Rechtsstaat als Aufgabe: Ausgewählte Schriften und Vorträge 1952 bis 1985 [Reprint 2011 ed.] 9783110896015, 9783110110586


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German Pages 368 Year 1987

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Table of contents :
Vorwort
Geleitwort
I. Die „großen Fragen“ des (Straf-)Rechts
II. Beiträge zur Rechtspolitik
III. Praxis der Strafrechtspflege
IV. Justiz und Öffentlichkeit
V. Richter und Strafverteidiger als Beruf
VI. Verzeichnis aller zu Lebzeiten erschienenen Veröffentlichungen Werner Sarstedts
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Rechtsstaat als Aufgabe: Ausgewählte Schriften und Vorträge 1952 bis 1985 [Reprint 2011 ed.]
 9783110896015, 9783110110586

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Werner Sarstedt Rechtsstaat als Aufgabe

Werner Sarstedt

Rechtsstaat als Aufgabe Ausgewählte Schriften und Vorträge 1952 bis 1985 Mit einem Geleitwort von Gerhard Mauz Herausgegeben von Gisela Sarstedt Wolfgang Köberer

Rainer H a m m Regina Michalke

w DE

G

1987 Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - p H 7, neutral)

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Sarstedt, Werner: Rechtsstaat als Aufgabe : ausgew. Sehr. u. Vorträge 1952 bis 1985 / Werner Sarstedt. Mit e. Geleitw. von Gerhard Mauz. Hrsg. von Gisela Sarstedt . . . Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1987. ISBN 3-11-011058-X

© Copyright 1987 by Walter de G r u y t e r & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältig: oder verbreitet werden. Printed in G e r m a n y Satz und D r u c k : Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61

Vorwort Die Herausgeber dieses Bandes haben Werner Sarstedt persönlich nahegestanden. Als er am 4. Mai 1985 starb, war es zuerst seine Frau Gisela Sarstedt, die das uns alle bewegende Bedürfnis aussprach, ihm ein literarisches Denkmal zu setzen, das aus seinen eigenen Schriften bestehen sollte. Den dann zunächst gefaßten Plan, eine Sammlung aller seiner Veröffentlichungen herauszugeben, konnten wir nicht erfüllen, weil vieles nur im Zusammenhang mit heute nicht mehr aktuellen Normen und Fachfragen verständlich wäre. Die zahlreichen Urteilsanmerkungen, von denen wir viele auch heute noch für lesenswerte sprachliche Kunstwerke halten, hätten überdies zusammen mit der jeweils besprochenen Entscheidung abgedruckt werden müssen, was zu einem unvertretbaren Übergewicht von Texten, die nicht aus Sarstedts Feder stammen, geführt hätte. Wir entschieden uns dann für die vorliegende Auswahl solcher kleinerer Arbeiten, die teilweise an sehr versteckter Stelle bereits veröffentlicht waren, teilweise nur im Manuskript in seinem Nachlaß gefunden wurden, so daß sie erstmals der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Eine dritte Gruppe von Aufsätzen ist zwar an durchaus zugänglicher Stelle bereits abgedruckt, sie sollen jedoch durch die hier vorgenommene thematische Einbettung zwischen andere Beiträge eine neue Aussagekraft gewinnen. Die federführend von Wolfgang Köberer besorgte Auswahl aus dem am Ende des Buches in einem Verzeichnis noch einmal zusammengestellten Gesamtwerk erscheint uns geeignet, die Persönlichkeit Werner Sarstedts, sein Verhältnis zum Richter- und später zum Anwaltsberuf, seinen Standort als Jurist, aber auch die über das Fachliche weit hinausgehende literarische Qualität seiner Sprache sichtbar zu machen. Damit soll das Interesse des Lesers an den zahlreichen nicht in den Band aufgenommenen Beiträgen nicht verringert, sondern erhöht werden. Nach der Fertigstellung des Manuskripts haben wir uns an die überaus eindrucksvolle Laudatio erinnert, die Gerhard Mauz, jener sensible und scharfsinnige Beobachter der Strafjustiz, der nicht nur für Juristen das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL unentbehrlich macht, aus Anlaß der Überreichung der Festschrift (1981) auf Werner Sarstedt gehalten hat. Seine ohne Zögern erklärte Bereitschaft, in Fortführung seiner damaligen Ausführungen ein Geleitwort zu schreiben, hat uns in der Hoffnung bestärkt, daß das Buch auch anstehende Diskussionen um

VI

Vorwort

rechtspolitische Weichenstellungen befruchten möge. Inhalt und Ausblick des Geleitwortes haben diese Hoffnung zur Gewißheit verdichtet. Dafür gebührt Gerhard M a u z besonderer Dank. Der Gleichklang in der Beurteilung der Gefahren und Chancen der Strafjustiz aus dem Blickwinkel des Richters, des Strafverteidigers und des Journalisten dürfte schon für sich genommen einzigartig sein. Dies drückt sich auch im Titel des Buches aus. Wir haben dafür die Kurzform jenes eindringlichen Einwandes gewählt, den Sarstedt allen konservativen und selbstgerechten Bewahrern, aber auch allen pseudofortschrittlichen Beschwörern eines statischen Rechtsstaatsverständnisses entgegenhielt: Wer glaubt, der Rechtsstaat sei eine Errungenschaft, die es nur noch zu verteidigen gelte, hat aufgehört, an der Lösung der Aufgabe unserer Gesellschaft mitzuwirken, sich dem (unerreichbaren) Ideal einer rechtsstaatlichen Ordnung anzunähern. Er ist in der Gefahr, in kleinkariert-bürokratischer Routine oder auch in nervös gereizter Dauerklage über seine als ungerecht empfundene Arbeitsüberlastung den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Wie sehr Sarstedt es verstand, seine beinahe verspielte Liebe zum Detail für allgemeingültige Erkenntnisse nutzbar zu machen, zeigt sich in fast allen Beiträgen dieses Bandes, aber besonders augenfällig in dem nur scheinbar einen Einzelfall referierenden „Aktenbericht", in dem er die vermeidbaren Ursachen für die „Überlastung der Strafjustiz" im Jahre 1971 in einer Weise entlarvte, wie sie auch heute noch an unzähligen Gerichtsakten demonstriert werden könnte (S.217ff.). Ein Wort der Erklärung erscheint hier angebracht zu der Tatsache, daß dieser Band (auch in dem Verzeichnis am Ende) Titel enthält, die in der Festschrift im Jahre 1981 noch nicht erwähnt waren. Es hat sich insbesondere durch die freundliche Mithilfe des Chefbibliothekars des Bundesgerichtshofs, Herrn Dietrich Pannier, dem wir hierfür außerordentlich dankbar sind, herausgestellt, daß es noch eine Reihe von Texten gab, die uns mit den damals vorhandenen

M i t t e l n nicht

zugänglich

waren. Da Werner Sarstedt stets um der Sache willen und nie aus persönlicher Eitelkeit publizierte (dies widerspricht nicht den Ausführungen Gerhard Mauzs, so wie wir ihn verstehen!) lag es ihm auch fern, über seine Veröffentlichungen „Buch zu führen" oder gar zur eigenen „Imagepflege" bei der Wahl seiner Publikationsorte wählerisch zu sein. Wenn Werner Sarstedt einen seiner zahlreichen Vorträge hielt und ihn danach jemand um das Manuskript zum Abdruck bat, so gab er es ihm, ohne zu fragen, ob die Zeitschrift, für die der Frager arbeitete, schon lange oder noch lange existiert. Hielt er den Vortrag vor einem Kreis von Zuhörern, von denen niemand Beiträge für Zeitschriften aquirierte, so gab er hinterher sein Manuskript (wenn er ausnahmsweise nicht frei sprach) einem ihm nahestehenden Jura-Studenten, Referendar oder

Vorwort

VII

Rechtsanwalt (mir, je nach Zeitpunkt) und/oder ließ ein Exemplar an seinem kleinen privaten Schreibtisch liegen, den ihm sein Vater zur Konfirmation geschenkt hatte. An diesem brachte er seine Vorträge, seine Bücher, seine Kommentare, die Vorbereitungen für seine Vorlesungen an der Freien Universität in Berlin und später an der Universität in Heidelberg, aber auch seine Schriftsätze als Rechtsanwalt stets selbst mit der Schreibmaschine zu Papier. Einen Aufsatz schrieb er jedoch mit der Hand. Er war nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sarstedt hielt sich im Dezember 1983 in einem Hotel auf, kurz nachdem er erfahren hatte, daß eine Enkelin im Begriffe war, als Thema für eine Abiturarbeit „Die Idee des Rechts" zu wählen. Da es ihm nicht gelungen war, sie mündlich von diesem Vorhaben abzubringen, schrieb er spontan mit demselben Ziel seine eigenen Gedanken zu diesem Thema nieder - auf Kopfbogen des Dorint-Hotels am Starnberger See. Die Enkelin schrieb einen anderen Aufsatz und bestand das Abitur. Der warnende Text Werner Sarstedts findet sich an erster Stelle dieser Sammlung. Biographisch ist er so etwas wie ein Nachwort zu allen Schriften seines Lebenswerks. Frankfurt am Main, im März 1987

Für die Herausgeber: Rainer Hamm

Geleitwort Gerhard Mauz Neuerdings flicht die Nachwelt sogar den Mimen Kränze. Die Techniken der Aufzeichnung haben es möglich gemacht. Hamlet und Ophelia, Othello und Desdemona, gespielt von χ und y und z, sie leben weiter, auch wenn der Vorhang über dem Leben der Akteure längst gefallen ist. Wie die Dichter, die Philosophen, die Wissenschaftler, die bildenden Künstler, die Architekten und die Komponisten, haben nun auch die Schauspieler (und die ausübenden Musiker) ein Nachleben, einen Nachruhm; jenes Weiterwirken, das oft nicht mehr ist als die Berechnung oder die Eitelkeit derer, die (noch) am Leben sind. Immerhin - einige bleiben im Gespräch, warum auch immer. Und mancher (oder manche) wirkt tatsächlich noch im Nachhinein (oder gar erst im Nachhinein). Warum nur findet sich unter ihnen kein Jurist, vor allem aber - kein Richter? Wenige handeln mit so schwerwiegenden Folgen wie Richter. Warum hinterlassen sie dennoch keine Spur? Daß sie nur in geringem Maß allein entscheiden, erklärt es nicht. Zumindest dem Vorsitzenden Richter steht ein erheblicher Spielraum zur Verfügung, sich einzuprägen. Und schweigen wir von den Möglichkeiten der Präsidenten, ein Bild von sich zu geben. Sie verkünden im Namen des Volkes und sie erkennen für Recht, aber keiner von ihnen (wir lassen das Mißverständnis über den Richter aus, den es einmal in Berlin noch gab) ist über seine Zeit im Amt hinaus in der Erinnerung geblieben. Scheuen wir die Erinnerung an Richter, wie man früher den Nachrichter scheute? Die Bürde, die wir den Richtern auferlegen, wiegt schwer. Einige von ihnen mögen, wenigstens zeitweise, die Macht genießen, die ihr Auftrag ihnen gibt. Doch eines Tages lastet unerträglich auf einem, daß jede Entscheidung, an der man mitwirkt, Menschen trifft; daß man nicht einmal für einen entscheiden kann, ohne gegen andere zu entscheiden. Und dann kommt der Balken im eigenen Auge über einen und die Mahnung, daß man nicht richten soll, auf daß man nicht gerichtet werde. Und von Jahr zu Jahr wird das Handwerk der Abstraktionen, bei dem man Zuflucht sucht, brüchiger. Es ist Krieg, und vergeblich, wie im Gedicht von Matthias Claudius, begehrt der Richter, nicht schuld daran zu sein. Er kann nicht, wie Kleists „Marquise von O . " , um der Gebrechlichkeit der menschlichen Einrichtungen

χ

Geleitwort

willen vergeben, obwohl diese Gebrechlichkeit immer mächtiger als Schatten auf allem liegt, was von ihm entschieden werden muß. Es wiegt schwer, was wir den Richtern aufbürden. Und die Unabhängigkeit, die wir ihnen zugestehen, ist eher ein Pflaster für unsere heimliche Sorge, daß wir ihnen zuviel auferlegen: daß wir auf sie abwälzen. Richard Schmid schrieb, daß nur der Richter eine Chance zur Unabhängigkeit habe, der sich seiner Abhängigkeit bewußt werde. (Ein Wort, das auch für Journalisten gilt.) Wir haben gewichtige Gründe, uns der Richter nicht auch noch zu erinnern, doch auch das genügt nicht, um ihre Spurlosigkeit zu erklären; eine Spurlosigkeit, zu der gehört, daß unsere Literatur den Richter nicht kennt - genauer: daß sie nur ein böses Bild vom Scheitern des Richtens, den Dorfrichter Adam, aufgezeichnet hat. Die Richter selbst leiden nicht daran, daß nichts von ihnen bleibt, im Gegenteil. Eher sind sie stolz darauf, daß sie gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Man tritt hinter das Amt zurück, das man innehat. Und die Spurlosigkeit nach dem Abgang, sieht man von der einen oder anderen Arbeit in der N J W ab, die gelegentlich eines Zitats gewürdigt wird, ist der Beleg, der Lohn dafür, daß man seine Person vollendet verbarg. In seinem 1930 erschienenen Buch „Der deutsche Richter" hat Martin Beradt, der Rechtsanwalt und Schriftsteller, der 1933 emigrieren mußte und 1949 in New York starb, das erste Kapitel „Amt und Anonymität" überschrieben. „Der Richter wünscht, anonym zu sein", damit beginnt es. Martin Beradt beschreibt den Mann, der mit einer „geradezu überwältigenden Macht ausgestattet" ist, „im Besitz einer Sicherheit, wie die Propheten in der Bibel, umgeben von einer Würde, die Robe und Barett noch heben, in einem Saal, der unter seinem Wort verstummt, und mit einer Gewalt, die ebensosehr Werte vernichtet wie sie Schicksale zermalmt". „Der Richter", fährt Martin Beradt fort, „den man d a r a u f hinwiese, würde sich unangenehm berührt fühlen: denn nichts von alledem, nichts von dieser Macht, nichts von dieser Würde, nichts auch von seiner Fähigkeit, Schicksal zu gestalten, liegt ihm. Man beschenkte ihn, erklärte man, die Fälle, die er entschiede, seien gestellt, die Personen, deren Ehe er trennt, erdacht, der Angeklagte, den er in das Gefängnis wirft, nicht wirklich, bloß hergerichtet, eine Attrappe, alles andere, nur kein Mensch." „In den Gründen seiner Urteile", sagt Martin Beradt, „sucht man vergeblich nach einem ,ich', einem ,wir'; immer stößt man auf etwas Allgemeines, auf das Ungreif-, aber auch Unangreifbare: ,das Gericht Der Richter verabscheut die aktive Form der Sprache, er haßt diese Form, die für sich einsteht und bekennt, er bevorzugt die passive als die

Geleitwort

XI

unpersönliche. Er mißachtet das Präsens, in dem der ringende Mensch sich prüft und reinigt, er zieht sich hinter das Imperfekt zurück, ja, er liebt das Versteck hinter noch stärkeren Graden, mit denen die Sprache Vergangenheit ausdrückt - je vergangener, um so historischer, je vergangener, um so losgelöster von seiner Person erscheint ihm sein Urteil. Das sind zusammen Zeichen eines geradezu beherrschenden Verlangens nach Auslöschung der Person." Den „Drang nach einem Untergehen in Anonymität" führt Martin Beradt auf die Abstumpfung durch die Rechtstheorie zurück, aber auch auf ein dunkles Gefühl, „sich für etwas herzugeben, was nicht gut ist" und da beschreibt er wohl schon die Hauptursache dafür, daß man neuerdings sogar den Mimen Kränze flicht, doch die Juristen noch immer eilends vergißt. Die Richter selbst leisten den Hauptbeitrag zu ihrer Spurlosigkeit. Werner Sarstedt, dessen Parerga dieser Band sammelt, ist ein Richter gewesen, der nicht in der Anonymität Zuflucht suchte. Er hat sich dem Vorwurf, es an der gebührenden Diskretion fehlen zu lassen, ausgesetzt. Und er hat auch den Verdacht, die Eitelkeit treibe ihn, ertragen. Er hat es stets als Vorwurf empfunden, daß unsere Richter keine Spur hinterlassen. Seine Person verschwand nicht in und hinter seinem Amt. Er hat sich gemein gemacht in den Augen vieler seiner Kollegen, aber es ist ihm dabei um die Gemeinschaft der Rechtsprechenden und der Rechtsunterworfenen gegangen - eine Gemeinschaft, ohne die jede richterliche Erkenntnis im Namen des Volkes ein Hohn ist. Ein (in diesem Band nicht enthaltener) Kommentar Werner Sarstedts zu einer Entscheidung des O L G Nürnberg (Juristenzeitung 1968, 152) macht deutlich, worum es ihm ging. Der „Begriff der Ungebühr" stand an, man schrieb das Jahr 1968, und das O L G hatte die Beschwerde eines Angeklagten geharnischt verworfen. Die „Würde beherrscht den Gerichtsraum", befand das O L G , „weil in ihm die von der Gesellschaft gewünschte und anerkannte Dritte Gewalt des Staates die Funktion der Rechtswahrung ausübt. Sie ist für alle verpflichtend. Auch die Träger der Dritten Gewalt selbst, nämlich die Richter, sind im allgemeinen an die gleichen Regeln gebunden; auch sie können im Verhandlungsraum nicht essen, nicht Zeitung lesen, nicht schwatzen . . . Es ist richtig, daß der Begriff der Würde des Gerichts etwas Altüberkommenes ist und daß die einzelnen Regeln des Verhaltens mehr als ein Jahrhundert alt sind. Sie werden jedoch von der Gesellschaft auch heute noch als bindend angesehen und haben ihre Wirksamkeit nicht dadurch verloren, daß auf anderen Gebieten menschlicher Haltung Änderungen eingetreten sind". Werner Sarstedt dazu: „ ,Das Gericht' ist kein magischer Würdenträger; das Gericht ist niemand anderes als die gerade amtierenden Richter. Worüber sie persönlich erhaben sein könnten und sollten, darüber kann

XII

Geleitwort

auch ,das Gericht' erhaben sein. Würde ist - nach Schiller - der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. Ihr Ausdruck fällt um so leichter, je erhabener die Gesinnung wirklich ist. Ist sie es nicht, so wird die Würde zur hohlen Würde; und das bekommt dem Ansehen des Gerichts ganz besonders schlecht. Die Würde des Gerichts liegt nicht in der Hand jedes beliebigen Flegels, der sich vor Gericht unpassend aufführt; und der Richter sollte sich hüten, sie in dessen Hand zu legen. Sie besteht nicht darin, daß der Richter sich selbst feierlich nimmt, Ehrenbezeigungen verlangt und sie, wenn sie ihm nicht freiwillig erwiesen werden, mit Strafen zu erzwingen sucht. Das erweckt sehr leicht den Eindruck, als nehme er seine Person zu wichtig und im Vergleich dazu die Sache nicht wichtig genug. Die Sache ist in erster Linie die des Angeklagten. Er, nicht der Richter, ist die Hauptperson. Wie er sich aufführt, das kann zu seinem Verständnis und zum Verständnis seiner Tat beitragen. Frechheit ist oft (nicht immer) ein Zeichen von Unsicherheit." Das ist der Grundton dieses Bandes, der basso ostinato aller Beiträge, die hier gesammelt vorgelegt werden: Der Versuch, das Richten von seinem magischen, biblischen Beiwerk zu befreien, seiner Berufung auf das Numinose zu berauben - und es als eine Angelegenheit von Menschen unter Menschen sichtbar zu machen. Werner Sarstedt stellte sich, und es genügte ihm nicht, sich in den Entscheidungen zu stellen, an denen er mitwirkte. E r meinte, daß die Menschen, die ihm den Auftrag gegeben haben, in ihrem Namen zu richten, einen Anspruch darauf haben, mehr von ihm zu erfahren als die Tatsache seiner Mitwirkung an einer Erkenntnis. Es finden sich in den Beiträgen dieses Bandes Sätze, die den Richter, der in der Abstraktion seines Handwerks und in der Anonymität sogar eine Leistung sieht, weil er sich nicht eingestehen mag, daß sie nur eine Zuflucht sind, entsetzen müssen. „Wer es sich zur Aufgabe gemacht hat, allgemeine Sätze über ,das' Recht, über den Begriff ,des' Rechts oder gar über die Idee ,des' Rechts zu finden, sollte sich vor Augen halten, daß das Recht an keinem Tag dasselbe ist wie am Vortage und in keinem Land dasselbe wie in irgendeinem anderen Land. Es ist ein schlüpfriges Thema, etwa so als wollte man über ,die' Form des Wassers schreiben." In Werner Sarstedt ist ein Richter endlich dazu angetreten, sich erkennbar zu machen. Aktionen wie die anti-Pershing-Demonstration von 20 Richtern und Staatsanwälten im Herbst 1986 in Mutlangen zeigen, daß heute die Richter (und Staatsanwälte) bereit sind, ihre Suche nach einem neuen Bild von sich der Kritik auszusetzen. Wem diese Suche zu weit geht - der bedenke immerhin, über welchen Abgrund von Verharren in der Anonymität hinweg nach einem Bild gesucht werden muß, das sich nicht mit der Rechtsunterworfenheit begnügt, sondern um Mitwirkung bittet. So weit (wie in Mutlangen) hätten sie nicht gleich

Geleitwort

XIII

gehen müssen, wird geklagt. Doch ausgerechnet das Programm für den Deutschen Richtertag 1987 in Hamburg bietet ein erlesenes Beispiel für den Widerstreit, in dem sich nicht nur einige befinden. „Richter und Staatsanwalt im Dienst für den Bürger" lautet das Thema des Richtertags — und dann ist von „Rechtsgewährung und tägliche Praxis" die Rede, von „Zielkonflikten bei der Rechtsgewährung im Zivil(verfahrens-) recht", vom „Zielkonflikt bei der Rechtsgewährung im Straf(verfahrens-) recht" und auch noch von dem „Zielkonflikt bei der Rechtsgewährung im Finanz-, Sozial- und Arbeitsrecht". Man leistet auf das gründlichste

den Dienst der -

Rechtsgewährung.

Es widerspricht der Herausgabe dieser Sammlung von Arbeiten Werner Sarstedts nicht, die Aktualität in dieses Geleitwort einzubeziehen. Es macht nur deutlicher, warum mit diesem Band versucht wird, die Spur eines Richters in Erinnerung zu rufen und sie der Erinnerung anzuempfehlen. Über „Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat" schrieb Werner Sarstedt 1977 im SPIEGEL: „Rechtsstaat ist keine Errungenschaft, sondern eine Aufgabe." Wir werden den Rechtsstaat nie erreichen. Wir sind immer nur - bestenfalls - auf dem Weg zu ihm. Wir werden ihm mit Richtern, die sich verbergen (und darin sogar noch eine Tugend sehen), nie näher kommen. Der Richter muß sich stellen über die Entscheidungen hinaus, an denen er mitwirkt. Er darf sich nicht in die Ungreif-, aber auch Unangreifbarkeit einer Gerichtssprache zurückziehen. Er hat eine Sprache wie jene Werner Sarstedts in seinem unvergeßlichen SPIEGELEssay zu wagen: „,Sprecht leise, haltet euch zurück, wir sind belauscht mit Ohr und Blick.' Das singt der Gefangenenchor im ,Fidelio'. Der Ort ist ,ein spanisches Staatsgefängnis', Ende des 18. Jahrhunderts, als das Land von dem verhaßten Godoy diktatorisch regiert wurde. Diese Gefangenen hatten es gut; sie wußten wenigstens, daß sie belauscht wurden, und konnten sich mit ihren Äußerungen danach einrichten. Bei uns dagegen . . . Bei uns hat sich der bestürzende Fall zugetragen, daß Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern heimlich belauscht worden sind. Daß Männer, die einer Volksvertretung verantwortlich sind, so etwas anordnen konnten und daß sie es, nachdem es bekanntgeworden ist, auch noch verteidigen, sollte uns das Fürchten lehren." Da bedarf es des Journalisten, der der Öffentlichkeit die Justiz und der Justiz die Öffentlichkeit erklärt, nicht mehr. Da prägt sich ein, was ein Richter auch ist, wie Richter sein können und sein sollten. Und selbst wenn man streiten mag, ob Richter so sein dürfen - da wird endlich etwas sichtbar, greifbar, zugänglich. Werner Sarstedt ist gescholten worden dafür, daß er Rechtsanwalt, Strafverteidiger gar wurde, nachdem er als Richter die (inzwischen noch ärgerlichere) Ruhestandsgrenze erreicht hatte. Die in diesem Band

XIV

Geleitwort

gesammelten Beiträge machen noch einmal spürbar, was ihn diesen Schritt tun ließ (ohne Illusion darüber, wie er aufgenommen werden würde). Werner Sarstedt ist der angelsächsischen Welt verbunden, ja verpflichtet gewesen, die Fülle der Zitate in seinen Parerga belegen es. Der angelsächsische Richter hinterläßt Spuren, er bleibt in Erinnerung, die Literatur hält ihn fest, die Belletristik spiegelt sein Bild wider. Vor allem aber - besteht keine Barriere zwischen den juristischen Berufen, jeder hat einmal jede Rolle gespielt, kann in jede Rolle geraten. Dem Richter ist die Situation des Anwalts vertraut aus eigener Erfahrung. Es gibt eine Solidarität der juristischen Berufe, die keinen seine jeweilige Rolle übertreiben l ä ß t - die jeden an die Relativität der Gesetze genannten Verabredungen erinnert, mit denen wir rechtsprechend ein verworrenes Gefüge in leidlicher Ordnung zu halten versuchen. Werner Sarstedt wollte nicht provozieren, als er als pensionierter Richter Rechtsanwalt und sogar Strafverteidiger wurde. Es ging gerade dem Rechtsanwalt, dem Strafverteidiger Sarstedt darum, auch wenn er sich damit dem Vorwurf des Mangels an Diskretion und dem Verdacht der Eitelkeit aussetzte, eine Spur zu hinterlassen: eine Spur, die über ihn hinaus zu dem Richter, zu dem Juristen führt, der sich nicht mehr vom Verlangen nach Auslöschung seiner Person beherrschen läßt; zu dem Richter, zu dem Juristen, der sich stellt, der sich aussetzt und einbringt. „Aber die Rechtsgeschichte und die Rechtsvergleichung belehren uns, daß jede der Verhaltensweisen, die hier und heute bei Strafe verboten sind, irgendwo zu irgendeiner Zeit schon einmal bei Strafe geboten gewesen sind. Es ist nichts mit dem ewigen Recht, das jedem Gutwilligen bei hinreichender Anspannung seines Gewissens von oben herab offenbar würde. Gerade diese Vorstellung ist besonders gefährlich, sie führt besonders leicht in menschliche Hybris und in seine Auffassung und Anwendung des Rechts, die dann später für ganz und gar unerträgliches Unrecht gehalten wird." Es wird ein Gewinn für unseren Versuch sein, in erträglicher Ordnung zusammenzuleben, wenn sich unsere Richter uns einprägen; wenn sie in unserer Erinnerung weiterleben wie Werner Sarstedt in diesem Zitat. Anatole France schrieb, von Martin Beradt zitiert: „Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es Reichen wie Armen, unter Brücken zu schlafen, auf Straßen zu betteln und Brot zu stehlen." Ahnlich haben gewiß viele Richter im Verborgenen empfunden. Mit Werner Sarstedt beginnt ein Versuch, dergleichen zu sagen und im richterlichen Handeln wirken zu lassen. Dieser Versuch will das vergängliche Gebilde des Rechts nicht abschaffen. Er will ihm eine Gestalt geben, die Richtern und Gerichteten erspart, ihm zum Opfer zu fallen.

Inhalt

Vorwort

V

Geleitwort

IX

I.

1 3 11

II.

Die „großen Fragen" des (Straf-)Rechts Zur „Idee des Rechts" Der einzelne und das Recht Die Willensfreiheit des Menschen - Utopie oder Wirklichkeit in der Strafrechtspflege Justiz in der Demokratie Täterstrafrecht und Rechtsstaat

28 44 62

Beiträge zur Rechtspolitik 79 Die Todesstrafe - ihre Rechtfertigungen und ihre politische Funktion 81 Amnestie und Gnade 91 Die strafrechtliche Problematik der NS-Prozesse 101 Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat (Spiegel-Essay) 114 Reform der Untersuchungshaft 120

III. Praxis der Strafrechtspflege Die Entscheidungsbegründung im deutschen strafgerichtlichen Verfahren Der Strafrechtler und der psychiatrische Sachverständige Das Verhandeln des Verteidigers vor dem Tatrichter und dem Revisionsgericht Das Wirken des Strafrichters in der Revisionsinstanz Die Überlastung des Richters Überlastung der Strafjustiz Bundesrichter in der heutigen Gesellschaft Von der Höflichkeit des Richters

139 141 158 180 204 213 217 229 249

IV. Justiz und Öffentlichkeit 253 Urteilsschelte liegt im Interesse der Rechtsprechung 255 Die Stellung des Vorsitzenden im tatrichterlichen Strafverfahren gegenüber den Organen der öffentlichen Meinung 272

XVI V.

Inhalt

Richter und Strafverteidiger als Beruf Besonderheiten des richterlichen Amtes Max Alsberg, ein deutscher Strafverteidiger Vom Richter zum Anwalt Skizzen

287 289 305 321 333

VI. Verzeichnis aller zu Lebzeiten erschienenen Veröffentlichungen Werner Sarstedts 343

I. Die „großen Fragen" des (Straf-)Rechts

Zur „Idee" des Rechts 1 (1983)

Wenn man einen Engländer fragt, was man in seinem Lande unter „Recht" (law) verstehe, antwortet er: „Recht ist, was die Richter sagen." Ein Deutscher würde antworten: „Recht ist, was im Gesetz steht." Gesetze (bills of law) gibt es auch in England; nur genießen sie dort nicht annähernd das gleiche Ansehen wie bei uns. Ein englischer Richter scheut sich nicht zu sagen: „Der Verfasser dieses Gesetzes hat keine Ahnung vom englischen Recht", und dann entgegen dem Gesetz zu entscheiden. Oder er sagt: „Dieses Gesetz ist schon vor einem halben Jahr erlassen; es ist veraltet (obsolete), und deshalb wende ich es nicht an." Dagegen mißt man in England den richterlichen Entscheidungen (prejudices) viel größeres Gewicht bei als bei uns, und seien sie Jahrhunderte alt, und stammten sie auch nur von unteren Gerichten. Ein oberster Grundsatz der englischen Justiz heißt: „stare decisis", am Entschiedenen festhalten. Das gilt allerdings nur von den „rationes decidendi", also von dem, was in den Entscheidungsgründen unbedingt gesagt werden mußte, um das Urteil zu tragen; nicht von den „obiter dicta", von dem, was nebenher noch an rechtlichen Erwägungen darinsteht. Bei uns weichen die Gerichte auf das Unbefangenste von früheren Entscheidungen ab, sowohl von ihren eigenen als auch von denen höherer und höchster Gerichte. Ein Landgericht darf das Gesetz ohne weiteres anders auslegen, als der Bundesgerichtshof es in ständiger Rechtsprechung auslegt. Bei uns haben die Gesetze vor allem den Zweck, die Rechtsprechung der Gerichte auf einen Nenner zu bringen. Indessen wird das nur sehr unvollkommen erreicht, weil in unserer Gesetzgebung selbst nichts beständiger ist als der Wechsel. Möchte man also die Beständigkeit der Rechtsprechung zu den Zielvorstellungen einer jeden „Idee des Rechts" zählen, so wird das Ziel in dem einen Lande ungleich vollkommener erreicht als in dem anderen. Es ist aber, gelinde gesagt, mißlich, wenn man auf eine so grundsätzliche Frage wie die nach der Idee „des" Rechts erst zurückfragen muß: „In welchem Lande?" Die Römer, neben den Engländern das andere große Rechtsvolk Europas, hätten die Frage, was das Recht sei, ebenso beantwortet wie

1

Manuskript vom Dezember 1983.

4

Die „großen Fragen" des (Straf-)Rechts

diese - nur noch viel schärfer und entschiedener. Für sie verstand es sich völlig von selbst, daß „Gerechtigkeit" und „Gerichtsbarkeit" ein und dasselbe sein müsse; etwas anderes hätten sie gar nicht auszudrücken vermocht, denn sie hatten für beides nur ein Wort: „iustitia". Im Englischen heißt der Richter „Mr. Justice", Herr Gerechtigkeit. Im Lateinischen ist Iustitia der Name einer Göttin (griechisch Dike). Sie trägt ein Schwert als Symbol ihrer Gewalt, eine Waage als Symbol der gerechten Verteilung, und die Augen sind ihr verbunden, weil sie unparteiisch, „ohne Ansehen der Person" entscheiden muß. Aber warum ist sie eine Frau? Und warum genoß sie im römisch-griechischen Götterhimmel so geringes Ansehen? Man hört in vielen Sagen von manchem Streit im Olymp, aber nichts davon, daß Iustitia ihn entschieden hätte, nicht einmal davon, daß sie auch nur nach ihrer Meinung gefragt worden wäre. Rechtssachen entschied Jupiter/Zeus allein, meist ziemlich willkürlich, ohne Waage, Schwert oder Binde vor den Augen, notfalls mit Donner und Blitz, aber öfter mit List und Täuschung, vor allem bei seinen zahlreichen Liebesabenteuern, ein ausgesprochener Weiberheld und Vertreter des Machismo. Wie kommt eigentlich Iustitia in diesen Himmel? Sie wird wohl älter sein als dieses ganze Göttervölkchen. Sie wird übriggeblieben sein aus einer vorgeschichtlichen Zeit der Frauenherrschaft, des Mutterrechts (lesenswert: Bachofen, Das Mutterrecht, 1861). Eine so erhabene Gestalt ganz abzuschaffen, konnten die zur Herrschaft gelangenden Männer sich wohl kaum getrauen, aber einen Platz in ihrem neu geschaffenen Himmel fanden sie für diese lästig gewordene Person auch nicht. Lippendienst freilich wurde und wird ihr immer noch erwiesen. Man höre nur die römischen Juristen über Recht und Rechtswissenschaft tönen: Iuris precepta sunt haec: honeste vivere, neminem laedere, suum cuique tribuere (die Gebote des Rechts sind diese: ehrenvoll leben, niemand verletzen, jedem das Seine zuteilen). Iurisprudentia est notitia rerum omnium, divinarum atque humanorum (die Rechtswissenschaft ist die Kenntnis aller Dinge, der göttlichen und der menschlichen).

Nun sind diese schönen Sätze sehr anfechtbar. Gehen wir sie der Reihe nach durch: - Honeste vivere: hier wird der Anfänger, der etwas vom Recht zu erfahren wünscht, auf die Ehre (honour) verwiesen. Das ist keine Mitteilung über den Inhalt der Rechtsgebote, weil es ja auch nichts über den Inhalt der Ehrengebote sagt; und außerdem ist es falsch, weil die Gebote des Rechts von denen der Ehre verschieden sind, und weil beide miteinander in Widerspruch geraten können. Man denke in diesem Zusammenhang an Theodor Fontanes Effi Briest. Der Baron Instetten findet durch einen Zufall heraus, daß seine Frau vor Jahren ein Verhält-

Zur „Idee des Rechts"

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nis mit dem Major Crampas gehabt hat. Die Ehre gebietet ihm, Crampas zum Zweikampf herauszufordern; das Recht verbietet den Zweikampf und bedroht ihn mit Festungshaft (die freilich als Ehrenhaft gilt). Im Duell tötet Instetten den Crampas, wird verurteilt - und nach Verbüßung der Festungshaft vom Ministerialrat zum Ministerialdirektor befördert. Inzwischen hat der Gesetzgeber den Zweikampf (als Rechtsbegriff) und die Festungshaft beseitigt. Die Folge ist nicht etwa, daß Instetten straffrei wäre, sondern daß man ihn wegen gewöhnlichen Totschlages zu ein paar Jahren Freiheitsstrafe verurteilen müßte. Er würde nicht befördert, sondern als Beamter sofort entlassen werden. Die (heutige) Moral von der Geschieht': das Recht hat sich gefälligst gegenüber der „Ehre" durchzusetzen und darf nicht vor ihren abweichenden Forderungen zurückweichen. Keulenschläge gegen den ganzen Ehrbegriff findet man übrigens bei Schopenhauer (der bedeutend leichter zu lesen ist als Hegel). - Neminem laedere: sehr schön, aber verletzt Instetten nicht Crampas, indem er ihn tötet? Verletzt er nicht vor allem Frau Crampas, die ihm überhaupt nichts getan hat? Verletzt er nicht auch seine eigene Frau, die den ganzen Crampas schon längst vergessen hatte und von der er sich jetzt scheiden läßt? Verletze ich nicht meinen Schuldner, der nicht zahlen kann, wenn ich ihm deshalb sein Hab und Gut versteigern lasse? Das geschieht unter den Voraussetzungen und in den Formen des geltenden Rechts; verstößt es trotzdem gegen den „Rechtssatz" neminem laedere? Dieser Satz ist viel zu unbestimmt, um bei der Beantwortung von Rechtsfragen, wie sie im wirklichen Leben aufzutauchen pflegen, hilfreich sein zu können. Um sagen zu können, was der Ausdruck „verletzen" in diesem Zusammenhang bedeutet, muß man vorher wissen, was „Recht" ist. Deshalb kann man den, der diese Frage stellt, nicht wieder zu dem „neminem laedere" zurückschicken. — Jedem das Seine: auch ein ebenso schöner wie inhaltsloser Satz. In Wirklichkeit sieht jeder kleine oder große Zivilprozeß so aus, daß der Kläger sagt: „dies ist das Meine", während der Beklagte sagt: „nein, das Meine". Meistens ist dabei auch noch jeder von beiden von seinem Recht felsenfest überzeugt. Es ist ein sehr einfacher Verstoß gegen die Logik, bei einer Begriffsbestimmung das, was man erklären soll, als schon bekannt vorauszusetzen. Die Römer waren Meister in der praktischen Handhabung des Rechts. Darin können wir heute noch von ihnen lernen. Das römische Recht hat von Bayern bis Hannover bis zum 31. Dezember 1899 gegolten. Es war zweifellos besser als das Preußische Allgemeine Landrecht Friedrichs des Großen, und wohl auch besser als das Bürgerliche Gesetzbuch, das in ganz Deutschland seit dem 1. Januar 1900 gilt. Aber besondere Rechtstheoretiker und Rechtsphilosophen waren die Römer eben nicht.

