischer Gesinnung von einem Deutschen Sonderkommando mit Unterstützung der Wehrmacht umgebracht wurden. In zurückhaltender, kalter Distanz schildert Aue: Die Methoden hatten sich verändert, wir hatten sie aufgrund der neuen Erfordernisse rationalisiert, systematisiert. Fortan mussten die Verurteilten sich vor der Hinrichtung ausziehen, weil man ihre Kleidung für die Winterhilfe und die Umsiedler wiederverwertete. In Shitomir hatte uns Blobel die neue, von Jeckeln entwickelte Methode der ‚Sardinenpackung‘ […] erläutert. Infolge des beträchtlichen Durchlaufs war man zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gruben sich zu rasch füllten; die Leichen fielen, wie es sich gerade ergab, kreuz und quer übereinander, Platz wurde verschwendet, und wir verloren also zu viel Zeit beim Graben; die neue Methode sah vor, dass sich die entkleideten Verurteilten am Boden der Grube flach auf den Bauch legten und einige Schützen ihnen einen aufgesetzten Schuss in den Nacken verpassten. „Ich bin zwar immer gegen den Genickschuss gewesen“, rief uns Blobel in Erinnerung, „aber jetzt bleibt uns nichts anderes übrig.“ Nach jeder Reihe musste ein Offizier sich davon überzeugen, dass alle Verurteilten auch wirklich tot waren; dann wurden sie mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, und die nächste Gruppe musste sich entgegengesetzt auf sie legen; wenn man auf diese Weise fünf oder sechs Lagen angeschichtet hatte, schüttete man die Grube zu.14 Die Behauptung von Menschlichkeit und Authentizität der Figur Max Aue erscheint – wie durch das Zitat sichtbar geworden – stets verwoben mit seinen klaren, bürokratischen und distanziert-kühlen Beschreibungen der Geschehnisse, Menschen und Situationen. Paradoxerweise entsteht gerade durch diese Verknüpfung ein offensichtlicher Bruch, eine Kluft zwischen vergangener Gegenwart und jetziger Gegenwart des Ich-Erzählers, zwischen beobachtendem Blick und Rückblick. Max Aue, so der Historiker Pierre Nora in einem Interview, „ist weniger eine Person, als eine Stimme, ein Ton, ein Blick. Zwischen dem, was Max Aue beschreibt und ihm selbst besteht eine Distanz, eine Kluft, als ob er gewissermaßen

nicht der Erzähler wäre“.15 Diese Kluft ist wichtig, stellt sie doch nicht nur die behauptete Sinn- und Glaubhaftigkeit des IchErzählers, sondern diejenige der gesamten Erzählung in Frage. Damit wird der Leser in einen kontinuierlichen Schwebezustand aus Nähe und Distanz versetzt. Der Rezipient oszilliert zwischen den vergangenen Beobachtungen und den gegenwärtigen Erinnerungen des Protagonisten, was konkret bedeutet, dass er zwischen den Zeiten changiert und nicht zuletzt eine historische Erfahrung, die sich jenseits von Einfühlung und Identifikation offenbart. Die Wechselwirkung von dokumentarischen Fakten und fiktiver Erinnerung Die Praxis der Historisierung zwischen Fakt und Fiktion zeigt sich nicht nur an dem ambivalenten Protagonisten. Sie kommt ebenso in der dokumentarischen Erzählebene des Romans zum Tragen.16 In ihr offenbart sich eine kontinuierliche Wechselwirkung von realgeschichtlichen Tatsachen und erzählter, fiktiver Erinnerung, die die doppelte Bewegung aus historischer Wiederholung und gegenwärtiger Überschreitung par excellence aufzeigt. So ist es wiederum Max Aue, der den Leser sprichwörtlich in das Innenleben der Vernichtungsbewegung der akademischen Elite führt. In seiner individuellen Erinnerung und als scheinbar individuell erlebtes Geschehen blickt der Protagonist und mit ihm der Leser zurück: zurück auf das Europa von 1941 bis 1945, zurück auf die nationalsozialistische Bürokratie, auf den Krieg, die Massenausrottung und die Verfolgung und Vernichtung der Juden. Max Aues Reise führt über Lemberg nach Kiew, wo er Teilnehmer der Mordaktion in Babij Jar ist. Er reist in den Kaukasus und wird von dort nach Stalingrad abkommandiert. Er arbeitet zeitweise in Berlin, inspiziert das Konzentrationslager in Auschwitz und flieht vor der Roten Armee nach Pommern. Schließlich erlebt er die Bombenangriffe auf Berlin und das Ende des Krieges. Darüber hinaus trifft Aue auf real existierende Personen: Er trinkt mit Adolf Eichmann Tee, er speist mit Heinrich Himmler, er trifft unter anderem auf die Elite des NS-Staates und der SS wie Albert Speer, Odilo Globocnik, Werner Best, Paul Blobel, Otto Ohlendorf und nicht zuletzt auf Hitler selbst. Interessant daran ist, dass die Anführung der genannten Geschehnisse, Orte und Personen auf einer äußerst minutiösen Recherche beruhen. Alle beschriebenen Ereignisse entsprechen real historischen Ereignissen. Sie fanden exakt zu der beschriebenen Zeit an den beschriebenen Orten statt. Dies gilt auch für die oben beschriebenen Personen, auf die Aue trifft. Auch sie existierten in der Realität und befanden sich zu den beschriebenen Zeiten an den beschriebenen Orten, mit dem jeweiligen Rang oder mit der jeweiligen Aufgabe versehen. Die Dokumentation wird jedoch nicht einfach faktengetreu angeordnet und mit dem Fokus auf Objektivität wiedergeben. Im Gegenteil: Als Leser erfahren wir, „wie es gewesen ist“, stets aus der fiktiven Erinnerung des Protagonisten. Alle real-geschichtlichen Ereignisse werden aus der Perspektive der fiktiven Täterfigur und mehr noch als erlebtes Geschehen wiedergegeben, sodass die Dokumentation „von innen her wiederbelebt [wird]; jeder einzelne

Ort, jede einzelne Situation, jede einzelne Person erfährt gleichsam eine intime Prägung“17. Durch diese intime Prägung erweitert der Roman nicht nur jegliche konventionelle, empirische Geschichtsschreibung. Auf Grundlage von präzise recherchierten Fakten und durch die Augen einer konstruierten, einer unwahrscheinlichen, aber dennoch möglichen Täterfigur versucht Littell vielmehr den bisher unerforschten, den „weißen Fleck“ der Geschichtsschreibung und wissenschaft zu füllen.18 Dieser „weiße Fleck“ bezieht sich auf eine Auseinandersetzung sowohl mit der Innensicht der Täter, als auch mit ihren Handlungsmotiven, er betrifft die maßgeblichen Entscheidungsprozesse und nicht zuletzt die Mechanismen der Vollstreckung. All dies offenbart sich in den Wohlgesinnten durch künstlerische Verfahren bzw. in der fiktiven Figur des Max Aue. Max Aue erstattet Bericht über seine und dementsprechend über eine mögliche Wahrheit; er gewährt dem Leser Einblicke in das potentielle Innenleben von Tätern und enthüllt so mögliche Beweggründe. Interessanterweise wird in dem Roman jedoch genau diese Innensicht der Täter, die mögliche Wahrheit von Max Aue, in doppelter Hinsicht historisiert. So finden die beschriebenen, real-historischen Ereignisse keineswegs in der jetzigen Gegenwart des Erzählers (und damit auch des Lesers) statt, sondern offenbaren sich in der Gegenwart der Erzählung selbst als Erinnerung und damit stets in einem Rück-Blick. Dieser Rück-Blick ist entscheidend: Ähnlich wie in Brechts Mutter Courage suggeriert er eine Historizität der Handlung, die zunächst eine Distanznahme des Lesers zu den beschriebenen Geschehnissen bewirkt. Gleichzeitig aber bleibt der Adressat der Erzählung stets der Leser. An ihn richtet sich Max Aue in direkter Ansprache und durch seine Augen widerfährt ihm eine mögliche historische Realität, zu der sich der Rezipient wiederum in der Gegenwart verhalten muss. Somit wird nicht nur die doppelte Bewegung von historischer Wiederholung und gegenwärtiger Überschreitung greifbar. Durch die enge Wechselbeziehung von Fakt und Fiktion sowie von vergangener Erinnerung und gegenwärtiger Erzählung wird der Leser vor allem mit einer Zwischenzeitlichkeit konfrontiert, die ihm eine historische Erfahrung erlaubt. An dem Roman Die Wohlgesinnten wird eine Praxis der Historisierung par excellence deutlich. Dabei handelt es sich jedoch weder um ein genaues Abbild der historischen Realität in der Gegenwart noch geht es primär um eine Identifikation mit oder Einfühlung in die Vergangenheit bzw. in real-geschichtliche Figuren. Durch die enge Wechselwirkung von Fakt und Fiktion, durch den ambivalenten, fiktiven Ich-Erzähler und nicht zuletzt durch die präzise Verknüpfung von real-geschichtlichen Ereignissen und fiktiver Erinnerung wird eine eindeutige Verortung des Lesers geradezu unterbunden. An deren Stelle und damit einhergehend an die Stelle einer eindeutigen Zeit- und Raumversetzung tritt ein Between-two-times19, ein Oszillieren von Zeiten und Räumen, ein Zwischen-den-Zeiten-Sein. Dieses Dazwischen, das im Medium der Kunst erzeugt wird, ist für eine historische Erfahrung konstitutiv. Es ermöglicht eine Auseinandersetzung mit Geschichte, die sich zwischen Annäherung und gleichzeitiger

Distanznahme bewegt. Und es ermöglicht eine Erfahrung des Betroffen-Seins, die jenseits einer unreflektierten Verkörperung, Einfühlung und Projektion steht, denn: „Immerhin betrifft die Geschichte euch: Und ihr werdet schon sehen, wie sehr sie euch betrifft.“20 1

Brecht, Bertolt: [Über experimentelles Theater] (1939), in: Ders.: Schriften zum Theater I, Gesammelte Werke Bd. 15, Frankfurt a. M. 1967, S. 301f.

2

Siehe hierzu: Kierkegaard, Sören: Die Wiederholung (1843), hrsg. v. Hermann Diem und Walter Rest, München 2007; Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung (1969), München 2007; Heeg, Günther: „Reenacting History. Das Theater der Wiederholung“, in: Ders./Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History: Theater & Geschichte (= Recherchen 109), Berlin 2014, S. 10–39; Ders./Hensel, Andrea/Braun, Micha/Pollak, Tamar/Darian, Veronika (Hrsg.): „Praktiken der Wiederholung. Episteme der Historiographie“, in: Cairo, Milena/Hannemann, Moritz/Haß, Ulrike/Schäfer, Judith (Hrsg.): Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit, Bielefeld 2016, S. 321–340.

3

Vgl. Brecht, Bertolt: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg (1939), Frankfurt a. M. 1986.

4

Vgl. Breuer, Ingo: Theatralität und Gedächtnis: deutschsprachiges Geschichtsdrama seit Brecht, Köln 2004.

5

Knopf, Jan: Brecht-Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche, Stuttgart 1986, S. 185.

6

Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten, aus dem Franz. von Hainer Kober, Berlin 2008.

7

Vgl. Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Dramatische Lesung in vier Teilen. Gelesen von Stephan Benson, Hamburg 2009.

8

Die Wohlgesinnten wurde in der Spielzeit 2011/12 am Maxim Gorki Theater in Berlin unter der Regie von Armin Petras aufgeführt, in der Spielzeit 2013/14 am Wiener Schauspielhaus unter der Regie von Antonio Latella inszeniert und von dort in der Spielzeit 2015/16 am Theater Basel übernommen.

9

Programmtext zur Aufführung der Wohlgesinnten am Theater Basel in der Spielzeit 2015/16, in: www.theaterbasel.ch/Spielplan/Die-Wohlgesinnten/ol8Cuj3V/Pv4Ya/?SEASONID=5EBE582E-DCDF-31A1-259F3B23C3F9319B (Letzter Zugriff: 14. Dezember 2017).

10

Vgl. hierzu auch Pollak, Tamar/Hensel, Andrea: „Literarische Zeugenschaft zwischen Fakt und Fiktion. Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel) und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten“, in: Heeg, Günther/Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History: Theater & Geschichte, S. 87–104.

11

Littell: Die Wohlgesinnten, S. 9.

12

Ebd., S. 39.

13

Vgl. Littell, Jonathan/Nora, Pierre: „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, in: Littell, Jonathan: Die Wohlgesinnten. Marginalienband, Berlin 2008, S. 22–64, hier S. 55.

14

Littell: Die Wohlgesinnten, S. 153f.

15

Littell/Nora: „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, S. 30f.

16

Der Roman besteht formal wie inhaltlich aus insgesamt drei großen Erzählebenen, die ineinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen: 1. eine dokumentarische Ebene, die die kontinuierliche Wechselwirkung von real-geschichtlichen Tatsachen und erzählter, fiktiver Erinnerung zum Ausgangspunkt nimmt und in dem vorliegenden Beitrag dezidiert beschrieben wird; hinzu kommt 2. eine Erzählebene, die die Privatperson Aue in den Blick nimmt und in einer verstörenden Mischung aus Halluzinationen, Wahn, Fetisch und masochistischen Phantasien die menschlichen Abgründe Aues erfahrbar macht. Diese beiden Ebenen werden 3. durch eine intertextuelle Erzählebene verbunden, die mittels Motiven und

Anspielungen kontinuierlich auf den dritten Teil der Orestie des Aischylos verweist und den Roman somit auf einer weiteren Metaebene strukturiert. Vgl. hierzu auch Littell: Die Wohlgesinnten. Marginalienband. 17

Ebd., S. 37.

18

Vgl. Littell/Nora: „Gespräch über die Geschichte und den Roman“, S. 38f. sowie dazu auch: Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1990.

19

Vgl. Janša, Janez: „Between two times“, Keynote-Lecture bei dem wissenschaftlichkünstlerischen Symposium „Das Theater der Wiederholung“, das vom 30. Oktober bis 1. November 2014 im Rahmen des gleichnamigen DFGForschungsprojekts unter der Leitung von Günther Heeg in Leipzig stattfand. Der Vortrag von Janša ist in abgewandelter Form im Internet einsehbar unter https://vimeo.com/74417112 (letzter Zugriff: 14. Dezember 2017).

20

Littell: Die Wohlgesinnten, S. 9.

TRENNUNGEN/ÜBERTRAGUNGEN

Mai Miyake

TRENNUNG UND ZUSAMMENSTOSS DER RHYTHMEN Dynamische Zustände in der Fatzer-Inszenierung von Chiten1

Wie ist es möglich, ein Fragment gebliebenes Theaterstück aufzuführen, das vom Dramatiker selbst als „unmöglich“ und als ein „Experiment ohne Realität“2 eingeschätzt wurde? Diese Frage ist dem Fatzer-Text von Bertolt Brecht latent mit eingeschrieben. Trotz des immensen Umfangs von fünfhundert Seiten, bestehend aus weitreichenden Notizen, Szenen- und Fabelentwürfen sowie Passagen für Chöre und Gegenchöre, ist Fatzer unvollendet geblieben. Gleichzeitig ermöglicht gerade das Fragmentarische die Technik der Montage, wodurch immer neue Zusammenhänge generiert werden.3 Judith Wilke, die eine umfangreiche Analyse des Fatzer-Fragments durchführte, sieht in der Unaufführbarkeit dieser Texte ein kreatives Potential: „eine eigene ästhetische Form, die die gängige Aufführungspraxis in Frage stellt“4. In Hinblick auf das kreative Potential und mit dem Anspruch einer eigenen ästhetischen Form setzt sich die japanische Theatergruppe Chiten mit dem Fatzer-Konglomerat auseinander. Die Gruppe Chiten hat sich im Jahr 2001 gegründet und besteht aus sechs Schauspielerinnen und Schauspieler und dem Regisseur Motoi Miura. Eines der besonderen Merkmale der Theaterarbeiten Chitens ist die Rhythmisierung theatraler Elemente. Dabei stehen die optischen und akustischen Elemente (wie Sprache, Musik und Gesten) im Vordergrund. In den Inszenierungen von Chiten sind verschiedene rhythmische Phänomene im Zusammenspiel dieser exponierten Elemente wahrzunehmen, die sich nicht leicht in eine diskursive Sprache übertragen lassen. Das Rhythmische in der Fatzer-Inszenierung ist besonders an der Technik des Schneidens und Montierens von Texten und Szenen zu erkennen, wodurch die Fragmentarität dezidiert hervorgehoben wird. Im Allgemeinen erkennt man einen Rhythmus an der durch Akzentuierungen gegliederten Zeit. Rhythmen unterteilen und strukturieren die Zeit.5 In der Theaterpraxis Chitens sind jedoch Akzentuierungen absichtlich radikalisiert, indem der Zeitfluss (im Sinne von Handlung oder Geschichte) in Bruchstücke geteilt wird und diese erneut in dekonstruktiver Weise aneinander gekoppelt werden. Bisher hat der Regisseur Miura zahlreiche Stücke von Shakespeare, Tschechow oder Jelinek inszeniert. Interessanterweise geht es bei den Aufführungen von Chiten nicht darum, die Geschichte oder Handlung des Textes zu repräsentieren (wie im traditionellen dramatischen Theater). Vielmehr werden die Dramentexte in hohem Grad dekonstruiert, indem sie in Einzelteile (in einzelne Szenen bis hin zu einzelnen Wörtern) zerschnitten und diese Teile wiederum unabhängig vom logischen Verlauf der Handlung skizzenhaft neu zusammengesetzt werden. Diese spezielle Methode der

Rhythmisierung durch Schneiden und Montieren, die Chiten in ihren Arbeiten verwendet, lässt sich mit der Montage-Theorie in Bezug auf den Film (von Sergej Eisenstein sowie Wsewolod Pudowkin) vergleichen.6 Der ohnehin fragmentarische Fatzer-Text, der kein Kontinuum wie eine lineare Handlung oder eine stringent erzählte Geschichte gewährleistet, wird durch die angewandte Praxis des Schneidens und Montierens in seiner Fragmentarität weiter gesteigert und in Gänze in Unverständlichkeit getrieben. Die Aufführung entzieht sich einem einfachen Verständnis. Sinnstiftung und existierende Handlungsstränge werden immer aufs Neue unterbrochen und flexibel zusammengesetzt. Denkprozesse aufführen Heiner Müller beschreibt den Fatzer-Text von Brecht als „präideologisch“: Seine Sprache „formuliert nicht Denkresultate“7. In diesem Sinne ist der Text an sich als Experiment bzw. Laboratorium zu begreifen. „Der Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt.“8 Das Spezifische des Textes fasst Hans-Thies Lehmann als die „Öffnung in die Theorie“ zusammen. Weiter begreift er sie als einen Hinderungsfaktor für die Entstehung des Textes hin zum Drama. Er verweist darauf, dass Brecht um 1928/29 „darauf verfiel, den Komplex FATZER in Kapitel aufzuteilen“9. Durch diesen Versuch der Aufteilung sei der Text weniger ein Akt des „Erzählens“ als ein Denkprozess: Aus dem plot wird ein Tableau thematischer Abhandlungen oder eine Reihung oder Schautafel von Gesten. Damit dringt, was man Theorie nennen könnte, in die Praxis des Theaters ein. Was in Brechts „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ immer als Erneuerung und Destruktion des Dramatischen am Horizont stand, wird jetzt zur Unmöglichkeit einer „ästhetischen“ Abschließung. […] Theater erscheint als Szene und als sprachlich-rhythmisch skandierter Denkprozeß [Hervorhebung: M. M.] in eins.10 Die Aufführung von Chiten ist eine Überspitzung dieser sogenannten Skandierung des Denkprozesses durch visuelle und akustische Rhythmen. Der Denkprozess, der sich im Text durch das Schreiben, Zuschreiben und Umstrukturieren von Brecht manifestiert, zeigt sich in der Aufführung demnach in seiner theatralen Entfaltung/Weiterführung. In der Aufführungspraxis von Chiten entzieht sich der Text seiner semantischen Bedeutung durch das Spiel mit verschiedenen Rhythmen, und zwar durch die beschriebene Praxis des Schneidens und Montierens. Fatzer-Inszenierung von Chiten Chitens Inszenierung von Fatzer wurde 2013 in Japan uraufgeführt und war für die Gruppe die erste Auseinandersetzung mit einem Text von Bertolt Brecht. Der unvollendete Stücktext Der

Untergang des Egoisten Johann Fatzer, an dem Brecht zwischen 1927 und 1930 arbeitete, handelt vom Soldaten Johann Fatzer und drei weiteren Soldaten, die während des Ersten Weltkrieges von der Front desertieren und auf den Ausbruch einer Revolution und das Ende des Krieges warten. Während der Flucht beharrt Fatzer stets auf seiner individualistischen, egoistischen Haltung und bedroht dadurch immer wieder die Ordnung und das Überleben des Kollektivs. Deswegen beschließen die drei anderen Deserteure, ihn zu töten. Aber die Hinrichtung Fatzers ist im Text als Konsequenz nur angedeutet, und das Schlussbild, das Brecht beschreibt, bleibt zweideutig. So schreibt er an einer Stelle des Fragments, dass alle vier Männer tot in einem Zimmer liegen und unmittelbar danach, dass drei Männer gehen und ein toter Mann im Zimmer zurückbleibt.11 Weil das Fragment in seiner Darstellung vieldeutig und rätselhaft ist und die Texte oftmals plötzlich in komplexe politisch-philosophische Diskurse geraten, ist es nicht leicht aufführbar. Der Reiz, dieses Fragment zu inszenieren, liegt aber gerade in den hohen Anforderungen, die der Text mit sich bringt. Zahlreiche Theatermacher haben das brechtsche Fragment überarbeitet oder in eine eigene Fassung umgearbeitet. Chiten beruft sich dabei auf die bekannte Fassung von Heiner Müller. Diese Fassung wird in der Aufführung jedoch erneut demontiert. Durch einen ständigen Szenenwechsel, dessen Chronologie und Handlungsabfolge nicht der originalen Fassung entsprechen, ist sogar die grundlegende Handlung (über die Flucht der Deserteure und den Konflikt zwischen Fatzer und den anderen usw.) nicht mehr nachvollziehbar. Auch sind die Figuren im Stück nicht durch bestimmte Schauspielerinnen und Schauspieler festgesetzt. Drei von sechs übernehmen den Text von Fatzer, die Textpassagen der anderen Figuren und des Chors sprechen alle gemeinsam. Ein Sensor auf der linken Seite der Rampe schafft eine unsichtbare Grenze zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum: Sobald die Schauspielerinnen und Schauspieler diese Grenze übertreten oder diese auch nur von einem Teil ihres Körpers berührt wird, ertönt ein Alarm, und ein stroboskopisches Licht zerhackt die Szene in einzelne Bilder. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind somit geradezu im Bühnenraum eingesperrt, in einem Zustand, der die Ausweglosigkeit von Fatzer und seinen Kameraden widerspiegelt. In diesem durch den Alarm und das stroboskopische Licht entstehenden Raum wird auch der Text in zerhackter Weise gesprochen.12 Neben den Schauspielerinnen und Schauspielern befindet sich weiterhin die Band Kukangendai mit auf der Bühne. Während der Aufführung spielt sie laute, ohrenzerreißende Töne in komplexen Rhythmen. Diese mehr als rhythmisches Geräusch denn als Musik zu fassende Untermalung der Szenerie dringt mitunter in die Sprechsequenzen der Akteurinnen und Akteure rücksichtslos mit ein. Dadurch werden die Sprechenden gezwungen, ihre Texte zwischen die Musik/Geräusche zu platzieren. Sobald die Texte vom Sound unterbrochen werden, drücken die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rücken gegen die Hinterwand und posieren, auf den Lärm reagierend, als ob sie den Schüssen eines Maschinengewehrs ausweichen würden, und fallen daraufhin in sich zusammen. Wenn der fallende Körper wiederum die virtuelle Bühnengrenze überschreitet, ertönt erneut der Alarm, dann stehen die Hingefallenen von neuem

auf und schreiten zurück zur Wand. Die gesetzmäßige Abfolge von Ereignissen wird wie in einem ewigen Kreislauf wiederholt, was die Basis der Inszenierung ist.

Chiten: Fatzer (Inszenierung: Motoi Miura), mit Koji Ogawara, Satoko Abe, Shie Kubota, Saki Kohno, Dai Ishida und Yohei Kobayashi. Foto: Hisaki Matsumoto

Nach der Beschreibung des prinzipiellen Rahmens der Aufführung wird im Folgenden gefragt, wie man die Aufführung in Bezug auf Rhythmisierung analysieren kann. Des Weiteren untersucht der vorliegende Beitrag, welche neue Aufführungsmöglichkeit Chiten dem FatzerText durch ihre rhythmischen Experimente eröffnet. Dafür sollen zunächst zwei Dimensionen in der Aufführung genannt werden, die sich als wichtige Gesichtspunkte für die Analyse darstellen. Die erste Dimension ist die Trennung der Elemente, auf der diese Aufführung basiert. Die zweite bezeichne ich als Zusammenstoß der Rhythmen. In der Fatzer-Inszenierung von Chiten verflechten sich diese zwei Dimensionen miteinander. Erst durch das Erkennen der ersten Dimension – dass das Getrenntsein der einzelnen Elemente (hier besonders der Musik, Sprache, Geste und des Lichtes) respektive ihre gegenseitige Distanz zueinander in erster Linie wahrzunehmen ist – wird die zweite Dimension ermöglicht. Die getrennt wahrgenommenen Elemente, die durch ihre rhythmischen Bewegungen gegenseitig Differenzen hervorheben,

stoßen zugleich in manchen Momenten gewaltig zusammen. Weil es den getrennten Elementen bestimmt ist, in verschiedene Beziehungen miteinander zu treten oder in radikaler Weise zusammenzustoßen. In diesem Sinne gehen die zwei Dimensionen mit der Technik des Schneidens (= Trennung) und Montierens (= In-Beziehung-Setzen) einher. Im Weiteren sollen die zwei Dimensionen ausführlich erläutert werden. Trennung der Elemente Was an dieser Inszenierung zuerst auffällt, ist das ästhetische Verfahren einer Trennung der Elemente, die Brecht für die Realisierung seines Konzepts des epischen Theaters konzipiert hat. Über die „Trennung der Elemente“ schreibt er in seinen „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, dass die verschiedenen theatralen Elemente – vor allem Musik, Wort und Bild – ihre Selbständigkeit erhalten sollen.13 Dabei stellt Brechts Konzept eine Antithese zu der Verschmelzung der Künste dar, die insbesondere im Konzept des Gesamtkunstwerks von Wagner gefordert wurde. Folgt man Wagners Konzept eines Gesamtkunstwerks, befinden sich alle Elemente in Gefahr, sich in eine Totalität zu verwickeln. Die Kritik von Brecht an diesem Konzept liegt darin, dass in diesem künstlerischen Verschmelzungsprozess auch der Zuschauer eingeschmolzen und durch den Rausch der Synthese der Künste hypnotisiert wird und dadurch nur passiv bleiben kann. Im Gegensatz dazu ist Brecht davon überzeugt, dass eine Aktivität des Zuschauers hervorgerufen wird, indem theatrale Elemente gerade keine Einheit bilden, sondern ihre eigene Wirkung selbständig entfalten. Während in Brechts Überlegungen zur „Trennung der Elemente“ im Grunde Musik, Wort und Bild gemeint sind, kommt bei Chitens Fatzer-Inszenierung außerdem die Geste bzw. die Gebärde des Körpers hinzu. Die Elemente wie Text, Musik, Gestus, Alarm und stroboskopisches Licht sind dort jeweils selbständig. Keines der Elemente ist den jeweils anderen untergeordnet oder fungiert als Ergänzung, jedes ist ein für sich stehender, wichtiger Bestandteil der ganzen Wirkung. Darüber hinaus besitzen die Elemente, die in der Aufführung selbständig wirken, jeweils optische und akustische Rhythmen. Beziehung zwischen sprachlichem und musikalischem Rhythmus An dieser Aufführung ist nicht nur die Trennung der Elemente besonders, sondern auch der Status, in dem diejenigen selbständigen Elemente verschiedene Beziehungen zueinander einnehmen. Mit dem SelbständigSein beginnen im Allgemeinen alle möglichen Beziehungen zu anderen. Getrennt-Sein und In-Beziehung-Kommen sind mithin stets zusammen zu denken: Die Selbständigen (Elemente/Menschen) können nicht ausschließlich autark sein und bleiben. Denn trotz ihres Selbständig-Seins treten sie in Kontakt zueinander oder bedingen einander. Eine von diesen Beziehungen wird vor allem im formalen Prinzip der Aufführung gesehen, das Chiten und Kukangendai als Ausgangspunkt für das Stück festgesetzt haben. Fatzer basiert auf einer spielerischen Regel: Die Band unterbricht willkürlich mit rhythmischen Geräuschen die Szene,

woraufhin die Schauspieler ihren Text in die entstehenden Geräuschpausen platzieren müssen. Schon während des Sprechens müssen sie den Einsatz des nächsten Geräusches vorausahnen. Sie können so viel Text wie möglich vortragen, bis sie wieder von der Band unterbrochen werden, müssen jedoch stets kurz davor – auch inmitten des Satzes – abbrechen können. Wenn Text und Musik sich überschneiden, müssen die Sprecher hinfallen (das gilt als Sterben).14 Aufgrund dieser Regel können das Timing der Geräusche und die Menge der Texte, die die Schauspielerinnen und Schauspieler in den jeweiligen Sound-Pausen sprechen, variieren. Dadurch ergibt sich ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen dem Rhythmus der Sprache und dem der Musik. Für eine genauere Untersuchung dieses transmedialen/transmodalen Spannungsverhältnisses von Rhythmen mag die Hinwendung zur Theorie der „Vertikalmontage“ von Sergej Eisenstein aufschlussreich sein. „Bildausschnitt und Montage als Grundelemente des Films“15 entwickelten sich bei Eisenstein durch seine theoretische Überlegung und ihre praktische Realisierung in seinen Filmen (wie Panzerkreuzer Potemkin) in den 1920er und 1930er Jahren. Dabei ging es hauptsächlich darum, wie man im Stummfilm durch den Umgang mit Bildern höchste Wirkungen erzeugt. Mit der Geburt des Tonfilms hat sein Montage-Konzept zudem eine neue Ebene gewonnen: die vertikale Struktur bzw. die Gleichzeitigkeit der heteromodalen Elemente (Bild und Ton) im filmischen Ablauf. In seiner Schrift Die Vertikalmontage (1940/41) zieht Eisenstein die Struktur einer Orchesterpartitur heran, um das Konzept der Vertikalstruktur zu verbildlichen: [Die Orchesterpartitur] enthält diverse Notenzeilen, die jeweils der Partitur eines bestimmten Instruments gewidmet sind. Jeder Part entwickelt sich dabei in einer fortlaufenden Bewegung in der Horizontalen. Doch ist hier die Vertikale ein ebenso entscheidender Faktor, denn sie markiert die musikalische Interaktion der verschiedenen Elemente des Orchesters in jedem einzelnen Moment. Durch die fortschreitende Bewegung dieser Vertikalen, die das gesamte Orchester durchdringt und sich entlang der Horizontalen voranbewegt, entwickelt sich die komplexe harmonische musikalische Bewegung des Orchesters im ganzen.16 Um diese vertikale Struktur auch im Film (in der „ton-bildlichen Partitur“) zu entdecken, fügt er noch eine Zeile hinzu, die „den konsekutiven Ablauf der ineinander übergehenden bildlichen Einstellungen“ darstellt, „die plastisch auf ihre Weise wiederum der musikalischen Bewegung korrespondieren und umgekehrt“.17 Wie in seiner Abhandlung angedeutet ist, sucht Eisenstein durch die Vertikalmontage Korrespondenzen und gegenseitige Entsprechungen zwischen Bild und Musik.18 Diesen Korrespondenzen und Entsprechungen zwischen den Elementen weicht Chitens Inszenierung zumeist explizit aus. Die Elemente fungieren bei Chiten nicht als Ergänzung oder Verstärkung der anderen (wie wenn die Musik einer Geste entsprechend ertönt), sondern sie entfalten jeweils eigenständig ihre Wirkungen. Was man allerdings von der

Idee der „Vertikalmontage“ aus dem Interesse für das Zusammenspiel der getrennten Rhythmen gewinnen kann, ist die Vorstellung der Vertikalen, nämlich der Gleichzeitigkeit der verschiedenen rhythmischen Bewegungen. Mit dieser Idee der Vertikalen konnte das MontageKonzept die bisherige Vorstellung von einer Bewegung übersteigen, die nur horizontal bzw. linear (als „Aufeinanderfolge“) betrachtet wurde. Anhand des vorgestellten Bildes einer multimodalen Partitur, auf der die simultan fortlaufenden Bewegungen der Rhythmen als sich vertikal reihende Zeilen stehen, sollen Beziehungen zwischen den einzelnen Zeilen (= rhythmischen Bewegungen) in der Fatzer-Inszenierung weiterhin untersucht werden. Die Beziehung zwischen gestischem und sprachlichem Rhythmus Das Spannungsverhältnis, das zwischen Sprache und Musik verdeutlicht wurde, ist ebenso in der Beziehung von Sprache und Geste zu erkennen. Der folgende Text aus dem FatzerFragment, der vom Schauspieler Yohei Kobayashi vorgetragen wird, soll hierfür exemplarisch vorgestellt und analysiert werden: Der Punkt bedeutet Fatzer Das bin ich und hier ist gegen mich Unabsehbar eine Linie, das sind Soldaten wie ich, aber mein Feind Hier aber sehe ich Plötzlich eine andere Linie, die ist hinter mir, die ist Auch gegen mich. Was ist das? Das ist Die uns herschicken, das ist die Burschoasie. Endlich nach Jahren Sehe ich den Feind Das ist ja nicht Unsere Sache, die hier So blutig abgehandelt wird Feuer und Wasser kämpfen auf der einen Seite, auf der andern Feuer und Wasser Blickten sie bloß zurück aus der Blutigen Umklammerung, sie sähen Jeder hinter sich stehend Den Feind und so sah ich Nach vier Jahren blindwütigen Kriegs Vorhin plötzlich hinter mich und sah

Plötzlich alles. Nämlich Vor mir, gegen den ich focht: meinen Bruder Hinter mir aber und hinter ihm: unsern Feind Und jetzt unter dem halben Baum rauch ich Unsern Tabak auf Ich Mache keinen Krieg mehr Es ist gut, daß ich Hier her gekommen bin zu einer Stelle der Welt, wo ich Nachdenken konnte drei Minuten lang Jetzt Können wir weggehen.19 Die Besonderheit dieses Textabschnittes, der von Brecht „Fatzervers“ genannt wurde, liegt darin, dass dort weniger ein semantischer Inhalt als vielmehr seine Sinnlichkeit hervorgehoben wird. Folgt man dem Germanisten Stefan Mahlke, so transportiert der Fatzer-Text „den Anspruch, als musikalisches Material behandelt zu werden“20. Der Fatzervers zeigt einen Bruch mit dem gängigen Dramentext, weil der Versbruch jeweils an ungewöhnlicher Stelle erfolgt. Da er kein Metrum bildet und teilweise nur ein einzelnes Wort in einer Zeile steht, zeigt er als Ganzes einen unregelmäßigen Rhythmus. Hier muss berücksichtigt werden, dass für Brecht die Unregelmäßigkeit des Rhythmus für sein theatrales Schaffen wesentlich ist. Der Rhythmus basiert auf der Grundlage von Wiederholungen. Dabei verhält er sich jedoch nicht gleichmäßig, sondern bleibt stets dynamisch und schwankt zwischen Maß und Abweichung. Wie später in seinem Essay Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen beschrieben, plädiert Brecht in seinem Konzept für diese Kraft der unregelmäßigen Rhythmen des Textes. Insbesondere bei einem Theaterstück wird der Vortrag eines Textes laut Brecht umso kraftvoller, wenn er nicht „die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses“, sondern einen „schwer lesbaren, ‚holprigen‘ Vers“21 besitzt. Es wird also ein wechselnder, synkopierter und unregelmäßiger Rhythmus im Text vorgezogen. Das Potential, welches gebrochenen und unterbrochenen Rhythmen inhärent ist, ist auch für Chiten der Ausgangspunkt ihrer Inszenierung. Die japanische Adaption des Textes folgt auch hier keinem Metrum, im Gegenteil: Die Unregelmäßigkeit des Rhythmus wird noch verstärkt, indem der Text gesprochen wird und dadurch in verschiedene Verhältnisse zu den Gesten gerät. Während der Schauspieler Kobayashi den Text hastig spricht, zeigt er parallel eigentümliche Gesten mit seinen Händen und dem gesamten Körper. Die Bewegungen des Schauspielers bilden einen Komplex aus verschiedenartigen Gebärden. Damit sind einerseits die Bewegungen gemeint, die sich auf eindeutige Referenzen und Beschreibungsgegenstände zurückführen lassen (beispielsweise zeigt er mit beiden Händen vier Finger, wenn er von „vier

Jahren“ spricht, oder beim Wort „blind[-wütig]“ verdeckt er die Augen mit den Fingern). Andererseits enthält der Gebärden-Komplex auch pantomimische sowie mehrdeutige Bewegungen. Diese diversen Bewegungen lassen sich zusammenfassend als Gesten bezeichnen, in dem Sinne, dass sie eine Zitierbarkeit beinhalten, die Walter Benjamin als wesentlich für Gesten beschreibt. Nach Benjamin hat eine Geste „im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende“22. In der Szene, in der sich die Gesten jeweils mit fixierbarem Anfang und Ende wie eine Kette aneinander reihen, werden die Spalten oder Verbindungsstellen zwischen den einzelnen Gesten deutlich. Durch diese Gliederungen bzw. kleinen Unterbrechungen wird der Fluss der Gesten als rhythmisch wahrnehmbar. Darüber hinaus ist der rhythmische Fluss gleichzeitig unregelmäßig, da er dabei keinem festgesetzten und strukturellen Maß folgt. Wie beziehen sich Gestus und Sprache in der oben zitierten Szene aufeinander? In diesem Zusammenhang gibt es zwei hervorzuhebende Momente. 1. Gegenseitige Unterbrechung: An der Stelle des Wortes „Burschoasie“ unterbricht der Schauspieler das bisher hektische Tempo des Sprechens und hebt das Wort hervor, indem er laut und nahezu hysterisch wirkend die einzelnen Silben des Wortes betont („Buru-joa-zie-da [ist die Bur-shoa-sie]!“). Seine Handbewegung hält währenddessen inne, während eine große gestische Zäsur entsteht, indem er seinen ganzen Körper an die Wand presst. Man kann hier nicht genau sagen, welche Ebene, die der Sprache oder die der Geste, mehr Einfluss auf die jeweils andere hat, weil beide Ebenen gleichermaßen aufeinander bezogen sind. 2. Intervention durch Gesten in der Sprache: Taucht im Text das Wort „Tabak“ auf, wird der Sprachfluss sogleich von der Geste des Rauchens unterbrochen. Es ergibt sich sozusagen ein sprachliches Intervall aufgrund der gestischen Intervention. Außerdem übt das Wegwerfen des virtuellen Tabaks auch einen großen Einfluss auf den sprachlichen Rhythmus aus.23 Nach Benjamin ist es die wichtigste Leistung des Schauspielers, „Gesten zitierbar zu machen“. Dafür müsse der Schauspieler seine Gebärden hervorheben können, so Benjamin: „er muss seine Gebärde sperren können wie ein Setzer die Worte“24. Durch diese Methode der Markierung wird der Ablauf auf der Bühne unterbrochen und ein Zustand wird sichtbar. Oder umgekehrt: „Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen“25. Die Unterbrechungen, die hier beschrieben wurden, werden durch die Spannung bzw. Wechselwirkung zwischen den Rhythmen der beiden Elemente, nämlich zwischen den Rhythmen der Sprache und der Geste, hervorgerufen. Sie markieren derart etwa den Zustand eines über den Krieg und das Überleben philosophierenden Kopfes, also eines Denkprozesses. Was hier mit Zustand gemeint ist, geht über die Theorie Benjamins hinaus. Bei Benjamin zeigen sich Zustände tableauhaft und statisch, hingegen treten die Zustände bei Chiten, durch das rhythmische Spiel, vielmehr als dynamische Zustände hervor. Die getrennten/selbständigen Rhythmen konfrontieren sich nicht nur in verschiedenen Beziehungen

– oder anders gesagt: Kontakten – wie dem gegenseitigen Unterbrechen oder der Intervention, sondern darüber hinaus auch mit einem gewalttätigen Zusammenstoß, der die Szenen dynamisiert. Der Zusammenstoß der Rhythmen generiert einen chaotischen, dynamischen Zustand. Zusammenstoß der Rhythmen Die besondere Beziehung – die gegenseitige Unterbrechung/Intervention – zwischen den rhythmischen Elementen Sprache, Musik und Geste, die zuvor beschrieben wurde, geht im letzten Teil der Inszenierung sogar soweit, dass die gesamten Rhythmen gewalttätig gegeneinander stoßen. Die Trennung der Elemente setzt, wie bereits erwähnt, voraus, dass die eigenständigen Elemente in verschiedene Beziehungen zueinander geraten. Das heißt, dass die Beziehung sich zu einer sehr intensiven Form entwickeln kann: zu einem Zusammenstoß. Chitens Inszenierung konfrontiert den Zuschauenden mit diesen oft auch brutalen Zusammenstößen und eröffnet so eine Auseinandersetzung damit. Stellvertretend soll hier eine Szene, die graduell in den Zusammenstoß der Rhythmen gerät, beschrieben und analysiert werden. In der Szene sprechen die drei Schauspielerinnen fragmentarisch diejenigen Texte des Stückes, welche als Klagen über die sexuellen Frustrationen, während der Abwesenheit der Männer im Kriegszustand, von der Figur Therese Kaumann (die Frau eines Deserteures) und einer anderen Frau geäußert werden. Außerdem sprechen sie den für den Chor vorgesehenen aphoristischen Text über das Geschlechtliche. Dabei werden bestimmte Textfragmente26 entweder von der jeweilig sprechenden oder einer der anderen Schauspielerinnen mehrmals wiederholt. Auch das Wort „Liebe“ (ai auf Japanisch) wird jedes Mal unmittelbar dreimal repetiert („ai, ai, ai“), wie wenn die Nadel des Schallplattenspielers aufgrund einer Störung immer wieder dieselbe Stelle spielt. Währenddessen sind die Schauspielerinnen außerdem mit den Gesten beschäftigt, die sich wie bei einer Schizophrenie nacheinander und ohne Pausen reihen und nicht unbedingt mit dem Gesagten semantisch verbunden sind. Die Szene ist derartig durch textuelle sowie gestische Collagen und Wiederholungen charakterisiert. Das erweckt den Eindruck, dass die Schauspielerinnen keine dramatischen Figuren wie Therese Kaumann oder die Frau spielen, sondern als Frauen im Allgemeinen oder als Frauen-Chor sprechen. Das Gesprochene kehrt als das Verdrängte (im Sinne von Freud und Deleuze) wie ein Echo wieder. Darüber hinaus fügen die einzelnen Instrumente der Band musikalisch divers wandelnde Rhythmen der Szene hinzu. Der Alarm und das Stroboskoplicht verleihen mitunter visuellakustische Akzente, als ob sie die Szene zerschneiden wollten. Die hysterische Kraft des Raums steigert sich durch die schreienden Stimmen der Akteurinnen, die fragmentierten Gesten, die konfus gewordene Musik, den Alarm und das Licht. Durch diesen Raum geht der Schauspieler Dai Ishida zum Mikrophon vor der Bühne und trägt laut den philosophischen Text der Figur Koch aus dem „Todeskapitel 2“27 vor. Allerdings ist sein ohnehin komplizierter Inhalt weder vernehm- noch verstehbar, einerseits durch das Vibrieren und Ausdehnen der

Silben in der Sprechweise von Ishida selbst, andererseits durch die Musik und die Stimmen der Schauspielerinnen, die die Dynamik und Lautstärke währenddessen nicht verringern. Im Gegenteil verstärkt sich das Volumen graduell, und das Chaos der Szene erreicht seinen Höhepunkt. Hier bringen Sprache, Musik und Geste, wie bereits im ersten Teil, heterogene Rhythmen hervor, die über ihre gegenseitige Unterbrechung oder Beeinflussung hinaus eine Dimension des chaotischen Zusammenstoßes erreichen. Bei der gegenseitigen Unterbrechung als einer Beziehung der Rhythmen herrscht noch eine gewisse Ordnung, weil sich die einzelnen Rhythmen dabei ordentlich nebeneinander reihen und ihre Grenzen – z. B. zwischen akustischen und optischen Rhythmen – noch relativ klar zu ziehen sind. Dagegen geht der Zusammenstoß der Rhythmen über die Dimension solcher Beziehungen hinaus, weil die Grenzen der Rhythmen nicht mehr deutlich sind. Deswegen wird der Zusammenstoß chaotisch wahrgenommen. Der gewalttätige Zusammenstoß der heteromodalen Rhythmen, die verschiedene Bewegungen manifestieren, fängt somit auch den Zuschauer in diesen chaotischen Raum mit ein.