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Die „großen Fragen" des (Straf-)Rechts

Ihre Forderung, daß die Rechtswissenschaft die Kenntnis aller Dinge zu sein habe, müßte jeden ehrlichen, selbstkritischen Menschen von Anfang an abschrecken. Das war schon zur Zeit der Römer unmöglich und ist heute erst recht unmöglich. Es ist auch ein Fehler, den Juristen zu verführen, daß er Allwissenheit wenigstens heuchelt. Dieser Versuch kann nur zu Blamagen führen. Vor einiger Zeit verurteilte ein Landgericht einen Schießbudenbesitzer zu einer langen Freiheitsstrafe, weil er seine hochversicherte Schießbude, um sich die Versicherungssumme zu erschleichen, mit C 0 2 gesprengt und so in Brand gesteckt habe. Das Revisionsgericht mußte das Urteil aufheben, weil C 0 2 - gasförmige Kohlensäure - weder brennbar noch gar explosiv ist; sie läßt sich zum Feuerlöschen verwenden. Das braucht der Jurist, z.B. der Strafrichter, nicht zu wissen, aber er sollte wissen, daß er von C 0 2 nichts weiß. So etwas sieht man in einem ganz gewöhnlichen Konversationslexikon nach, oder man vernimmt einen Sachverständigen. Wer es sich zur Aufgabe macht, allgemeine Sätze über „das" Recht, über den Begriff „des" Rechts oder gar über die Idee „des" Rechts zu finden, sollte sich vor Augen halten, daß das Recht an keinem Tage dasselbe ist wie am Vortage und in keinem Land dasselbe wie in irgendeinem anderen Land. Es ist ein schlüpfriges Thema, etwa so als wollte man über „die" Form des Wassers schreiben. Das Recht ist eine Summe von Normen, die als verbindlich gedacht sind; sie sollten „der Idee nach" durchsetzbar sein, lassen sich aber in Wirklichkeit oft (nach meinen Erfahrungen würde ich sagen: meist) nicht durchsetzen, sei es wegen der Beweisschwierigkeiten (daß Eid und Folter die Wahrheit nicht zutage fördern, sollte sich herumgesprochen haben), sei es wegen Mangels an Macht (der Richter verurteilt, eine andere Behörde begnadigt: in Italien heißt das Justizministerium «Ministerio di Grazia e Giustizia», für Gnade und Justiz), sei es wegen schlichter Unfähigkeit der im Einzelfall zuständigen Staatsanwälte, Verteidiger oder Richter; daher das Sprichwort: „Bei der Justiz befindet man sich ebenso in Gottes Hand wie auf hoher See." Eine weitere Mißlichkeit liegt darin, daß das Recht die soeben versuchte Begriffsbestimmung (Summe von durchsetzbaren Normen) noch mit einer ganzen Reihe von anderen Regelkatalogen gemeinsam hat. Die Rede war schon von der Ehre. Instetten war einem Ehrbegriff unterworfen, der damals rein tatsächlich stärker war als der damalige Rechtsbegriff. Und da war die Ehre noch von Stand zu Stand verschieden. Was der Baron Instetten nicht konnte: seiner Frau verzeihen und seinen Nebenbuhler verachten, das hätte der Torfarbeiter Schulze ohne weiteres gekonnt und - ohne unangenehme Folgen für ihn - auch gedurft. Ein weiterer Regelkatalog ist die Sitte. „Das tut man nicht" kann eine

Zur „Idee des Rechts"

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strengere und wirksamere Regel sein als ein noch so energischer Paragraph des Gesetzes. Schließlich gibt es noch die Religion. Die Zehn Gebote sind teilweise vom Recht übernommen worden, aber nicht ohne Nuancen. „Du sollst nicht töten": gilt das da, wo die Todesstrafe gilt, auch für den Staat und seinen Henker? „Du sollst nicht ehebrechen" - bei uns ist vor ein paar Jahren die Strafbarkeit des Ehebruchs abgeschafft worden, und seit noch weniger Jahren ist er auch kein Scheidungsgrund mehr. Der Baron Instetten wäre nach dem heutigen Recht seine Frau überhaupt nicht losgeworden, es sei denn, sie sei ihm oder er sei ihr davongelaufen. Aber in beiden Fällen hätte er bis zu seinem oder ihrem seligen Ende Unterhalt für sie bezahlen müssen. Die Zehn Gebote sind - mit Ausnahme des vierten - alles Verbote, auch das dritte: die Feiertagsheiligung besteht in Unterlassungen. Diese Verbote waren zu der Zeit und an dem Ort, da Moses sie vom Sinai herunterbrachte, nicht rein religiöse, sondern auch rechtliche Normen, weil die Menschen, für die sie galten, eine Theokratie bildeten, einen nach ihrem Verständnis - von Gott gelenkten Staat. Von unseren heutigen Gesetzen unterscheiden sie sich übrigens zu ihrem Vorteil dadurch, daß sie in Stein gehauen waren (während wir heute Gesetzessammlungen in Loseblattform haben). Sie waren also von vornherein auf Dauer gedacht. Und ihnen lag auch eine Idee zugrunde: die Idee war der Gehorsam gegen Gott. Wer würde sich getrauen, so etwas von unseren heutigen Gesetzen zu behaupten, die von Tag zu Tag und von Ort zu Ort wandelbar sind? Was für einen Gottesbegriff würde das voraussetzen, wenn man nicht geradezu ein Chamäleon oder viele Chamäleons zu seinem Gott machen will? Nein, diese Idee des Rechts hat es einmal gegeben, im Staate Israel mag sie noch bei einer kleinen Minderheitspartei lebendig sein; uns anderen ist sie verschlossen. Und woher nehmen wir eine andere Idee des Rechts, die auf weltweite Ulld dauernde Anerkennung rechnen könnte? Mein Vorschlag ist: die Idee des Rechts ist der Frieden auf Erden. Da es nicht so aussieht, als ob wif ihm nahe oder auch nur auf dem Wege zu ihm wären, würde es vielleicht lohnen, zunächst einmal über die Idee dieses Friedens nachzusinnen. Man wird gewiß sein dürfen, daß jedes Unrecht den Frieden gefährdet, ja vernichtet und unmöglich macht. Damit rückt das Unrecht und seine Idee in unseren Blickkreis. Historisch war erst das Unrecht und dann das Recht. Man darf sich nicht dadurch irreführen lassen, daß nach deutschem Sprachgebrauch das Unrecht nur als die Verneinung des Rechts erscheint. Das ist nicht in allen Sprachen so (right/wrong; droit/ tort); und in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit wie jedes einzelnen Menschen tritt das Unrecht immer lange vor dem Recht ins Bewußtsein. Es wird viel deutlicher empfunden. Daß einer Unrecht

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Die „großen Fragen" des (Straf-)Rechts

getan hat, ist für die Presse viel eher eine Nachricht, als daß einer Recht getan. Schon in der Schöpfungsgeschichte ist das erste menschliche Verhalten, das überhaupt erwähnt wird, der Sündenfall. Was Adam und Eva recht getan haben, wird überhaupt nicht erwähnt. Wenn sie eine Rechtsordnung gehabt haben sollten, so wird davon doch nur das eine Verbot genannt, vom Baum der Erkenntnis zu essen; und erst durch die Übertretung dieses einen Gebots erfahren sie, „was gut und böse ist". Die Rechtsordnung fängt also mit dem Unrecht, mit der Sünde erst an. Ohne den Verstoß gegen das göttliche Verbot wäre ihr ganzer Lebenslauf rechtlich ohne Interesse. Das Unrecht also ist der primäre Begriff und das Recht erst der sekundäre. Das wird bestätigt, wenn man die Entwicklung des Menschen von der Geburt an betrachtet. Gewiß ist das Neugeborene nach unserer Rechtsordnung (nicht nach jeder denkbaren) schon Träger von Rechten. Nur weiß es nichts davon. Es denkt sich nichts dabei, daß es fünf Mahlzeiten am Tag bekommt, daß es sauber und warm gehalten wird. Es weiß nicht, daß es darauf einen Rechtsanspruch hat, und empfindet keine Genugtuung darüber, daß ihm „sein Recht" geworden ist. Es hat auch nicht den Trieb, anderen „ihr Recht" zuteil werden zu lassen. Dagegen beginnt man schon sehr bald, ihm ein schlechtes Gewissen anzuerziehen, sobald es sich nicht altersgemäß in die Gemeinschaft einfügt. Dieses schlechte Gewissen, das unangenehme Gefühl für das eigene Unrecht, ist die Keimzelle des Rechts. Mit seiner Hilfe wird der Mensch allmählich dahin gebracht, daß er in der Familie, im Bekanntenkreis, im Dorf, im Staat ein erträglicher Mitmensch wird, mit dem die anderen in Frieden leben können. Will das nicht schnell genug gelingen, so greift man allmählich zu immer schärferen Mitteln, um ihm sein Unrecht zum Bewußtsein zu bringen und es ihm abzugewöhnen. So entsteht das Recht allmählich aus der Verneinung des Unrechts. Das Recht ist Menschenwerk und deshalb notwendig höchst unvollkommen. Trotzdem ist es ein hoher Wert. Man braucht sich nur einmal vorzustellen, wie unser Leben sich gestalten würde, wenn wir unser mangelhaftes, widerspruchsvolles und von fehlbaren Menschen angewandtes Recht nicht hätten. Der Fall Bachmeier macht uns klar, was die Folge wäre: jeder Übeltäter sähe sich der privaten Rache ausgesetzt, und in den Händen der Angehörigen seines Opfers geschähe ihm mehr, als seine Taten wert sind. Und die Rächer wären selbst wieder der Rache ausgesetzt - eine Kette ohne Ende. Wir kennen das aus der Rechtsgeschichte und nicht nur aus Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas. Wenn man sich solche Folgen klarmacht, wird man einräumen müssen, daß selbst die schlechteste, fehlerhafteste obrigkeitliche Rechtspflege immer noch weitaus erträglicher ist als ihre Beseitigung und damit die Rückkehr zur Blutrache.

Zur „Idee des Rechts"

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Ich gehe gern als Zuhörer in Gerichtsverhandlungen, besonders im Ausland, und habe einmal vor einem irischen Dorfrichter (in Listowel) folgendes mit angehört. Eine Mrs. Α. trug vor, ihre Nachbarin, Mrs. Β., habe sie vor Zeugen "a blank-blank so-and-so" genannt. Gemeint war "a bloody bastard". Die Nachbarn kamen und beschworen das als Zeugen. Mrs. Β. bestritt es daraufhin nicht mehr. Der Richter griff zum Kalender und sagte: „Wir haben heute den 9. August. Es ist jetzt" (Blick zur Uhr) „11.13 Uhr. Ich werde das Urteil heute übers Jahr verkünden. Ich lade Sie also auf den 9. August des nächsten Jahres, 11.13 Uhr wieder vor dieses Gericht. Bis dahin erlege ich Ihnen auf, 'to keep your peace'; insbesondere dürfen Sie keinesfalls zu der Klägerin wieder etwas ähnliches sagen wie 'you blank-blank so-and-so'. Sonst . . . - haben Sie mich verstanden?" Ich fand das eine weise Entscheidung. Mrs. Β. war so klein, daß sie mit aufgespanntem Regenschirm unter dem Teppich hätte entlanggehen können. Sie wußte nicht, ob sie übers Jahr 10 Schilling Geldstrafe oder ein Jahr Gefängnis bekommen würde; aber sie mußte sich sagen, daß das im wesentlichen von ihrer Aufführung während dieses Jahres abhängen würde. Sie würde kaum wagen, auch nur einmal zu Mrs. Α. zu sagen: " I told you what you are". Aber auch Mrs. A. war nicht ganz glücklich; ein voller Triumph war es ja eigentlich nicht geworden. Ich hatte das Gefühl, die beiden Damen würden sich im Laufe des kommenden Jahres daran gewöhnen, daß sie ohne Streit miteinander auskommen mußten. „Peace" war das Schlüsselwort des Richterspruchs gewesen. Falsche Gerichtsurteile sind schlimm; aber die ärgsten aller Urteile sind solche, nach denen der Streit weitergeht, den sie beenden sollen. Freilich kommt auch so etwas vor - ein Widerspruch zur Idee des Rechts. Am schwersten setzt die Rechtsidee sich im Umgang der Nationen miteinander durch. Es gibt Gelehrte, die aus diesem Grunde das Bestehen eines Völkerrechts überhaupt bestreiten. Der Völkerbund sollte Abhilfe schaffen; bekanntlich hat er sich als zu schwach erwiesen. Die Vereinten Nationen haben unter anderem nicht verhindern können: den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran; den Überfall Rußlands auf Afghanistan (von Ungarn und der Tschechoslowakei gar nicht zu reden); die Kriege zwischen Israel und seinen Nachbarn, den Ruin des Libanon; die Besetzung der britischen Falkland-Inseln und den daraus entstandenen (unerklärten, aber blutigen) Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien; die Besetzung Grenadas durch die U S A ; die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik. Das alles hätte der simple gesunde Menschenverstand verhindern sollen; aber an ihm fehlt es. Es sollte für Engländer nicht schwer sein zu erkennen, daß sie ihrem Eingreifen zugunsten von Belgien 1915 und zugunsten von Polen 1939 den Verlust ihres Weltreiches zu danken haben. Dennoch machte

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die innenpolitische Schwäche Margaret Thatchers es für sie unerläßlich, der argentinischen Falklandbesetzung kriegerisch entgegenzutreten, ebenso wie innenpolitische Schwäche den General Galtieri zu eben dieser Besetzung verführt hatte. D e r Ausgang des Krieges stürzte Galtieri und stärkte Frau Thatcher. Menschen sind dafür gestorben; aber man fragt sich vergeblich: Was wollte eigentlich Argentinien, was will eigentlich England mit den Falklandinseln? Ein neutraler internationaler Gerichtshof hätte sie wohl für unabhängig erklärt, und dann wären sie uninteressant geworden wie Madagaskar und die Seychellen, wie Barbados und Efate. Hier liegen also für die Idee des Rechts noch Aufgaben und Fragen. Was tut England mit einem Kriegshafen in Gibraltar? E r hatte einen Sinn als Etappe auf dem Seeweg nach Indien, zusammen mit Malta, Zypern und Suez; aber nachdem diese Stützpunkte und Indien selbst verlorengegangen sind, sollte man denken, Gibraltar könnte ruhig wieder spanisch werden, was es bis 1714 gewesen ist. Natürlich steht so einem einfachen Vorschlag immer die nationale Ehre entgegen. Sie ist kein ausgleichender, friedlicher, nach Kräften gerecht verteilender, sondern ein aggressiver Grundsatz. Ihretwegen muß, wenn ein fanatischer Student ein dümmliches Mitglied eines degenerierten Herrscherhauses ermordet, ein großer Teil des Erdballs in Flammen gesteckt werden; Millionen von Toten sollen die „verletzte" Ehre wiederherstellen - unter ihnen übrigens nicht der Mörder, der den ganzen Ersten Weltkrieg überlebt hat. Das Herrscherhaus wird abgesetzt und aus dem Land gejagt (nicht ohne daß einige seiner Mitglieder vorher Landesverrat begangen hätten), das von ihm bis dahin beherrschte Reich wurde zerstückelt, der aus „Nibelungentreue" (auch solch ein Ehrbegriff) zu Hilfe gekommene Bundesgenosse verstümmelt und völlig zu Boden geworfen - wenn das keine Wiederherstellung der in Sarajewo verletzten Ehre ist! Margaret Thatcher hätte niemals Krieg gegen Argentinien führen können, wenn nicht in England der „Mann auf der Straße" (lies: die Fischhändler in Cheapside und ähnlich urteilsfähige Leute) laut danach geschrien hätte. Zur „Idee der E h r e " von Nationen gehören eben ausgesprochen törichte Vorstellungen von Menschen und Dingen - während die verletzte Ehre einer beleidigten Mrs. Α. aus Listowel unter Umständen im Namen der Rechtsidee geschützt werden muß, einfach wegen des nachbarlichen Friedens in diesem Nest.

Der einzelne und das Recht 1 (1968) Der einzelne und das Recht - schon das Thema fordert Widerspruch heraus. Denn solange man sich den Menschen nur als einzelnen, in seiner Vereinzelung vorstellt, ist es ganz sinnlos, nach seinem Verhältnis zum Recht zu fragen. Das Recht erlebt der Mensch nur, weil und soweit er ein Gesellschaftswesen ist und sich selbst als solches begreift. Robinson auf seiner Insel hatte weder Recht noch Unrecht, keine Verpflichtungen und keine Ansprüche, er konnte sich beim schlechtesten Willen nicht strafbar machen und bei größter Empfindlichkeit auch nicht beleidigt werden. Das alles ist nur innerhalb einer menschlichen Gesellschaft denkbar. Und innerhalb ihrer gibt es zwangsläufig eine Art von Recht. Dem einzelnen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich dem irgendwie zu stellen. Sie werden vielleicht einwenden, er könne das Recht doch verneinen, könne sich in der Weise negativ zum Recht einstellen, daß er sich ihm grundsätzlich nicht füge, keine Verpflichtungen anerkenne oder gar erfülle, die Polizei mit Steinen bewerfe und in den Gerichtssaal scheinheilig eintrete, nur um da sein Bedürfnis zu verrichten; alles vorgekommen. Es hat schon immer gewisse gesellschaftsfeindliche Gruppen der Gesellschaft gegeben, die man als asozial oder als antisozial bezeichnet. Früher kam es vor, daß die Gesellschaft solche Leute ausstieß, sie also aus der Rechtsgemeinschaft ausschloß. Sie waren dann vogelfrei, jeder konnte sie töten. Diese Methode erwies sich aber als unzweckmäßig. Sie führte dazu, daß diese Leute sich in wenig bewohnte Gegenden zurückzogen und sich dort zu Räuberbanden zusammentaten, wie Karl Moor in den böhmischen Wäldern. Heutzutage löst die Gesellschaft das Verhältnis zu ihrem einzelnen Mitglied niemals mehr von sich aus. Es war eines der Kennzeichen Hitlerscher Barbarei, daß deutsche Staatsbürger ausgebürgert wurden. So weit geht ein Rechtsstaat auch mit seinen gefährlichsten inneren Feinden nicht. Aber man sollte die Asozialität der Asozialen nicht überschätzen. Diese selben Leute haben nämlich, ob sie selbst es wollen und glauben oder nicht, in mannigfacher Weise auch ein positives Verhältnis zum Recht; zum mindesten da, wo das Recht auf ihrer Seite ist, wo es ihnen 1

Vortragsmanuskript vom Ende des Jahres 1968.

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Vorteile anbietet oder Möglichkeiten eröffnet. Wenn sie auch vielleicht ihre Schulden nicht bezahlen, oder doch nicht alle, oder nicht gleich und nicht ohne Murren: wo ihnen nach der Rechtsordnung Geld geschuldet wird, sind sie durchaus imstande, sich auf die von ihnen angeblich so verachtete Rechtsordnung zu berufen und auf ihrem Recht zu bestehen. Dabei ist auch das Geld selbst ein ausgesprochenes Geschöpf der Rechtsordnung; nur weil sie es so will, ist das Geld ein Zahlungsmittel, nur von ihr bezieht es seine Geltung und seinen Wert. Und was tun unsere Asozialen mit dem Geld? Im großen und ganzen etwas recht Braves und Kleinbürgerliches: sie bezahlen Miete, sie kaufen sich etwas zu essen und etwas anzuziehen, sie tragen die Raten auf ihren Fernseher ab; und selbst wenn sie Verbrecher sind, verwenden sie es zu ihren verbrecherischen Zwecken höchstens dann, wenn es gar nicht anders geht. Dazu ist ihnen dieses verächtliche Erzeugnis eines verächtlichen Establishments viel zu lieb und wert. Auch in vielen anderen Beziehungen ist das Verhältnis der sogenannten Asozialen und Antisozialen zum Recht keineswegs überwiegend negativ. Wenn sie verurteilt werden, sind sie imstande, sich darüber zu beklagen, ihnen sei „Unrecht" geschehen. Diese Klage über „Unrecht" setzt voraus, daß eine anerkannte, eine etablierte Rechtsordnung besteht; zum mindesten setzt es voraus, daß eine Rechtsordnung, vielleicht eine andere als die bestehende, gefordert wird. Denn ohne etwas Derartiges läßt sich nicht einmal gedanklich die Behauptung vertreten, ein bestimmter Vorgang, ein bestimmter Zustand, ein bestimmtes Urteil sei „Unrecht". Unsere „Rechtsfeinde" verachten es auch keineswegs, ihre Klage über Unrecht, sei sie nun begründet oder unbegründet, in die vom Gesetz vorgeschriebenen Formen zu gießen. Sie legen, immer fein säuberlich nach der Strafprozeßordnung, Beschwerde, Berufung und Revision ein, halten sich ganz brav an die vorgeschriebenen Formen und Fristen, befleißigen sich dabei meist eines durchaus manierlichen Tones und legen bisweilen eine Paragraphenkenntnis an den Tag, um die sie mancher gestandene Jurist beneiden könnte. Es ist also nichts mit der absoluten Verneinung des Rechts durch einen einzelnen. So etwas könnte man sich theoretisch denken; im wirklichen Leben kommt es schlechterdings nicht vor. Kritische, sehr kritische Haltung gegenüber dem gerade bestehenden Recht ist etwas anderes. Sie kommt bei sehr rechtlich denkenden und rechtlich lebenden Menschen vor, bei Justizministern, Abgeordneten, Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten, bei Vätern und Söhnen, innerhalb und außerhalb des gerade bestehenden Establishments. Kritik des geltenden Rechts, sei sie noch so scharf und ungebärdig, sei sie richtig oder auch unrichtig, bedeutet fast immer eine positive Haltung gegenüber der Idee des Rechts überhaupt.

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Professor Behrendt erwähnte in seinem Vortrag vor zwei Wochen das von Sigmund Freud so genannte „Uber-Ich" als einen dem „Ich" übergeordneten Bereich der Persönlichkeit, der die Normen - Gebote, Verbote, Tabus - der Gesellschaft als für die eigene Person gültig übernimmt, wobei es zu Konflikten mit dem Ich, zu Verdrängungen, Neurosen und anderen Erscheinungen kommen kann. Wir müssen darüber auch in unserem Zusammenhang sprechen, weil ja gerade das Recht im wesentlichen aus solchen Normen, Geboten, Verboten besteht und weil nach dieser Lehre innerhalb der Persönlichkeit des einzelnen das von der Gesellschaft gesetzte Recht als Über-Ich mit dem eigenen Ich in Streit geraten kann, so wie etwa das Gewissen mit den Wünschen im Kampf liegen kann. Wir wollen diese Lehre vom Uber-Ich hier nicht bekämpfen oder auch nur in Zweifel ziehen. Sie ist sicherlich geeignet, manche Erscheinungen des Seelenlebens einleuchtender zu erklären, als es vor ihr und ohne sie möglich gewesen wäre. Aber wir müssen, soweit das Recht in Betracht kommt, eine ergänzende Anmerkung dazu machen. Die Gesellschaft, die das Recht setzt, besteht aus lauter einzelnen; und der einzelne, den wir mit seinem Ich und Uber-Ich, mit seinen inneren Konflikten gerade ins Auge gefaßt haben, ist auch selbst einer davon, ein möglicherweise aktives Mitglied dieser das Recht setzenden Gesellschaft. Er, sein Über-Ich, muß nicht alle Normen dieser Gesellschaft als für die eigene Person gültig übernehmen und die entstehenden Konflikte mit dem eigenen Ich austragen oder verdrängen. E r kann - und ich meine, er soll - sie kritisch betrachten. Er kann den Konflikt nach außen tragen. Er kann sich innerhalb der Gesellschaft, von der er ein Teil ist, für eine Abschaffung oder Änderung der Rechtsnormen einsetzen, die er für falsch hält. Dabei ist für das praktische Verhalten zweierlei denkbar. Es kann staatliche Gebote und Verbote geben, die dem einzelnen so unerträglich, so unmöglich, so menschenunwürdig erscheinen, daß er sie für seine Person nicht zu befolgen vermag, nicht einmal vorläufig bis zu ihrer Abschaffung, so daß er es äußerstenfalls auf den Konflikt zwischen seiner Person und dem Staat ankommen läßt. Beispiele für solche schlechthin falschen Normen und für solche offenen Konflikte finden Sie in der Gesetzgebung, in der staatlichen Rechtsverwüstung der Hitlerzeit die Fülle. Dort finden Sie auch Beispiele dafür, auf welch verschiedene Weise die einzelnen solche Konflikte mit dem Staat zu ihren Gunsten ausgetragen haben. Zum Teil sind sie emigriert, haben also die Gesellschaft mit den schlechten Normen gegen eine andere Gesellschaft mit besseren Normen vertauscht. W o eine sehr große Zahl von einzelnen diesen Weg wählt, wirkt das nach außen als eine „Abstimmung mit den F ü ß e n " ; sie kann ein propagandistisches Element, einen aufrüttelnden Protest gerade da enthalten, wo andere offene Abstim-

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mungen nicht möglich sind. - Der einzelne kann einer unerträglichen geltenden Rechtsordnung auch dadurch Widerstand leisten, daß er sie von Fall zu Fall überlistet oder daß er ihr heimlich, mit dem kalkulierten Risiko des Entdecktwerdens und des Bestraftwerdens, ungehorsam ist, etwa indem er Verfolgte verbirgt. Er kann sich dumm stellen. Er kann schließlich den offenen Konflikt wählen und die Macht herausfordern, entweder wie der Bischof Graf Galen mit dem Erfolg, daß sie nachgibt, oder wie die Geschwister Scholl unter Aufopferung der eigenen Person mit dem Erfolg, daß er sie zwingt, Märtyrer zu schaffen. In einer Rechtsordnung, wie wir sie hier und heute haben, kommen zwar solche gewaltsamen Konflikte, wie Sie wissen, ebenfalls vor. Es gibt hier und heute aber auch andere Wege für den einzelnen, seine Anderungswünsche zur Geltung zu bringen; Wege, die zwar den Nachteil haben, mühsam und zeitraubend zu sein, geistige Anstrengung zu erfordern und keine plötzliche Befriedigung des Selbstwertgefühls, des Glaubens an die eigene Wichtigkeit zu erzielen, die dafür aber den Vorzug haben, mit weit größerer Sicherheit zum Erfolg zu führen und überdies für den immerhin denkbaren Fall, daß man sich unterwegs, mit zunehmender Reife, von der Unrichtigkeit seiner eigenen Bestrebungen überzeugen sollte, einen Rückzug ohne Blamage und ohne eigenen Schaden offenzuhalten. Was sind das für Wege? Bevor wir darauf zu sprechen kommen, möchte ich Sie an eine Stelle des Vortrages erinnern, den Professor Nevermann hier vor einer Woche gehalten hat. Er erwähnte die Sklaven in schriftlosen Kulturen und sagte, sie seien arme Menschen ohne Rechte. Nun hat es Sklaven auch in hochstehenden Kulturen mit Schriften gegeben, insbesondere in der Antike, und im neuzeitlichen Amerika sogar bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rechtlich versteht man unter Sklaven Menschen, die nicht rechtsfähig sind; die also nicht nur arm - und „arm dran" - sind, weil sie keine Rechte haben, sondern die gar nicht imstande sind, Rechte zu erwerben oder auch rechtliche Pflichten einzugehen. Sie kommen für den Rechtsverkehr nur als Objekte in Betracht. Sie können im Eigentum eines Freien stehen und tun das auch in aller Regel. Aber selbst wenn der Eigentümer sein Recht an einem Sklaven aufgibt, indem er ihm etwa erlaubt, fortzugehen und niemals wiederzukommen, wird der Sklave dadurch nicht frei; er ist dann eben ein herrenloser Sklave, den jeder sich aneignen kann wie jede andere herrenlose Sache. Das ist das Wort: Der Sklave ist rechtlich eine Sache. Er ist kein noch so bescheidenes Mitglied der Rechtsgemeinschaft. Übrigens hat das nichts mit der Frage zu tun, was für ein Leben er führt. Es hat in der Antike hochgebildete Sklaven gegeben, die etwa Ärzte oder Lehrer, zum Beispiel Sprachlehrer waren, einen dementsprechend hohen Geldwert verkörperten und schon deshalb von halbwegs vernünftigen Eigentümern auch gut behandelt wur-

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den. Juristen allerdings werden auf dem Sklavenmarkt in Alexandria wohl keine besonders hohen Preise erzielt haben. Die Sklaven nun - und darum trage ich Ihnen das vor - sind der Extremfall von einzelnen, die gar keine eigene Beziehung zum Recht haben. In rechtlichen Dingen haben sie überhaupt nichts mitzudenken und mitzureden. Ihr „Recht" - in Anführungszeichen - ist die absolute Willkür ihres Eigentümers, der mit ihnen nach Belieben verfahren kann. Er ist ihre allmächtige Obrigkeit und ihre einzige Instanz. Sie konnten sich freilich auflehnen, wie ein Hund, der seinen Eigentümer beißt. Sie konnten sich sogar zusammenrotten, wie unter Spartakus, und versuchen, mit Gewalt eine eigene, eine neue Rechtsgemeinschaft zu werden. Ich sage das, um Sie daran zu erinnern, daß wir keine Sklaven sind und solche Mittel keineswegs nötig haben, wenn uns etwas an der Rechtsordnung nicht paßt. Wir selbst sind stimmberechtigte Mitglieder dieser Rechtsordnung und können, ja wir sollen es sagen, was uns daran nicht gefällt. Manchmal hat man das Gefühl, das habe sich in unserem Land immer noch nicht in ausreichendem Maße herumgesprochen. Mehrere hundert Jahre unserer Geschichte haben uns zu Untertanen der Obrigkeit erzogen; das steckt uns Deutschen noch in den Knochen. Wir waren und sind nicht etwa zufriedene Untertanen; wir haben jahrhundertelang gemurrt, wenn es keiner hörte, und haben die Faust in der Tasche geballt, bis es gelegentlich zu einer kleinen Explosion kam, 1848 oder 1918. Aber es will vielen von uns immer noch nicht recht gelingen, uns selbst für unsere eigene Obrigkeit zu halten, uns mit unserer Rechtsordnung zu identifizieren, zu sagen: Der Staat, das sind wir. Es gibt noch eine andere Gruppe von Menschen, die zwar vor grauen Zeiten fast so rechtlos waren wie die Sklaven, deren Los sich aber mit fortschreitender Zivilisation sehr gebessert hat: Das sind die Fremden. Bei den alten Römern bezeichnete das lateinische Wort hostis, das mit unserem deutschen Wort Gast sprachverwandt ist, sowohl den Fremdling als auch den Feind. Bei unseren Vorfahren hieß elend die Fremde, das Ausland. Außerhalb des Gebietes seiner eigenen Rechtsgemeinschaft war der einzelne rechtlich völlig schutzlos. Er war darauf angewiesen, sich unter den Schutz eines Gastfreundes zu stellen, der angesehen genug war, um Plünderung, Gefangennahme, Tötung seines Gastes verhindern zu können; oder er mußte eine bewaffnete Eskorte mitnehmen, um seines Lebens einigermaßen sicher zu sein. Das hat sich, wie Sie wissen, stark gewandelt. Man besteigt ein Flugzeug, ist in zwei Stunden mitten in England, d. h. mitten in einem Gebiet völlig verschiedenen Rechts. Wenn man die fremde Sprache beherrscht und einen ausreichenden Vorrat der fremden Währung bei sich hat, kann man sich fast wie zu Hause fühlen. Eigentlich macht einen nur der Linksverkehr darauf aufmerksam, daß hier anderes Recht gilt. In Wahrheit sind die Unter-

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schiede zwischen dem englischen und dem deutschen Recht sehr tiefgreifend, und vor allem: rechtlich ist man im Ausland nur geduldet, man ist dort nicht Mitglied der Gemeinschaft, die sich das Recht gibt. Wahrscheinlich sind viele von Ihnen im Ausland schon jener wenig angenehmen Sorte von deutschen Landsleuten begegnet, die - wenn auch vielleicht nicht gerade in England, so doch in südeuropäischen Ländern und erst recht in Ubersee - mit einem Gesicht und einem Gehabe herumlaufen, als wollten sie sagen: hier sollten wir zu sagen haben, hier müßten wir Deutschen einmal Ordnung schaffen dürfen. Diese Sorte war früher verbreiteter als sie heute ist - O t t o Julius Bierbaum klagte schon vor 60 Jahren darüber; aber es gibt sie noch. Das sind und waren meist dieselben Leute, die zu Hause kuschen. Und das ist nun wirklich eine sehr bemerkenswerte Umkehrung: denn da, wo man sich nur vorübergehend und nur als Gast aufhält, sollte einem doch die einfachste Überlegung sagen, daß einen die Zustände nichts angehen, und daß man, wenn sie einem nicht passen, mit dem nächsten Zug, Dampfer oder Flugzeug wieder abreisen kann. Aber solche Leute, die zu Hause vor der Obrigkeit strammzustehen gewöhnt sind, träumen im Ausland offenbar gern davon, dort einmal selbst als Obrigkeit aufzutreten und anderen Menschen das Recht vorzuschreiben, so wie es sonst immer ihnen vorgeschrieben wird. Dieses aktive und passive Obrigkeitsdenken zeigt ein gestörtes Verhältnis vieler einzelnen zum Recht. Betrachten Sie die Leute im Straßenverkehr an einer Verkehrsampel. Hören Sie sich als Beifahrer an, was deutsche Autofahrer zu sagen imstande sind, wenn sie vor dem roten Licht zum Anhalten gezwungen werden. Es hat schon einer Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil es gegen die Menschenwürde verstoße, von einem Menschen, dem Ebenbild Gottes, zu verlangen, daß er einer unbelebten Apparatur Gehorsam leiste. Man fragt sich, ob er es vielleicht auch für unwürdig hält, auf seine Armbanduhr zu sehen, damit er den Omnibus nicht verpaßt. Auf viele unserer Landsleute wirkt die Verkehrsampel wie ein Gesslerhut, dem sie wegen einer Strafdrohung Reverenz erweisen oder auch trotzig die Reverenz versagen. Es kommt ihnen vor, als hänge da die verkörperte Obrigkeit, die sie mit strengem roten Auge anhält oder mit mildem grünen Blick weiterfahren läßt. Wären wir Demokraten, so hätten wir das Gefühl: das ist meine Ampel, von meinem Geld angeschafft, von meinen Beamten zu meiner Sicherheit und Bequemlichkeit aufgestellt. Das etwa ist die normale Reaktion eines Nordamerikaners. Auch er ist vielfach kritisch; diese Haltung ist mit Kritik durchaus vereinbar. Meine Ampel braucht mir ja nicht zu gefallen, ebenso wenig wie mir meine Armbanduhr unbedingt gefallen muß. Findet der Demokrat etwa, daß die Ampel an dieser Stelle entbehrlich oder störend ist, daß sie an der verkehrten Stelle steht, daß die Phase zu lang oder zu kurz ist, dann

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macht er ausfindig, wer für eine Änderung zuständig ist, und dem schreibt er dann einen Brief. Er hält es für seine Aufgabe, seine Ansicht möglichst überzeugend zu begründen, oder ihre Uberzeugungskraft dadurch zu verstärken, daß er noch andere Leute zu ähnlichen Briefen veranlaßt. Findet er solche anderen Leute nicht, so wird ihn das zum Nachdenken darüber bringen, ob er überhaupt recht hat. Oder er schreibt an seinen Abgeordneten, der nicht einmal ein Mann von seiner eigenen Partei sein muß. Oder schreibt einen Leserbrief an seine Zeitung. Oder er gründet einen Verein. Da hätten wir also einige der Wege, auf denen es der staatsbejahende, aber kritische Bürger als einzelner unternehmen kann, die bestehenden Zustände und darunter gerade auch die geltende Rechtsordnung zu ändern. Die Aufzählung ist nicht vollzählig. Es gibt auch noch andere, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wir waren gerade in Gedanken in London. Gehen wir zum Hyde Park Corner und hören wir den Soap Box Orators, den Seifenkistenrednern zu. Zwar werden wir da jede Art von Unsinn zu hören bekommen; aber trotzdem kann man dabei etwas lernen. Ob solch ein Redner nun die Meinung verficht, Weihnachten sollte zweimal im Jahr gefeiert werden, oder ob er den Premierminister für den größten Gauner aller Zeiten erklärt: auf jeden Fall demonstriert er mehrere demokratische Einsichten. Er hält Pflastersteine nicht für Argumente. Er zeigt der Öffentlichkeit sein Gesicht und flüchtet nicht in die Anonymität. Er findet sich ohne weiteres damit ab, daß andere Weltverbesserer ihm das Ohr des Publikums streitig machen. Er weiß, daß es darauf ankommt, die Leute mit einer ansprechenden, möglichst humorvollen Art der Aussage zu fesseln. Er läßt es sich nicht anfechten, daß man ihn komisch findet und über ihn lacht. Er bemüht sich, auf Zwischenrufe schlagfertig zu antworten. Und wenn ihn niemand hören will, dann gibt er sich geschlagen und zeigt sich als guter Verlierer. Gerade dies letzte ist dem einzelnen im Umgang mit dem Recht bisweilen sehr zu empfehlen. Vielleicht werden Sie darauf erwidern: das könnte dir so passen - du willst recht behalten, und wir sollen die guten Verlierer sein. Aber ich bitte Sie, mir zu glauben, daß ich mich als einen einzelnen verstehe und diese Forderung auch in erster Linie an mich selbst stelle. Ich bin seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Kollegialrichter; und auch wenn ich nicht aus der Schule plaudere, werden Sie es selbst in höchstem Grade für unwahrscheinlich halten, daß ich da immer in der Mehrheit geblieben wäre. Ein „Ritter von der eigenen Meinung", wie Wilhelm Busch das nennt, könnte es in einem solchen Beruf gar nicht aushalten. Wir leben - das ist schon bis zum Überdruß gesagt und wiederholt worden - in einer pluralistischen Gesellschaft. Es ist völlig ausgeschlos-

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sen, in einer Gesellschaft von gleichberechtigten Männern und Frauen, von Gläubigen und Ungläubigen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Rechten und Linken, von Selbständigen, Angestellten, Arbeitern und Beamten, von Hausbesitzern und Mietern, von Alten und Jugend, von Lehrenden und Lernenden - es ist, sage ich, in einer solchen Gesellschaft völlig ausgeschlossen, eine Rechtsordnung aufzustellen, mit der alle in gleichem Maße zufrieden sind. Wer Gehör finden und überzeugen will, der muß nicht nur sprechen, sondern auch zuhören können. In einer funktionierenden Demokratie findet nur derjenige einzelne einen Zugang zum Recht und gewinnt auch nur der Einfluß auf die Gestaltung des Rechts, der auch den Standpunkt des anderen gelten läßt und zu Kompromissen fähig und bereit ist. Prinzipienreiterei, die jede Diskussion kurzschließt, bringt nicht nur die Gefahr der Blamage für den einzelnen mit sich, wenn er nämlich sein Prinzip nicht durchsetzt; sie gefährdet, auch wenn sie obsiegt, von vornherein den Bestand dessen, was sie damit erreicht. Wenn einer in einem Rechtsstreit sagt: es geht mir nicht ums Geld, es geht mir ums Prinzip - dem geht es ums Geld. Sie brauchen ihn nur zu hören, wenn das Gericht sein Prinzip für richtig und seine Geldforderung für unbegründet erklärt, zum Beispiel weil er die bestrittenen Prämissen seines unbestrittenen Prinzips nicht hat beweisen können; wenn ihm also gesagt wird: dein Prinzip, daß jemand den Schaden ersetzen muß, den er einem anderen zugefügt hat, ist völlig richtig - aber du hast nicht bewiesen, daß es dieser Beklagte war, der dir diesen Schaden zugefügt hat; daß du das als Kläger beweisen mußt, ist auch ein wichtiges Prinzip. Nun wird man einwenden: die Dinge sind zu verwickelt, der Apparat viel zu unübersichtlich, als daß der einzelne hoffen könnte, da Einfluß zu gewinnen. Man weiß ja gar nicht, an wen man sich wenden soll, an wen man seine Wünsche adressieren könnte; „die da oben" haben es schon so eingerichtet, daß man nicht gegen sie ankommt. Es muß zugegeben werden, daß unsere Gesetzgebungsmaschine für den Staatsbürger nicht ganz einfach zu übersehen ist. Der Mann, den die Zeitungen den Gesetzgeber nennen, ist eben kein Mann, sondern nur eine bildliche Ausdrucksweise für eine Gruppe von mehreren in sich wieder komplizierten Einrichtungen. Aber wer sich als einzelner berufen fühlt, auf die Entwicklung des Rechts Einfluß zu nehmen, dem ist zuzumuten, daß er sich mit diesem Apparat wenigstens so weit vertraut macht, um an irgendeiner Stelle einen Zugang zu finden; so schwierig oder gar unmöglich ist das nun auch wieder nicht. Wer den Versuch machen will, dem sei zur Ermutigung versichert, daß schon Dümmere als er es begriffen haben. In alten demokratischen Ländern wie der Schweiz oder England lernt man das in der Schule. Bei uns strebt man das seit Jahrzehnten an, aber es kommt nicht recht zustande. Die Lehrer

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selbst sind im Staatsrecht nicht firm, und die Juristen sind keine Pädagogen. Die Schulen ziehen sie schon einmal zu einzelnen Vorträgen heran, aber das alles ist bisher weithin Gelegenheitssache geblieben. Bis in die erste juristische Staatsprüfung hinein stößt man heute noch auf Unsicherheit und Lücken in diesen staatsbürgerlichen Kenntnissen. Beim Zustandekommen der Bundesgesetze wirken zusammen: der Bundestag, also unser Parlament, bestehend aus den gewählten Abgeordneten; die Bundesregierung, das ist der Bundeskanzler mit den Bundesministern; und der Bundesrat, der von den Regierungen der einzelnen Länder beschickt wird. Jedes dieser drei Organe kann Gesetzesvorschläge einbringen. Wer also zum Beispiel an einen Abgeordneten des Bundestags schreibt, ist schon an der richtigen Adresse. Wer etwa keinen einzigen Bundestagsabgeordneten mit Namen kennt, der sollte sich vielleicht erst einmal ein paar Wochen aufs Zeitungslesen verlegen, ehe er unser Recht verbessert. Wer die Adresse des Abgeordneten nicht weiß: sie lautet 5300 Bonn, Bundeshaus. Aber man kann auch an den Bundestag selbst schreiben. Dann gelangt der Brief wahrscheinlich an dessen Eingabenausschuß, und von dem bekommt man auf alle Fälle mindestens eine Antwort. Der gewöhnliche Gang der Dinge ist bei uns allerdings der, daß die Gesetze von der Regierung ausgehen. In der großen Mehrzahl aller Fälle hat man sich das praktisch so vorzustellen, daß sie im Hause des zuständigen Fachministers entworfen werden; also etwa ein neues Straßenverkehrsgesetz im Bundesverkehrsministerium, ein neues Strafgesetzbuch im Bundesjustizministerium. Innerhalb dieses Ministeriums macht das derjenige Beamte, also etwa ein Ministerialrat, der sich am meisten auf die betreffende Materie spezialisiert hat. Vielleicht hat er einen oder zwei Hilfsarbeiter, Regierungsräte oder Oberregierungsräte, so daß man da im allgemeinen ein Team von großer Sachkenntnis an der Arbeit sieht. Die Referenten anderer Ministerien, in deren Fachgebiet der Entwurf mit einschlägt, werden angehört. Vielfach werden auch außenstehende Sachverständige hinzugezogen. Beim Entwurf eines Strafgesetzbuchs etwa hat man eine große Kommission von Professoren, Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Abgeordneten zusammengerufen, die jahrelang beraten hat. Der Referent legt seinen Entwurf dem Abteilungsleiter vor, der Abteilungsleiter dem Staatssekretär, der Staatssekretär dem Minister, der den Entwurf dann auf die Tagesordnung des Kabinetts setzen läßt und ihn schließlich im Parlament, also im Bundestag vertreten muß. Sie können sich vorstellen, daß bei jedem dieser Schritte noch an dem Entwurf herumgebessert oder vielleicht auch nur herumgeändert wird. Nun werden Sie sagen: welche Chance hat bei diesem Betrieb unter den Großkopfeten der einzelne, der kleine Mann, seine Ansicht zur

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Geltung zu bringen? In vielen Fällen weiß er ja gar nicht, was da so alles in den zahlreichen Ministerien ausgebrütet wird; und selbst wenn er es weiß - neugierige Journalisten stöbern ja doch in den Ministerien herum und veröffentlichen doch hier und da etwas von den Plänen selbst wenn er es also weiß: wie kommt er an diese überlegenen Fachleute heran? Das ist für jemanden, der wirklich etwas erreichen will, gar nicht so hoffnungslos, wie es zunächst scheinen mag. Bitte bedenken Sie, daß keinem Minister auch nur das geringste daran liegen kann, einen Gesetzentwurf vor das Parlament zu bringen, der nicht gute Aussichten hat, dort eine Mehrheit zu finden. Und was vom Minister gilt, das gilt auch vom Staatssekretär, vom Abteilungsleiter, vom Referenten und vom Hilfsarbeiter. Sie alle wollen ja nicht beweisen, daß sie fleißige und scharfsinnige Leute sind, sondern sie wollen einmal eine praktische Wirkung ihrer Arbeit sehen. Deshalb können sie keinen Augenblick die Strömungen und Stimmungen im Parlament außer Augen lassen. Hat also der kleine Mann auch nur einen einzigen Abgeordneten für seine Wünsche interessiert, so ist er einen großen Schritt weiter. Dieser Abgeordnete ist vielleicht, er ist sogar sehr wahrscheinlich kein Fachmann, der sich mit dem Referenten des Ministeriums vergleichen könnte. Trotzdem können Sie ganz sicher sein, daß der Referent den Abgeordneten nicht etwa mit dem Hochmut ablaufen lassen wird, der so oft den Fachmann gegenüber dem Laien auszeichnet, sondern daß er den Besuch des Abgeordneten als eine Auszeichnung empfinden wird, und daß er das Anliegen des Abgeordneten mit höchster Aufmerksamkeit anhören und lange in seinem Herzen bewegen wird. Dabei müssen Sie bedenken, daß der Referent ja immer erst einmal seinen Minister gewinnen muß, und daß der Abgeordnete, obwohl er nicht wie der Referent im selben Hause sitzt wie der Minister, trotzdem einen viel kürzeren Draht zu diesem Minister hat als er selbst. E r selbst kann sich mit seinem Minister normalerweise nur im Einverständnis seines Abteilungsleiters und des Staatssekretärs in Verbindung setzen. Es kann ihm widerfahren, daß der Minister tage- und wochenlang für ihn gar nicht zu sprechen ist, obwohl er auf demselben Flur drei Zimmer weiter sitzt. Den Abgeordneten wird der Minister sofort empfangen. Sie merken es wohl schon: ich habe ein paar Jahre in einem Ministerium gearbeitet. Wenn ein Abgeordneter kommt, stehen da alle Leitungen unter Strom; jeder zieht seinen Schlips zurecht und setzt sein Sonntagsgesicht auf. Und was Wunder: der Abgeordnete ist ein Stück von der Macht. E r hat nachher bei der entscheidenden Abstimmung eine Stimme. E r hat unter den anderen Abgeordneten politische Freunde, die ebenfalls jeder eine Stimme haben. Er gehört einer Fraktion an, die ihn anhören und wohl oder übel auf seine Argumente eingehen muß und deren Mehrheit auch

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nicht sachkundiger ist als er selbst. Da ist dann der Referent gar nicht mehr dabei. Aber, so werden Sie einwenden, das alles funktioniert nur, wenn es dem kleinen Mann gelungen ist, einen Abgeordneten zu finden, der sich für sein Anliegen interessiert. Vielleicht gelingt das nicht; zugegeben. Aber auch Abgeordnete sind nicht das letzte Wort in politischer Macht; auch Abgeordneten kann man einheizen. Abgeordnete sind gewählt; das will nicht viel heißen. Aber fast jeder Abgeordnete möchte gern wiedergewählt werden; und das will schon etwas heißen. Die Stimme des einzelnen kann er und kann seine Partei verschmerzen. Aber wenn es gelingt, ihn und seine Partei zu überzeugen, daß eine bestimmte Haltung viele Stimmen kosten würde, sieht die Sache ganz anders aus. Der einzelne steht nun also vor der Aufgabe, viele einzelne für seine Ansicht zu gewinnen. Wie macht man das? Seine Familie ist vielleicht nicht groß, seine Freunde und Bekannten nicht zahlreich, und vielleicht machen sie auch nicht alle mit. Sein Kegelklub ist uninteressiert. Dann muß die nächste Frage lauten: wem allen würde der Vorschlag, den ich zu machen habe, Nutzen bringen? Bei welchen Gruppen würde der Vorschlag, auch wenn er ihnen keinen Nutzen bringt, Sympathie finden? Und wie komme ich an diese Gruppen heran? Sind sie vielleicht organisiert? Oder könnte ich sie vielleicht selbst organisieren? Könnte ich mit Inseraten, mit Rundschreiben, mit Vorträgen, mit Postwurfsendungen eine Interessengemeinschaft auf die Beine bringen? In Amerika ist in solchen Fällen der erste Gedanke immer der an die Frauenvereinigungen. Die Frauen sind schon die Hälfte der Wahlberechtigten, und ein sehr stattlicher Prozentsatz von ihnen ist organisiert. Wem es gelingt, die Frauenvereinigungen auf seine Seite zu bringen, der hat im allgemeinen gewonnenes Spiel. Keine Partei kann es sich leisten, diese machtvolle Gruppe vor den Kopf zu stoßen. Nur so konnte es gelingen, in Amerika die Prohibition einzuführen und so lange beizubehalten, bis sie sich selbst, sogar in den Augen der Frauen, ad absurdum geführt hatte. Wenn es bei uns darum geht, die Frage neu zu regeln, mit welchem Blutalkoholgehalt man sich ans Steuer setzen darf, werden sich die Automobilclubs einschalten (der ADAC ist ein Millionen verein), die Winzervereinigungen, die Brauereien, die Brennereien, die Gastwirte da man hier überall die ganze Arbeitnehmerschaft hinzurechnen darf, sind das recht starke Gruppen. Sie können auch der ministeriellen Sachkunde etwas entgegensetzen: der ADAC etwa unterhält eine eigene Rechtsabteilung, die sogar eine eigene, monatlich erscheinende Rechtszeitschrift herausgibt. Ein solcher Verein hat auch Mittel genug, um Gutachten von Kapazitäten bezahlen zu können. Eine solche Beeinflussung des Parlaments durch starke Interessentengruppen heißt Lobby, von dem englischen Wort für die Vorhalle des

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Parlamentsgebäudes. Das Wort hat keinen guten Klang. Die eigentlichen Organe der Gesetzgebung sehen diesen Druck, dem sie da häufig ausgesetzt sind, gar nicht gern. Indessen gehören diese Dinge nun einmal zur parlamentarischen Wirklichkeit, und gewiß wäre es das Allerverkehrteste, darüber zu schweigen. Die Lobby ist unter Umständen gerade dann am wenigsten demokratisch, wenn sie im verborgenen arbeitet und sich der öffentlichen Kritik nicht stellt. Vielleicht haben Sie schon längst das Gefühl, daß hier dem einzelnen, der die Klinke der Gesetzgebung bewegen möchte, sehr viel zugemutet wird. Aber das ist nur gut und notwendig. Es geht ja um nichts Geringes. E r will ja erreichen, daß die Gesamtheit in dem betreffenden Punkt nach seiner Pfeife tanzt. Es schadet gar nichts, wenn er bei diesem Unterfangen bemerkt, daß er nicht in einer Diktatur lebt, in der er der Diktator ist, sondern daß seine Wünsche mit den Wünschen anderer einzelner in Wettbewerb und vielleicht in Widerstreit treten. Das kann ihn also Zeit, Kraft, geistige Anstrengung, Ausdauer und Geduld kosten; und es ist mit dem Risiko des Scheiterns belastet. Meine These ist nicht, daß es leicht sei, sondern nur, daß es möglich ist. Wer nicht bereit ist, sich mit allen Kräften für die ihm notwendig erscheinende Entwicklung des Rechts einzusetzen, der hat nicht das Recht, darüber zu schimpfen, daß nichts geschieht, oder daß das Falsche geschieht. Er ist in unserem System von der Mitwirkung nicht ausgeschlossen. Übrigens gibt es für denjenigen einzelnen, dem die öffentlichen Angelegenheiten und unter ihnen das Recht wirklich am Herzen liegen, noch einen viel geraderen Weg. Statt sich über „die da oben" zu entrüsten, kann er etwas tun, um auch dahin zu gelangen. Jungen Menschen steht eine Ausbildung offen, die sie zu den höchsten Amtern befähigt. Diesen Weg ist ein Teil „derer da oben" gegangen, und er wird jedes Jahr von vielen neu beschritten. Und keinerlei abgestempelter Befähigungsnachweis gehört zu dem Versuch, sich zum Abgeordneten wählen zu lassen. „Die da oben" haben alle einmal unten angefangen. Freilich kann jemand auf diesem Wege auch straucheln und steckenbleiben. Aber der wird dabei wahrscheinlich mindestens ein richtigeres Urteil über die eigenen Fähigkeiten im Verhältnis zur Schwierigkeit der Aufgabe gewinnen können. Das Verhältnis des einzelnen zum Recht hat nun aber noch einen anderen Aspekt. E r besteht in seiner Unterrichtung und seiner Meinung über die Arbeit der Gerichte. Das ist einmal der allgemeine Anblick von weitem: die Kenntnisnahme von fremden Prozessen, von Rechtsstreitigkeiten, die andere Leute miteinander führen, von Strafverfahren, die gegen andere Leute verhandelt werden. Es ist ein wichtiger Grundsatz unserer Rechtsordnung, dem einzelnen diese Kenntnisnahme möglich zu machen. Unsere Gerichtsverhandlungen sind grundsätzlich öffent-

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lieh; jeder einzelne kann kommen und zuhören. Übrigens ist das ein bürgerliches Ehrenrecht; wem die bürgerlichen Ehrenrechte durch ein Strafurteil aberkannt sind, der brauchte nicht zugelassen zu werden, wenngleich ich es noch niemals erlebt habe, daß jemand mit dieser Begründung abgewiesen worden wäre. Leider wird von dem Recht ohnehin wenig Gebrauch gemacht. Verzeihen Sie mir die schockierende Bemerkung, daß mir Angehörige der außerparlamentarischen Opposition, mit der ich in keiner Weise sympathisiere, daß sie mir - auch wenn sie nur erscheinen, um das Gericht zu stören, was ich mir natürlich nicht gefallen lasse - daß sie mir, sage ich, immer noch lieber sind als die braven Leute, die sich für ihr eigenes Gerichtswesen überhaupt nicht interessieren. Wir hören jetzt so viel von der Würde des Gerichts und ihrer Verletzung. Die Würde des Gerichts wird nicht verletzt, wenn sich jemand vor Gericht unangemessen aufführt, Sprechchöre veranstaltet, sitzen bleibt oder sich selbst so verhält, wie vorhin angedeutet. Die Würde des Gerichts kann nur durch das Gericht selbst verletzt werden: durch einen Richter, der nicht zuhört, der in der Verhandlung Akten bearbeitet, der den Angeklagten ironisch behandelt, nicht ausreden läßt und ihm zu erkennen gibt, daß er ihn schon vor der Beweisaufnahme für schuldig hält. Die Würde des Gerichts besteht nicht darin, daß es sich selbst feierlich nimmt, sondern darin, daß es für eine sachliche, menschliche und friedliche Atmosphäre im Gerichtssaal sorgt. Dazu kann natürlich erforderlich werden, daß es Störer entfernen läßt; aber nicht wegen seiner eigenen Würde, sondern um der Menschen willen, die vor dem Gericht stehen, auch wenn das bisweilen Menschen sind, die schwer versagt haben. Das alles wäre viel leichter, wenn der Zuhörerraum des Gerichts mehr, als es leider der Fall ist, von interessierten Bürgern besucht würde. Der einzelne hat als solcher kein Mitspracherecht bei den gerichtlichen Entscheidungen. Wenn er es aber haben möchte, wenn er den Gerichtsbetrieb einmal von innen, bis in das Beratungszimmer hinein kennenlernen möchte, so gibt es dazu einen Weg. Bei den Schöffengerichten, den Strafkammern und den Schwurgerichten wirken Laien, vielfach sogar eine Mehrheit von Laien als ehrenamtliche Richter mit. Wer ernstlich den Wunsch hat, für eine Zeitlang Schöffe oder Geschworener zu werden, wird kaum auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Jedenfalls ist das sehr viel einfacher, als Einfluß auf die Gesetzgebung zu gewinnen. Die Arbeit des Richters unterscheidet sich in einem für unser Thema wichtigen Punkt von der Arbeit der meisten anderen Staatsdiener. Wir sahen vorhin, wie unübersichtlich die Gesetzgebungsmaschine ist. Es ist bei der Gesetzgebung fast unmöglich, einen bestimmten Mitwirkenden für eine bestimmte Regelung verantwortlich zu machen, eben weil so

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viele in so vielerlei Funktion daran teilnehmen. In geringerem Grade gilt das auch von der Verwaltung. Auch hier ist es bisweilen für den Außenstehenden sehr schwer zu überblicken, wer für eine bestimmte Entscheidung verantwortlich ist. Der Mann, der sie unterschrieben hat, ist oft nicht der Sachbearbeiter und deshalb mit der Materie gar nicht so genau vertraut gewesen. Oder er ist der Sachbearbeiter, hat aber auf Weisung eines Vorgesetzten so entschieden. So erhält der außenstehende einzelne bisweilen den Eindruck, es mit einem gesichtslosen Apparat zu tun zu haben. Das ist bei Gericht anders. Der Richter, vor dem man steht, ist immer auch derjenige, der die Entscheidung trifft, und zwar allein und selbständig, nicht auf Vorschlag von unten, nicht auf Weisung von oben. Freilich ist er dem Gesetz unterworfen; aber was das für den betreffenden Fall bedeutet, kann der vor Gericht stehende einzelne mit seinem Richter persönlich erörtern. So entsteht ein Gespräch und ein zwischenmenschliches Verhältnis zwischen dem einzelnen und dem Mann, der in seiner Sache das Recht anwendet. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß richterliche Entscheidungen etwa grundsätzlich richtiger, besser, angemessener wären als Verwaltungsentscheidungen. Aber sie sind von einer persönlichen Art, die bei Verwaltungsentscheidungen mindestens nicht immer gewährleistet ist. Das macht einen besonderen Reiz des Richterberufs in unserer verapparateten Welt aus. Wenn Demonstranten Steine auf Polizisten werfen, dann treffen sie ja bestimmt nicht die, die sie eigentlich meinen. Die Polizisten, die da auf der Straße vorgehen, haben das ja nicht selbst beschlossen oder angeordnet. Für sie ist das ein befohlener Einsatz, nach dem sich bestimmt keiner von ihnen reißt. Wenn dagegen, wie uns das in Aussicht gestellt worden ist, einzelne Richter wegen der Urteile, die sie gefällt haben oder die man von ihnen erwartet, in ihrer Wohnung, in ihrem Privatleben behelligt werden sollten, dann ist das zwar ein hoffnungsloses Beginnen und außerdem strafbar, aber immerhin handelt es sich bei ihnen doch um die Personen, die als verantwortlich wirklich gemeint sind. Man könnte einwenden, das alles gelte nur für Einzelrichter, aber nicht für ein Schöffengericht, nicht für die Mitglieder einer Kammer des Landgerichts, eines Senats bei einem höheren Gericht. Insbesondere müsse ja der Vorsitzende, der das Urteil verkündet habe, nicht für dieses Urteil gestimmt haben. Das mag zwar sein; aber erstens sind diejenigen, die dafür gestimmt haben, in der Verhandlung ebenfalls anwesend und zeigen den Beteiligten und der Öffentlichkeit ihr Gesicht; und zweitens ist ein Richter, besonders ein Vorsitzender, auch für ein Urteil, bei dem er überstimmt worden ist, zwar nicht strafrechtlich, für mein Gefühl aber doch menschlich verantwortlich: verantwortlich dafür, daß seine

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Kräfte nicht ausgereicht haben, das von ihm selbst für falsch gehaltene Urteil zu verhindern. Es ist schon oft beklagt worden, daß die Deutschen an ihrem Recht weniger interessiert sind als andere Völker an dem ihrigen. Nicht schuld daran, aber ein Symptom dafür ist die Behandlung des Rechts in der Literatur, angefangen von den Tageszeitungen bis hinein in die Werke bekannter und bedeutender Erzähler. Die Gerichtsberichte der Times sind so zuverlässig und für ihre Zuverlässigkeit so bekannt, daß man sie ohne weiteres bei rechtswissenschaftlichen Untersuchungen benutzen und zitieren kann. So etwas wäre selbst bei den seriösesten deutschen Tageszeitungen ganz undenkbar. Die Gerichtsberichte der Neuen Zürcher Zeitung liest auch der Jurist immer mit Gewinn. Etwas, was sich mit ihnen vergleichen ließe, gibt es in unseren Zeitungen nicht. Das ist kein Vorwurf gegen die Journalisten, sondern eine Kennzeichnung der Masse von Zeitungslesern, die sich damit zufrieden geben. Sie alle haben schon oft in Ihrer Zeitung gelesen: „Der Staatsanwalt erließ Haftbefehl." Nun wäre so etwas in der Tat eine Nachricht, wenn es wahr wäre. Denn nach unserem Grundgesetz darf der Staatsanwalt das gar nicht; vielmehr sind wir besonders stolz darauf, daß jede Freiheitsentziehung eine richterliche Entscheidung voraussetzt, und daß deshalb der Staatsanwalt höchstens auf Grund eines rechtskräftigen Strafurteils zu dessen Vollstreckung einen Haftbefehl erlassen kann. Ich sagte, wir sind stolz darauf: wir Juristen; der Mann auf der Straße sollte auch stolz darauf sein, aber er weiß es nicht, und es rührt ihn auch nicht. Es fällt ihm gar nicht auf, wenn er liest, der Staatsanwalt habe gegen einen Verdächtigen Haftbefehl erlassen. Neulich hob der Bundesgerichtshof das freisprechende Urteil in der Sache gegen den Polizeibeamten Kurras auf, dem vorgeworfen wird, den Studenten Ohnesorg durch Fahrlässigkeit getötet zu haben. Einige Zeitungen berichteten das und fügten erklärend hinzu, das Urteil sei „aus formaljuristischen Gründen" aufgehoben worden. So etwas liest man in Deutschland, ohne sich aufzuregen. Nun ja, so denkt man, die Richter „da oben" haben sich eben einen Wust von Formalitäten geschaffen, mit denen sie so ihre Spielereien betreiben; nicht ganz verständlich, aber auch kein Grund zur Aufregung. Einige Zeitungen berichteten auch, was für „formaljuristische Gründe" das gewesen waren: die Strafkammer hatte geglaubt, nicht feststellen zu können, ob Kurras an jenem Abend einen oder zwei Schüsse abgegeben hatte. Die Aussagen darüber widersprechen sich. Die Strafkammer ging deshalb zugunsten des Angeklagten davon aus, daß er einen Schuß in die Luft abgefeuert und es dann vor Aufregung unterlassen hatte, die Waffe wieder zu sichern. Und dann sei der zweite, der tödliche Schuß aus

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Versehen losgegangen. Das Unterlassen des Sicherns sei der entscheidende Fehler gewesen; aber just dafür sei Kurras wegen seiner großen Aufgeregtheit in der Situation nach Abgabe des ersten Schusses nach psychiatrischem Gutachten nicht verantwortlich gewesen. Und was war nun der „formaljuristische" Grund für die Aufhebung dieses Urteils? Es war, wie die Strafkammer schon aus der Anklageschrift hätte entnehmen können, ein Tonband vorhanden, das gerade während dieser kritischen Minuten aufgenommen worden war und mit dem bewiesen werden sollte, daß in der ganzen Zeit überhaupt nur ein einziger Schuß gefallen war. Verhielt es sich so, dann sah natürlich alles ganz anders aus. Dann war dieser eine Schuß der tödliche gewesen; und dann bestand der Fehler nicht im Unterlassen des Sicherns in der Aufregung nach diesem Schuß, sondern in der bewußten Abgabe dieses Schusses selbst. Der Aufhebungsgrund war, daß die Strafkammer sich dieses Tonband nicht angehört hatte. Wer Lust hat, mag das einen „formaljuristischen" Grund nennen. Aber ein Versäumnis bei dem Versuch, die wirkliche Wahrheit und die ganze Wahrheit festzustellen, scheint mir denn doch etwas anderes zu sein als eine Formalität. Eine der Zeitungen, die über diese Sache ganz zutreffend berichtet hatte, knüpfte die kritische Bemerkung daran, diese Entscheidung müsse dem Laien unverständlich bleiben; wisse er doch, daß die Verwertung von Tonbandaufnahmen vor Gericht verboten sei. Das wunderte mich nun sehr, und ich fragte bei der Zeitung an, wo denn dieses Verbot stehe. Es stellte sich heraus, daß der Berichterstatter an das Verbot gedacht hatte, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal zu machen. Die Redaktion gab in einem sehr netten Brief ohne weiteres zu, daß das nun wirklich etwas ganz anderes ist. Ich mache den Zeitungsleuten gar keinen schweren Vorwurf. Das lesende Publikum bemerkt so etwas gar nicht. Es fällt ihm gar nicht als unwahrscheinlich auf, daß fünf Bundesrichter mit vereinten Kräften und nach ausführlicher Verhandlung gerade über diesen Punkt ein so einfaches Verbot übersehen haben sollten. Ein Sportberichterstatter dürfte sich einen Schwupper von diesem Kaliber nicht erlauben; das gäbe Hunderte von entrüsteten Zuschriften. Aber das kommt auch nicht vor. Und die große Literatur? Wenn Sie als Laie die „Amerikanische Tragödie" des amerikanischen Schriftstellers Theodor Dreiser gelesen haben, diese aufregende Geschichte eines Mordes und seiner Aburteilung, dann sind Sie, was das amerikanische Strafprozeßrecht betrifft, kein Laie mehr. Genau so wie es dort auf Hunderten von Seiten beschrieben wird, geht in Amerika ein Strafprozeß vor sich. Wenn Sie den „Fall Maurizius" von Jakob Wassermann, „Die Fastnachtsbeichte" von Carl Zuckmayer und das „Ende einer Dienstfahrt" von Heinrich Boll gelesen haben, dann haben Sie je ein Zerrbild eines Staatsanwalts,

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einer polizeilichen Ermittlung und einer amtsgerichtlichen Hauptverhandlung betrachtet, das zur Wirklichkeit überhaupt nicht mehr in Beziehung gesetzt werden kann. Wiederum kein Vorwurf gegen diese Schriftsteller, kein Werturteil über diese Werke. Der Geist weht, wo er will, und die Kunst darf noch ganz anderes. Aber in keinem anderen Lande wären solche unwirklichen Behandlungen des Gerichtswesens möglich. Nicht nur, weil der Schriftsteller es besser wüßte; sondern weil er es besser wissen müßte, um bei irgendeiner Art von Publikum Aussicht auf Erfolg zu haben. In Deutschland steht der einzelne dem Recht besonders fremd und uninteressiert gegenüber. Um so herzlicher danke ich Ihnen für die Geduld, mit der Sie mir zugehört haben.

Die Willensfreiheit des Menschen - Utopie oder Wirklichkeit in der Strafrechtspflege1 (1968) Die Weisen der Jahrtausende haben uns keine bündige Auskunft darüber geben können, ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht. Indeterminismus oder Determinismus: das sind Glaubensbekenntnisse. Man wird dasjenige des anderen zu achten haben; ein Instrumentarium des Argumentierens, mit dem man einander in dieser Frage überzeugen könnte, ist nicht vorhanden. Aus diesem Grunde halte ich die Frage, wenn sie zu praktischen Zwecken gestellt wird, also etwa um die Antwort einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen, nicht für eine vernünftige Frage; die Vernunft reicht zu ihrer Beantwortung eben nicht aus. Damit ist nicht gesagt, daß jemand, der für sich selbst eine Antwort auf diese Frage sucht und findet, für einen unvernünftigen Menschen erklärt würde. Wenn man vor einer Entscheidung steht, wird man leicht unter dem Eindruck sein, der vielleicht eine Illusion ist, der eigene Wille sei frei, das eine oder das andere zu wählen. Gehört die eigene Entscheidung schon der Vergangenheit an, so wird man oft das Gefühl haben, sich durch die getroffene Wahl nur selbst besser kennengelernt zu haben. Ich meinte zwar vor einer Wahl zu stehen, aber wie ich mich selbst nunmehr kenne, muß ich das nachträglich für eine Illusion halten; in Wahrheit wäre die andere Wahl für den Menschen, der ich nun einmal bin, gar nicht in Frage gekommen, selbst wenn ich jetzt einsehen muß, daß sie richtiger gewesen wäre. Ich gehöre einem Senat des Bundesgerichtshofs an, der aus naheliegenden Gründen nur von verhältnismäßig wenigen Personalveränderungen betroffen ist. Mit der Mehrzahl seiner Mitglieder arbeite ich schon seit anderthalb Jahrzehnten zusammen. Wir haben schon viele tausend Strafsachen gemeinsam beraten. Aber ich weiß von keinem dieser anderen Mitglieder, ob er ein Determinist oder ein Indeterminist ist. Es ist noch niemals bei einer rechtlichen Entscheidung darauf angekommen, wir haben noch niemals Grund gehabt, uns darüber zu unterhalten. Aber freilich gibt es eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der die Willensfreiheit des Menschen rechtskräftig festgestellt ist. In dem Beschluß des Großen Senats vom 18. März 1952 ( B G H S t . Bd. 2, 1

Vortrag gehalten am 5 . 1 0 . 1 9 6 8 in Bad Boll.

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S. 194ff) heißt es (S.200-201): „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in §51 StGB genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist. Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht. Wer weiß, daß das, wozu er sich in Freiheit entschließt, Unrecht ist, handelt schuldhaft, wenn er es gleichwohl tut. Die Kenntnis kann fehlen, weil der Täter infolge der in §51 Abs. 1 StGB aufgezählten krankhaften Vorgänge unfähig ist, das Unrechtmäßige seines Tuns einzusehen. Hier ist die Unkenntnis des Täters Folge eines unabwendbaren Schicksals. Sie kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht und nicht zur Schuld zugerechnet werden. Er ist deshalb strafrechtlich unzurechnungsfähig. Das Bewußtsein, Unrecht zu tun, kann im einzelnen Falle auch beim zurechnungsfähigen Menschen fehlen, weil er die Verbotsnorm nicht kennt oder verkennt. Auch in diesem Falle des Verbotsirrtums ist der Täter nicht in der Lage, sich gegen das Unrecht zu entscheiden." Ich bekenne Ihnen, daß es mir unbehaglich wird und daß es mich mißtrauisch macht, wenn ein Gericht zu einer praktischen Entscheidung des ganz gewöhnlichen Alltagslebens so große Worte nötig zu haben glaubt. Ein Rechtsanwalt hatte in einer mehrtägigen Strafsache die Verteidigung der Angeklagten übernommen, ohne ein bestimmtes Honorar mit ihr zu vereinbaren. Am ersten Verhandlungstage war er zunächst verhindert und wurde deshalb durch einen Kollegen vertreten. In der ersten Pause verlangte er von der Angeklagten 50 D M mit der Drohung, sonst die Verteidigung nicht weiterzuführen; als sie diesen Betrag am nächsten Morgen in seinem Büro zahlte, nötigte er sie mit der gleichen Drohung, einen Honorarschein über 400 D M zu unterschreiben. Deshalb wurde er wegen Nötigung in zwei Fällen angeklagt und verteidigte sich mit der Behauptung, er habe geglaubt, zu diesem Vorgehen berechtigt zu sein. Die Entscheidung krankt nun nach meiner Ansicht zunächst einmal daran, daß sie diesen Fall völlig aus den Augen verliert. Wenn man der Ansicht ist, daß ein Anwalt, und zwar ein Strafverteidiger, ohne Ver-

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schulden darüber irren könne, ob er sich so verhalten dürfe, daß also selbst der Strafrechtler einen so geläufigen Tatbestand wie den der Nötigung nicht so genau zu kennen brauche, dann sollte die erste Frage sein, ob denn das Gericht selbst diesen Tatbestand richtig ausgelegt hat. Im Bereich des Strafrechts ist es eine mißliche Sache zu sagen: diese strenge Auslegung des Gesetzes ist richtig, aber das braucht kein Mensch zu wissen, nicht einmal der Strafjurist. Mit krimineller Strafe sollte nur ein solches Verhalten bedroht werden, dessen Strafwürdigkeit jedermann oder doch jedenfalls jedem möglichen Adressaten des betreffenden Verbots ohne weiteres einleuchtet. Wenn Strafbestimmungen auslegungsfähig und -bedürftig sind, sollten sie in dieser einschränkenden Weise ausgelegt werden. Dann tritt die Frage des Verbotsirrtums gar nicht auf, und man braucht nicht die charismatischen Eigenschaften des Menschen zu bemühen, um ihn zu bestrafen oder vor Strafe zu bewahren. Aber räumen wir ein, es könne vielleicht andere Fälle geben, in denen die Frage, ob Irrtum - nämlich Verbotsirrtum - vor Strafe schützt, wirklich nicht umgangen werden kann. Ich würde dem Richter immer vorschlagen, diese anderen Fälle erst einmal abzuwarten. Der Richter ist nicht Gesetzgeber. Es ist gar nicht seine Aufgabe, die Vielzahl der möglichen Fälle vorauszusehen und allgemeine Sätze für sie aufzustellen. Darin ist der Richter dem Gesetzgeber ganz grundsätzlich unterlegen. Er steht unter größerem Zeitdruck, er kann nicht so viele Fachleute und Stellen fragen, die Möglichkeiten der Diskussion sind im Beratungszimmer notwendigerweise viel enger als in Ministerien und Parlamenten. Der Wunsch, wie ein Gesetzgeber allgemeine Leitsätze aufzustellen, bringt den Richter allzu leicht in Gefahr, gerade den Fall, den er vor sich hat, zu vernachlässigen oder gar falsch zu entscheiden im Gedanken an andere Fälle, die vielleicht niemals eintreten. Die spezifische Autorität eines Richterspruchs hängt von seiner engen Anlehnung an seinen Fall ab. Insoweit ist er nämlich dem Gesetzgeber oder auch dem Verfasser eines wissenschaftlichen Systems überlegen. Es ist ein anderes Ding, am Schreibtisch zu sitzen und mit Worten ein System zu bereiten, ein anderes, einem Mitmenschen ins Gesicht zu sagen, daß man sich um der und der Erwägungen willen für berechtigt und verpflichtet hält, ihn, gerade ihn, einzusperren. Wenn das gerade mit Bezug auf diesen Fall nicht einleuchtet, ist der Richterspruch schlecht; und wenn es gerade von diesem Falle her als gerechtfertigt und notwendig erscheint, dann verleiht der Bezug auf die mitmenschliche Beziehung zwischen Angeklagtem und Richter dem Urteil ein Gewicht, wie es in dieser Form weder das Gesetz noch ein wissenschaftliches System haben kann. Allerdings beschränkt es sich auf die Grenzen, bis zu denen der Fall trägt; innerhalb dieser Grenzen wird es aber auch durch den Fall

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erläutert und verständlich gemacht. Diese Gelegenheit hat der Große Strafsenat in der zitierten Entscheidung versäumt; und er ist der Gefahr erlegen, die den Richter immer dann bedroht, wenn er - verzeihen Sie den Ausdruck - die Kelle zu voll nimmt, wenn er etwas allgemeineres sagt als das, wozu der Fall ihn nötigt. Der Satz „error iuris non nocet" klingt in dieser Allgemeinheit, und auch mit den Einschränkungen, die der Beschluß daran dann noch anbringt, sehr human, sehr maßvoll, sehr zur Zurückhaltung mit dem Strafen mahnend. Aber die seltsame praktische Folge dieses Beschlusses ist, daß auf seiner Grundlage mehr Leute bestraft werden, als es ohne ihn der Fall sein würde. Er hat nämlich nicht nur eine Entschuldigungsmöglichkeit geschaffen, sondern gleichzeitig auch die Bestrafung der Rechtsfahrlässigkeit eingeführt. Die sehr allgemeine Grundlegung, auf der er ruht, bringt es mit sich, daß die mangelnde Gewissensanspannung, die mangelnde Erkundigung und der durch sie verschuldete Verbotsirrtum, also eine bloße Fahrlässigkeit, zu einer Bestrafung wegen solcher Delikte führt, deren fahrlässige Begehung gar nicht vom Gesetz mit Strafe bedroht ist. Und diese Fälle sind, rein statistisch gesehen, häufiger als die Fälle, in denen der unvermeidbare Verbotsirrtum den Täter entschuldigt. Und seltsam: diese Fälle des wirklichen und unvermeidbaren, entschuldigenden Verbotsirrtums treten mit einer gewissen Vorliebe gerade bei Juristen auf. Ich wage kaum, mich an einer Erklärung für diese sonderbare Erscheinung zu versuchen, aber als Tatsache ist sie nicht zu bestreiten. Mehr als die Hälfte aller Fälle, in denen Rechtsirrtum zum Freispruch führt, betreffen Straftaten von Volljuristen. Dabei spreche ich noch gar nicht einmal von der Rechtsbeugung; bei ihr ist ja der strafbefreiende Rechtsirrtum dem Tatbestand in der Auslegung, den ihm die Rechtsprechung gegeben hat, schon gleichsam eingebaut. Nein, es handelt sich hier meist um ganz geläufige Tatbestände; der Fall des Großen Senats ist hier gleich das Paradigma. Aber nun zu dem grundlegenden Einwand, den wir gegen den Beschluß mit dieser so hoch von den Sternen heruntergeholten Begründung erheben müssen. Der Mensch - so hören wir - ist auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt. Das wissen wir nicht; das können wir nur glauben. Ich respektiere ein solches Credo zutiefst; ich erkenne an, daß es dahin tendiert, seine Anhänger zu festigen, ihnen Mut zu allem Guten zu machen und ihr Gewissen zu schärfen. Aber wenn jemand - ein Richter - sein Glaubensbekenntnis zum Ausgangspunkt nimmt, um andere Menschen einzusperren, dann muß lauter und entschiedener Widerspruch erhoben werden. Dann muß er sich auch gefallen lassen, daß sein leidenschaftliches Credo, von ihm in ein weltliches Forum eingeführt, dort einer Prüfung durch kühle und vielleicht erkältende Vernunft unterzogen wird.

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Denn es liegt hier ja nicht etwa so, daß dem Wissen das beschuldigende und dem Glauben das entschuldigende Element entnommen wird, sondern umgekehrt: der grundsätzliche Vorwurf, das Unwerturteil, die Schuld wird hier aus dem Glauben an die Willensfreiheit abgeleitet; die Entschuldigung soll mit der Sonde des Naturwissenschaftlers gesucht, oder sie soll gar daraus abgeleitet werden, daß der freie, sittlich sich selbst bestimmende Mensch das Bundesgesetzblatt nicht gelesen hat. Schon diese Zusammenstellung des nicht Zusammenpassenden hätte das Gericht darauf bringen sollen, daß es sich mit dieser Begründung aus der Welt des Justiziaren entfernte. „Der Mensch" ist frei; das ist ein hochgemuter Satz, dessen Pathos den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen tut, wenn er sich Einschränkungen gefallen lassen muß wie den Vorbehalt hinreichender Reife, geistiger Gesundheit und ausreichenden Unterrichtetseins über die hic et nunc geltenden Rechtsnormen. Die Art von Freiheit, die „dem Menschen" hier vindiziert wird, kann selbst als ein Postulat nur dann einen rechten Sinn haben, wenn sie als ein jedem Menschen schlechthin zuteilgewordenes Charisma aufgefaßt und nicht vom Lebensalter, der Gesundheit oder gar von Zufälligkeiten des Tagesablaufs abhängig gedacht wird. Der Beschluß sagt selbst: „Für die große Menge der im Reichsstrafgesetzbuch unter Strafe gestellten Verbrechen mochte die Meinung, daß ein unverschuldeter Irrtum über das Verbot nicht wohl denkbar sei, in den politisch und sozial ausgeglichenen Zeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Berechtigung haben. In Zeiten dagegen, in denen das Gefüge des staatlichen und sozialen Lebens in seinen Grundfesten erschüttert oder geradezu umgestaltet wird, trifft dies nicht zu. Hier werden oft die richtunggebenden Werte durch das Erlebnis der Vergänglichkeit der auf ihnen beruhenden Ordnungen und durch die Ansprüche der um die Macht ringenden Gewalten verdunkelt. Was Recht und Unrecht ist, ist nicht mehr selbstverständlich. Damit eröffnet sich die Möglichkeit des Verbotsirrtums, und zwar auch des unverschuldeten. Für diejenigen Strafgesetze, die der Gesetzgeber sich gewöhnt hat den immer weitergreifenden verwaltungsrechtlichen Regelungen bestimmter Gebiete des sozialen Lebens anzufügen, um ihren Geboten oder Verboten größeren Nachdruck zu verleihen, traf die Vermutung, jedermann kenne das Strafgesetz, schon damals nicht zu und trifft sie heute noch weniger zu. Denn ihre Verbote beruhen vielfach nicht auf allgemeinen sittlichen Anschauungen, sondern auf Erwägungen sozialer oder rein staatlicher Zweckmäßigkeit. Die Zahl dieser strafrechtlichen Nebengesetze' hat seit langem die Zahl der echten Kriminalgesetze um ein Vielfaches überschritten. Sie bieten der Möglichkeit des Verbotsirrtums somit ein weites Feld" (S. 202-203).

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Gerade um dieser Sachlage willen erscheint es nicht angemessen, bei dieser Frage von so hohen Gesichtspunkten wie der sittlichen Entscheidungsfreiheit des Menschen auszugehen. Es geht doch ganz offensichtlich nur um die Frage des Gehorsams gegenüber Menschensatzungen, gegenüber der Ordnung des Zusammenlebens, wie sie sich die hier und heute angesiedelte menschliche Gemeinschaft gegeben hat. Der Beschluß geht von dem gewiß sehr schönen Glauben aus, es gebe eine vorgegebene ewige Rechtsordnung, und sie sei uns erkennbar. Aber die Rechtsgeschichte und die Rechtsvergleichung belehren uns, daß jede der Verhaltensweisen, die hier und heute bei Strafe verboten sind, irgendwo zu irgendeiner Zeit schon einmal bei Strafe geboten gewesen sind. Es ist nichts mit dem ewigen Recht, das jedem Gutwilligen bei hinreichender und möglicher Anspannung seines Gewissens von oben herab offenbart würde. Gerade diese Vorstellung ist besonders gefährlich, sie führt besonders leicht in menschliche Hybris und in eine Auffassung und Anwendung des Rechts, die dann später für ganz und gar unerträgliches Unrecht gehalten wird. Die Hexenprozesse, eine Erscheinung nicht des angeblich so finsteren Mittelalters, sondern der Neuzeit, bis in die Zeit der Aufklärung hinein, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Nach den rechtlosen Zuständen, die wir zu unseren Lebzeiten durchgemacht haben, ist gewiß der Wunsch verständlich, einen Maßstab zu finden, an dem sich die Rechtlichkeit des geschriebenen, des gesetzten Rechts abmessen ließe. Aber ein solcher in Worte faßbarer Maßstab ist eben nicht vorhanden, wir müssen uns damit abfinden. Was uns von den Anhängern des modernen Naturrechts an derartigen unverbrüchlichen Sätzen angeboten wird, entbehrt denn auch der greifbaren Gestalt. Einer der vornehmsten dieser Sätze lautet, rechtlich Gleiches müsse rechtlich gleich behandelt werden. Dieser Forderung fehlt jede Substanz. Was heißt „rechtlich gleich"? Sind Männer und Frauen rechtlich gleich? In jeder Beziehung? Sind eheliche und uneheliche Kinder rechtlich gleich? Ist Mark gleich Mark? Ist heute gleich morgen, darf das Recht also nicht geändert werden? Und was heißt rechtlich gleiche Behandlung? Verträgt es sich mit ihr, wenn gleichgeschlechtliche Betätigung von Männern bestraft2, gleichgeschlechtliche Betätigung von Frauen nicht bestraft wird? Jede dieser Fragen läßt sich mit Ja oder mit Nein beantworten, der Gleichheitssatz bleibt die Antwort schuldig. Wir halten uns innerhalb der allgemein zugänglichen Erfahrung, wenn wir den Menschen als ein Gesellschaftswesen ansehen, das man nicht in der Isolierung betrachten sollte. Die Situation Robinsons ist schon fast nicht mehr menschlich, mindestens ist sie eine äußerste Grenzsituation. 2 Zum Zeitpunkt des Vortrags galt noch §175 a. F., der die einfache Homosexualität ohne Einschränkung strafbar stellte.