Chiten: Fatzer (Inszenierung: Motoi Miura). Foto: Hisaki Matsumoto

Dynamische Zustände durch Zusammenstoß der Rhythmen Wie verdeutlicht wurde, wird in der Inszenierung von Chiten – in der die Szenen rhythmisch durch eine theatrale Anwendung der Montage (Schneiden und Montieren) konstruiert sind –

eine Trennung der Elemente vollzogen, indem die Selbständigkeit der Elemente durch ihre rhythmischen Bewegungen hervorgerufen und hervorgehoben wird. Dabei zeigen die Elemente nicht nur ihre eigenen Rhythmen im Einzelnen, sondern auch verschiedene Beziehungen wie Distanzierungen, Beeinflussungen oder gegenseitige Unterbrechungen. Durch diese Beziehungen zwischen heteromodalen (optischen und akustischen) Rhythmen werden die Szenen nicht horizontal/linear, sondern vertikal – wie bei der „Vertikalmontage“ von Eisenstein – wahrgenommen. Die Rhythmen aller Elemente fügen sich wie bei einer Partitur zusammen. Sie setzen ihre unterschiedlichen Bewegungen gleichzeitig fort, während sie miteinander verschiedene Beziehungen eingehen. Aber im oben beschriebenen Moment des Chaos stehen die einhergehenden Rhythmen nicht mehr ordentlich aufeinander: Sprache, Musik, Geste und Licht überschreiten die Grenzen ihrer Modalitäten durch ihre kräftigen Rhythmen und stoßen zusammen. Durch diesen chaotischen Zusammenstoß der Rhythmen schafft Chiten dem Fatzer-Text eine neue Aufführungsmöglichkeit. Der Zusammenstoß der Rhythmen eröffnet dem Theater der Zustände im Sinne Brechts/Benjamins eine weitere Form, die der dynamischen Zustände. Im epischen Theater wird nach Brecht und Benjamin statt der Einfühlung das Staunen vom Zuschauer eingefordert, und dafür ist die Entdeckung der Zustände notwendig. Indem der Zuschauer den Zustand als ein stillstehendes „Tableau“ durch die Unterbrechung der Abläufe entdeckt, kann er „das Staunen über die Verhältnisse lernen“28 und somit neue Erkenntnisse erwerben. Die Zustände im Fatzer von Chiten kommen aber nicht nur statisch wie Tableaus, sondern zugleich dynamisch vor. Weil sie nicht bloß bildlich entstehen, aber auch in den Ketten der affektiven Codes von Sprache, Musik und Geste, in ihrer rhythmischen Struktur, in ihren sukzessiven Unterbrechungen und letztlich in ihrem energetischen Zusammenstoß wahrgenommen werden.29 Die Motorik der Rhythmen hält auch in ihrem Zusammenstoß nicht inne. Durch ihre Struktur – die in ihnen programmierte Abwechslung von Unterbrechung und Fortlauf – verleihen die Rhythmen den Zuständen eine besondere Dynamik. Die Zustände (durch den Zusammenstoß der Rhythmen hervorgerufen) sind somit auch chaotische Zustände, die dem Zuschauer kein stillstehendes Bild/Tableau für eine neue Erkenntnis ermöglichen. Welche Erfahrung bereiten diese dynamischen und chaotischen Zustände dem Zuschauer? Im Fall Fatzer entwickelt sich der dynamische Zusammenstoß der Rhythmen zu einem Zustand des Rausches. Was diese Aufführung sichtbar macht, ist nicht nur die Sprung- und Skizzenhaftigkeit des Denkprozesses, die im Text angelegt ist, sondern außerdem die Dynamik des Rausches durch den Zusammenstoß der Rhythmen. Es ist anzumerken, dass der Rausch in diesem Fall nicht derjenige ist, den Brecht abgelehnt hat. Der Rausch hat hier nicht den Zweck, das gesamte Publikum in eine Einheit zu bringen. Er versetzt die einzelnen Zuschauer vielmehr in einen Möglichkeitsraum der Kräfte. Der Rausch – nach Nietzsche ein Zustand der „Kraftsteigerung und Fülle“30 – wird nicht erreicht durch die Handlung des Subjekts mit einem Zweck.31 Dem Philosophen Christoph Menke zufolge ist die künstlerische Tätigkeit – das menschliche Tun als lebendiges (etwa das Theater-Aufführen) – nicht Verwirklichung eines

Zwecks, sondern „Ausdruck von Kraft“.32 Anders als Handlung, die sich auf einen bestimmten Zweck hin richtet, ist die künstlerische Tätigkeit mit dem Zufälligen/Unerwarteten verbunden. Indem man sich in der künstlerischen Tätigkeit dem Rausch und seiner zwecklosen Kraft aussetzt und für das Zufällige offen wird, ist „alle Neuerung“33 möglich. Laut Nietzsche spiegelt die künstlerische Tätigkeit den Zustand des Künstlers in seiner Tätigkeit wider und teilt ihn mit.34 Die Mitteilung der Zustände von Chitens Theaterpraxis (in Form des dynamischen Zusammenstoßes von Rhythmen und seines rauschenden Chaos) – über die Zustände von Brecht und Müller hindurch – eröffnet dem Zuschauer die Möglichkeit, auch die Potentialität aller Neuerung/Überschreitung erleben zu können. Die Mitteilung der dynamischen Zustände, die der Zusammenstoß der Rhythmen generiert, und das damit verbundene Erlebnis der Neuerungs-/Überschreitungspotentialität vom Zuschauer ist eine neue Möglichkeitsform der Fatzer-Inszenierung, die Chiten durch die Rhythmisierung der Elemente entwickelt hat. 1

Dieser Beitrag ist entstanden als eine Weiterentwicklung meiner beiden Vorträge „Trennung/Rhythmisierung der Elemente“ beim XIII. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (Tongji-Universität Shanghai, 2015) und „Zusammenstoß der Rhythmen – Zur Aufführung ‚Fatzer‘ von Chiten“ beim wissenschaftlich-künstlerischen Symposium „Macht der Gefühle – Schauplätze des Fremden. Theater transkulturell und transmedial“ (Institut für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig, 2016). Den Anlass für die Analyse der Fatzer-Inszenierung von Chiten im Zusammenhang mit der „Trennung der Elemente“ verdanke ich Günther Heeg (Universität Leipzig), und zahlreiche Hinweise über den Moment des Rausches/Chaos haben mir Patrick Primavesi (Universität Leipzig) und Eiichiro Hirata (Keio Universität Tokio) gegeben.

2

Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 10, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1997, S. 1120 (im Folgenden mit Sigle GBA plus Band und Seitenzahl angegeben).

3

Vgl. Schnell, Ralf/Vaßen, Florian: „Ästhetische Erfahrung als Widerstandsform. Zur gestischen Interpretation des ‚Fatzer‘Fragments“, in: Koch, Gerd/Steinweg, Reiner/Vaßen, Florian (Hrsg.): Asoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken und Anstiftung zur Praxis, Köln 1983, S. 163f.

4

Wilke, Judith: Brechts „Fatzer“-Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument und Kommentar, Bielefeld 1998, S. 21.

5

Vgl. Risi, Clemens: „Rhythmus“, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 271.

6

Vgl. Brandstetter, Gabriele: „UNTER-BRECHUNG. Inter-Medialität und Disjunktion in Bewegungs-Konzepten von Tanz und Theater der Avantgarde“, in: Dies.: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien (= Recherchen 26), Berlin 2005, S. 162f.

7

Müller, Heiner: „Fatzer ± Keuner“, in: Hörnigk, Frank (Hrsg.): Heiner Müller Material, Leipzig 1989, S. 35.

8

Wilke: Brechts „Fatzer“-Fragment, S. 20.

9

Lehmann, Hans-Thies: „Versuch über FATZER“, in: Ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (= Recherchen 12), Berlin 2002, S. 297. Gemeint sind die Kapitel „Geschlechtskapitel“, „Todeskapitel“, „Lähmende Geschichte“ und „Zertrümmerung der Anschauungen durch die Verhältnisse“.

10

Ebd.

11

„CHOR zeigt das Schlußbild: […] Am Schluß werdet ihr sehen, was wir sahn: / Unordnung. Und ein Zimmer / Welches

völlig zerstört ist, und darinnen / Vier tote Männer und / Ein Name. Oder drei Männer, die aus der Tür gehn / Zu ordnen / Der Menschheit große Gegenstände / Und einen toten Mann / Welcher noch nicht tot ist, und vor ihm / Eine Tür, auf der steht / Verständliches.“ (Brecht, Bertolt: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, Bühnenfassung von Heiner Müller, Frankfurt a. M. 1994, S. 41f.) 12

Der ohnehin fragmentarische Text wurde in der Inszenierung zunächst zerteilt. Die einzelnen Teile wurden dann unter den Schauspielerinnen und Schauspielern verteilt.

13

Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: Ders: GBA Bd. 24, Frankfurt a. M. 1991, S. 74–86.

14

Diese Spielregel wurde von Miura erläutert und demonstriert während des Workshops von Chiten am 3. Juli 2016 im Rahmen des wissenschaftlich-künstlerischen Symposiums „Die Macht der Gefühle – Schauplätze des Fremden. Theater transkulturell und transmedial“ (DFG-Forschungsprojekt „Das Theater der Wiederholung“) am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig.

15

Brandstetter: „UNTER-BRECHUNG“, S. 162.

16

Eisenstein, Sergej M.: [Die Vertikalmontage], in: Ders.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie, hrsg. v. Felix Lenz u. Helmut H. Diederichs, Frankfurt a. M. 2006, S. 242.

17

Ebd.

18

Durch die künstlerische Kombination von Ton und Bild sucht Eisenstein aber nicht bloß „in der Natur vorliegende Beziehung der beiden“ zu repräsentieren. Es geht nämlich nicht darum, Musik und Bild äußerlich-natürlich zu koppeln, also nicht darum, dem bildlich Dargestellten (z. B. dem Bild eines Baumes) akustische Information, die es tatsächlich verursacht (z. B. das Rauschen des Baumes), beschreibend hinzuzufügen. Bei „Korrespondenzen“ von Musik und Bild handelt es sich bei Eisenstein um keine äußerliche Verbindung der beiden, sondern um ihre innere Synchronität. Die Synchronität der beiden ist laut Eisenstein in der Bewegung (als „das Bindeglied zwischen Ton und Bild“) zu finden, wobei Rhythmus auch eine Rolle spielt. (Ebd., S. 248–250.)

19

Brecht: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, S. 24f. (In der Inszenierung wird der Text auf Japanisch gesprochen.)

20

Mahlke, Stefan: „Zwangslagen: Brechts Fragment Der Untergang des Egoisten Fatzer“, in: Silberman, Marc u. a. (Hrsg.): Brecht then and now = Brecht damals und heute (The Brecht Yearbook 20), Madison, Wisconsin 1995, S. 194.

21

Brecht, Bertolt: [Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen], in: Ders.: GBA Bd. 22, Frankfurt a. M. 1993, S. 358f.

22

Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1)“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 521.

23

Während der Satz „sorosoro ikô ka“ (Jetzt können wir weggehen) gesprochen wird, wirft der Schauspieler den imaginierten Tabak folgendermaßen: Er legt nach dem „i“ des Wortes „ikô“ (weggehen) eine kurze Pause ein, als ob er Kraft (für die nächste Aktion) aufladen würde, und beim Aussprechen der letzteren Silbe „kô“ macht er eine Geste des Wegwerfens. Also beruht der Rhythmus des Wortes „ikô“ auf ebendieser Geste.

24

Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (2)“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 536.

25

Ebd.

26

Zum Beispiel wird der Text „Das [= Liebe] ist für die Großkopfeten, aber / In der Nacht braucht sie einen / Der ihrs tut, das sagt sogar / Der Doktor!“ (Brecht: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, S. 47) im Laufe der Szene insgesamt viermal wiederholt.

27

Brecht: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer, S. 108ff.

28

Benjamin: „Was ist das epische Theater? (2)“, S. 535.

29

Bei seiner Überlegung über das Verhältnis zwischen Rhythmus und Tableau entdeckt Lehmann die Schnittstelle von Stillstand und Bewegungsbild in der gestisch-körperlichen Präsenz der Akteure. (Lehmann, Hans-Thies: „Rhythmus und Tableau“, in: Heeg, Günther/Mungen, Anno (Hrsg.): Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München 2004, S. 39–61.)

30

Nietzsche, Friedrich: „Götzen-Dämmerung“, in: Ders.: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988, S. 116.

31

Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 112f.

32

Ebd., S. 118.

33

Vgl. ebd., S. 118ff.

34

Vgl. ebd., S. 112. Vgl. auch: Nietzsche: „Götzen-Dämmerung“, S. 117f.

Carolin Sibilak

FILM ALS THEATER NACH BRECHT Der Verfremdungseffekt in einer Inszenierung von Mozarts Zauberflöte

„Auffällig, daß wir in Deutschland keinerlei Anzeichen einer verfeinerten Sinnlichkeit haben! […] Nur Goethe und Mozart wären zu nennen, und der letztere verlegte seine Liebesdramen weislich auf ausländische Schauplätze“1, schreibt Bertolt Brecht genau 150 Jahre nach der Uraufführung der Zauberflöte in sein Journal. Ob diese märchenhafte Mozart-Oper als „Liebesdrama“ zu bezeichnen wäre, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, doch sicherlich ist sie eine der Opern, an die Brecht hier gedacht hat – Sinnlichkeit, Liebe und die Suche nach ihr sind zweifellos zentrale Themen. In der Zauberflöte geht es um die Suche nach Liebe. Und um die unterschiedlichen Wege, auf die uns diese Suche bisweilen führt. Und schließlich ist es auch eine orphische Geschichte. Es geht um die Kraft der Musik, die die Natur bewegen und Berge versetzen kann. […] Die Zauberflöte ist nicht nur ein Instrument, sie ist die Musik schlechthin, und Musik ist in diesem Falle gleichbedeutend mit Liebe. Ich denke, das ist der Grund, warum so viele Menschen diese Oper so sehr lieben: Weil sie sehen, hören und fühlen, dass es sich dabei um eine universelle Darstellung jener Suche nach Liebe handelt, die wir alle immer wieder aufs Neue unternehmen2, sagt Barrie Kosky, Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Er inszenierte 2012 Die Zauberflöte gemeinsam mit der britischen Künstlergruppe 1927, deren Projekte bekannt sind für eine ungewöhnliche Verbindung von Schauspiel und Videoeinblendungen auf der Bühne. Viele haben die Kunstform Film im Rahmen von Theateraufführungen benutzt, aber „1927“ integriert den Film auf eine sehr neue Art und Weise: Wir inszenieren nicht ein Theaterstück und fügen dann den Film hinzu. Genauso wenig drehen wir einen Film und kombinieren ihn dann mit Schauspiel-Elementen. Alles geht Hand in Hand3, erklärt Suzanne Andrade Arbeitsweise und Konzept von 1927. Einige Rezensenten kritisierten diese Inszenierung der Zauberflöte scharf, da sie den Eindruck gewannen, eine reine Entertainment-Show mit Event-Charakter zu sehen, in der Text, Figuren, Sinn und Musik

verloren gingen.4 Dass diese Sichtweise womöglich auf einer sehr oberflächlichen oder kurzsichtigen Auseinandersetzung beruht, soll im Folgenden gezeigt und die Inszenierung mithilfe von Brechts Ausführungen zum Verfremdungseffekt analytisch betrachtet werden. „Das ‚Natürliche‘ muß das Moment des Auffälligen bekommen“5, brachte Brecht 1935 in seinem Aufsatz „Vergnügungstheater oder Lehrtheater?“ die Wirkungsweise von Verfremdung auf den Punkt, noch bevor er den Begriff selbst überhaupt verwendete. In seinen theaterästhetischen theoretischen Schriften Ende der 1930er Jahre finden sich dann konkretere Definitionsansätze: Es handelt sich hierbei, kurz gesagt, um eine Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann.6 Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.7 1948 schreibt Brecht dann im Kleinen Organon für das Theater: Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unänderbar. Allenthalben treffen wir auf etwas, das zu selbstverständlich ist, als daß wir uns bemühen müßten, es zu verstehen. […] das Theater […] muß sein Publikum wundern, und dies geschieht vermittels einer Technik der Verfremdungen des Vertrauten.8 Verfremdung dient nach Brecht somit dem Ziel, dem Zuschauer neue Einblicke und Erkenntnisse zu ermöglichen, indem er in Erstaunen versetzt wird, weil sich etwas zutiefst Vertrautes, Allgegenwärtiges, Alltägliches plötzlich auf neue, befremdliche, unerwartete Weise zeigt. Hans Martin Ritter schreibt über das Phänomen der Verfremdung in der heutigen Theaterlandschaft: Die medial ausgerichteten Verfremdungstechniken Brechts sind in starkem Maße konventionalisiert. […] Der Einsatz von Musik, von Videoprojektionen, Lichteffekten, das wechselseitige Durchwuchern ästhetischer Elemente, all dies tendiert vielfach dahin, den Event-Charakter des Theaterereignisses zu steigern. Die Folge ist, dass die Elemente möglicher Verfremdung ohne den gezielten Einsatz auf nichts mehr aufmerksam machen als auf sich selbst: Sie sind im Mainstream gängiger theatraler Unterhaltung nicht nur zuhause, sondern gleichsam „abgesoffen“.9

Brechts Verfremdungseffekt an sich ist damit aber nicht verloren, denn er definiert sich über Funktion und Zweck und nicht durch die verwendeten Mittel, die schon bei Brecht selbst vielgestaltig und kontextabhängig sind. Daher soll die Inszenierung der Zauberflöte auch nicht auf die bei Brecht genutzten Mittel untersucht werden, sondern es gilt, ausgehend von Zweck und Wirkungsweise des Verfremdungseffekts, der etwas Alltägliches fremd machen und das Publikum erstaunen will, andere und neue verfremdende künstlerische Elemente zu benennen. Die Zauberflöte von Barrie Kosky und 1927 konfrontiert den Zuschauer über den Verfremdungseffekt mit der Frage nach Liebe und Zwischenmenschlichkeit im 21. Jahrhundert – einer Zeit, in der durch technologische Errungenschaften die Kommunikation noch einmal revolutioniert wurde. Das Gebiet der kabelgebundenen und drahtlosen Telekommunikation, seit jeher als schnell und unkompliziert enthusiastisch begrüßt, hat in den letzten Jahren die Art des zwischenmenschlichen Umgangs auf eine gänzlich neue Art verändert und geprägt, ist mehr denn je natürlicher Bestandteil des Alltagslebens und von sozialer Interaktion. Wo auf Mimik, Gestik, Stimmklang und Tonfall verzichtet werden muss, treten Interjektionen, Akronyme und Emoticons wie selbstverständlich an ihre Stelle. Smartphones werden selbst während eines persönlichen Gesprächs, einer inzwischen unter dem Begriff „Face-to-Face-Kommunikation“ im Duden verzeichneten Unterhaltung, noch zur Konversation mit anderen Menschen benutzt – die sich, ironischerweise, im selben Raum oder auf der anderen Seite der Erde befinden können. Nicht selten erfolgt die erste Kontaktaufnahme heutzutage per E-Mail, und auch die Partnersuche hat sich vielfach von Bars und Klubs auf das Internet verlagert – denn gesucht wird nach wie vor. Die digitale Welt ersetzt in der Liebe offenbar nicht, was das reale Leben zu bieten hat, obgleich intensiv daran gearbeitet wird, künstliche Intelligenz zu entwickeln. Der Wunsch, ein mitfühlendes menschliches Wesen, ein denkendes Gegenüber selbst erschaffen zu können, ist uralt, der menschliche Drang nach Liebe und Zuneigung, nach Bestätigung und Anerkennung, nach Verständnis und Gedankenaustausch groß. Doch liegt ein Widerspruch unserer Zeit darin, dass im Versuch, Einsamkeit mittels digitaler Medien zu überwinden, Vereinzelung und Vereinsamung gleichzeitig begünstigt werden. Auch Schikaneders Zauberflöte beginnt mit einem einsamen Menschen, der zudem in Lebensgefahr schwebt: Nachdem die Ouvertüre verklungen ist, erlebt das Publikum in der ersten Szene der Oper wie Prinz Tamino von einer gefräßigen Schlange durch einen Wald verfolgt wird. Einige rasante Instrumentaltakte in c-Moll leiten seine Arie ein: „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren, / Der listigen Schlange zum Opfer erkoren! / Barmherzige Götter! Schon nahet sie sich! / Ach, rettet mich! Ach, schützet mich!“10 In der Inszenierung an der Komischen Oper Berlin verdunkelt sich der Zuschauerraum mit den letzten Takten der Ouvertüre, und es hebt sich der Vorhang. Das Licht, das den Sänger des Tamino dann mit dem Wiedereinsetzen der Musik beleuchtet, stammt nicht von einem Scheinwerfer, sondern von einem Beamer. Der Sänger selbst steht an der Rampe frontal vor einer großen (Lein-)Wand, die die gesamte Breite und Höhe der Bühne einnimmt. Er bewegt die Arme, als würde er rennen, seine schnell dahineilenden Beine werden von dem Beamer auf einen weißen Paravent

projiziert, der die untere Körperhälfte des Sängers verdeckt. Um ihn herum ist in einer ausschnittartigen, kreisförmigen Bildprojektion ein vorbeiziehender dunkler Wald zu erkennen, im Hintergrund leuchtet der Mond am Nachthimmel, darüber stehen in comic-märchenhaft geschwungenen weißen Buchstaben die Worte: „In einem fernen, dunklen Wald …“. Sie verschwinden alsbald, die zunächst auf den Sänger fokussierte Projektion von Wald und Nachthimmel dehnt sich aus, das Bild nimmt nun die gesamte Fläche der Leinwand ein, und der Zuschauer erkennt, wovor Tamino flüchtet: Ein feuerspeiender roter Drache fliegt, zunächst im Hintergrund, dann näher kommend, durch das Bild. Was das Publikum hier zu Beginn der ersten Szene der Oper auf der Bühne sieht, ist nichts anderes als das Aufschlagen eines (virtuellen) Märchenbuches: Man liest die erste Zeile mit dem impliziten „Es war einmal“ und schaut dann auf die comicartigen, detailreich gezeichneten Bilder von Prinz, Fabelwesen und verwunschenem Wald. Von Anfang an ist der Zuschauer – wie auch Brecht es beabsichtigte – in einer explizit beobachtenden Position mit einer reflektierenden Distanz zum Geschehen. Obwohl der Blick auf eine digitale Oberfläche heute selbstverständlich und alltäglich ist, hat er im Theater verfremdende Wirkung, denn hier erwartet der Zuschauer, wenn auch nicht mehr zwangsläufig eine Guckkastenbühne, so doch zumindest einen dreidimensionalen Bühnenaufbau. Die zweidimensionale Videowand mit ihren phantasievollen und abwechslungsreichen Bildern, die einen abrupten Wechsel der kompletten Szenerie ermöglicht, wie ihn sonst nur der Film erlaubt, bleibt für den gesamten Abend das einzige physische Bühnenbild. Die Sänger, die mitunter auf kleinen Plattformen stehend in der oberen Hälfte der Wand durch Türen nach vorn gedreht werden, bewegen sich bewusst so, als wären sie zweidimensionaler Teil der Projektion: Sie schauen die Objekte auf der Leinwand nie direkt an, wenden sich also nicht um, sondern achten auf eine offene Körperposition. Ihr Rumpf zeigt meist selbst dann zum Publikum, wenn sie seitlich laufen oder schauen, und die „Kameraperspektive“ bietet entsprechend stets eine frontale Sicht auf das Geschehen – mit Ausnahme einer kurzen, aber bemerkenswerten Szene im zweiten Aufzug. Dort beobachtet der Moor Monostatos die von ihm begehrte Pamina und bringt sein Verlangen in einer knappen schnellen C-Dur-Arie zum Ausdruck, die seine Erregung in Töne bannt: „Alles fühlt der Liebe Freuden, / Schnäbelt, tändelt, herzt und küßt. / Und ich soll die Liebe meiden, / Weil ein Schwarzer häßlich ist!“11 In der Inszenierung hat sich Monostatos zu Pamina ins Bett geschlichen, und das Videobild vermittelt dem Publikum den Eindruck, als würde es vom Dach aus durch ein rundes Fenster ins schwarzweiß geflieste und tapezierte Schlafzimmer der Frau hinuntersehen. Die beiden Sänger stehen für diese Einstellung auf dem Bühnenboden mittig vor der Leinwand hinter einem brusthohen Paravent, auf den das ebenfalls schwarz-weiße florale Muster einer über dem Bett ausgebreiteten Decke projiziert wird. Die Szene ist inhaltlich vor allem deswegen bedeutsam, weil Monostatos im Grunde die einzige Figur der Oper ist, die den Wunsch nach körperlicher und eben nicht nur geistiger Liebe mit einem anderen Menschen sehr explizit artikuliert, ja sogar eine ganze Arie dieser Sehnsucht widmet.12 Die Inszenierung hebt diesen Umstand nicht nur durch den intimen Ort, sondern vor allem durch den

verfremdenden Perspektivwechsel hervor, der einen weiteren surrealen Bruch erfährt: Immer wieder tauchen analog zu Monostatos’ lüsternen Gesten ringsum am Rand des Bildes schwarze schattenartige Hände mit sich schnell bewegenden Fingern auf.

Mozarts Zauberflöte an der Komischen Oper Berlin, Akt 1/Szene 1: Peter Sonn als Tamino auf der Flucht vor dem Drachen. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Akt 2/Szene 7 mit Maureen McKay als Pamina und Stephan Boving als Monostatos. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Monostatos’ Arienszene ist nicht die einzige der Inszenierung, die ohne Farben auskommt, jedoch bleibt die schwarz-weiße Optik zumeist den Dialogabschnitten der Oper vorbehalten, die an der Komischen Oper nicht von den Sängern gesprochen werden, sondern in Stummfilmsequenzen verwandelt wurden – wie bei Brecht sind Gesang und Sprechen somit deutlich voneinander getrennt. Vor einem schwarzen Hintergrund stehen die Darsteller dann in einem weißen ovalen Lichtkreis, und in die Ecken der Leinwand werden weiße Ornamente projiziert, wie es bei Zwischentiteln in Stummfilmen üblich war. Die stark gekürzten Dialoge der Figuren erscheinen als Texte auf der Leinwand, jedem Charakter wurde eine eigene Schriftart zugewiesen. Der Zuschauer erlebt diese Szenen als stumme, digitale Konversation, denn der Text wird jeweils nur satzweise projiziert während die Sänger dem Sinngehalt entsprechende Gesten ausführen. Ihre pantomimischen übergroßen Bewegungen sind dabei ebenfalls vom Duktus der Stummfilmzeit inspiriert. Statt der Orchestermusik der Zauberflöte, die in den Dialogsequenzen bekanntlich schweigt, erklingen in dieser Inszenierung nun Auszüge aus zwei Klavierfantasien Mozarts (c-Moll KV 475 und d-Moll KV 397). Damit wird ein weiteres typisches Element der Stummfilmära aufgegriffen und auch klanglich angepasst, denn der Pianist spielt nicht auf einem modernen Flügel, sondern einem alten, scheppernden Hammerklavier. Musik und Bühnengeschehen wurden exakt aufeinander abgestimmt – nicht nur in den Stummfilmszenen. Die Videoprojektionen sind selten statisch und folgen dem Rhythmus der Musik, die Bilder scheinen zu reagieren, wenn musikalische Akzente und Höhepunkte

erklingen oder Pausen stehen. Brechtisch kommentierende Kontraste zwischen Bühnengeschehen und Musik suchte man hier vergeblich. Umso mehr fallen andere Brüche ins Auge, wie der Wechsel zu den schwarz-weißen Stummfilmszenen, die nicht nur innerhalb der insgesamt farbenfrohen Inszenierung, sondern auch in Bezug auf unsere modernen Sehgewohnheiten, die uns eine lebensechte Abbildung der Realität auf der Leinwand erwarten lassen, verfremdend wirken. Während Hollywood viel Geld, Zeit und immer aufwändigere Technik darin investiert, Comicverfilmungen und ihre Protagonisten mit übermenschlichen Fähigkeiten real wirken zu lassen, inszeniert die Zauberflöte der Komischen Oper ganz bewusst die Künstlichkeit des Mediums. Mit der Integration des Stummfilms bewegt sie sich außerdem näher am Theaterkonzept Brechts, als der Zuschauer vielleicht ahnen mag. Ulrich Scheinhammer-Schmid weist in einem Artikel darauf hin, dass Brecht als junger, begeisterter Kinobesucher, der sich auch schon lange vor dem amerikanischen Exil an Drehbüchern versuchte, häufig eine Form von Verfremdung erlebt haben muss, wenn er sich Stummfilme anschaute – aufgrund der Diskrepanz zwischen dem Leinwandgeschehen und der meist kontextfremden, aber allgemein bekannten klassischen Musik, die der Pianist spielte.13 Brecht selbst erklärt 1939 in einem Journaleintrag: „Die epischen Elemente brachte ich schon mit ‚ins Geschäft‘. Vom Karl-Valentin-Theater, dem Freiluftzirkus und dem Plärrer. Dann war da der Film, besonders der Stummfilm der Frühzeit, der noch nicht vom Theater die Drrrramatik [sic] kopierte (Chaplin).“14 In seiner Monografie Film bei Brecht erläutert Wolfgang Gersch, dass Brecht am Stummfilm besonders die einfachen, demonstrativen, erzählenden Vorgänge bewunderte, die meist abstrahierten und auf individuelle, psychologische Momente verzichteten. Außerdem faszinierte ihn wohl die Typisierung und die auffällige, übergroße Art und Weise der Interpretation von Handlungen.15 Im Kleinen Organon wird Brecht später schreiben: „Jedenfalls kann ein Theater, das alles aus dem Gestus nimmt, der Choreographie nicht entraten. Schon die Eleganz einer Bewegung und die Anmut einer Aufstellung verfremdet, und die pantomimische Erfindung hilft sehr der Fabel.“16 Die Art und Weise der übergroßen Darstellung in den Stummfilmsequenzen der Zauberflöte pointiert komplexe Szenen, Vorgänge und Charaktere in wenigen ausdrucksstarken Gesten. Die Sänger nehmen so in ungewöhnlicher Weise die von Brecht beschriebene reflektiert-erzählende, zeigende Haltung ein17, gehen auf Distanz zur Figur.

Akt 1/Szene 2: Dialogszene als Stummfilm mit Peter Sonn als Tamino und Dominik Köninger als Papageno. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Gesprochene Dialoge werden zu Texten, Emotionen zu Gesten. Damit schlägt die Inszenierung den Bogen zur Welt der modernen Technik und Kommunikation, die das Medium des Stummfilms gewissermaßen einläutete. Es ist fraglos ein besonderes Symbol für medialen Fortschritt und Entwicklung; der Film hat das 20. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht stark geprägt und heute durch die Videotelefonie Kunst und Kommunikation verschmolzen. Die überwiegend kurzen, präzisen, fokussierten und auf das Wesentliche reduzierten projizierten Sätze in den Stummfilmsequenzen spiegeln unsere moderne Art zu kommunizieren, bei der Gesten der Steuerung von Apparaten dienen und Mimik über Emoticons, Akronyme und Interjektionen nachgeahmt wird. Letztere finden sich auch in den Videoprojektionen in der Komischen Oper, beispielsweise als Papageno gegen Ende des zweiten Aufzugs vor Einsamkeit verzweifelt versucht, sich das Leben zu nehmen, und eine virtuelle Bombe mit eingeblendetem buntem „Ka-Boom!“ in comicartiger Schrift explodiert. Die Allgegenwärtigkeit und unsere Abhängigkeit von Technik im modernen Leben, die natürliche und permanente Präsenz der stets aktiven elektronischen Geräte wird durch ein anderes verfremdendes Element angedeutet: Durch die Integration von Maschinen in die märchenhaften Videoprojektionen, durch das Offenlegen von ständig laufenden mechanischen Vorgängen auf der Leinwand.18 In Sarastros Tempel der Weisheit gibt es reihenweise größere und kleinere Maschinen mit zahllosen sich drehenden Zahnrädern, die die verschiedensten Aufgaben

erledigen: Sie rupfen Hühner und verarbeiten sie zu Brathähnchen, bewachen den Tempeleingang, bestrafen die Dienerschaft oder trichtern den Menschen Tugenden ein. Sogar maschinelle Tiere, künstliche Intelligenzen, die von der Statur Enten, Vögeln und Affen ähneln, deren maschinelles Innenleben jedoch sichtbar ist, leben in Sarastros Tempel und bewachen beispielsweise die Gefangenen.

Akt 1/Szene 18: künstliche Tiere im Tempel der Weisheit mit Christof Fischesser als Sarastro und Maureen McKay als Pamina. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Diesen objektivierten Lebewesen, den Tieren, die durch ihre Mechanik eindeutig als künstlich zu erkennen sind, stehen in der Komischen Oper aber wiederum zwei lebende Objekte gegenüber: die Zauberflöte und das Glockenspiel, mit denen die Königin der Nacht den Prinzen Tamino und den Vogelfänger Papageno zu Beginn der Oper ausstattet. Durch sie wird die Musik aus dem Orchestergraben hervorgeholt und als Teil der Handlung auf der Bühne sichtbar gemacht – auch ein typisch brechtsches Mittel. Zauberflöte und Glockenspiel sind in dieser Inszenierung aber nicht einfach nur magische Werkzeuge der Protagonisten, sondern denkende und handelnde digitale Begleiter, die sie schützen und ihnen helfen – im Grunde wie ein Smartphone und eine Smartwatch, die den Weg weisen, warnen und Sprachbefehle entgegennehmen. Die Projektion der Zauberflöte gleicht in Aussehen (eine zierliche unbekleidete Frau mit Flügeln) und Bewegungen einer Fee, die sich in der Szene der Wasserprobe in eine Meerjungfrau verwandelt. Das Glockenspiel ruht in einer Art

Geschenkbox mit Spinnenbeinen, welche sich bei Bedarf öffnet und eine Reihe kleiner roter Glöckchen mit Beinen und Armen freigibt. Die zunehmende Abhängigkeit der Menschen von ihren digitalen Begleitern, die Tendenz, leblose Technik zu animieren (man denke nur an das Telefonklingeln, das Vogelgezwitscher imitiert) und ihr menschliche Züge zu geben, sehen wir hier verwirklicht.

Akt 1/Szene 8: Zauberflöte, Glockenspiel, Papagenos Kater und eine Animation der drei Knaben, mit Peter Sonn als Tamino, Ina Kringelborn, Karolina Gumos und Maija Skille in den Rollen der drei Damen und Dominik Köninger als Papageno. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Während die Glöckchen aber noch als Gegenstände erkennbar sind, ist die Zauberflöte in ihrer weiblich-erotischen Erscheinung zu einer Projektion von Taminos Sehnsucht nach Liebe und körperlicher Nähe geworden. Wie groß sein Verlangen ist, kommt bereits im vierten Auftritt in seiner berühmten „Bildnisarie“ zum Ausdruck: Die drei Damen der Königin der Nacht haben ihm ein Gemälde von Pamina gebracht, in das er sich prompt verliebt. In der Inszenierung erhält er jedoch nicht einmal ein detailliertes Abbild, sondern nur einen schemenhaft angedeuteten Mädchenkopf aus Rauch in einer herzförmigen Wolke aus Qualm, den eine der Damen aus ihrer Zigarette bläst – natürlich als Leinwandprojektion. Taminos Sehnen ist indes so stark, dass es keiner genauen Illustration bedarf; allein die Andeutung des Weiblichen genügt, ihn zu betören. Die Idee sich nur angesichts eines Portraits in eine andere Person zu verlieben, entspricht fraglos einem uralten Menschheitsmythos. Dass sich in der

Komischen Oper das nebulöse Bildnis des Mädchens bei Taminos Berührung schließlich jedoch auflöst, ist eine Einmaligkeit dieser Art der Inszenierung, die nicht nur an die Flüchtigkeit von Liebe, sondern auch an die zunehmende Kurzlebigkeit menschlicher Beziehungen gemahnt. Fast meint man, Taminos Liebe entspränge einer Art Online-Dating und dem modernen Widerspruch, eine reale Partnerin mit digitalen Mitteln zu suchen – wie auch dem Vogelfänger Papageno immer wieder ein digitales Abbild seiner Traumfrau vor Augen steht. Und sogar die drei Damen der Königin, „Jungfrauen“, wie es an einer Stelle im Libretto heißt, sehnen sich nach Liebe: „Was wollte ich darum nicht geben, / Könnt’ ich mit diesem Jüngling leben“19, singen sie beim Anblick Taminos. In der Komischen Oper zeigen sie dem Zuschauer ihre Vorstellungen von gemeinsamem Leben und Romantik und machen damit deutlich, wie sehr die Menschen diese aus Liebesfilmen verinnerlicht haben. Auf der Leinwand erscheinen, frei vor dem projizierten Hintergrund schwebend, große purpurfarbene Herzen, die drei typische Szenarien eines verliebten Paares im Mondschein abbilden. Neben der hier verwendeten Technik des Films im Film, die auch an anderen Stellen genutzt wird, ist in dieser Szene – der Rettung Taminos vor der Schlange zu Beginn der Oper – vor allem noch ein anderer Aspekt bemerkenswert: Die Liebesseufzer der drei Damen, die immer wieder rote Herzen auf der Leinwand erscheinen lassen, kontrastieren mit der unangenehmen, ja todbringenden und damit verfremdenden Umgebung, in der sie sich aufhalten. Wie zuvor eine schriftliche Einblendung erklärte, befinden sie sich „Im Magen des Drachen“. Der Sänger des Tamino steht hinter einem Paravent, auf den Knochen und Schädel projiziert werden, was den Eindruck erweckt, er läge (nunmehr bewusstlos) inmitten der Überreste früherer Opfer des Untiers. Dieser Kontrast erinnert den Zuschauer daran, dass Liebe, Verlangen und Sehnsucht Gefühle sind, die von den Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort Besitz ergreifen können.