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Sie wird nicht etwa als Freiheit, sondern als Freiheitsberaubung empfunden, weil dem Menschen die ständige Kommunikation mit seinesgleichen ein schier unabweisbares Bedürfnis ist. Dabei geht es nicht nur um die gegenseitige Hilfe, den Austausch von Leistungen, die Vereinigung der Kräfte zur Erreichung gemeinsamer Ziele, die dem einzelnen unerreichbar wären, und erst recht nicht nur um den Austausch von Gefühlen, Erfahrungen und Ansichten. Es geht auch um die Aufstellung, Verbreitung, Durchsetzung und Entgegennahme von Normen für das Verhalten. Es scheint mir nicht richtig, dem „Es" und dem „Ich" ein „Uber-Ich" gegenüberzustellen, das ihm von außen her mit Normen lästig fiele. Vielmehr fühlt der Mensch seiner Beschaffenheit nach ein Verlangen nach solchen Normen. Er sehnt sich unter anderem auch gerade deshalb nach menschlicher Gemeinschaft, weil er dort zu erfahren hofft, wie er sich verhalten soll. Das Verhältnis zu den dort sich entwickelnden Geboten und Verboten ist ihm eine lebensnotwendige Seite seines eigenen Daseins. Er wünscht sich nicht zuletzt deshalb in eine Gemeinschaft einzugliedern, in ihr anerkannt zu werden und ihre Normen — wenigstens so im großen und ganzen — zu befolgen und befolgt zu sehen. Was sonst hat man sich dabei zu denken, daß Leute, die wir „asozial" nennen, Gruppen bilden, daß staatsmüde junge Menschen, die sich selbst fast als nihilistisch verstehen, Kommunarden werden und in ihrer Kommune einen Komment entwickeln, daß Verbrecher Ringvereine gründen, Banden bilden, und daß alle diese sogenannten „Asozialen" das für alle aufgestellte Recht in sehr viel zahlreicheren Beziehungen befolgen als verletzen? Der Mensch wünscht sich auch selbst an der Aufstellung und Fortentwicklung der Normen zu beteiligen. Wo das bisweilen sehr komisch aussieht, darf man sich doch nicht über den geradezu existentiellen Ernst täuschen lassen, der oft dahinter steckt. Die Beschlüsse des 47. Deutschen Juristentages 3 haben mir eine Fülle von Briefen eingebracht, deren Verfasser das lebhafteste Interesse daran bekunden; wie unser Sexualstrafrecht beschaffen sein sollte. Das Bemerkenswerteste war der Brief einer Dame, die meinte, solange die Mehrheitspartei ein C in ihrer Bezeichnung trage, sei es schlechterdings unerträglich, die Strafbarkeit des Ehebruchs abzuschaffen. Gerade Christus als Gewährsmann für die Notwendigkeit der Steinigung von Ehebrecherinnen zu benennen, nimmt sich gewiß etwas sonderbar aus. Aber Der 47. Deutsche Juristentag fand vom 17. bis 2 0 . 9 . 1 9 6 8 in Nürnberg stau. Die strafrechtliche Abteilung behandelte unter dem Vorsitz Sarstedts die Frage: „Empfiehlt es sich, die Grenzen des Sexualstrafrechts neu zu bestimmen?" Aufgrund ihrer Beratung kam die strafrechtliche Abteilung zu der Ansicht, das geltende Sexualstrafrecht sei einer grundsätzlichen Reform dringend bedürftig. Unter anderem sollte die Strafbarkeit des Ehebruchs (§ 172 StGB a. F.) entfallen. Mit der Neufassung des besonderen Teils des StGB wurden diese Forderungen zu einem großen Teil vom Gesetzgeber verwirklicht. 3

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trotzdem ist das der Ernst der Sancta Simplicitas, nicht anders als am Scheiterhaufen von Johannes Hus in Konstanz. Ohne Zweifel ändert das alles nichts daran, daß sehr viel gegen die Normen verstoßen wird. Der Mensch hat - von eigensüchtigen Motiven einmal ganz abgesehen - bisweilen auch das Bedürfnis, sich gegen die Gemeinschaft und ihre Normen aufzulehnen, sie mit Wort und Tat in Frage zu stellen, sich als einen selbständig über das Richtige nachdenkenden Geist zu beweisen. Wir kennen die typischen Trotzalter der Kinder und der Heranwachsenden, die entwicklungsgeschichtlich den Altersstufen entsprechen, in denen sich der Mensch früherer Stufen von der ersten und engsten Gemeinschaft, seiner Familie, emanzipierte. Vielleicht leben wir gerade in einer Zeit, in der sich dieses Emanzipationsalter wiederum um eine große Stufe erhöht. Unsere Jugend kommt zu einem nicht unbeträchtlichen, vor allem qualitativ nicht unwichtigen Teil heutzutage erst mit 25 oder 30 Jahren in die Lage, sich wirtschaftlich von ihren Eltern freizumachen; man könnte auf den Gedanken kommen, hier die innere Ursache für die Entwicklung einer neuen Trotzphase zu sehen. In diesen Phasen nun - wer Kinder und Enkel hat, kennt das - ist die Wirksamkeit der Normen in Frage gestellt. Ein Verbot ist bisweilen das einzige, was erforderlich ist, um das verbotene Verhalten überhaupt erst auszulösen. In diesen Phasen spürt der Mensch das Bedürfnis, sich und seiner Umwelt seine wirkliche oder vermeintliche Willensfreiheit durch Worte und manchmal auch durch Taten zu beweisen. Diese Erkenntnis ist der Pädagogik nicht neu, und sie hat sich viele Gedanken darüber gemacht, wie die jeweilige Gemeinschaft vernünftigerweise an solchen kritischen Punkten zu reagieren habe. Ich möchte mir den Vorschlag erlauben, daß wir Juristen uns nach diesen Erkenntnissen umsehen und uns ihrer bedienen. Wenn uns an der Wirksamkeit unserer Rechtsnormen liegt - und wie sollte es das nicht - , sollten wir es zu vermeiden suchen, mit ihnen gerade die verkehrten Reaktionen auszulösen. Lassen Sie sich an ein winziges, aber signifikantes Beispiel erinnern. In den letzten Wochen haben sich die Fälle gehäuft, in denen Angeklagte, auch Zuhörer, vor dem Gericht nicht aufgestanden sind. In die Zeitung sind diese Fälle aber nur dann und nur deshalb gekommen, wenn und weil die Gerichte deshalb Ungebührstrafen verhängt haben. Juristisch ist gewiß gar nichts dagegen zu sagen; wir haben inzwischen ja auch schon eine Oberlandesgerichts-Entscheidung mit einem kleinen Knigge vor Gericht. Aber juristische Korrektheit ist auch das einzige, was man diesen Bestrafungen nachrühmen kann. Sie haben geradezu ein Herostratentum im Kleinformat gezüchtet. Weitaus pädagogischer verhält sich der Richter, der kleine Herausforderungen dieser Art gar nicht bemerkt. Wird er mit der Nase darauf gestoßen, etwa durch einen

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ungeschickten Staatsanwalt, so sollte er sagen: „Aber dazu steht der Stuhl ja da; bitte behalten Sie doch Platz". Damit ist die Ungebühr auf die einfachste Art beseitigt, denn nunmehr sitzt der Freche auf Grund einer ausdrücklichen Erlaubnis des Vorsitzenden - noch manierlicher geht es gar nicht. Wenn er weiterhin Ungebühr zeigen will, muß er sich schon etwas Neues einfallen lassen. Neulich mußte ich - zum ersten Mal in meinem Richterdasein - den Zuhörerraum räumen lassen, weil wir von lauten Zwischenrufen unterbrochen wurden. Das geht natürlich nicht, dabei kann man nicht judizieren. Die Hinausgeworfenen sagten draußen zu unserem Wachtmeister, hämischen Tones, sie hätten ja nur einmal sehen wollen, wie es beim Bundesgerichtshof mit der Öffentlichkeit gehalten werde. D e r Mann hat darauf, sehr richtig, in aller Ruhe und Freundlichkeit erwidert, nun hätten sie das ja gesehen. Räumung des Zuhörerraums beraubt kesse Angeklagte auch ihres Publikums. Dazu bedarf es keiner Ungebührstrafen, mit denen man in solchen Fällen nur Märtyrer schafft. In diesen Zusammenhang gehört auch die Geschichte von jenem Mann, der einmal in einer Sitzung eines Oberlandesgerichts einen Wutanfall bekam und den ganzen Richtertisch abräumte, Akten, Schreibzeug, Barette, Bücher, und was da sonst lag, im Saal herumwarf. D e r Vorsitzende machte von dieser schönen Gelegenheit, sich zu ärgern und eine Ungebührstrafe zu verhängen, keinen Gebrauch, sondern sah diesem Treiben nur aufmerksam zu und erkundigte sich dann angesichts der tabula rasa freundlich: „Fühlen Sie sich jetzt wohler?" In Bernard Shaws „Kaiser von Amerika" gibt es eine schöne Szene, in der man lernen kann, wie ein überlegener Mensch, der König Magnus, durch einfache Anwendung guter Erziehung einen wilden Mann bändigt, den aufsässigen Gewerkschaftssekretär Boanerges. Das Beste ist, daß Boanerges es gar nicht merkt. Diese Art von freundlicher Überlegenheit sollte man als Richter zu gewinnen suchen, statt durch Verhängung von Ungebührstrafen seine Macht wie einen rocher de bronze zu stabilisieren. Mit solchen kleinen Rezepten ist natürlich das Problem der Wirksamkeit des Strafrechts nicht gelöst. Aber der Grundgedanke, daß man von Strafen nur den allersparsamsten Gebrauch machen sollte, daß sie eine ultima ratio der Anpassung des Unangepaßten sind, daß sie häufig mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften, dieser Grundgedanke läßt sich auf das ganze Strafrecht übertragen. D e r Juristentag hat es sich angelegen sein lassen, das Sexualstrafrecht einmal zu durchforsten, die „Verbrechen gegen die Sittlichkeit", wie unser Strafgesetzbuch so bezeichnend sagt, als ob Sittlichkeit wesentlich aus sexuellen Unterlassungen bestünde. Es war mir eine ausgesprochen angenehme Überraschung, wie entschieden und wie spontan und mit welch großen Mehrheiten die erschienenen Juristen, immerhin an 600, sich an diese Arbeit begaben.

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Es ist meine Überzeugung, daß auch andere Abschnitte des Besonderen Teils bedeutende Kahlschläge vertrügen. O b zum Beispiel das Strafrecht ein besonders geeignetes Mittel ist, den Bestand des Staates, die staatlichen Finanzen, die Freiheit von Korruption, die Achtung vor der religiösen Uberzeugung anderer, die Intaktheit des Kreditwesens und noch manche anderen Rechtsgüter zu schützen, ist mir im Laufe eines längeren Richterlebens immer zweifelhafter geworden. Man ist in unserem Lande allzu geneigt, das Strafrecht für ein Allheilmittel gegen alle denkbaren sozialen Schäden zu halten. Entdeckt man irgendwo etwas Unerwünschtes, so erläßt man eine Vorschrift und eine Strafdrohung dagegen und dreht sich wieder auf die andere Seite, ohne über die Ursachen des Übels und die Möglichkeiten ihrer Beseitigung nachzudenken. Stellt sich dann nach einiger Zeit heraus, daß weder die Strafdrohung noch die tatsächlich verhängten Strafen etwas geholfen haben, so wacht man wieder auf und will es nun aber mit aller Gewalt wissen. Jetzt werden die Strafdrohungen erhöht und die Richter aufgefordert, nun aber einmal ordentlich dazwischenzuschlagen. Das Verkehrsstrafrecht ist das große Beispiel dafür. Man sollte sich wieder einmal über die Bedingungen der Wirksamkeit jedes Strafrechts klarwerden. Der Schluß von einem selbst auf andere erlaubt gewiß die Feststellung, daß das Strafrecht in vieler Hinsicht gute Wirkung tut. Das hat übrigens mit der Willensfreiheit nichts zu tun. Auch der Determinist bestreitet ja nicht, daß der Mensch durch Motive bestimmbar ist und weithin bestimmt wird. Für ihn ist das Strafgesetzbuch ein Katalog von Gegenmotiven. Aber es ist nichts Neues, daß die Wirksamkeit nicht von der Entsetzlichkeit der Strafdrohungen abhängt, sondern von der Gewißheit des Eintritts der Strafe. Aus diesem Grunde ist bei uns die Strafdrohung zum Beispiel gegen die Abtreibung so gut wie völlig unwirksam, und sie würde gewiß nicht wirksamer, wenn man die Strafen erhöhte. Dabei ist Abtreibung ein Delikt, das ganz regelmäßig erst nach reiflicher Überlegung begangen wird, und bei dem alle Beteiligten auch die Gefahr einer Strafe bedenken. Sie hoffen, nicht entdeckt zu werden; es gibt hier auch nicht selten Fälle des kalkulierten Risikos, Fälle sogar, in denen der Schwangeren ein paar Monate Gefängnis, vielleicht zur Bewährung ausgesetzt, weniger schlimm erscheinen als die uneheliche, bisweilen selbst die eheliche Mutterschaft. Ich getraue mich nicht, die Abschaffung der Strafe gegen Abtreibung vorzuschlagen; aber vielleicht sollte man noch anderes tun, die Vorurteile weiter abzubauen suchen, andere als behördliche, andere als geldliche Hilfe für uneheliche Mütter zu bringen suchen. Denn wenn ich von Vorurteilen sprach: die Angst der Schwangeren selbst vor unehelicher Mutterschaft für sich selbst und für ihr Kind beruht nicht auf Vorurteilen, sondern auf

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Realitäten. Vielmehr meinte ich die Vorurteile unserer bürgerlichen Gesellschaft. Im Straßenverkehr fordert die Trunkenheit am Steuer gerade in Deutschland einen beträchtlichen Blutzoll, und die Strafgerichtsbarkeit richtet wenig dagegen aus, zu wenig, sowohl in den Oberlandesgerichtsbezirken milder wie in denen strenger Observanz, was die Strafaussetzung zur Bewährung betrifft. Mehr ausrichten könnte nach meiner Ansicht ein gesellschaftlicher Komment: die Verbreitung der Überzeugung, daß es sich nicht schickt, zu trinken, wenn man noch fahren will, zu fahren, wenn man etwas getrunken hat. Der gesellschaftliche Komment ist ja an vielen Punkten ein sehr viel stärkeres Motiv, als es eine Strafdrohung ist. Wer würde sich trauen - Willensfreiheit hin, Willensfreiheit her einer Einladung zum Abendessen zu folgen, ohne der Hausfrau Blumen mitzubringen? Die Unterlassung ist nicht mit Strafe bedroht, aber das tut man eben nicht. Wenn man es dahin bringen könnte, daß es sich nicht gehört, jemandem, der im eigenen Wagen gekommen ist, Alkohol anzubieten oder ihn gar zum Trinken zu nötigen; oder daß es sich nicht gehört, mit dem eigenen Wagen zu einer Veranstaltung zu fahren, bei der Wein oder Bier oder Cocktails gereicht werden; wenn Redensarten von der Art „ein Glas werden Sie doch vertragen" als flegelhaft gelten würden, wenn Verstöße gegen einen solchen Komment zur Folge hätten, daß man nicht mehr eingeladen, die eigenen Einladungen nicht mehr angenommen würden, daß man angesehen würde wie einer, der Fisch mit dem Messer ißt (vergleichsweise doch etwas recht Harmloses) - dann würde es bestimmt besser. Es muß einen Strafrechtler beunruhigen, daß man in bester Gesellschaft etwas tun kann, was einen, wenn es herauskommt, ins Gefängnis bringt, ohne daß irgend jemand etwas dabei findet. Wir sind weit entfernt davon, einen solchen Komment aufzurichten. Im Gegenteil: der feine Mann, der außerdem auch ein gesetzestreuer Mann sein und, was mehr ist, am Steuer seine Mitmenschen nicht gefährden will, getraut sich kaum, das zu sagen; er wird einen Cocktail annehmen, nippenderweise so tun, als ob er davon tränke, und das Glas dann unauffällig irgendwo abstellen. Mit etwas Zivilcourage könnte jeder von uns etwas zur Besserung dieser Zustände tun, indem er seine eigenen vorbildlichen Grundsätze mindestens nicht versteckte. Als die Frauen noch nicht gleichberechtigt waren, hätten sie die Macht gehabt, so etwas durchzusetzen; mit der Gleichberechtigung ist ihnen diese Art von gesellschaftlicher Vorherrschaft abhandengekommen. Jetzt können sie nur noch nüchtern das Steuer an sich reißen, wenn ihr Eheliebster nicht mehr nüchtern ist. Die Erörterung der Trunkenheit führt auf die Frage der Willensfreiheit geistig Gestörter. Sie wissen, daß unser § 514 früher darauf abstellte, ob der Täter sich in einem Zustand befunden hatte, „durch welchen

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seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war". Die jetzige Fassung wollte in diesem Punkte nichts anderes sagen. Es hatte von vornherein kein Zweifel darüber bestanden, daß die Wendung von der freien Willensbestimmung den Richter oder den Sachverständigen nicht etwa auf den Indeterminismus verpflichten wollte. Aber da das zu gelegentlichem Geplänkel geführt hatte, hielt man es für richtiger, diese in der Tat etwas mißverständliche Wendung durch eine neutralere zu ersetzen; gleichzeitig hielt man es für möglich, das Gemeinte etwas zu verdeutlichen, indem man zwischen dem Ausschluß des Einsichtsvermögens und dem des Hemmungsvermögens unterschied. Wenn ich sage „man", so meine ich die damalige Generation der Psychiater; von ihnen stammt die zur Zeit geltende Fassung, von ihnen auch der Vorschlag, zwischen der vollen Zurechnungsfähigkeit und ihrem völligen Ausschluß noch eine Zwischenstufe der verminderten Zurechnungsfähigkeit einzufügen. Diese laudatio auctoris geht an die Adresse der heutigen Psychiater, von denen einige geneigt scheinen, die geltende Fassung als einen spezifisch juristischen Unsinn zu betrachten. Wir Juristen machen aber genügend eigenen Unsinn und haben es gar nicht nötig, uns auch noch der Urheberschaft dessen zu berühmen, der gar nicht unserer ist. Im übrigen meine ich, daß der geltende §51 gar nicht so schlecht ist, und daß er noch besser wäre, wenn man sich entschließen könnte, ihn zu befolgen. Solchen Versuchen begegnet man aber nur selten, sowohl bei Juristen als auch bei Psychiatern. Kein geringerer als Kurt Schneider hat sich über den § 51 so geäußert, als sei mit ihm einfach nichts anzufangen. Zunächst hat er den Begriff des Krankhaften beanstandet. Die großen Psychosen, so hat er gesagt, seien nicht als Krankheiten erwiesen; man könne nur, und müsse freilich, ihre Eigenschaft als Krankheiten postulieren. Das macht uns wenig Kummer. Zwar gründen wir unsere Urteile nicht gern auf bloße Postulate, hätten lieber Erwiesenes; aber in diesem Punkte helfen wir uns leicht mit der Auslegung des Gesetzes. Daß der Gesetzgeber mit „krankhaften Störungen der Geistestätigkeit" auch und gerade Schizophrenie, Zyklothymie und Epilepsie gemeint hat, kann nicht zweifelhaft sein. Sollten inzwischen hirnorganische Veränderungen als ihre Ursachen nachgewiesen sein oder noch nachgewiesen werden, so bedurfte es § 51 StGB a. F. hatte folgenden Wortlaut: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtsseinstörung, wegen krankhafter Störungen der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 4

W a r die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden." Die Vorschrift wurde durch die heutigen § § 2 0 , 21 StGB ersetzt.

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dessen für unsere Zwecke nicht. Sodann hat Schneider gesagt, ob jemand die aktuelle Einsicht des Unerlaubten zur Tatzeit gehabt habe, lasse sich weder empirisch noch auch grundsätzlich feststellen. Die ganze Fragestellung gehe von psychologisch falschen Voraussetzungen aus. Bei der Begehung einer Straftat pflege der Täter das Verbot nicht in sein Bewußtsein zu heben. Auch dieser Einwand macht uns keine Sorgen. Das Gesetz stellt diese als falsch bezeichnete Frage gar nicht; es fragt nicht nach der aktuellen Einsicht zur Tatzeit, sondern nach der potentiellen Einsicht, nach der Fähigkeit, das Unerlaubte einzusehen. Es verhält sich damit ähnlich wie bei jenem Fall aus der Aufgabensammlung des Kollegen Blei in Berlin: eine wegen Ehebruchs angeklagte Frau entschuldigt sich mit der Behauptung, daß sie während der Tat an alles andere gedacht habe als daran, daß sie verheiratet sei. Setzt schon der Vorsatz kein aktuelles Bewußtsein voraus, so das Einsichtsvermögen erst recht nicht. Schließlich, so wendet Schneider ein, könne man nicht empirisch feststellen, ob jemand ein Hemmungsvermögen habe, ob er sich hätte anders verhalten können, als er sich tatsächlich verhalten habe. Das sagen wir auch; das ist just die Frage nach der Willensfreiheit, die wir ja nicht als vernünftige Frage, ganz sicher nicht als empirisch beantwortbare Frage anerkennen. Aber wir finden auch diese Frage eben nicht im Gesetz. Das Gesetz fragt nicht nach dem Anderskönnen, sondern nach den Gründen des So-Handelns. Das Fehlverhalten steht ja fest. Es geht nicht darum, ob der Täter auch anders gekonnt hätte, sondern warum er so gehandelt hat; ob das an seinem schlechten Charakter oder an seinen krankhaften Zuständen liegt. Ich glaube also, daß man mit einem Sachverständigen wie Schneider die Frage der Zurechnungsfähigkeit schon hätte klären können, wenn man ihm die richtigen Fragen vorgelegt hätte. Aber das scheint nicht oft geschehen zu sein. Er sagt mit bemerkenswerter Offenheit, der Psychiater kümmere sich gar nicht um die Frage, ob das Einsichtsvermögen oder das Hemmungsvermögen beseitigt oder vermindert sei; so weit komme er gar nicht. Er schließe unmittelbar von der Krankheit auf die Zurechnungsunfähigkeit oder auf die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit. Es ist sehr anzuerkennen, daß jemand das einmal so deutlich gesagt hat; die Besorgnis, daß es so gemacht wird, konnte einem freilich bei der Lektüre zahlreicher psychiatrischer Gutachten auch schon vorher kommen. Wenn bei dieser Arbeitsweise das Ergebnis richtig wird, so kann es sich nur um einen Zufall handeln. Daß sie auch heute noch vielfach befolgt wird, ist daraus zu entnehmen, daß eine ganze Reihe von psychiatrischen Autoren von einer „Konvention" zwischen Psychiatern und Juristen spricht, daß beim Vorliegen festgestellter großer Psychosen Zurechnungsunfähigkeit gegeben sei. Nun kann von einer solchen Konvention aus mehreren Gründen keine Rede sein. Die Juristen sind dem

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Gesetz unterworfen und sind nicht befugt, darüber zu paktieren, wie das Gesetz anzuwenden ist. Das Gesetz läßt für den Ausschluß oder für die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit nun einmal die Krankheit, oder allgemeiner gesagt, die biologischen Zustände des §51 nicht genügen, sondern es verlangt dafür auch noch die psychologischen Voraussetzungen, also den Ausschluß oder die erhebliche Verminderung des Einsichts- oder Hemmungsvermögens. Der Richter würde geradezu das Recht beugen, wenn er mit dem Psychiater dahin übereinkäme, man wolle von dieser zweiten gesetzlichen Voraussetzung für die Anwendung der Vorschrift absehen. Das wäre etwa so, als wollte der Richter mit dem Staatsanwalt eine Konvention des Inhalts abschließen, es solle Raub angenommen werden, auch wenn es an der Gewalt oder an der Wegnahme fehle. Was in der Praxis sowohl von Richtern als auch von Sachverständigen häufig verkannt wird, ist die Bezogenheit des Einsichts- und Hemmungsvermögens auf die konkrete Tat. Neulich lasen wir in einem Urteil, das wohl mit aller Gewalt „revisionssicher" gemacht werden sollte, eine Beschreibung der Bierreise, die dem Einbruchsdiebstahl vorangegangen war. Es wurde jeder Lokalbesuch geschildert, es wurde exakt aufgeführt, was die beiden Angeklagten dort getrunken hatten, dann wurde erwähnt, daß sie dies Lokal verließen, und dann kam der Satz: „Dabei wußten sie noch, was gut und böse ist" - sie waren also „ut Deus scientes bonum et malum". Das ging so durch eine ganze Reihe von Lokalen, und schließlich kamen sie an den Tatort, immer noch „wissend was gut und böse ist". Und dann entschieden sie sich, um mit dem Großen Senat zu sprechen, „für das Unrecht und gegen das Recht" oder, etwas schlichter gesagt, sie brachen ein und klauten alles, was nicht niet- und nagelfest war. Die Frage war aber nicht, ob sie schlechthin wußten, was gut und böse ist, sondern ob sie noch fähig waren, einzusehen, daß sie diesen Einbruch nicht begehen durften. Wir zählten die Biere zusammen und meinten, sie wären dazu noch fähig gewesen; das rettete das Urteil, nicht die schöne Formel von Gut und Böse. Früher ist einmal eine ganze Literatur darüber entstanden, ob es auch eine partielle Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit gebe. Ein Blick in das Gesetz hätte diese Literatur überflüssig gemacht; es ist ganz uninteressant, ob es vielleicht eine totale Zurechnungsunfähigkeit gibt - praktisch zu tun haben wir es immer nur mit einer partiellen, die Frage muß immer auf die konkrete Tat bezogen werden, die gerade zur Aburteilung steht. Die eben so entschieden abgelehnte Konvention - oder richtiger gesagt, die Annahme mancher Psychiater, es bestehe eine solche Konvention - scheint ihre Ursache in gewissen Schwierigkeiten zu haben, die psychischen Wirkungen mancher Geisteskrankheiten einigermaßen

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deutlich zu erkennen. Es scheint etwa bei der Schizophrenie vorzukommen, daß sich der nachweislich Kranke in der Zeit zwischen den Schüben auf eine Weise verhält, die den Eindruck einfühlbarer Motivierung macht, auch wenn die Krankheit schon recht weit fortgeschritten ist. Das Verhalten wirkt vielleicht nach seinem ganzen Zusammenhang und auch nach den Äußerungen, die der Kranke selbst dazu abgibt, auf den Beobachter, den Sachverständigen wie die Laien, sozusagen ganz normal, wie das eines Gesunden. Nur das unbezweifelbare Wissen, daß der so Handelnde schwer geistig erkrankt ist, läßt die Bedenken gegen seine normale Motivierung zweifelhaft erscheinen. In solchen Fällen ist es zu verstehen, daß der Sachverständige Bedenken hat, den Kranken für zurechnungsfähig zu erklären. Aber das soll er auch nicht. E r soll seine Bedenken sagen und es dem Gericht überlassen, die Folgerungen daraus zu ziehen. Die Folgerungen sind die, daß der Mann nicht bestraft werden kann, weil Zweifel an seiner Schuldfähigkeit bestehen, daß er aber auch nicht eingewiesen werden kann, weil Zweifel an seiner krankhaft beeinflußten Motivierung bestehen. Jedenfalls kann der Strafrichter ihn nicht in der Heil- oder Pflegeanstalt unterbringen. Ist der Kranke gefährlich oder gefährdet, so kann und muß er auf dem landesrechtlich geregelten Wege untergebracht werden. Das ist ein nicht ganz unwichtiger Unterschied; der Status des Untergebrachten ist in mancher Beziehung recht verschieden, je nachdem ob er durch Urteil des Strafgerichts oder durch andere richterliche Entscheidung eingewiesen worden ist. Dieser Unterschied darf nicht dadurch untergepflügt werden, daß der psychiatrische Sachverständige in Anwendung jener vermeintlichen Konvention einfach das Verdikt „zurechnungsunfähig" spricht. Nun erhebt sich freilich die Besorgnis, ob das nicht oft, vielleicht nahezu immer so liegt, und ob - wenn wir es richtig handhaben - überhaupt noch Raum für eine strafrichterliche Anordnung der Unterbringung bleibt. Aber vor dieser Sorge dürfen wir nicht die Augen verschließen; wenn das wirklich so ist, müssen die gesetzgeberischen und judiziellcn Folgerungen daraus gezogen werden. Wie überaus wichtig das Urteil über die „Willensfreiheit" (in Anführungsstrichen) des Schizophrenen sein kann, möchte ich Ihnen an einem Fall zeigen, den wir vor einiger Zeit abzuurteilen hatten. Ein Elternpaar lebte mit einer sehr geliebten Tochter zusammen, die sich als hochbegabt erwies, dann aber an Schizophrenie erkrankte. Bis sie den dritten Schub hinter sich hatte, kam es zu sechs Selbstmordversuchen. Bei einem dieser Versuche war sie aus dem Fenster gesprungen und hatte sich die Füße in einer bleibenden, sehr auffallenden Form verstümmelt. Wohin sie kam, wurde sie von taktlosen Menschen auf diese Verletzung angesprochen, worunter sie sehr litt. Sie arbeitete bis unmittelbar vor der gleich zu schildernden Katastrophe als fremdsprachliche Korrespondentin bei

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einer Dienststelle der Bundespost zur völligen Zufriedenheit, ohne in irgendeiner Weise auffällig zu sein. Die Eltern hatten natürlich unter dieser ganzen Sache sehr gelitten. Sie, besonders die Mutter, hatten sich mit der Kranken oft und lange ausgesprochen, wobei die Tochter immer wieder ihren festen Willen äußerte, sich das Leben zu nehmen. Sie haben hier ein Beispiel für den vorhin erwähnten Fall der einfühlbaren Motivation. Die Mutter beschwor die Tochter, doch keine weiteren Selbstmordversuche zu unternehmen; die Tochter weigerte sich, das zu versprechen. Dann schilderte die Mutter der Tochter, was sie, die Eltern, bisher jedesmal durchgemacht hatten, wenn von irgendwoher, von fremden Menschen, eine telefonische oder telegrafische Nachricht von dem jedesmaligen Unglück gekommen war. Das machte tiefen Eindruck auf die Tochter. Die Mutter bat schließlich, sie möge ihr wenigstens versprechen, daß sie keinen Selbstmordversuch außerhalb der Wohnung mehr unternehmen werde. Dazu erklärte sich die Tochter bereit, wenn die Mutter ihr dagegen versprechen wolle, sie in einem solchen Fall nicht aus der Wohnung zu geben, insbesondere nicht in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Mit diesem gegenseitigen Versprechen endete die Unterhaltung. Einige Zeit darauf nahm die Tochter eine Überdosis Schlaftabletten, die sie sich heimlich verschafft und aufgespart hatte. Die Mutter entdeckte das nach vielen Stunden und rief sofort eine Ärztin. Die erklärte, hier nichts unternehmen zu können, und ordnete die Uberführung der Kranken ins Krankenhaus an. Dem widersetzte sich die Mutter entschieden. Die Arztin ließ sich darüber einen Revers ausstellen. Sie kam noch einige Male wieder. Inzwischen wurde ein Abschiedsbrief der Tochter gefunden, der jedenfalls auf uns als Laien einen völlig vernünftigen Eindruck machte. Die Tochter starb. Beiden Eltern wurde der Prozeß gemacht, während dessen der Vater tödlich verunglückte. In der Verhandlung gegen die Mutter sagte der psychiatrische Sachverständige aus, ein Schizophrener nach dem dritten Schube sei auch in der Zeit zwischen den Schüben für jedermann erkennbar geisteskrank. Die Mutter, die mit der Tochter ständigen Umgang gehabt hatte, hätte zweifellos erkennen müssen, daß keine von deren Äußerungen mehr ernst genommen werden könne. Daraufhin wurde die Mutter wegen Totschlags verurteilt. Wir haben sie dann mit einer Begründung freigesprochen, die hier nicht interessiert. Der Fall zeigt, daß es nicht immer der Angeklagte sein muß, auf dessen freie Willensbestimmung es ankommt. Er zeigt aber auch, wie überaus wichtig, ja schicksalhaft eine ganz enge, von beiderseitigem Verständnis getragene Zusammenarbeit zwischen dem Psychiater und dem Strafrichter ist, wie überaus verhängnisvoll jedes Versäumnis in diesem Punkte werden kann.

Justiz in der Demokratie 1 (197C) Die Justiz in der Demokratie übt eine staatliche und gesellschaftliche Funktion aus. Sie darf aber kein Staat im Staate sein und sich deshalb nicht etwa selbst als eine Demokratie verstehen. Die Staatsanwälte und Richter eines Landes oder eines Bezirks oder auch eines Gerichts sind weder ein Staatsvolk noch sind sie ein Verein. Es ist ein Mißverständnis des Demokratiebegriffs, wenn gelegentlich die Forderung laut wird, sie sollten in der Weise „demokratisch" verfaßt werden, daß sie durch Mehrheitsentscheidungen ihre Funktionen unter sich verteilen, ihre Vorsitzenden und Behördenleiter selbst wählen oder sich gar durch Zuwahl selbst ergänzen. Die Justiz in der Demokratie muß aus ihrer dienenden Rolle verstanden werden und sich auch selbst so verstehen. Die Wünsche und die wirklichen oder vermeintlichen Interessen des einzelnen Richters oder Staatsanwalts sind dabei etwas ganz Sekundäres. Die möglichst wirksame Vertretung solcher Interessen muß zurücktreten hinter der Notwendigkeit, den richtigen Mann an die richtige Stelle zu setzen. Diese Aufgabe wäre bei einer Vollversammlung nicht in den besten Händen. Denn erstens kann eine solche Vollversammlung nicht die optimale Personalkenntnis haben. Richter tun ihre Berufsarbeit entweder allein oder in kleinen Spruchkörpern. Das muß so sein; die Folge ist aber, daß für die Richter außerhalb eines jeden dieser Spruchkörper, jedenfalls für die Mehrheit, keine Möglichkeit besteht, die Tüchtigkeit und spezielle Eignung ihrer Kollegen aus eigener Anschauung zu beurteilen; ganz abgesehen davon, daß es schier über menschliche Kraft geht, einen anderen, und gar einen Mitbewerber, richtig zu beurteilen, der besser ist als man selbst. Im besten Fall wird eine Mehrheit dazu neigen, die begehrteren Stellen den Älteren zuzuweisen, in der Hoffnung, durch Zeitablauf dann auch einmal daranzukommen. Diese Erscheinung können Sie überall beobachten, wo wohlerzogene Leute etwas untereinander zu ordnen haben. Sogar bei der Ernennung von Ministern spielt das Dienstalter als Abgeordneter eine Rolle. Das ist aber, von der Funktion her gesehen, nicht die beste denkbare Personalpolitik.

Vortrag, gehalten auf der zweiten Richterwoche des Bundessozialgerichts in Kassel am 2 6 . 1 0 . 1 9 7 0 . 1

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Und zweitens wäre bei dieser Geschäftsverteilung jeder einzelne Teilnehmer der Vollversammlung Partei. Das bringt die Versuchung zu Absprachen mit sich, die Gefahr des do ut des, um den Ausdruck „Kuhhandel" zu vermeiden, wobei die Interessen der Rechtsuchenden und das Recht selbst einigermaßen aus dem Blickfeld zu geraten drohen. Dieser Gefahr wird auch nicht durch die Einrichtung einer „repräsentativen Demokratie" begegnet, also nicht dadurch, daß das Plenum entscheidenden Einfluß auf die Zusammensetzung des Präsidiums erhält. Ich würde solche Befürchtungen mit Bezug auf Richter kollegialerweise vielleicht gar nicht zu äußern wagen, wenn nicht vor Jahren ein kleiner, aber sehr vornehmer Richterverein auf dem Deutschen Juristentag (Essen 1964) solche Versuche zur Wahllenkung gemacht hätte, glücklicherweise allerdings ohne Erfolg. - Drittens fühlt ein Plenum sich für seine Entscheidungen niemandem verantwortlich. Gewiß unterlaufen den jetzt für die Gerichtsbesetzung zuständigen Stellen bisweilen Mißgriffe. Dagegen ist niemand gefeit, und ein Allheilmittel dagegen gibt es nicht. Manche Personalentscheidung wird auch Ansichtssache sein und bleiben. Es widerspricht weder demokratischen Grundsätzen noch dem Gedanken der Gewaltenteilung, daß Parlament und Regierung über die Ernennung und auch über die Beförderung von Richtern entscheiden. Solche Entscheidungen sind gerade im Sinne der Gewaltenteilung nicht Justiz, sondern Sache der Politik im eigentlichen Sinne, in dem Sinne nämlich, daß sie von politischen Instanzen verantwortet werden müssen. In dieser Hinsicht ist die Justiz in einer Demokratie nun einmal keine politische Instanz, obwohl keineswegs bestritten werden kann, daß die Rechtsprechung rechtspolitischen Gehalt hat und haben muß, und daß die Richter sich dessen auch bewußt sein dürfen und sollen. Sie haben genug zu verantworten, auch wenn sie bei ihrer personellen Ergänzung nur eine beratende und keine entscheidende Stimme haben. Die Bestimmung über ihre Anzahl und Beförderung und die Verantwortung dafür wären weder der Arbeit noch dem Ansehen der Justiz zuträglich. Die rechtsprechende Gewalt darf nicht als Klüngel verstanden werden, der in vornehmer Abgeschiedenheit von den anderen Staatsgewalten sein Wesen treibt. Das heißt nicht, daß sie sich bei ihren Urteilen von den tagespolitischen Wünschen der Regierung oder des Parlaments abhängig machen dürfte, soweit sie nicht in Gesetzen festgelegt werden. Aber Abhängigkeit von den Vorstellungen der Kollegenschaft wäre um keinen Deut besser; auch sie wäre gerade nicht das, was wir uns als richterliche Unabhängigkeit zu erkämpfen, was wir uns selbst jeden Tag und bei jedem Urteil immer wieder abzuringen haben. Die Versuchungen, die dabei von der Rücksicht auf Kollegenmeinungen und -Stimmungen ausgehen könnten, wären nicht kleiner und für die richterliche Unabhängigkeit nicht weniger gefährlich als die Versuchun-

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gen, in die Präsidenten, Ministerien, Vorsitzende, Parteien, Zeitungen und Familie den Richter führen können. Das alles bedeutet nicht, daß außerhalb wie innerhalb der Justiz keine Kritik an der Personalpolitik geübt werden sollte. Solche Kritik ist vielmehr notwendig; freilich muß sie sich auch selbst der Kritik stellen. In den letzten Jahren lesen wir in soziologischen oder sich doch soziologisch nennenden Veröffentlichungen eine sehr herbe allgemeine Kritik an der Zusammensetzung der Richterschaft. D a wird zunächst von einer Einteilung des Staatsvolkes in Schichten ausgegangen, Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht; oft noch mit feineren Unterteilungen wie untere Oberschicht, obere Mittelschicht. Schon diese Einteilung könnte man mit einem Fragezeichen versehen, oder, wie man heute so schön sagt, „hinterfragen". Es versteht sich doch nicht von selbst, daß eine solche Schichtenteilung gerade unter dem Gesichtspunkt derjenigen Untersuchungen und Forderungen Sinn hat, die dann daran angeknüpft werden. Die Forderung, die hier ohne Begründung gestellt zu werden pflegt, geht dahin, daß jede dieser Schichten im Verhältnis ihres zahlenmäßigen Anteils an der Gesamtbevölkerung durch einen entsprechenden Anteil an der Richterschaft „repräsentiert" sein sollte. Diese Forderung scheint manchen dieser Soziologen so offensichtlich berechtigt zu sein, daß sie sie nicht einmal ausdrücklich aussprechen, sondern gleich im Tone empörter Klage das Ergebnis ihrer diesbezüglichen Forschungen vortragen, daß nämlich die „Unterschicht" der Bevölkerung in der Richterschaft weitaus „unterrepräsentiert" sei. Das wird wohl zutreffen; indessen verstößt das nicht gegen demokratische Grundsätze. Es ist nicht die Aufgabe der Justiz in einer Demokratie, durch ihre eigene Zusammensetzung angebliche oder wirkliche „Schichten" des Volkes widerzuspiegeln. Auf die rechtsprechende Tätigkeit bezogen, ergäbe diese Forderung ja auch nur dann einen Sinn, wenn sie dahinginge, in jedem einzelnen Spruchkörper, in jeder Kammer und in jedem Senat, je einen Angehörigen der Ober-, Mittel- und Unterschicht mitwirken zu lassen, und wenn geltend gemacht werden könnte, daß die Nichterfüllung dieser Forderung eine unerwünschte Wirkung auf die Ergebnisse der Rechtsprechung habe. Das Erstaunlichste an dieser soziologischen Kritik ist aber eine dritte Unterstellung: man hat nicht etwa untersucht, welchen Schichten oder welcher Schicht die Richter selbst, für ihre eigene Person, kraft ihres eigenen beruflichen, gesellschaftlichen, soziologischen Standortes angehören. Dieser Standort wäre ja wohl irgendwo unterhalb der Mitte für uns alle gemeinsam zu suchen. Sondern man ordnet die Richter nach ihrem Elternhaus, nach dem Beruf und dem Einkommen ihres Vaters den verschiedenen Schichten zu. Hier wird also von der willkürlichen, ganz unbewiesenen und für jeden Kenner der Dinge und der Menschen leicht widerlegbaren Annahme ausgegangen,