Akt 1/Szene 1: Liebesszene „Im Magen des Drachen“ mit Peter Sonn als Tamino, Ina Kringelborn, Karolina Gumos und Maija Skille in den Rollen der drei Damen. Foto: Iko Freese/drama-berlin.de

Während die kleinen Paravents immer wieder in der Inszenierung Verwendung finden, gibt es im Laufe des Abends nur wenige ausgewählte Requisiten auf der Bühne (eine Zigarette, ein Taschentuch, eine Serviette), die oft mit den Bildprojektionen verschmelzen – beispielsweise lässt das Auswringen des Taschentuchs in der Projektion Wassertropfen erscheinen, die dann wiederum das Wachstum einer Pflanze anregen. Aufgrund dieser genauen zeitlichen Abstimmung von den Handlungen der Sänger auf der Bühne und den Abläufen und Illustrationen auf der Leinwand werden kaum Requisiten benötigt. Die Darsteller scheinen vielfach mit den computergenerierten Objekten zu interagieren: Sie klopfen an eine projizierte Tür, die sich öffnet, sie lassen mit einer Handbewegung ein projiziertes rotes Herz zerplatzen. Wenngleich es sich hierbei prinzipiell um eine beeindruckende und effektvolle Technik handelt – die allerdings im Laufe des Abends mit dem Eintritt einer gewissen Gewöhnung an Faszination verliert –, gibt es Situationen, die besonders herausragen und immer wieder auffallen: die Interaktion der Sänger mit projizierten Lebewesen. Papageno beispielweise ist offenbar so einsam, dass er sich ein Haustier zugelegt hat, einen schwarzen Kater, der sich gern von Papageno streicheln lässt und, glaubt man dem Programmheft der Komischen Oper, auf den Namen Karl-Heinz hört. Es scheint, das Inszenierungsteam entwickelte gleichermaßen Gefühle für die kleine niedliche Kreatur wie der Zuschauer im Laufe des Abends – auch aufgrund gewisser menschlicher Züge des Katers. Doch gerade durch Papagenos Interaktionen mit dem

Tier wird wiederholt zu Bewusstsein gebracht, dass es eben nicht real, sondern lediglich eine zweidimensionale Leinwandillusion ist, die ihn nicht vor Angst und Einsamkeit schützt; obwohl sein Kater bei ihm ist, fürchtet Papageno sich im Dunkeln und ruft nach Tamino. „Die Verwendung von V-Effekten vermengt das Komische mit dem Tragischen bis zur Untrennbarkeit, die Seufzer über das Komische mischen sich mit dem Lachen über das Tragische“20, lässt sich mit Brechts Worten die Wirkung beschreiben. In der direkten Interaktion der Sänger mit den Leinwandlebewesen wird dem Zuschauer ein neuer Blick auf die alltägliche, raumgreifende Welt der modernen digitalen Kommunikation ermöglicht und deutlich gemacht, dass sich das tiefe menschliche Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung nicht durch künstliche Intelligenzen oder elektronische Begleiter befriedigen lässt. Die Leinwandlebewesen mögen den Figuren gute Gefährten sein, doch sehnen diese sich stets nach einem realen Menschen. Glücklich sind sie nicht beim Berühren eines Touchscreens, sondern erst, als sie schließlich ihre wahrhaftigen Partner in den Armen halten. Um das zu vergegenwärtigen, greift die Inszenierung nach einer weiteren Verfremdungstechnik: Die farbenfrohen Märchenbilder weichen einem gänzlich schwarzen Hintergrund, und die beiden Geliebten (Tamino und Pamina bzw. Papageno und Papagena) werden je nur noch von einem einzelnen hellen Scheinwerferspot beleuchtet. Befreit von den zweidimensionalen, unwirklichen Projektionen stehen sie damit plötzlich, links und rechts auf der Bühne, in unserer Realität. Von jeder medialen Ablenkung und digitalen Kommunikation befreit laufen sie aufeinander zu, um sich schließlich in der Mitte der Bühne zu umarmen. Die Kostümierung der Figuren ist ebenfalls an die Optik der Stummfilmzeit angelehnt: Monostatos erinnert an Max Schreck als Nosferatu (ist demnach kein „Mohr“, sondern weiß geschminkt), Pamina an Louise Brooks und Papageno an Buster Keaton. Sarastro wiederum sieht aus wie Abraham Lincoln, singt aber von Isis und Osiris, altägyptischen Gottheiten, mit Musik und Text des 18. Jahrhunderts, umgeben von Maschinen, auf einem digitalen Medium der Neuzeit. Indem uns die Inszenierung in dieser historisch angereicherten Umgebung, die verschiedenste Beziehungskonzepte assoziiert, mit den Eigenarten von Zwischenmenschlichkeit, Kommunikation und Liebe im 21. Jahrhundert konfrontiert, werden Personen und Vorgänge als vergänglich erkannt – ein Prinzip, das Brecht als „Historisierung“ bezeichnet. Im Kleinen Organon für das Theater erklärt er: Das Feld muß in seiner historischen Relativität gekennzeichnet werden können. Dies bedeutet den Bruch mit unserer Gewohnheit, die verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen vergangener Zeitalter ihrer Verschiedenheiten zu entkleiden, so daß sie alle mehr oder weniger wie das unsere aussehen, welches durch diese Operation etwas immer schon Vorhandenes, also schlechthin Ewiges bekommt. Wir aber wollen ihre Unterschiedlichkeit belassen und ihre Vergänglichkeit im Auge halten, so daß auch das unsere als vergänglich eingesehen werden kann.21

Brechts zentrales Anliegen ist es bekanntlich, das kann beispielsweise seinen „Notizen über die Dialektik auf dem Theater“ von 1954 entnommen werden, „die Veränderbarkeit des Zusammenlebens der Menschen (und damit die Veränderbarkeit der Menschen selbst)“22 zu zeigen. Dass sich Mozarts Zauberflöte dafür eignet, attestiert er selbst dem Werk. In seinen „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“ schreibt Brecht, die Zauberflöte enthalte „weltanschauliche, aktivistische Elemente“23, und an anderer Stelle bewundert er an Mozarts Musik, dass sie nicht psychologisiere, sondern „die gesellschaftlich belangvollen Haltungen der Menschen“24 ausdrücke. Albrecht Dümling erklärt in seiner Monographie Laßt euch nicht verführen: In Mozart sah [Brecht], hierin mit Dessau, Eisler und Weill einig, einen Komponisten, der das Ideal einer musikalisch bedeutenden, einem breiten Publikum verständlichen, gestisch wirkenden und deshalb auch auf dem Theater verwendbaren Musik verwirklicht hatte.25 Mozarts Opern bildeten neben anderem einen wichtigen Bezugspunkt für jene Komponisten, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts bewusst von der Ästhetik Richard Wagners abwandten und für die Erneuerung des Genres eintraten. Kurt Weill beispielsweise nannte Mozarts Zauberflöte einen „Grundstein der deutschen Oper“, das „Ideal einer Opernmusik“26, und sein Lehrer Ferruccio Busoni bezeichnete Die Zauberflöte als „die Oper ‚schlechtweg‘“27. Die Inszenierung verleugnet trotz der Aktualisierungen nicht die Wurzeln der Zauberflöte als Bilderoper und Maschinenkomödie, „die mit großen Kosten und vieler Pracht in den Dekorationen gegeben“28 wurde, wie einst über die Uraufführung zu lesen war, und sie verleitet dazu, Adorno paraphrasierend ins Gegenteil zu kehren: Neue Kunst zeigt, wie abstrakt die Beziehungen der Menschen in Wahrheit geworden sind.29 Aber handelt es sich bei dieser Art der Inszenierung eigentlich noch um Theater? Brecht hätte vielleicht mit einem Satz aus seinen Ausführungen über Filmmusik von 1942 geantwortet: „Damit das Theater Theater bleibt, muß man Film nicht verbannen, es genügt ihn theatralisch einzusetzen“30 oder, wie im Kleinen Organon zu lesen ist: „Die Auslegung der Fabel und ihre Vermittlung durch geeignete Verfremdungen ist das Hauptgeschäft des Theaters.“31 1

Brecht, Bertolt: [Journal], in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 26, S. 468 hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1988–2000, S. 468 (im Folgenden mit Sigle GBA plus Band und Seitenzahl angegeben).

2

Kosky, Barrie: in: Programmheft zur Zauberflöte der Komischen Oper Berlin vom 25. November 2012, S. 12.

3

Andrade, Suzanne: in: ebd., S. 9.

4

Vgl. bspw. Uehling, Peter: „‚Die Zauberflöte‘ als Bühnenstummfilm“, in: Berliner Zeitung vom 27. November 2012 und Hanssen, Frederik: „Mozartopolis“, in: Tagesspiegel vom 27. November 2012.

5

Brecht: „Vergnügungstheater oder Lehrtheater“, in: GBA Bd. 22/1, S. 109.

6

Brecht: „Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters“, in: GBA Bd. 22/1, S. 377.

7

Brecht: „Über experimentelles Theater“, in: GBA Bd. 22/1, S. 554f.

8

Brecht: [Kleines Organon für das Theater], in: GBA Bd. 23, S. 81f.

9

Ritter, Hans Martin: „Schwesterliche Zuneigung – schwesterliches Fremdeln. Theater und Musik und das Moment der Verfremdung. Eine Spurensuche mit Blick auf aktuelle Aufführungen“, in: Hillesheim, Jürgen (Hrsg.): Verfremdungen, Freiburg/Berlin/Wien 2013, S. 398.

10

Mozart, Wolfgang Amadeus/Schikaneder, Emanuel: Die Zauberflöte, hrsg. v. Kurt Pahlen, Mainz 2011, S. 13.

11

Ebd., S. 103.

12

In den zwei großen Arien Papagenos findet sich insgesamt lediglich zweimal das Wort „küssen“, in Taminos Bildnisarie äußert dieser den Wunsch, Pamina zu umarmen („an diesen heißen Busen drücken“).

13

Scheinhammer-Schmid, Ulrich: „‚Der Kino rückt vor, er ist stärker als alle Isolierbaracken!‘. Die Geburt von Brechts Musikbegriff aus den Klängen der Stummfilmzeit“, in: Hillesheim (Hrsg.): Verfremdungen, S. 197–210.

14

Brecht: [Journal], in: GBA Bd. 26, S. 337.

15

Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. Bertolt Brechts praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Film, Berlin 1975.

16

Brecht: [Kleines Organon für das Theater], in: GBA Bd. 23, S. 96.

17

Vgl. bspw. Brecht: [Kleines Organon für das Theater], § 47ff., in: GBA Bd. 23, S. 83ff.

18

Vgl. bspw. Brecht: „Eine Verfremdung des Autos tritt ein, wenn wir schon lange einen modernen Wagen gefahren haben, nun eines der alten T-Modelle H. Fords fahren. Wir hören plötzlich wieder Explosionen: Der Motor ist ein Explosionsmotor. Wir beginnen uns zu wundern, daß solch ein Gefährt, ohne von tierischer Kraft gezogen zu sein, fahren kann, kurz, wir begreifen das Auto, indem wir es als etwas Fremdes, Neues, als einen Erfolg der Konstruktion, insofern etwas Unnatürliches begreifen.“ (Brecht: „Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“, in: GBA Bd. 22/2, S. 656f.)

19

Mozart/Schikaneder: Die Zauberflöte, S. 17.

20

Brecht: „Vermengung von Komischem und Tragischem“, in: GBA Bd. 22/1, S. 223.

21

Brecht: [Kleines Organon für das Theater], in: GBA Bd. 23, S. 79.

22

Brecht: „Notizen über die Dialektik auf dem Theater 3“, in: GBA Bd. 23, S. 299.

23

Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: GBA Bd. 24, S. 81.

24

Brecht: „Über Bühnenmusik“, in: GBA Bd. 23, S. 21f.

25

Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik, München 1985, S. 533.

26

Weill, Kurt: Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1975, S. 142.

27

Busoni, Ferruccio: „Die Einheit der Musik und die Möglichkeiten der Oper“, in: Hermann, Joachim (Hrsg.): Ferruccio Busoni. Wesen und Einheit der Musik, Berlin 1956, S. 19.

28

Korrespondenz aus Wien vom 9. Oktober 1791 in: Mozart. Die Dokumente seines Lebens, hrsg. v. Otto Erich Deutsch, Kassel u. a. 1961, S. 358.

29

Vgl. Adorno, Theodor W.: „Neue Kunst ist so abstrakt wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind“, in: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973, S. 53.

30

Brecht: „Über Filmmusik“, in: GBA Bd. 23, S. 10.

31

Brecht: [Kleines Organon für das Theater], in: GBA Bd. 23, S. 94.

Hyun Soon Cheon

VOM EPISCHEN THEATER ZUM SCIENCE-FICTION-FILM Alexander Kluges Auseinandersetzung mit Brecht in Der große Verhau

Bertolt Brecht ist zweifellos als eine der Leitfiguren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusehen. Die Rezeptionsgeschichte von Brechts Werken und Ideen hat ihre Höhepunkte besonders in dieser Zeit. Dementsprechend stellen Literatur- bzw. Kulturwissenschaftler gegen Ende der 1950er Jahre in Deutschland einen Paradigmenwechsel fest. Anstelle der Poetik von Gottfried Benn mit ihrer selbstgenügsamen Schönheit treten brechtsche Ideale der realitätsbezogenen, politisch engagierten Kunst.1 Der starke Einfluss von Brecht findet sich jedoch nicht nur im Drama, sondern auch im Film, besonders im Autorenfilm der 1960er Jahre. Im Jahr 1960 wurde eine der wirkmächtigsten Ausgaben der Cahiers du cinéma veröffentlicht: die Sonderausgabe zu Bertolt Brecht. Mit dieser Ausgabe beginnt die einflussreiche Wirkung der brechtschen Theatertheorie auf den Autorenfilm der 1960er Jahre, zu deren Beispielen insbesondere die Werke Jean-Luc Godards, Alexander Kluges, Volker Schlöndorffs und Rainer Werner Fassbinders gehören.2 Die deutschen Regisseure der 1960er Jahre, die 1962 im Oberhausener Manifest das Ende des alten Films und die Erneuerung der Filmkunst in Deutschland als Ziel verkündet haben, sind stark beeinflusst von den theatertheoretischen Schriften Brechts.3 In den politisierten, unruhigen 1960er Jahren beginnt auch der Schaffensweg von Alexander Kluge. Die Beschäftigung mit den Ideen von Brecht, spezifisch der Theorie des epischen Theaters, spiegelt sich in Kluges Filmen wider. Beispielsweise wurde Kluges erster Spielfilm Abschied von gestern von 1968 wesentlich von Brechts Ausführungen über das epische Theater geprägt.4 Nach Fertigstellung des Films erwähnt Kluge in einem Interview, dass er Brecht in vielerlei Hinsicht für seine filmische und literarische Arbeit gebraucht habe.5 Wie hängt also Alexander Kluges Science-Fiction-Film Der große Verhau von 1969 mit Bertolt Brecht zusammen? Wie verhalten sich Kluge und Brecht zueinander? In Bezugnahme darauf konzentriere ich mich in meiner Arbeit spezifisch auf drei Aspekte: Erstens untersuche ich die Praxis des epischen Theaters bei Bertolt Brecht. Zweitens betrachte ich die besonderen Merkmale des Science-Fiction-Films auf Grundlage der Filmgeschichte. Drittens versuche ich schließlich auf Alexander Kluges filmische Auseinandersetzung mit Brechts epischem Theater detaillierter einzugehen.

Die Praxis des epischen Theaters bei Bertolt Brecht Nach der langen Emigration kehrte Bertolt Brecht im Jahr 1949 nach Deutschland zurück, um „mit seiner Theaterarbeit zum Aufbau eines neuen Deutschlands und eines nationalen Theaters beizutragen“.6 Für Brecht hat das Theater die würdige Aufgabe, „an der gründlichen Umgestaltung des Zusammenlebens der Menschen mitzuarbeiten“.7 Das Theater ist eine Kunstform, durch die die Umwelt der Menschen verändert werden kann. Aus diesem Grund gründete Brecht im Jahr 1949 das Berliner Ensemble. Zu dieser Zeit stand das Ensemble unter der Leitung seiner Ehefrau Helene Weigel, Brecht selbst übernahm die Regie und war für die künstlerische Leitung verantwortlich. Am 11. Januar 1949 feierte das Berliner Ensemble mit Mutter Courage und ihre Kinder seine erste Premiere. Das Stück verdeutlicht dem Zuschauer, dass im Krieg keine nützlichen Geschäfte für den „kleinen Mann“ zu machen sind. Ebenso ermöglicht es dem Zuschauer nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die wirklichen Mechanismen des Kriegs zu entlarven, um daraus für die Zukunft zu lernen. Die Dokumentation Theaterarbeit, die vom Berliner Ensemble und Helene Weigel 1961 herausgegeben wurde, bietet einen umfassenden Einblick in die Arbeit Brechts mit dem Ensemble an Aufführungen in den Jahren 1949 bis 1951. Die Inszenierungsarbeit mit den Schauspielern Bei Brecht ist der Schauspieler in den Leseproben aufgefordert, die Konsistenz seines Textes zu überprüfen, um die Figur realistisch anzulegen. „Der realistische Schauspieler verschafft dem Zuschauer durch seine Kunst einen tiefen Einblick in die menschliche Natur, wie der wissenschaftliche Forscher in sein Objekt“.8 Daher ist der Text, der für die Aufführungen des Berliner Ensembles unter Brechts Leitung verwendet wird, nach den Aufführungen für Veränderungen offen. Dabei werden Unstimmigkeiten heraus- oder neue Ideen aufgenommen. Schließlich sollen die Schauspieler ihren Text aus einer inneren Distanz heraus sprechen, ihn gleichsam „nur“ mitteilen, um so dem Zuschauer nicht als Identifikationsfiguren zu dienen. Das heißt wiederum, die Schauspieler sollen ihre Figuren nicht mehr innerlich ausdeuten, um die Einfühlung des Zuschauers in sie zu ermöglichen, sondern die Figuren und ihre Handlungen, in die sie verwickelt sind, als Fremde darstellen. Dadurch wird es dem Zuschauer ermöglicht, keine Identifikation mit der Figur herzustellen. Die Inszenierungsarbeit am Bühnenbild Die enge Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner ist auch ein wesentlicher Bestandteil von Brechts Inszenierungsarbeit am Berliner Ensemble. Bereits vor den ersten Proben findet ein Gedankenaustauch mit dem Bühnenbildner über Bau und Dekorationen der einzelnen Szenen statt. Die Szenenskizzen dienen als Ausgangspunkt der Positionen auf der Bühne. Vor den Detailproben sollen die Dekorationen und Requisiten fertiggestellt sein. Brecht fordert somit von seinen Bühnenbildnern nicht nur ein fachliches, sondern auch ein dramaturgisches

Verständnis. Die Bühne lässt Brecht in den Aufführungen mit einer halbhohen Leinengardine anstelle eines sonst üblichen Vorhangs ausstatten. Sie erlaubt dem Zuschauer einen Einblick in die Umbauarbeiten und bricht die Wirklichkeitsillusion. Auf die Leinengardine werden die Szenentitel projiziert und für den Zuschauer sichtbar und lesbar gemacht. Dabei nehmen die Inhaltsangaben den Ausgang des folgenden Aktes vorweg und lenken damit die Aufmerksamkeit des Zuschauers vielmehr darauf, wie die Handlung weiterentwickelt werden soll. Die Inhaltsangaben betonen die Theatralität der Bühnenhandlung durch ihre Art der Kommentierung und verhindern damit die Einfühlung des Zuschauers in das Stück. Die Inszenierungsarbeit an der Musik Auch mit den Komponisten, die die Musik für die Aufführungen des Berliner Ensembles komponieren, arbeitet Brecht sehr eng zusammen. Brecht verwendet Musik insbesondere für die Unterbrechung der Bühnenhandlung zur Reflexion und Zusammenfassung des Spielgeschehens durch die Schauspieler. Die Schauspieler sollen die kritische Auseinandersetzung über den historisch-sozialen Standpunkt verstärken und Widersprüche hervorrufen. Sie treten bei den Liedvorträgen aus der Handlung heraus und tragen somit zum verfremdenden Effekt dieser Darbietung bei. Brecht betont dabei, dass die Schauspieler „nicht in den Gesang ‚übergehen‘, sondern ihn deutlich vom übrigen ‚absetzen‘“.9 Musik wird in den Inszenierungen des Berliner Ensembles nicht eingesetzt, um lediglich Gefühle und Stimmungen zu untermalen. Vielmehr erfüllen die Lieder bei Brecht eine der integralen Funktionen, die den Verfremdungseffekt des epischen Theaters sichtbar machen. Die einzelnen Elemente des epischen Theaters, die Schauspielkunst, der Text, das Bühnenbild, die Szenentitel, die Musik usw., kommentieren sich gegenseitig. Dieses kommentierende Verhältnis der Elemente zueinander trägt letztendlich dazu bei, dass gerade keine Illusion erzeugt wird.

Kleiner Überblick zum Genre Science-Fiction Mit dem Begriff Science-Fiction bezeichnet man eines der populärsten Genres. Das Interesse an Science-Fiction steigt zusehends, nicht zuletzt seit dem Eintritt der digitalen Medien in unsere Lebenswelt. Die Entwicklung der Science-Fiction ist sicherlich mit den Fortschritten der Technik und der Naturwissenschaft eng verbunden: Neue Möglichkeiten regen die Phantasie an. Das Wortpaar Science-Fiction geht auf den luxemburgisch-amerikanischen Schriftsteller Hugo Gensback zurück, der 1926 die Erzählungen in seiner Zeitschrift Amazing Stories als „Scientification“ bezeichnet hatte. Wörtlich betrachtet setzt sich „Science-Fiction“ aus den beiden Begriffen „Wissenschaft“ und „Fiktion“. Äußerlich deutet das Begriffspaar ScienceFiction auf eine Wissenschaftsphantasie hin, die sich an einer fiktiven Vorstellung von Wissenschaft und Technik orientiert. Innerlich steht Science-Fiction zum größten Teil in einer

Verbindung mit der empirischen Realität der Gegenwart. Im Kern geht es daher in der ScienceFiction darum, dass sie einerseits eine fiktive neue Welt auf der Grundlage der wissenschaftlichen bzw. technischen Entwicklung entwirft, andererseits aber auch mit der realen Welt der Gegenwart in Verbindung steht. Science-Fiction suggeriert in diesem Sinne eine Verbindung zwischen fiktionaler Welt und empirischer Realität. Die besonderen Merkmale der Science-Fiction lassen sich grob in vier Aspekte aufteilen: 1) Science-Fiction spielt meistens in einer fiktiven Zukunft, beispielsweise im Weltraum, auf anderen Planeten, in einer anderen Dimension oder auch in einem ganz anderen Universum. 2) Science-Fiction thematisiert die zufällige Begegnung mit dem Fremden wie Aliens, Monstern oder außerirdischen Lebewesen. 3) Science-Fiction thematisiert auch die Erschaffung von künstlichen Menschen oder einer künstlichen Intelligenz wie z. B. Avataren, Robotern, Androiden etc. Im Unterschied zu den außerirdischen Lebewesen werden die künstlichen Wesen vom Menschen selbst erschaffen. Der Schöpfungsakt Gottes soll hier vom Menschen wiederholt werden. Es handelt sich also um den menschlichen Versuch, Gott gleich zu werden. 4) Science-Fiction entwickelt positive oder negative Utopien, die sich mit der gesellschaftlichen Veränderung unserer Welt durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt beschäftigen. Der Film des französischen Regisseurs George Méliès Die Reise zum Mond (1902) wird als der erste Science-Fiction-Film angesehen. Das Werk eröffnete zum ersten Mal in der Filmgeschichte einen neuen Einblick in die Utopie der technischen Entwicklung, die eine Reise zum Mond und eine zufällige Begegnung mit dem Fremden möglich macht. Auf der Ebene der deutschen Filmgeschichte wurden in den 1920er Jahren zwei große Science-Fiction-Filme des Regisseurs Fritz Lang gedreht: Metropolis (1927) und Die Frau im Mond (1929). Metropolis visualisiert eine Stadt der Zukunft und auch einen Roboter als künstlichen Menschen. Im Unterschied zu George Méliès’ Film liefert Metropolis eine dystopische Zukunftsperspektive auf die technische Entwicklung, die die Menschheit selbst in Gefahr bringt. Im „Dritten Reich“ werden in Deutschland keine Science-Fiction-Filme produziert und der westdeutsche Nachkriegsfilm nimmt sich der Science-Fiction ebenfalls nicht an; in den 1950er Jahren gibt es daher kaum selbstproduzierte Science-Fiction-Filme in den westdeutschen Kinos zu sehen. In den 1950er Jahren erreicht der Science-Fiction-Film in Hollywood einen ersten Höhepunkt. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges hat einen gewaltigen technologischen Sprung nach vorn bedeutet. Der Science-Fiction-Film reagiert darauf mit zwei Vorstellungen: einmal mit der Evasion, der Flucht des Menschen in den Weltraum, und zum anderen mit der Invasion, der Bedrohung des Planeten Erde durch außerirdische Lebewesen. Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge drehte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zwei Science-Fiction-Filme Der große Verhau (1969) und Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte (1972), die dem Neuen Deutschen Film zuzuordnen sind. Im Folgenden versuche ich den Einfluss von Bertolt Brecht auf Alexander Kluges ScienceFiction-Film Der große Verhau näher in den Blick zu nehmen.

Kluges filmische Auseinandersetzung mit Brechts epischem Theater Am Ende der 1960er Jahre, nach dem Misserfolg seines Films Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968), zog Alexander Kluge wieder nach Ulm. Am Ulmer Institut für Filmgestaltung wollte er einen neuen Film produzieren. In dieser Zeit kam die Idee auf, einen Science-Fiction-Film zu drehen. Kluges erster Science-Fiction-Film Der große Verhau spielte in der Zukunft von 2034 bis 2041 im Weltraum. Kluges Film behandelt drei Geschichten des Admirals Bohm, des Raumpiloten Douglas und der beiden Selbstversorger Vinzenz und Maria Sterr. Jede Figur repräsentiert im Film einen gesellschaftlichen Zustand. Bohm ist Chefadmiral in der SuezKanal-Gesellschaft, der sämtliche Transporte und Kommunikationssysteme kontrolliert und die politische Macht allein ausübt. Er symbolisiert somit eine führende Position in der Gesellschaft. Ebenso stellt die Suez-Kanal-Gesellschaft im Film ein Monopolkapital dar. Der Monopolkapitalismus als System besteht nicht nur aus einer riesigen Kapitalgesellschaft, zwischen ihnen existieren auch kleinere Unternehmen. Douglas ist Raumpilot, der angesichts der niedrigen Lohnbedingungen bei der Firma Joint Galactical Transports (JGT) ohne Flugschein angenommen wurde. Seine Firma transportiert Frachten billiger und schneller als die Monopolfirma und verdient damit ihr Geld. Diese Firma wird jedoch von der Suez-KanalGesellschaft aufgekauft, nachdem sie sich wegen eines Unfalls in einer schwierigen Lage befindet. Die Firma JGT ist also ein Kleinunternehmen. Vinzenz und Maria Sterr sorgen selbst für ihr Überleben, durch Akkumulation von Schätzen und Urkundenfälschung. Das Ehepaar Sterr sind somit einzeln agierende Kleinhändler. Die Sterrs werden im Film als vagabundierende Freibeuter weder von den Kleinunternehmen noch vom Monopolkapital geduldet. Sie weichen deshalb der Macht aus und leben von anderen Menschen völlig isoliert. Jede Person agiert und reagiert im Film auf eigene Weise, um zu überleben. Anders als in den üblichen Hollywood-Filmen treten in Kluges Science-Fiction-Film keine Roboter und auch keine außerirdischen Lebewesen auf, die die ganze Menschheit bedrohen. In seinem Film kritisiert Kluge durch die drei Prototypen der Personen aus den unterschiedlichen sozialen Schichten auf satirische Weise die kapitalistische Gesellschaft der 1960er Jahre in Deutschland. In diesem Sinne ist das Weltall bei Kluge in erster Linie Material, um daraus eine gesellschaftliche Situation zu formen. In vielen seiner Filme verwendet Alexander Kluge einerseits Filmtechniken aus der Stummfilmzeit wie z. B. Zeitraffung, Großaufnahme, Zwischentitel usw., aber andererseits verwendet er in vielerlei Hinsicht auch Elemente von Brechts epischem Theater. Fragt man konkreter nach den Einflüssen von Brechts epischem Theater auf Kluges Science-Fiction-Film, dann wird insbesondere auf die Verfremdung verwiesen. Die Verfremdung wird bei Kluge auf verschiedenen Wegen erreicht. In Bezugnahme darauf betrachte ich in meiner Arbeit sechs besondere Effekte der Verfremdung in Kluges Science-Fiction-Film: 1) die

Darstellungsproblematik der Realität, 2) die Literarisierung des Films, 3) die Stilisierung der Musik, 4) die Gestaltung der Figuren, 5) die Vereinfachung der Kulissen und 6) die Montagetechnik. Die Darstellungsproblematik der Realität Alexander Kluges Interesse am Genre Science-Fiction liegt hauptsächlich in der neuen Darstellung der Realität. In einem Interview erwähnt Kluge in Bezug auf die Science-Fiction: „der luftleerste Raum ist offenbar die Science-Fiction, weil man sich dort frei bewegen kann, unabhängig von jeder Gesellschaft“.10 Kluge bezeichnet in diesem Sinne die Science-Fiction als „eine Art Realitätsflucht“.11 Trotz seiner Ausformulierung enthält Kluges Science-FictionFilm Der große Verhau in sich eine Darstellungsproblematik der Realität. Die Science-Fiction scheint einerseits möglichst weit von der Realität entfernt zu sein, knüpft aber andererseits dennoch an die Realität an. Somit wird erkennbar, dass Science-Fiction für Kluge ein besonderes Genre ist, innerhalb dessen die Zustände der Realität in der anderen Dimension, nämlich in der zeitlichen und räumlichen Distanz, noch effektiver darstellbar sind. Kluges Science-Fiction-Film Der große Verhau ist in diesem Sinne zeitlich auf die Zukunft von 2034 und räumlich auf das Weltall gerichtet. Der Film beinhaltet den Sinnverlust der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaft der 1960er Jahre in Deutschland. Diese unruhige soziale Lage der Bundesrepublik verlängert Kluge in seinem Film bis ins Jahr 2034, also bis in den galaktischen Bürgerkrieg. Für Kluge geht es in den Zukunftsvisionen immer noch um die Problematik der industrialisierten kapitalistischen Gesellschaft. Das einzige, was sich hier verändert hat, ist die die Menschen umgebende Welt, die Technik. Der technische Fortschritt übt aber bei Kluge auf das Verhalten der Menschen keinen Einfluss aus. Eine in ähnlicher Weise außergewöhnliche Darstellung der Realität lässt sich auch bei Brecht feststellen. Die Handlung spielt dabei in örtlicher und zeitlicher Entfernung. Bei Brecht erscheint diese spezifische Darstellung der Realität als ein Konzept der Historisierung und der Verfremdung. Das Geschehen auf der Bühne wird dabei so dargestellt, dass dem Zuschauer deutlich wird, dass es sich hier um eine historische Begebenheit handelt. Während Alexander Kluge durch die Verwendung der Science-Fiction die Realität in einer völlig anderen Dimension der Zukunft noch effektiver darstellt, versetzt Brecht in seinem Theaterstück die Realität bereits in die Vergangenheit. Das Geschehen ist dabei an eine bestimmte Epoche gebunden. Durch die so entstehende Distanz wird es einerseits als kritikwürdig und veränderbar dargestellt, andererseits wird durch das historisierende Verfahren auch die Gegenwart des Zuschauers als ein Teil der Geschichte begreiflich gemacht, in die bewusst eingegriffen werden kann. In vielen Theaterstücken Brechts wird die Realität in zeitlicher und örtlicher Distanz dargestellt. Beispielsweise sind die Stadt Padua und das 17. Jahrhundert der Ort und die Zeit des Theaterstücks Leben des Galilei. Die Literarisierung des Films

Kluges Interesse an der Science-Fiction ist eng mit der neuen Filmtechnik verbunden. Dabei versucht Kluge insbesondere nach dem Modell der Stummfilmzeit neue Filmtechniken des Science-Fiction-Films zu entwickeln. In Kluges Science-Fiction-Film befinden sich verschiedenartige Zwischentitel, die an die Art und Weise des Stummfilms der 1920er Jahre erinnern. Die Zwischentitel übernehmen bei Kluge verschiedenartige Funktionen, wie z. B. die kommentierende, erzählende, ausdeutende etc. Der geschriebene Text tritt in verschiedenen Formen im Film auf: Text über das laufende Bild geblendet, Lesetexte als Insert, Texte auf Bilduntergründen usw. Beispielsweise kommentiert der geschriebene Text zum Sonnensystem des Weltraums: „Zwei Sonnen. Krüger A … und Krüger B = System Krüger 60“12. Durch das Hinzufügen der geschriebenen Texte macht Kluge seinen Film literarisch und lesbar. Allerdings erzwingt Kluge durch die Lesetexte die ständige Unterbrechung des Films und verhindert damit, dass der Zuschauer sich in den Film einfühlen kann. In diesem Sinne sind die Zwischentitel in Kluges Science-Fiction-Film als ästhetisches Mittel zur Herstellung des Verfremdungseffekts anzusehen. Ähnlich betrachtet man auch im epischen Theater Brechts verschiedenartige Szenentitel, die den Inhalt und Verlauf der Szene vor der Darstellung auf der Bühne beschreiben. Mit den Szenentiteln macht Brecht sein Theaterstück ebenfalls literarisch und lesbar. Dafür nennt Brecht sinngemäß folgenden Grund: Wenn die Zuschauer durch die Einblendungen der Szenentitel im Theater lesen müssen, nehmen sie zwangsläufig eine andere Haltung ein als die Zuschauer, die in eine Handlung eingebunden sind.13 Die Stilisierung der Musik Alexander Kluge verwendet in seinem Film verschiedenartige Musik wie z. B. chinesisch oder afrikanisch klingende, romantische, Tango, Balladen, Jazz etc. Die Musik und das Filmbild treten dabei oft in nicht übereinstimmende Beziehungen zueinander. Beispielsweise hört man im Film während des galaktischen Bürgerkriegs eine romantisch klingende Musik. Solche Diskrepanz zwischen visueller und auditiver Darstellung verhindert bei Kluge letztendlich die Einfühlung in den Film. In Brechts epischem Theater dient die Musik in ähnlicher Weise dazu, die Geschlossenheit der Handlung zu unterbrechen. Dies verhindert ebenso die Einfühlung in das Stück. Damit fordert die Musik den Zuschauer auf, über das Bühnengeschehen kritisch nachzudenken. Die Gestaltung der Figuren Die meisten Figuren in Kluges Science-Fiction-Film Der große Verhau sind Amateure ohne Schauspielausbildung. Im Film blickt der Darsteller direkt in die Kamera und erläutert dem Zuschauer auf seine Weise seine Rolle bzw. seine Aufgabe. Die Figur zeigt bei Kluge etwas, das von ihr selbst kommt, nicht eine Haltung oder ein Gefühl, welches von der Regie gefordert wurde. Der gesamte Ausdruck des Schauspielers erweckt dabei den Anschein von Authentizität. Er ist aber im Film wiederum fiktiv etabliert. Beispielsweise benutzen Vinzenz

und Maria Sterr im Film ihren realen Namen und sprechen nicht in einer künstlich wirkenden Filmsprache, sondern in bayerischem Dialekt. Mit der authentischen und gleichzeitig fiktiven Gestaltung der Figuren verhindert Kluges Film die Einfühlung des Zuschauers in diese. Die Einfühlung des Zuschauers wird im Film zusätzlich noch dadurch erschwert, dass Großaufnahmen von ihnen ohne zeitliche, räumliche oder narrative Hinweise eingestreut werden. Sie imitieren eine Fotoästhetik, ohne dass es sich dabei tatsächlich um Fotos handelt. Die Figuren sollen bei Kluge dem Zuschauer von außen nahegebracht werden und mit dem Zuschauer keine Identifikation herstellen. Auch die Figuren führen keine lineare Handlung aus, d. h., sie treten plötzlich in einer Szene auf und verschwinden schnell wieder. Damit ist die Gestaltung der Figuren bei Kluge als ein Mittel des Verfremdungseffekts anzusehen. Kluges Figuren sind, anders als die der üblichen Hollywood-Filme, keine Helden, die den Feind von außen schlagen und die ganze Menschheit retten. Bei Kluge ist die Gefahr der Menschheit die Menschheit selbst. Bei Brecht lässt sich eine ähnliche Gestaltung der Figuren beobachten: Er nutzt Figurentypen, die exemplarisch für bestimmte Menschengruppen oder gesellschaftliche Zustände stehen. Der Schauspieler zeigt dabei seine Figur nicht emotional, um das Einfühlen des Zuschauers in sie zu ermöglichen, sondern stellt sie als fremd dar. Er wendet sich während der Handlung direkt an das Publikum und tritt so aus seiner Rolle heraus. Dadurch entfernt sich der Schauspieler bei Brecht von der Figur, die er darstellt, und identifiziert sich nicht mit seiner Rolle. Bei Brecht ist die Entfernung bzw. Distanzierung ein wesentlicher Bestandteil der Verfremdung. Auf der Bühne wird die Verfremdung künstlich durch die Distanzierung des Schauspielers von seiner Figur und ihrem Verhalten erzeugt. Die Vereinfachung der Kulissen Kluges Science-Fiction-Film stellt die Fortschritte der Technik nicht in den Mittelpunkt. Statt der spektakulären Darstellung zeigt der Film die schlichten und schmucklosen Raumschiffe. Kluges Raumschiffe im Film bestehen zum größten Teil aus dem Innenleben von Fernsehgeräten.14 Mit solch einem einfachen Aufbaumodell der Raumschiffe reduziert der Film die blinde Illusion zur technischen Entwicklung der Zukunft. Auch im Innenraum des Raumschiffes verwendet Kluge nur wenige und einfache Kulissen. Diese Art der Inszenierung des Films erzeugt dabei die Distanzierung des Zuschauers vom Filmgeschehen und somit den Verfremdungseffekt. Ähnlich beobachtet man bei Brecht nur wenige und einfache Kulissen auf der Bühne. Dies bewirkt bei Brecht ebenfalls die Distanzierung des Zuschauers vom Bühnengeschehen. Dadurch wird bei Brecht auf der Theaterbühne selbst verfremdet: Statt der Verwendung von Dekorationen und Requisiten, die die Illusion unterstützen, gibt es nur einfache Kulissen und Andeutungen eines Bühnenbilds. Dabei wird moderne Technik eingesetzt, die den Verfremdungseffekt unterstützt.

Die Montagetechnik Alexander Kluge montiert in seinem Science-Fiction-Film Der große Verhau mit den Geschichten des Admirals Bohm, des Raumschiffpiloten Douglas und der Selbstversorger Vinzenz und Maria Sterr auch verschiedene Materialien, die an die deutsche Vergangenheit erinnern. Als Materialien verwendet Kluge in seinem Film Malerei, Zitate, Comiczeichnungen, Collagen, Ausschnitte aus anderen Filmen, Töne, Stimmen, Musik etc. Das Zusammentreffen von schriftlichen, akustischen und visuellen Formen macht den Film enorm komplex, rhapsodisch und rätselhaft. Bei Kluge stehen die heterogenen Einstellungen trotz deren Vernetzung durch die Montagetechnik immer noch in einer parallelen Beziehung zueinander, denn zwischen ihnen existiert keine Vermittlung. „[E]s gibt […] Spannungsverhältnisse zwischen Einzelheiten, die gleichgültig gegenüber einem gemeinsamen Sinn bleiben, bloß Parallelen bilden“.15 Aus den Parallelen zwischen heterogenen Einstellungen entsteht bei Kluge eine Lücke bzw. Bruchstelle. Durch die Montagetechnik erzeugt Kluge letztendlich einen Verfremdungseffekt, der dazu führt, dass der Zuschauer sich vom Film distanziert und damit den Film kritisch betrachtet. Das heißt wiederum, dass die Darstellungstechnik der Montage bei Kluge nicht mit dem passiven Zuschauer rechnet, der nur dasitzt und guckt, sondern vielmehr mit aktiven Zuschauenden, die den Film aus der eigenen Erfahrung heraus bewusst wahrnehmen. In diesem Zusammenhang erwähnt Kluge in einem Interview: Ich glaube, das ist der Kern: Der Film stellt sich im Kopf des Zuschauers zusammen, und er ist nicht ein Kunstwerk, das auf der Leinwand für sich lebt. Der Film muß deswegen mit den Assoziationen arbeiten, die, soweit sie berechenbar, soweit sie vorstellbar sind, vom Autor im Zuschauer ausgelöst werden.16 Kluges Science-Fiction-Film zielt letztendlich auf die Aktivierung des Zuschauers. Die Montagetechnik dient bei Kluge in diesem Sinne nicht zur Herstellung einer fassbaren Übersicht, sondern sie stellt vielmehr die Lücken bereit, in die die Assoziationen des Zuschauers eindringen können. Auf ähnliche Weise lässt sich bei Brecht die Aktivierung des Zuschauers durch den Verfremdungseffekt beobachten. Der Verfremdungseffekt ist bei Brecht ein Mittel, das dazu führt, dass der Zuschauer zum Bühnengeschehen Distanz hält und es kritisch bewertet. Mit dem Verzicht auf die Einfühlung ermöglicht Brecht dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem Bühnengeschehen. Der Zuschauer ist bei Brecht nicht passiver Rezipient, sondern wird zum Denken und Handeln aufgefordert. Brechts episches Theater zielt letztendlich auf den mündigen Zuschauer, der das Geschehen auf der Bühne kritisch beobachten und daraus für das eigene Leben einen Nutzen ziehen kann. Durch den Verfremdungseffekt entwickelt Brecht somit einen neuen Typus des Zuschauers im Theater. Die Aufgabe, die Beziehungen zu begreifen, die auf der Bühne des epischen Theaters dargestellt werden, kommt

letztendlich nicht den Theaterexperten, sondern den Zuschauern zu.17

Schlussbemerkung Wie oben geschildert, weist das filmische Konstruktionsprinzip Alexander Kluges in vielerlei Hinsicht starke Parallelen zum epischen Theater Bertolt Brechts auf. Der Unterschied von Brecht und Kluge lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen: Das Ziel der Arbeit am epischen Theater bei Brecht ist es, die Gesellschaft auf der Bühne widerzuspiegeln und so den Zuschauer dazu anzuregen, über das Gesehene für sich weiter nachzudenken und es kritisch wahrzunehmen. Als Resultat dieses Wahrnehmungsprozesses soll die politische Veränderung des Gesellschaftssystems angesehen werden. Damit deutet Brecht letztlich auf die Idee von der Veränderbarkeit der Welt und der Menschen als Charakteristikum des epischen Theaters hin. Im Unterschied dazu gibt Alexander Kluge in seinem Science-Fiction-Film Der große Verhau keine Hinweise auf die Veränderbarkeit der Welt und der Menschen. Bei Kluge bleiben die Konflikte zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft bis zum Ende des Films ungelöst. Die Figuren stehen in Kluges Film in Spannungsverhältnissen, da zwischen ihnen keine Vermittlung existiert und somit keine Versöhnung. Trotz der Unterschiede ist erkennbar, dass Alexander Kluges Science-FictionFilm Der große Verhau als ein Film nach Bertolt Brecht, als ein „post-brechtscher Film“ zu betrachten ist. 1

Elisseeva, Aleksandra V.: „Dialog zweier Dramatiker: R. W. Fassbinder und Bertolt Brecht (anhand von Fontane Effi Briest)“, in: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2012/2013, S.111–120, hier S. 111.

2

Meyer-Sickendiek, Burkhard: „Die Zuschaukunst im Wandel der Medien. Brecht und der Autorenfilm der 1960er Jahre“, in: Die Kunst der Rezeption, hrsg. von Marc Caduff/Stefanie Heine/Michael Steiner, Bielefeld 2015, S. 159–177, hier S. 159.

3

Elisseeva: „Dialog zweier Dramatiker“, S. 112.

4

Meyer-Sickendiek: „Die Zuschaukunst im Wandel der Medien“, S. 170–172.

5

Koutsourakis, Angelos: „Brecht Today: Interview with Alexander Kluge“, in: Film-Philosophy 15.1 (2011), S. 220–228, hier S. 222.

6

Berliner Ensemble/Weigel, Helene (Hrsg.): Theaterarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 1990, S. 5.

7

Ebd., S. 285.

8

Ebd., S. 62.

9

Ebd., S. 154.

10

„Ulrich Gregor: Interview mit Alexander Kluge“, in: Herzog/Kluge/Straub, München 1976, S. 153–178, hier S. 173.

11

Ebd.

12

Kluge, Alexander: Der große Verhau, 1971.

13

Steinweg, Reiner: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis, Frankfurt a. M. 1995, S. 40.

14

Lewandowski, Rainer: Alexander Kluge, München 1980, S. 86.

15

Kluge, Alexander: „Der Autor: Dompteur oder Gärtner? Rede zum Heinrich-Böll-Preis“, in: Wochenpost Nr. 51 (16. Dezember 1993).

16

Lewandowski, Rainer: Die Filme von Alexander Kluge, Hildesheim 1980, S. 11.

17

Steinweg: Lehrstück und episches Theater, S. 34.

Veronika Darian und Jana Seehusen

VORSÄTZLICHE PERSONENSTANDSÄNDERUNG Unwürdiges Alter, glaubwürdiges Geschlecht? Erzählt nach Brecht

Off: HAMM: Ich mag die Mitte lieber. Pause. Muß ich jetzt nicht mein Beruhigungsmittel einnehmen? CLOV: Nein. Er geht zur Tür und dreht sich um. Ich verlasse dich. HAMM: Dann muß ich jetzt meine Geschichte erzählen. Willst du meine Geschichte hören? CLOV: Nein. HAMM: Frage meinen Vater, ob er meine Geschichte hören will. […] CLOV: Er will eine Praline. HAMM: Er kriegt eine Praline.1 Josef/Maria 1: [Es sei] zu Anfang darauf hingewiesen, daß es sich im Folgenden nicht um eine erfundene Geschichte handelt:2 Sie ist nachzulesen …3 Josef/Maria 2: In leeren Zimmern stehend, mit Schachteln und Koffern beladen, verfiel die Frau knapp vor der Abreise auf einen ungeheuerlichen Gedanken. Der Arbeitsplatz, den sie zusammen mit dem Mann verloren hatte, war keine Minute aus ihrem armen Kopf verschwunden.4 JM1: Der Mann ist tot. Formelle Tröstung, Auslieferung der Papiere und Kleider. „Aber das ist doch unmöglich: Wir haben doch eine Stelle, einen Vertrauensposten.“5 JM2: Der Plan, auf den sie im letzten Moment zur Rettung des Arbeitsplatzes verfiel, war nicht abenteuerlicher als ihre Lage verzweifelt war: sie wollte anstelle ihres Mannes und als Mann den Wächterposten in der Fabrik […] einnehmen.6 JM1: „Josef alias Maria Einsmann als Kampfgenossen“7 „Maria Einsmann, eine tapfere Frau!“8 „[Maria Einsmann], in Hemdsärmeln, den Bierkrug vor sich, [ein] Monstrum“9 JM2: [D]as Gerücht gehörte schon zur Luft und verbreitete sich.10 [Der Berichtende] konnte sich nicht enthalten, in seinem Bericht darüber ein Ausrufezeichen anzubringen.