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der Mensch und gerade der Richter sei durch den Beruf des Vaters weithin in seinen Entscheidungen determiniert. Das kommt dann also etwa so heraus, es sei kein Wunder, daß die Rechtsprechung einen kleinbürgerlichen Eindruck mache, weil eben ein zu großer Prozentsatz der Richter aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stamme. Und das ist ganz falsch. So etwas kann nur jemand glauben, der an dieses Thema mit beneidenswerter Weltfremdheit und im übrigen völlig unwissenschaftlich herangeht. Unterstellen wir einmal, unsere Rechtsprechung sei wirklich zu kleinbürgerlich; es ist nicht ganz einfach, gegen solche emotionell gefärbten Behauptungen zu argumentieren. Wenn das zutrifft, liegt es nicht daran, daß unsere Väter kleine Bürger waren, sondern daran, daß wir das selbst sind, und zwar auch dann, wenn unsere Väter reiche Kaufherren oder verbitterte Fabrikarbeiter gewesen sein sollten. Der Jurist wird nämlich durch seinen Beruf weit stärker geprägt als durch sein Herkommen. Dieser Satz braucht vor Hörern, wie Sie es sind, kaum näher begründet zu werden. Sie sind es gewöhnt, mit anderen Juristen zusammenzuarbeiten, mit ihnen zu diskutieren, sich mit ihren oft abweichenden Meinungen auseinanderzusetzen, und Sie machen sich natürlich im Lauf der Zeit ein Bild von Ihren nächsten Kollegen. Bitte legen Sie sich selbst die Frage vor, ob Sie sich häufig oder ob Sie sich überhaupt jemals auf dem Gedanken ertappen: nun ja, kein Wunder, daß der Mann solche Ansichten hat, der Vater war eben dies oder das, und die Mutter war, wie man in Hamburg so schön unterscheidet, je nach dem, eine geborene Petersen oder nur eine gewisse Petersen. So etwas gibt es doch gar nicht. Ich weiß von der Hälfte meiner Senatsmitglieder, was ihre Väter von Beruf waren, und von der anderen Hälfte weiß ich es nicht. Soweit ich es weiß, sind die Berufe der Väter verschiedener als die Ansichten der Kollegen selbst; und wenn ich von den anderen erführe, was ihre Väter von Beruf waren, würde ich bestimmt nicht denken: aha, drum. Etwas sehr Alltägliches ist es demgegenüber, daß der Richter von dem vor ihm plädierenden Anwalt denkt, er trage typische Advokatenansichten vor, und daß der Anwalt das Benehmen des Richters als ausgesprochenes Kadigebaren empfindet. Der Jurist wird eben kaum durch sein Elternhaus determiniert, sondern weit mehr durch seine Berufsausbildung und -ausübung geformt. Bei der Berufswahl freilich macht sich der Einfluß der Abkunft noch bemerkbar. Das trifft sicherlich zu, daß kleinbürgerlichen Eltern und ihren Kindern der Juristenberuf und besonders die Arbeit bei der Justiz anziehender erscheint als anderen Eltern und deren Kindern vor der Berufswahl. In meinem Elternhause war das Wort „Beamter", das damals ja auch noch die Richter mitbezeichnete, eine Verbalinjurie, und der Ausdruck „Staatsdiener" eine Ironie. Gleichwohl glaube ich, im

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Lauf der Zeit ein typischer Justizjurist geworden zu sein. Wenn und soweit die Kritik der Soziologie darauf hinausliefe zu beanstanden, daß den Söhnen der von ihr so genannten „Unterschicht" in unfairer Weise der Zugang zu den so begehrenswerten Justizberufen erschwert werde, könnte man sich unter den Gesichtspunkten der Gleichheit vor dem Gesetz und der freien Berufswahl durchaus darüber unterhalten. Aber die Zeiten, da die Wahl juristischer Berufe weithin von der Wohlhabenheit des Vaters abhing, sind doch nicht mehr, auch wenn man glaubt, daß für die Begabtenförderung mehr geschehen könne als wirklich geschieht. Gewiß könnte man sich überlegen, wie die Arbeit in der Justiz für die Angehörigen der „unterrepräsentierten Schichten", und zwar oben wie unten, attraktiver gestaltet werden könnte; es scheint sogar, daß die Verhältnisse zu solchen Überlegungen zwingen werden, und zwar nicht aus Gründen des Proporzes, sondern einfach weil die Menschen zu knapp werden, die zu dieser doch wichtigen Arbeit unter den gegenwärtigen Bedingungen Lust haben. Man glaube doch nicht, daß irgend jemand in der Justiz sich gegen vermehrten Zustrom von Arbeiter- und Bauernkindern sträuben würde. Nur, so groß ist der Andrang eben gar nicht, und das Argument, die Schicht, der jemand kraft Abkunft angehört, sei unterrepräsentiert, wird kaum einen Arbeiter- oder Bauernsohn mehr in unsere Reihen locken. Und wenn es gelingen sollte, so verspreche man sich davon - oder, wenn Sie wollen, so befürchte man davon - keine besonderen Änderungen in der Haltung der Justiz zu den gesellschaftlichen Aufgaben, die ihr in der Demokratie obliegen. Der Justizjurist hat in seinem Berufsalltag Gelegenheit zu soziologischen Studien, die der Soziologe oder Psychologe nicht hat. Das gilt vor allem von der Zusammenarbeit mit den Laienrichtern. Bei ihnen sind die Repräsentationsverhältnisse anders als bei den Berufsrichtern. Die Streuung ist breiter. Die Frauen, immerhin die Hälfte der Bevölkerung, sind stärker vertreten als unter den Berufsrichtern, wenn auch immer noch stark „unterrepräsentiert". Die sogenannte Unterschicht ist hier eher überrepräsentiert, was durchaus nichts schadet und auch leicht zu erklären ist. Das Amt des Schöffen oder Geschworenen ist eben für den Fabrikarbeiter, den kleinen Angestellten, den kleinen Beamten, überhaupt für den Unselbständigen viel reizvoller als für den Manager, den Aufsichtsratsvorsitzenden, den selbständigen Kaufmann oder Handwerksmeister. Wir haben ja, was den Unterschied zwischen Honoratioren und Humilioren betrifft, eine sehr bemerkenswerte Wandlung erlebt. Zu einer Zeit, an die sich die Alteren unter uns noch erinnern können, war ein wichtiges Attribut der Oberschicht die Muße; und was die Unterschicht am deutlichsten kennzeichnete, war ein gerütteltes Maß an Arbeit. Das hat sich völlig umgekehrt. Heutzutage bezahlt man die

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Zugehörigkeit zur Oberschicht mit Überarbeitung bis zum Herzinfarkt, während die Angehörigen der Unterschicht die Dienste von Leuten und Unternehmungen in Anspruch nehmen müssen, um mit ihrer Freizeit irgend etwas anfangen zu können. Da ist ihnen denn auch der Dienst als Laienrichter bisweilen willkommen. Die Laienrichter nun sind natürlich nicht vom Justizdienst geformt; sie sind von ihrem eigenen Milieu geprägt. Vielfach haben wir hier einen parteipolitischen Proporz, was gewiß nicht nötig wäre, andererseits aber auch gewiß nichts schadet. Denn Parteipolitik spielt - jedenfalls in strafgerichtlichen Verhandlungen - nur ganz ausnahmsweise einmal eine Rolle, und selbst wo sie es einmal tun könnte, wird sie hier meist durch den menschlichen Appell überlagert. Aber sonst kann die Verschiedenheit des Milieus, aus dem die Laienrichter kommen, schon eine Rolle bei ihren Entscheidungen spielen. Als wir noch das alte Schwurgericht hatten, bei dem eine gewisse Anzahl von Geschworenen ohne Begründung abgelehnt werden konnte, gehörte es zum Handwerkszeug des erfahrenen Verteidigers, in Meineidssachen alle städtischen Geschworenen und in Brandstiftungssachen alle ländlichen Geschworenen abzulehnen. Da ging es nicht um die soziale Schicht, die dabei gar keine Rolle spielte, sondern um die größere oder kleinere Gefährlichkeit und Verwerflichkeit einer Brandstiftung in den Augen eines Landbewohners oder eines Städters. Damals hatten noch nicht so viele Leute Telefon, und die Feuerwehr war noch nicht überall motorisiert. Deshalb hatte man auf dem Lande, gleichgültig ob man Großgrundbesitzer oder Ackerknecht war, vor dem Feuer mehr Angst als in der Stadt. Bei Unzucht mit Kindern geht es auch nicht um die Schicht, aus der Berufs- oder Laienrichter stammen oder der sie angehören; viel entscheidender wird meist sein, ob sie selbst Kinder haben oder nicht, was ja beides in allen Schichten vorkommt. Bei Notzuchtsanklagen steht sich der Beschuldigte vor weiblichen Richtern aller Schichten oft besser als vor männlichen, weil Frauen meist einen nüchterneren Blick für die bewußte Provokation haben, die von dem Opfer einer angeblichen Notzucht ausgegangen sein mag. Genug der Beispiele. Es kann kein Zweifel daran sein, daß die Mitwirkung von Laienrichtern dahin tendiert, den Gesichtskreis der Berufsrichter zu erweitern. Andererseits muß wohl zugegeben werden, daß sie gewisse Fehlerquellen eröffnet. Es gibt Beispiele für Urteile, etwa in dem Fall Dr. Scheu, die ganz offensichtlich durch die Mitwirkung von Laienrichtern falsch geworden sind, gewöhnlich zugunsten des Angeklagten. Es kann deshalb nicht wundernehmen, daß schon die Forderung laut geworden ist, die Laienbeteiligung abzuschaffen. Gleichwohl muß solchen Absichten, wie sie etwa von Max Güde vertreten worden sind, entschieden widersprochen werden. Die Einrichtung des Laienrichtertums ist unter den Verhältnissen, wie sie bei uns

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gegeben sind und auf absehbare Zeit gegeben sein werden, unlösbar mit der Vorstellung von einer demokratischen Justiz verbunden. Die Mitwirkung der Laien zwingt den Berufsrichter, so langsam, so klar und so verständlich zu verhandeln, daß auch der Nichtjurist folgen kann. Damit wird der Gefahr begegnet, daß aus Zeitnot oder Ungeduld über den Angeklagten hinwegverhandelt wird. Auch wird der Jurist genötigt, dem Laien die Gründe einer gesetzgeberischen und einer richterlichen Entscheidung immer wieder zu erklären, und zwar in einer dir und mir verständlichen Sprache. Das zwingt ihn immer wieder zum eigenen Nachdenken über diese Grundlagen und wirkt der Gefahr entgegen, daß die der Öffentlichkeit so besonders sichtbare Strafjustiz in Routine und Positivismus erstarrt. Gewiß ist der Richter, zumal in einer demokratischen Justiz, dem Gesetz unterworfen. Aber bittere Erfahrungen haben uns belehrt, daß auch diese Forderung durch Ubertreibung ad absurdum geführt werden kann. Die Unterwerfung des Richters unter das Gesetz muß bedeuten, daß nur der Richter sein kann, der den Gesetzesbefehl ohne Gewissenskonflikt verwirklichen kann. Der Widerstand von Laienrichtern trägt dazu bei, das Gewissen wachzuhalten und vor dieser Instanz die Frage nicht zur Ruhe kommen zu lassen, erstens ob das Gesetz denn wirklich eine solche, Widerstand erzeugende, Folge verlangt, und zweitens, wenn ja, ob das Gesetz dann noch in Ordnung ist. Vorhin war die Rede von einem „falschen" Urteil eines Schwurgerichts. Lassen Sie uns das in Anführungsstriche setzen. Falsch war das Urteil, gemessen am Gesetz. Die Frage aber, ob das Gesetz auf solche (weit zurückliegenden) Fälle überhaupt noch angewendet werden oder ob man sie nicht lieber verjähren lassen sollte, ist inzwischen Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Debatte geworden; und ein Bundesjustizminister, der sich mit seiner - den Anschauungen dieser Geschworenen nahestehenden - Meinung nicht durchsetzen konnte, hat deswegen demokratischer- und achtbarerweise den Hut genommen. Es läßt sich also jedenfalls de lege ferenda ein Standpunkt einnehmen, von dem aus dieses Schwurgerichtsurteil gerechter ist als das Gesetz. - Ein weiteres Argument für die Laiengerichtsbarkeit ist dieses: Wir Juristen sollten uns in aller Nüchternheit darüber klar sein, daß wir uns in unserem Volke des allgemeinen Vertrauens nicht in einem solchen Maße erfreuen, als daß wir es uns erlauben könnten, dankend abzulehnen, wenn uns die Möglichkeit angeboten wird, uns einen Teil unserer Verantwortung von Nichtjuristen abnehmen zu lassen. Die englischen Richter sind in ihrem Volk nach meinem Eindruck nicht zuletzt deshalb so beliebt geworden und geblieben, weil es ihnen in allen wichtigen Sachen überhaupt erspart wird, Schuldsprüche fällen und verantworten zu müssen. Und ein letztes Argument für die Beteiligung von Laien in der Justiz: Sie bildet eine wenn freilich auch nur bescheidene - Gelegenheit, eine gewisse Ansatz-

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möglichkeit zur Überwindung der Volksfremdheit des Rechts und der Rechtsfremdheit des Volkes. Darüber ist schon oft geklagt worden. Wir haben in der Rechtsgeschichte gelernt, daß diese unheilvolle Erscheinung ihren Ausgangspunkt in der Rezeption des römischen Rechts hatte, die anderen Völkern in dieser Form erspart geblieben ist. Aber mit dem Auffinden der Krankheitsursache ist es nicht getan. Es ist auch nicht mit Versuchen getan, den ursprünglichen Erreger, das römische Recht, möglichst aus unserem System auszuscheiden. Einen solchen Versuch hatte der Nationalsozialismus, mehr sentimental als sachkundig, auf sein Programm gesetzt; Sie wissen, mit welchem Erfolg. Eine europäische Kulturerscheinung wie das römische Recht kann man nicht wieder absondern, wenn man unter seinen Voraussetzungen überhaupt erst juristisch denken gelernt hat. Das dürfte Paul Koschaker in seinem schönen Buch über Europa und das römische Recht wohl bewiesen haben. Man kann ja auch vom Christentum als einer der Grundlagen abendländischer Kultur nicht deshalb absehen, weil und wenn man etwa Atheist ist und die heutige Wirksamkeit der Kirchen eher bedauert. So einfach ist das nicht. Wir stehen also vor der unabweislichen Aufgabe, Volk und Recht miteinander vertraut zu machen. Wir sind in ständiger Gefahr, sowohl die Wichtigkeit als auch die Schwierigkeit dieser Aufgabe gröblich zu unterschätzen. Solange die Haltung eines Volkes zu seiner eigenen Rechtspflege sich auf der Skala zwischen völliger Interesselosigkeit und schroffer Ablehnung bewegt, solange die Gefühle eines Volkes und besonders seiner jungen Intelligenz gegenüber der eigenen Justiz nur ein Stück der allgemeinen Staatsverdrossenheit sind, so lange kann die Justiz keinesfalls das Prädikat „demokratisch" für sich in Anspruch nehmen. Fritz Werner hat einmal sehr zutreffend gesagt, die Justiz könne im Staatsleben nicht auf die Dauer die Rolle der unverstandenen Frau spielen wollen. Da wir es mit den Versäumnissen von Jahrhunderten zu tun haben, sollten wir uns nicht dabei beruhigen, daß es jetzt in den Schulen etwas „staatsbürgerlichen Unterricht" gibt. Das ist noch nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer gibt denn diesen Unterricht, mit welcher Vorbildung, mit welcher Leidenschaft, und mit welchem Erfolg? Ich bin einmal auf Wunsch eines Schulleiters in die Oberklassen eines Gymnasiums gegangen, um dort im Rahmen des staatsbürgerlichen Unterrichts einige Kenntnisse zu verbreiten. Es ergab sich in den ersten Minuten, daß ich mit den allerprimitivsten Dingen anfangen mußte. Vor einiger Zeit kam im Gespräch mit englischen Freunden die Rede darauf, daß in England jeder neunjährige Schuljunge weiß, seit wann und auf Grund welches geschichtlichen Ereignisses es in England Schwurgerichte gibt. Das brachte mich auf den Gedanken, ein paar Tage später im Assessorexamen zu fragen, seit wann es in Deutschland

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Schwurgerichte gibt und wie es zu ihrer Einführung gekommen ist. Vier von den fünf fertig ausgebildeten jungen deutschen Juristen wußten darauf überhaupt keine Antwort zu geben, und der fünfte sagte, Schwurgerichte gebe es bei uns seit 1924, und den Anstoß zu ihrer Einführung habe die Inflation gegeben. Daß die politischen Ereignisse des Jahres 1848, daß volkstümliche, wahrhaft demokratische Forderungen die Einführung der Schwurgerichte, der Staatsanwaltschaft, der Öffentlichkeit der Verhandlung und der Pressefreiheit in Deutschland erzwungen haben, das war das erste, was diese Kollegen bei dieser Gelegenheit hörten. Sie haben übrigens alle bestanden. Und so etwas geschieht am grünen Holze, das gibt es bei Juristen. Machen wir uns bitte keine Illusionen über das Interesse unseres Volkes an seiner Justiz. Wenn ich Deutschland auf diesem Gebiet ein Entwicklungsland nenne, dann ist das eine recht optimistische Bezeichnung; ich sehe die Entwicklung nämlich noch nicht. Für die Kluft zwischen Volk und Recht in Deutschland möchte ich Ihnen einen, soweit ersichtlich, bisher noch nicht benutzten Beweis liefern. Vergleichen Sie bitte den Justizroman in der deutschen und in der ausländischen Literatur. Sie kennen gewiß die „Amerikanische Tragödie" von Theodore Dreiser mit der genauen Beschreibung einer Tat im ersten Band und des Prozesses im zweiten Band. Der Prozeß, wie er dort dargestellt wird, entspricht genau dem amerikanischen Verfahrensrecht und der Wirklichkeit in amerikanischen Gerichtssälen. Etwas anderes könnte dort ein Schriftsteller, der auf sich hält, einem halbwegs anspruchsvollen Leserkreis gar nicht vorsetzen. Oder nehmen Sie " T h e Philadelphian" von Richard Powell, die Entwicklungsgeschichte eines Rechtsanwalts. Da finden Sie nicht nur die genaue prozeßordnungsmäßige Beschreibung einer Strafverhandlung mit dem ganzen Frage- und Antwortspiel, sondern auch die ebenso spannende Geschichte einer dramatischen Steuerberatung, gar nicht zu sprechen von der Entstehung einer juristischen Monographie und den Spannungen zwischen konkurrierenden Anwälten innerhalb und außerhalb einer Sozietät. Oder erinnern Sie sich an den Patentanwalt im „Großen Schnee" von Robinson, dem Verfasser des „Kardinals". Oder denken Sie an „Die zwölf Geschworenen" von Reginald Rose, deutsch von Horst Budjuhn, dieses ergreifende Justizstück, das auch bei uns ein Bühnenerfolg war. Mit diesem Stück hat die „Anatomie eines Mordes" von Robert Traver, verfilmt von Preminger, das Anliegen gemeinsam, daß die Freisprechung auch eines sehr Verdächtigen ein befriedigender Prozeßausgang sein kann, wenn es eben an der letzten Gewißheit fehlt. Pornographieprozesse gibt es überall, auch bei uns; in Amerika schrieb Irving Wallace darüber den Bestseller "The seven minutes", der jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Auch hier haben Sie wieder die korrekte Prozeßbeschrei-

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bung und die aufregende Darstellung der neben dem Prozeß herlaufenden Beweisbeschaffung durch den Verteidiger. In Amerika kann man einen Urheberrechtsprozeß zum Gegenstand eines fesselnden Romans machen, mit einem Faksimilie des Urteils und seiner Begründung als letztem Kapitel, mit korrektem Aktenzeichen, Rubrum und allem, was dazugehört. Denken Sie an die eindrucksvolle Kriegsgerichtsszene in Herman Wouks „Meuterei auf der Caine", wie ja auch Foresters famoser „Captain Hornblower" einmal als Zeuge, einmal als Angeklagter vor einem Kriegsgericht steht. Denken Sie an die Prozeßdarstellung aus der Perspektive des Verteidigerkindes in Harper Lee's "To kill a mockingbird", auf Deutsch, ich weiß nicht warum, unter dem Titel „Wer die Nachtigall stört". Gewiß nicht zur großen Literatur gehört „Der Prozeß Mary Dugan", Theaterstück und Roman von Wolff und Veiller; aber selbst in solchen Reißern muß für amerikanische Ansprüche das Detail des Prozeßhergangs stimmen. Sie können sich als Leser amerikanischer Unterhaltungsromane eine Kenntnis des amerikanischen Rechts verschaffen, die andere Autoren verhindert, dem Publikum solche Justizschmarren vorzusetzen, wie sie bei uns dem Ruhme eines Schriftstellers nicht den geringsten Abbruch tun. Aber bleiben wir noch einen Augenblick im Ausland. In Frankreich setzt sich ein Nobelpreisträger, Andre Gide, als Geschworener in den Gerichtssaal und schreibt dann ein nachdenkliches Buch darüber. Albert Camus, ebenfalls Nobelpreisträger, beschreibt eine Gerichtsverhandlung aus der Sicht des Angeklagten in einer so klaren und einfachen Sprache, daß mäßiges Schulfranzösisch genügt, um ihn zu verstehen: «L'etranger». Nennen wir auch «L'affaire Crainquaille» von Anatole France, noch einem Nobelpreisträger. «Justice est faite», bei uns unter dem Titel „Schwurgericht" erschienen, auch als Film, ist die Beschreibung einer Gerichtsverhandlung aus der Perspektive jedes der einzelnen Geschworenen und in psychologische Beziehung zu dessen Privatleben gesetzt. Die Forsyte Saga von Galsworthy — wieder ein Nobelpreisträger - wird heute nicht mehr so viel gelesen wie in den zwanziger Jahren; aber die Alteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an den Zivilprozeß zwischen Soames Forsyte und Philip Bosinney, der die Peripetie des ersten Bandes bildet, mit seiner stilechten wörtlichen Urteilsbegründung. Auch später kommt noch ein Prozeß vor, und beide sind, wovon Sie sich in jedem englischen Gerichtssaal überzeugen können, völlig wirklichkeitsgetreu geschildert. Cronin, der weltbekannte Verfasser der „Zitadelle" und von "Stars look down", schildert in seinem Buch "Beyond this place", was man in England in Ermangelung eines gesetzlich geregelten Wiederaufnahmeverfahrens unternehmen kann, nämlich einen Schadensersatzprozeß gegen die Krone. Henry Cecil hat über ein Dutzend heitere Justizromane geschrieben, denen von

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dem Richter Sir Gordon Clark bescheinigt worden ist, daß sie die Atmosphäre im Gerichtssaal präzise einfangen. Oder denken Sie an die reizenden Parodien gerichtlicher Urteile von Herbert, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Rechtsfälle - Linksfälle" erschienen sind. Das setzt, um in seiner Komik verstanden zu werden, eine Leserschaft voraus, die mit dem Stil wirklicher englischer Urteilsbegründungen vertraut ist; und ein solches Publikum gibt es eben - in England. Aber es müssen nicht einmal die westlichen Demokratien sein. Denken Sie einen Augenblick an die „Brüder Karamasow" (die wir hier nicht mit epitheta ornantia zu versehen brauchen), um sich dann die Frage vorzulegen: Was haben denn wir selbst auf diesem Gebiet vorzuweisen? W o erscheint die deutsche Justiz in der deutschen Belletristik, und wie erscheint sie da? O h , auch wir haben Justizromane. Wir haben den Fall „Maurizius" von Jakob Wassermann, den „Fall Deruga" von Ricarda Huch, und das „Ende einer Dienstfahrt" von Heinrich Boll. Wir haben aufrüttelnde Darstellungen des Strafvollzuges, etwa von Hans Fallada, dem Sohn eines Reichsgerichtsrats, aber ich wüßte nicht, daß sie unsere Öffentlichkeit wirklich aufgerüttelt hätten. Was den „Fall Maurizius" und das „Ende einer Dienstfahrt" betrifft, so glauben Sie bitte nicht, es könne hier um eine Kritik an diesen Büchern und ihren Verfassern gehen. Insbesondere soll hier nicht die Justiz gegen Kritik durch Gegenkritik in Schutz genommen werden. Es soll keineswegs bestritten werden, daß es bei unserer Justiz schwere Mißstände gibt, und es soll keineswegs dem Romancier als Nichtjuristen die Zuständigkeit bestritten werden, Kritik daran zu üben. Denn warum sollte einem Jakob Wassermann, dem der Große Brockhaus „leidenschaftl. Willen zur Verwirklichung der Gerechtigkeit" nachrühmt, warum sollte einem Heinrich Boll nicht gestattet sein, was einem Emile Zola gestattet war, oder wozu er sich doch, obwohl es ihm nicht gestattet war, das Recht nicht nehmen ließ? Unsere Kritik richtet sich gegen die stumpfe Interesselosigkeit, die bei uns ein sonst anspruchsvolles Publikum seiner eigenen Justiz entgegenbringt. Nur einem deutschen Lesepublikum konnte man so etwas vorsetzen; in jedem anderen Lande brächte das den Schriftsteller um sein Ansehen, bei uns nicht. Ein Mann aus gutem Hause, mit glänzenden Geistesgaben, aber eiskalt, mißbraucht als Staatsanwalt seine schönen Talente, um einen Unschuldigen zur Strecke zu bringen, indem er die Geschworenen mit einem psychologisch raffiniert berechneten Plädoyer überzieht; und das aus Ehrgeiz, der dann aber nicht weitergeht als bis zum Oberstaatsanwalt in Frankfurt. Richter und Verteidiger spielen gar keine Rolle. Die Erzählung knüpft lose an einen wirklich vorgekommenen Fall an, den des Rechtsanwalts Hau, der vielleicht, vielleicht aber auch nicht, unschuldig verurteilt, später begnadigt worden und durch Selbstmord

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geendet ist. - Es gibt in unserer Justiz, wie in jeder, Fehlurteile, darunter tief traurige und empörende Fälle. Sie können mannigfache Ursachen haben, darunter aber nicht die, daß jemals irgendwo in Deutschland ein derartiger Hermes Trismegistos - so nennt ihn bei Wassermann sein Sohn - Staatsanwalt gewesen wäre. Wogegen dieses Buch kämpft, das ist kein Ritter, sondern eine Windmühle. Die Leidenschaft ist ihm gewiß nicht abzusprechen, aber zur Verwirklichung der Gerechtigkeit trägt so etwas nicht bei. Die wirklich erforderliche Justizkritik bleibt Wassermann uns einfach schuldig. Und dassselbe gilt von Heinrich Boll. Er schildert uns eine Tat, deren krimineller Gehalt nicht größer ist als der Giftgehalt eines Mückenstichs. Es handelt sich um eine Sachbeschädigung, deretwegen kein Strafantrag gestellt worden ist, und mit der sich deshalb unsere Justiz in Wirklichkeit überhaupt nicht beschäftigen würde. Boll gibt aber zu verstehen, daß das nach unserer gesellschaftlich verfehlten Rechtsordnung eigentlich als eine Mordssache behandelt werden müßte, die aber - nur aus Gründen einer wiederum abwegigen Staatsräson - künstlich heruntergespielt werde. In Wahrheit spielt er sie hoch. Denn er läßt die Angeklagten zehn Wochen in Untersuchungshaft sitzen, eine veritable Voruntersuchung stattfinden und die Hauptverhandlung einen ganzen Tag dauern, vor einem Richter, der dem Leser als ein geradezu unverantwortlich milder „Humanitätslöwe" vorgestellt wird, in Wirklichkeit aber als wiider Mann auftritt, der unablässig mit „Verweisen", „strengen Verweisen" und Ungebührstrafen um sich schlägt und die Angeklagten auch richtig zu zehn Wochen Gefängnis verurteilt, zur Zufriedenheit aller Beteiligten und Unbeteiligten, auch der Presse, nur mit Ausnahme des Verfassers und des Lesers. Auf jeder Seite finden Sie größere oder kleinere Verfahrensschnitzer. Sie werden mich der Pedanterie zeihen. Aber wenn ein deutscher Roman in Davos spielt, wie der Zauberberg, oder in Venedig, wie „Die Rote" von Alfred Andersch, dann stimmt jede kleinste topographische Einzelheit. Geographische Schlampereien kann man dem Volk, das einen Alexander von Humboldt und einen Neckermann hervorgebracht hat, nicht anbieten. Aber wenn Heinrich Boll sich eine eigene Prozeßordnung ausdenkt - ä la bonne heure. Wie gesagt, keine Kritik an dem Buch und kein Vorwurf gegen den Verfasser. Wäre der Verfasser nicht Deutscher, so wüßte er als gebildeter Mann zuviel von der Justiz seines eigenen Landes, als daß er sich eine solche Geschichte einfallen lassen und dabei glauben könnte, die Justiz zu kritisieren oder wenigstens zu ironisieren. Und wären seine Leser nicht Deutsche, so hätte eine solche Veröffentlichung ihn seinen Schriftstellerruhm gekostet, wenn er überhaupt einen Verleger dafür gefunden hätte. Außerhalb unserer Grenzen werden Sie kein Land finden, in dem so etwas existenzfähig wäre, geschweige denn mit

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freundlichem Beifall aufgenommen würde. Und innerhalb unserer Grenzen suchen wir vergeblich nach Leistungen, die sich der erwähnten umfangreichen ausländischen Produktion auf diesem Gebiet an die Seite stellen ließen. Und das Ganze ist - deshalb habe ich es Ihnen vorgetragen, symptomatisch für die Rechts- und Justizferne unseres Volkes, die man sich gar nicht alarmierend genug vorstellen kann. Was ist zu tun? Wir können unsere Schriftsteller nicht zwingen, sich hinzusetzen und große aufrüttelnde Justizbestseller zu schreiben, die uns ins Gespräch bringen und aufbauende, wenn auch scharfe Kritik einleiten würden. Aber wir könnten mehr Selbstkritik entwickeln und unsere Alltagsarbeit in einer Weise verbessern, die den Abstand zwischen Volk und Justiz verringerte. Wir haben vielfach einen Verhandlungsstil, der die Öffentlichkeit aus unseren Gerichtssälen vergrault. Das läßt sich ändern. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen ist eine demokratische Forderung, sie ist unerläßlich für die Volkstümlichkeit der Justiz, und wir müssen es als wichtig erkennen, daß die Justiz sich ihr stellt, wenn sie „Justiz in der Demokratie" sein soll und will. Unser Verfahrensrecht schreibt deshalb „mündliche Verhandlungen" vor, aber wir haben sie weithin nicht. Gewiß wird niemandem der Weg verstellt, wenn er bei der Sitzung einer Zivilkammer zuhören will; aber er langweilt sich da zu Tode. Der eine Anwalt nimmt Bezug auf die Klageschrift, der andere sagt, er stelle den Antrag aus der Klagebeantwortung; vielleicht wird einiges erörtert, aber der Zuhörer kann beim besten Willen nicht verstehen, wovon eigentlich die Rede ist, weil die Sache nicht im Zusammenhang vorgetragen wird. So kommt er nicht wieder, und wir sind es zufrieden; wir finden es ganz bequem, unter uns Fachleuten zu sein. Aber das ist falsch. Es entspricht allenfalls dem Wortlaut, aber nicht dem Sinn des Gesetzes, und schon gar nicht dem Geist einer demokratischen Justiz. Das Beispiel einiger Zivilkammern, den ganzen Prozeß in einer einzigen Verhandlung zusammenzufassen, ist deshalb zu begrüßen und sollte Schule machen. Wir sollten unsere Kontaktschwäche, die vielleicht weithin auf Schüchternheit beruht, zu überwinden trachten. Schüchternheit paßt nicht zur Arbeit in der Justiz mit ihren oft tiefen Eingriffen in das Leben unserer Mitmenschen. Sie wirkt nicht selten als überhebliche Distanzierung. Bisweilen wird sie überkompensiert und führt dann zu unangebrachter Schroffheit oder gar zur Ironie, einer Haltung, die der Justiz ganz besonders schlecht ansteht, wenn sie demokratisch sein soll und will. Von Übel ist Schüchternheit im Umgang mit der Presse. Justizpressestellen sind eine gute Einrichtung, wenn sie Kontakte zwischen den Journalisten und den Richtern vermitteln. Sie sind ein Übel, wenn sie den Richter oder Staatsanwalt von den Vertretern der Massenmedien abschirmen. Einem Manne, dem zugetraut wird, in vernünftiger Weise

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über Freiheit, Ehre, Vermögen seiner Mitmenschen zu entscheiden, sollte erst recht zugetraut werden, und vor allem er selbst sollte es sich zutrauen, sich darüber in vernünftiger Weise mit einem Journalisten zu unterhalten. Gewiß, wir haben 1953 entschieden2, für einen erkennenden Richter empfehle sich gegenüber der Presse vor der Hauptverhandlung große Zurückhaltung; er wirke befangen, wenn er die dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgänge der Presse jetzt schon als feststehende Tatsachen mitteile. Aber das braucht er ja nicht zu tun. Dagegen gibt es doch nicht nur die Aushilfe, daß er sich überhaupt nicht sprechen läßt oder sich in völliges Schweigen hüllt. Es ist ganz natürlich, daß ein Journalist die Nachrichten immer möglichst frühzeitig haben will, am liebsten noch ehe die Dinge sich überhaupt ereignet haben. Aber daß das in diesem Falle nicht geht, kann der Richter ihm doch freundlich sagen; auch dazu darf er eben nicht zu schüchtern sein. Es sind nicht nur die Justizpressestellen, mit deren Hilfe eine fürsorgliche Obrigkeit die Staatsanwälte und Richter, häufig deren eigenen Neigungen entgegenkommend, vor dem rauhen Anhauch der öffentlichen Meinung zu bewahren sucht. Wir haben auch immer noch den §452 im Entwurf 1962 für ein neues Strafgesetzbuch, wonach mit Strafe bedroht werden soll, wer öffentlich den Ausgang eines Verfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die der amtlichen Entscheidung vorgreift3. Auch diese geplante Vorschrift entspricht der Neigung mancher Richter und Staatsanwälte, aber sie paßt durchaus nicht zur Rolle der Justiz in einer Demokratie, oder genauer, zur Rolle unserer Justiz in unserer Demokratie. In den angelsächsischen Ländern gibt es so etwas in der Tat. Dort befürchtet man aber nicht den Vorgriff auf die „amtliche" Entscheidung, sondern den unkontrollierbaren Einfluß auf die Meinung der Geschworenen, die in England und Amerika ja bekanntlich noch allein, in Abwesenheit des Berufsrichters, über den BGHSt. 4, 264. §452 des Entwurfs eines Strafgesetzbuches von 1962 (BT-Drucks. IV/650) hatte folgenden Wortlaut: „Störung der Strafrechtspflege. Wer öffentlich während eines Strafverfahrens vor dem Urteil des ersten Rechtszuges in Druckschriften, in einer Versammlung oder in Darstellungen des Ton- oder Fernseh-/Rundfunks oder des Films 1. den künftigen Ausgang des Verfahrens oder den Wert eines Beweismittels in einer Weise erörtert, die der amtlichen Entscheidung in diesem Verfahren vorgreift, oder 2. über das Ergebnis nicht amtlicher Ermittlungen, die sich auf die Sache beziehen, eine Mitteilung macht, die geeignet ist, die Unbefangenheit der Mitglieder des Gerichts, der Zeugen oder der Sachverständigen oder sonst die Findung der Wahrheit oder einer gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr, mit Strafhaft oder mit Geldstrafe bestraft. Dies gilt nicht für eine Erörterung, die sich auf Fragen des anzuwendenden Rechts beschränkt." 2

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Der Entwurf ist aufgrund der daran geäußerten Kritik nicht Gesetz geworden.