1

JM1: Was für eine Nachricht! JM2: Was war in sie gefahren? Was wollte sie?11 Die Wartenden gerieten durch den Bericht von dieser so gut verborgenen Not in Erregung …12 JM1+2: Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.13 JM2: Wenn man es aber erzählen kann, wie es war, dann ist man nicht dabei gewesen, oder die Geschichte ist lange her, so daß einem Unbefangenheit leichtfällt. Allein dass man trennen muss und hintereinander reihen, um es erzählbar zu machen, was in Wirklichkeit miteinander vermischt ist bis zur Unlösbarkeit … JM1: Also, wo war ich stehengeblieben?14 JM2: „Nach wie vor [trage ich] Männerkleidung, und zwar im Haus und auf der Straße. Die Polizei wünscht nur, daß [ich] es vorläufig wegen des Menschenauflaufs vermeide. Am Montag war [ich] in [meiner] Männerkleidung auf der Bürgermeisterei und [habe mir] die Genehmigung zum Verkauf [meiner] Postkarten eingeholt. [Ich] darf in sämtlichen Lokalen von Groß-Mainz [meine] Karten verkaufen.“ JM1: Vom Reporter gefragt, ob sie gewillt sei, ihre Männerkleidung abzulegen, antwortet die Einsmann, daß sie sich dazu erst einmal Frauensachen besorgen müsse. JM2: Zudem habe [ich] ohnehin die Absicht, „in großen Städten öffentlich aufzutreten“, „[mein] Einkommen durch die Sensation auf eine andere Basis zu stellen“ und „in Zukunft nicht mehr so schwer arbeiten zu müssen wie in den letzten 12 Jahren“.15

2

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JM1: Also ein Märchen, in dem sich deutsche Geschichte widerspiegelt.16 Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.17 JM2: Anscheinend ist dieser Fall … oder war dieser Fall … gar keine Seltenheit.18 JM1: Ein Vorfall, der sich in der Stadt Mainz zutrug, zeigt besser als alle Friedensverträge, Geschichtsbücher und Statistiken den barbarischen Zustand, in welchen die Unfähigkeit, ihre Wirtschaft anders als durch Gewalt und Ausbeutung in Gang zu halten, die großen

europäischen Länder geworfen hatte.19 JM2: Aus den Papieren der Frau und den Berichten der Angehörigen erwies sich nun Folgendes:20 Der Paß [ist] der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.21 Vielleicht kamen ihr auch zum ersten Male Zweifel an, ob sie gezwungen worden war, oder selbst das andere gezwungen hatte.22 JM1: Dies alles, Shen Te, sind nichts als die Zweifel eines guten Menschen.23 [Ich bin] Maria alias „Seppel“ Einsmann.24 JM2: Diese[.] ist, vornehmlich im Reisepass und mit ihm vom Staat, als weiblich registriert.25

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5

Antrag auf Personenstandsänderung26 JM2: JM2: JM2: JM2: JM2: JM2:

Familienname: Vorname: Geburtsdatum: Wohnort: Familienstand: Staatsangehörigkeit:

JM1: JM1: JM1: JM1: JM1: JM1:

Einsmann Josef um 1900 Mainz verheiratet deutsch

JM1: Mein Vorname wurde bereits per Beschluss des Amtsgerichts Mainz geändert. Dass ich mich auf Grund meiner transsexuellen Prägung nicht mehr dem weiblichen Geschlecht, sondern als dauerhaft dem männlichen Geschlecht zugehörig empfinde, wurde bereits durch die Gutachten von Frau Dr., nein: Herrn Obermedizinalrat Dr. Wagner, Mainz, und Herrn Dr. Abraham vom Sexualwissenschaftlichen Institut Magnus Hirschfeld, Berlin, bestätigt.27 JM2: Erfüllen Sie die Voraussetzungen des § 8 Transsexuellengesetz? JM2: Erstens: JM1: Ich erfülle die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3. JM2: Zweitens: JM1: Ich bin dauerhaft fortpflanzungsunfähig, da ich mich einer Operation zur Entfernung der Gebärmutter und beider Eierstöcke unterzogen habe. JM2: Drittens: JM1: Ich habe mich einem operativen Eingriff unterzogen (Entfernung der weiblichen Brust

und Bildung einer männlichen Brust), durch welchen meine äußeren Geschlechtsmerkmale verändert wurden und eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des männlichen Geschlechts erreicht wurde.

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Des Weiteren werde ich kontinuierlich mit männlichen Geschlechtshormonen behandelt, was zu einer wesentlichen Vermännlichung geführt hat. Nein. Nein, das stimmt nicht. JM2: Nein. Nein, das stimmt nicht. Ich wollte [nur] anstelle meines Mannes und als Mann den Wächterposten in der Fabrik

[…] einnehmen.28 Ich bin Frau Hausmann in Bertolt Brechts Arbeitsplatz.29 JM1: Ich bin Katharina in Anna Seghers’ Vertrauensposten.30 JM2: Ich bin Katharina. Der sogenannte Rendel.31 JM1: Hier gibt’s keine Katharina.32 JM2: Ich bin (gestorben und auferstanden als) Wilhelm Hausmann.33 JM1: Untertitel: „Die Geschichte der Familie Rendel … JM2: Kommentar: Einsmann, Hausmann, Mustermann JM1: … ist nicht erfunden. Sie ist nachzulesen in den Tageszeitungen des Krisenjahres 1932.“34 Der Vorwurf lautete vorsätzliche Personenstandsänderung, einfache Kindsunterschiebung und intellektuelle Urkundenfälschung.35 Sie hatte sich die Papiere ihres von ihr getrennt lebenden Mannes angeeignet und als Mann verkleidet um Stellung beworben. Sogar die Rolle eines guten Familienvaters hat sie gespielt, indem sie sich mit einer Frau, der Mutter von zwei Kindern, standesamtlich trauen ließ.36 JM2: Der Arbeitsplatz ist männlich. Die Arbeitslosigkeit ist weiblich.37

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Der Arbeitsmarkt ist männlich. Die Arbeitssuche ist weiblich. JM1+2: Mustermann ist eine Frau. JM2: Man prüfe nun, ob es stimmt. […] Stimmt.38 JM1: Sie mieteten zusammen eine Wohnung, sie gaben sich als Familie aus, Mann und Frau. Sie war bescheiden und schön anzusehen. […] Er war schweigsam und hilfsbereit bei vielen Gelegenheiten.39 JM2: Marie nach Mädchenart40 – Katharina nach Wächterart41 … in einem guten Glauben, daß das Innen schon in Ordnung käme, wenn das Außen brav gerichtet sei …42 JM1: … Jahrhunderte alte Gewohnheiten, die schon beinahe wie ewige ausgesehen haben …43 All dies geschah übrigens nach wie vor unter den Augen der Kinder: Gang, Sitzen und Essen sowie die Sprechweise eines Mannes einzuüben.44 In wenigen Tagen wurde die Frau zum Mann, wie der Mann im Laufe der Jahrtausende zum Manne wurde: durch den Produktionsprozeß.45 JM2: [Das] typisch Weibliche und Männliche [entsteht] erst aus der Wiederholung im profanen Handeln, im rhetorischen Signifizieren und im visuellen Identifizieren. Keineswegs jedoch geht die Wiederholung auf irgendeine gegebene biologische Geschlechtlichkeit zurück, ganz im Gegenteil, Wiederholung produziert einen Überschuss an regulativer Funktion im Stereotyp.46 JM1: Stimmt.

JM2: … [E]ine aufgeschlagene Bibel. Unterstrichen ist die Zeile: ein Mann soll nicht Weibsgeräte tragen, und ein Weib soll nicht Männerkleider antun.47

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JM1: Nein, das stimmt nicht. JM2: Man prüfe nun, ob es stimmt.48 JM2: Es folgten dann die Gutachten der Sachverständigen, die sich beide grundsätzlich gegenüberstehen. Obermedizinalrat Dr. Wagner ist der Ansicht, dass aufgrund seiner Beobachtungen und der

Untersuchungsergebnisse es sich bei Maria Einsmann um eine normale Frau handelt, die aus rein wirtschaftlichen Gründen, aus Not heraus, zum Tragen von Männerkleidung gekommen sei. […] JM1: Im Gegensatz zu dieser Auffassung stand der zweite Sachverständige, Dr. Abraham, der der Ansicht ist, daß es sich hier um einen Fall von Transvestitismus handele, der aus einem inneren unbestimmbaren Zwang zu dieser Verkleidung gekommen sei.49 JM2: Maria Einsmann saß dabei breit, in Hemdsärmeln, den Bierkrug vor sich (ein Bild, das nachmals von den illustrierten Zeitungen in großer Aufmachung gebracht wurde).50 Photos, die zum Teil erst nach der Entlarvung gestellt worden waren …51 JM1+2: Erstaunen wird erwartet davon, daß das Geschlecht nicht absolut ist.52 JM2: Doch was macht den Abweichler zum angreifbaren Sonderling? JM1: Wie erkennen wir Abweichungen? JM2: Wer legt fest, was unpassend, übertrieben fremdartig, ungehörig anders ist? JM1: Bestimmen höhere Instanzen, welche Abweichung wir uns leisten können und welche lieber nicht?

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JM2: Oder entscheiden wir selbst, wer zum Außenseiter wird und wann wir Außenseiter sind? JM1+2: Wann beginnen wir, „unser eigenes ‚moralisches Unternehmertum‘ in Frage zu stellen“.53 JM2: Zum achtzigsten Geburtstag meiner Mutter am 17. September 1919 verfaßte [Bertolt] als junger Bursche ein Gedicht, ihr zu Ehren, worin er den sehr friedlichen und arbeitsreichen Lebensweg seiner Oma wahrheitsgetreu veranschaulichte. Wie er dann viele Jahre später dazu kam, eine Geschichte unter dem Titel „Die unwürdige Greisin“ zu erfinden, worin die Großmutter bereits vierundsiebzigjährig stirbt und wo er Dinge erzählt, die von Anfang bis Ende erfunden sind, ist mir unerklärlich.54 JM1: Die Briefe meines Onkels wurden ganz hysterisch, handelten nur noch von der „unwürdigen Aufführung unserer lieben Mutter“ und gaben sonst nichts mehr her.55 Aber was wollte sie? Was war in sie gefahren? JM2: Was für eine Nachricht!56 Off: HAMM: Pause. Ich bin mit meiner Geschichte vorangekommen. Pause. Ich bin gut vorangekommen. Pause. Frag mich, wie weit ich damit bin. CLOV: Oh, ehe ich’s vergesse, deine Geschichte? HAMM sehr überrascht: Welche Geschichte? CLOV: Die du dir seit jeher erzählst. HAMM: Ah, du meinst meinen Roman? CLOV: Eben. Pause. HAMM wütend: Bohr doch weiter, Menschenskind, bohr doch weiter!57

JM2: Das Ende der Erzählung […]: Der Versuch, aus ihren Rollen auszubrechen, mißlingt den Frauen […].58

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JM1: Da sagte die Direktion: „Wir wollen ja nur Ihr Gutes. Wir nehmen Ihnen einen schweren Posten und geben Ihnen einen leichten.“ Der leichte Posten sah so aus: Eimer, Besen, Scheuertuch. Katharina erschrak. Aber sie nahm es an, weil Kinder Kinder blieben und Brot Brot blieb, griff zu und schrubbte.59 JM2: Eine Stunde später lag die Rendel unter sechs Toten unter einem Torbogen. Gruppen erregter Arbeiter, die zur Frühschicht gehörten, standen in einiger Entfernung, reckten die

Hälse und flüsterten. […] [Von der] Untersuchungskommission, bestehend aus Polizei und Ärzten, fragte jemand nach dem „sogenannten Rendel“. Der kleine hutzelige Arbeiter mit seinem hellen und listigen Blick beugte sich vor. Er entblößte das Gesicht der Frau. Der Frager stutzte. Er hatte die Hand schon ausgestreckt, vor diesem Gesicht wagte er nicht, das Tuch weiter herunterzuziehen. Er nahm bloß seinen Hut ab.60 JM1: Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Entlarvung des falschen Paares verurteilt das Mainzer Bezirksschöffengericht Maria Einsmann und Helene Müller unter Beifallskundgebungen aus dem Zuschauerraum wegen „einfacher Kindsunterschiebung und intellektueller Urkundenfälschung“ zu einem Monat bzw. vier Wochen Gefängnis mit Bewährung. „Sie fanden milde Richter.“61 JM2: Dann verschwand sie wohl endgültig wieder in der Millionenarmee derer, die eines bescheidenen Broterwerbs wegen gezwungen sind, sich ganz oder stückweise oder gegenseitig zum Kauf anzubieten, Jahrhunderte alte Gewohnheiten, die schon beinahe wie ewige ausgesehen haben, innerhalb weniger Tage aufzugeben und, wie man sieht, sogar ihr Geschlecht zu wechseln, übrigens größtenteils ohne Erfolg, kurz, die verloren sind, und zwar, wenn man der herrschenden Meinung glauben will, endgültig.62 Ich könnte vielleicht an meiner Geschichte weitermachen, sie beenden und eine andere anfangen.63

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JM1: Ich könnte vielleicht an meiner Geschichte weitermachen, sie beenden und eine andere anfangen.

JM2: Was aus Maria „Seppel“ Einsmann und ihrer Frau Helene, beide damals ca. vierzig Jahre alt, geworden ist, war in Mainz nicht mehr in Erfahrung zu bringen.64 JM1+2: „Mach’s gut, Mann.“ – „Mach’s gut, Frau.“65

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Im Nachgang: Eine alte Frau wird wegen ihres altersungemäßen Verhaltens zur „unwürdigen Greisin“ deklassiert, eine junge Frau wird durch die Annahme der Identität ihres verstorbenen Mannes und die dadurch mögliche Übernahme seines Arbeitsplatzes zum „unglaublichen Ärgernis“ und „Monstrum“ ausgerufen. Zwei Frauen, die Brecht zu Fällen macht, Verdachtsfällen der öffentlichen Meinung, Fällen der Geschichte für seine eigene Historiographie der kleinen Leute und nicht zuletzt zum Kasus seines spezifischen Erzählens. Neben der naheliegenden ideologiekritischen und propagandistischen Lesart, der die Texte Die unwürdige Greisin (1939) und Der Arbeitsplatz (1933) in ihrer Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte vornehmlich unterlagen, erschließt der Blick auf die Entstehung, Bearbeitung und Metamorphose dieser Fallgeschichten ein bis heute sich fortwebendes Bild-Text-Gefüge. Denn nicht nur Brecht übte sich im intentional zugespitzten und bewusst manipulierten Medienzitat, auch andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler sowie Regisseurinnen und Regisseuree – wie u. a. Anna Seghers (durch die Brecht möglicherweise überhaupt erst auf den Fall aufmerksam wurde), Christa Mühl, Karin Hercher, Barbara Trottnow oder Manfred Karge – nahmen sich des Falles an und verschoben, jeweils ihrer Zeit und Schlagrichtung gemäß, die Perspektive(n). Geschlechts- und Alterstausch stehen in deren (Ver)Arbeit(ung)en potenziell für mehr ein, als es die darin explizit angelegte Kritik an Produktionsmechanismen und sozialen Konventionen glauben macht. Gerade in den Schreibund Darstellungsweisen dieser Wechselspiele scheinen allererst die Fragen nach Originalität und Fake, dem Originären und der Wiederholung, der Identität und ihrer Konstruktion auf und provozieren ihrerseits unmerklich Reaktionen auf Seiten der Rezipierenden, die sich zwischen Identifikation und Distanzierung zu verorten suchen. Groteske, Maskerade und das ausgestellte Spiel irritieren die aufgerufenen Stereotype und Rollenmodelle und stellen die Kategorien der Unwürdig- bzw. Glaubwürdigkeit für die Ausbildung und Akzeptanz einer (Geschlechts- und Alters-)Identität stetig aufs Neue zur Disposition. Hierfür stehen insbesondere auch die inszenierten Photographien Eine glückliche Ehe (seit 2003) von Daniela Comani, die als maßgebliche Marker innerhalb der eigenständig erzählenden Bildspur eingesetzt werden. In ihnen werden die traditionellen Rollenzuschreibungen auf die Spitze getrieben, indem sich die Künstlerin mittels Doppelportraits zugleich als Frau und als Mann – in der Doppel-Entität eines glücklichen Ehepaars – ablichtet. Sie zeigt damit, wie leicht vermeintlich erkennbare Geschlechtlichkeit durch Gestik und Mimik im Zusammenspiel mit Kleidung und Accessoires entsteht, entsprechend also produziert, aber auch dekonstruiert und unterlaufen werden kann. Darin betreiben diese Photographien ebenso wie die weiteren zusammengeschnittenen Texte, Bilder und Filme insgesamt Forschung in eigener Sache, indem sie auch auf die (Un)Zuverlässigkeit, (Un)Glaubwürdigkeit und (Un)Würdigkeit ihrer eigenen Erzählungen verweisen. „Vorsätzliche Personenstandsänderung“ bringt die auf die geschilderte Weise vielfach

geschichteten Vorfälle mittels einer kontroversen Vielfalt von Stimmen zur Aufführung. Die in den Texten aufscheinenden Bilder und durchlässigen Gestalten werden in dieser Übertragung mit aktuellen künstlerischen Visualisierungen verschränkt, um die vielschichtigen Wechselbeziehungen der Zeugenschaften dieser „unglaublichen“ Ereignisse – in Form gegenseitiger Kommentare, Manipulationsversuche und Richtigstellungen – zu markieren. Diese prozessuale und kombinatorische Praxis thematisiert das Dokument (im Wortsinne als Beweis- oder Lehrstück) als zerbrechliche und gleichwohl langlebige Spur, indem das Imaginäre und das Wirkliche sich ineinander fortlaufend wiederholen, und leistet damit dem Politischen dieses Erzählens, angelegt als Arbeit an der Wahrnehmung und am Bewusstsein, stimmlich, gedanklich und performativ Vorschub.

Abbildungen Abbildungen 1, 4, 5, 8, 9, 12, 13, 16: Daniela Comani, Eine glückliche Ehe, 2003–2015, Piezo Prints on Photo Rag, 50 x 60 cm, © Daniela Comani. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Abbildung 2: Photographie Bertolt Brechts (1898–1956), https://gelesenundgefunden.wordpress.com/2015/12/10/bert-brechtfruehe-tagebuecher (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017). Abbildung 3: Maria als Josef Einsmann, „Zwölf Jahre als Mann verkleidete Frau“, in: Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 122. Abbildung 6: Anzeige zur Bewerbung der „Homestory“, Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 24. August 1931, Nr. 628, S. 3. Abbildung 7: Ausschnitt aus Frankfurter Illustrierte, Das Illustrierte Blatt, 27. August 1931, Nr. 34, Deckblatt. Abbildung 10: Vorderseite des Personalausweises: www.bpb.de/politik/innenpolitik/elektronischerpersonalausweis/77634/elektronischerpersonalausweis? type=galerie&show=image&k=1 (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017). Abbildung 11: Ausschnitt aus Frankfurter Illustrierte, Das Illustrierte Blatt, 27. August 1931, Nr. 34, S. 916. Abbildung 14: Zeitungsausschnitt, Süddeutsche Zeitung, Wochenende, 14./15. Januar 2012. Abbildung 15: „Lady Gaga dresses as a man for her new single ‚You And I‘“. Mehr auf: www.nme.com/news/music/ladygaga-385-1274426 (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017); siehe auch Cover der Single You and I vom 23. August 2011. www.trendhunter.com/trends/you-and-i-single (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017). Abbildung 17: Frankfurter Illustrierte, Das Illustrierte Blatt, 27. August 1931, Nr. 34, Deckblatt. Abbildung 18: Daniela Comani, aus der Serie Coverversionen, Work in Progress seit 2007, Piezo Prints auf Photo Rag, 70 x 50 cm, © Daniela Comani. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Abbildung 19: Frankfurter Illustrierte, Das Illustrierte Blatt, 27. August 1931, Nr. 34, S. 916.

1

Beckett, Samuel: Endspiel, Frankfurt a. M. 1974, S. 69–71.

2

Stephan, Alexander: „Zu einer wiedergefundenen Erzählung von Anna Seghers“, in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e. V. 3, Berlin/Weimar 1994, S. 108–114, hier S. 110.

3

Seghers, Anna: „Keine Zeit für Tränen. Der sogenannte Rende[l]“ [Filmskript, 1934/35], Auszug in: Stephan, Alexander: Anna Seghers im Exil. Essays, Texte, Dokumente, Bonn 1993, S. 81–96, S. 82; zit. n. Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 111.

4

Brecht, Bertolt: „Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen“ aus dem Jahr 1933, erstmals erschienen in Brechts Geschichten, Frankfurt a. M. 1962, wieder abgedruckt im selben Jahr in: Das Argument – Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 4 (1962), H. 23: Emanzipation der Frau/Zur Problematik von

Sexualität und Herrschaft, S. 49–52 (1959 gegründet als unabhängige Wissenschaftszeitschrift einer marxistisch orientierten westdeutschen Linken); wieder abgedruckt in: Fähnders, Walter/Karrenbrock, Helga/Rector, Martin (Hrsg.): Sammlung proletarischrevolutionärer Erzählungen, Darmstadt/Neuwied 1973; wieder abgedruckt in: Kürbisch, Friedrich G. (Hrsg.): Entlassen ins Nichts. Reportagen über die Arbeitslosigkeit 1918 bis heute. Ein Lesebuch, Berlin/Bonn 1983; wieder abgedruckt in: Menze, Holger/Gerstenkorn, Petra/Achten, Udo (Hrsg.): Recht auf Arbeit – Recht auf Faulheit, Düsseldorf 2007. Die hier und im Folgenden aufgeführten Zitate stammen aus dem Wiederabdruck in Das Argument, hier S. 49. 5

Seghers: „Der Vertrauensposten. Entwurf“, in: Argonautenschiff, S. 87f., hier S. 87.

6

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 49.

7

Unter diesem Titel erschienene Zuschrift eines Arbeitskollegen der/des Einsmann, in: Mainzer Volkszeitung, 20. August 1931, zit. n. Stephan: „Wiedergefundene Erzählung “, S. 113, Anm. 27.

8

Vgl. den Artikel: „Mehrere Jahre in Männerkleidung durchs Leben geschlagen. Maria Einsmann, eine tapfere Frau“, in: Mainzer Volkszeitung, 22. August 1932, zit. n. Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 117.

9

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 51f.

10

Seghers: „Der sogenannte Rendel“ [1940], in: Argonautenschiff, S. 92–107, hier S. 92.

11

Brecht: [Die unwürdige Greisin], in: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 18, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin/Frankfurt a. M. 1995, S. 427–432, hier S. 428f.

12

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 92.

13

Dies und das Folgende: Wolf, Christa: Nachdenken über Christa T. [1968], Frankfurt a. M. 2007, S. 79.

14

Beckett: Endspiel, S. 73.

15

„Frau Einsmann macht Pläne“, in: Frankfurter Zeitung, 26. August 1931, zit. n. Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 112.

16

Vgl. Manfred Karges Theatermonolog Jacke wie Hose, in: Ders.: Die Eroberung des Südpols. Sieben Stücke, Berlin 1996, S. 9–33, in dem es um eine Frau geht, die zur Zeit der Massenarbeitslosigkeit, dann in der Nazizeit und während des nachfolgenden Wirtschaftswunders die Rolle und Arbeit ihres verunglückten Mannes übernimmt und den Karge selbst als „Märchen, in dem sich deutsche Geschichte widerspiegelt“, beschreibt. Vgl. www.viennale.at/de/film/man-man (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017).

17

Brecht: [Der gute Mensch von Sezuan], in: GBA Bd. 6, S. 175–281, hier S. 179.

18

Beckett: Endspiel, S. 71.

19

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 49.

20

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 92.

21

Brecht: [Flüchtlingsgespräche] (1940/41), in: GBA Bd. 18, S. 195–327, hier S. 197.

22

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 98.

23

Brecht: Der gute Mensch, S. 184.

24

Vgl. Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 111.

25

Loreck, Hanne: „Performing Show and Tell“, in: Comani, Daniela: Eine glückliche Ehe. Katalog, Goldrausch Künstlerinnenprojekt art IT, Berlin 2005. www.danielacomani.net/a.loreck.html (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017).

26

Das Folgende orientiert sich am „Antrag auf Personenstandsänderung“, aufzurufen unter: www.transsexuelleheidelberg.de/docs/antrag_Paragraph8.pdf (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017).

27

Vgl. „Maria Einsmann, eine tapfere Frau“, zit. n. Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 120f.

28

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 49.

29

Aus dem Jahr 1933.

30

Auch aus dem Jahr 1933.

31

Aus dem Jahr 1940.

32

Seghers: Hier gibt’s keine Katharina. Typoskript des gleichnamigen Filmdrehbuchs, auf das u. a. Stephan hinweist, in: Ders.: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 113, Anm. 15.

33

Vgl. den DDR-Film Tod und Auferstehung des Wilhelm Hausmann, Regie: Christa Mühl, Buch: Dies./Werner Hecht, 1977.

34

Vgl. Seghers: Keine Zeit für Tränen, S. 82, zit. und kommentiert bei Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 111: „erscheint nach Art von Brechts Schrifttafeln“.

35

„Maria Einsmann, eine tapfere Frau“, zit. n. Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 117f.

36

Vgl. den Artikel „Mehrere Jahre in Männerkleidung durchs Leben geschlagen“, in: Mainzer Volkszeitung, 22. August 1932, abgedruckt in: Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 117–122.

37

Dieser Aphorismus entstammt einer älteren Version der Homepage zu Barbara Trottnows Film Katharina oder: Die Kunst Arbeit zu finden aus dem Jahr 1995, basierend auf dem lange verschollenen Drehbuch von Anna Seghers. 2012 war die Homepage noch aufzurufen unter: www.bt-medienproduktion.de/katharina3.htm. Die aktuelle Homepage: www.btmedienproduktion.de/de/katharina.html (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017).

38

Beckett: [… but the clouds … A play for television / … nur noch Gewölk … Fernsehspiel], in: Ders.: Stücke und Bruchstücke, deutsche Übersetzung von Erika und Ulrich Tophoeven, Frankfurt a. M. 1978, S. 107–119, hier S. 113.

39

Seghers: „Der Vertrauensposten“, S. 90.

40

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 94.

41

Seghers: „Der Vertrauensposten“, S. 91.

42

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 96.

43

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 52.

44

Ebd., S. 51.

45

Ebd.

46

Loreck: „Performing Show and Tell“.

47

Seghers: „Der Vertrauensposten. Entwurf“, S. 87f.

48

Beckett: Gewölk, S. 111 bzw. 113.

49

Beide Zitate: „Maria Einsmann, eine tapfere Frau“, zit. n. Stephan: Anna Seghers im Exil, S. 120f.

50

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 51.

51

Ebd., S. 52.

52

Brecht: „Das Aufgeben des Geschlechts“, in: GBA Bd. 21, S. 539f., hier S. 539. Hervorhebungen im Original.

53

Im Pressetext zu der von Jonathan Pouthier kuratierten Ausstellung Abweichung in der Galerie Koch Oberhuber Wolf

2011 in Berlin heißt es: „Seine Ausstellung soll uns animieren, unser eigenes ‚moralisches Unternehmertum‘ in Frage zu stellen.“ www.kow-berlin.info/news/2011_bh_potsdam (Letzter Zugriff: 31. Dezember 2017). Die damalige Ausstellung versammelte Video- und Filmpositionen über das Abweichen, Abweichler und unsere Vorstellung von Außenseitern von Joelle de la Casiniere, Barbara Hammer, Buster Keaton und Edward F. Cline, Len Lye, Jack Smith und Citizens for Decent Literature. 54

Karl Brecht, der Onkel Bertolt Brechts, zu „Die unwürdige Greisin“, zit. n. Wedel, Ute: Die Rolle der Frau bei Brecht, Frankfurt a. M. u. a. 1983, S. 166f., hier S. 167, Anm. 21.

55

Brecht: „Die unwürdige Greisin“, S. 430.

56

Ebd., S. 428f.

57

Beckett: Endspiel, S. 85.

58

Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 111.

59

Seghers: „Der Vertrauensposten“, S. 91.

60

Seghers: „Der sogenannte Rendel“, S. 107.

61

Zitate aus Frankfurter Nachrichten, 21. August 1932, zit. n. Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 112.

62

Brecht: „Der Arbeitsplatz“, S. 52.

63

Beckett: Endspiel, S. 97.

64

Stephan: „Wiedergefundene Erzählung“, S. 112.

65

Seghers: „Der Vertrauensposten. Entwurf“, S. 88.

RESONANZEN

Chikako Kitagawa

DIE ÄSTHETIK DER LÜCKE Resonanzen des Nô-Theaters im Musiktheater Toshio Hosokawas

Der Gestus des Raum-Lassens In seinem Text Über die Malerei der Chinesen1 von 1935 thematisiert Bertolt Brecht wesentliche Aspekte ostasiatischer Ästhetik, insbesondere die gestaltbildenden Potentiale der Lücke. Ausgehend von der traditionellen chinesischen Malkunst spricht Brecht die Möglichkeit einer zwanglosen Ordnung an; was in dieser Malerei zur Darstellung gelangt, erscheint gleichsam nicht „zugerichtet“, sondern vielmehr frei-gelassen. Statt eine „völlige Unterwerfung des Beschauers“2 anzustreben, erlaubt eine solche Kunst die Wahrung von Distanz und zugleich – in der Imagination des Ungemalten – eine Haltung aktiver Teilhabe. Über die explizit dargestellten Strukturen hinaus gewinnt der Raum selber, als ein Dazwischen, Gestaltqualität, was spannungsreiche Bezüge zwischen Gegenstand und Leere, zwischen An- und Abwesenheit erzeugt. Ebenso bedeutsam ist, dass die stoffliche Materialität der Leinwand – als der Grund der Darstellung – zum integralen Moment der Kunsterfahrung wird: Der chinesischen Komposition fehlt ein uns ganz und gar gewohntes Moment des Zwanges. Diese Ordnung kostet keine Gewalt. Die Blätter erhalten viel Freiheit. Das Auge kann auf Entdeckungen ausgehen. […] Die chinesischen Künstler haben auch viel Platz auf ihrem Papier. Einige Teile der Fläche scheinen unbenutzt; diese Teile spielen aber eine große Rolle in der Komposition; sie scheinen ihrem Umfang und ihrer Form nach ebenso sorgfältig entworfen wie die Umrisse der Gegenstände. In diesen Lücken tritt das Papier selber oder die Leinwand als ein ganz bestimmter Wert hervor3. Was Brecht als spezifische Qualität an chinesischer Malerei wahrnahm, berührt zentrale Momente der traditionellen japanischen Ästhetik. Diese Ästhetik, die in gewisser Weise eine Radikalisierung bildet – in Richtung einer Reduktion –, wird im japanischen Kulturraum übergreifend wirksam: nicht nur in der Malerei, sondern ebenso in anderen Künsten wie der Kalligraphie, dem Ikebana, der Haiku-Dichtung oder dem Nô-Theater.4 Es kam zu einem Transfer chinesischer Darstellungsformen, welche indes im Prozess geschichtlicher Aneignung zugleich eine Verwandlung erfuhren. Das verdeutlicht, wie schon innerhalb des ostasiatischen Kulturraums ein transkulturelles Phänomen – das Widerspiel von Fremdem und Eigenem – gestaltbildend wirken kann.

Die Ästhetik des ma Der Ausdruck ma ist ein Schlüsselwort japanischer Ästhetik. Im Begriffsfeld von Lücke und Leerstelle verortet, sucht er jenes sich unmittelbarer Darstellung entziehende Dazwischen begrifflich zu fassen. Gleichwohl bedeutet ma nicht völlige Leere oder gar einen Mangel, sondern vielmehr einen imaginären Raum, worin etwas zur Erscheinung gebracht werden kann; zu öffnen vermag sich ein solcher Raum gerade gegenüber dem Fremden.5 Existentielle Bedeutung wächst dem ma zu, indem es einen – Verbindung schaffenden – Zwischenraum von Tod und Leben, Traum und Wirklichkeit, Natur und Mensch bezeichnet.6 Ebenso verknüpft sich dieser Begriff mit einer spezifischen Vorstellung von Zeit. So weist Masakazu Nakai darauf hin, dass das ma eine Zeitvorstellung impliziert, die der mit der Uhr gemessenen, objektiven Zeit ein Anderes gegenüberstellt – eine lebendige, im erfüllten Augenblick sich verdichtende Zeit: [Im ma] wird der Zeitfluss stillgestellt. Die Zeit wird aus ihrem Kontinuum herausgeschnitten, „fortgeworfen“, sie erfährt eine Metamorphose und wird gleichsam neu geboren, sie selber lebt. Die Zeit, die im Nô-Theater durch einen Trommelschlag geschaffen wird, dieses ma bildet einen Einschnitt in die verfließende Zeit und generiert dadurch einen Resonanzraum, in dem das Leben bewusst gemacht werden kann7. Exemplarisch vergegenwärtigt sich die Vorstellung des ma in der Haiku-Dichtung. Eine spezifische Haltung kennzeichnet sowohl den Dichter als auch den Leser. Gerade das NichtZeigen, das Unvollständig-Lassen wird geschätzt, mit den Worten des bedeutenden HaikuDichters Bashô: „Wenn alles ausgesprochen ist, was bleibt dann?“8 Gefordert ist daher eine entsprechende Wahrnehmung: Es gilt zu spüren und zu imaginieren, was in die Lücken des Textes eingesenkt erscheint; diesen ist ein Verweisungscharakter zu eigen. So wird etwa die Erfahrung der Natur in äußerst knapper, nur angedeuteter Form zur Sprache gebracht, beispielhaft etwa in folgendem Haiku Bashôs: sizukasa ya iwa ni shimi iru semi no koe

Stille – in den Fels dringt ein das Sirren der Zikaden

Eine derart „verdichtete“ Gestaltgebung ist gerade auch für bestimmte Tendenzen in der gegenwärtigen Kunst Asiens und Europas modellhaft geworden.9 So betont der japanische Komponist Toshio Hosokawa (* 1955) – aus der Sicht des Musikers, der primär von seiner Hörerfahrung ausgeht – die im Gedicht sich artikulierende Paradoxie: dass ein vordergründig lautes Geschehen der Stille zugeordnet erscheint. Die Stimmen der Zikaden werden gemäß seiner Lesart zu einem universalen Geschehen, sie erschallen gleichsam über die ganze Erde

hin, sie sind, so Hosokawa, der „Klang der Welt“10. Das verweise auf eine gewandelte Perspektive. Stille sei dasjenige, was alles Erklingende noch umhülle. Das Wort Stille hat für Hosokawa darüber hinaus Erinnerungscharakter, indem es die Landschaft seiner Kindheit evoziert; die Stimmen der Zikaden erlangen für ihn geradezu den Charakter mythischer Ferne, was sich wiederum mit der Imagination von Stille verknüpfen kann.11 Diese Vorstellungswelt bildet gewissermaßen den ständigen Bezugsrahmen für Hosokawas Komponieren. Zeami (1363–1443), einer der Begründer des Nô-Theaters, hat die Intention dieser Kunstform in folgende Formel gefasst: „Gerade die Zeitstelle, wo man nichts tut (senu hima), übt Anziehungskraft aus“12. Zum wesentlichen Moment der Darstellung wird die spannungsgeladene Konstellation von Aktion und Nicht-Aktion, eben jener Zwischenraum, den der Ausdruck ma bezeichnet. Nicht-Aktion meint hierbei nicht Passivität, sondern vielmehr ein In-sich-Gesammeltsein, das gleichzeitig den Bezug auf Früheres und Künftiges in sich birgt und gerade dadurch, im Widerspiel von Erinnerung und Erwartung, Intensität gewinnt. Der Regisseur Jerzy Grotowski (1933–1999) spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Gewalt des Bremsens“13. Als Geschehen der Unterbrechung gibt das ma nicht auszumessenden Emotionen Raum, so dass einerseits Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, andererseits solche des Tanzes oder des Gesangs transzendiert werden können.14 Eine derartige Intensität zeigt sich exemplarisch im Nô-Spiel Dôjô-ji (Dôjô-Tempel). Wenn die Hauptfigur, ein weiblicher Geist, an einem dramaturgischen Wendepunkt den Tanz RanByôshi aufführt (was so viel wie „irregulärer Rhythmus“ heißt), macht sie nur winzige, fast unmerkliche, äußerst langsame und subtile Fußbewegungen. Gegliedert wird diese Schrittfolge durch punktuelle Schläge sowie durch einzelne, zum Schrei hin tendierende Lautäußerungen des Trommelspielers.15 Vermöge einer derart gebannten, quasi zurückgedrängten Spannung artikuliert sich nach Nakai ein „Abbrechen des kontinuierlichen Zeitverlaufs“, was auf die Idee des ma hindeutet.16 Vorstellungen, wie sie im Konzept der Lücke gegenwärtig sind, wirken in der modernen Performancepraxis fort. So weist Eiichirô Hirata darauf hin, dass bestimmte Strategien der Abwesenheit, sozusagen der Nicht-Aktion, eine umfassende Körperwahrnehmung auf der Ebene der Rezeption erlauben. Gerade dann, wenn die körperliche Präsenz des jeweiligen Akteurs gewissermaßen stillgestellt ist – wenn der Tänzer „seinen Körper im gleichmäßigen und langsamen Rhythmus als Spur [zeigt]“17 –, eröffnet sich den Zuschauenden die Möglichkeit, selber in einem umfassenden Sinne zu spüren: ihre eigene Körperwahrnehmung zu aktivieren. Zur Rezeption in der europäischen Moderne Phänomene der Lücke – der Stille und der Stillstellung – sind im Zeichen tiefgreifender Reflexion ebenso in der europäischen Moderne bedeutsam geworden. Solche Phänomene zeigen sich etwa in den nach äußerster Reduktion strebenden theatralen Konzepten von Peter Brook oder Robert Wilson, aber auch in der Musik des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.

Das schlägt sich schon in Titelgebungen nieder wie z. B. Stille und Umkehr von Bernd Alois Zimmermann oder Fragmente – Stille, An Diotima, wie Luigi Nono sein wirkmächtiges Streichquartett von 1980 nannte. In dieser Komposition durchbricht nicht länger die Stille den Klang, vielmehr umgreift die Stille die einzelnen Klangereignisse. Ein solcher „Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille“18 bedeutet vordergründig eine radikal von Pausen durchbrochene musikalische Faktur, einen Rückzug ins extrem Leise. Umfassender aber kann der Begriff der Stille als wesentlich relational aufgefasst werden: im Sinne einer Musik, die beständig auf die Stille bezogen ist, aus dem Schweigen erwächst und in dieses zurückkehrt, sozusagen eine klanggewordene Stille darstellt.19 Und in diesem umfassenden Sinne bildet Stille eine kompositorische Leitvorstellung Hosokawas; selbst dramatisch sich zuspitzende, eruptive und intensitätsgeladene Prozessphasen seiner Musik verwirklichen sich auf einer untergründig stets präsenten Folie von Stille und Schweigen. Hosokawas Musiktheater Im Musiktheater Toshio Hosokawas spielen Phänomene des ma eine zentrale Rolle. Seine Ausführungen hierüber zeigen eine erstaunliche Nähe zu den eingangs zitierten Bemerkungen Brechts und stellen zugleich einen Bezug zur Tradition des Zen her: [D]as Schweigen [besitzt] die gleiche Kraft wie der Klang. Möglicherweise ist Komponieren eine Handlung, die man ausführt, um die Intensität des Schweigens zu vertiefen und nicht die Intensität der Klänge. Genauso wie die unbemalte, also leere weiße Fläche in der Kalligraphie von großer Bedeutung ist, ist es in der Musik der leere weiße Raum, der – vom Verständnis des Zen aus gesehen – zugleich die Fülle der Natur in sich enthält.20 Beispielhaft zeigt sich diese kompositorische Haltung in Hosokawas Musiktheater Matsukaze aus dem Jahr 2011. Das Sujet geht auf ein traditionelles Nô-Spiel von Zeami zurück, das der Gattung des Phantastischen Nô respektive des Traum-Nô (Mugen-Nô) angehört.21 Die inhaltliche Situation sei kurz skizziert: Vor langer Zeit liebten die Schwestern Matsukaze und Murasame einen Prinzen, der sie jedoch verließ und in der Ferne starb. Deswegen irren sie nun als unerlöste Geistwesen – zwischen den Sphären von Tod und Leben – immer um den Ort des Geschehens herum. Entfaltet wird so ein Topos der Nô-TheaterDichtung: dass Geister, häufig weiblichen Geschlechts, aufgrund traumatischer Erfahrungen nicht erlöst werden können. Wie aber verknüpft sich das erste Erscheinen der beiden Schwestern mit den Phänomenen von Stille und Stillstellung? Imaginiert wird der Prozess einer Klangwerdung aus dem Bezirk des Unhörbaren heraus. Diesem Vorgang ist die Vorstellung des Fließenden eingeschrieben. Hintergründig ertönt etwas ganz Elementares, gleichsam Vor-Musikalisches: Wellengeräusche, die vom Tonband eingespielt werden. Gleichzeitig blendet das Orchester – äußerst leise und

lang gedehnt – einen Quintklang ein (es1/b1). Der synchrone, sozusagen in eins gesetzte Zwiegesang der Schwestern übernimmt dieses elementare, der Naturtonreihe quasi abgelauschte musikalische Intervall, um es in chromatisch kreisender Bewegung behutsam zu entfalten. Evoziert wird hierdurch die Sphäre des Archaischen, ja des Überzeitlichen. Diesem statischen, nur in sich fluktuierenden Klangbild entsprechen zarte Schwebungen, die im Zusammenspiel von Orchester- und Frauenstimmen entstehen (Notenbeispiel 1)22. Sinnfällig gemacht wird dadurch jener schwebende Status zwischen Tod und Leben, oder anders: ein Gestus des Wartens, der einen Topos der Nô-Theater-Dichtung darstellt. Das deutet sich schon im Namen der Protagonistin an; denn das Wort „Matsukaze“ enthält den Bestandteil „Matsu“, welcher nicht nur „Kiefernbaum“ bedeutet, sondern ebenso das „Warten“ bezeichnet.23

Notenbeispiel 1: Toshio Hosokawa: Matsukaze, 2. Szene, Klavierauszug. © 2010 SCHOTT MUSIC CO., LTD., TOKYO

In Sasha Waltz’ Inszenierung von Matzukaze24 wird dieser Gestus dahingehend radikalisiert, dass die beiden Schwestern in einem den Bühnenvordergrund beherrschenden Netz sich gleichsam einspinnen (Bühnenbild: Chiharu Shiota). Das erscheint – in Korrespondenz zur Musik – als Metapher des ausweglos In-sich-Kreisenden, des Gefangenseins. Von fern erinnert dies ebenso an jenen Topos des Spinnens, der in der europäischen Tradition immer wieder der Darstellung des Wartens beigesellt ist; beispielhaft genannt seien die von den Freiern bedrängte, ihnen mit List widerstehende Penelope in Homers Odyssee, die Szene „Gretchens Stube“ in Goethes Faust I, die Spinnerinnen in Wagners Fliegendem Holländer oder die Nornen im Ring des Nibelungen. Im Zustand des Wartens erscheint die Zeit angehalten, genauer: In diesem Status des Dazwischen können sich – im dichten Geflecht von Erinnern und Erwarten – verschiedene Zeitebenen ineinander verschlingen. Im äußerlich Ereignislosen eröffnet sich gleichzeitig ein innerer Raum, worin sich die emotionale Befindlichkeit der Schwestern – ihre Trauer, Klage und Sehnsucht – musikalisch subtil vergegenwärtigen kann. Und ähnlich dem „Bremsen“ von Aktion in modernen Performances ermöglicht gerade die Zurückgenommenheit des Erklingenden eine gesteigerte Aktivität seitens des Rezipienten: hin zu einer umfassenden Sensibilisierung seiner Wahrnehmung25. So korrespondiert Hosokawas Komponieren der maÄsthetik und nimmt als klangorientiertes, posttonales zugleich die Erfahrung Neuer Musik in sich hinein. In der Inszenierung von Sasha Waltz kulminiert das Bühnengeschehen schließlich darin, dass Matsukaze, indem sie sich mehr und mehr mit dem Prinzen identifiziert, in Wahnsinn gerät und einen ekstatischen Tanz mit dem Traumbild des Prinzen vollführt, so dass sich ihr Warten – wie auch immer imaginativ – erfüllt. Das Phänomen der Lücke konkretisiert sich nun in ganz anderer Weise als zuvor. Die Wortsprache ist im Geschehen des Tanzes preisgegeben, facettenreich verwirklicht sich hingegen – als ein klanglicher Eigenwert – das Moment des Geräuschhaften. Im Hintergrund erfolgt wiederum eine Evokation von „Natur“, indem zarte Geigenglissandi die Vorstellung von Windgeräuschen erwecken; indirekter wird das Wehen des Windes durch die Verwendung japanischer Windglocken (Fûrin) imaginiert; sie geben gleichsam Resonanzen, denn im Freien erklingen sie immer dann, wenn der Wind durch sie hindurchfährt. Den Vordergrund des Klangbilds bestimmen eine solistische Flöte und Schlaginstrumente, wobei die Musik den Charakter spannungsreicher Diskontinuität annimmt. Deutlicher noch zeigt sich nun ein Bezug zum Nô-Theater, indem Schlagzeugakzente (ähnlich wie im traditionellen Nô-Spiel Dôjô-ji) das Zeitkontinuum gleichsam zerschneiden, um dadurch wiederum Lücken – Momente des Zeitenthobenen – zu generieren. Die Gestaltung der Flötenstimme gemahnt an die ostasiatische Tradition, indem langgehaltene Einzeltöne durch differenzierte Ein- und Ausschwingvorgänge verlebendigt werden. Über Dynamik- und Registerkontraste hinaus weitet sich das klangliche Spektrum

durch die Einbeziehung von Atemgeräuschen. Die Schlagzeugakzente und -figuren durchbrechen das Flötenspiel, wobei gerade die heftigen Akzente die Stille dazwischen – die gesteigerte Intensität einer „Jetztzeit“ – spüren lassen (Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 2: Toshio Hosokawa: Matsukaze, 4. Szene, Klavierauszug. © 2010 SCHOTT MUSIC CO., LTD., TOKYO

Die der ma-Ästhetik innewohnende Vorstellung eines freigesetzten Jetzt erläutert Keiji Nishitani im Hinblick auf die Kunst des Ikebana, eine Kunst, die zugleich in der kompositorischen Ästhetik Hosokawas eine wichtige Referenz bildet.26 Im Ikebana ermöglicht der Akt des Schneidens, so Nishitani, etwas sonst Verborgenes und Ungreifbares zur Darstellung zu bringen: eine Leere, welche Gegenwart als solche – herausgeschnitten aus der verfließenden Zeit – hervorbringe und hierdurch etwas wie Ewigkeit in der Zeit ahnen lasse. Flüchtigkeit und Zeitenthobensein gelangen paradoxal zum Einstand: Durch den Akt des Schneidens wird die „Leere“, die im Grunde der Existenz von Blumen und Sträuchern verborgen ist, eröffnet und manifest; somit werden Blumen und Sträucher, als existierend in der „Leere“, zur provisorischen Erscheinung der Ewigkeit inmitten der Zeit. Die potenzierte Flüchtigkeit ist gleichzeitig die provisorische Erscheinung der „Ewigkeit“. Die Endlichkeit wird dadurch, daß sie ihre eigene Endlichkeit von Grund auf zeigt, zu einem Symbol der „Ewigkeit“. Dadurch daß die „Zeit“ wirklich zur „Zeit“ wird, drückt sie den Augenblick aus, der Werden und Vergehen überstiegen hat.27 Was aber die akustische Dimension des ma betrifft, so wirkt das Geräuschhafte – auf der Aufführungsebene von Matsukaze – in der Darstellung der Tänzer fort. Ihr Atem, ihre Schritte, die Friktionen ihrer Kleider sowie ihre Körperkontakte bilden keine akustischen Störfaktoren, sondern sind der theatralen Konzeption inhärent. Die Lücke ist ein Raum, in dem diese flüchtigen Phänomene hörend erfahren werden können: im Sinne von vielfachen Geräuschschattierungen, die sich in der Lebenswelt moderner Industriegesellschaften potentiell der Wahrnehmung entziehen. Hineingenommen in einen gegenwärtigen Erfahrungs- und Reflexionshorizont, können Evokationen des ma eine kritisch-subversive Funktion erfüllen: Sie gewähren der Rezeption Freiräume und schärfen die Wahrnehmung. Insbesondere dann, wenn nicht nur das Moment des Subjektiven, sondern ebenso die Welt als „Naturraum“28 zum Klingen gebracht wird – als jenes „Nichtidentische“29 im Sinne Adornos –, kann sich Erfahrung verwandeln. Um dies zu ermöglichen, greift Hosokawa auf das traditionelle japanische Theater sowie auf die überkommene Dichtung und Musik zurück – mithin auf Gestaltungsformen, die in Japan selbst inzwischen fremd geworden sind. Dass die Lücke im Sinne jenes ma immer mehr verschwindet, dass das Schweigen und die Stille sich unmittelbarer Erfahrung geradezu entziehen, bezeichnet ein globales, auch die japanische Kultur betreffendes Phänomen. Hosokawas Musiktheater eröffnet so in spezifischer Weise die Frage der Transkulturalität, d. h. die Frage, wie einem das Fremde – gerade auch „im Inneren der vermeintlich eigenen

[Kultur]“30 – begegnen kann. 1

Brecht, Bertolt: „Über die Malerei der Chinesen“, in: Ders.: Schriften 2 [= Schriften 1933–1942, Teil I], Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1993, S. 133f., hier S. 134.

2

Ebd.

3

Ebd.

4

Vgl. Minami, Hiroshi: Ma no Kenkyû – Nihonjin no Bitekihyôgen (Studien über „ma“ – Ästhetische Darstellungen der Japaner), Tokyo 1983. Die Tendenz, die japanische Ästhetik und das damit verbundene Denken als ganz und gar japanspezifisch zu begreifen, ist ein im geschichtlichen Prozess immer wieder hervortretendes Phänomen. Im gegenwärtigen Diskurs erscheint diese Sicht indes in Frage gestellt, denn sie birgt die Gefahr einer Engführung im Sinne einer sich einkapselnden Nationalkultur. Vgl. auch Akinami, Takashi: „Introduction to New Understanding of ‚ Ma‘“, in: Journal of the Faculty of International Studies Bunkyo University Vol. 4 (1994), S. 1–13.

5

Kenmochi, Takehiko: „Ma“ no Nihon Bunka (Die japanische Kultur des „ma“), Tokyo 1992, S. 39. Aufgrund seiner Vieldeutigkeit ist der Ausdruck ma schwer zu übersetzen. Er beinhaltet Bedeutungen wie „space, an interval, a pause, time, while, leisure, spare time, luck, chance, timing“. Die Idee des ma umfasst vor allem Raum- und Zeit-Dimensionen, die im japanischen Denken untrennbar zusammengehören (ebd., S. 50). Die Schriftzeichen von Zeit und Raum enthalten jeweils das gleiche Symbol „ “, das auch das Wort ma bezeichnet.

6

Vgl. ebd., S. 64, 197–205.

7

Nakai, Masakazu: Bigaku Nyûmon (Einführung in die Ästhetik) [= Asahi Sensho Vol. 32], Tokyo 1975, S. 192f.

8

Mukai, Kyorai: „Kyorai sho“, in: Okuda, Isao/Omote, Akira (Hrsg.): Renka Ronshû, Nôgaku Ronshû, Haiku Ronshû [= Shinpen Nihon Kotenbungaku Zenshû Vol. 88], Tokyo 2001, S. 425–544, hier S. 446f. Der Verfasser Kyorai Mukai war ein Schüler Bashôs; von diesem selbst stammen die im Haupttext zitierten Sätze.

9

Für den europäischen Raum ist in diesem Zusammenhang die kompositorische Praxis Salvatore Sciarrinos exemplarisch. Nicht nur hat Sciarrino das genannte Haiku für sein Vokalwerk 12 Madrigali (2007) als eine Textgrundlage ausgewählt, vielmehr dringt die Tendenz zur Verknappung in das Komponieren selber ein, indem minimalistisch-repetitive Strukturen das Satzbild prägen.

10

Hosokawa, Toshio: „Aus der Tiefe der Erde. Musik und Natur“, in: Ders.: Stille und Klang, Schatten und Licht: Gespräche mit Walter-Wolfgang Sparrer, Hofheim 2012, S. 179–188, hier S. 181.

11

Ebd., S. 181ff.

12

Zeami: [Kakyô], in: Okuda/Omote (Hrsg.): Renka Ronshû, Nôgaku Ronshû, Haiku Ronshû, S. 293–336, hier S. 320f.

13

Suzuki, Tadashi: „Burêki no Bôryoku“ (Gewalt des Bremsens), in: Nô [= Bessatsu Taiyô. Nihon no Kokoro Vol. 25], Tokyo 1978, S. 180. Suzuki betitelt seinen Artikel nach einer Formulierung, die von Jerzy Grotowski stammt.

14

Vgl. Shinkai, Nagafusa: Zeami to Nô no Kokoro (Zeami und der Geist des Nô), Tokyo 1971, S. 22, 51.

15

Siehe hierzu: www.youtube.com/watch?v=adABdxmqkSc (letzter Zugriff am 14. Dezember 2017).

16

Nishiyama, Matsunosuke: „Ma no Bigaku Seiritsushi“ (Entstehungsgeschichte der ma-Ästhetik), in: Minami, Hiroshi (Hrsg.): „Ma“ no Kenkyû (Studien über „ma“), Tokyo 1983, S. 115–129, hier S. 118.

17

Hirata, Eiichirô: „Spüren der Spur: Zur Wahrnehmung des nicht-tanzenden Körpers“, in: The Geibun-Kenkyû: Journal of Arts and Letters Vol. 102 (2012), S. 236–257, hier S. 245.

18

Zenck, Martin: „Dal niente – Vom Verlöschen der Musik. Zum Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille in der Musik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts“, in: MusikTexte Vol. 55 (1994), S. 15–21, insbesondere S. 20f.

19

Vgl. Horst Huber, der von 1955 bis 1995 Solo-Pauker im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks war; er beantwortete meine Frage nach dem Verhältnis von Klang und Stille aus seiner langjährigen orchesterpraktischen Erfahrung heraus: „Jeder Komponist macht die Erfahrung, dass Stille nicht dadurch erzeugt wird, dass man tatsächlich alle Instrumente schweigen lässt, weil dann die Saalgeräusche, nicht zuletzt des Publikums, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken […]. Die Wahrnehmung des Zuhörers wird quasi auf sich selbst und damit von der Stille abgelenkt. Wenn ein Komponist die Wirkung von Stille erzeugen möchte, muss er die Ursache für diese ästhetisch übersetzen, das heißt, ein komponiertes Symbol oder Zeichen dafür finden; dies ist am besten möglich durch den leisen Gebrauch von für sich genommen voluminösen Instrumenten, etwa der Pauke, aber auch der Großen Trommel oder klangmächtiger Blechbläser. Das Ohr hat dann einen Referenzpunkt für die Stille, so dass dialektisch gerade durch das Erklingen eines leisen Ereignisses, nicht jedoch durch tatsächliche, quasi wörtlich genommene Stille eben diese erzeugt wird.“ Aus einer E-Mail Hubers vom 27. Februar 2012 an die Verfasserin.

20

Hosokawa: Stille und Klang, Schatten und Licht, S. 109.

21

Zur Gattung des „Phantastischen Nô“ bzw. des „Traum-Nô“ siehe Shôzô, Masuda: Nô no Hyôgen. Sono Gyakusetsu no Bigaku (Darstellung des Nô-Theaters – dessen paradoxe Ästhetik), Tokyo 1983, S. 58–64.

22

Den beiden Notenbeispielen liegt aus Platzgründen der Klavierauszug von Matsukaze zugrunde; die Partitur ist bei Schott als Leihmaterial erhältlich. Eine DVD ihrer Matsukaze-Produktion von 2011 hat mir freundlicherweise die Staatsoper Berlin zur Verfügung gestellt, wofür ich mich sehr herzlich bedanke.

23

Vgl. Tsuchiya, Keiichirô: Nô, Dorama ga Tachiarawareru Toki (Nô-Theater: der Moment, in dem das Drama entsteht), Tokyo 2014, S. 156.

24

Diese Inszenierung wurde am 3. Mai 2011 im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie uraufgeführt und zwar in Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Luxembourg, der Staatsoper Unter den Linden (Berlin) und dem Teatr Wielki (Warschau).

25

Vgl. Hosokawa, Toshio: Landschaft der Seele, Tokyo 1997, S. 199, 203.

26

Vgl. ders.: „Schöne Flüchtigkeit des Vergehenden – Mozart als grenzüberschreitende Resonanz“, aus dem Japanischen von Chikako Kitagawa, in: neue musikzeitung, nmz Magazin 7/8 (2015), S. 3: „In Japan gibt es bekanntlich die Blumenkunst ‚Ikebana‘. Da gestaltet man Blumen in einem bestimmten Raum des Hauses und stellt sie aus, doch entfaltet sich darin zugleich eine spezifische Weltsicht, die sich abhebt von den Blumenarrangements in Europa. […] Im Ikebana wird die Blume als etwas aufgefasst, das von den Feldern abgeschnitten ist und hineingenommen in den Raum, in dem die Menschen leben. Diese Blumen atmeten in der Erde, aber ihr ‚Leben‘ ist nun abgeschnitten. Sie leben nicht mehr, im Hintergrund ist der Tod da. Und indem man den letzten Schimmer ihres Lebens im Raum spürbar werden lässt, tritt der Wert des Lebens – das Wirken- und Standhaltenkönnen – um so deutlicher hervor. […] Dabei ist es sehr wichtig, wo man diese Blumen platziert: Der Hintergrund wird zum wesentlichen Moment der Gestaltung.“ www.nmz.de/artikel/schoenefluechtigkeit-des-vergehenden (letzter Zugriff am 14. Dezember 2017).

27

Nishitani, Keiji: „Über Ikebana“ (1953), aus dem Japanischen von Rolf Eberfeld, in: Philosophisches Jahrbuch, Freiburg/München 2/98 (1991), S. 314–320, hier S. 318. Den Titel habe ich gemäß dem japanischen Original wörtlich übersetzt.

28

Wellmer, Albrecht: „Adorno, die Moderne und das Erhabene“, in: Ders.: Endspiele: Die unversöhnliche Moderne. Essays und Vorträge, Frankfurt a. M. 1993, S. 178–203, hier S. 202.

29

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7, hrsg. v. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 114.

30

Heeg, Günther: „Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwissenschaft in Zeiten der Globalisierung“, in: Baumbach, Gerda et al. (Hrsg.): Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen (= Recherchen 117), Berlin 2014, S. 150–163, hier S. 154.

Eiichiro Hirata

SCHATTENDRAMATURGIE Ein Phänomen bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater

Doppelstruktur des epischen Theaters Brechts Theater scheint in mancher Hinsicht konventionell geworden zu sein. Diesen Befund kann man auch in einem Land wie Japan nicht vermeiden, wo die Brecht-Rezeption eine eigene Geschichte hat und seine Stücke auch heute nicht selten aufgeführt werden. Die Dreigroschenoper oder Mutter Courage etwa werden mit aktuellen Kriegen oder mit der globalen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht und so inszeniert; aber sie basieren auf dem Konzept eines traditionellen politischen Theaters, das mit einer klaren Botschaft an die Zuschauer appellieren will.1 Mit einer derart eindeutigen Haltung würde man heute die reale politische Situation, die oft asymmetrische, differenzierte und daher komplexe Konstellationen umfasst, eher verkennen. Stattdessen sollte man Brechts Stücke von ungewohnten Seiten her lesen und so eine andere Haltung zum sehr veränderten Gesellschaftszustand herausarbeiten, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Dazu sollte man die mit dem Brecht-Theater so fest verbundenen Merkmale wie „episch“ oder „Parabel“ hinterfragen oder einklammern und mit der so gewonnenen Offenheit seine Stücke neu lesen. Eine solche Lesart nennt Günther Heeg „Schattendramaturgie“. Er plädiert dafür, die offizielle Dramaturgie der späteren Stücke Brechts, die oft eindeutige Bezüge zur gesellschaftlichen Situation im Nationalsozialismus tragen, aufzubrechen, um so einen Spielraum für neue Möglichkeiten von Brechts Theater zu schaffen.2 So kann man beispielsweise Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, die Parabel, die Hitlers Aufstieg im Kontext der lateinamerikanischen Gutsherrschaft veranschaulicht, nicht nur als Ausdruck „deutscher Zustände“, sondern auch im Sinn einer historischen Konstellation zwischen Europa und Lateinamerika betrachten. In dieser Konstellation wird der Blick frei für Bezüge auf die historische Verschlungenheit Lateinamerikas, auf den Nationalsozialismus, aber auch auf Shakespeares Stück Maß für Maß, das Brecht dazu ursprünglich hatte bearbeiten wollen. Mit diesem Ansatz wird die Parabel, die die offizielle Dramaturgie in Brechts Stücken ausmacht, von einer ganz anderen Lesart überschattet und gründlich in Frage gestellt. Daraus ergibt sich, dass seine späteren Stücke eine widersprüchliche Doppelstruktur aufweisen: Sie gelten offiziell als Parabeln, tragen aber noch andere Elemente in sich, die jene Parabel aufbrechen und so neue Konstellationen und Lesarten eröffnen können. Mit Blick auf diese Doppelstruktur lassen sich Brechts epische Stücke neu lesen und zeigen dann ganz andere Aspekte. Die Doppelstruktur im epischen Theater beruht auf einer

Maßlosigkeit der Figuren, die einerseits gerade die Handlung in Gang bringt, sie andererseits aber auch als einen brüchigen Rahmen der Dramenstruktur entlarven kann. Auf diese Weise wird die Linearität der Parabel und der „offiziellen“ Dramaturgie im epischen Theater unterbrochen, die über die unüberschaubare Komplexität der globalen Gesellschaft eher hinwegtäuscht. Im vorliegenden Text möchte ich zunächst die maßlosen Figuren im epischen Theater in Augenschein nehmen. Eine radikal maßlose Tendenz findet sich aber auch, wie ich im zweiten Schritt zeigen möchte, bei den weiblichen Figuren in den Bunraku- und Kabuki-Stücken Japans, die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert verfasst und aufgeführt wurden. Der Vergleich mit dem traditionellen japanischen Theater, das in seiner „Maßlosigkeit“ weitergeht als Brecht, wird die Möglichkeit einer alternativen Lesart bestätigen, nach der die maßlosen Figuren im epischen Theater Widerstand gegen die Grenzen der Parabel selbst leisten und über ihren Rahmen hinausgehen könnten. Maßlose Selbstöffnung Bekanntermaßen rückt in vielen Stücken Brechts, die gesellschaftliche Veränderungen zum Thema haben, immer wieder folgende Schwierigkeit in den Vordergrund: Die revolutionären Versuche der Figuren erscheinen im Verlauf des Stücks zunehmend als sinnlos und schädlich für die Gesellschaft. Beim Versuch, ihre revolutionären Aktivitäten weiter voranzutreiben, zeigen sich vermehrt Schwierigkeiten. Dabei scheint es so, als liefe alles auf eine nahezu entlarvende Situation hinaus: dass ihre Versuche nicht auf einem überzeugenden Handlungsmotiv, wie sozialer Gerechtigkeit basieren, sondern einem fast unerklärlichen Grund der Grundlosigkeit, der die Menschen (aus)schließlich zu einem überschreitenden Handeln treibt. Dieses ist – nach der Untersuchung Hans-Thies Lehmanns3 – vor allem erkennbar in der Figur A in Die Maßnahme, einem der kontroversesten Lehrstücke Brechts. A unterbricht die Ordnung eines revolutionären Partei-Kommandos nicht primär, weil er die Idee der Gerechtigkeit und der Moral in die Tat umsetzen will, sondern weil er die Menschen in Not, die er vor sich sieht, um jeden Preis retten will. Dieser maßlose Wille bringt ihn in Konflikt mit der Partei, die ihre Ordnung der revolutionären Aktivitäten nicht nach einer individuellen Entscheidung, sondern nach der kollektiven Beurteilung der gesellschaftlichen Lage bestimmen will. Die Maßnahme ist das Beispiel par excellence für die Maßlosigkeit eines individuellen Handelns, das dem Maß der Ordnung im vermeintlich allgemeinen Interesse konstruktiv widersprechen muss. Das radikal individuelle Handeln findet sich in den epischen Stücken auch in Figuren wie Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan, Grusche im Kaukasischen Kreidekreis oder Johanna Dark in Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Sie setzen sich für die Rettung der Armen und Unterdrückten ein, auch wenn sie damit jedes Maß, ihre Treue zu geliebten Menschen, ihren Kindern oder ihren Glauben verletzen. So will die Prostituierte Shen Te in Der gute Mensch von Sezuan ihren armen Nachbarn Unterkunft und Arbeit anbieten, um deren Leben zu sichern, obwohl ihr das wegen ihrer Schwangerschaft eigentlich

nicht möglich ist4. Die „einfache Magd“ Grusche im Kaukasischen Kreidekreis findet inmitten politischer Unruhen im Haus des hingerichteten Gouverneurs dessen alleingelassenes kleines Kind und flieht mit ihm durch das Land, wodurch sie die Liebe ihres Verlobten verliert5. Johanna Dark in Die heilige Johanna der Schlachthöfe kümmert sich aus ihrem christlichen Humanitarismus heraus um die Arbeitslosen der Stadt. Deren Notlage vor Augen gibt sie ihre bisherigen, „mäßigen“ Bemühungen auf und geht zu aktiven Hilfsaktionen über, indem sie direkt mit den Fleischindustriellen verhandelt und sich an Arbeiteraufständen beteiligt. In ihren Verhandlungen mit verschiedenen Interessengruppen und Personen macht sie sich Feinde und gerät selbst in einen Widerstreit der Interessen, der zu ihrem Tod führt.6 Allen diesen Figuren ist ein besonderes, maßloses Handeln gemeinsam: Sie öffnen sich gesellschaftlich den Anderen in überschreitender Weise. Mit dem Ausdruck „gesellschaftlich“ ist dabei gemeint, dass sie sich nicht einem Anderen, sondern den Anderen öffnen, die unterschiedliche Interessen haben. Shen Te, Grusche und Johanna werden nicht einfach von einer inneren Spaltung zwischen ihrer Liebe und ihrem Engagement für Kinder, Arbeitslose und Andere zerrissen, sondern auch von den unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Interessen der Anderen. Dabei wird eine gewisse Unbegründbarkeit der maßlosen Aktivitäten ersichtlich, wenn man sie mit alternativen Möglichkeiten konfrontiert: Shen Te müsste sich für ihre Nachbarn nicht so einsetzen, dass sie ihr eigenes Kindes gefährdet. Sie könnte sich sogar ausschließlich um ihr Kind kümmern. Grusche müsste nicht unbedingt das Kind des Gouverneurs retten und sich mit ihm auf eine derart lange Flucht begeben. Johanna müsste zur Verbesserung der Situation der unterdrückten Arbeiter nicht unbedingt allein und vehement mit den Fleischfabrikanten verhandeln, um schließlich ihre Position in der sozialen Organisation der „Schwarzen Strohhüte“ und gar ihr Leben zu verlieren. Stattdessen hätte sie gemeinsam mit den Mitarbeitern der Organisation den Zustand der Arbeiter Stück für Stück verbessern können. Trotz solcher Einwände, die ohne Weiteres auch den Figuren selbst hätten in den Sinn kommen können, sind sie überzeugt, sich hier und jetzt rückhaltlos für die Anderen einsetzen zu müssen. Dieses Trotz ohne Rückhalt deutet auf die Unbegründbarkeit einer gesellschaftlichen Selbstöffnung, die die Figuren im epischen Theater zum Handeln treibt. Jenes scheinbar unbegründbare Handeln lässt sich indessen durch eine paradoxe Motivationslage des Subjekts erklären. Das Paradox besteht in einem Denken der Form: „Ich muss es nicht unbedingt tun, aber ich muss und will es.“ Die untrennbare und doch paradoxe Kombination von Notwendigkeit und Lust zeigt sich in einem Paradoxon der Figuren in den Lehrstücken, das Lehmann als „Lust als maßlose Selbstvergeudung“ und „Gefühl der unbegrenzbaren Verantwortung“ aufschlüsselt: Bataille hat die Vergeudung bis zur Selbstvernichtung in der Lust und das damit verschwisterte Motiv der Übertretung des religiösen Gebots als Eros zu denken versucht. Lust an der Destruktion aller Gesetzesordnung, Aufhebung allen Maßes und damit allen Sinns prägen die Gesetze der menschlichen Glückseligkeit […]. [Andererseits] begründet sich Identität (um deren Verhüllung, Transformation und

Maskierung es in den Lehrstücken […] einzig zu gehen scheint) durch nichts anderes als eben diese Erfahrung unhintergehbarer Schuldigkeit oder Verantwortung. Noch einmal Levinas: Faktisch muss man die eigentliche Identität des menschlichen Ich von der Verantwortlichkeit her benennen. […] Ich, nicht auswechselbar, ich bin ich einzig in dem Maß, in dem ich verantwortlich bin. […] Hier ist die Lust als maßlose Selbstvergeudung, dort das Gefühl unbegrenzbarer Verantwortung für den anderen – so fern voneinander diese Motive scheinen: Beide verweisen auf eine Textur des Subjekts, in der die schönsten wie schlimmsten Regungen nicht ablösbar sind von einem Geben jenseits und vor allem Tauschen und von einer reservelosen Verausgabung. […] Das Subjekt erscheint als nur insoweit existent, als die anderen es durch ihr Fordern und Wollen […] existieren lassen.7 Lehmann weist an dieser Stelle auf die unauflösbare Verbindung von Verantwortung und Lust des Subjekts hin, die in einer Figur wie A im Lehrstück Die Maßnahme zu erkennen sind. Diese Verbindung finden wir aber auch im epischen Theater bei Figuren wie Shen Te, Grusche und Johanna. Obwohl sie nicht unbedingt Kinder, Nachbarn usw. auf eigene Faust retten müssen, glauben sie, sie müssten es unbedingt tun. Dieses unbedingte „Müssen“ ist jedoch untrennbar verbunden mit ihrer Lust, Verantwortung übernehmen zu „wollen“. Nicht irgendjemand anderes, sondern „ich“ als einzigartiges, „unverwechselbares“ Subjekt setze mich für die elenden Anderen ein, obwohl dafür nach gesellschaftlichem Maßstab keine Notwendigkeit besteht. Erst mit dieser paradoxen Selbstöffnung für die anderen entsteht die Identität des Ichs. Genau hier könnte sich die anvisierte neue Sichtweise auf das epische Theater eröffnen. Sie beginnt damit, in der Parabel das überschreitende Moment der maßlosen Figuren aufzufinden. Die Überschreitung jedoch bezieht sich nicht nur auf die Figuren selbst, die ihr Leben aufs Spiel setzen, sondern auf den gesamten Rahmen der Parabel, die von der Kraft jener Überschreitung bedroht wird. Denn die lineare Geschichte der Parabel im epischen Theater entwickelt sich gerade durch die maßlosen Handlungen der Figuren. Das traditionelle Drama der europäischen Neuzeit hat eine lineare Struktur, die sich abhängig von der Handlung der Protagonisten entwickelt. Das gilt auch für Brechts epische Stücke. Die zentralen Figuren im epischen Theater handeln in diesem Sinn zwar immer im Rahmen der epischen Parabel; die Parabel aber ist von der unbegründbaren Selbstöffnung der Figuren abhängig. Dieses Paradox lässt uns umdenken: Nicht die Geschichte der Parabel, sondern die Überschreitung durch die maßlosen Figuren macht das epische Theater aus. Denn sie haben die Potenz, sich über die Parabel hinaus zu öffnen und diese nur noch als Rahmen funktionieren zu lassen. Die paradoxe Maßlosigkeit der Protagonisten hat die Kraft, die dramatische Handlungsentwicklung ungültig zu machen, die von ihrer Unbegründbarkeit überschattet wird. Ostentative Selbstöffnungen im Kabuki- und Bunraku-Theater Eine über die Parabel hinausgehende Selbstöffnung ist bei Brecht jedoch kaum vorstellbar, da

die meisten seiner epischen Stücke eine eigene und vollendete Geschichte haben, die keinen Spielraum für erhebliche Änderungen erlaubt. Dass ein solcher Spielraum jedoch durchaus denkbar ist, wird ersichtlich, wenn man eine andere Variante der radikalen Selbstöffnung im japanischen Kabuki- und Bunraku-Theater in Betracht zieht. Das Bunraku und das Kabuki8, die sich beide im 17. und 18. Jahrhundert entwickelten und die noch heute die stilisierte Ästhetik ihrer frühen Zeit bewahren, sind episches Theater in dem Sinn, dass sie historische Ereignisse, in der Form des Stationendramas, Szene für Szene in ihrem Ablauf darstellen. Zwar sind die meisten der dort Dargestellten keine bekannten historischen Persönlichkeiten, sondern Randfiguren wie Untertanen oder Stadtbürger, die doch im Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse ihr davon geprägtes Leben führen. Auf diese Weise zeigen die Aufführungen Bezüge zu historischen Ereignissen und deren wichtigsten Protagonisten. Wie bei Brecht geht es zudem in einigen Stücken des Kabuki und Bunraku auch um Frauen, die das Leben eines fremden Kindes auf Kosten ihres eigenen Lebens oder gar des Lebens ihres eigenen Kindes retten. Vor allem werden dabei – auch dies wie bei Brecht – Formen der radikalen Selbstöffnung der weiblichen Figuren zur Schau gestellt. Allerdings besteht eine Differenz. Beim Kabuki und Bunraku wird die Selbstöffnung in einer bestimmten Szene derart ostentativ dargestellt, dass die gesamte, oft komplizierte Geschichte in jedem Stück nur eine Nebenrolle spielt. Daher ist es möglich, dass man in heutigen Aufführungen oft nur einen Auszug aus einem vier, fünf oder sechs Stunden dauernden Stück präsentiert. Viele Zuschauer genießen lediglich solche Auszüge, ohne die gesamte Aufführung zu durchblicken. Denn in einer Szene des Auszugs kommen die Selbstöffnungen der Frauen radikaler zum Ausdruck als bei Brecht. Um ein fremdes Kind zu retten, die zerstörte Heimat neu aufzubauen oder einen Konflikt zu schlichten, eskalieren sie in den Situationen soweit, dass sie ihr eigenes Kind töten lassen, ihren Geliebten im Gesicht verletzen oder sich selbst bzw. eigene Körperteile opfern. Drei Beispiele seien kurz vorgestellt. Die Amme Masaoka in Meiboku-sendai-hagi (UA: ca. 1777), die das Kind des Landesherrn von Sendai, Tsuruchiyo, aufzieht, erfährt, dass der Bruder des Landesherrn das Kind vergiften lassen will, um einen Konflikt mit seinem älteren Bruder für sich zu entscheiden und die Macht zu ergreifen. Masaoka will das Kind mit allen Mitteln vor dem Komplott retten. Nach einem verzweifelten Rettungsversuch gibt Masaoka vor den Gefolgsleuten des Bruders ihr eigenes Kind, Senmatsu, als das des Landesherrn aus und lässt es von ihnen vergiften. Die alte Frau Iwate in Oshu-adachigahara (UA: 1762) versucht, ihr Land, das von der Regierung in Kyoto als abtrünnig betrachtet wird und im Krieg zerstört wurde, neu aufzubauen. Dazu entführt sie – anders als Grusche im Kaukasischen Kreidekreis – das Kind eines hochrangigen Samurai, damit dieser in ihrer Heimat Oshu zum Fürsten des neu gegründeten Landes werden kann. Das Kind wird jedoch schwer krank. Iwate erfährt, dass es für seine Krankheit nur eine einzige Heilmethode gibt, nämlich den Verzehr eines menschlichen Organes. Auf der Suche nach einem Opfer begegnet die Alte auf dem Feld Adachigahara einer Frau, ohne zu wissen, dass es sich um ihre eigene Tochter handelt. Iwate greift ihre Tochter an und

ermordet sie für das fremde Kind. Die junge Frau Tamate in Sesshu-gappo-ga-tsuji (UA: 1773), um ein letztes Beispiel zu geben, erfährt nach ihrer Heirat mit dem älteren Samurai Michitoshi Takayasu, dass zwischen dem Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, Shuntokumaru, und seinem älteren, unehelichen Sohn, Jiromaru, ein Konflikt um das Erbe besteht. Sie findet ebenfalls heraus, dass Jiromaru einen Mordplan gegen Shuntokumaru schmiedet. Um den Mord abzuwenden und den Konflikt zu schlichten, lässt Tamate es so aussehen, als wären alle Probleme ausschließlich von ihr verursacht worden, um sich selbst einer Behandlung als Sündenbock auszusetzen. So macht sie Shuntokumaru, ihrem Schwiegersohn, eine Liebeserklärung und sorgt dann mit einem Gift dafür, dass er schwer krank wird. Schließlich greift sie ihn an, um sich als Mörderin darzustellen. Nachdem ihr Vater sie, um Shuntokumaru zu retten, mit dem Schwert tödlich verletzt hat, berichtet sie kurz vor ihrem Tod, dass sie nur zum Schutz vor dem Mordkomplott und zur Lösung der Konflikte gehandelt habe und auf diese Weise alle Schuld der beteiligten Familien auf sich nehmen wollte. Diese drei Stücke zeigen, wie die Geschichte als glaubwürdige Story an der ostentativen Darstellung der radikalen Selbstöffnungen der Figuren scheitert. Zudem enthält die Handlung aller drei Stücke zahlreiche andere Szenen und Situationen, die nicht nur die jeweils im Vordergrund stehenden Frauen, sondern auch andere, zum Teil ebenfalls radikale Samurai, Frauen oder Mütter darstellen, die sich in eine Epik überaus verwickelter menschlicher Verhältnisse und Machtkonstellationen einfügen. Da die gesamte Handlung somit weder einfach zu überschauen noch einfach zu erklären ist, treten die radikalen Selbstöffnungen der Protagonistinnen in ihrer Unbegründbarkeit umso stärker in den Vordergrund. Ihre unbegründbaren, ostentativen Selbstöffnungen zeigen etwas Fremdes, das viele Zuschauerinnen und Zuschauer in Verwirrung bringt. Bei diesem Fremden handelt es sich um die dunkle Kraft des singulären Ichs9, die jenseits der Rahmenhandlung und jenseits der Verständlichkeit an das Publikum appelliert. Diese fremde, dunkle Kraft der maßlosen Figuren im Kabuki- und Bunraku-Theater lässt sich in Beziehung setzen zu dem Schatten in der offiziellen Dramaturgie Brechts, den Günther Heeg im epischen Theater entdeckt hat.10 Während aber bei Brecht die Figuren ihre dunkle Seite nur als einen Schatten hinter sich werfen, steht diese dunkle Seite in manchen Stücken des Kabuki und Bunraku gerade im Vordergrund. Sie besteht in der mit dem ostentativen Gestus ausgestellten Maßlosigkeit, verstärkt durch ungewöhnliche Kombinationen der Darstellung maßloser Figuren und durch die unüberschaubare Kompliziertheit der Handlung, die jene Fremdheit deutlicher als bei Brecht hervorhebt. Über die Parabel hinaus Anders als beim Kabuki und Bunraku, wo die Konstruktion einer linearen Geschichte nicht funktioniert, ließe sich die Handlung des epischen Theaters von Brecht kaum verändern. Es wäre praktisch nicht möglich, in der Aufführung eines epischen Stückes etwa nur bestimmte

Szenen so zu zeigen, dass viele Zuschauer die Aufführung als gelungen betrachten würden. Der Vergleich mit dem japanischen Theater ermöglicht jedoch ein strukturell anderes Zuschauen. Man kann im epischen Theater die maßlosen Figuren im Prinzip getrennt von der Handlung betrachten und so ihre Kraft ausloten, die den epischen Rahmen zu sprengen in der Lage wäre. Hier seien zwei Figuren als Beispiel genannt. Die eine ist Kattrin in Mutter Courage: Die stumme Tochter der Mutter Courage, die während des Dreißigjährigen Krieges mit ihr durch die Städte wandert, bleibt stets bei ihr, um sie vor möglichen Angriffen durch Soldaten oder andere Männer zu beschützen. Am Ende des Stückes, als die Stadt Halle in Kürze von der katholischen Armee erobert werden soll, verlässt sie ihr sicheres Quartier, klettert auf das Dach eines Bauernhauses und schlägt laut die Trommel, um die Stadtbewohner vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen. Ihr maßloser Rettungsversuch provoziert die Soldaten, die sie schließlich erschießen.11 Doch längst vor dieser Szene hätte sie tot oder fort sein können, wenn sie etwa in einer anderen Szene Kinder aus einem brennenden Haus gerettet oder ihre Mutter aus Rücksicht auf deren Liebe zu einem Koch verlassen hätte, der mit ihr allein ein neues Leben anfangen wollte. Stattdessen bleibt sie bis zum Ende des Stückes bei ihrer Mutter, als müsse sie die Logik der epischen Handlung befolgen. Ebenso gut könnte sie aber in der zweiten Hälfte des Stückes bereits fort sein und die Handlung so unterbrechen. Die Rolle der stummen Kattrin ist daher wichtig, da sie im Zusammenspiel mit der Mutter die Handlung tragend entwickelt, sie aber in plausibler Weise auch unterbrechen könnte. Sie verkörpert eine Überschreitungskraft, die für das epische Drama nicht nur relevant, sondern auch bedrohlich ist. Das zweite Beispiel ist Wang in Der gute Mensch von Sezuan. Der Wasserverkäufer, der in der Stadt hin und her geht, begegnet drei Göttern, die ihm ihren nachdrücklichen Wunsch äußern, dass seine Bekannte Shen Te, die sie als guten Menschen betrachten, ihren armen Nachbarn immer nur Gutes tun müsse. Wang steht dem Wunsch entsprechend Shen Te immer zu Seite, aber er wird bei einem Streit unter den Nachbarn angegriffen und schwer an der Hand verletzt. Da er in seinem Bekanntenkreis niemanden finden kann, der seine Hand medizinisch behandeln könnte, wird es für ihn noch schwieriger, Shen Te zu helfen, die inzwischen von den egoistischen Wünschen der Nachbarn überfordert wird. Die Götter, mit denen er im Traum spricht, wollen sein Flehen um Gnade nicht verstehen.12 Die epische Handlung, in der nicht nur Shen Te, sondern auch Wang in immer wieder neue Schwierigkeiten geraten, wird als eine konstruierte Story sichtbar, die Wang fast ausschließlich als getrieben und überfordert darstellt. Im selben Zug wird darin aber auch eine besondere Potenz seiner maßlosen Überschreitung sichtbar. Denn er verfügt zugleich über besondere Fähigkeiten, die es ihm erlauben, mit den Göttern jenseits der Wirklichkeit zu sprechen; zudem tritt er aus seiner Rolle heraus, um die Zuschauer direkt anzusprechen. So gesehen könnte er ohne Weiteres über den Rahmen der epischen Handlung hinausgehen und sie unterbrechen. Die zwei Beispiele basieren zwar auf einer assoziativen Lesart, in der die Parabel des epischen Theaters nur hypothetisch verändert wird. Sie weisen jedoch darauf hin, dass die Figuren des epischen Theaters sich an der Grenze der epischen Parabel bewegen und sie

plausibel überschreiten könnten. Eine solche Überschreitung könnte man als einen Widerstand der Figuren gegen den Rahmen ihrer erzählerischen Welt auffassen. Brechts maßlose Figuren könnten auch gegen sein eigenes Theater vorangehen. Diese ihrerseits „maßlose“ Lesart entspricht zwar strukturell nicht der Theater-Welt Brechts. Anhand des Bunraku und des Kabuki, die in dieser Hinsicht weiter gehen, lässt sich jedoch zeigen, dass eine solche Lesart in der paradoxen Logik der Maßlosigkeit auf der Bühne angelegt ist und den traditionellen Rahmen einer linearen Geschichte letztlich auch in der Struktur des Stückes sprengen kann. Für Brecht, der die Überschreitung einmal gezogener Grenzen – gesellschaftliche wie auch solche der traditionellen Theaterform – durch maßlose Figuren immer wieder anschaulich schilderte und der in seinen Stücken und seiner Dramaturgie über Europa hinausblickte und sich dabei auch auf ostasiatische Theaterkunst bezog, liegt diese Lesart sogar durchaus nahe. Auf diese Weise könnte das traditionelle japanische Theater Ansätze dazu liefern, die in Brechts für heutige Verhältnisse konventionell erscheinendem politischem Theater angelegte „Schattendramaturgie“ zu entfalten. 1

Jan Deck hat die Möglichkeit neuartiger Zusammenhänge zwischen dem Theater und dem Politischen in den von ihm herausgegebenen Bänden untersucht; dazu Deck, Jan: „Politisch Theater machen – Eine Einleitung“. In: Ders./Sieburg, Angelika (Hrsg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, Bielefeld 2011, S. 11–28. Der neuartige Zusammenhang besteht vor allem darin, den Zuschauern nicht politische Themen vorzuführen, sondern die Prozesse der Aufführung oder der Produktion als politisch erfahrbar zu machen.

2

Heeg, Günther: „Theater und Geschichte – Genealogie einer Verflechtung. (Im Gespräch mit Helmut Schäfer)“, in: Ders./Braun, Micha/Krüger, Lars/Schäfer, Helmut (Hrsg.): Reenacting History. Theater & Geschichte (= Recherchen 109), Berlin 2014, S. 54f.

3

Lehmann, Hans-Thies: „Die Rücknahme der Maßgabe. Schuld, Maß und Überschreitung bei Bertolt Brecht“, in: Ders: Das Politische Schreiben (= Recherchen 12), zweite erweiterte Auflage, Berlin 2012, S. 307f., 321f.