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Schuldspruch zu befinden haben. Sie erinnern sich an den Wirbel, den eine veröffentlichte Meinung des Präsidenten Nixon über die Schuldfrage im Manson-Prozeß verursacht hat. Aber das ist bei uns eben anders, bei uns können und müssen die Berufsrichter sich im Bedarfsfalle eben mit den angelesenen Vorurteilen der Laienrichter in der Beratung auseinandersetzen. Wenn man ihnen das nicht zutraut, wenn man etwa gar befürchtet, sie selbst könnten vor der veröffentlichten Meinung umfallen: Woher nimmt man denn dann überhaupt das geringste Vertrauen zu ihrer Unabhängigkeit? Richterliche Unabhängigkeit ist ohnehin immer eine Sache der Zivilcourage. Sie wird nicht dadurch gefördert, daß man die Justiz unter eine Glasglocke setzt. Eine Meinung über eine Sache ist kein Eingriff in eine Sache und greift der Entscheidung darüber nicht vor. Geheime Einflüsterungen, denen der Richter sehr leicht ausgesetzt sein kann, Bemerkungen im Kollegenkreise, am Stammtisch, in der Familie, waren viel gefährlicher als Meinungen, die veröffentlicht und damit einer Diskussion durch die Prozeßbeteiligten ausgesetzt werden. Welchen Wert behielte eigentlich unsere grundgesetzlich gewährleistete Meinungsfreiheit, wenn gerade solche Dinge von ihr ausgenommen würden, für die sich die Öffentlichkeit nun einmal interessiert, oder für die sie interessiert werden soll, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem die Äußerung noch praktischen Einfluß gewinnen kann? Warum eigentlich sollte die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß der Richter, wenn er unabhängig genug ist, sich auch einmal durch einen Presseartikel überzeugen läßt? Es könnte ja wundershalber auch einmal etwas Richtiges in der Zeitung stehen, und etwas, worauf er allein nicht gekommen wäre. Justiz in der Demokratie ist soviel wie Justiz in der frischen Luft der Öffentlichkeit. Freilich - „der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt". Ich bekenne Ihnen, daß ich auch schon öfter Angst vor der Öffentlichkeit gehabt habe. U m ein konkretes Beispiel zu nennen: Als ich mich in dem Mensurenprozeß ( B G H S t . 4, 24 ff) zu der Ansicht durchgearbeitet hatte, die dann der Freisprechung zugrundegelegt wurde, hat mir der Gedanke, was man dazu sagen würde, erheblich zu schaffen gemacht. Ich habe mir selbst Mut zusprechen müssen, um mir zu sagen: so ist es nach deiner besten Einsicht richtig, und so wird es gemacht. Wenn das einen öffentlichen Sturm gibt, dann muß er eben ausgehalten werden. Aber wie Sie wohl noch wissen, ist der Sturm ausgeblieben, und ich konnte über meine Sorgen lächeln. So ist es mir noch in einigen weiteren Fällen gegangen, und jeder dieser Fälle hat mir den Glauben gestärkt. Die deutschen Richter haben in Wirklichkeit gar keinen Grund, so schüchtern und ängstlich zu sein, wie sie es bisweilen sind. Wir sollten sie, wo es notwendig und irgend möglich ist, nach Kräften ermutigen. Es ist zwar ein ironischer, von Goethe dem Teufel in den Mund gelegter

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Rat: „Wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertrauen euch die andern Seelen"; aber ohne eine gewisse Portion Selbstvertrauen geht es in unserem Beruf nun einmal nicht. Urteilsgründe, auch und gerade bei höheren Gerichten, machen nicht selten den Eindruck, als hätten die Richter das Gefühl gehabt, sie müßten sich für ihre Meinungen entschuldigen. Dieser Eindruck entsteht vor allem dann leicht, wenn die Urteilsgründe sich auf „Autoritäten" berufen. Dabei ist in einer Sache, für die die Justiz zuständig ist, überhaupt keine höhere und keine andere Autorität denkbar als das gerade zuständige Gericht. Der Richter sollte sich darauf besinnen, daß er von nicht nur zuständigen, sondern auch urteilsfähigen Leuten an seine Stelle gesetzt worden ist, in dem Vertrauen, daß er der Beste sei, der sich gerade dafür finden ließ, und in der Erwartung, daß er an diesem Platz seine eigenen Meinungen zur Geltung bringen werde. Es ist nicht das richtige richterliche Selbstverständnis, wenn er dann in seinem Urteil sagt, nicht nur er, sondern auch Professor Meier sei dieser oder jener Ansicht. Die Ansichten von Professor Meier in Ehren; gewiß sollte der Richter, wenn er vor zweifelhaften und schwierigen Fragen steht, auch möglichst alles gelesen haben, was sich darüber an Veröffentlichungen ernstzunehmender Gelehrter finden läßt. Aber da sich das von selbst versteht, braucht der Richter nicht durch einen wissenschaftlichen Apparat in seinem Urteil nachzuweisen, daß er dieser Pflicht nachgekommen ist. Wenn fachkundige Leser das Urteil zu sehen bekommen, merken sie das ohnehin. Professor Meier nimmt dem Richter so oder so nicht ein L o t von der Verantwortung ab, die er vor den Prozeßbeteiligten und vor der Allgemeinheit für seine Entscheidung zu tragen hat. Die Autorität eines Richterspruchs hat einen anderen Inhalt und sie bezieht sich auf etwas anderes als die Autorität einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Was der Gelehrte schreibt, was vielleicht auch der Richter selbst als das Ergebnis privater Überlegungen veröffentlicht, das hat sein Gewicht durch die systematische Geschlossenheit, durch den Gedankenreichtum, durch die Freiheit von innerem Widerspruch, durch die Widerlegung von Gegenmeinungen und gewiß zum Teil auch durch die Vereinbarkeit mit anderen Veröffentlichungen, durch die aktive Teilnahme an der unablässigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, übrigens nicht zuletzt auch durch die Freiheit der Themenwahl. D e r Richterspruch dagegen ist ein Stück gemeinsamen Lebens zweier Menschen: dessen, der vor Gericht steht, und dessen, der zu Gericht sitzt. Gewiß, er ist auch ein Staatsakt; aber das ist nicht so wichtig. Das Besondere am Justizdienst in einer modernen Demokratie liegt darin, daß hier der Staat noch Menschenantlitz trägt, daß der Mensch, der für den Staat handelt, der Richter, dem Betroffenen noch sein eigenes Gesicht zeigt. An fast allen anderen Stellen ist der Staat zum Apparat

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geworden. „Der Regierungspräsident" (um nur ein Beispiel zu nennen), das ist eine Behörde. Es gibt zwar auch einen Menschen, der persönlich diese Bezeichnung trägt; aber gerade mit ihm hat man es fast niemals zu tun, wenn man „an den Regierungspräsidenten" schreibt oder einen Brief von ihm bekommt. Man hat es überhaupt mit keinem Menschen zu tun, denn selbst der Unterzeichner des Briefes hat ihn meist auf Weisung eines anderen oder auf Vorschlag eines anderen abgeschickt. Und das ist bei der Justiz noch anders: Der Mensch oder die Menschen, die da hinter dem Richtertisch sitzen und ihr Gesicht sehen lassen, sind es selbst und allein, die über die Sache entscheiden. Auch bei uns ist das gefährdet. Von oben her, vom Bundesverfassungsgericht und den Obersten Bundesgerichten, beginnen wissenschaftliche Hilfsarbeiter ihren Einzug in die Justiz zu nehmen. Kein Geringerer als Hermann Weinkauff hat gefordert, daß die Zahl der Richter drastisch vermindert, dafür aber der zukünftige Richter mit Hilfsarbeitern umgeben werde, die ihm die Kärrnerarbeit abnehmen. Ich hielte das für eine tief bedauerliche Entwicklung, die das zwischenmenschliche Verhältnis zwischen Richtern und „Gerichteten" zerstören würde. Niemand wüßte mehr, in wessen Kopf das Urteil ins Leben getreten wäre. Die Verantwortung wäre unklar geteilt. Betrachten Sie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ihre Gründe führen nicht immer die Sprache selbstbewußter höchster Richter der Nation, die gewiß sind, daß man ihrer Weisheit vertraut; weithin lesen sich die Gründe wie hochintelligente, fleißige Ausarbeitungen einer Elite jüngerer Juristen. Ohne die geringste Beanstandung gegen die Qualität dieser Leistungen erheben zu wollen oder zu können, halte ich das doch nicht für den richtigen Stil. Von dem menschlichen Verhältnis zwischen der Justiz und ihren Klienten kann und sollte auch dem Hilfspersonal, den Schreibkräften, der Registratur, dem Aktendienst ein Hauch vermittelt werden. Es ist schon eine Reihe von Jahren her, da habe ich den Beamten und Angestellten meiner sehr kleinen Dienststelle gesagt: Vergessen Sie nicht, daß zu jeder Akte, die auf Ihren Aktenbock kommt, ein Mensch gehört. Er wartet mit der größten und verständlichsten Ungeduld auf die Entscheidung. Es hängt viel für ihn davon ab, ob er seine Wohnung beibehalten, seine Familie zusammenhalten, eine neue Arbeit antreten kann und vieles andere. Viele von diesen Leuten sind in Haft. Wenn Sie die Akte bis morgen liegen lassen, sitzt der Mensch einen Tag länger in Haft, nur Ihretwegen. Stellen Sie sich vor, Sie wären das. Denken Sie daran, wie Sie sich ärgern, wenn man Sie auf wichtige Nachrichten warten läßt. Ich habe das in all den Jahren niemals zu wiederholen brauchen. Das Erstaunlichste an dem Verhältnis zwischen unserem Volk und seiner Justiz ist für mein Empfinden der Gleichmut, mit dem bei uns die Langsamkeit der Rechtsprechung hingenommen wird. Vor einigen Jah-

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ren wurde in England bekannt, daß einige Angeklagte, die gegen ihre Verurteilung Berufung eingelegt hatten, mehr als drei Monate auf ihren neuen Termin hatten warten müssen. Das gab einen Sturm der öffentlichen Empörung. Der Sache wurde nachgegangen, und es stellte sich heraus, daß es an Schreibkräften gefehlt hatte, um die Aufzeichnungen, die sich in England der Richter in der Verhandlung macht, also sozusagen das Sitzungsprotokoll, für die höhere Instanz ins Reine zu schreiben. Die öffentliche Meinung erzwang in kürzester Zeit Abhilfe. Zwar lieben die Engländer, anders als die Deutschen, ihre Justiz, aber so etwas lassen sie ihr nicht durchgehen. Englands großer Dichter zählte ja auch „des Rechtes Aufschub" zu den Gründen, aus denen man sich das Leben nehmen kann. Bei uns ist es durchaus keine Seltenheit, daß die Akten ein Jahr oder länger nach dem Tage bei mir eingehen, an dem der Verurteilte Revision eingelegt hat. Das ist auch gar kein Geheimnis. Kein Mensch regt sich darüber auf, kaum die Betroffenen selbst. Das ist Justiz in einer anderen Demokratie. Ein solcher Mißstand kann eines Tages zu einem bösen Erwachen führen. Vielleicht ist es für das künftige Verhältnis unseres Volkes zu seiner Justiz entscheidend, welcher dieser beiden Schläfer als erster aufwacht.

Täterstrafrecht und Rechtsstaat"' (nach 1967) Täterstrafrecht und Rechtsstaat sind zwei Wünschbarkeiten, die sich bisweilen durchaus nicht miteinander vertragen. Es scheint ein lohnendes Ziel, die strafende Gerechtigkeit als einen Dienst des Richters am Verbrecher auffassen zu lernen. Der Beruf des Strafrichters scheint das Gewissen weniger zu belasten, wenn man das menschliche Verständnis für den Gestrauchelten als den Ausgangspunkt allen Straf ens ansehen könnte. Daß solches Verständnis größere Mühe verursachte, wäre in Kauf zu nehmen. Daß es die Dauer der Hauptverhandlung verlängerte, wäre zu ertragen. Daß man eines oder mehrerer Sachverständiger bedürfte, um tiefer in das Wesen des Angeklagten eindringen zu können, damit müßte man sich abfinden. Aber bei diesem Stichwort kommen dem schlichten Praktiker schon die ersten Bedenken. Sachverständige kosten nicht nur Geld; das müßte uns die Sache wert sein. Aber Sachverständige brauchen auch Zeit, bisweilen viel Zeit; und um diese Zeit verlängert sich das Verfahren. U m diese Zeit verlängert sich, wenn der Angeklagte in Untersuchungshaft ist, die Dauer dieser Haft. Hier haben Sie den ersten Konflikt zwischen der täterstrafrechtlichen Gerechtigkeit, die ein möglichst verständnisvolles Eingehen auf Wesen und Besonderheit des angeklagten Mitmenschen fordert, und der Rechtsstaatlichkeit, die entsprechend der Menschenrechtskonvention eine Aburteilung innerhalb angemessener Frist gebietet. Nun mag man das noch für den unausweichlichen Widerstreit zwischen „Richtigkeit und Fixigkeit" halten, den der erfahrene Praktiker mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl schon irgendwie lösen wird. Indessen gibt der Richter, der sich die Wesensart eines Angeklagten durch einen Psychiater oder Psychologen erklären läßt, zwangsläufig einen Teil der Verantwortung aus der Hand; der Verantwortung nicht nur für die Entscheidung (das mag angesichts der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung aller Wissensgebiete unumgänglich erscheinen), sondern auch der Verantwortung für das Verfahren und dessen Rechtsstaatlichkeit, der Verantwortung für das, was jetzt in den Händen des Sachverständigen mit dem Angeklagten geschieht. Es wäre sehr bequem, sich dabei zu beruhigen, daß der Sachverständige ja ein Arzt

Vortragsmanuskript aus den Jahren 1967 bis 1970.

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ist, der dem hippokratischen Eid unterworfen ist, und von dem der Angeklagte also nichts als das Beste zu erwarten habe. Das wäre ein Mißverständnis, dem manche Angeklagten geradezu zum Opfer fallen. Sie glauben vor dem Sachverständigen, weil er ein Arzt ist, ärztliche Methoden anwendet und ärztliches Verständnis zeigt, nicht so sehr auf der Hut sein zu müssen. Sie sind vor ihm viel wehrloser als im Beistand eines Verteidigers vor dem Richter; sie sind ihm ganz anders ausgeliefert, schon weil sie meist gar nicht überschauen können, unter welchen Gesichtspunkten er seine Fragen stellt und in welchen Zusammenhang er ihre Antworten einordnen wird. Alle die schützenden Formen, mit denen der Gesetzgeber das Strafverfahren ausgestattet hat, büßen bei der Exploration des Angeklagten durch einen ärztlichen Sachverständigen ihre Wirksamkeit weithin ein. Das gilt etwa von unserem § 136 a StPO, auf dessen Rechtsstaatlichkeit wir so stolz sind. Wir haben es erlebt, daß ein Sachverständiger den Angeklagten, „weil dieser verstockt war und auf Fragen kaum mehr als ein Ja oder Nein zur Antwort gab", mit Pervitin zum Reden gebracht und ihm so unter anderem immerhin die Äußerung entlockt hat, er „hätte von der beabsichtigten Tötung abgesehen, wenn er mit der Todesstrafe hätte rechnen müssen"; und aus dieser durch Pervitin enthemmten Äußerung schlossen dann Gericht und Sachverständiger auf sein Hemmungsvermögen (BGHSt. 11, 211). Das Ganze hatte nur dadurch zu unserer Entscheidung kommen können, daß der Sachverständige in seiner harmlosen Unvertrautheit mit den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen Verfahrens diesen Hergang in seinem Gutachten selbst zu Papier gebracht hatte, ersichtlich ganz stolz auf den schönen Erfolg seiner kriminalistischen Methoden. Aber ganz so harmlos sind nicht alle; ob dagegen alle anderen wissen und respektieren, daß es das gute Recht eines Angeklagten ist, „verstockt" zu sein und auch einem Sachverständigen - wenn überhaupt - nur mit Ja und Nein zu antworten: das ist eine bange Frage, von der man froh sein könnte, wenn jemand sich getraute, sie mit Ja zu beantworten! Übrigens haben Sie hier ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie das Bemühen, einen Angeklagten zu verstehen, in ausgesprochene Unfairneß einmünden kann. Auch ohne Pervitin und ohne Sachverständige werden Angeklagte ja manchmal gefragt, ob sie das Tötungsdelikt auch dann begangen haben würden, wenn es die Todesstrafe noch oder wieder gäbe. Diese Frage ist nicht fair. Denn erstens kann der Angeklagte das nicht wissen. Die psychische Situation vor einem Morde ist nur ausnahmsweise so, daß der Täter über die Strafdrohung nachdenkt. Und zweitens wird der Angeklagte mit dieser Frage vor die Wahl gestellt, sich entweder selbst als einen blutrünstigen Mörder hinzustellen, dem alles gleichgültig ist, oder seine Tat als das Ergebnis eines gelassen kalkulierten Risikos erscheinen zu lassen. Aus diesem Grunde

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ist der Erkenntniswert einer solchen Frage verschwindend gering. Sie ist weniger dazu geeignet, den Angeklagten besser zu verstehen, als dazu, Stimmung gegen ihn und für die Todesstrafe zu machen. Nicht nur die rechtsstaatliche Einhaltung des § 1 3 6 a S t P O ist in der Hand des Sachverständigen gefährdet. In der neuesten (3.) Auflage des Ponsoldschen Lehrbuchs der Gerichtlichen Medizin (1967) finden Sie einen Beitrag von drei durchaus namhaften Verfassern, darunter leider auch einem Richter, über Sittlichkeitsdelikte. Der erste Absatz (S. 144) endet mit dem Satz: „Die Befragung des Ehepartners, auch über Art und Umfang der geschlechtlichen Beziehungen zueinander, ist besonders wichtig." Kein Wort in diesem Beitrag, kein Wort überhaupt in dem ganzen Buch, auch nicht in seinem sonst guten juristischen Teil (von Bockelmann, S. 1 ff), darüber, daß die Ehefrau gar nicht verpflichtet ist, in einem Verfahren gegen ihren Mann auszusagen, darüber, daß ihr das gesagt werden muß, oder gar darüber, daß überhaupt niemand verpflichtet ist, einem Sachverständigen die Wahrheit zu sagen. Der Gesetzgeber hat es sich angelegen sein lassen, nicht nur den Richter, sondern neuerdings auch den Staatsanwalt und sogar den Polizeibeamten zu einer ausdrücklichen Belehrung über Zeugnisverweigerungsrechte zu verpflichten ( § § 5 2 Abs. 2, 163 a Abs. 5 StPO). Es kann unmöglich die Meinung sein, diese manchmal unbequeme Verpflichtung lasse sich dadurch umgehen, daß man einfach einen Sachverständigen unbelehrt und ungestört in der Familie des Angeklagten herumexplorieren läßt. Dabei bliebe es dem Zufall überlassen, ob diese bedenkliche Art der Ausforschung und ihr etwaiger Einfluß auf Gutachten und Urteil später nachzuprüfen und zu beseitigen wäre. Ganz abgesehen von der rein prozeßrechtlichen Bedenklichkeit solcher Explorationen wird hier noch etwas anderes sichtbar. D e m Verfahrensrecht könnte ja Genüge getan werden, wenn man dem Sachverständigen entweder eine Belehrungspflicht oder ein Verwertungsverbot auferlegte. Auch die Sorge, daß der ausgefragte Angehörige vor dem Sachverständigen viel weniger als vor einem Richter, Staatsanwalt oder Polizeibeamten überblicken kann, welche Rolle sein Geplauder für das Ergebnis spielen mag - auch diese Sorge läßt sich vielleicht noch überwinden. Aber der tiefe Eingriff in die Intimsphäre einmal des Angeklagten selbst, zum anderen seiner an der Tat unbeteiligten Frau: ist das eigentlich noch etwas, was eine rechtsstaatliche Strafrechtspflege (in deren Namen und Auftrag wird doch der Sachverständige tätig) sich mit einem beschuldigten und einem unbescholtenen Menschen überhaupt erlauben sollte? Angesehene Sachverständige, weltberühmte Psychiater haben da bisweilen keinerlei Hemmungen. Für den rechtsstaatlichen Gedanken, daß im Gerichtsverfahren, im Dienste der strafenden Gerechtigkeit, die Wahrheit eben nicht um jeden Preis erforscht

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werden darf, finden wir bei ihnen vielfach selbst dann kein Verständnis, wenn wir es ihnen ausdrücklich sagen. Wenn man ihnen entgegenhält, daß rein prozeßrechtlich die Angaben von zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen aus den Grundlagen des Gutachtens wieder ausgeschieden werden müßten, sobald das Zeugnis später tatsächlich verweigert wird, sind sie imstande, einem zu erwidern, das sei nicht schlimm, denn bei diesen Anhörungen der Angehörigen komme ohnehin nur sehr ausnahmsweise einmal etwas Verwertbares heraus. Und wenn man dann fragt, ob es unter solchen Umständen nicht möglich sei, von vornherein darauf zu verzichten, dann können sie einem das Wort „Wahrheit" mit solchem Pathos entgegenschleudern, als sei es das Prinzip der Wissenschaftlichkeit selbst, dem man rechtsstaatliche Bedenken entgegengehalten habe. Wir aber müssen daran festhalten, daß ein Rechtsstaat sich derart zudringliche Eingriffe in den intimsten Bereich auch eines Straftäters und seiner Familie nur dann erlauben darf, wenn ein gewisses Mindestmaß an Verhältnismäßigkeit zwischen der Empfindlichkeit des Eingriffs und der praktischen Erfolgsaussicht besteht. Letztes Verständnis für das psychische Zustandekommen eines verbrecherischen Vorsatzes vermitteln uns die Sachverständigen ja auch bei bedenkenlosestem Tiefschürfen ohnehin nicht. U m so weniger sollte es uns schwerfallen, dem Erkenntnisdrang und dem Bemühen um Verständnis der Psyche eines Angeklagten schon etwas früher eine rechtsstaatliche Grenze zu ziehen und sie auch dem Sachverständigen gegenüber durchzusetzen. Versetzen Sie sich selbst in die Lage eines solchen Angeklagten. Glauben Sie nicht, daß Sie es eher ertragen würden, auf der Grundlage derjenigen Motivation Ihrer Tat bestraft zu werden, die dem unbefangenen Blick als die nächstliegende erscheint, als um den Preis zudringlichsten Ausgefragtwerdens die entfernte Chance einer etwas milderen Strafe, gleichzeitig aber auch das mindestens ebenso große Risiko strengerer Bestrafung einzutauschen? Zweifellos würden auch dem Angeklagten und seinen Angehörigen selbst, als juristischen Laien, öfter und in höherem Maße von vornherein solche Bedenken kommen, wenn sie ihr Innerstes dem Sachverständigen nicht unter vier Augen, sondern in einer Hauptverhandlung oder auch nur bei einer richterlichen oder staatsanwaltlichen Vernehmung ausbreiten sollten. Ein solches Verfahren entspräche natürlich der Rechtsstaatlichkeit unserer geltenden Strafprozeßordnung, nämlich deren § 8 0 . Aber davon wird so gut wie niemals Gebrauch gemacht. Denn das wissen die Sachverständigen so gut wie wir es wissen: unter vier Augen mit einem Arzt plaudert es sich ungezwungener und auch etwas unverantwortlicher als im Beisein eines Vernehmungsrichters oder -beamten oder gar in einer öffentlichen Hauptverhandlung. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, die leider alle beide nicht ganz so rechtsstaatlich sind,

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wie das Gesetz es haben will: entweder wird das, was die Auskunftsperson dem Arzt insgeheim anzuvertrauen glaubte, durch ihn dem Gericht öffentlich zur Begründung seines Gutachtens vorgetragen; oder er teilt es dem Gericht nicht oder in verkürzter Fassung mit, wobei er den Richtern die ihnen zustehende und obliegende Beweiswürdigung gleich abnimmt, ihnen die tatsächlichen Grundlagen seines Gutachtens nicht vollständig unterbreitet. Hier haben wir es also oft mit einer wenig rechtsstaatlichen Täuschung, oft mit einer erst recht nicht rechtsstaatlichen Verletzung des rechtlichen Gehörs zu tun. Aber alle diese Schwierigkeiten, die man bei der Erforschung einer Täterpersönlichkeit mittels psychiatrischer oder anderer Sachverständiger im Prozeß erleben kann, sind nur ein Paradigma, geeignet, sich die Aufgabe konkret zu vergegenwärtigen. Sie beruhen hier zu einem Teil auf der Verschiedenheit medizinischer, naturwissenschaftlicher Arbeitsweise auf der einen, juristischen Denkens auf der anderen Seite; oder sagen wir ruhig: auf dem Unterschied zwischen juristischer und laienhafter Betrachtungsweise. Insoweit ist für uns Juristen das Problem wenigstens grundsätzlich, wenigstens der Idee nach lösbar. Soweit Konflikte zwischen rechtlicher und außerrechtlicher Arbeitsweise in unserem eigenen Zuständigkeitsbereich, also etwa in einem Strafverfahren auftreten, sind immer wir selbst zur Entscheidung berufen, und zwar zur Entscheidung gemäß den uns vertrauten und anvertrauten rechtlichen Regelungen. Sie haben wir in unseren Gerichtssälen gegen die Vertreter anderer Fächer durchzusetzen, auch wenn das anerkannte, vielleicht weltberühmte Kapazitäten sind, und auch wenn sie es uns nicht leicht machen. Solche Kämpfe haben auch ihr Gutes. Sie rufen uns ins Bewußtsein, daß zwar der Appell an Wahrheit und Gerechtigkeit oder was man dafür hält - leicht ist und auch bei Laien leicht Gehör findet, daß aber die Erfordernisse des Rechtsstaats sich dem unbefangenen laienhaften Gefühl viel schwerer erschließen und daß sie verloren sind, wenn nicht wir Juristen ihre Partei nehmen. Mit diesem Bewußtsein lassen Sie uns nun einen Widerstreit betrachten, der darauf beruht, daß sich die Erkenntnis und das geistige Fortschreiten während der letzten hundert Jahre auch innerhalb unseres eigenen Fachs spezialisiert und auseinander, ja gegeneinander entwickelt haben. Gemeint ist die Entwicklung des materiellen Strafrechts einerseits, des Strafverfahrens andererseits; des materiellen unter dem Gesichtspunkt einer immer weiter getriebenen Subjektivierung (von der das Schlagwort „Täterstrafrecht" nur einen Teil kennzeichnet); des Verfahrensrechts unter dem Gesichtspunkt einer angestrebten, zunächst auch teilweise erreichten, dann wieder verlorenen und von neuem anzustrebenden Rechtsstaatlichkeit. Diese beiden Richtungen sind Kollisionskurse; folgerichtige Subjektivierung des Strafrechts und folgerich-

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tiges Anstreben des Rechtsstaats muß zu Zusammenstößen führen. Richtigerweise können Strafrecht und Strafprozeß nur als Einheit begriffen und entwickelt werden. Die beiden Rechtsgebiete sind viel enger aufeinander bezogen, als etwa materielles Zivilrecht und Zivilprozeß. Das bürgerliche Recht vollzieht sich regelmäßig außerhalb des Gerichtssaals. Von einer Vorschrift, die in der überwiegenden Zahl der Fälle oder gar ausnahmslos erst durch Richterspruch durchgesetzt werden müßte, könnte man geradezu sagen, sie „gelte" gar nicht. Das ist im Strafrecht anders. Hier verwirklicht sich das materielle Recht ausnahmslos in einem Gerichtsverfahren. Hier könnte man einer Vorschrift also dann und deshalb die „Geltung" absprechen, wenn und weil sie im Verfahren nicht praktikabel ist. Diese Frage prozessualer Praktikabilität bedürfte also bei der Entwicklung von Regeln des materiellen Strafrechts jeweils der Untersuchung. Das ist weithin in Vergessenheit geraten. Das erste „Reichsstrafgesetzbuch", die Carolina, war gleichzeitig die erste „Reichsstrafprozeßordnung". In ihr waren nicht nur beide Rechtsgebiete geregelt; sondern in ihr waren sie auch aufeinander bezogen. Sie enthielt nicht nur allgemeine Beweisregeln (Erforderlichkeit zweier „gnugsamer" Zeugen); sondern sie regelte für jedes einzelne Delikt besonders, was hier als ausreichendes (nämlich die Folter gestattendes) Indiz gelten könne. Dieser Zusammenhang zwischen materiellem und prozessualem Recht ist uns etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts völlig verlorengegangen. Die gesetzliche Regelung des Beweisrechts, die ihr zugrundeliegende richterliche und gesetzgeberische Erfahrung und die obergerichtliche Kontrolle der Handhabung wurden mit Einführung der Schwurgerichte mit einem Schlage über den Haufen geworfen. Die gesetzlichen Beweisregeln wurden durch die „conviction intime", die freie Beweiswürdigung abgelöst. Die in der Würdigung von Beweisen erfahrenen Berufsrichter wurden durch Laien ersetzt. Ihr „Wahrspruch" bedurfte keiner Begründung und war dadurch jeder rationellen Nachprüfung entzogen. Gewiß erkannte man diese verfahrensrechtliche Entwicklung schon bald als zu stürmisch und machte sie zu einem guten Teil wieder rückgängig. Aber der verlorengegangene Zusammenhang zwischen den beiden Rechtsgebieten, dem Strafrecht und dem Prozeß, war nicht mit einem Federstrich des Gesetzgebers wiederherzustellen. Inzwischen hatten sie sich nämlich spezialisiert. Gewiß war das nur eine Teilerscheinung der allgemeinen Spezialisierung, die heute alle Gebiete unseres Lebens und Wissens kennzeichnet. Aber für das Strafrecht war sie besonders verhängnisvoll. Zweifellos läßt sich das gesamte Strafrecht nicht anders lehren und lernen, als durch systematische Aufteilung in materielles und prozessuales Recht. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, daß es sich um die

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beiden Seiten einer und derselben Münze handelt, und daß die Trennung nur gedanklich, nur theoretisch, nur vorläufig möglich und nur zu didaktischen Zwecken zulässig ist. In der Wirklichkeit kann es sie nicht geben. Keine Vorschrift des Strafprozeßrechts kann irgendeinen Sinn haben, den sie nicht jeweils aus der Beziehung auf die Anwendbarkeit einer ganz konkreten Vorschrift des materiellen Rechts entnimmt. Keine Bestimmung des Allgemeinen oder Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs kann außerhalb von Strafprozessen Leben gewinnen. Die Spezialisierung hat inzwischen so weit geführt, daß es Strafrechtslehrer gibt, die dem Prozeß kaum Interesse entgegenbringen; und umgekehrt. D e r Gesetzgeber hat es in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für möglich gehalten, zunächst das materielle Recht und erst Jahre später das Verfahrensrecht zu vereinheitlichen (auf zivilrechtlichem Gebiet ist er umgekehrt verfahren). Gegenwärtig betreibt man „große" Strafrechtsreform und „kleine" Strafprozeßreformen völlig unabhängig nebeneinander. Die eine weiß kaum von der anderen; zur Begründung wird uns gesagt, daß die Kräfte des Ministeriums für beides zugleich nicht ausreichen. So entsteht aber die Gefahr gegenläufiger Bewegungen. Während das Täterstrafrecht der Tendenz folgt, immer tiefer in das Innere des schuldig gewordenen Menschen einzudringen, sucht das Verfahrensrecht den Angeklagten gegen solche Zudringlichkeit nach Kräften zu schützen. Das materielle Recht will sich nicht mehr damit begnügen, den Rechtsbrecher für das zu strafen, „was seine Taten wert sind"; es will ihn verstehen, es will herausfinden, welche Kräfte ihn vielleicht determiniert haben. Aber gerade gegen diese Versuche schirmt der Prozeß ihn in steigendem Maße ab. E r hatte schon immer das Recht zu schweigen; aber das wurde nicht sehr ernst genommen, und es wurde wenig Gebrauch davon gemacht. Das Sprechen pflegte ihm in mehr oder minder einwandfreier Weise „nahegelegt" zu werden. D e m baut das Prozeßrecht neuerdings vor; er muß auf sein Schweigerecht hingewiesen werden, und das beginnt sich allmählich auch herumzusprechen. Wir können uns nicht aussuchen, was wir für „gerecht" halten wollen. Damit ist nicht gemeint, daß wir Richter dem Gesetz unterworfen sind. Das sind wir ohnehin. Aber auch der Gesetzgeber kann nicht willkürlich bestimmen, was „gerecht" sein soll. Die Gerechtigkeit des Strafrechts ist eine sich geschichtlich entwickelnde und Änderungen unterworfene Forderung. Es ist ganz unverkennbar, daß sie sich im Laufe der Jahrtausende vom Objektiven zum Subjektiven hin gewandelt hat; und die Annahme liegt nahe, daß sie sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch weiter in dieser Richtung entwickeln wird. D e m Kenner der Rechtsgeschichte brauchen nur einige Stufen des bisher zurückgelegten Weges angedeutet zu werden; wir müssen ihn nicht belehren, sondern brauchen ihn nur zu erinnern. Odipus glaubte einen Fremden zu

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erschlagen; das war nicht strafbar. Er heiratete eine Frau, von der er nicht wußte, daß sie seine Mutter war. E r verwirklichte ohne Vorsatz und wohl auch sogar ohne Fahrlässigkeit den objektiven Teil zweier Straftatbestände: des „Aszendententotschlags" und der Blutschande. Wir würden ihn heute, mangels des subjektiven Tatbestandes, „schuldlos" nennen. Das fiel damals niemandem ein; nicht einmal er selbst zweifelte an seiner „Schuld", und er glaubte, „Strafe" zu verdienen. Es bedurfte eines Sophokles, um der damaligen Welt zu zeigen - nicht etwa, daß keine Schuld gegeben sei; sondern daß die Schuld tragisch war. Es war ein großer Schritt auf dem langen Wege, als man eines Tages wenigstens das Walten des blinden Zufalls, die „Ohngefährwerke" aus dem Bereich der strafbaren Schuld ausschied. Das geschah zunächst tastend, in kasuistischer Weise. So wurde etwa die Tötung beim Baumfällen als nicht strafwürdig angesehen; übrigens ohne Rücksicht darauf, ob sie im Einzelfall nicht doch vorsätzlich oder fahrlässig geschehen war. Die Strafausschließung knüpfte an etwas ganz Äußerliches an, nur weil es wohl dem dumpfen Gefühl typisch für Schuldlosigkeit schien. Ein anderer Punkt auf dem Wege der Subjektivierung wurde erreicht, als man begann, unter gewissen Umständen den Versuch strafwürdig zu finden. Bis dahin hatte man sich dabei beruhigt, daß „nichts geschehen", ein äußerer Erfolg nicht eingetreten war. Jetzt fing man an, den über das Erreichte hinausgehenden bösen Willen als „Schuld" aufzufassen. Auch das geschah anfänglich in plump kasuistischer Form; so wurde der „Wasserwurf" bestraft, nicht unter dem Gesichtspunkt des Gefährdungsdelikts, sondern unter dem des typischen Mordversuchs. Dabei wurde aber den Richtern wiederum nicht die Aufgabe gestellt, in concreto den Tötungswillen festzustellen. Vielmehr begnügte man sich mit der Typizität des äußeren Hergangs für diesen Vorsatz. Es ist bekannt, wie langsam und mühevoll diese Vorstellungen klarer, allgemeiner, abstrakter wurden. Gewiß ist auf diesem Wege auch das letzte Ziel noch nicht erreicht. So wird man es gewiß als etwas plump empfinden können, daß unser geltendes Recht die Strafbarkeit des Versuchs bei gewissen Delikten schematisch an die Höhe der Strafdrohung knüpft, so daß also etwa der Versuch des Meineides strafbar, der Versuch einer uneidlichen Falschaussage nicht strafbar ist, obwohl die beiden Delikte in ihrer Begehungsweise wenig verschieden sind. Am Beispiel des Versuchs läßt sich übrigens zeigen, daß die Entwicklung, von der hier die Rede ist, noch zu unseren Lebzeiten wirksam war. Erst 1943 ist die obligatorische durch eine fakultative Milderung der Versuchsstrafe ersetzt worden. Das ist eine kleine, aber - in unserem S i n n e signifikante Änderung. Ihre praktische Bedeutung beschränkt sich darauf, daß für den Versuch nunmehr die gesetzliche Höchststrafe oder die absolute Strafe zulässig geworden ist. Das setzte bis 1943 den Eintritt des

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Erfolges voraus. Daß es auf ihn jetzt nicht mehr schlechthin ankommt, ist ein grundsätzlicher Schritt in der seit Jahrtausenden vorgezeichneten Richtung auf die Subjektivierung. In dieser Richtung trägt nun zeitweilig die Rechtswissenschaft, zeitweilig die Gesetzgebung, zeitweilig die Rechtsprechung den Stab voran. Ein wichtiger und auch praktisch wirkungsvoller Teil der wissenschaftlichen Arbeit wird eben durch unser Stichwort „Täterstrafrecht" bezeichnet. Hier war es die Wissenschaft, die den Gesetzgeber und die Rechtsprechung mit Erfolg angehalten hat, sich nicht nur um die Tat, sondern mehr noch um den Täter zu kümmern; das heißt aber praktisch: um sein Subjektives. Ein Beispiel für die subjektivierende Wirksamkeit der Rechtsprechung - hier übrigens gegen den Widerstand der Wissenschaft - ist die vom Reichsgericht praktizierte „subjektive Teilnahmelehre". An ihr läßt sich besonders deutlich zeigen, wie sehr die Rechtsstaatlichkeit gefährdet werden kann, wenn man sich ohne Blick auf das Verfahren seinen Vorstellungen über die materielle Gerechtigkeit überläßt. Gewiß kann man die „extrem"-subjektive Teilnahmelehre des Reichsgerichts nicht nur mit scharfsinnigen Überlegungen aus der Bedingungstheorie begründen, sondern man kann auch glauben, daß es besonders gerecht sei, zwischen Täterschaft und Teilnahme rein nach dem Subjektiven des Ausführenden oder Helfenden zu unterscheiden. Aber wie sieht das nun in der gerichtlichen Praxis aus? Der Richter kann dem Angeklagten nicht ins Herz sehen; er kann zwar niederschreiben, der habe den animus auctoris oder den animus socii gehabt, aber er kann das nicht in einer Weise wirklich feststellen, die modernen rechtsstaatlichen Anforderungen wirklich genügt. So schwer die wahre psychische Beziehung eines Mitwirkenden zu einer Tat Gegenstand wirklicher richterlicher Uberzeugung werden kann, so leicht ist es, in die Urteilsgründe zu schreiben: der Angeklagte wollte die Tat als eigene. Die Bedenklichkeit eines solchen Verfahrens zeigt sich, wie so oft, wenn der Richter übertreibt und in der Absicht besonderer Verdeutlichung etwa sagt: er wollte sich die Tat „als eigene zurechnen lassen". Das ist nun, wenn man es wörtlich nehmen wollte, und wenn es sich nicht etwa um einen Angeklagten handelt, der für den Winter Unterkunft im Gefängnis sucht, von lächerlicher Unglaubwürdigkeit. Wenn es darum geht, sich die Tat zurechnen zu lassen, dann wollen die meisten Angeklagten just das natürlich nicht, sogar dann nicht, wenn sie die Tat ganz allein geplant und ausgeführt haben, so daß die Frage nach Täterschaft oder Teilnahme gar nicht auftreten kann. Die Subjektivität des materiellen Strafrechts enthält für den Richter eine Versuchung zur Willkür; eine Versuchung, den animus socii eben dann festzustellen (oder doch als unwiderlegbar zu bezeichnen), wenn ihm die für den Täter bestimmte Mindeststrafe unter den gegebenen Umständen zu hoch scheint; den

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Willen, die Tat „als eigene" zu begehen, dann als erwiesen zu bezeichnen, wenn besondere Strenge am Platz zu sein scheint. Für beides gibt es berühmte Beispiele. Eines der bekanntesten ist das „Badewannenurteil" des Reichsgerichts aus dem Jahre 1940 (RGSt. 74, 84). Die Angeklagte hatte das Kind ihrer Schwester, das nach der Geburt deutlich hörbar atmete, in eine Badewanne gelegt, um es zu ertränken; und es ertrank auch. Das Landgericht hatte sie zum Tode verurteilt; das Reichsgericht hob auf und verwies zurück, weil nicht festgestellt worden sei, daß sie die Tat als eigene gewollt habe. Härtung (JZ 1954, 430) hat uns die Beratung beschrieben. Die eigentlichen Gründe der Entscheidung waren erstens, daß dem Senat das damalige gesetzliche Mordmerkmal der Ausführung mit Überlegung (das vom Landgericht einwandfrei und völlig überzeugend festgestellt worden war) de lege ferenda nicht gefiel, zweitens daß mit einer Begnadigung durch Hitler nicht zu rechnen war, und drittens, daß das Mädchen den Revisionsrichtern leid tat. Erst „nach langer Beratung, in der alle Möglichkeiten eingehend erwogen" und als untauglich befunden worden waren, kam schließlich Härtung auf den „Dreh" - so darf man das doch wohl nennen - , die subjektive Teilnahmelehre auf die alleräußerste Spitze zu treiben. Dabei spricht das Reichsgericht noch von „offensichtlicher Verkennung des Unterscheidungsmerkmals der Täterschaft und der Beihilfe" durch das Landgericht. Die Strafkammer begriff und verurteilte in der neuen Verhandlung nur wegen Beihilfe. Ein Gegenstück ist eine Reichsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 1937 (RGSt. 71, 364). Festgestellt war, daß von zwei Angeklagten mindestens der eine (nur wußte man nicht welcher) eine Geisteskranke zum Beischlaf mißbraucht hatte, und daß der andere dabeigewesen war. Aus dem Urteil ergibt sich, daß beide Angeklagten alles bestritten und daß die Zeugin nicht zum Reden zu bekommen war. Das Reichsgericht gab der Strafkammer die Feststellung auf, ob derjenige von den beiden, der möglicherweise den Beischlaf nicht selbst ausgeübt hatte (das konnte also der eine oder der andere sein), „den Beischlaf des anderen als eigene Tat gewollt habe". Dann könnten sie beide als Mittäter bestraft werden. Mit der Feststellung, daß beide in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt hätten, begnügte sich das Reichsgericht dagegen nicht; das bezeichnete es als eine „formelhafte Wendung". Man wird aber doch vielleicht sagen dürfen, daß die Feststellung, jemand habe den Beischlaf eines anderen „als eigene Tat gewollt", unter den beschriebenen Umständen auch nichts viel besseres sein kann als eine formelhafte Wendung. Das eigentliche Bedenken gegen diese Rechtsprechung liegt aber darin, daß sie nicht rechtsstaatlich genug ist. Solche völlig im Subjektiven liegenden Annahmen verdienen kaum den Namen von Feststellun-

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gen. Ein Verteidiger kann sich nicht mit Beweisanträgen dagegen wehren; was das Revisionsgericht dazu sagen wird, ist völlig unberechenbar. Der - wirkliche oder vermeintliche - Gewinn an „Gerechtigkeit", der mit dem Täterstrafrecht, mit zunehmender Subjektivierung der strafrechtlichen Tatbestände erzielt werden soll, muß nicht selten mit einer Einbuße an Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens erkauft werden. Tatumstände, die der Außenwelt angehören, sind nach der Ordnung unseres Verfahrens schwerer zu beweisen und leichter zu widerlegen als Vorgänge im Kopf des Beschuldigten. Das ist eine Erfahrung, die nur dem Praktiker zugänglich zu sein scheint. Unter der Herrschaft des geltenden Rechts kann man sie einstweilen noch besonders gut und besonders häufig anhand der sogenannten Beweisregel des § 2 5 9 StGB 1 machen. Diese Beweisregel ist ein Atavismus, dem Theoretiker des materiellen Strafrechts ebenso ein Greuel wie dem erfahrenen Strafkammervorsitzenden — wenn auch aus verschiedenen, geradezu entgegengesetzten Gründen. Die Beweisregel verzichtet auf die richterliche Feststellung des Hehlervorsatzes, wenn der Richter anstatt dessen „Umstände" feststellen kann, nach denen der Erwerber einer (zum Beispiel) gestohlenen Sache den strafbaren Vorerwerb „annehmen mußte". O b es sich dabei wirklich um eine Beweisregel, eine Beweislastregel, eine Umkehrung des Satzes „in dubio pro reo" oder um eine (widerlegbare oder unwiderlegbare) Vorsatzvermutung handelt, können wir dahinstehen lassen. Genug, daß der Gesetzgeber den Richter von der Feststellung eines Stücks des inneren Tatbestandes entbindet, vorausgesetzt, daß bestimmte zusätzliche Umstände des äußeren Tatbestandes festgestellt werden können. Da dem Richter hier zur Wahl gestellt ist, ob er lieber bestimmte innere oder lieber bestimmte andere äußere Tatsachen feststellen will, kann man hier bisweilen anhand eines und desselben (!) Falles, in einer und derselben Strafsache nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht sehen, wie sich das eine, wie sich das andere macht. Und während sich nun der Theoretiker vor der „Beweisregel" deshalb bekreuzigt, weil sie nach seiner Ansicht dem Richter die Verurteilung zu leicht macht, indem sie ihm die Vorsatzfeststellung abnimmt, geht der erfahrene Strafrichter der Beweisregel deshalb aus dem Wege, weil sie ihm die Verurteilung zu schwer macht. Was nämlich „Umstände" im Sinne des § 2 5 9 StGB sind, umschreibt das Gesetz nicht näher. Gleichwohl verlangt die Rechtsprechung schon des Reichsgerichts, diese Umstände seien als Tatbestandsmerkmale vom § 2 5 9 Abs. 1 StGB a . F . hatte folgenden Wortlaut: „Wer seines Vorteils wegen Sachen, von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß sie mittels einer strafbaren Handlung erlangt sind, verheimlicht, ankauft, zum Pfände nimmt oder sonst an sich bringt oder zu deren Absatz bei anderen mitwirkt, wird als Hehler mit Gefängnis bestraft." 1