4

Brecht, Bertolt: [Der gute Mensch von Sezuan ], in: Ders.: Werke 6. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 8, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin u. Frankfurt a. M. 1989, S, 244–248 (im Folgenden mit Sigle GBA plus Band und Seitenzahl angegeben).

5

Brecht: [Der kaukasische Kreidekreis ], in: GBA Bd. 8, 1992, S. 112f., 147f.

6

Brecht: [Die heilige Johanna der Schlachthöfe ], in: GBA Bd. 3, 1988, S.136–139, 180–183, 191–193.

7

Lehmann: „Die Rücknahme der Maßgabe“, in: Ders.: Das Politische Schreiben, S. 318, 320, 321.

8

Das Kabuki ist ein von männlichen Schauspielern getragenes stilisiertes Theater. Das Bunraku hingegen beruht auf der separaten Darstellung durch Puppen und einen Erzähler.

9

Christoph Menke stellt anhand der Theorie Herders die dunkle Kraft des Menschen, der noch nicht ganz zum Subjekt wird, und dessen praktisches Vermögen, das er für einen bestimmten Zweck zur Disposition haben kann, dar: „Der Mensch ist nicht – ganz – Subjekt, weil die dunklen Kräfte seiner ästhetischen Natur nicht wie die praktischen Vermögen des Subjekts eine allgemeine Form im besonderen Fall verwirklichen. Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 65.

10

Siehe Anmerkung 2.

11

Brecht: [Mutter Courage und ihre Kinder ], in: GBA Bd. 6, S. 79–84.

12

Brecht: [Der gute Mensch von Sezuan ], S. 213f., 241f.

Eun-Soo Jang

UPCYCLING BRECHT Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache1

Im Jahr 1926 machte Brecht eine kritische Bemerkung zur damaligen Theaterszene: „Aber im ganzen ist das Theater so tot, als es nur sein kann.“2 Brecht deklarierte damit die Theaterlandschaft seiner Zeit als überholt und innovationsbedürftig. Ein halbes Jahrhundert später behaupteten analog dazu einige Theaterkritiker, das Brechttheater sei tot.3 Hat das Theater Brechts noch eine Chance in der Zukunft? Ist das Brechttheater, wie in den letzten Jahrzehnten oft behauptet wurde, von der Zeit tatsächlich überholt, also tot? Das Brechtsche Theatermodell, das im letzten Jahrhundert als unabdingbare Grundlage zeitgenössischer Theaterformen diente, ist aber auch für viele Theatermacher heute durch die technischen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht verloren. Brechts Ansatz wird dabei freilich von Theatermachern in vielfacher Weise an die veränderten gesellschaftlichen und ästhetischen Bedingungen der Gegenwart angepasst. Beispiele sind die Laiendarsteller, die in der Nachfolge von Brechts Lehrstückgedanken bei der Gruppe Rimini Protokoll als „Experten des Alltags“ auf der Bühne stehen, und die Stücke von René Pollesch, die herkömmliche Figurenpsychologie verunmöglichen. Die Frage, ob das Brechttheater tatsächlich überholt oder aktueller denn je ist, kann man trotz dieser Ansätze nicht sofort beantworten. Zuvor wäre zu klären, was eigentlich das Brechttheater von heute ist. Wir wollen dieses anhand des Begriffs postbrechtsches Theater zu erklären versuchen. Diesen Begriff können wir sowohl im Sinne eines Theaters in Brechts Folge als auch als Theater nach Brecht auffassen, also Nachfolge und Wende zugleich. Mit diesem Begriff hat auch Hans-Thies Lehmann sein postdramatisches Theater begründet: So kann von einem postbrechtschen Theater die Rede sein, das gerade nicht nichts mit Brecht zu schaffen hat, sondern sich von den in Brechts Werk sedimentierten Ansprüchen und Fragen an Theater betroffen weiß, aber die Antworten Brechts nicht mehr akzeptieren kann.4 Performativität und Episierung In den letzten Jahrzehnten hatten für das Theater meines Erachtens zwei Begriffe entscheidende Wirkung: Der eine ist Performativität, der andere Episierung. Hans-Thies Lehmann sprach am Ende der 1990er Jahre mit dem Begriff postdramatisches Theater von einem neuen Paradigma

und machte darauf aufmerksam, wie sich das Theater zunehmend performativer Elemente bediente. Erika Fischer-Lichte fasste in ihrem Buch Ästhetik des Performativen5 das Theater vor allem als liminales Ereignis zwischen Zuschauern und Akteuren auf. Allerdings ließ sich bereits seit Mitte der 1990er Jahre auch eine Rückkehr zum Epischen erkennen, die mit einer Wiederbelebung der dramatischen Struktur des Theaters einherging. Lehmann hat in seiner Abhandlung der experimentellen Episierung des neuen Dramas, das parallel zum performativen Dokumentartheater in der Theaterlandschaft der letzten Jahrzehnte immer mehr an Bedeutung gewann, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Seit Beginn dieses Jahrhunderts zeichnet sich verstärkt diese neue Entwicklung in der deutschsprachigen Theaterszene ab – und zwar in der Nachfolge von Brecht. In verschiedenen Ausprägungen des Dokumentartheaters wie bei Rimini Protokoll oder im Diskurstheater von René Pollesch finden wir einen stark politisierten Theaterbegriff mit Bezug auf Brecht. Viele Autoren zögern nicht, den Einfluss Brechts auf die eigene Arbeit hervorzuheben. So zählt Heiner Goebbels in dem Interviewband Brecht frißt Brecht die Brechtsche Theaterästhetik zur Grundvoraussetzung für das heutige experimentelle Theater: die Trennung der Elemente, die Einführung des V-Effektes und das permanente Zeigen des Zeigens selbst. Er geht damit so weit zu behaupten, dass jedes postdramatische Theater letztlich als „episches Theater des 21. Jahrhunderts“ zu bezeichnen wäre.6 Was kommt nach der Postdramatik? Im Jahr 2008 löste Theater heute mit dem Titelthema „Die süßen Versprechen der Postdramatik“ eine heftige Debatte um das postdramatische Theater aus. Florian Malzacher, damals Dramaturg beim Steirischen Herbst in Graz, trat als Verteidiger des Postdramatischen auf. Er sprach von der Befreiung des Theaters, „das sich nicht einengen lässt von Zwangsdramaturgien und Text und Narrationsdominanz, wohltemperiert besetzten Ensembles, Schauspiel- und Zuschaukonventionen“.7 Bernd Stegemann, der ebenfalls als Dramaturg tätig war – und zwar zu dieser Zeit an der Schaubühne in Berlin –, warf dagegen der Postdramatik vor, an politischer und gesellschaftlicher Relevanz verloren zu haben. Das postdramatische Theater beruhe auf einer Theorie der Nicht-Darstellbarkeit der Welt. Der stereotype Einwand, es gebe eine solche Weltbeschreibung nicht mehr, verkennt die Potenz der dramatischen Kunst, die in jedem gelungenen Auftritt eine abgegrenzte Welt erschafft, indem sie diese als in sich widersprüchlich darstellt.8 Hingegen sucht Stegemann in einem stark politischen Theater, das in der Nachfolge Brechts steht, die Zukunft. Mit dem Plädoyer für Mimesis und Drama führt Stegemann den Kampf gegen das Postdramatische und erklärt in seinem 2015 erschienenen Buch mit dem Titel Lob des Realismus 9 das Ende des Postdramatischen. Die oben erwähnte Auseinandersetzung in

Theater heute war insofern produktiv, als dass dadurch eine Bestandsaufnahme des Gegenwartstheaters erfolgte und versucht wurde, einer neuen Dramatik den Weg zu bahnen. Das postepische Theater Dieses neue Phänomen könnte man als „postepisches Theater“ bezeichnen und wie Bernd Stegemann unter dem Aspekt der „Dramaturgie des Postepischen“ näher betrachten.10 Stegemann meint hier, man werde langsam des Präfixes „post-“ überdrüssig, aber der Begriff postepisch ist angebracht, will man die neue Dramatik vom epischen Theater Brechts und vom einseitig als antidramatisch verstandenen Postdramatischen differenzieren.11 Die Dramaturgie des Postdramatischen reagierte auf eine Problematisierung der Darstellungsmöglichkeiten der dramatischen Handlung. Die Dramaturgie des Postepischen reagiert auf eine Infragestellung der Mittel des epischen Theaters, wie sie vor allem durch Bertolt Brecht als Elemente einer materialistischen Ästhetik eingeführt worden sind.12 Bei Dramatikern wie Falk Richter, Lukas Bärfuss, Lutz Hübner, Andres Veiel, Roland Schimmelpfennig, Dea Loher, und Ulrike Syha wird wieder mehr Interesse auf den handelnden Menschen gerichtet. Ihre politischen Diskurse unterscheiden sich von der postdramatischen Ästhetik. Unser Interesse gilt vor allem den Autoren, die das postepische Theater sowohl mit distanzierenden Illusionsbrüchen als auch mit Episierungen in der Nachfolge Brechts betreiben. Sie bedienen sich für ihre Werke einer fabelgestützten Dramaturgie. Mit der Fabel ist allerdings nicht eine geschlossene, lineare Handlung gemeint. Die mehrschichtige Handlung ihrer Werke besteht meistens aus unzähligen kleinen Short-Cuts. Die Fabel wird durch epische Mittel wie Erzählinstanzen und intermediale Elemente dem Publikum spielerisch geliefert. Postbrechtsches Theater: Der goldene Drache Das Theaterstück Der goldene Drache von Roland Schimmelpfennig, dessen bislang wohl erfolgreichstes Stück, steht exemplarisch für die postepische Dramatik. Es wurde 2009 im Akademietheater in Wien uraufgeführt. Der goldene Drache wurde mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet und auch als „Bestes Stück des Jahres“ in der Kritikerumfrage des Jahrbuches von Theater heute ausgewählt. Schimmelpfennig gehört mittlerweile zu den meistgespielten deutschen Dramatikern. Mit dem Stück Der goldene Drache wurde Schimmelpfennig auch in Korea bekannt. Im Jahr 2013 erregte das Stück mit der koreanischen Erstaufführung in der Regie von Kwang-Jin Yun am Daehakro Arts Theater Mainhall in Seoul großes Aufsehen. Diese Inszenierung wurde mit dem „Best 3-Preis“ durch die Korean Association of Theatre Critics ausgezeichnet. Der Schauplatz des Theaterstücks ist das China-Vietnam-Thai-Schnellrestaurant mit dem Namen Der goldene Drache. Schimmelpfennig beleuchtet die prekäre Lebenssituation der

Menschen im Haus Der goldene Drache aus verschiedenen Perspektiven. In der winzigen Küche wird einem jungen Chinesen, einem illegalen Gastarbeiter, ein Schneidezahn mit einer Rohrzange gezogen. Er verblutet jämmerlich. Sein Zahn landet in dem Mund einer Stewardess, einer Stammkundin des Lokals. Parallel dazu wird die Parabel von einer hungrigen Grille erzählt, die im Winter den geschäftstüchtigen Zuhälter-Ameisen zum Opfer fällt. Die Grille steht dabei für die Not und die Leiden der verschollenen Schwester des Chinesen. Er kam eigentlich nach Deutschland, um sie zu finden. Sie wohnen in der Nähe voneinander, wissen aber bis zum Schluss nichts davon. Was ihn hier erwartet, ist nur der kalte Tod. Der blutende Chinese wird in einen großen Drachenteppich gewickelt und in den Fluss geworfen. Der kritische Blick auf die Lebenssituation der illegalen Einwanderer, die in Deutschland auf eine Zuflucht hoffen, aber keine finden können, ist offensichtlich. Dem Chinesen tut der Zahn weh, aber er ist illegal im Land und kann deshalb nicht zum Arzt gehen. Nachdem die Leiche des Jungen ins Wasser geworfen wurde, macht sie eine lange Reise durch das Meer. Es folgt ein grotesker, fast poetisch anmutender Monolog der Leiche, die nur mehr aus Knochen besteht. Vom Wasser immer weitergetragen, von Fischen das Fleisch heruntergefressen, kommt das Skelett endlich nach China zurück. Schimmelpfennig bezeichnet sein Drama als „narratives Theater“. Mit Hilfe einer episierten Erzählweise konnte er Parallelhandlungen und eine an voneinander weit entfernten Orten spielende Fabel gestalten. In einem Beitrag zum Buch Dramaturgie von Bernd Stegemann erzählte er, wie sein Stück Die arabische Nacht entstand, und führte sein Konzept „Narratives Theater“ aus: Im Sinne eines narrativen Theaters war es mit einem Mal möglich, dass ich nicht mehr darüber nachdenken musste, wie all die Szenen in der Wüste, in der Flasche und so weiter möglich sein könnten. Ich verabschiedete mich von einem Theater der „Illusion“ und fand eine Lösung, eine uralte Spielweise, die den Zuschauer mitnimmt, an die Hand nimmt. Das bedeutete Erzählung.13 In Der goldene Drache führt uns Schimmelpfennig vor, wie er mit postepischen Mitteln das Theater mehrfach relativiert und es damit der von Brecht einst erträumten Zukunftsvision näher bringt. Hier gibt es keine Regieanweisungen im eigentlichen Sinn, denn diese werden gesprochen und erzählt. Zeit und Ort werden nicht dargestellt, sondern von den Personen geschildert und beschrieben, genauso wie die Rollen, die sie gerade spielen. Durch das Sprechen und das gleichzeitige Ausführen der Anweisungen werden diese verfremdet. Der junge Mann und die Frau über sechzig DER JUNGE MANN: Ein milder Sommerabend. Ein alter Mann, graues Haar, sehr dünn, ausgemergelt, vielleicht krank, steht auf dem

Balkon seiner Wohnung. Seine Enkelin hat ihn besucht, Großvater. Sie wohnt oben im selben Haus mit ihrem Freund in der kleinen Wohnung unter dem Dach, und jetzt wollte sie ihrem Großvater eigentlich etwas Besonderes sagen, etwas sehr Besonderes, aber sie sagt es ihm doch nicht, denn der Großvater scheint abwesend, in Gedanken oder in Sorge. Unter ihnen: die roten Lampions des China-Tai-Vietnam-Restaurants DER GOLDENE DRACHE. In der Küche arbeiten angeblich nur Vietnamesen. Aber ob das stimmt – Der Alte sagt: Wenn ich mir etwas wünschen könnte. Pause. Wenn ich mir etwas wünschen könnte. DIE FRAU ÜBER SECHZIG: Neben dem Alten auf dem Balkon eine blutjunge Frau, keine neunzehn Jahre alt. Sie ist umwerfend jung und sie ist umwerfend schön. Sie sagt: Was, Großvater, was würdest du dir wünschen? DER JUNGE MANN: Der Alte sieht das junge Mädchen an. Mein Enkelkind. Ich sehe mein Enkelkind an. Du – Kurze Pause. Du junges Ding. Kurze Pause. Du siehst großartig aus DIE FRAU ÜBER SECHZIG: Findest du? Findest du wirklich, Großvater? Pause. Wenn ich erst so alt bin wie du – wie ich dann wohl aussehen werde? DER JUNGE MANN: Das werde ich nicht erleben. Das werde ich nicht mehr erleben. Ich lache. Er lacht oder lächelt.14 Vom Gestus des Zeigens zum performativen Spiel Der Textauszug erinnert uns an die Darstellungsmittel von Brecht, die er bei der Probe in den Versuchen zur Schauspielerübung mit der neuen Technik der Schauspielkunst einsetzte: 1. die Überführung in die dritte Person (Distanzierung); 2. die Überführung in die Vergangenheit (Historisierung); 3. das Mitsprechen von Spielanweisungen und Kommentaren (Bruch). Schimmelpfennig aber belässt es nicht bei einer Übungsmethode, er realisiert diese Darstellungsmittel in seinen Texten. Vor allem das dritte Mittel ist für die Stücke von Schimmelpfennig ausschlaggebend. Spielanweisungen und Kommentare sind hier nicht für einen Regisseur oder einen Spielleiter vermerkt. Sie werden von dem jeweiligen Schauspieler,

der eine Figurenrolle übernimmt, gesprochen. Regieanweisungen wie „Pause“ oder „Er lacht“ werden von den Schauspielern zuerst ausgesprochen, dann dementsprechend gestisch umgesetzt. In dem Stück will jede der Figuren jemand anderes sein, als sie ist. Dabei werden viele Aussagen im Konjunktiv ausgedrückt: „Wenn ich mir etwas wünschen könnte“15 oder „Wenn ich etwas ganz anderes sein könnte, als ich bin“16. Diese Aussagen werden dann formal umgesetzt. Fünf Darsteller schlüpfen abwechselnd in 17 Rollen, jeder spielt mehrere Rollen. Dabei wird bewusst mit Alters- und Geschlechterdifferenzen gespielt. Frauen spielen Männer und Männer Frauen, Junge spielen Alte und die Alten die Jungen. Es gibt mehrere parallele Handlungsstränge, schnelle Szenenwechsel, manchmal innerhalb einer Minute. Schimmelpfennig spielt mit den Theaterzeichen und -mitteln. Brecht demonstrierte sein Modell eines epischen Theaters und die dazu erstrebte Spielweise anhand einer Straßenszene: Kurz gesagt: der Schauspieler muß Demonstrant bleiben; er muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben, er darf bei seiner Darstellung nicht das „er tat das, er sagte das“ auslöschen. Er darf es nicht zur restlosen Verwandlung in die demonstrierte Person kommen lassen.17 Diese Technik soll, nach Brecht, dazu dienen, „dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen“.18 Die Verfremdung sollte nach Brecht den gesellschaftlich beeinflussbaren Vorgängen das Vertraute nehmen und damit die Veränderbarkeit der Welt zeigen. Schimmelpfennig nimmt auch dieses Modell zur Trennung von Schauspieler und Figur auf. Der berichtende Schauspieler spielt nicht seine Rolle, sondern demonstriert das, was er erlebt. Wenn der Schauspieler eine Figur spielt und immer wieder während des Spiels aus der Rolle fällt, weist er damit gleichzeitig auf die Realität des Spielens hin: Die Vorführung des Straßendemonstranten hat den Charakter der Wiederholung. Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die Wiederholung statt. Folgt die Theaterszene hierin der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, daß es Theater ist.19 Schimmelpfennig geht noch einen Schritt weiter und transformiert dies zu seinem postepischen Ausdrucksmittel. Er treibt den Gestus des Zeigens zu einem performativen Spiel. Den ersten formalen Ansatz zur direkten Ansprache an das Publikum findet man im Diskurskonzept von Andrzej Wirth: In Brechts Auffassung soll das „Theater der Zukunft“ den Unterschied zwischen dem Schauspieler und dem Publikum aufheben – und zwar mit der Aufhebung der Vierten Wand. Mit dem Durchbrechen der Vierten Wand wird der dramatische Dialog zum Diskurs, so

Wirth.20 Im Diskurstheater richten sich das Sprechen und der Kommentar der Schauspieler direkt ans Publikum. „Dialog ist bei Brecht keine Bühnenkonversation mehr, sondern eine vermittelte Kommunikationsform zwischen dem Stückschreiber und dem intendierten Zuschauer“.21 Im Stück Der goldene Drache entspricht der berichtende Schauspieler dem Erzähler in der Prosa. Der Erzähler im postepischen Theater Schimmelpfennigs ist aber kein allwissender, auktorialer Erzähler, sondern wendet sich nur von einer subjektiven Perspektive aus an das Publikum. Schlussbemerkung Welche neue Funktion gewinnt das Postepische durch diese subjektive Perspektivierung? Bei Brecht kann die Erzählerinstanz narratologisch als auktorial gefasst werden, wobei ein Geschehen von einem distanzierten und souveränen Standpunkt aus überblickt und kommentiert wird. Das postepische Drama subjektiviert dagegen die Erzählhaltung und wählt einen personalen Erzähler, der in das theatrale Geschehen unmittelbar einbezogen ist. In ständiger Wechselwirkung von Erzählen und Zeigen vollzieht sich das Theater als performativer Prozess. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu Brecht. Die subjektive Perspektive des Erzählers kann, genauso wie die einer Figur, vom Publikum relativiert werden. Es war daher nur konsequent, dass der Regisseur bei der Aufführung des Stücks Der goldene Drache im Pfalztheater die Zuschauer auf der Bühne sitzen ließ. Denn im postepischen Theater ist das Publikum nicht bloß das schweigend zuhörende Gegenüber, sondern der Ansprechpartner und der Mitspieler des in Figurensprache erzählenden Schauspielers. Mit der Ansprache liefert das postepische Drama keine direkte Botschaft. Diese wird erst im performativen Diskurs mit dem Zuschauer herausgebildet, der imstande ist, die von jeder Figurenposition aus subjektiv dargestellten Lebensmodelle kritisch zu bewerten und sich daraus ein Bild von der Welt zu machen. Der goldene Drache kann als die tragische Geschichte eines chinesischen Gastarbeiters in Deutschland betrachtet werden. Aber das Tragische betrifft nicht nur den Emigranten. Es handelt sich darüber hinaus um die Tragikomödie unseres Lebens in der neokapitalistischen Gesellschaft, in der jeder sich wünscht, er wäre ein anderer, d. h. ein besser Verdienender, besser Aussehender usw., wie wir bereits in der Eingangsszene mit dem Großvater und seiner Enkelin22 beobachten konnten. Schimmelpfennig liefert keine direkte Botschaft. Sie wird eben erst in der formalen Struktur des Postepischen ersichtlich. Sie fordert das Publikum auf, an seinem offenen, performativen Text weiter zu arbeiten. 1

This Work was supported by Hankuk Unversity of Foreign Studies Research Fund of 2016. Dieser Aufsatz geht aus dem Vortrag Das postepische Theater im 21. Jahrhundert hervor, den ich am 28. August 2015 beim 13. IVG-Kongress in Shanghai hielt.

2

Brecht, Bertolt: „Das Theater ist tot“, in: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21, hrsg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1992, S. 133f.: „Das Theater mag in den letzten Jahren einige

vereinzelte erträgliche Aufführungen gehabt haben, ein oder zwei Leute, die in einem neuen Theater Gutes leisten könnten, mögen ihre Eignung gezeigt haben. Aber im ganzen ist das Theater so tot, als es nur sein kann. Das ist eine unangenehme Auffassung für alle, die noch beim Theater sind, aber eine auch noch so gemäßigte Zufriedenheit mit dem Theater, so wie es jetzt ist, wäre lediglich der Beweis einer beklagenswerten Anspruchslosigkeit. Ja, jedes kleinste Zeichen von Zufriedenheit mit diesem Theater bei einem, der drin war, würde nur seine Uneignung für wirkliches Theater klar erweisen. Und die allgemeine ungeschminkte Unzufriedenheit, die immer mehr um sich greift, ist darum das einzige Zeichen von Zukunft, die das Theater vielleicht noch hat.“ 3

Karasek, Hellmuth: „Brecht ist tot“, in: Der Spiegel Nr. 9/1978, S. 216.

4

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M 1999, S. 31.

5

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004.

6

Goebbels, Heiner: „Von der Unabhängigkeit der Mittel. Heiner Goebbels über den V-Effekt, das Musiktheater and the Game behind the Game“, in: Frank Raddatz: Brecht frisst Brecht, Berlin 2007, S. 123–135, hier S. 125.

7

Malzacher, Florian: „Ein Künstler, der nicht Englisch spricht, ist kein Künstler“, in: Theater heute 10/2008, S. 8–13, hier S. 10.

8

Stegemann, Bernd: „Nach der Postdramatik“, in: Theater heute 10/2008, S. 14–21, hier S. 19.

9

Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 2015.

10

Vgl. Stegemann, Bernd: „Dramaturgie des Postepischen“, in: Ders.: Dramaturgie (= Lektionen 1), Berlin 2009, S. 304– 325. Siehe auch Tigges, Stefan: „Vorwort“, in: Ders./Pelka, Arthur (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011, S. 16: „Lässt sich bei diesen Texten überhaupt noch von (druckbaren) Lesedramen sprechen oder sind diese vielmehr als ‚Theatertexte‘ oder Bühnen- bzw. Spieltexte zu bezeichnen? Begründen die innovativen künstlerischen Formate bereits einen Raum jenseits des postdramatischperformativen Theaters? Werden aktuelle postepische Formen des Theaters möglicherweise bald verstärkt von neodramatischen Formen abgelöst oder wird das dramatische Transformations- und Innovationspotenzial, das gleichermaßen von Texten als auch von Spielästhetiken ausgehen kann, so Marita Tatari, künstlerisch unterschätzt so wie theoretisch unterdrückt? […] Geht also mit dem Siegeszug des (post-)epischen Theaters eine ‚Rehabilitierung des Theaters‘ einher, wie Bayerdörfer es als These in den Raum stellt? Daran knüpft – wenn auch aus einem (terminologisch) anderen Blickwinkel – Anke Roeder an, die prognostiziert: ‚Aber es scheint sich in der Postdramatik wieder eine Hinwendung zur erzählten Geschichte abzuzeichnen.‘“ Vgl. ebenso Bayerdörfer, Hans Peter: „Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung“, in: Ders. (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen 2007, S. 12f.

11

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 47f.

12

Stegemann: „Dramaturgie des Postepischen“, S. 304.

13

Schimmelpfennig, Roland: „Narratives Theater“, in: Stegemann: Dramaturgie, S. 315–317, hier S. 316.

14

Schimmelpfennig, Roland: [Der goldene Drache], in: Ders.: Der goldene Drache. Stücke, Frankfurt a. M. 2011, S. 203– 260, hier S. 207f.

15

Ebd., S. 207.

16

Ebd., S. 251.

17

Brecht, Bertolt: „Die Strassenszene“, in: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22.1, S. 376.

18

Ebd., S. 377.

19

Ebd., S. 372.

20

Vgl. Wirth, Andrzej: „Vom Dialog zum Diskurs“, in: Theater heute 1/1980, S. 16–19, hier. S. 16.

21

Ebd.

22

Schimmelpfennig: Der goldene Drache, S. 207f.

Suk-Kyung Lee

ZWISCHEN TEXT UND TANZ Körper und Raum in Falk Richters Inszenierung von TRUST

Falk Richter ist ein 1969 in Hamburg geborener Autor, Übersetzer und Regisseur, der sowohl im deutschsprachigen Raum1 als auch innerhalb und außerhalb Europas sehr populär ist. Er ist meines Erachtens einer der produktivsten und kreativsten Theatermacher, der den Zeitgeist abbildet und eine dafür geeignete Kunstform zu schaffen versucht. Oft fallen seine Inszenierungen durch die Verbindung von Theatertext und Choreografie auf. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist TRUST, das im Oktober 2009 an der Schaubühne Berlin uraufgeführt wurde. In Korea ist Richters Theaterstück TRUST bisher nicht aufgeführt worden und es liegt auch keine Übersetzung ins Koreanische vor.2 Von Richters Stücken wurde in Korea bislang nur Im Ausnahmezustand (2007) vorgestellt. Es wurde 2013 von der Theatergruppe Paeksu-Kwangbu zur Aufführung gebracht. Außerdem gibt es in Korea nur eine wissenschaftliche Arbeit zum Werk Richters, die 2014 veröffentlicht wurde und in der sich der Verfasser mit dem Stück Unter Eis (2004) befasst hat.3 Dass ich Richters TRUST-Inszenierung unter die Lupe nehmen will, hat zwei Gründe. Der eine ist inhaltsbezogen: Die im Stück behandelten Themen sind so aktuell, dass man es einfach in seine Überlegungen über die gesellschaftlichen Phänomene bzw. Probleme in Korea einbeziehen muss. Im Mittelpunkt steht dabei ein Mensch im globalisierten medialen Zeitalter, der vereinsamt und desorientiert ist. Der heutige Mensch, der sich noch immer von der Finanzkrise bedroht fühlt, sieht sich ständig einer unsicheren Zukunft gegenüber und leidet unter dem Leistungsdruck. Richters Text wurde 2009 veröffentlicht. Ein Jahr davor hatte sich die weltweite Finanzkrise ereignet. 2010 wurde das Buch Müdigkeitsgesellschaft von Byung-Chul Han veröffentlicht, in dem der Autor die Phänomene der finanzkapitalistischen Gesellschaft, wie z. B. das Burn-out-Syndrom, beschrieben hat.4 Die im Buch außerdem angesprochenen Probleme, wie etwa die steigende Arbeitslosigkeit und die Schwierigkeit der Arbeitssuche für die junge Generation, haben in Korea inzwischen ein extremes Ausmaß angenommen. Der andere Grund, aus dem ich mein Augenmerk auf TRUST richte, ist formbezogen: TRUST ist eine tänzerische Inszenierung, in der Falk Richter mit der Choreografin Anouk van Dijk zusammenarbeitet. Diese Zusammenarbeit funktioniert auffallend gut und könnte auch der koreanischen Theaterlandschaft einen innovativen Weg weisen. Völlig neu wäre er allerdings nicht, denn auch in Korea gibt es einige Theaterinszenierungen, bei denen bekannte Werke aufs

Neue auf die Bühne gebracht werden und die Körpersprache sowie die Raumgestaltung eine große Rolle spielen.5 Falk Richter ist ein deutscher Dramatiker und Regisseur, der sehr viel mit Formen experimentiert und neue Medien einsetzt. Außerdem verwendet er sehr verschiedene Textmaterialien und setzt seinen Text in Bewegung. Bei dieser Arbeit ist es mein Anliegen, zu erfassen, welche Bedeutung die Bewegungstexte bei Falk Richter haben sowie welche Rolle der Körper bei der Inszenierung von TRUST spielt und schließlich wie der architektonische Raum mit dem performativen Raum in Verbindung gesetzt wird.6 Bei TRUST setzt sich Falk Richter mit dem Dasein des erschöpften Individuums in der finanzkapitalistischen Gesellschaft auseinander. Daher kommen schon im Theatertext Krise, Zusammenbruch des Systems sowie Vertrauensverlust zum Ausdruck. In der Krisenzeit büßt man das Vertrauen gegenüber dem System und anderen Individuen ein. Dennoch und deshalb sehnt man sich umso mehr nach Nähe und versucht, seinem Partner näher zu kommen, allerdings vergeblich. Hierbei geht es also nicht nur um die soziale Ebene, sondern auch um die Beziehungsebene. Die TRUST-Inszenierung beginnt mit einem Ton, zu dem sich die Akteure wie Marionetten bewegen. Die Akteure, die erschöpft und kraftlos wirken, versuchen immer wieder, die Partner in die Arme zu nehmen oder zu berühren. Während der Inszenierung sieht man auf der Bühne insgesamt fünf Schauspieler und vier Tänzer, die ein Ensemble bilden. Im Stück treten fünf Figuren auf. Darunter ist ein Ehepaar aus der Mittelschicht, dessen Beziehung schon längst nicht mehr zu funktionieren scheint. Die Trennung dieses Paares wird im Stück leitmotivisch zum Ausdruck gebracht.7 Judith und Kay streiten sich, weil sie sich nicht darauf einigen können, wie lange sie zusammen waren. Tatsächlich waren sie wohl in den letzten 14 Jahren drei Wochen zusammen. Für Judith hatte Kay kaum Zeit und so war er wie das Radio irgendwo im Hintergrund, das ganz leise gestellt ist. Judith verkehrt mit seinem Bruder und seinem Vater. Außerdem vergeudet sie sein Vermögen mit jungen Männern. Daher ist sein Konto leer. Judith verspricht ihm, alles besser zu machen, aber in Wirklichkeit ändert sich gar nichts. Judith war drei Wochen lang weg, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Kay regt sich auf und wirft ihr vor, dass sie ihn im Stich gelassen habe. Sie will aber wieder eine Reise für drei Wochen machen und bittet ihn um Verständnis. Es ist auffällig, dass ein Dialog zwischen Judith und Kay nie wirklich zustande kommt. Sie sprechen wie vor sich hin, monologisch, so wie sämtliche andere Figuren im Stück. Das kann man als Zeichen dafür verstehen, dass sie überfordert und erschöpft sind und keine Energie mehr haben, sich auf die anderen oder die Gesellschaft einzulassen und zu konzentrieren. Dies wird auch in einem Gespräch mit Falk Richter deutlich: Und im Fall der Finanzkrise hat mich das Burn-out-Syndrom, also der Zusammenbruch des überforderten Menschen, im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Systems, das

diese zusammenbrechenden Menschen geschaffen haben, interessiert. Menschen, die selbst kaum mehr Kraft haben, halten sich in einem System auf, das ihnen keine Kraft geben kann, und erleben nun, wie dieses System oder die Phantasmen dieses Systems zusammenbrechen. Gleichzeitig erleben sie, wie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen einfach so wie faule Fonds wegbrechen oder sich ihre Beziehungen zu anderen Menschen täglich verschieben und wie sehr ihre privaten Beziehungen auch immer Arbeitsbeziehungen sind.8 Was Judith wirklich will, wird durch einen Song9 klar. Sie singt mit anderen zusammen, dass man Liebe zum Leben brauche. Wie es aber um die neue Generation steht, davon spricht sie im Kapitel „ARBEITSVERTRÄGE“: Nach ihrer Erfahrung wollen sehr viele junge Männer, die Kunstgeschichte, Literatur, Mediendesign oder Kulturgeschichte Tibets studiert haben, mehr als nur rumzuliegen und rumzuknutschen. Außerdem braucht die neue Generation in erster Linie Struktur, Arbeitsverträge und Geld, statt unbeirrt von einem Praktikum ins nächste geschickt zu werden. In diesem Stück kommt noch eine Frau zu Wort, die aus Rache Fondsmanagerin geworden ist. Diese Frau namens Lea wurde als Kind in einem Hotelzimmer, vermutlich in Shanghai, allein gelassen und wollte Sprengmeisterin werden, damit sie eines Tages das ganze Finanzsystem in die Luft jagen kann. Sie vergleicht sich mit Geld, das überallhin darf, aber keinen Halt findet. Energisch klagt sie darüber, dass sie ihren Wert einfach nicht mehr abschätzen kann und dass sie auch gar kein Bedürfnis mehr nach irgendwas hat. Dies ist auch dem letzten Kapitel des Buches anzumerken, das eine Person namens Stefan schreiben wollte und dessen Bedeutung jeden betreffen könnte: „DAS GELD LEBT LIEBER OHNE UNS WEITER.“10 Richters Text ist weder auf einen bestimmten Ort noch eine bestimmte Person bezogen, weil er jeden in einer Megacity betreffen kann.11 Die Schauspieler sprechen das monologisch, was eigentlich zur Figurenrede geeignet sein könnte. Sie spielen aber keine Figuren, die an ihre Rollen gebunden sind. In diesem Kontext ist es verständlich, dass Richters Text von einer Figur, einem Ort und einer bestimmten Zeit losgelöst ist12 und in Bewegungsmaterial umgesetzt wird. Was durch die Worte nicht zum Ausdruck zu bringen ist, kann körperlich wirksam dargestellt werden. Falk Richter legt sehr viel Wert auf die Darstellung des Körpers13 – und zwar aus mehreren Gründen. Der Körper ist etwa in Richters Inszenierung deshalb von Bedeutung, weil die Schauspieler und die Tänzer mit ihrem physischen Zustand die Ermüdung bzw. Erschöpfung der Menschen in einer Müdigkeitsgesellschaft ausdrücken, indem sie häufig tief in Sessel oder Sofa hineingesenkt sitzen oder liegen und weil sie wild und stürmisch tanzen, wenn sie ihre Wut nicht recht aussprechen können. Viele schnelle Worte von Judith, die wie ein Echo klingen, wirken überflüssig und wecken kein Vertrauen. Die Rolle des Körpers ist auch im Kapitel „CONFESSIONS“ zu beobachten, in dem einige Personen zusammensitzen und versuchen, frei darüber zu sprechen, wie es ihnen geht. Die

Personen, die namenlos bleiben, sprechen von ihrer Kindheit, die von Traumata oder Störungen belastet ist. Darunter ist ein Junge, der behauptet, dass seine Mutter ihn im Alter von 14 Jahren im Stich gelassen habe, und ein Mädchen, dessen Eltern einfach abgehauen waren und das mit vier „in einem Hotelzimmer in Hongkong oder Peking oder Schanghai“14 zurückgelassen wurde. Es will 14 Jahre lang aus dem Hotelzimmer nicht herausgekommen sein und ein Fernsehprogramm gesehen haben, in dem die Chinesen ununterbrochen Sprengungen an Gebäuden zeigten.15 Ein Mädchen namens Nina kommt auch dazu, scheinbar dazu gezwungen, über sich selbst zu sprechen. Sie bekommt mehrmals einen Anfall, unmittelbar nachdem sie etwas anderes gesagt hat, als sie wirklich denkt, nämlich dass sie glaube, dass es ihr gut gehe und sie einfach nichts in sich finde, das sie wirklich bedrücken würde, kein Mensch sei glücklich etc. In dieser Szene, die als einzige im Stück in Dialogform geschrieben ist, sieht man einen halbnackten Mann mit grotesker Maske, der auf dem Sofa mit den oben erwähnten Personen sitzt. Dieser Mann ist ein Bild dafür, dass man nach außen offen wirkt, aber in Wahrheit eine Maske trägt, wenn man mit anderen Menschen umgeht. Trotz alledem will man aber heutzutage die Menschen „endlich wieder live sehen“16 und Geschichten von den Körpern sowie ihre Stimmen hören, weil man genug von der digitalen Welt mit Facebook oder elitepartner.de hat. Falk Richter setzt sich mit einem Prozess auseinander, in dem Text und Tanz „gemeinsam und sich wechselseitig verstärkend eine Atmosphäre kreieren“17. Dieser Prozess veranlasst alle Anwesenden im Theater dazu, über die Liebes-, Arbeits- und Lebenswelt in der heutigen Gesellschaft18 nachzudenken. Es ist auffällig, dass an dieser Stelle mehr Aufmerksamkeit auf die Körperbewegungen der Beteiligten gerichtet ist – und zwar nicht nur auf der gesellschaftlichen Ebene, sondern auch auf der persönlichen Ebene. Dies wird von dem Regisseur selbst folgendermaßen angesprochen: In dieser Produktion hat mich die Auseinandersetzung mit den Beteiligten sowohl auf der persönlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene interessiert, also die Frage, inwieweit die Tänzer und Schauspieler in ihrem persönlichen Leben von diesen Erschöpfungszuständen und diesem Gefühl, immer nur durchhalten zu müssen, beeinflusst sind. Und wie sie persönlich momentan auf die Krise reagieren. Auch, wie sie ihre persönlichen Beziehungen organisieren.19 Auf der Bühne stehen fünf Männer und vier Frauen, fünf Schauspieler und vier Tänzer. Zu Beginn der Inszenierung nähern sich einige davon und winden sich und schmiegen sich aneinander. Sie wiederholen diese Bewegungen, die sich auf „die unsicher gewordenen Grundlagen und Mechanismen menschlicher Bindungen“20 beziehen, paarweise und wechselnd. Beziehungsprobleme, wie z. B. „der größte Abstand in der Nähe“, werden also „durch die Gesten tänzerischer Suche nach Begegnung“21 zur Darstellung gebracht.

Die Choreografie spiegelt nicht nur auf die Gefühlswelt der Figuren, sondern auch auf gesellschaftliche Diskurse. Während sich etwa der Schauspieler Stefan Stern auf der Bühne mit der Finanzkrise bzw. dem Zusammenbruch des Systems auseinandersetzt und „die gewagte These“22 zitiert, nach welcher der Zusammenbruch eines Warenhauses letztlich ein erstmals gelungenes Beispiel für die Umsetzung einer Theorie der RAF sei, bringt die Tänzerin Anouk van Dijk einen strapazierten bzw. unterdrückten Zustand des Körpers zum Ausdruck, indem sie auf dem Sofa liegt, und zwar kopfüber auf dem Bauch, oder indem sie sich verdreht und verzerrt bewegt. Während Kay sich im Verschlag hin und her bewegt und sich über die Abwesenheit von Judith freut, wird im Zentrum der Bühne einzeln und energetisch getanzt. Er gesteht, dass das Zusammensein mit Judith für ihn auch nicht einfach war: Es sei ihm schwergefallen, weil sie ihren Körper abgestraft habe und er sich um sie extra kümmern musste, was ihn einfach nur Zeit und Kraft gekostet habe. In dieser Szenerie tanzen die Tänzer mit gefesselten Händen so kraftvoll, als ob sie nicht mehr aufzuhalten wären. Sie scheinen die Menschen der finanzkapitalistischen Gesellschaft darzustellen, die sich freiwillig unter Kontrolle halten und sich Leistung und Karriere widmen. Nachdem der Abstand zwischen den Menschen im Kapitel „CONFESSIONS“ dargestellt wird, folgt eine Szene, in der sich die Akteure nur kurz begegnen und schließlich umfallen. Diese Szene wirkt sehr poetisch und melancholisch sowie traurig, weil der Vertrauensverlust und die Einsamkeit mit einem lyrischen Klang subtil und eindrucksvoll dargestellt werden. Unten links auf der Bühne gibt es eine aufgestellte Aluminiumleiter, mit der die Akteure hinaufzugehen versuchen. Hier sieht man Menschen, die an der Leiter hängen bleiben. Diese Szene schließt sich an die letzten zwei Kapitel an, in denen der Zusammenbruch des Finanzsystems wiederum angesprochen23 und die Reichweite des Verhaltens des Individuums dabei in Frage gestellt wird. In diesem Zusammenhang entwickelt Richter zu seiner Inszenierung einen Transformationsprozess, in dem aktuelle Angelegenheiten durchdacht werden: Für mich ist es wichtig, dass das Theater kein hermetischer Ort, der sich abschließt von der gesellschaftlichen Diskussion, sondern dass es ein Ort ist, an dem gedacht wird.24 Hier geht es allerdings darum, dass man das Gefühl hat, es gäbe kaum etwas, das man gegen die Krise und die Verantwortlichen der Krise unternehmen könnte. Mit diesem Gefühl bleiben jeweils die Personen als das „ängstliche, enttäuschte, jammernde Ich“25 in einem Hotelzimmer und stehen unbeweglich am Fenster. Sie schauen aus dem Fenster, aber sie wissen nicht, wohin sie sich bewegen können. Bei der TRUST-Inszenierung entwickelt Falk Richter auf der einen Seite poetische und auf der anderen Seite sehr dynamische Szenen, die im andauernden Wechsel gezeigt werden. Er benutzt auf der Bühne häufig weite Räume, in denen das Individuum isoliert und

orientierungslos wirkt. Diese Räume beziehen sich sowohl auf die persönliche Ebene als auch auf die gesellschaftliche Ebene. Sie sind als „ein mentaler und psychologischer [Raum]“26 zu betrachten, in dem der körperliche Zustand des erschöpften Individuums häufig zur Darstellung kommt. Heutzutage wirkt das gesamte hochkomplexe Finanzsystem nach außen sicherer als je zuvor. Es verfügt aber tatsächlich über keine wirksamen Sicherheitsmaßnahmen oder Rettungsschirme. Um diesen Umstand in Frage zu stellen, bringt Falk Richter eine energetische und zugleich traurige Atmosphäre hervor, die mit zum Nachdenken anregenden Texten27 und verschiedenen Gesten erzeugt wird. Dies ist auch daran festzustellen, dass die letzte Szene, in der die Tänzer und Schauspieler immer mehr gemeinsam, aber doch einzeln tanzen, abrupt mit einem Blackout endet, der einen Zusammenbruch des Systems andeutet. 1

Von 2001 bis 2004 war Falk Richter Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich unter der Intendanz von Christoph Marthaler, von 2006 bis 2010 Hausregisseur an der Berliner Schaubühne unter der künstlerischen Leitung von Thomas Ostermeier, von 2011 bis 2012 Hausregisseur am Düsseldorfer Schauspielhaus. Vgl. www.schaubuehne.de/de/personen/falkrichter.html/ID_Taetigkeit=13.

2

Richter, Falk: [TRUST], in: Gronemeyer, Nicole (Hrsg.): TRUST (= Recherchen 76), Berlin 2010, S. 49–102. Dieses Stück, wie auch Gott ist ein DJ, Nothing hurts, Electronic City, Unter Eis, wurde in mehr als 25 Sprachen übersetzt und geht im In- und Ausland auf Tournee. Richters Theaterstücke wurden vor allem in Paris, London, New York, Sydney, Athen, Kopenhagen, Jakarta, Tokio, Avignon, Edinburgh, vor kurzem auch in Macau, Tianjin und Beijing gespielt.

3

Vgl. Lee, Sang-Bok: „Eine Studie zu Falk Richters Drama Unter Eis – Eine kritische Reflexion über das Arbeitssubjekt im neoliberalen Zeitalter“, in: Bertolt Brecht und das moderne Theater Vol. 30 (2014), S. 91–114.

4

Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010, insbesondere das Kapitel zu „Müdigkeitsgesellschaft“, S. 54– 61.

5

Hierzu kann ich zwei Inszenierungen als Beispiele anführen: Die eine ist eine Inszenierung von Der Prozess, die am 23. Mai 2015 von der Theatergruppe Sadari-umsigim-yoenguso [Leiterbewegungsinstitut] aufgeführt wurde. Bei dieser Inszenierung wurden die Beleuchtung und die Requisiten wie Tische oder Stühle zur Gestaltung des performativen Raums ausgiebig genutzt. Die andere ist eine Inszenierung von Der Kirschgarten – Jenseits der Wahrheit, die beim PADAFFestival am 6. Juli 2015 am Daehangno-Kunsttheater gezeigt wurde. Dabei treten anstelle der Dialoge und der Entwicklung der Handlung Gesten und sich wiederholende Reden der drei Schauspielerinnen in Erscheinung. Vgl. http://sadarimovementlab.org/ (letzter Zugriff: 7. November 2015); www.padaf.co.kr/ (letzter Zugriff: 7. November 2015).

6

Von Juli 2014 bis Juni 2017 leitete ich ein dreijähriges Projekt, dessen Titel „Theater und Topologie: Raumstrategien im deutschsprachigen Theater“ ist und dessen Bandbreite von Max Reinhardt bis zur Gegenwart reicht. Bei diesem Projekt ging es vor allem darum, zu erfassen, wie die Theater im deutschsprachigen Raum betrieben wurden, wie der Raum auf der Bühne gestaltet und wie der architektonische Raum mit dem performativen Raum in Verbindung gebracht wurde.

7

Der Text von Falk Richter besteht aus 19 Kapiteln. Dabei tritt die Partnerschaft zwischen Judith und Kay in sechs Kapiteln (= VERTRAU MIR, 14 JAHRE / 3 WOCHEN – I, ICH BIN SO FROH, DASS DU ENDLICH WEG BIST, 14 JAHRE / 3 WOCHEN – II, DREI WOCHEN, 14 JAHRE / 3 WOCHEN – III) in den Vordergrund.

8

Richter: „SUCHE NACH HALTUNG“, in: Gronemeyer: TRUST, S. 15.

9

Der Song bei der Inszenierung lautet folgendermaßen: „You need more. […] Don’t have to be. Big box hollywood star. Don’t have to try. […] Don’t have to leave. […] Don’t have to be. Beautiful, but it helps. Don’t have to buy. House and Beverly Hills. […] Don’t have to high […] Beautiful, but it helps. You need more. […] You need Love. You need Love. Love is all you need. Too much of anything is never enough. Too much of everything is never enough.“

10

Richter: TRUST, S. 96.

11

In diesem Zusammenhang bezeichnet Hans-Thies Lehmann Richters Text als „Textfläche, die von allen genutzt und realisiert wird“. Siehe hierzu Lehmann, Hans-Thies: „RA(S)T/LOSE/ERSCHÖPFUNG, HALBRUHE“, in: Gronemeyer: TRUST, S. 31–40, hier S. 33.

12

Vgl. Richter: „SUCHE NACH HALTUNG“, in: Gronemeyer: TRUST, S. 13.

13

Vgl. Lee, Suk-Kyung: „Theatralität und Performativität in der Performance Art der Moderne – anhand des Tanztheaters von Pina Bausch und der Performance von Xavier le Loy“, in: Kafka-Forschung Vol. 31 (2014), S. 159–177, bes. S. 169 und 173.

14

Richter: TRUST, S. 70.

15

Vgl. ebd., S. 83.

16

Ebd., S. 91.

17

Lehmann: „RA(S)T/LOSE/ERSCHÖPFUNG, HALBRUHE“, S. 33.

18

Derzeit ist in Korea von der jungen Generation die Rede, die sieben Angelegenheiten wie Liebschaft, Heirat, Geburt, Umgang bzw. Beziehung, eigenes Haus, Hoffnung und Traum aufgibt. Diese Generation wird als Chilpo-Generation bezeichnet. Allerdings ist sie nicht gleichzusetzen mit dem Neologismus Satori-Generation, der sich auf die junge Generation in Japan bezieht, die sich nicht für Autos, Luxusartikel, Fernreisen interessiert und kein Bedürfnis mehr nach Geld und Karriere hat.

19

Richter: „SUCHE NACH HALTUNG“, S. 18.

20

Vgl. www.schaubuehne.de/de/personen/anouk-van-dijk.html/ID_Taetigkeit=13.

21

Lehmann: „RA(S)T/LOSE/ERSCHÖPFUNG, HALBRUHE“, S. 33.

22

Richter: TRUST, S. 61.

23

Der Bezug zu diesem Thema zeigt sich am deutlichsten an der folgenden Stelle: „all dieses geld / rauscht / setzt menschen in bewegung / bricht zusammen / es liegt eine schönheit in diesen zusammenbrüchen / […] all das drama, das sich dahinter verbirgt / angst / wut / schreie / verlust / […] landschaften, die darauf warten, zusammenzubrechen“ (TRUST, S. 90).

24

Richter: „SUCHE NACH HALTUNG“, S. 18.

25

Haug, Wolfgang Fritz: „MIMESIS DER PRAXISLOSIGKEIT“, in: Gronemeyer: TRUST, S. 173–178, hier S. 177.

26

Lehmann: „RA(S)T/LOSE/ERSCHÖPFUNG, HALBRUHE“, S. 39.

27

Richters Text, der refrainartig wiederkehrt, lautet beispielsweise folgendermaßen: „Lass uns einfach alles so lassen, wie es ist / Es ist zu kompliziert, das jetzt alles zu ändern / Lass uns nicht alles durcheinanderbringen / Es hat so lange gedauert das hier jetzt alles / Das war so so / Anstrengend“ (TRUST, S. 61).

Patrick Primavesi

RECYCLING MICK LEVČIK René Polleschs Bearbeitung der Antigone mit Brecht

Zürich im Frühjahr 2016: René Pollesch inszeniert das Vorspiel und einige Ausschnitte aus dem Antigone-Modell eines Autors, den man zu kennen glaubte, der nun aber Mick Levčik heißt. Dieser Name steht als No-Name zwischen dem Autor und Regisseur Pollesch einerseits und andererseits dem ungenannten Modell-Produzenten. Die Funktion, die dem No-Name zukommt, ist auch nicht die eines Autors, sondern eher die eines Statisten, der aus dem Dunkel der Anonymität ins Rampenlicht geholt wird: Bühne frei für Mick Levčik! Der angekündigte Auftritt dauert aber nicht länger als der Titel selbst.1 Im Stück erscheint Levčik gar nicht, wird nur gelegentlich erwähnt oder zitiert mit Sätzen, in die ebenso oder vielleicht noch besser der Name jenes ungenannten Modell-Produzenten gepasst hätte. Das sind dann vor allem Hinweise auf die Möglichkeit und auch Notwendigkeit eines freien, verändernden Umgangs mit dem Modell. Worum handelt es sich also bei diesem Stück, das so kenntlich schien wie sein Autor oder besser: seine verschiedenen Autoren? Die Antigone-Bearbeitung von Bertolt Brecht und Caspar Neher geht auf Hölderlins Übersetzung von Sophokles’ Tragödie zurück. Wie im Hütchen-Spiel verschwinden alle vier Co-Autoren unter dem No-Name oder Decknamen Mick Levčik, dessen rätselhafter und flüchtiger Auftritt im Titel davon ablenken könnte, dass als Autor des Stückes nur Pollesch genannt wird. Ist das bloß ein notwendiger Trick, um – schon zehn Jahre vor der erst Anfang 2027 zu erwartenden Freigabe von Brechts Werken für freiere Bearbeitungen – mit dem Antigone-Modell dann in der Inszenierung so spielen zu können, wie es das eigentlich verlangt, oder hat dieses freiere Spiel bereits mit dem Titel begonnen? Ist die Inszenierung also einfach eine neue Arbeit von Pollesch in dem ihm eigenen Format einer TextSampling-Performance? Handelt es sich dabei eher um eine Raubkopie und einen anarchischen Verwertungsprozess oder um eine Spielart lebendiger kultureller Überlieferung, die selber schon beanspruchen kann, ein Modell zu sein? Diesen Fragen wird im Folgenden nachzugehen sein, besonders ihrer Bedeutung für eine von Brecht ausgehende und zugleich sein Werk überschreitende Praxis des Recyclings. Antigone – vom Tragödientext zum Widerspruchsmodell Den Glauben an die Originalität dramatischer Werke hat kein Autor des 20. Jahrhunderts so gründlich enttäuscht und ausdrücklich in Frage gestellt wie Brecht, während er gleichzeitig

stets daran gearbeitet hat, selbst zu einem modernen Klassiker zu werden und seinem Werk eine entsprechende Geltung zu verschaffen. Dieser offenkundige Widerspruch kann geradezu als Grundlage von Brechts Produktion erscheinen, die insgesamt geprägt ist von Gesten der Aneignung, der Anverwandlung und der Nachahmung, der Wiederholung und des Zitierens, der Paraphrase und der Parodie, der Umschrift und der Übermalung, der Fortschreibung, des Kommentars und der Übersetzung. All diese Praktiken und die damit verbundenen Genres waren auch in früheren Epochen ein wichtiges Element literarischen Schreibens, besonders in Verbindung mit der Praxis theatraler Inszenierungen. Dabei geht es nicht nur um Stoffe und Figuren, die seit den antiken Mythen im Theater und allen literarischen Gattungen unablässig bearbeitet wurden. Mit den bekannten, früher schon erzählten und dargestellten Geschichten verbindet sich jeweils auch eine Vielzahl spezifischer Gestaltungsweisen, Formen und Techniken, die an ihnen entwickelt wurden. In jeder neuen Version oder Variante werden sie fortgeführt und bestätigt oder auch durch andere Perspektiven, formale und mediale Erweiterungen überschritten und in Frage gestellt. Dieser für die Dynamik von kultureller Tradition zu allen Zeiten konstitutive Prozess ist bei Brecht jedoch in besonderem Maße reflektiert, in einer kritischen und zugleich spielerischen Form explizit gemacht. Ähnlich wie die Akteure im Lehrstück und im epischen Theater ihr Spiel nicht nur ausführen, sondern als solches vorzeigen und kommentieren sollen, hat Brecht selbst – als Autor und Produzent, der auf eine revolutionäre Veränderung der Produktionsapparate hinarbeitet, wie Walter Benjamin ihn charakterisierte2 – seine Praxis des Fort-, Weiter-, Um- und Überschreibens immer wieder thematisiert und auch (einigermaßen) transparent gemacht. Diese Aufspaltung der Perspektive wurde kurz nach Brechts Tod in einem wegweisenden Aufsatz des polnischen Theaterwissenschaftlers Andrzej Wirth genauer analysiert, in dem Aufsatz „Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke“.3 Darin geht es um das Zusammenwirken mehrerer Ebenen, der poetischen, diskursiven und dramaturgischen, woraus sich die antiillusionistische Wirkung von Brechts Stücken ergibt, die ihre Themen gleichsam in drei Dimensionen behandeln und dadurch zu einer plastischen, räumlichen Erscheinung bringen. Um mehr und anderes aussagen zu können als die dramatischen Figuren in ihren Dialogen, bediente sich das Theater – in seiner Geschichte vor und nach dem Drama – immer wieder einer zweiten Ebene: der Chöre und Songs, mit einem dementsprechend erweiterten Blick. Die Lehrstücke hätten diese Entwicklung dann systematisch in eine neue Spielform überführt. Zusätzlich zu Dichtung und Diskurs sei im epischen Theater schließlich eine dritte Etappe bei der Entwicklung der stereometrischen Struktur erreicht, indem die Kommentare gegenüber der Handlung dominieren. Damit tritt neben den gespielten Handlungen zugleich die „Vorstellung des Theaterspielens“ selbst in den Vordergrund, wie das schon Benjamin als Kennzeichen des epischen Theaters hervorgehoben hat.4 Das im kleinen Schweizer Städtchen Chur 1948 uraufgeführte Antigone-Modell ist für Brechts Schaffen gleich aus mehreren Gründen von besonderer Bedeutung: Zum einen war es sein erster Versuch, nach Ende des Zweiten Weltkriegs und nach der Rückkehr aus dem

jahrzehntelangen Exil im europäischen Theater und im deutschen Sprachraum wieder Fuß zu fassen. Was damit für Brecht als Autor und Regisseur zu leisten war, galt es ebenso für Helene Weigel als Schauspielerin zu erreichen – ein Anknüpfen an die Karriere vor 1933. Dabei ging es konkret um einen Test für die bereits geplante Aufführung der Mutter Courage mit Weigel in der Hauptrolle: „eine Art preview für Berlin“5. Gleichzeitig sollte die neue Produktion Stellung beziehen zur Zeit des Faschismus und zu dessen Fortwirken auch in der Art und Weise, wie weiterhin illusionäres Theater gemacht und rezipiert wurde. Dazu kam, dass die in der Zwischenzeit auch in der Schweiz etablierten Auffassungen, wie das epische Theater auszusehen hätte, für Brecht höchst problematisch waren. So musste er viele Missverständnisse und Klischees registrieren, die seine gesamte Produktion betrafen und deren Intentionen oft entgegengesetzt waren. Die Funktion der neuen Inszenierung war es nicht bloß, festgefahrene Konventionen zu überwinden und neue Maßstäbe zu setzen, sondern ebenso, die eigene Praxis kritisch zu überprüfen, weiterzuentwickeln und durch das Stück wie durch die Inszenierung das epische Theater gleichsam neu zu erfinden. Dem entsprach schon bei der Vorbereitung des ungewöhnlichen Projekts dessen Dokumentation, die im Einzelnen abzulesen ist an Brechts Arbeitsjournal, an Briefen und zusätzlich entstandenen Texten wie an der photographischen Begleitung von Proben und Aufführung durch Ruth Berlau. Daraus wurde schließlich eine relativ aufwändige Publikation, die als erstes der Modellbücher dieses Genre begründete und der Methodik der Inszenierungsdokumentation neue, in vielen Punkten bis heute gültige Wege weisen sollte.6 Bemerkenswert sind auch die äußeren Umstände, welche die Produktion vor kaum lösbare Aufgaben stellten: In kürzester Zeit sollte Brecht ein sehr heterogenes Ensemble so weit bringen, dass es die Bedürfnisse des lokalen und regionalen Publikums befriedigte und auch den im Falle Brechts besonders hohen Ansprüchen einer weit über die Schweiz hinausreichenden kritischen Öffentlichkeit genügte. All diese unterschiedlichen Ziele erscheinen im Nachhinein schwer miteinander vereinbar: Brecht erwähnt im Vorwort zum Modellbuch den auch für diese Inszenierung prägenden Umstand eines „beinahe unentwirrbaren Stilgemisch[s] unserer Periode des Ausverkaufs […] und ganz offensichtlich spielen die Schauspieler zu ganz verschiedenen Zwecken“.7 Obwohl die Arbeitsbedingungen in Chur, wo es kaum Probenorte und für die Aufführung nur einen sonst vor allem als Kinosaal genutzten Raum gab, offenbar schwierig waren, wird in mehreren Berichten die gute und konzentrierte Atmosphäre bei der Arbeit hervorgehoben. Allerdings zeigte Brecht wohl gegen Ende der Probenzeit „eine temporäre Nervosität und Unduldsamkeit den Schauspielern gegenüber“ mit der Gefahr, „dass der Arbeitsbogen überspannt wurde“.8 Dieser Hinweis des Theaterleiters Hans Curjel könnte durchaus an Brechts eigenen Kommentar zum Thema des Stückes erinnern, dass nämlich „Unternehmungen, die allzu viel Gewalt benötigen, leicht scheitern“9. Auch das Vorwort reflektiert als eine elementare Paradoxie künstlerischer Arbeit, „daß sie ihre Geschäfte, und seien es die aussichtslosesten, mit vollkommener Leichtigkeit betreiben muß“.10

Bei der insgesamt prekären Ausgangslage der Produktion ist es erstaunlich, dass die Antigone-Aufführung – obwohl sie vom Publikum bei nur drei Wiederholungen in Chur und einer Matinee in Zürich kaum gewürdigt wurde – als eine der folgenreichsten Inszenierungen Brechts gelten kann.11 Unter den Umständen und Einzelheiten des Projekts, die hier nur kursorisch anzudeuten sind, sollen nun einige Aspekte noch etwas näher betrachtet werden. Von besonderem Interesse sind im vorliegenden Kontext der Prozess der Wiederaufnahme, Bearbeitung, Übersetzung und Kommentierung früherer Texte und Spieltraditionen sowie die damit einhergehende Reflexion der Aufgaben und Potentiale der Churer Inszenierung als Modell eines zukünftigen epischen Theaters. Angesichts der Nachwirkungen der faschistischen Kulturpolitik formulierte Brecht als Bedingung eines Neuanfangs für das deutschsprachige Theater die Abgrenzung von der damals häufig noch als „glänzend“ bewunderten „Technik der Göringtheater“12. Dem Verfall der Kunstmittel wie auch der „Zuschaukunst“ und der Beurteilung von Theater galt es etwas entgegenzusetzen. Dem sollte die Modellinszenierung mit einem besonderen Status zwischen Vorgabe und Veränderbarkeit entsprechen. Die Entwicklung des Aufführungsmodells stand im Kontext von Brechts Reflexionen über ein experimentelles „Theater im wissenschaftlichen Zeitalter“, die er wenig später im Kleinen Organon veröffentlichte. Mit dem Modell ging es nicht nur um die Dokumentation einer einzelnen Inszenierung, sondern grundsätzlicher um Theater als Spielraum der Veränderung, zur Produktion von zitierbaren Gesten. So hat aber schon für die Herstellung von Modellen die Frage nach ihrer Benutzung und Nachahmung eine entscheidende Funktion. Bei der Berliner Inszenierung der Mutter Courage (1949) führte Brecht diese Problemstellung dann weiter und brachte sie auf den Punkt, dass das Modell nur und gerade durch seine Veränderung zu benutzen sei: „So töricht eine Nichtbenutzung des Modells (etwa aus Ehrgeiz) wäre, so klar sollte es doch auch sein, daß man ein Modell am besten benutzt, indem man es verändert.“13 Eine Zuspitzung dieser Maxime auf einen kritischen Umgang mit Brecht insgesamt bildet den Schluss von Heiner Müllers wegweisendem Text Fatzer ± Keuner: „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“14 Zum Modell gehört bereits die Aufforderung zu seiner Überschreitung. Im Unterschied jedoch zu einer ignoranten Verdrängung alles Früheren und einem naiven Vertrauen auf die individuell schöpferische Originalität sollte die Benutzung von Modellen zu einem neuen Verständnis von Tradition und Vermittlung führen, zu gezielten Abweichungen. Nun ist es wohl auch kein Zufall, dass Brecht seine Konzeption des Modells gerade in der Auseinandersetzung mit einer antiken Tragödie entfaltet hat, an einem bereits durch unzählige Übersetzungs- und Brechungsprozesse bearbeiteten und geprägten Material. In beispielhafter Transparenz führt das Antigone-Modell vor, dass Theater sich die Stoffe und Texte seiner Tradition immer nur vorläufig, auf Probe aneignen kann.15 Die Gelegenheit zu diesem Projekt gab eine Einladung des Züricher Theaterveranstalters und Intendanten des Stadttheaters von Chur, Hans Curjel, den Brecht noch aus der Zeit vor 1933 als Dramaturg der Berliner Krolloper kannte. Auf Anraten seines Mitarbeiters, Freundes

und „Bühnenbauers“ Caspar Neher entschied sich Brecht für die Antigone des Sophokles in der Übersetzung Friedrich Hölderlins. Das Besondere am gemeinsam erarbeiteten AntigoneModell liegt zunächst darin, dass es nicht nur die von Sophokles begründete Infragestellung des Mythos im Theater radikalisiert, sondern dass es im Rückgriff auf Hölderlins Version auch den Prozess der Übersetzung hervorhebt, den Text als Modell einer kaum abschließbaren Kette von Bearbeitungen und Lesarten ausstellt. Dabei wird bereits deutlich, dass Recycling im Theater der Tragödie immer schon am Werk ist, da ihre Texte keinen reinen Ursprung haben, der nicht selber schon Wiederaufnahme und Fortschreibung wäre.16 An Hölderlins Sprache schätzte Brecht die Verbindung von extremen Gegensätzen: Waren das schwäbische Idiom, ein „Volksgestus“ und Elemente einer „Hegelischen“ Dialektik noch Anknüpfungspunkte an Vertrautes, so eröffneten die häufig als dunkel abgelehnte Unverständlichkeit und die formale Konstruktion dieser Übersetzung eine ihm bis dahin noch kaum bekannte Modernität Hölderlins. Wenn Brecht die „erstaunliche Radikalität“ von Hölderlins „Antigone-Sprache“ hervorhebt, so bemerkt er aber zugleich, dass sie ein tieferes Studium verdient hätte, als er ihr bei dieser Gelegenheit widmen konnte.17 Dies verweist bereits auf eine Grenze der Auseinandersetzung mit Hölderlin, bedingt nicht nur von den äußeren Umständen, sondern auch von dem bei Brecht anfangs vorherrschenden Interesse einer „Durchrationalisierung“ des alten Textes. Die vielen Eingriffe in den etwa zu einem Drittel von Hölderlin übernommenen Text konzentrieren die Handlung der Tragödie auf einen Diskurs über die Unzulänglichkeit tyrannisch missbrauchter Macht. Neu an Brechts Fassung ist der zur Eroberung fremder Rohstoffe geführte Angriffskrieg gegen die Stadt Argos, mit dem ein sich überschätzender Herrscher die Vernichtung des Staates Theben herbeiführt. Im Unterschied zum wechselseitigen Brudermord bei Sophokles ist es nun Kreon, der den aus der Schlacht fliehenden Polyneikes selbst umgebracht hat. Vor allem ist der Krieg keineswegs zu Ende, sondern auf der Schwelle der Entscheidung. So entzieht sich das Stück der einheitlichen Parteinahme – weder die Gestalt der Antigone noch der dem „Freudengott“ huldigende Chor der Alten lassen sich im Sinne einer vom Volk ausgehenden oder wenigstens getragenen Widerstandsbewegung funktionalisieren. Alle sind verwickelt und Antigone ist mitschuldig, weil sie zulange die Gewalt des Tyrannen erduldet hat und durch ihre verzweifelte Tat nur dem Feind hilft, das eigene Volk dem Untergang ausliefert. So wird die zum heroischen Ideal übersteigerte Heldin, dieses von Hegel mit dem Glanz des Absoluten ausgestatte Vorbild aller Vorbilder, in Brechts Bearbeitung einer kritischen, quasi dekonstruierenden Betrachtung ausgesetzt. Eine Notiz aus dem Arbeitsprozess hat dies festgehalten: „Gehörend zu den Herrschenden kann sie glauben, sie kann es sich leisten, erfährt, daß nicht!“18 Text und Modellbuch behalten außerdem eine spezifische Spannung im Verhältnis zu Mythos und Ritual, mit der von Brecht und Caspar Neher diskutierten Frage, wie der immer noch gewaltige Stoff zu situieren wäre. Dabei ging es nicht nur um die Gestaltung der Bühne, sondern um die Verortung des Spiels als einer symbolischen Handlung, welche die kultischen Elemente der Tragödie zugleich wieder aufnehmen und überwinden sollte:

Bei der Konstruktion des Bühnenbildes stießen Cas und ich auf ein ideologisches Moment ersten Ranges. Sollten wir die barbarischen Götzenpfähle mit den Pferdekopfskeletten zwischen die Bänke der Schauspieler hinten stellen, damit den barbarischen Ort des alten Gedichts angeben, den die Schauspieler dann verlassen, um zu spielen (die entgötzte Fassung)? Wir entschieden uns, das Spiel zwischen den Pfählen zu arrangieren, haben wir doch immer noch den vergötzten Staat der Klassenkämpfe!19 Diese Entscheidung zeigt, dass Brecht schon vor der Uraufführung an dem Programm einer Durchrationalisierung zweifelte. Gemäß seiner Kritik am klassizistisch beschönigenden Verständnis griechischer Kultur war auch die eigene Fassung nicht über das „Barbarische“ erhaben: „Die ganze Antigone gehört auf die barbarische Pferdeschädelstätte. Das Stück ist ja keineswegs durchrationalisiert.“20 Dass der barbarische Ort des alten Gedichts nicht einfach verlassen werden kann, verdeutlicht, dass jede neue Gegenwart ihre Form von Barbarei darin erweist, wie sie auf der Pferdeschädelstätte als dem Schauplatz öffentlicher Gewalt agiert. Brecht hielt schließlich Nehers Antigone-Bühne („inklusive Kostüme und Requisiten und Grundgruppierungen“) für exemplarisch gerade insofern, „als sie jede Variation verträgt“21. Darin hat vor allem die „Pferdeschädelstätte“ der Uraufführung Modellcharakter, dass sie die Unlösbarkeit und zugleich die Produktivität eines Konflikts von Theater, Mythos und Aufklärung manifestiert, jeder weiteren Bearbeitung des Stoffes und jeder Inszenierung des Antigone-Modells einschreibt. Das Inszenierungsmodell von Brecht und Neher entstand jedenfalls aus der engen Verknüpfung einer neuen Deutung und Formalisierung des AntigoneStoffs mit einer Theaterpraxis, die ihre eigene Bedingtheit, Widersprüche und Schwächen reflektierte. Gerade hierfür ist das Wechselspiel zwischen Fragen, Antworten und neuen Fragen aufschlussreich, die im Modellbuch den Szenenphotos gegenübergestellt sind und ein Spannungsverhältnis zwischen Modell und Abweichung eröffnen. Zu den Mängeln, die Brecht während der Inszenierung des Antigone-Modells erkannte, zählte das Problem einer allzu eindeutigen Aktualisierung der antiken Tragödie. Als deren Vorspiel hatte Brecht eine Szene aus den letzten Kriegstagen in Berlin geschrieben, wo zwei Schwestern aus dem Luftschutzkeller in ihre Wohnung zurückkehrend Spuren eines Besuchs feststellen. Während sie erkennen, dass ihr Bruder gerade noch dort gewesen und aus dem Krieg desertiert sein musste, hören sie Schreie von draußen. Als sie sehen, dass er bereits aufgehängt wurde, möchte die eine Schwester ihn losschneiden, um ihn vielleicht noch zu retten oder wenigstens seinen toten Körper zu bergen. Davon hält die andere sie aus Furcht vor Bestrafung ab und verleugnet den Bruder dann auch gegenüber einem misstrauischen SS-Mann. Im Vorwort des Modellbuchs, das Anfang 1949 erschien, bemerkte Brecht aber, dass die überraschend kräftigen „Analogien zur Gegenwart“ eher von Nachteil seien, da mit Antigone gerade nicht die „Kämpfer des deutschen Widerstands, die uns am bedeutendsten erscheinen müssen“ repräsentiert werden konnten. Sehenswert sei immerhin „die Rolle der Gewaltanwendung bei dem Zerfall der Staatsspitze“, eine Art Staatsaktion in objektiver

Darstellung22, die weder einen zeitlosen Geist der Antike beschwören noch die Zuschauer der Nachkriegszeit zur falschen Identifizierung mit der Hauptfigur einladen sollte. Wenn die Analogien zwischen Argos und Stalingrad auch offensichtlich seien, wäre das Drama des deutschen Widerstands doch erst noch zu schreiben. Daher sei die Funktion des Vorspiels allenfalls, „einen Aktualitätspunkt zu setzen und das subjektive Problem zu skizzieren“.23 Dieses Skizzieren geschieht im Text mit dem Wechsel zwischen Erzählung und Dialogen. Für das Spiel sollte, wie im Modellbuch angemerkt, besonders darauf geachtet werden, dass der Bericht „nicht von den vorgespielten Partien her emotional geladen wird“.24 Anlässlich der deutschen Erstaufführung, Ende November 1951 in Greiz, bemerkte der Kritiker Weinert zum Antigone-Modell, dass sich gerade aus dem Gegensatz zwischen Brechts von seinen persönlichen Erfahrungen mit Unterdrückung und Verfolgung geprägtem Verhältnis zum Stoff einerseits und andererseits den Spielanweisungen eine „ungeheure Spannung“ ergebe.25 In der Tat wirft das Modell Fragen auf, die durch die Dialoge und Kommentare im Modellbuch kaum gelöst werden, angefangen beim Vorspiel, das ja ebenso wenig auf ein „subjektives Problem“ zu reduzieren ist wie dann der Antigone-Text auf eine „objektive Darstellung“ von unzulänglicher Gewaltherrschaft und der Kausalität ihres Scheiterns.26 Widersprüchlich bleibt aber insgesamt auch der Status des Modells, das Brechts Vorwort zufolge ja verpflichtend sein sollte, gleichwohl Änderungen provozieren und gerade nicht dazu dienen sollte, eine bestimmte Aufführungsweise zu fixieren: „Das Modell […] ist von vornherein als unfertig zu betrachten; gerade, daß seine Mängel nach Verbesserung schreien, sollte die Theater einladen, es zu benutzen.“27 Was Brecht damit als Dialektik des Modells entworfen hat, ist die Anwendung der Prinzipien des epischen Theaters auf dessen eigene Funktion im Prozess kultureller Überlieferung und Aneignung. Die Widersprüchlichkeit des Modells, dass es zu seiner eigenen Überschreitung anhalten soll, macht es gleichzeitig zum Modell von Widerspruch überhaupt. Damit wird aber eine Art von Tradition, die primär auf dem Status von Werk und Autorschaft beruhte und deren Aufwertung diente, ersetzt durch ein Recycling, in dem diese Instanzen einem freieren Spiel ausgesetzt sind. Bühne frei für Mick Levčik! In seiner Version des Antigone-Modells geht Pollesch gerade den Widersprüchen in den von Brecht formulierten Hinweisen zur späteren Benutzung von Modellen nach und nimmt sie auf komische Weise beim Wort. Damit wird zugleich ausprobiert, wie weit Brechts Vorschläge, Versuche und Modelle auch im zeitgenössischen Theater noch tragen können. Was getestet wird, ist also eigentlich die Verwertbarkeit von Brechts Produktion im Hinblick auf den im Theater freizusetzenden Recycling-Prozess. Diese szenische Verwertbarkeit wäre als der „Ausstellungswert“ eines Werkes mit Benjamin von dem „Kultwert“ zu unterscheiden, der – einem vormodernen Verständnis von Kunst entsprechend – immer noch dem Ritual, der Einmaligkeit und dem auratischen Zauber des „Hier und Jetzt“ verpflichtet war.28 Dem steht mit dem Recycling ein Prinzip der „technischen Reproduzierbarkeit“ gegenüber – ähnlich wie

in Benjamins Übersetzungstheorie die „Übersetzbarkeit“ ein in Texten angelegtes Potential bezeichnet, das Übersetzung möglich und notwendig macht.29 Reproduktionen wären dann zunehmend solche „eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks“.30 Im Theater entspräche dem die Verwertbarkeit nicht nur von Texten, sondern auch von szenischen bzw. theatralischen Gedanken für einen jederzeit neuen und veränderten Gebrauch. Wie Benjamin ein solches Potential bereits im epischen Theater erkannte, das seine Wirksamkeit auf der Höhe der Technik (von Film und Rundfunk) erreicht,31 haben zeitgenössische Spielweisen und Inszenierungsformen die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit längst in sich aufgenommen. Dazu kann nicht nur der faktische Einsatz technischer Medien dienen, sondern auch eine Dramaturgie, die Medieneffekte simuliert, mit ihnen zu spielen vermag. Exemplarisch für diese Tendenz ist schon seit Jahrzehnten das Theater von Pollesch, in dem Wahrnehmungsweisen und Inszenierungskonventionen von Soap Operas, Fernsehrevuen, Werbesendungen und Familienserien ebenso verwendet werden wie Szenen aus Filmen von Alfred Hitchcock, John Cassavetes, Ernst Lubitsch oder unzähligen B-Movies.32 Auch Brecht schwebte für den Gebrauch von Modellen die Erweiterung der Mittel von Theaterregie auf Filme vor, die es ermöglichen könnten, nicht nur Texte, Figuren und Situationen oft gespielter Stücke wiederzuverwenden, sondern auch auf ihre „theatralische Ausformung“ in einigen gelungenen Mustern zurückzugreifen.33 In ähnlicher Weise sind aber die charakteristischen Elemente von Polleschs Theater lange schon auf Recycling-Prozesse ausgerichtet und von deren Dynamik inspiriert: ein schnelles Sprechen auf Anschluss und weitere antiillusionistische Spielweisen ebenso wie eine kontrastive, mitunter abrupte Montage von Szenen und Situationen; die Einfügung von Zwischenmusiken und Songs (clips) ebenso wie Effekte des Zappings, wenn übergangslose Wechsel zwischen den verschiedenen, parallel aufgenommenen Themen oder Stoffen eines Stückes stattfinden wie zwischen TV-Programmen; schließlich die Wiederverwendung von Monologen, Dialogen und Handlungssequenzen in Schleifen (loops), die wie musikalische Motive eher nach dem kompositorischen Prinzip des Sampling als nach einer inhaltlichen Logik aneinandergereiht werden. Und nicht zuletzt die Integration einer Kommentarebene, mit der die Figuren in Polleschs Stücken jederzeit in theoretische Reflexionen und metatheatrale Diskurse wechseln oder diese umgekehrt preisgeben können zugunsten ganz konkreter Aussagen über ihre körperliche Befindlichkeit.

Schauspielhaus Zürich: Bühne frei für Mick Levčik! von René Pollesch (2016). Chor, Sophie Rois, Jirka Zett, Marie Rosa Tietjen und Nils Kahnwald. Foto: Matthias Horn

Was also geschieht in Bühne frei für Mick Levčik! und wie geschieht es? Mit welcher dramaturgischen Struktur werden die sonst schon bei Pollesch etablierten Techniken des Recyclings auf Brechts Antigone-Modell und auf die damit einhergehenden Anweisungen zur Benutzung von Modellen angewandt? Insgesamt erfährt das Stück, wie könnte es bei Pollesch anders sein, einen rasanten Absturz aus der Höhe des – auch bei Brecht noch vorhandenen – tragischen Pathos von Staatskrise und Selbstopfer auf den Boden einer körperlich konkreten Situationskomik. Dabei bedarf es zumeist nur einer geringfügigen Verschiebung im Material der Szenen und ihrer im Modellbuch festgehaltenen Kommentierung, um die darin angelegten komischen Effekte freizusetzen. Die bereits im Verfahren der Parodie oder noch drastischer des „billigen Remakes“ enthaltene Dynamik ist eben die der Wiederholung, mit der – wie schon Karl Marx bemerkte – auch die in der Geschichte sich abspielenden Tragödien bei ihrer Wiederkehr als Farcen erscheinen.34 Polleschs Umgang mit dem Antigone-Modell zeigt, dass gerade in Brechts paradoxalem Versuch, zwischen Verpflichtung und Selbstermächtigung an einer dialektischen Regelung des Modellgebrauchs festzuhalten, ein großes Potential von komischen Momenten der Wiederholung und der Wiederkehr enthalten ist. Die Uraufführung von Polleschs Stück fand am 1. April 2016 im Theater am Pfauen statt, der traditionellen Spielstätte mit Guckkastenbühne, auf der am 14. März 1948 auch das einmalige Gastspiel des Antigone-Modells in der Churer Version gezeigt wurde. Die Bühne

war noch von dem (bereits 2015 verstorbenen) Bert Neumann als eine Art Readymade entworfen worden, angelehnt an das Modellbuch und Caspar Nehers Konzept des Spielortes zwischen den Pferdeschädeln. Die gelegentlich davor gehängte Wand mit der Aufschrift „Berlin. April 1945. Tagesanbruch“ ließ ebenfalls nicht nur an eine freie Bearbeitung des Modells, sondern eher an ein Reenactment der Uraufführung denken. Diese vom möglichst detailgetreuen Nachspielen historischer Schlachten bekannte Praxis wird inzwischen häufig auch bei der Auseinandersetzung mit Tanz- und Performance-Produktionen der historischen Avantgarden eingesetzt, um deren spezifischen Ereignischarakter wieder sinnlich erfahrbar zu machen. Die in allen Theaterformen schon gewohnten Verfahren von Wiederaufnahme oder Neueinstudierung werden ständig weiter ausdifferenziert, wobei als „Rekonstruktion“ auch freiere Umgangsweisen mit dem Konzept und möglichen Dokumenten dazu bezeichnet werden. So kommt es beim Versuch, sich das kulturelle Erbe der Moderne anzueignen, zu ähnlichen Problemen wie in Brechts Modelldiskurs. In diesem Kontext findet auch Polleschs Inszenierung eine andere Resonanz als es etwa noch vor zwei oder drei Jahrzehnten einer Bearbeitung des Antigone-Modells möglich gewesen wäre. Deutlich wird somit aber auch die Differenz zwischen Polleschs Arbeit und den sonst üblichen Verfahren von Reenactment und Rekonstruktion, was vor allem an seiner durchgängigen Vermischung und Montage der Ebenen des Spiels, des Diskurses und der (Selbst-)Kommentierung der Akteure liegt. Zu Beginn des Abends treten vier Schauspieler auf: Sophie Rois als Antigone und erste Schwester; Marie Rosa Tietjen als zweite Schwester, die sonst noch Sätze von Olly Dille spricht, der Antigone der Greizer Aufführung von 1951 und von deren Mann, dem Greizer Intendanten und Regisseur Otto Ernst Tickardt; Nils Kahnwald als Kreon und Jirka Zett, der den Part von Ismene sowie viele Kommentare und erzählende Texte spricht. Auch alle anderen übernehmen außer den Rollentexten häufiger Kommentare oder zusätzliche Texte, die Pollesch als Parallelgeschichten eingefügt hat. Untereinander reden sie sich mit Schwester oder mit ganz anderen Namen an (Marita, Hedwig und Milli, für die um 1906 verstorbene österreichische Schauspielerin Milli Elsinger). Nachdem Sophie Rois zweimal an die Alarmplatte geschlagen hat (was dem Modellbuch gemäß das Tragödienspiel eröffnen soll), wird die Wand heruntergelassen für das Vorspiel. Ortsangaben und Regieanweisungen werden zum großen Teil mitgesprochen, ebenso die Kommentartexte des Modellbuches. Im Ablauf des Vorspiels gibt es jedoch mehrfache Abweichungen und Unterbrechungen – von dem Moment an, wo Sophie Rois als Zweite Schwester, die sich den Soldatenrock des Bruders angezogen hat, daraus nicht nur den Brotlaib und das Stück Speck hervorholt, sondern noch dazu einen Hasen, ein Horn, eine Krücke, ein Bein und einen Holzschlitten. Wie im Märchen spielen die Dinge mit und scheinen eine magische Macht auszuüben, werden jedenfalls von den Schwestern (und dem Publikum) mit freudiger Überraschung angestaunt. An dieser Stelle unterbricht Jirka Zett, der vorher an der Bühnenrampe zusammengekauert lag, plötzlich das Spiel, indem er den – das ganze Stück durchziehenden – Diskurs über die Risiken und Chancen der Modellbenutzung mit den entsprechenden Zitaten von Brecht eröffnet:

J: Nee, Leute, darum geht es nicht! Worum geht es in diesem Stück? Das ist die Frage. Du bist nicht mehr am Modellbuch, du bist ausgeschert. S: Modellbuch hin, Modellbuch her. Man wird doch wohl noch einen Einfall haben dürfen. Oder ist das jetzt verboten? Das Modellbuch wurde uns doch nicht gegeben, um etwas zu fixieren, ganz im Gegenteil. Es lebt überhaupt erst mit der Weiterentwicklung. N: Ja. wir müssen uns an das Modellbuch halten! Andererseits existiert die Realität, die der eine Autor untersucht, nun mal nicht mehr, wenn der nächste kommt. Jedes nachfolgende Buch lässt das vorangegangene wie einen Bericht aus der guten alten Zeit erscheinen.35 Mit solchen Einschüben wird als Situation des Stückes eine Art kollektiver Arbeitsprozess etabliert, der später auch explizit als Probe angesprochen wird. In dieser Situation kommt es, meistens auf ein Zeichen der Souffleuse Rita von Horváth, die kurz in die Hände klatscht, zum plötzlichen Wechsel zwischen Vorspiel und Tragödientext, verbunden mit dem Hoch- oder Herunterziehen der weißen Wand. Insgesamt werden von der Antigone-Handlung nur wenige Szenen gesprochen und auch diese öfters unterbrochen durch Kommentartexte. Auch die von Brecht verfassten „Brückenverse“, die bei den Proben in Chur durch die Schauspieler oder den Inspizienten gesprochen werden sollten zur Einstimmung auf die jeweilige Szene, werden häufig integriert, so dass Ton und Gestus im Sprechen ständig wechseln. Bald schon stoßen die Spieler mit der wiederkehrenden Frage „worum geht es in diesem Stück? Warum stirbt Antigone?“ auf das Problem des Inzests. Hier scheint ein blinder Fleck der meisten Auslegungen des Antigone-Textes zu liegen, wie Sophie Rois (wohl von Judith Butler inspiriert36) vor allem gegen Hegels Deutung argumentiert, wonach Sophokles in dieser Tragödie einen symmetrischen Gegensatz zwischen Kreons Berufung auf die Gesetze des Staates und Antigones Eintreten für die anderen Gesetze der Verwandtschaft angelegt hätte. Dagegen sei doch zu berücksichtigen, dass Antigone als Tochter des Ödipus ebenso wie ihre Geschwister nur inzestuöse Familienbeziehungen kennt und von diesen weit mehr beeinflusst ist, als es bisherige Deutungen der Tragödie wahr haben wollten. Dieser psychoanalytische Diskurs über deformierte Verwandtschaftsverhältnisse und eine darauf zurückzuführende Todessehnsucht bei Antigone wird zwar nur noch sporadisch weitergeführt, bildet aber ein Gegengewicht zu den komischen Varianten und Brechungen des Modelldiskurses nach Levčik, der nun stellvertretend für Brecht gelegentlich zitiert wird. Eine komische Brechung erfahren in Polleschs Stück aber auch die existenziellen Themen des Begehrens und der Bedrohung durch den Tod, die mit zunehmendem Alter erfahren wird, indem der Chor, zusammengesetzt aus elf jungen Männern, die Figur einer hysterischen Schauspielerin gibt. So leugnet „sie“ ihr Alter und verweigert sich auch den Konventionen des professionellen Schauspiels. Allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz lehnt sie ihre Rolle als „alte Frau“ ab, um nicht vom Publikum endgültig darauf festgelegt zu werden. Hiermit

findet die Aufführung zu einem Thema, das Pollesch auch in früheren Produktionen schon variiert hat: die Zumutungen der theatralen Darstellung für Schauspieler*innen, der Verlust des erotischen Zaubers im Alter, das jedenfalls nicht thematisiert werden darf, und die vergebliche Suche nach der echten, authentischen Identität hinter den Rollen des Alltags und der Bühne. Mehr oder weniger direkt verweist dieser Themenkomplex auf Helene Weigel, den von Brecht lyrisch begleiteten „Abstieg der Weigel in den Ruhm“37 und ihre mit der Arbeit an den Modellaufführungen von Antigone, Mutter Courage und Die Mutter eröffnete zweite Karriere als Schauspielerin und Intendantin des Berliner Ensembles. Die naheliegende Spiegelung von Sophie Rois in Helene Weigel und René Pollesch in Mick Levčik bzw. Bertolt Brecht scheint gelegentlich auf, wird aber relativiert durch zwei weitere Motivketten: die auf Cassavetes’ Film Opening Night verweisende Angst der Hauptdarstellerin, auf der Bühne geohrfeigt zu werden, und die – ebenfalls am Chor sich abspielende – Verwandlung in Nazi-Soldaten. Ähnlich wie in Polleschs Cappuccetto Rosso (Salzburg/Berlin 2005) ist die Illusion eines auratischen Zaubers der Schauspielerin kaum zu trennen von einer dem Faschismus und seiner Spielfilmästhetik entsprechenden, phantasmatischen Menschendarstellung. Solange die jungen Männer Nazi-Uniformen tragen, sind sie, wie Sophie Rois ihnen vorwirft, doch nur sie selbst, Protagonisten eines auch bereits im Theater gewöhnlichen Faschismus ohne die Möglichkeit zu Spiel und Veränderung. Schon in früheren Produktionen hat Pollesch den Chor als Kollektiv-Subjekt eingesetzt, das die Phantasmen des Individualismus auf komische Weise ad absurdum führt, mit einem stets uneigentlichen (aber präzise wie bei Einar Schleef synchronisierten) Sprechen ebenso wie mit choreographischen Einlagen.38 Hier genügt schon das Stichwort einer Tanzprobe, um den Chor in einer bombastischen Szene vor einem roten Galavorhang als „Naziballett“ und „Tuntenparade“ Revue tanzen zu lassen, wie es auch die Musik aus der 1967 entstandenen Filmkomödie The Producers von Mel Brooks nahelegt. Wie ein entferntes Echo klingt in dieser Tanzeinlage noch der in Sophokles’ Antigone enthaltene und von Brecht verstärkte Dionysosreigen an, den die Thebaner im Irrglauben an den von Kreon versprochenen Sieg tanzen wollen. Und selbst der Wechsel zwischen der antiken Tragödie auf dem Spielfeld hinten und der Nazikomödie im Bereich des Vorspiels vorne greift Impulse von Brecht auf, der ja selbst stets an einer komischen Bloßstellung des Nationalsozialismus interessiert war, die er besonders in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui auch szenisch durchgeführt hat.