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Richter festzustellen und zu beschreiben. Wird dies unterlassen, so hebt das Revisionsgericht die Verurteilung schon deswegen auf. Werden andererseits die „Umstände", wie erforderlich, im Urteil des näheren spezifiziert, so lauert die Gefahr teils sachlichrechtlicher, teils verfahrensrechtlicher Fehler. Als sachlichrechtlichen Fehler sehen die Revisionsgerichte es an, wenn der Tatrichter „Umstände" entweder im eigenen Verhalten des der Hehlerei Beschuldigten, oder in Vorgängen sieht, die sich erst nach dem Erwerb durch ihn zugetragen haben. Der Schulfall, auch in der Praxis nicht selten, ist das vom Hehler nach seinem Erwerb heimlich mit anderer Farbe gestrichene Auto. Das kommt nur als Indiz für den Vorsatz in Betracht, aber nicht als „Umstand" im Sinne der Beweisregel, weil der Erwerber beim Erwerb (!) nichts aus seinem eigenen späteren Verhalten hat schließen können. Als verfahrensrechtliche Fehler bieten sich Verstöße gegen die Aufklärungspflicht oder fehlerhafte Behandlung von Beweisanträgen an. Wird etwa (sachlichrechtlich einwandfrei) ein „Umstand" in dem Hehlerpreis gefunden, so kann dem Tatrichter unter Umständen vorgeworfen werden, daß er keinen Sachverständigen darüber vernommen hat, ob die Sache vielleicht in Wahrheit nicht mehr wert war. Mit anderen Worten: es ist keineswegs ganz leicht und erfordert große Erfahrung, eine Verurteilung wegen Hehlerei auf Grund der Beweisregel „revisionssicher" zu begründen. Der Prozentsatz der Fälle, in denen das gelingt, ist recht gering. Wird nun aber eine derartige Verurteilung vom Revisionsgericht aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung an den Tatrichter zurückverwiesen, so läßt dieser sich, durch solche Erfahrungen gewitzigt, beim zweiten Male nicht auf diese objektive Alternative ein. Alle diese Sachen kommen mit der schlichten Feststellung zurück: der Angeklagte wußte, daß die von ihm erworbene Sache gestohlen war. Das braucht der Tatrichter nur hinzuschreiben; das ist genau so leicht wie - bei dem Zweifel zwischen Mittäterschaft und Beihilfe - die rettende Formel, er habe die Tat als eigene gewollt. Die Feststellung des „Wissens" ist schlechterdings revisionssicher, wenn man nur die Vorsicht beachtet, keine Bemerkungen über „Umstände" einfließen zu lassen. Eine solche Feststellung kann der Verteidiger mit keinem Beweisantrag verhindern. Es gibt weder Zeugen, noch Sachverständige, noch Augenschein, noch Urkunden, noch sonst irgend etwas, womit man beweisen kann, daß jemand zu gegebener Zeit eine gegebene Tatsache nicht gekannt habe. Jede Beweisbehauptung, die sich im Zusammenhang mit dieser Frage aufstellen läßt, kann entweder als unerheblich zurückgewiesen oder als wahr unterstellt werden. Und mit der Sachrüge läßt sich gegen die Feststellung des Wissens erst recht nicht angehen. Die Annahme, daß jemand etwas gewußt habe, was sich in Wahrheit so verhielt, kann niemals gegen Denkgesetze verstoßen. Sie verstößt auch nicht gegen den

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Satz „in dubio pro reo", wenn der Tatrichter keinen Zweifel hatte, daß der Angeklagte den strafbaren Vorerwerb kannte. Weder vor dem Tatrichter noch mit der Revision läßt sich dagegen eine erfolgversprechende Verteidigung aussinnen. Die schlichte Feststellung des Vorsatzes erregt mithin weder theoretische Mißgefühle noch macht sie praktische Schwierigkeiten von einem Richter aus gesehen, der nun einmal die Verurteilung begründen muß. O b die Urteile freilich mit dieser leichten Begründung im Tatsächlichen richtiger sind, als sie vorher mit der schwierigen und mißlungenen Begründung waren - diese Frage mag man wohl gelegentlich aufwerfen. Rechtsstaatlicher ist ganz offensichtlich die Anwendung der Beweisregel. Aber im Zuge der fortschreitenden Subjektivierung unseres materiellen Strafrechts steht sie schon lange auf dem Aussterbeetat; wenn man die Gesetzgebungsarbeiten und die Kritik der Wissenschaft betrachtet, kann man sich nur wundern, daß sie immer noch dasteht. Was von der prozessualen Feststellung des Vorsatzes gesagt worden ist, das gilt auch von der Ausschließung des Verbotsirrtums. Es war ein bedeutender Schritt in Richtung auf die weitere Subjektivierung unseres Strafrechts, als der Bundesgerichtshof ( B G H S t . 2, 194) das Unrechtsbewußtsein des Täters (oder wenigstens die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums) zur Voraussetzung einer Bestrafung erhob. Auch insoweit ist es schwer bis unmöglich, im Ernste etwas beweisen oder widerlegen zu wollen. Das Revisionsgericht kann vom Tatrichter kaum mehr verlangen als den Satz: das Gericht glaubt dem Angeklagten den Verbotsirrtum nicht. Gegen den Angeklagten freilich, dessen Verbotsirrtum das Gericht nicht widerlegen zu können glaubt, hat die Staatsanwaltschaft es mit einer Revision leichter. Denn hier ist erst noch zu fragen, ob der Irrtum vermeidbar war. Soweit es dabei um die Frage geht, welchen Inhalt oder Umfang eine Pflicht zur Erkundigung oder zur „Gewissensanspannung" hat, liegt dies auf rechtlichem, also der Revision zugänglichem Gebiet. Gewiß erscheint es auf den ersten Blick sehr menschlich, dem Täter seinen Verbotsirrtum nicht zuzurechnen. Inzwischen hat die Erfahrung mit dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs aber gezeigt, daß die Fälle, in denen sie eine bisher nicht mögliche Bestrafung ermöglicht (wegen „Rechtsfahrlässigkeit"), weit häufiger sind als die Fälle, in denen sie zur Entschuldigung eines Täters führt, der sonst bestraft werden müßte. Schon das erscheint etwas bedenklich. Weit unangenehmer ist aber auch hier die verfahrensrechtliche Seite. Allzusehr hängt es vom Subjektiven des Tatrichters (ein Böswilliger könnte sagen: von seiner Willkür) ab, ob dem Täter der Verbotsirrtum geglaubt wird oder nicht. Es ist nicht zu leugnen, daß wir sehr zahlreiche Strafvorschriften haben, die nicht jedem bekannt sind und auch nicht jedem bekannt zu sein

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brauchen. Es sei die Frage gestattet, ob der Gesetzgeber nicht weit besser täte, unter solchen Voraussetzungen überhaupt auf kriminelle Strafe zu verzichten. Der Bundesgerichtshof wies zur Begründung seines Beschlusses auf Verbote hin, die „vielfach nicht auf allgemeinen sittlichen Anschauungen, sondern auf Erwägungen sozialer oder rein staatlicher Zweckmäßigkeit" beruhen; sie böten „der Möglichkeit des Verbotsirrtums . . . ein weites Feld". Wo man so etwas erkennt, sollte man andere Mittel der Bekämpfung suchen als staatliche Strafe. Andererseits fällt es auf, wie oft ein Verbotsirrtum gerade angesichts „klassischer" Straftatbestände geltend gemacht wird. Der grundlegende Beschluß des Bundesgerichtshofs selbst betraf einen Rechtsanwalt, und zwar einen Strafverteidiger, der in zwei Fällen den Tatbestand der Nötigung verwirklicht hatte. Hier wird die Gefahr sichtbar, daß mittels der Annahme von Verbotsirrtum, werde er nun als erwiesen oder als unwiderlegbar angesehen, das Legalitätsprinzip unterlaufen wird. Das Legalitätsprinzip gehört bei uns, nach unseren geschichtlichen Antezedentien, im Grundsatz zum unverzichtbaren Bestand der Rechtsstaatlichkeit, was die Möglichkeit gewisser allgemein geregelter Ausnahmen nicht auszuschließen braucht. Wir gehören weder nach unserer Vergangenheit noch nach unserer Gegenwart zu den glücklichen Ländern, die wie etwa England - das Legalitätsprinzip nicht nötig haben und doch Rechtsstaaten sind. Beim Studium von Lehrbüchern und Kommentaren könnte man auf den Gedanken kommen, das Legalitätsprinzip sei besonders oder ausschließlich von der Versuchung zu eigenwilliger und unrichtiger Rechtsauslegung bedroht. Diese Meinung ist geradezu harmlos: da steckt die Gefahr nicht, und wenn so etwas wirklich einmal geschieht, ist leicht Abhilfe zu schaffen. Wir leiden ja keinen Mangel an Rechtsmitteln und sonstigen Behelfen, Klageerzwingung, Dienstaufsicht, Petitionen, Kleinen Anfragen und Leserbriefen. Den rechtlichen Fehler kann man auf einem dieser Wege so gut wie immer niedriger hängen. Die Gefahr steckt vielmehr in der Möglichkeit, die „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte" (§ 152 Abs. 2 StPO) zu verneinen; und es versteht sich, daß das - wenn man nicht gerade provozierende Uberzeugungstäter vor sich hat - auf dem Gebiet des subjektiven Tatbestandes und der subjektiven Entschuldigungsgründe erheblich leichter ist als auf dem Gebiet des äußeren Hergangs. Ich erinnere mich noch an das erste freisprechende Urteil, das ich als Referendar zu begründen hatte. Der Vorsitzende gab mir den von großer praktischer Erfahrung zeugenden Rat: machen Sie es über das Subjektive, Herr Kollege! Die erwähnte gefährliche Möglichkeit, mit Hilfe einer Annahme von Verbotsirrtum das Legalitätsprinzip zu unterlaufen, bringt aber noch eine weitere Gefahr mit sich. Der Gesetzgeber selbst könnte in Versuchung geraten, die Strafdrohungen noch weiter auswu-

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ehern zu lassen und sich dabei jeweils stillschweigend damit zu beruhigen, daß ja die Gerichte mittels der Annahme subjektiver Entschuldigungsgründe, insbesondere von Verbotsirrtümern, schon das Schlimmste verhüten würden. Es wäre eine grobe Vereinfachung und geradezu unrichtig, wenn man glaubte, daß das Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sich in gewissen Friktionen zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht spiegelte oder gar erschöpfte. Auch unser materielles Recht hat eine rechtsstaatliche Aufgabe. Sie zeigt sich am deutlichsten in dessen fragmentarischer, kasuistischer, lückenhafter Natur. D e r Richter ist nicht berufen, die Lücken des Strafrechts zu schließen. D e r Satz „nullum crimen sine lege" bedeutet praktisch, daß überhaupt nur ein lückenhaftes Strafrecht ein gutes, ein rechtsstaatliches Strafrecht sein kann. Perfektionismus wäre hier ganz fehl am Platz. Da wir glücklicherweise immer noch ein Strafrecht haben und auch fürs erste behalten werden, das in seinen einzelnen Tatbeständen jeweils an Geschehnisse in der Außenwelt anknüpft, liegt ein Schwerpunkt des Täterstrafrechts in der Strafzumessung. Diese richtige Erkenntnis hat eine seltsame, man darf wohl sagen unerwünschte Nebenwirkung gehabt. Es hat sich die wunderliche Meinung breitgemacht, eine möglichst gerechte Strafzumessung müsse sich in möglichst ausführlichen Strafzumessungsgründen ausdrücken. Parallel dazu läuft das Bemühen, Verständnis für den Angeklagten in einem möglichst detaillierten Lebenslauf niederzulegen. Vor 30, 40 Jahren begannen Urteilsgründe mit dem Satz: „Der Angeklagte stieg in der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember in die Villa des Kaufmanns Meyer ein . . . " , heute beginnen sie mit dem Satz: „Der Angeklagte wurde als achtes von dreizehn Kindern eines Weichenstellers geboren." Während die Strafzumessung früher aus dem Satz bestand: „Ein Jahr Gefängnis erschien erforderlich und angemessen", besteht sie heute aus einer oder zwei Schreibmaschinenseiten von „einerseits" und „andererseits", endet aber mit genau dem gleichen Jahr Gefängnis. Das ist nicht unbedingt eine Verbesserung. Gewiß darf ein Richter sich nicht vor der Arbeit scheuen, gewiß sollte er sich nicht die Mühe verdrießen lassen, die Gründe, die sein Urteil tragen, genau und deutlich niederzuschreiben. Aber Fleiß ist nicht die eigentliche Richtertugend; ein Zuviel an Gründen kann schädlicher sein als ein Zuwenig. Dieses „einerseits andererseits" trägt die Strafzumessung gar nicht. Eine rationelle Beziehung zwischen dem Diebstahl einer bestimmten Summe durch einen bestimmten Mann unter bestimmten Umständen auf der einen, und der Zeitdauer einer bestimmten Freiheitsstrafe auf der anderen Seite ist schlechterdings nicht herzustellen. An der Stelle, an der die Strafzumessungsgründe in die Mitteilung der Strafhöhe selbst übergehen, klafft immer und notwendigerweise ein logischer Bruch. Die Sache büßt nichts

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an Logik ein, wenn man statt des einen Jahres entweder sechs Monate oder zwei Jahre und sechs Monate setzen würde; sie büßt deshalb nichts an Logik ein, weil sie von vornherein nicht logisch war und auch nicht logisch sein konnte. Weder das Gesetz noch die Rechtsstaatlichkeit verlangt diese ausführlichen Strafzumessungsgründe. Das Gesetz verlangt nur „die Umstände, die . . . bestimmend gewesen sind"; es sagt nicht, daß das viele sein müssen. Und die Lebensläufe, die nun wirklich nirgends vorgeschrieben sind, haben häufig schädliche Wirkungen. Sie lenken den Verurteilten, soweit er sie überhaupt zu sehen bekommt, von dem strafrechtlichen Vorwurf ab, der ihm gemacht wird. Als Revisionsrichter sieht man das an den zahlreichen Briefen, die einem die Verurteilten schreiben, wenn alles vorüber ist. Da heißt es dann: „Man hat mir offenbar übelgenommen, daß ich einmal in die Ostzone gegangen, von meiner Frau geschieden worden bin, mit meinem Lehrherrn Streit gehabt habe usw." Je ausführlicher diese Lebensläufe sind, desto größer wird auch die Gefahr, daß sich tatsächliche Fehler einschleichen. An sie klammert sich dann der Verurteilte, der seinen eigenen Lebenslauf natürlich besser kennt; er schließt daraus, daß nicht alles zu stimmen braucht, was das Gericht als seine Überzeugung niederschreibt, und im Wege der Verallgemeinerung kommt er zu dem Schluß: mir ist nichts bewiesen. Aber die Sache hat auch noch eine viel grundsätzlichere Seite. Das Täterstrafrecht ist gewiß sehr gut gemeint. Aber viele Täter, und nicht die schlechtesten unter ihnen, sehen zwar ein, daß sie erleiden müssen, was ihre Taten wert sind; aber sie sträuben sich dagegen, für das bestraft zu werden, was sie selber wert sind. Von Gustav Radbruch stammt das Wort: „Man hat das neue Strafrecht unter das Schlagwort gebracht: ,nicht die Tat, sondern der Täter', man sollte sagen: nicht der Täter, sondern der Mensch." Aber wir sollten uns fragen, ob das nicht ein argumentum ad absurdum ist: ob wir Strafrichter wirklich berufen sind, über den ganzen Menschen zu Gericht zu sitzen - ob wir unsere Aufgabe nicht besser erfüllen, wenn wir uns darauf beschränken, menschlich über die Tat zu urteilen.

Π. Beiträge zur Rechtspolitik

Die Todesstrafe - ihre Rechtfertigungen und ihre politische Funktion (1959) Die Gründe für und gegen die Todesstrafe sind schon oft und ausführlich erörtert worden. Man kann sie in zahlreichen volkstümlichen Schriften und wissenschaftlichen Werken nachlesen. Sie sind Gegenstand von parlamentarischen Debatten, von Zeitungsaufsätzen, von Umfragen der Meinungsforschungsinstitute, von Vorträgen, Romanen und Filmen gewesen. Dabei sind es im Grunde immer wieder dieselben verhältnismäßig wenigen Argumente, die hier hin- und hergewendet werden. Je mehr man die Sache studiert, desto vollkommener gibt man die Hoffnung auf, etwas wirklich Neues und Durchschlagendes dazu sagen zu können. Das Eigentümliche bei dieser Streitfrage ist nämlich, daß hier alle Gründe nur einen beschränkten Einfluß darauf haben, wie der einzelne sich entscheidet. Das maßgebende Wort sprechen hier oft nicht die vom Verstand aufgefaßten Gründe, sondern Gefühle, die ihre Wurzeln tief in den unbewußten Schichten der Persönlichkeit haben. Trotzdem ist es nicht nutzlos, sich selbst und anderen die wesentlichen Gründe für und wider ganz nüchtern klarzumachen. Wir beobachten nämlich hier eine sehr eigentümliche Erscheinung. Die Meinung großer Massen, die Meinung des ganzen Volkes und auch der Parlamentsmehrheit sind in unserer Frage seit jeher sehr starken Schwankungen unterworfen gewesen. Aus einer überwältigenden Mehrheit für die Todesstrafe kann das Bekanntwerden eines einzigen Justizirrtums über Nacht eine Mehrheit gegen die Todesstrafe machen. Daraus kann dann wieder durch das Bekanntwerden eines einzelnen abstoßenden Mordfalles mit einem Schlage eine fast hundertprozentige Anhängerschaft der Todesstrafe werden. Nun kann man über eine derart einschneidende Frage gewiß streiten, und auch ein vernünftiger Mensch kann einmal seine Meinung darüber ändern. Wer sich aber einmal die Mühe gemacht hat, die Gründe für und wider in aller Ruhe gegeneinander abzuwägen, der wird zwar seine letzte Entscheidung wohl auch aus dem Gefühl heraus treffen; aber er wird nicht mehr so stark in Gefahr sein, sich von augenblicklichen Stimmungen einmal hierhin, einmal dorthin treiben zu 1

Rundfunkvortrag, gehalten am 30. und 31. 7.1959 im RIAS Berlin.

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lassen. Solche Entscheidungen aus dem augenblicklichen Eindruck einer alarmierenden Meldung können nämlich nicht im Ernst den Anspruch erheben, als Grundlage einer gesetzgeberischen Entscheidung zu dienen. Man kann schon einmal ein Gesetz ändern, auch in einer so wichtigen Sache. Man kann aber nicht von Jahr zu Jahr die Todesstrafe einführen, abschaffen, und wieder einführen. Es wäre in einer Frage von so grundsätzlicher Bedeutung dringend erwünscht, daß die Entscheidung von der Allgemeinheit getragen würde. Man kann es kaum als sehr demokratisch empfinden, wenn es in einer derartigen Angelegenheit, die ja doch mit Recht die Teilnahme der Öffentlichkeit erregt, einer ganz dünnen Schicht, also etwa den Juristen oder den Abgeordneten, überlassen bleibt, ihre Argumente gegeneinander auszuspielen und dann eine mehr oder weniger zufällige Mehrheit zu bilden. Solche Entscheidungen sollten vielmehr von einem möglichst stetigen Willen des ganzen Volkes getragen sein. Solange die Volksmeinung aber nicht stetig ist, sondern gleichsam im Winde einzelner Eindrücke hin- und hergeweht wird, ist das nicht möglich. Wer ein Staatsbürger sein will, sollte sich also eine Meinung zu bilden suchen, die durch Vernunftgründe und durch eine im Gefühl wurzelnde Uberzeugung so festgefügt ist, daß sie nicht bei jeder Nachricht von einem Fehlurteil oder von einem Lustmord wieder zusammenbricht. Einer der nächstliegenden Streitpunkte besteht darin, ob die Todesstrafe abschreckend wirkt, und ob wir diese abschreckende Wirkung brauchen, um die Zahl der Morde einzudämmen. Man kann verstehen, daß viele Menschen geneigt sind, diese Frage ohne weiteres zu bejahen. Selbst wenn man lebenslanges Zuchthaus für etwas Schlimmeres hält als die Todesstrafe, so wird man doch sagen dürfen, daß die Aussicht, in kurzer Zeit sterben zu müssen, dem Durchschnittsmenschen weit größere Angst und Schrecken einflößt, als die Aussicht, seine Freiheit zu verlieren. Das mag daran liegen, daß der Durchschnittsmensch sich eben eine nur unvollkommene Vorstellung von der Qual einer lebenslangen Zuchthausstrafe macht. Aber woran es liegt, ist vielleicht nicht so wichtig. Der größere Schrecken geht nun einmal^ so ist man geneigt zu glauben, vom Tode aus. Seltsamerweise wird diese Annahme aber durch die Erfahrung nicht bestätigt. Schon viele Länder haben die Todesstrafe abgeschafft; einige wenige haben sie nach längerer Zeit der Abschaffung auch wieder eingeführt. Nirgends aber hat man beobachtet, daß die Mordfälle nach Abschaffung der Todesstrafe angestiegen oder nach ihrer Wiedereinführung gesunken wären. Nun geht es mit solchen Zahlen, wie auch sonst mit der Statistik: beide streitenden Parteien suchen Argumente aus ihnen zu gewinnen. Die Gegner der Todesstrafe entnehmen daraus, daß von einer abschreckenden Wirkung keine Rede sein kann. Die Anhänger dagegen machen geltend, man könne gar nicht

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wissen, ob nicht gleichzeitig mit der Abschaffung der Todesstrafe noch ganz andere Gründe eingetreten seien, die zu einem Rückgang der Mordtaten geführt haben. Bei uns ζ. B. hat das Grundgesetz 1949 die Todesstrafe abgeschafft, ohne daß seitdem die Zahl der Morde zugenommen hätte. Die Anhänger der Todesstrafe wenden nun aber ein, daß die seitdem eingetretene wesentliche Verbesserung der Wirtschaftsverhältnisse der eigentliche Grund dafür sein könne. Beweist uns das, erwidern die Gegner. Wir sind nicht bereit, Menschen dem Henker zu überantworten, solange wir nicht gewiß sind, daß es überhaupt einen abschreckenden Erfolg hat. Nein, antworten die Anhänger, Ihr müßt beweisen, daß es keine Wirkung hat. Das Leben der friedlichen und unschuldigen Staatsbürger ist wichtiger als das Leben der Mörder. - So etwa stehen sich in der Frage der Abschreckung die beiden Ansichten gegenüber. Was man wissen müßte, ist unbeweisbar; und keiner kann verstehen, daß der andere ihm die Beweislast zuschieben will. Bei der Frage der Abschreckung sollte man aber vielleicht die Psychologie zu Hilfe rufen. Wer vor der Begehung eines Mordes steht, ist dabei fast immer in einer seelischen Ausnahmesituation. Er ist gewöhnlich gar nicht in der Lage, das Für und Wider ruhig gegeneinander abzuwägen. Nicht wenige Morde werden in der Absicht begangen, sich nach der Tat selbst das Leben zu nehmen. Häufig geschieht das auch. Wenn es nicht geschieht oder nicht gelingt, so ist das ein Beweis dafür, wie verschieden eine solche Tat auch für den Täter selbst vorher und nachher aussieht. Morde werden häufig in solcher Erregung begangen, daß es dem Täter ganz gleichgültig ist, was nachher aus ihm wird. Später kommt er dann allerdings gewöhnlich zur Besinnung. Wenn der Richter ihn fragt, ob er die Tat auch dann begangen haben würde, wenn sie mit der Todesstrafe bedroht gewesen wäre, sagt er nein. Das beweist aber sehr wenig. Denn die Situation in der Gerichtsverhandlung ist eine ganz andere als bei der Tat. Natürlich sagt vor dem Richter niemand, er würde den Mord auch dann begangen haben, wenn Todesstrafe darauf stände. Denn inzwischen ist ihm klar, daß er mit einer solchen Äußerung ganz unnötig den Eindruck einer besonderen Verstocktheit erwecken würde. Das Nein kostet ihn nichts. Es ist für ihn auch nicht schwer zu erraten, daß ein Richter, der eine solche - ziemlich müßige - Frage überhaupt stellt, ein Anhänger der Todesstrafe ist und deshalb dieses Nein erwartet. In Wahrheit kann der Angeklagte gar nicht wissen, was er getan haben würde, wenn die Lage ganz anders gewesen wäre. Lebenslanges Zuchthaus2 oder selbst ein einziges Jahr Zuchthaus ist etwas derart hochgradig Bis zum Inkrafttreten des ersten Strafrechtsreformgesetzes (1.4.1970) gab es vier Arten der Freiheitsstrafe: Zuchthaus, Gefängnis, Einschließung und Haft. Sie wurden anläßlich der Strafrechtsreform durch die einheitliche Freiheitsstrafe als einzige freiheitsentziehende Hauptstrafe des StGB ersetzt. 2

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Unangenehmes, daß kein Mensch einen Mord begehen würde, wenn er im Augenblick der Tat zu einer ruhigen Überlegung imstande wäre, daß er sich damit diese Folge zuzieht. Es ist eine allgemeine Erfahrung der Kriminologie, daß eine abschrekkende Wirkung nicht von der Entsetzlichkeit der Strafdrohungen ausgeht, sondern daß sie von dem Grade der Wahrscheinlichkeit abhängt, mit der die Strafe eintritt. Wenn es möglich wäre, jeden Mörder zu fassen und maßvoll zu bestrafen, so würde das abschreckender wirken, als wenn man nur die Hälfte von ihnen faßt und sie dann recht grausam bestraft. Während des Krieges konnte man mit dem Tode bestraft werden, wenn man ein Schwein schwarz schlachtete, oder wenn man während des Fliegeralarms ein paar Hemden stahl. Da aber die meisten dieser Täter nicht gefaßt wurden, hatte die Strafdrohung so gut wie gar keine Wirkung. Es haben damals sehr viele Leute schwarz geschlachtet, die heute alle noch am Leben sind. Hält man diese Überlegungen mit den Ergebnissen der Statistik zusammen, so wird das eine durch das andere bestätigt. Es scheint nun auf einmal nicht mehr so überraschend, daß die Morde bei Abschaffung der Todesstrafe nicht zunehmen und bei Wiedereinführung der Todesstrafe nicht abnehmen. Wir brauchen uns nicht mehr nach anderen Erklärungen für diese Erscheinung umzusehen; wir sind jetzt vielmehr zu dem Schluß berechtigt, daß es mit der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe nichts ist. Zu den nächstliegenden Gründen gegen die Todesstrafe gehört, daß man ihre Vollstreckung nicht rückgängig machen kann, wenn das Urteil sich als irrig erweist. Dagegen glauben nun manche Leute Rat zu wissen. Sie schlagen vor, die Todesstrafe nur dann zu verhängen, wenn die Täterschaft völlig feststehe, und zum Beispiel nicht auf Grund eines Indizienbeweises. Das ist nun aber wirklich ein äußerst seltsamer Vorschlag. Dabei werden zwei Dinge übersehen, die beide sehr einfach sind und auch jedem Laien verständlich sein müßten. Das erste ist die völlig selbstverständliche, in jedem Rechtsstaat und so auch bei uns vollkommen verwirklichte Forderung, daß der Richter einen Angeklagten wegen irgendeiner beliebigen Tat, sei sie ganz leicht oder ganz schwer, zu irgendeiner Strafe, seien es fünf Mark Geldstrafe oder lebenslanges Zuchthaus, nur dann verurteilen darf, wenn er, der Richter, ganz felsenfest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist. Bleibt dem Richter, nachdem alle Beweismittel auf ihn gewirkt haben, auch nur der Schatten eines Zweifels, so muß er freisprechen. Auf einen bloßen Verdacht hin darf man ohnehin keinen Menschen verurteilen. Das hat mit der Todesstrafe nichts zu tun. Wer die Stärke der Überzeugung und die Höhe oder Art der Strafe miteinander in Zusammenhang bringen wollte, der käme damit in die seltsame Lage, Mörder leichter

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freizusprechen als Diebe; oder er müßte die für einen Richter völlig unmögliche Überlegung anstellen und auch zum Ausdruck bringen: ich bin von der Schuld dieses Menschen nicht so bis zum allerletzten überzeugt - und deshalb schicke ich ihn statt aufs Schafott ins Zuchthaus. Ich meine, jeder Laie müßte begreifen, daß es so nicht geht. Das ist das eine. Und das andere ist die unbezweifelbare Tatsache, daß wir uns auch im Besitz der allerfesten Uberzeugung irren können. Es gibt nun einmal keine Aushilfe gegen die Binsenwahrheit, daß irren menschlich ist. Wenn der Angeklagte geständig ist, wenn die Zeugenaussagen nicht den mindesten Zweifel aufkommen lassen, wenn die Sachverständigen nichts einwenden, wenn das Gericht den Angeklagten einstimmig für schuldig hält, wenn die ganze Öffentlichkeit ihn als den Täter ansieht so ist das alles keine Gewähr gegen die Möglichkeit eines Irrtums. Dabei ist der viel gescholtene Indizienbeweis häufig noch der zuverlässigste. Zeugen können lügen, auch unter Eid; das ist gar nicht so selten. Wenn sie nicht lügen, können sie irren. Sie glauben etwas beobachtet zu haben, sie glauben jemanden wiederzuerkennen, sie meinen sich richtig zu erinnern, und sie täuschen sich. Und es gibt unwahre Geständnisse. Gerade in Mordsachen sind sie verhältnismäßig häufig, und sie waren das schon, als wir noch die Todesstrafe hatten. Es gibt da Geheimnisse der Menschenseele, in die wir nicht leicht hineinsehen. Die beiden Jugendlichen, die eingestanden hatten, die Bonner Automörder zu sein, ließen sich nach Ermittlung der wirklichen Täter nur mit Mühe bewegen, ihr falsches Geständnis zurückzunehmen. Ahnlich war es in den dreißiger Jahren mit einem der drei Morde an der Elbmündung. Für einen davon hatte die Polizei nach ziemlich kurzer Zeit zwei Geständige, von denen nur einer der Täter gewesen sein konnte. Im übrigen lehrt uns die Rechtsgeschichte, wohin es führt, wenn man den Richtern vorschreibt, sie dürften nur auf Grund von Geständnissen verurteilen. Mit solchen Vorschriften landet man über kurz oder lang bei der Folter in irgendeiner F o r m ; oder man muß es eben in das Belieben des Täters stellen, ob er sich verurteilen lassen will oder nicht. Das alles geht nicht an. Es ist nicht angenehm für einen Richter, es auszusprechen, und doch gebietet es die Redlichkeit, einzugestehen, daß wir urteilen müssen, ohne gegen den Justizirrtum gefeit zu sein. Wir sind eben genausowenig unfehlbar wie die Arzte oder wie die Flugzeugpiloten; die Robe gibt uns keine übernatürlichen Fähigkeiten. Wir müssen uns mit einer gewissenhaft erarbeiteten Überzeugung zufriedengeben. Wollte man von einem Richter mehr verlangen, wollte man ihm im Ernst vorschreiben, nur im Besitz der reinen Wahrheit dürfe er ein Urteil sprechen, so wäre das nicht der Anfang, sondern das Ende der irdischen Gerechtigkeit. Gerade gegenüber den Mördern als den schwersten Verbrechern geht das am allerwenigsten an. Will und muß man vom Recht verlangen, daß es

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gegen sie kämpft, so muß man sich darüber klarbleiben, daß die Todesstrafe die Möglichkeit des Justizmordes einschließt. Wer glaubt, daß man das in den Kauf nehmen sollte, nun, der ist mit diesem Argument nicht zu überzeugen; er ist aber nur dann ein ehrlicher Anhänger der Todesstrafe, wenn er nicht versucht, die Gefahr und die Möglichkeit des Justizirrtums zu zerreden. Wir haben schon gesagt, daß in dieser Frage nicht nur der Verstand, sondern auch das Gefühl ein Wort mitzusprechen hat. Man muß sich aber davor hüten, Gefühl mit Sentimentalität zu verwechseln. Sonst kann man in eine Unklarheit geraten, in der man besonders leicht das Opfer von Argumenten wird, die in Wirklichkeit keine sind. Vor kurzem wurde hier ein Film gezeigt, der sich dafür als Beispiel eignet. Die Heldin, dargestellt durch eine gutaussehende Schauspielerin, war unschuldig. Unglückliche Zufälle und abgefeimte Ränke der wirklichen Mörder brachten sie in den Verdacht der Mittäterschaft. Überführt wurde sie dann durch einen ganz arglistigen, ausgesprochen verbrecherischen Trick eines gewissenlosen Polizeibeamten. Sie wurde zum Tode durch Giftgas verurteilt, und nun zerrte die zweite Hälfte des Films an den Nerven der Zuschauer, die dazu verurteilt waren, sich die Gaskammer von innen und von außen genauestens anzusehen, der Verurteilten in ihrer Todeszelle Gesellschaft zu leisten, mit ihr Hoffnung zu fassen, wenn wieder einmal ein Strafaufschub bewilligt wurde, nur damit dann diese Hoffnung um so grausamer enttäuscht wurde; das wiederholte sich dann noch ein paarmal, inzwischen erfuhr man genauestens, wie das Giftgas hergestellt wurde, und schließlich mußte man noch mit dem eingeschlossenen und angeschnallten Mädchen von eins bis zehn zählen, bis das Gas bei tiefem Einatmen dann schließlich wirkte und sie eines allem Anschein nach äußerst qualvollen Todes starb. Man hatte weder Mühe noch Kosten gescheut, um - ja, um etwas zu beweisen, was zwischen den ernstzunehmenden Anhängern und den ernstzunehmenden Gegnern der Todesstrafe durchaus nicht streitig ist. Denn natürlich sind diejenigen Anhänger der Todesstrafe, mit denen wir uns überhaupt auseinandersetzen, keine Sadisten. Es liegt ihnen ja nichts daran, Unschuldige dadurch zu Tode zu bringen, daß man ihnen durch die Polizei mit abgefeimter Hinterlist unwahre Geständnisse abpreßt. Auch sie sind Freunde eines fairen und anständigen Verfahrens. Sie wollen solche unglücklichen Opfer polizeilicher Übergriffe nicht auch noch in der Verhandlung dadurch mattsetzen, daß ihnen gänzlich unfähige Verteidiger bestellt werden. Sie sind auch nicht dafür, den Verurteilten die unmittelbare Todesangst ein halbes dutzendmal auskosten zu lassen, und sie sind gewiß für eine humane, rasche und möglichst schmerzfreie Hinrichtung, nicht für ein ekelhaftes und lang hingezogenes Zutodequälen. Eine solche Filmdarstellung bekämpft also die Todesstrafe in einer

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Stellung, in der ihre Anhänger gar nicht stehen, niemals gestanden haben und niemals stehen werden. Und die Gegner der Todesstrafe haben an einem solchen Film auch einen recht zweifelhaften und nicht ungefährlichen Bundesgenossen. Ihr Anliegen bechränkt sich ja nicht darauf, unschuldige und zufällig gutaussehende junge Damen vor der Vergasung zu bewahren; vielmehr kämpfen sie einen viel schwereren und viel weniger volkstümlichen Kampf. Sie wollen ja auch gerade für die Schuldigen keine Todesstrafe. Es stände schlecht um die Sache der Gegner der Todesstrafe, wenn sie keine besseren Argumente hätten als das entsetzte oder tränenselige Mitleid mit einem zufälligerweise Unschuldigen, der in einem anständigen Verfahren niemals hätte verurteilt werden können. Für die Todesstrafe wird nun weiter geltend gemacht, sie sei immer noch menschlicher als lebenslanges Zuchthaus. Das ist ein sehr schwerwiegendes Argument, mit dem man sich auseinandersetzen muß. Denn in der Tat ist lebenslange Einsperrung etwas sehr Schweres. Die Fantasie der meisten Menschen reicht kaum aus, sich das ganz vorzustellen. Nach den Erfahrungen des Strafvollzuges tritt nach etwa 20 Jahren Zuchthaus ein Zustand der Lebensuntauglichkeit, des Stumpfwerdens und oft der Verblödung ein. Wer also die Todesstrafe als eine Verletzung der menschlichen Würde ansieht, der wird sich doch fragen, ob sie mit lebenslangem Zuchthaus nicht durch eine noch ärgere Verletzung der Menschenwürde ersetzt wird. Die Antwort wird lauten müssen, daß das kein Grund für die Todesstrafe, sondern ein Grund gegen das lebenslange Zuchthaus ist. Damit soll nicht vorgeschlagen werden, Mörder wieder in Freiheit zu setzen, solange sie noch gefährlich sind. Aber Mörder sind manchmal gar nicht besonders gefährlich. Bei Raubmördern oder Lustmördern allerdings liegt die Wiederholungsgefahr meist nahe, solange ihre Lebenskraft nicht gebrochen ist. Aber im übrigen geht ein Mord oft aus einer völligen Ausnahmesituation hervor, von der man nicht zu befürchten braucht, daß sie bei demselben Menschen nochmals eintritt. Daß begnadigte und nach 15 oder 20 Jahren in Freiheit gesetzte Mörder wieder einen Mord begangen hätten, ist meines Wissens noch nicht vorgekommen. Da sind Betrüger und Einbrecher, wie sie in unseren Sicherungsanstalten sitzen, wesentlich gefährlicher. Es besteht also kein entscheidendes Bedenken dagegen, dem zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Mörder wenigstens die Hoffnung zu lassen, daß er nach langer Sühne, aber doch vor völliger Verstumpfung und Verblödung die Freiheit wiedererlangt. Diese Hoffnung ist es übrigens, die dazu führt, daß gerade die Lebenslangen sich in den Strafanstalten mustergültig zu führen pflegen. Damit wird auch der gern erhobene Einwand widerlegt, die Lebenslangen, die weiter nichts zu riskieren hätten, seien für das Anstaltspersonal zu gefährlich. Das klingt beste-

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chend, ist aber graue Theorie. Die Lebenslangen würden erst dann zu einer ernsten Gefahr werden, wenn man die Möglichkeit ihrer Begnadigung abschaffte. Erst recht aber ist ein zum Tode Verurteilter bis zur Hinrichtung gefährlich, wenn er nicht mit Begnadigung rechnen kann. Gefährlicher ist in einem Lande mit Todesstrafe vor allem der noch nicht ergriffene Mörder. Denn er hat nicht nur seine Freiheit, sondern sein Leben zu verteidigen. Ein schwacher Grund für die Todesstrafe ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Anscheinend stellen manche Leute sich unter einem Mörder einen Menschen vor, der im Zuchthaus unablässig auf Ausbruch sinnt, um dann in Freiheit so viel wie möglich morden zu können. In Wahrheit sind die allerwenigsten Mörder Menschen mit einer verbrecherischen Veranlagung. Die meisten Morde werden von nicht vorbestraften Menschen begangen, die abgesehen von dieser einen Tat ein völlig gesetzmäßiges und unauffälliges Leben geführt haben. Müßte ich in eine Strafanstalt, so würde ich mich als Zellengenosse eines Mörders viel sicherer fühlen als in Gesellschaft eines Betrügers oder eines Sittlichkeitsverbrechers. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß ein Mord eine leichtere Tat wäre und geringere Strafe verdiente. Aber die meisten Mörder sind nicht schon deshalb, weil sie noch am Leben sind, eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. Es ist nicht zu bestreiten, daß Lustmörder und Raubmörder davon eine Ausnahme bilden mögen. Die Frage ist nur, ob man sie deshalb töten darf, weil man sich nicht mit absoluter Gewißheit zutraut, sie so einzusperren und zu bewachen, daß auch die entfernteste Möglichkeit des Entkommens ausgeschlossen ist. Es gibt Menschen, die uns vorrechnen, daß die Unterbringung, Bewachung und Verpflegung solcher Verbrecher zu teuer sei. Mit Leuten, die das für ein Argument halten, können wir nicht streiten. Nehmen wir an, die Vollstreckung der lebenslangen Zuchthausstrafe koste im Durchschnitt 30 000 Mark. Wenn jemand erklärt, er wolle, um einen solchen Betrag nicht aufwenden zu müssen, lieber einen Mitmenschen töten, so ist er ein naher Geistesverwandter des Mannes, der die Insassen der Irrenanstalten darauf untersuchen ließ, ob ihre Arbeitsfähigkeit es lohnend erscheinen lasse, sie noch weiter zu füttern, und der solche Geisteskranken, bei denen das nicht der Fall war, in großen Massen ums Leben bringen ließ. Man würde die ernsthaften Anhänger der Todesstrafe auch beleidigen, wenn man verschweigen wollte, daß sie sich dieses pekuniären Arguments niemals bedient haben. Es ist schon Bismarck aufgefallen, daß Gegner der Todesstrafe sich in großer Zahl in den Reihen der Juristen finden, besonders unter den Richtern. E r führte das nicht, wie man denken könnte, auf besondere Sachkunde, sondern auf einen Mangel an Verantwortungsfreude zurück. Dem darf man aber vielleicht entgegenhalten, daß der Umfang, die Last

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und die besondere Beschaffenheit der Verantwortung, die hier getragen werden müssen, für einen Nicht-Strafrechtler kaum abzusehen sind. Es ist dem Gesetzgeber bisher nämlich in keiner Weise gelungen, eine klare und eindeutige Grenzlinie zu ziehen zwischen den Fällen der Tötung, die „Mord" genannt werden und für die allein die Todesstrafe vorgeschlagen werden kann, und den Fällen des Totschlages, für die es auch die grundsätzlichen Anhänger der Todesstrafe bei dem Zuchthaus belassen wollen. Bis 1943 hieß „Mord" die Tötung, die mit Überlegung ausgeführt wurde. Man hatte längst vor den Zeiten des Nationalsozialismus erkannt, daß das eine viel zu starre, in vielen Fällen unbefriedigende Grenzziehung ergab. Jetzt haben wir im Gesetz einen aus dem modernen Schweizer Recht übernommenen Katalog von Beweggründen und von Begehungsarten, bei denen die Tötung als Mord angesehen werden soll. U m jeden einzelnen Punkt dieses Katalogs rankt sich ein Kranz von juristischen Auslegungsfragen. Im grundsätzlichen und im einzelnen ist gerade in diesem Mordparagraphen sehr vieles streitig und zweifelhaft. Nun haben juristische Streitfragen gewiß ihren Reiz. Aber Entscheidungen über Leben und Tod sollten doch besser nicht von dem Ergebnis solcher fachjuristischen Scharfsinnsübungen abhängen. Wenn also der Gesetzgeber nicht in der Lage ist, eine ganz klare, auch innerlich einleuchtende und nicht an allen Ecken und Enden erst noch auslegungsbedürftige Grenze um die nach seiner Ansicht todeswürdigen Fälle zu ziehen, sollte er diese seine eigene Aufgabe nicht auf den Richter abwälzen. Außer einem Stande von Richtern, die bereit wären gegen das fünfte Gebot zu verstoßen, braucht man für die Todesstrafe auch einen Henker. Es ist freilich nicht zu befürchten, daß man keinen fände. Seit die Debatte über die Todesstrafe wieder in Gang gekommen ist, haben sich beim Bundesjustizministerium zahlreiche Leute aus freien Stücken zu diesem Amte gemeldet. Ihre Bewerbungsschreiben „machen in abstoßendster Weise deutlich, mit welcher Art von Menschen man es dabei zu tun hat" {Dreher, ZStR 70, 547). Es ist unerträglich, vom Staat eine Art der Rechtspflege zu verlangen, für die man einen bezahlten Sadisten braucht, eine Figur, um die seit jeher alle anständigen Menschen mit gutem Grund immer einen weiten Bogen gemacht haben. Was nur schlechte und verächtliche Menschen freiwillig zu tun bereit sind, das kann nichts Gutes und Gerechtes sein. Die christlichen Kirchen treten weithin als Befürworter der Todesstrafe auf. Es müssen wohl sehr gute theologische Fachkenntnisse dazugehören, um verstehen zu können, wie sich das mit dem fünften Gebot und mit der Bergpredigt verträgt. Einer unserer ehrwürdigsten Rechtsgelehrten, der alte Professor Sieverts in Hamburg, hat dazu gesagt: „Sollte aus religiösen Gründen die Wiedereinführung der Todesstrafe die

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erforderliche parlamentarische Mehrheit finden, so wäre es konsequent, dann auch den Ausspruch und den Vollzug dieses Sühneopfers wie einst zuständigkeitshalber wieder in die Hand der Priester zu legen." - Soweit Sieverts. Die Aussichten, einander in dieser Frage mit Vernunftgründen zu überzeugen, sind nicht groß. Wie man sich hier entscheiden soll, das ist nicht nur das Ergebnis von Erkenntnissen, sondern es ist eben vor allem ein Bekenntnis. Daran scheiden sich die Geister. Daran, ob einer ein standhafter Anhänger oder ein überzeugter Gegner der Todesstrafe ist, oder ob er zur Mehrheit der ständig Schwankenden gehört - daran zeigt sich, was er für einer ist. Der Wunsch, jemand möge seine Meinung über die Todesstrafe ändern, ist gleichbedeutend mit dem Ansinnen, er möge selbst ein anderer werden, eine innere Wandlung erleben. Bei vielen unserer Besten ist diese Wandlung vom Anhänger zum Gegner der Todesstrafe eine Wirkung nicht von Gründen, sondern von Erlebnissen gewesen. Der ungeheuerliche Mißbrauch der Todesstrafe zur Zeit des Nationalsozialismus, die verruchte Nichtachtung des Menschenlebens, die sadistische Genugtuung über das Rollen von Köpfen - das alles sollte ein hinreichender Grund zu dem Gesinnungswandel sein, dem der Parlamentarische Rat mit der Abschaffung der Todesstrafe Ausdruck gegeben hat. D e r Staat, der kein Leben gibt, hat nicht das Recht, Leben zu nehmen.