Schauspielhaus Zürich: Bühne frei für Mick Levčik! von René Pollesch (2016). Sophie Rois und Marie Rosa Tietjen. Foto: Matthias Horn

Als Prinzipalin der Aufführung lässt Sophie Rois den Nazizauber rasch verpuffen, indem sie die anderen – wie auch in früheren Pollesch-Produktionen – souverän als „Kinder“ wieder zur Ordnung ruft. Die „große inzestuöse Theaterfamilie“, die im Stück immer wieder über einander herfällt, ist bis zuletzt auf der Probe, versucht sich gegenseitig zu motivieren, aus dem Stück etwas herauszuholen, und sei es etwas „Menschliches“: S: Kinder, ich glaube, wir verrennen uns jetzt gerade total. Worum geht es in Antigone? Wie machen wir weiter? Was interessiert uns an diesem Stück? Es ist doch nicht einfach nur eine Family-Story. Oder die Geschichte eines jungen Mädchens, das besessen ist von Beerdigungen. Wisst ihr, der Inzest! Ob man da nicht noch mal guckt, was da rauszuschlagen ist … (zu N) Was verlange ich schon, was verlange ich schon! Komm, wag doch mal etwas, packen wir dieses Stück, stellen wir es auf den Kopf, und schauen wir, ob wir nicht irgendetwas Menschliches darin finden können. Worum geht’s denn hier? „Es ist niemals zu spät für eine glückliche Kindheit“??? Nein! Es ist zu spät für eine glückliche Kindheit!39 Indem sie bei diesen Worten einige für Hitlers Reden typische Gesten zitiert, entzieht sie auch

der Klage über die verlorene Kindheit den Boden. Alles wandert ein in den theatralen Prozess des Recycling, nicht nur die komponierten Geräusche, Worte, Phrasen und Gesten, sondern auch die Psychoanalyse, der Strukturalismus, die deformierten Verwandtschaftsbeziehungen, die Tragödie und das epische Theater selber, der Autor und Regisseur Bertolt Brecht, die Schauspielerin Helene Weigel, das barbarische Ritual, der Chor, Mel Brooks’ Nazi-Uniformen ebenso wie Caspar Nehers „Rupfen“-Kostüme, die kahlen Pferdeschädel und nicht zuletzt das Schandbrett, das Sophie Rois wie eine abgerissene Drehtür mit sich herumschleppt. Übrig bleibt ein Theater, das von sich selber erzählt, sich selber vorführt und auch dieses Geheimnis weiter verwertet: „J: Die Leute lieben das, wenn man die Theatersituation transparent macht – Vorhang fährt hoch. – wenn man das Theater selbst erzählen lässt.“40 Nach etwas mehr als einer Stunde ist das Theater wieder bei sich angekommen mit der Ankündigung, dass die Zuschauer nun „uns Schauspieler den kleinen Schauplatz betreten sehen“ werden. Das damit schon als neuer Anfang markierte Ende dieses Recycling-Kreislaufs bleibt offen, die Fotos für das Modellbuch müssen noch gemacht werden, auch wenn Helene Weigel diesmal nicht dabei sein kann. So ist das Antigone-Modell, im Schnelldurchlauf und dann in Stockungen und Wiederholungsschleifen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit durchgespielt, markiert und vorläufig getestet, inwieweit es eine komische Wiederholung aushält. Ob es damit auf zulängliche Weise benutzt wurde? Das letzte Wort ist „vielleicht – “. Brecht jedenfalls scheint geahnt zu haben, dass dieser Prozess nicht auf einen restlosen Ernst zu verpflichten ist, wie auch das Modell im Recycling nur teilweise fortleben kann: „Bei einer halbwegs ernsthaften Einführung der Modellbenutzung würde sogar die Aufstellung eines völlig neuen Modells für ein schon modelliertes Stück einen Teil seiner Ideen und Wirkungen aus dem Vorhandensein des alten nehmen können.“41 1

Schauspielhaus Zürich: Bühne frei für Mick Levčik! von René Pollesch, Programmheft (Nr. 14) zur Premiere am 1. April 2016 im Pfauen.

2

Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 691.

3

Wirth, Andrzej: „Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke“, in: Sinn und Form, 1957, 2. Sonderheft zu Bertolt Brecht, S. 346–387.

4

Vgl. Benjamin: „Was ist das epische Theater?“ (Zweite Fassung), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, S. 538.

5

Brecht, Bertolt: Brief an Stefan S. Brecht, Dezember 1947, in: Brechts Antigone des Sophokles, hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1988, S. 19.

6

Brecht, Bertolt/Neher, Caspar: Antigone-Modell 1948, mit Photos der Churer Aufführung und Skizzen von Caspar Neher, Redaktion: Ruth Berlau, Berlin (West) 1949. Eine zweite, von Brecht nochmals bearbeitete Auflage des Modellbuches erschien 1955 in Berlin (DDR).

7

Ders.: Vorwort zum Antigone-Modell 1948, zit. n. Brechts Antigone des Sophokles, S. 54.

8

Curjel, Hans: „Brechts Antigone-Inszenierung in Chur 1948“, in: Brechts Antigone des Sophokles, S. 187–193, hier: S. 193.

9

Brecht: Arbeitsjournal, 10. April 1948, zit. n. Brechts Antigone des Sophokles, S. 18.

10

Ders.: Vorwort zum Antigone-Modell 1948, zit. n.: Brechts Antigone des Sophokles, S. 48. Vgl. auch die Neuausgabe des Modells in: Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 25, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin/Frankfurt a. M. 1994, S. 71–168.

11

Vgl. dazu das Interview „Brecht unterwegs gegen den ‚Brechtstil‘“ mit Werner Wüthrich in: Programmheft zu Bühne frei für Mick Levčik! von René Pollesch, S. 8–24.

12

Ebd., S. 47. Der Begriff „Göringtheater“ lässt sich zunächst auf einen von Gustaf Gründgens, Lothar Müthel und Jürgen Fehling geprägten repräsentativen Theaterstil vor 1945 beziehen, darüber hinaus aber auch auf die in der Nachkriegszeit führenden Regisseure einer pathetisch überhöhten Rückkehr zum Tragischen, vor allem Heinz Hilpert, Otto Falckenberg und Gustav Rudolf Sellner. Vgl. das Kapitel „Griechische Tragödie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus“ in: Flashar, Hellmut: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1991, S. 164–180.

13

Zur Theorie des Modells vgl. den zur Aufführung von Mutter Courage und ihre Kinder entstandenen Text von Brecht: „Fehler bei der Benutzung von Modellen“, in: Ders.: Werke, Bd. 25, S. 394.

14

Müller, Heiner: „Fatzer ± Keuner“, in: Ders.: Rotwelsch, Berlin 1982, S. 149.

15

Vgl. Lehmann, Hans-Thies: „Die Grenzen der Polis. Von Sophokles über Hölderlin zu Brecht zu Pollesch – Antigones Frage ans Gesetz und die Kategorien der Polis“, in: Theater heute (Jahrbuch 2016), S. 36–44.

16

Siehe dazu ausführlicher Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Frankfurt a. M. 1998. Darin werden die Zusammenhänge entfaltet, die Benjamins Theorie der Übersetzung mit seiner Deutung von Hölderlins Übertragungen der Tragödien des Sophokles als Trauerspielen, wie auch mit seiner Auffassung von Brechts epischem Theater und Franz Kafkas Theater der Gesten verbinden.

17

Brecht: Arbeitsjournal, 25.12.1947, in: Brechts Antigone des Sophokles, S. 12f.

18

Ders.: Antigone-Notizen, in: Brechts Antigone des Sophokles, S. 25.

19

Ders.: Arbeitsjournal, 4.1.1948, Brechts Antigone des Sophokles, S. 14.

20

Ebd., S. 17 (Arbeitsjournal, 18.1.1948).

21

Brecht: Brief an Neher, 7.2.1948, in: Brechts Antigone des Sophokles, S. 20. Zum Verhältnis von Bild und Text im Antigone-Modell 1948 vgl. auch den Aufsatz von Schmidt-Sasse, Joachim: „Zwischen barbarischen Kriegskultpfählen“, in: Theaterzeitschrift (Winter 1988/89), H. 26, S. 122–132.

22

Brecht: Vorwort zum Antigone-Modell 1948, zit. n. Brechts Antigone des Sophokles, S. 48.

23

Ebd.

24

Brecht: Antigone-Modell (Vorspiel), in: Brechts Antigone des Sophokles, S. 61.

25

Weinert, J.: „Brechts Antigone-Modell 1948. Deutsche Erstaufführung im Theater in Greiz“, zit. n.: Brechts Antigone des Sophokles, S. 223.

26

Vgl. das Vorwort zum Antigone-Modell, zit. n.: Brechts Antigone des Sophokles, S. 48.

27

Ebd., S. 50f.

28

Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Dritte Fassung), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/1, S. 482–485.

29

Ders.: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 9–21.

30

Ders.: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Dritte Fassung), in: Gesammelte Schriften,

Bd. I/1, S. 481. 31

Ders.: „Was ist das epische Theater?“ (Erste Fassung), in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, S. 524.

32

Polleschs Theaterarbeit ist bis heute davon geprägt, dass er Mitte der 1980er Jahre in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann studiert hat und dort auch in Berührung kam mit Heiner Müller und dem amerikanischen Theaterautor und -regisseur John Jesurun, der in Zusammenarbeit mit den Studierenden seine Form von Medientheater nach dem Muster von Soap Operas weiterentwickelte.

33

Brecht: „Fehler bei der Benutzung von Modellen“, in: Ders.: Werke, Bd. 25, S. 393.

34

Vgl. Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Ders./Engels, Friedrich: Werke (MEW 8), Berlin 1956ff., S. 111–207.

35

Pollesch: Bühne frei für Mick Levčik!, Manuskript (Rowohlt Theaterverlag), Reinbek 2016, S. 3f.

36

Vgl. dazu Butler, Judith: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt a. M. 2001.

37

So der Titel eines von vielen Gedichten, in denen Brecht die Gestalt der Weigel als seiner Lebensgefährtin, wichtigsten Schauspielerin und Managerin geformt und zugleich gefeiert hat. Siehe dazu ausführlicher Primavesi: „Gestalt und Entstaltung der Weigel in Brechts Texten“, in: The Brecht Yearbook 25 (2000), Helene Weigel 100, S. 190–213.

38

Vgl. Primavesi: „Macht es für Euch! – Zum Echo des Chores im Theater von René Pollesch“, in: Darian, Veronika/Braun, Micha/Bindernagel, Jeanne/Kocur, Miroslaw (Hrsg.): Die Praxis des/der Echo. Zum Theater des Widerhalls, Frankfurt a. M. 2015, S. 259–268.

39

Pollesch: Bühne frei für Mick Levčik!, Manuskript (Rowohlt Theaterverlag), S. 29.

40

Ebd., S. 32.

41

Brecht: „Fehler bei der Benutzung von Modellen“, in: Ders.: Werke, Bd. 25, S. 393f.

Thomas Lehmen

DIE STRASSE

In einem Abschnitt des Projektes A Piece for You kam es mitten in Kanada zu einem schweren Unfall. Im tiefen Schotter vibrierte plötzlich das Vorderrad und bevor ich das Gas zurücknehmen konnte, schlug der Lenker einmal komplett nach links, einmal komplett nach rechts. Mit dem letzten Linksanschlag stürzt die Maschine auf der Stelle mit der Wucht von siebzig Kilometern pro Stunde auf die rechte Seite. Angesichts des näherkommenden Bodens bleibt gerade genug Zeit zu denken: Das ist zu viel. Es verging keine Sekunde vom ersten Vibrieren bis zum Schwarz. Mein Freund Don holte mich nach einer mehrtägigen Fahrt von Snohomish an der Westküste aus dem Krankenhaus in Prince Albert ab. Das gebrochene Schlüsselbein wurde derweil mit einer Platte fixiert, die gebrochenen Rippen interessierten die Ärzte wenig, geschweige denn die Gehirnerschütterung oder die verbogene Wirbelsäule. Bei Don und Joni konnte ich mich einige Wochen erholen, bevor es nach Mexiko ging. Der Drang, Kunst zu machen, blieb in dieser Zeit ungebrochen. In einer der Arbeitsstationen hätte ich – wenn auch stark durch die Verletzungen, den Schock und das Morphium entrückt – wie immer mit einer Gruppe gearbeitet, die performative Geschenke für andere auf der Bühne verteilen, in Anwesenheit der Beschenkten natürlich. In Snohomisch sind die Kontakte direkt und man hilft gerne. Also beschloss ich, mich der Gruppe von Don und Joni anzuschließen, die „ihre“ Straße regelmäßig säubern. „Die Straße“ ist eine Passage aus der Sammlung von Texten des Langzeitprojektes A Piece for You (www.apieceforyou.com). Hier wurden bislang in etablierten und nicht etablierten Repräsentationsräumen in Europa, Asien, Nord- und Mittelamerika in zahllosen Stationen und Begegnungen performative Geschenke ausgetauscht. Die Reise wird weitestgehend mit dem Motorrad zurückgelegt, was ungeplante Begegnungen und allerlei Ereignisse in die Kunstpraxis einfließen lässt. Ob im Theater oder auf der Straße, fokussiert die Praxis die reziproke Kreativität der Beteiligten untereinander. Eine direkte Handlung zwischen Menschen, die ihre eigenen künstlerischen Kriterien erstellt. Alle paar hundert Meter wird eine Person abgesetzt, um die Dinge, die nicht hierher gehören, aufzusammeln. Gerade fährt ein Teil des Trupps winkend vorüber. Er beginnt hinten und arbeitet sich vor zum Treffpunkt. Im Allgemeinen ist es sicherer, entgegen der Fahrtrichtung zu arbeiten, da so, die Sonne im Rücken, mit einem Auge einfacher auf den Verkehr geachtet

werden kann. Dieser Abschnitt hier, circa siebenhundert Meter lang, ist leicht abschüssig, zwischen einer Brücke und einer Kurve, hinter denen die anderen ihre Arbeit verrichten. Bis auf die Person, die auf der anderen Straßenseite in entgegengesetzter Richtung Müll sammelt, ist niemand zu sehen. – – – – – – – – – – – –

abgebrochene Plastikteile, undefinierbar, Fetzen von Papier und Kunststofffolien, halb aufgelöst, ganze Folien von mehreren Quadratmetern, ganze Säcke füllend, einige Schrauben, Muttern, Gummiringe, zerrissene Haltegurte und deren Schnallen, zerfetzte und ganze Reifen, Lumpen, Zigarettenkippen, Feuerzeuge, Zigarettenschachteln, Trinkbecher, Plastikstrohhalme, Plastikdeckel von allen bekannten Anbietern, Kartons, Flaschen, Kanister, Dosen, Tüten und ganze Säcke mit weiterem Müll, Styroporbruchstücke, deren einzelne „Perlen“, schaumiges Füllmaterial in großen und kleinen Teilen, Unbekanntes aus unbekanntem Material.

Entweder ist etwas irgendwo abgebrochen, hat sich gelöst, ist herausgerutscht, wurde einfach weggeworfen, ist heruntergefallen oder heruntergeweht. Alles hat mit Transport, Verpacken und Beinhalten zu tun, das Abgebrochene hat irgendwo vorher mit etwas zusammengehört oder hat selbst etwas gehalten, was nun auch droht verlorenzugehen, ist nun unvollständig und der entscheidende andere Teil fehlt, manches hat vorher etwas anderes geschützt. Alle Teile sollten eigentlich irgendwo hingelangen, an einen Ort, den diese Straße ermöglicht. Im Prinzip also überall. Viele Teile sollten auch wieder zurückkommen, im Durchschnitt mag deren Heimat wahrscheinlich in einem Umkreis von circa dreihundert Kilometern liegen. Man wünscht sich mehr organischen Abfall und weniger Idioten, fängt an, alle Kleinigkeiten, die man selber mal nachlässig verloren hat, zu überdenken. Alles, was kleiner als ein Quadratzentimeter ist, wird liegengelassen, bei genauem Hinsehen sind es einfach zu viele Teile dieser Größenordnung. Die hoffnungsvolle Annahme, dass es sich früher oder später von alleine auflöst, hilft. Im Schnitt liegen auf einem Quadratmeter zwei Teile oder der Quadratmeter ist im Extremfall vollkommen von etwas bedeckt. Der von Müll zu befreiende Streifen ist ab der asphaltierten Fahrbahn circa drei Meter breit, eineinhalb vor und hinter der Leitplanke, vieles liegt jedoch weiter hinten im Busch, in den nur eingeschränkt hineinzugelangen ist. Vor allem die Papier- und Plastikfolienstücke hat es dort hineingeweht. Schwereres, wie zum Beispiel Metallschrauben, liegt eher um die Pfähle der Planke herum. Mit dem Plan, jedes einzelne Teil zu photographieren, gestaltet sich die Arbeit umständlicher, als es wünschenswert wäre. Kamera um den Hals, Müllsack und Auflesezange

in der einen Hand. Fokussieren, abdrücken, Kamera zur Seite, dann auflesen, in den Sack; doch die Kamera baumelt sich immer wieder in den Arbeitsvorgang hinein, eine dritte Hand wäre hilfreich. Ist ein Sack voll, wird er an der Straße abgestellt, am besten gleich mehrere zusammen, Größeres, wie ein ganzer Autoreifen, ebenso an die Schutzplanke gelehnt. Auf der Straße verloren gehen, denke ich, verloren bin ich auf der Straße ja eigentlich immer, besonders wenn ich anhalte. Auf der anderen Straßenseite liegt nicht weniger Müll –, wie auf dem gesamten Abschnitt dieser Truppe. Auf dem gesamten Highway 2 und auf kaum einer Straße der Welt liegt weniger doof rum, vergammelt oder auch nicht, wird mit der Zeit verschüttet, begraben, plattgefahren und verrostet, etwas mehr in Ortsnähe, etwas weniger außerhalb der Siedlungen. Nur wenige gehen angesichts der Warnschilder „Volunteer litter crew ahead“ vom Gas. In der Regel bewegen sich die Fahrer in vollem Tempo sehr nah vorbei, einige mit unverständlichen Kommentaren durchs geöffnete Fenster. Nur Idioten hören ausschließlich sich selbst, wissen nicht, dass diejenigen, an denen vorbeigefahren wird, nur ein Bruchteil des Gebrüllten erreicht. Der Großteil bleibt bei ihnen im Auto, ein wenig wird auf der Strecke in die Luft verteilt. Es sind weniger die Kommentare, wahrscheinlich ohnehin nur affiger Hohn. Man muss die Worte auch nicht verstehen, die Einstellung eines Menschen kann schon daran erkannt werden, wie dieser fährt: am Klang des Motors, der Reifen und des Fahrgestells, wie viel Gas und in welchem Gang die Brücke hinab und ohne zu wissen, was hinter der Kurve liegt, in diese hinein, die Geschwindigkeit, der Fahrtwind … Die Intention der Fahrer wird lesbar am Zusammenwirken aller Informationen, der Rest ist die einfache Übertragung des Sinnes überhaupt, was immer funktioniert, sobald sich zwei Menschen näherkommen, ganz nah sind, sich wieder entfernen. Man muss nur, angstfrei, darauf hören können, dann kann man auch sehen: Das Auge alleine will ja nur belogen werden. Im wünschenden Rausch des Suchens vielleicht etwas Besonderes zu finden, stocke ich ungläubig. Eine Spielkarte liegt vor meinen Füßen. Sie liegt mit dem Rücken nach oben. Mir sicher, dass sie eine, meinem Schicksal zukunftsweisende Bedeutung hat, drehe ich sie aufgeregt um. Herz zwei! Es müssten doch weitere Karten herumliegen, nichts, nur diese einzige, und dann dieses Blatt, das kann kein Zufall sein. Man erzählt sich immer wieder die Geschichten von zuvor Gefundenem und Verlorenem: – –

Ganze Möbelstücke wurden aufgelesen, ein Bürostuhl zum Beispiel wird noch immer von einer Finderin benutzt. Ein Autofahrer hielt eines Tages bei der müllsammelnden Truppe an und fragte, ob nicht ein Ehering gefunden wurde, die Verlobte seines Sohnes warf diesen am Vortag mit vielen anderen Sachen aus dem Fenster, als der Sohn und die Verlobte im Auto auf dieser Strecke stritten, 12 000 Dollar soll der Ring wert sein. Der Vater hinterließ seine Adresse, doch wurde der Ring nie gefunden.

– –

Ein Scheck, so einer, den alle einlösen können, wurde gefunden. Was damit geschah und ob dieser Scheck noch Gültigkeit besaß, blieb unerwähnt und ungefragt. Don hat einmal ein halbtotes Kätzchen im Gebüsch gefunden.

Stücke von Isolierungsmaterial, wie man es auf dem Bau verwendet, Glas- oder Steinwolle, aus den dichten Büschen ziehend, hielt er anstatt der Isolierung plötzlich etwas anderes, etwas Weiches in der Hand – warm! Überrascht, schon im Griff zu haben, was wahrscheinlich ein Tier ist, zog Don es hervor. Das Bündel etwas ließ das geschehen, ohne dass es sich wehrte oder auch nur einen Pieps von sich gab, und schaute Don, dünn und geschwächt – he probably didn’t make it another day – mit großen Augen, dem Größten, was es am Körper hat, an. Schlimmes musste irgendein Mensch dem Kätzchen damals angetan haben. Nie hat es seine Angst vor Fremden abgelegt. Außer Don kann sich ihm niemand nähern. Peter wird das Findelkind genannt. Peter hat auch wenig Interesse an Savannah, dem schon bei Don und Joni lebenden Kater. Savannah toleriert Peter, aber auch nicht viel mehr. Niemals verlässt Peter das Haus. Erst in der letzten Woche meines zweiten Aufenthalts in Snohomish hat Peter sich getraut, sich neben mich auf die Couch zu legen. Stolz dies Jonis Bruder mitgeteilt, nicken wir uns bei seinen Worten zu, das dies etwas bedeutet: „Now it’s serious, Peter made you part of it.“ Peter, der nichts und niemandem traut und bei dem geringsten Geräusch, der kleinsten Bewegung im Haus panisch unter das Bett seines Retters verschwindet. Wenn Peter sich neben einen Fremden legt und streicheln lässt, bedeutet das kein Fremder mehr, sondern für immer und ewig Teil des engsten Familienkreises zu sein. Die Steigerung, sich auf mich zu legen, was Peter sonst nur bei Don tut und nur wenn sonst niemand außer Joni im Haus ist, wurde mir sogar, sozusagen als manifestierende Ehrung zum Abschied, am allerletzten Tag in Snohomish zuteil. Im offenen Truck werden wir wieder eingesammelt, mit den neuen Trophäen noch einige Erinnerungsfotos geknipst und es wird an die alten Fundstücke erinnert. Seit Jahren liest die Truppe mit eingespielter Routine top organisiert jeden zweiten Sonntag in kaum mehr als einer Stunde den Müll von ihrer Straße. Zum Schluss sammeln Don und ich noch die vollen Säcke ein, die anderen sind schon auf dem Weg nach Hause. Don hält kurz an, ich springe raus, werfe die Säcke auf, springe wieder rein, zweihundert Meter weiter wieder ein Sack oder drei. Es macht Spaß, mit Don zu arbeiten. Er denkt bei den anderen mit. 26 Säcke Müll kommen zusammen, die Warnschilder noch aufgeladen – fertig.

AUTORINNEN UND AUTOREN

Jeanne Bindernagel ist Dramaturgin an der Oper Halle und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Sie promovierte an der Theaterwissenschaft der Universität Leipzig mit einer Arbeit zu den Körper- und Textpolitiken der frühen Psychoanalyse. Sie forscht zur Theatralität des philosophischen Textes im 19. bis 21. Jahrhundert sowie zur Ästhetikgeschichte der Psychologie und hat zum Politikbegriff filmischer und theatraler Praktiken in der deutschfranzösischen Nachkriegsgesellschaft maßgeblich bei Bertolt Brecht, Jean-Luc Godard, Rainer Werner Fassbinder und Thomas Harlan publiziert. Der wissenschaftlichen Erschließung von Harlans Werk widmet sie sich derzeit mit einer Intellektuellen Biografie (im Erscheinen 2018). Hyun Soon Cheon studierte von 1995 bis 2006 Germanistik, Japanologie und Pädagogik an der Universität zu Köln und promovierte 2007. In ihrer Dissertation befasste sie sich mit dem Thema Intermedialität von Text und Bild bei Alexander Kluge. Von 2007 bis 2013 arbeitete sie als Research Professorin im Ewha Institute for the Humanities an der Ewha Womans University in Seoul. Seit September 2017 ist sie als Professorin für Germanistik an der Gyeongsang National University in Jinju (Korea) tätig. Veronika Darian ist Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. 2004 promovierte sie zum Theater der Bildbeschreibung. Sprache, Macht und Bild in Zeiten der Souveränität (München u. a. Fink 2011). Weitere Publikationen: Die Praxis der/des Echo. Zum Theater des Widerhalls (Mithg., Frankfurt a. M. u. a. 2015); Momentaufnahme Theaterwissenschaft. Leipziger Vorlesungen (= Recherchen 117) (Mithg., Berlin 2014); Verhaltene Beredsamkeit? – Politik, Pathos und Philosophie der Geste (Frankfurt a. M. u. a. 2009); Mind the Map! – History Is Not Given (Mithg., Frankfurt a. M. 2006). Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Theater des Alter(n)s und der Dinge; Biografie und Narration in Theater, Tanz und Performance; Theater in Gesellschaft(en) in Transformation; Habilitationsprojekt unter dem Arbeitstitel: „Schauplätze des Eigensinns“. Francesco Fiorentino ist Professor für deutsche Literatur an der Università Roma Tre. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche Literatur und Theater des 20. Jahrhundert, Geografie der Literatur, Theater und Medien, Literaturtheorie sowie Cultural Studies. Ausgewählte Publikationen: La letteratura della Svizzera tedesca (Roma 2001); Heiner Müller. Per un teatro pieno di tempo (Hg., Roma 2005); Atlante della letteratura tedesca (Hg. zus. mit Giovanni Sampaolo, Macerata 2009); Al di là del testo. Critica letteraria e studio della

cultura (Hg., Macerata 2011); Figure e forme della memoria culturale (Hg., Macerata 2011); Brecht e i media (Hg., Roma 2013); Brecht e la fotografia (Mithg., Roma 2015; Letteratura e cartografia (Mithg., Milano-Udine 2017). Günther Heeg ist Professor für Theaterwissenschaft, Vizepräsident der International Brecht Society sowie Direktor des Centre of Competence for Theatre an der Universität Leipzig. Er ist Leiter des Forschungsprojekts „Fremde spielen. Amateurtheater als Medium informeller und non-formaler transkultureller Bildung“ und Teil einer Forschungskooperation mit der Keio-Universität Tokio über „Tradition und Transkulturalität im deutschen und japanischen Gegenwartstheater“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. transkulturelles Theater, Verhältnis von Theaterhistorismus und künstlerischer Praxis des Reenactments, kulturelle Flexionen von Zeiten und Räumen. Zuletzt veröffentlichtet er Das Transkulturelle Theater (= Recherchen 130) (Berlin 2017) und Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen (= Recherchen 134) (Mithg., Berlin 2017). Andrea Hensel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Forschungsprojekt „Fremde spielen. Amateurtheater als Medium informeller und non-formaler transkultureller Bildung“ am Leipziger Institut für Theaterwissenschaft sowie Mitarbeiterin des 2016 gegründeten Centre of Competence for Theatre an der Universität Leipzig. Seit 2013 promoviert und publiziert sie zu den Bühnendekorationen Karl Friedrich Schinkels, die sie vor dem Hintergrund der (ambivalenten) Geschichtsbilder des Theaterhistorismus im 19. Jahrhundert untersucht. Weitere Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind das Verhältnis von Historiografie und künstlerischer Geschichtspraxis (Fokus 19. Jahrhundert und Gegenwart), die Analyse von freien Theaterformen in den postsozialistischen Staaten (Ost-)Europas seit 1989/1991, Amateurtheater als Medium transkultureller Bildung in Geschichte und Gegenwart. Eiichiro Hirata ist seit 2012 Professor für Theaterwissenschat am Institut für Germanistik der Keio-Universität Tokio. Er studierte Germanistik und Theaterwissenschaft an ebendieser Universität und an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte über Abwesenheit und Präsenz im Gegenwartstheater. Gastvorträge hielt er an mehreren Universitäten im Ausland wie am Zentrum für Literatur- und Kunstforschung Berlin (2004, 2017), in Frankfurt a. M. (2006), Vancouver (British Columbia, 2008), Leipzig (2013, 2016), Innsbruck (2016) und Potsdam (2016). Ausgewählte Publikationen: Theater in Japan (= Recherchen 64) (Mithg., Berlin 2009); Dramaturgen (japanisch, Tokio 2010); Theater der Prä- und Absenz (japanisch, Tokio 2016) Eun-Soo Jang ist Professorin am Institut für Germanistik an der Hankuk University of Foreign Studies in Seoul und Präsidentin der Korean Drama Society sowie Direktorin des World Arts and Culutures Institute (Waci) an der Hankuk University of Foreign Studies. Sie ist Mitglied

des Korean Association of Theatre Critics. Sie leitete als Chefredakteurin das Journal of Korean Theater Studies Association und als Präsidentin u. a. die Koreanische Gesellschaft für Germanistik (KGG) und die Korean Brecht Society. Ihre Arbeitsschwerpunkte bilden koreanisches und deutsches Gegenwartstheater, Tanztheater und Dance Installation (Pina Bausch/Sasha Waltz), postdramatisches Theater und Social Performance, Performativität in der koreanischen Pansori, Gender und Theater. Ausgewählte Publikationen (inkl. Übersetzungen): Das deutsche Theater im 20. Jahrhundert (Seoul 2001); Deutsche Dramentheorie (Seoul 2000); Brechthandbuch (Seoul 2001); Heiner Müller Handbuch (Seoul 2006); Koreanische Theatermacher heute (Seoul 2012); Dramenanalyse zur Theaterpraxis (Seoul 2014); Literaturskandal (Seoul 2017). Chikako Kitagawa ist Assistenzprofessorin an der Keio-Universität Tokio. Sie studierte Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft in Hiroshima sowie in Tübingen, Wien und Berlin. Im Jahr 2013 promovierte sie als DAAD-Stipendiatin an der Freien Universität Berlin in Theater- und Musikwissenschaft mit der Dissertation Versuch über Kundry – Facetten einer Figur (Frankfurt a. M. u. a. 2015), die 2017 mit dem Preis der Japanischen Gesellschaft für Germanistik ausgezeichnet wurde. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt bildet die Analyse der Phänomene des Schweigens und der Stille im Musiktheater seit Wagner bis zur Gegenwart und gilt insbesondere der Frage der Transkulturalität und der Ästhetik der Lücke. Suk-Kyung Lee studierte deutsche Literatur, Philosophie und Theaterwissenschaft in Seoul, Siegen, Wien und Graz und promovierte 2003. In ihrer Arbeit befasste sie sich mit den Themen Ambivalenz und Diffusion in der späten Dramatik Ödön von Horváths. Seit 2004 lehrt sie am Institut für Germanistik an der Seoul National University und seit 2006 an der Sungkyunkwan Universität. Von 2014 bis 2017 forschte sie mit dem Schwerpunkt auf Raumstrategien im deutschsprachigen Theater an der Sangmyung Universität. Seit 2017 leitet sie ein Forschungsprojekt zum Thema Entgrenzung und Fusion, Darstellung des Bildes und Vermittlung der Vorstellungskraft im deutschsprachigen Theater an der Seoul National University. Ausgewählte Publikationen: Theaterexperiment und Raumstrategie von Max Reinhardt – anhand Ein Sommernachtstraum und Jedermann (2016); Ferdinand von Schirachs Justizdrama Terror – im Hinblick auf Narrative, die Struktur und die Kommunikationsform (2016); Marius von Mayenburgs Stück Plastik – Inszenierung aus der Perspektive der Bühnenästhetik und Medialität (2017); Christoph Marthalers Regieästhetik und Raumstrategie – im Hinblick auf die Bühnengestaltung bei Glaube Liebe Hoffnung (2018). Thomas Lehmen ist freiberuflicher Choreograph, Tänzer und Lehrer. Von 1986 bis 1990 studierte er an der School for New Dance Development in Amsterdam. Von 1990 bis Juli 2010 lebte er in Berlin. Hier entwickelte er zahlreiche Soli, Gruppenstücke und Projekte, u. a. distanzlos, mono subjects, Schreibstück, It’s better to…, Lehmen lernt. Ab 2011 war Thomas

Lehmen wieder in NRW wohnhaft und produzierte die Arbeiten Schrottplatz und Bitte … Ab 2013 tourt er mit dem aktuellen Projekt A Piece for You durch die Welt. Die Publikationen Schreibstück (Buch und Partitur für jeweils drei Gruppen in Kanonform) und FunktionenToolbox (auf emergente Ergebnisse abzielende kommunikative Choreographien) erregten anhaltende internationale Aufmerksamkeit und riefen zahlreiche Variationen hervor. Zu den wiederkehrenden Interessen gehören die Entwicklung künstlerischer Formate und Strukturen, Kommunikationen und das menschliche Wesen, das sich in seiner Umwelt reflektiert und diese durch kreative Beziehungen gestaltet. Die Herangehensweisen, die oft sprachliche Elemente beinhalten, weisen konzeptionelle Methoden und Darstellungsformen auf. In der tänzerischen Komponente arbeitet er u. a. mit individuellen Artikulationen, Interrelationen der Tänzer und tänzerischen Dialogen. Er unterrichtet international an Universitäten und gibt Workshops. In seiner Lehrtätigkeit arbeitet er u. a. mit den obigen Themen, wie auch mit choreographischen Systemen, die auf eine individuell künstlerische Gestaltung innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge abzielen. Mai Miyake studierte Germanistik und Theaterwissenschaft an der Keio-Universität Tokio und arbeitet als Lehrbeauftragte an mehreren Universitäten in Tokio. Sie hat sich bisher mit Themen wie Lachen (bei Christoph Marthaler), Atmosphäre und Musik (bei Michael Thalheimer) beschäftigt. Seit 2014 promoviert sie am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit forscht sie dort zu ihrem aktuellen Schwerpunkt Rhythmus im Theater. Publikationen: „Rhythmus im Theater als Transitraum – Idiorrhythmie bei Laurent Chétouane und Alain Platel“, in: Kulturkontakte. Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten (hrsg. v. Yuichi Kimura, Thomas Pekar, Bielefeld 2015); „Anders zusammenkommen“, in: Willkommen anderswo – sich spielend begegnen (= Recherchen 134) (hrsg. v. Günther Heeg, Lutz Hillmann, Berlin 2017). Patrick Primavesi ist Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig und Direktor des Tanzarchivs Leipzig e. V. Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung sind Praxis und Theorie von Theater, Tanz und Performance, Körperpolitik und Repräsentationskritik, Öffentlichkeit und Bewegung im urbanen Raum, Archive in digitalen Umgebungen. Ausgewählte Publikationen: Heiner Müller Handbuch (Mithg., Stuttgart 2003); Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten (Mithg., Schliengen 2005); Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800 (Frankfurt a. M. 2008); Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen (Mithg., Bielefeld 2014); Momentaufnahme Theaterwissenschaft (= Recherchen 117) (Mithg., Berlin 2014). Jana Seehusen, Künstlerin und Autorin, forscht zu Sprach- und Handlungsweisen des Zwischen, des Dritten und der Verschiebung sowie Fragen von Un\Sichtbarkeit, Subjekttheorie und Identitatspolitiken. Publikationen: Echo: Lauter widerstandige Entwürfe. Künstlerische

Praktiken von Korrespondenz und Transfer (Berlin 2015); „How to Perform Entangled Memories: Vom Sehen im Nichtsehen“, in: Entangled Memories: Remembering the Holocaust in a Global Age (Universitat Hamburg 2017); „Imagine Another Topology!“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Gender Blog, www.zfmedienwissenschaft.de (2016), Visualität und Abstraktion. Eine Aktualisierung des Figur-Grund-Verhältnisses (Mithg., HFBK Hamburg 2017). Carolin Sibilak studierte Musikwissenschaft bei Gerd Rienäcker und Hermann Danuser sowie Medienwissenschaft und Englisch an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Masterstudium der Musikwissenschaft schloss sie 2013 mit einer Arbeit zu Bertolt Brechts Liebesliedern ab. Die Beschäftigung mit Brecht führt sie derzeit in einer Promotion zu jüngeren Vertonungen seiner Texte bei Hartmut Fladt an der Berliner Universität der Künste fort, gefördert durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit einigen Jahren übernimmt sie Werkeinführungsvorträge und Inspizienztätigkeiten an der Komischen Oper Berlin und arbeitet darüber hinaus als Editorin und Layouterin für den Ortus Musikverlag. Interessen- und Forschungsschwerpunkte bilden neben der Musik des 20. Jahrhunderts vor allem Musikedition sowie Dramaturgie und Theater. Michael von zur Mühlen inszeniert seit 2004 genreübergreifend Schauspiel, Oper und zeitgenössisches Musiktheater u. a. am Forum Neues Musiktheater der Staatsoper Stuttgart, der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, der Oper Leipzig, dem Nationaltheater Weimar, dem Deutschen Theater Göttingen und der Staatsoper Berlin. Eine wichtige Rolle spielt die Auseinandersetzung mit Bertolt Brecht, dessen Werke Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Leben des Galilei, Lehrstück und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny er inszenierte. Seit der Spielzeit 2016/17 ist er Regisseur und Chefdramaturg im Leitungsteam der Oper Halle. Michael Wehren, Theaterwissenschaftler und Mitglied (Regie, Text, Dramaturgie) der freien Theatergruppe friendly fire. Studium der Theaterwissenschaft und der Philosophie an der Universität Leipzig. Er promoviert über die Lehrstücke Bertolt Brechts, das Fatzer-Fragment und ihre heutige Produktivität. Weitere ausgewählte Arbeitsschwerpunkte sind Sprech- und Bewegungschöre im 20. Jahrhundert, Körperpolitik, das Theater Heiner Müllers sowie theatrale Theorien und Figuren des Dritten. Ausgewählte Publikationen: Kommando Johann Fatzer. Mülheimer Fatzerbücher 1 (Mithg. Berlin 2013); Räume, Orte, Kollektive. Mülheimer Fatzerbücher 2 (Mithg., Berlin 2013); Verortungen/Entortungen. Urbane Klangräume (Mithg., Berlin 2015).

RECHERCHEN 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen

RECHERCHEN 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99

Dirk Baecker . Wozu Theater?

98

Das Melodram . Ein Medienbastard

97

Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals

96

Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater

95

Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche

93

Adolf Dresen . Der Einzelne und das Ganze Dokumentation

91

Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm

87

Macht Ohnmacht Zufall Essays

84

B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos

83

Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays

82

Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch

81

Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays

79

Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays

76

Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation

75

Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen

74

Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay

72

Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze

71

per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays

70

Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen

67

Go West . Theater in Flandern und den Niederlanden Aufsätze

66

Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008

65

Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht

64

Theater in Japan Aufsätze

63

Vasco Boenisch . Krise der Kritik?

62

Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?

61

Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays

60

Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze

58

Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater

57

Kleist oder die Ordnung der Welt

56

Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de

RECHERCHEN 55

Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945

54

Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays

52

Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht

49

Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit

48

Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion

46

Sabine Schouten . Sinnliches Spüren

42

Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch

41

Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays

40

Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze

39

Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays

37

Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation

36

Politik der Vorstellung . Theater und Theorie

32

Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze

31

Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen

30

VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze

28

Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze

27

Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze

26

Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze

23

Brecht und der Krieg . Brecht-Tage 2004 Vorträge und Diskussionen

22

Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“

19

Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk

15

Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze

14

Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR

13

Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef

12

Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays

11

Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen

10

Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze

9

Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht

8

Jost Hermand . Brecht-Aufsätze

7

Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche

6

Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR Vorträge und Diskussionen

4

Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen

3

Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze

1

Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen

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