Amnestie und Gnade1 (1970)

Die Gnade steht in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zum Recht. Eine alte Redewendung sagt, daß „Gnade vor Recht" ergeht; also entweder anstelle oder zur Abänderung eines Rechtsurteils. Dabei wird also vorausgesetzt, daß ein Sachverhalt, gewöhnlich eine Straftat, vorliegt, der vom Richter schon rechtlich beurteilt worden ist oder doch eigentlich vom Richter rechtlich beurteilt werden müßte. In einem Gemeinwesen, das ein „Rechtsstaat" sein oder doch werden möchte, mag es auf den ersten Blick auffallen, daß solche Durchbrechungen von Rechtssprüchen überhaupt für möglich gehalten werden und vorkommen. Aber zumindest eine Strafrechtspflege wäre ohne diese Möglichkeit kaum durchführbar. Als Strafrichter Recht zu sprechen, ist eine ungemein lastende Aufgabe. Sie muß, so lange die Gesellschaft aus Menschen besteht, wie wir es sind, erfüllt werden. Statt jeder philosophischen Begründung braucht man sich nur einmal vorzustellen, was geschehen würde, wenn wir keine Strafgerichtsbarkeit hätten. Das würde die Rückkehr zu einer Zeit bedeuten, in der die Selbstjustiz die Rolle unserer heutigen Strafrechtspflege spielte. Damals vertrat die Rache die Stelle der Strafe. Anfänglich kannte die Rache nicht einmal Grenzen. Nicht nur kam es vor, daß Beleidigungen mit Totschlag beantwortet wurden; sondern das war damals nicht einmal Unrecht. Wir haben uns daran gewöhnt, den Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" als den Ausdruck einer besonders harten, unbarmherzigen Zeit und Denkweise zu empfinden. Aber als dieser Grundsatz zum ersten Mal ausgesprochen wurde, hatte er im Gegenteil den Sinn eines einschränkenden Prinzips. Er sollte einen Damm ziehen. Es sollte nicht mehr, wie bis dahin, erlaubt sein, den Täter einer Körperverletzung zu töten. D e m Schuldigen sollte nicht mehr angetan werden dürfen, als er selbst verbrochen hatte. Seien wir uns darüber klar, daß selbst unser modernes Strafrecht den alten Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" in diesem einschränkenden Sinne noch nicht vollkommen hat verwirklichen können. Wer einen anderen für mehr als eine Woche der Freiheit beraubt, ist - selbst

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Rundfunkvortrag, gehalten am 1 6 . 1 . 1 9 7 0 im Deutschlandfunk.

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bei mildernden Umständen - mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Monat bis zu fünf Jahren bedroht. Wohl kaum jemals würde unser heutiges Rechtsgefühl sich damit abfinden, den Täter einer Freiheitsberaubung nur so lange einzusperren, wie er selbst sein Opfer eingesperrt hat. Eigentlich haben wir also keinen Grund, uns menschlicher vorzukommen als jene Zeiten, in denen man sagte: „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Bei anderen Verbrechen als der Freiheitsberaubung fehlt uns überhaupt eine so einleuchtende Vergleichsmöglichkeit. Wir können und wollen Verstümmelungen nicht mehr mit Verstümmelungen ahnden. W i r können das strafwürdige Verhalten überhaupt nur mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen ahnden. Ein rationaler Maßstab, an dem sich ablesen ließe, welche Geldstrafe, welche Freiheitsstrafe für einen Einbruch, für eine Notzucht, für eine Verleumdung, für eine Brandstiftung angemessen wäre - ein solcher Maßstab fehlt uns durchaus. Der Richter muß in all diesen Fällen das Maß innerhalb eines vom Gesetz sehr weit gespannten Strafrahmens suchen. Das Gesetz gibt hier keinen wirksamen Schutz gegen die Gefahr, daß er sich vergreift. Seine Verantwortung, die Last auf seine Seele wäre überhaupt nicht zu tragen, wenn es nicht die Möglichkeit einer Korrektur durch die Gnade gäbe. M a n muß sich einmal darüber klar sein, wie zahlreich die Fälle sind, in denen sich an das Strafverfahren vor Gericht ein Gnadenverfahren vor einer anderen Behörde anschließt, die dann erst das wirklich zu vollstreckende Strafmaß findet. Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Dafür gibt es zwei Gründe: Einmal leidet die Strafzumessung bei uns an einem Mißverhältnis zwischen dem, was die öffentliche Meinung mindestens fordert, und dem, was der Verurteilte höchstens aushalten kann. Der vielzitierte Mann auf der Straße, derjenige nämlich, der den Strafvollzug nicht aus eigener Anschauung kennt, stellt ihn sich weniger schwer und drückend vor, als er in Wirklichkeit ist. Ihm fehlt nicht nur die Anschauung oder gar die persönliche Erfahrung, sondern vor allem auch die Phantasie, die Vorstellungskraft. Er kann sich gar nicht klarmachen, ein wie überaus schwerer Eingriff in das Leben es ist, auch nur einen einzigen Tag lang eingesperrt zu sein. Wenn er in der Zeitung liest, daß jemand für einen Einbruch ein Jahr Freiheitsstrafe bekommen hat, neigt er dazu, das für sehr milde, ja für allzu milde zu halten. Er ist eben durchaus nicht in der Lage, sich die Verbüßung dieses Jahres als eine Wirklichkeit vorzustellen. Er macht sich nicht klar, daß der verurteilte Einbrecher den Gedanken, daß er für seine Tat büßt, unmöglich dieses ganze Jahr lang festhalten kann. Der Mensch, der dieses Jahr verbüßt, wird im Laufe dieser Zeit sozusagen ein anderer als der, der die Tat begangen hat. Nicht notwendig ein besserer; über die Möglichkeit oder Wahrschein-

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lichkeit der Besserung durch noch so strenge Strafen sollte man sich keine Illusionen machen. Aber der Gefangene wird allmählich zum vergeßlichen Zeugen seines eigenen Verbrechens. Er trägt den Strafvollzug von einem gewissen Zeitpunkt an nur noch als unverdientes Unglück, in der Uberzeugung, ihm sei viel zu viel geschehen. Die Korrektur durch die Gnade trägt ein wenig - geben wir uns darüber keinen Täuschungen hin - ein ganz klein wenig dazu bei, dieses MißVerhältnis zwischen der Phantasielosigkeit der rachsüchtigen Öffentlichkeit und der beschränkten Leidensfähigkeit des Verurteilten auszugleichen. Der andere Gesichtspunkt, um den es sich hier handelt, ist folgender: Es ist ein schon nicht mehr ganz neuer Gedanke, daß der Richter den Mann, den er verurteilt, in der verhältnismäßig kurzen Verhandlung nicht eingehend genug kennenlernen kann, um seiner Persönlichkeit mit dem Strafmaß gerecht zu werden. Das kann man eigentlich erst, wenn man sieht, wie die Strafe auf ihn wirkt. Im Jugendstrafrecht, das bei uns in mancher Hinsicht Pionierdienste für die Entwicklung des Erwachsenenstrafrechts geleistet hat, gibt es deshalb die Verurteilung zu unbestimmter Strafe, also etwa zu zwei bis vier Jahren. Das endgültige Maß wird erst während der Vollstreckung gefunden und festgesetzt. Im Erwachsenenstrafrecht gibt es das nicht - noch nicht. Hier gibt die Möglichkeit von Gnadenerweisen nach Verbüßung eines Teiles der Strafe Gelegenheit, etwas Entsprechendes erst einmal versuchsweise zu erproben, ehe man es zum Gesetz erhebt. Hier findet sich die Gnade in einer Rolle, die sie im Laufe der Rechtsgeschichte schon oft gespielt hat, nämlich in der Rolle des Schrittmachers für Reformen des Rechts. So hat sie diesen Dienst etwa bei der Abschaffung der Todesstrafe geleistet. Die Einsicht, daß eine moderne Gesellschaft ihre Mitglieder nicht töten darf, ist ja nicht gerade neu. Schon der Entwurf unseres alten Reichsstrafgesetzbuches, das vor 100 Jahren in Kraft getreten ist, enthielt die Todesstrafe nicht mehr; vor seinem Inkrafttreten waren eine ganze Reihe von deutschen Ländern sehr gut ohne sie ausgekommen. Es war Bismarck, der - übrigens mit bemerkenswert schwachen Gründen und zweifellos mehr mit dem Gewicht seines politischen Willens - ihre Aufnahme in das Gesetz erzwang. Die Wiederabschaffung, die uns erst das Grundgesetz von 1949 brachte, ist durch eine große Zahl von Gnadenerweisen vorbereitet worden. In der Zeit der Weimarer Republik war die Vollstreckung von Todesurteilen die seltene Ausnahme, die Begnadigung durchaus die Regel. Nach 1945 wurden fast alle Todesurteile im Gnadenwege in Zuchthausurteile umgewandelt. Und seltsam: So leidenschaftlich viele Leute für die Todesstrafe eintreten, so selten waren Proteste gegen diese Begnadigungen. So hat auch hier die Gnadenpraxis der Rechtsentwicklung den Weg geebnet.

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Bisweilen wird indessen die Meinung vertreten, gerade dergleichen dürfe nicht die Aufgabe der Gnade sein. Das Recht müsse unter rechtlichen Gesichtspunkten entwickelt werden; die Gnade, die dem Recht vorgeht, habe nur im Einzelfall der Korrektur da zu dienen, wo die Rechtsentscheidung falsch sei oder zu hart wirke. Aber „die Art der Gnade weiß von keinem Zwang": So sagt Porzia in Shakespeares „Kaufmann von Venedig". Eben weil sie dem Recht vorgeht, kann sie ihm sehr wohl auch einmal vorangehen und ihm das Ziel weisen. Mit Vorschriften kann man das eben gerade nicht hindern. Richtig ist freilich, daß man sich unter der Bezeichnung „Gnadenerweis" im allgemeinen zunächst keine rechtsgrundsätzliche Entscheidung vorstellt, sondern einen Eingriff von hoher Hand etwa wegen letzter tatsächlicher Zweifel im Einzelfall, Zweifel an der Täterschaft oder der Zurechnungsfähigkeit des Verurteilten, Zweifel, die das zuständige Gericht nicht gehabt hat, aber vielleicht hätte haben sollen; oder auch aus Billigkeitserwägungen, deren Berücksichtigung das Gesetz dem Richter nicht ermöglicht hat. Welche Konflikte hier unter Umständen gelöst werden müssen, das hat der große Sling, Gerichtsberichterstatter der „Vossischen Zeitung" in den zwanziger Jahren, einmal sehr kritisch klargelegt. Ein Angeklagter David Strasser war vom Schwurgericht wegen Mordes an seiner Frau und seinem Sohn zum Tode verurteilt worden. Das Schwurgericht selbst hatte aber einstimmig beschlossen, beim Staatsminister die Begnadigung des Verurteilten zu beantragen. Diesen Beschluß hatte es gleichzeitig mit dem Urteil öffentlich verkündet. Dazu sagt Sling: „ . . . ein Vers, der sich zu den Taten Strassers, wenn er sie begangen hat, sehr schlecht reimt. Wollte das Gericht ausdrücken, daß es aus lauter prinzipiellen Gegnern der Todesstrafe besteht, so darf man sagen: Danach ist das Gericht nicht gefragt. Es ist gefragt, ob Strasser schuldig ist, Frau und Sohn ermordet zu haben; es hat beide Male mit „Ja" geantwortet . . . Wollte es mit seinem Gnadengesuch die mildernden Umstände in das Urteil hineinpraktizieren, die das geltende Gesetz beim Mord nicht kennt? Es gibt Fälle, in denen es angebracht ist. Andererseits: Hat ein Mann mit kaltem Herzen aus Gewinnsucht Frau und Sohn getötet und war dieser Mann geistig gesund und ohne allzu fühlbare innere und äußere Not, so ist der Anlaß zur Begnadigung kaum gegeben. Oder aber - will das Gericht zum Ausdruck bringen, daß der Indizienbeweis nicht bis auf das letzte Glied geschlossen ist, daß dennoch eine Lücke, eine entfernte Möglichkeit für die Unschuld des Angeklagten bleibt? Will es sagen: Wir halten ihn zwar für schuldig, aber man kann doch nicht genau wissen! Dann hätte es eben die Schuldfrage verneinen müssen . . . Man salviert nicht sein Gewissen,

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indem man durch einen Nachsatz zum Todesurteil den Versuch macht, die irreparable Ausführung des Spruches zu verhindern." Mit dieser Kritik hat Sling gewiß recht. Aber es wird auch deutlich, wie schwierig die Grenzziehung zwischen Recht und Gnade ist. Gesagt wurde vorhin, daß die Verantwortung eines Strafrichters überhaupt nicht zu tragen wäre, wenn es nicht die Möglichkeit einer Korrektur durch die Gnade gäbe. Das darf aber nicht so verstanden werden, als dürfe der Richter im Einzelfall seine tatsächlichen Zweifel unterdrücken und trotz ihrer den Angeklagten verurteilen in der Erwartung oder Hoffnung, er werde dann begnadigt werden. Der Fall Strasser macht das besonders deutlich. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob jemand deshalb begnadigt wird, weil Zweifel an seiner Schuld bestehen, oder deshalb, weil die Strafe zu hart erscheint. Letzterenfalls wäre nur die Strafe zu ermäßigen, also das Todesurteil in ein Urteil auf lebenslanges Zuchthaus zu ändern. Hat aber das Gericht Zweifel an seiner Täterschaft, so gehört der Angeklagte natürlich auch nicht gnadenweise ins Zuchthaus, sondern dann muß er freigesprochen werden. Ohne eine nähere Begründung war dieses Gnadengesuch also ein Rätselspruch. Möglich ist allerdings, daß die einzelnen Mitglieder des Gerichts sich aus verschiedenen Gründen für einen Gnadenerweis ausgesprochen haben: Die einen, weil sie Zweifel an der Schuld hatten, die anderen als grundsätzliche Gegner der Todesstrafe. Möglich ist weiter, daß einer oder der andere von den Geschworenen nur unter der Bedingung mit dem Urteil einverstanden war, daß ihm dieses Gnadengesuch hinzugefügt wurde. Dann machte zweifellos das Beratungsgeheimnis eine Begründung für das Gnadengesuch unmöglich. Ein anderes Beispiel, das sowohl das Recht als auch die Gnade im Zwielicht zeigt, findet sich in Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. In dem Kapitel, das er selbst mit „Intrigen" überschreibt, schildert er seinen Konflikt mit dem deutschen Botschafter in Paris, Graf Harry Arnim. Nach dieser Schilderung hätte dieser Konflikt darin bestanden, daß Bismarck, als Reichskanzler Arnims Vorgesetzter, von diesem gewisse Schriftstücke herausverlangte, die er selbst für amtliche Akten, Arnim dagegen für private Briefschaften erklärte. Dazu sagt nun Bismarck wörtlich: „In dem Gerichtsverfahren verfolgte ich nur den Zweck, die von mir dienstlich gestellte, von Arnim definitiv abgelehnte Forderung der Herausgabe . . . durchzusetzen. Mir kam es nur darauf an, als Vorgesetzter die amtliche Autorität zu wahren; ein Straferkenntnis gegen Arnim habe ich weder erstrebt noch erwartet; im Gegenteil würde ich, nachdem ein solches erfolgt war, seine Begnadigung wirksam befürwortet haben, wenn sie . . . juristisch zulässig gewesen wäre. Mich trieb keine persönliche Rachsucht, sondern . . . eher bürokratische Rechthaberei."

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Soweit Bismarck. Nun gibt es ganz andere Darstellungen dieser Geschichte, aber darauf kommt es hier nicht an. Wenn es so gewesen ist, wie Bismarck selbst es darstellt, dann handelte es sich um einen M i ß brauch sowohl des Strafrechts als auch der Gnadenbefugnis. Das Strafrecht - man denke: Fünf Jahre Zuchthaus! - ist nicht dazu da, einen Diplomaten zur Herausgabe von Schriftstücken zu nötigen, wenn die Verpflichtung dazu zweifelhaft ist, oder überhaupt dazu, Meinungsverschiedenheiten zwischen Vorgesetzten und Untergebenen mit Gewalt zu entscheiden. Und die Begnadigung ist nicht dazu da, einen Beamten vor einer - unterstellen wir - verdienten Strafe zu schützen, nachdem er und nur weil er seinem Vorgesetzten den Willen getan hat. Auch ist es schwer zu glauben, daß Bismarck, der immerhin Jurist war, das Zuchthausurteil gegen Arnim, das er durch seine Schritte erst ermöglicht hatte, weder erstrebt noch erwartet haben sollte. Denn wenn bei dem Strafverfahren keine Verurteilung herauskam, war es ja ganz ungeeignet, Arnim zu irgend etwas zu zwingen. Und daß gerade Bismarck nicht gewußt haben sollte, eine Begnadigung sei „juristisch" immer zulässig, ist ebenfalls schwer zu glauben. Der ganze Bericht, treffe er nun zu oder nicht, zeigt eine recht souveräne Verachtung der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtspflege überhaupt; und er macht eine Gefahr sichtbar, die von einem Mißbrauch des Begnadigungsrechts ausgehen kann. Zu den bei uns gewachsenen Vorstellungen von einem Rechtsstaat gehört das sogenannte Legalitätsprinzip, das heißt der Grundsatz, daß alle mit Strafe bedrohten Handlungen auch der Bestrafung zugeführt werden. Es gibt Ausnahmen von dieser Regel, aber auch sie sind gesetzlich festgelegt. Die Gnadenbefugnis läßt sich mißbrauchen. Sie läßt sich willkürlich ausüben oder versagen; sie bringt die Gefahr mit sich, daß die Gleichheit vor dem Gesetz praktisch nicht mehr gilt. Selbst wenn man nicht gleich an Vorgänge denkt wie die des 30. Juni 1934, als Hitler eine Vielzahl von Morden nachträglich für „rechtens" erklärte, ist die Sorge nicht immer zu unterdrücken, daß Gleiches verschieden behandelt werden könnte. Die Begnadigungspraxis der Weimarer Republik war gegen nationalsozialistische Verbrecher sehr großzügig, zum Beispiel gegen Hitler selbst; für Kommunisten gab es sie so gut wie überhaupt nicht. Derartige Verstöße gegen die Idee des Rechts sind immer auch politisch dumm, wie in diesem Beispielsfall nachträglich wohl nicht mehr bewiesen zu werden braucht. Primitive Zeiten konnten sich ein gewisses Maß an Willkür gerade bei Begnadigungen leisten. Wir wissen aus den Evangelien, daß der römische Landpfleger die Gewohnheit hatte, zu Ostern einen „Gefangenen" freizugeben, und zwar nach Wahl des Volkes; und wir wissen, daß das Volk just den Verkehrten herausverlangte, nämlich Barrabas, der jedenfalls nach dem Johannes-Evangelium - ein Mörder war. Im Mittel-

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alter war es an manchen Orten Brauch, den armen Sünder noch am Galgen freizugeben, wenn eine Jungfrau ihn zur Ehe begehrte. Das Bemerkenswerte an dieser Gnadenentscheidung war, daß sie weder von der Obrigkeit noch vom Volke getroffen wurde. Ein anderes Brauchtum bestand darin, den zum Tode Verurteilten freizulassen, wenn seine Hinrichtung mißlang, wenn also etwa der Strick riß, mit dem man ihn hängen wollte. Aber vielleicht gehört das eher in Vorstellungen von einem Gottesurteil als zum Begriff der Gnade. Das verständliche Bedürfnis, auch im Bereich der Gnade Gleiches gleich zu behandeln, hat zu einer Entwicklung geführt, die zu dem Wesen der Gnade eigentlich im Widerspruch steht. Die Gleichbehandlung des Gleichen erfordert nämlich die Aufstellung verbindlicher Regeln. So hat sich, obwohl die Gnade ja eigentlich dem Recht vorgehen soll, eine ganze Anzahl solcher Regeln herausgebildet. Es gibt eigentlich in allen westlichen Ländern und so auch bei uns Bestimmungen über die Befugnis zur Begnadigung und über die Handhabung dieser Befugnis. Früher handelte es sich um ein ungeschriebenes Recht des Herrschers, das einfach aus seiner Machtfülle abgeleitet wurde. Heute sieht man die Gnadenbefugnis als ein verfassungsmäßiges Recht des Staates an, dessen Ausübung durch das Staatsoberhaupt oder durch bestimmte Dienststellen genau geregelt ist. Jeder Staat wacht eifersüchtig darüber, daß ihm dieses Recht nicht durch andere Staaten beschnitten wird. Die Einführung einer zweiten Instanz für Staatsschutzsachen drohte eine Weile daran zu scheitern, daß man sich zunächst nicht darüber einigen konnte, ob in diesen Fällen das Gnadenrecht beim Bundespräsidenten verbleiben sollte, das er in Staatsschutzsachen wegen der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs gehabt hatte, oder ob es, nachdem Gerichte der Länder in erster Instanz zuständig wurden, auf die entsprechenden Organe der Länder übergehen sollte. Ferner sind allenthalben durch das Gesetz und durch den Inhaber der Gnadenbefugnis Regelungen über die Zuständigkeit, den Umfang und das Verfahren bei Gnadenentscheidungen getroffen worden. Mit anderen Worten: Wir haben jetzt ein regelrechtes Gnadenrecht. Eines allerdings haben wir noch nicht: Nämlich ein Recht des Verurteilten auf Gnade. Immerhin ist das schon streitig und zweifelhaft geworden. In einem Rechtsstaat oder - wie man spöttisch gesagt hat „Rechts wegestaat", „Rechtsmittelstaat" wie dem unseren, wo alle staatlichen Entscheidungen durch die Gerichte auf ihre Rechtmäßigkeit nachgeprüft werden können, liegt der Gedanke nicht allzu fern, eine solche gerichtliche Nachprüfbarkeit auch für die Gnadenentscheidungen zu fordern. Vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht das zwar abgelehnt; aber nur mit vier gegen vier Stimmen. Dafür wurde geltend gemacht, daß es überhaupt keine Entscheidungen anderer Behörden

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geben dürfe, die der gerichtlichen Nachprüfung entzogen seien; auch müsse ein praktischer Schutz gegen Willkür möglich sein. Dagegen wandte die siegreich gebliebene Meinung ein, die Gnade sei dazu da, das Recht zu korrigieren; also könne sie nicht wieder unter rechtlichen Gesichtspunkten kontrolliert werden. Man kann also nicht gegen die Gnadenbehörde auf Gewährung eines Gnadenerweises klagen. Welchen Platz hat innerhalb dieses Gnadenwesens nun die Amnestie? Ursprünglich betrachtete man die Amnestie als eine Massenbegnadigung, zu der die Befugnis ebenso wie das Recht zu einzelnen Gnadenerweisen aus der Machtfülle des absoluten Herrschers hervorging. Amnestien wurden aus Anlässen verfügt, die mit den Taten wenig oder gar nichts zu tun hatten. Der Herrscher nahm etwa seine eigene Thronbesteigung zum Anlaß zu einer Massenbegnadigung, sei es, um sich als gnädiger Fürst zu erweisen oder um sich beliebt zu machen, sei es, um seinen Vorgänger und dessen Strafrechtspolitik recht gründlich und sichtbar zu desavouieren und sich unter den von dessen Gerichten Verurteilten dankbare Anhänger zu verschaffen. Als Hindenburg starb, erließ Hitler eine recht weitgehende Amnestie. Andere Anlässe für Amnestien bildeten - bei uns liegt das freilich schon etwas zurück gewonnene Kriege. Auch sonst geben freudige Anlässe bisweilen Grund oder Vorwand zu einer Massenbegnadigung. 1949 folgte eine Amnestie der Errichtung der Bundesrepublik. Ahnlich, wenn auch wesentlich bescheidener, liegt es bei den üblich gewordenen allgemeinen Straferlässen zu Weihnachten. Meist beschränken sie sich auf die vorzeitige Entlassung von Gefangenen, die ihre Strafen eigentlich erst während der oder kurz nach den Feiertagen voll verbüßt hätten. Aber es gibt auch noch ganz andere, weit sachlichere Anlässe für Amnestien. Wenn eine Läuterung des allgemeinen Rechtsempfindens zu Änderungen des Strafgesetzes mit der Wirkung geführt hat, daß ein bisher strafbar gewesenes Verhalten von nun an nicht mehr bestraft wird, so wäre es nicht erträglich, die nach dem bisherigen Recht Abgeurteilten ihre Strafen noch weiter verbüßen zu lassen. Gewöhnlich pflegt in solchen Fällen der Strafmakel auch dadurch beseitigt zu werden, daß der Vermerk im Strafregister getilgt wird. Auch solche Amnestie-Bestimmungen wird man unter den Begriff der Gnade bringen müssen. Denn immerhin werden hier ja rechtskräftige und dem früheren Gesetz entsprechende Richtersprüche nachträglich korrigiert. Indessen ist das nur eine formelle Seite der Sache. Dem eigentlichen Sinn und Gehalt nach handelt es sich dagegen um eine Korrektur des Rechts selbst. Aus diesem Grunde werden derartige Amnestien bei uns nur in der Form des Gesetzes für zulässig gehalten. Auch sonst ergehen bei uns Massenbegnadigungen in der Form von Straffreiheitsgesetzen.

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Sie sind nicht ohne Problematik. Weder die Auffassung solcher Amnestien als Gnadenerweise noch die Gesetzesform ändert etwas daran, daß hier immer eine ungerecht wirkende Zeitgrenze entsteht. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das gleiche Verhalten, das von nun ab erlaubt und straffrei ist, bestraft worden; und noch lange Zeit sind Menschen am Leben, die wegen eines jetzt gestatteten Verhaltens Strafe erlitten haben. Dabei ist zu bedenken, daß die Wirkungen der Strafe mit deren Verbüßung oder selbst mit deren vorzeitigem Abbruch oft nicht zu Ende sind. Man stelle sich vor, daß jemand wegen einer jetzt straflosen Form homosexueller Betätigung früher verurteilt worden ist. E r hat nicht nur die Strafe verbüßt. Das wäre in vielen Fällen noch am leichtesten zu verschmerzen. Aber er hat durch den Strafantritt seinen Arbeitsplatz verloren und später keinen gleichwertigen wiedergefunden. Oder ihm ist beispielsweise mit Rücksicht auf die Verurteilung sein akademischer Grad, sein Doktortitel aberkannt worden. Durch die Änderung des Gesetzes hat er ihn nicht ohne weiteres wieder. Es zeigt sich also, daß solche immerhin bedeutungsvollen Änderungen der Rechtsanschauungen den Gesetzgeber veranlassen sollten, sich eingehend zu überlegen, in welcher Weise er den Ubergang möglichst glatt und schmerzfrei gestalten kann. Diese Aufgabe erfordert Umsicht und Geschick; man kann nicht behaupten, daß unser Gesetzgeber hier immer die beste Lösung gefunden hätte. In diesen Zusammenhang gehört schließlich noch eine besondere Schwierigkeit beim Erlaß von Straffreiheitsgesetzen, deren Bewältigung besonders wichtig wäre, aber bei der vorgeschriebenen Arbeitsweise unseres Gesetzgebungsapparats gar nicht leicht ist. Eine Amnestie sollte plötzlich und unerwartet kommen. Wird sie lange vorher angekündigt, in der Öffentlichkeit ausführlich diskutiert, zwischendurch dementiert und dann wieder von neuem versprochen, so entsteht Schlimmeres als Unsicherheit. Vielmehr führen solche umständlichen und weithin sichtbaren Vorbereitungen zu der Gefahr, daß Menschen Straftaten in der Erwartung begehen, unter die Amnestie zu fallen. Da weiß man dann kaum, was schlimmer ist: Wenn sich diese Hoffnung wirklich erfüllt, oder wenn sie in ihr schließlich enttäuscht werden. Gewiß kann man bei uns ein bevorstehendes Gesetz, also auch ein Straffreiheitsgesetz, nicht in aller Heimlichkeit beschließen. Es muß in den Bundestag eingebracht werden, womit es schon der Öffentlichkeit bekannt wird. Es sind mehrere Lesungen erforderlich, der Bundesrat muß mitsprechen; kurz, es geht beim besten Willen nicht von heute auf morgen. Aber es ist schwer erträglich, wenn ein solches Amnestiegesetz, noch ehe überhaupt ein beratungsfähiger Entwurf vorliegt, schon zum Gegenstand politi-

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scher Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und in der Öffentlichkeit gemacht wird. Das führt zu Mißständen, die sich hätten vermeiden lassen.

Die strafrechtliche Problematik der NS-Prozesse 1 (1963 oder 1964)

Wer sich nicht von Berufs wegen mit Strafsachen beschäftigt, der könnte auf den Gedanken kommen, die rechtlichen Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Verbrechen müßten um so größer sein, je schwerer die jeweilige Tat ist. Aber das Gegenteil ist richtig. Mord und Totschlag gehören fast zu den einfachsten Tatbeständen, mit denen der Strafrichter es zu tun haben kann; die Beurteilung etwa einer fahrlässigen Tötung ist im allgemeinen wesentlich schwieriger. Ein schweres Sittlichkeitsverbrechen ist, was das Rechtliche betrifft, einfacher zu beurteilen als eine Beleidigung; eine vorsätzliche schwere Körperverletzung einfacher als ein Zusammenstoß zweier Autos mit bloßem Blechschaden; (vorsätzlicher) Meineid einfacher als fahrlässiger Falscheid. Auffällig ist das auch nur auf den ersten Blick. Denn ganz natürlich spricht das unmittelbare Rechtsgefühl bei schweren Taten rascher und lebendiger an als bei leichten. Daß jemand, der einen Mitmenschen bewußt und aus häßlichen Beweggründen ums Leben gebracht hat, dafür die schwerste Strafe bekommen muß: um das einzusehen, bedarf es keiner großen Paragraphenkenntnis. Daß die Schwierigkeiten zum guten Teil an der Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen vorwerfbarem und nicht mehr vorwerfbarem, zwischen leichter, gerade eben noch strafbarer Fahrlässigkeit und kaum vermeidbarem, deshalb eben noch erlaubtem Risiko liegen: das begreift wohl auch der Laie. Auf dieser Erkenntnis beruhen auch die Vorschriften, die bei uns die Beteiligung der Laien an der Strafrechtspflege regeln. Bei den Schwurgerichten, die über die schwersten Verbrechen zu urteilen haben, sitzen sechs Geschworene mit drei Berufsrichtern zusammen 2 . Sie können also, wenn sie einig sind, mit der vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit gegen die Stimmen der Berufsrichter zu einem Schuldspruch kommen. Und vier von ihnen können schon einen Freispruch erzwingen. Beim Straf-

Vortragsmanuskript aus dem Jahr 1963 oder 1964. Seit der sog. „Emminger-Reform" des Jahres 1924 bestand bis 1974 ein neben den Strafkammern beim Landgericht gebildeter nicht ständiger Spruchkörper eigener Art in der im Text angegebenen Besetzung. Durch Art. 2 Nr. 19, 25 des ersten Strafverfahrensreformgesetzes 1974 wurden diese abgeschafft und die Aufgaben des Schwurgerichts einer Strafkammer des Landgerichts in der üblichen Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei Schöffen übertragen. 1

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maß sprechen die Geschworenen schlechthin das entscheidende Wort. Diese Mitbeteiligung und Mitverantwortlichkeit der Laienrichter bei der schweren Kriminalität, insbesondere auch bei der Aburteilung der NSVerbrechen, wird von der Kritik so gut wie immer übersehen, verkannt, verschwiegen. Wo auch immer ein Urteil der Kritik zu milde erscheint, knüpft sie gar zu gern Betrachtungen über Vorgeschichte, Anschauungen, Haltung der Berufsrichter, nur der Berufsrichter daran. Und die sind durch das Beratungsgeheimnis gehindert, sich zu wehren. Nun will ich keineswegs darauf hinaus, mit dieser Begründung die Verantwortung für einige bedenkliche Urteile von den Berufsrichtern einfach auf die Geschworenen abzuschieben. Ich möchte vielmehr mit aller Deutlichkeit sagen, daß ein Richter in ganz besonderem Maße gerade für die Urteile verantwortlich ist, bei denen er sich hat überstimmen lassen. Denn da ist er ja derjenige, der sieht: es wird verkehrt. Und dann ist es seine Aufgabe, sein Beruf, die Gründe zu finden, mit denen die richtige Ansicht sich zum Siege führen läßt. Es ist seine Schuldigkeit gegenüber dem Recht, daß er in solchen Stunden seine Rechtskenntnis, seine Menschenkenntnis, seine Schlagfertigkeit, seine Ausdruckskraft bereit hat; und das, während er immer noch Ohren und Sinn den Argumenten offenhält, die ihm entgegentreten - immer bereit, sich auch selbst überzeugen zu lassen, wenn das die besseren Gründe sind. Es kann Fragen geben, in denen man sich überstimmen lassen darf; aber es gibt auch Dinge, in denen es ein Versagen bedeutet, wenn man die Beratung abschließt, ohne überzeugt zu sein oder überzeugt zu haben. Die Entscheidung, wann das eine, wann das andere der Fall ist, muß der Richter vor seinem eigenen inneren Forum finden und verantworten. Rechtskenntnisse allein können ihm das nicht sagen, ein anderer kann es ihn nicht lehren. Pectus facit judicem, das Herz macht den Richter. Aber beim Schwurgericht mit seiner eindeutigen Laienmehrheit ist das oft besonders schwer. Gerade bei den menschlich schwerwiegenden, rechtlich sehr bald an die letzten Grundsätze rührenden Dingen, die hier verhandelt werden, hat der Jurist dem Laien an Fachkenntnissen oft wenig entgegenzusetzen. Gerade hier geht es oft um Fragen, in denen der Laie mit Recht glaubt, eine eigene Ansicht vertreten zu können. So ist denn der Vorsitz im Schwurgericht eine sehr viel lastendere Aufgabe, als etwa der Vorsitz in einem Revisionssenat. Gute Schwurgerichtsvorsitzende sind schwer zu finden. Man sollte das bei der Kritik bedenken. Bei anderen Gerichten, die weniger schwere Taten abzuurteilen haben, ist das Übergewicht der Laien nicht so stark. Bei der großen Strafkammer sitzen zwei Schöffen mit drei Berufsrichtern zusammen. Hier können also die Laien für sich oder die Juristen für sich freisprechen; zu einer Verurteilung gehören hier aber immer Stimmen von Laien und Juristen. Und das ist gut so, denn hier sind die rein juristischen

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Schwierigkeiten vielfach erheblich größer, als sie typischerweise beim Schwurgericht sind. Und die allerkleinsten Strafsachen werden von Einzelrichtern, also ganz ohne Laienbeteiligung abgeurteilt. Diesen Aufbau unserer Gerichtsverfassung muß man sich vor Augen halten, wenn man zu einem Urteil darüber gelangen will, wie sich juristische und - sagen wir - metajuristische, rein menschliche Schwierigkeiten beim Finden des Rechts in leichten, schwereren und ganz schweren Sachen verteilen. So könnte es denn scheinen, Sie hätten mir eine besonders einfache Aufgabe gestellt, eine Aufgabe für einen Laien sozusagen, als Sie mich aufforderten, über die strafrechtliche Problematik der NS-Prozesse zu Ihnen zu sprechen. Aber das scheint nur so. Die sogenannten NSProzesse behandeln durchweg Morde an Hunderten, Tausenden, ja Zehntausenden von Menschen; meist Juden, deutschen und ausländischen, an Insassen von Konzentrationslagern, bisweilen auch von Heilund Pflegeanstalten. Hier treten nun Schwierigkeiten gerade der umgekehrten Art auf als diejenigen, die an der Grenze zwischen dem schon Verbotenen und dem noch Erlaubten zu beobachten sind. Werden dort die Dinge zu klein, um noch eine unmittelbare Reaktion des Rechtsgefühls auszulösen, so werden sie hier zu groß für unser Maß. Schlagen an der einen Grenze die Instrumente kaum noch aus, so drohen an der anderen Grenze die Sicherungen durchzuschlagen. Die Frage nach dem Sinn unseres Richtens muß hier neu gestellt werden; und die Antwort fällt uns noch schwerer als sonst. Wer die Handhabung der strafenden Gerechtigkeit zu seinem Beruf macht, der wird sich immer wieder einmal in einer ruhigen Stunde fragen, warum er das tut. Die Theorie des Strafrechts und die Rechtsphilosophie bieten ihm ein ganzes Areal von Antworten zur Auswahl; und für unsere Fälle wollen sie alle nicht recht passen. D a gibt es die Besserungstheorie. Sie sieht den Sinn der Strafe darin, daß sie den Täter bessere. Gemeint ist natürlich nicht die innere Besserung, die eine Sache der Ethik wäre, sondern die äußere, die sogenannte bürgerliche Besserung. Aber die ist ja bei diesen Tätern längst eingetreten. Sie begehen ja schon lange keine Straftaten mehr, sie führen ein unauffälliges, ja ein mit aller Gewalt unauffälliges Leben. Da ist einer ein beliebter Kinderarzt, ein korrekter kleiner Beamter, ein zuverlässiger Angestellter, man findet sie in jedem bürgerlichen Beruf vom Arbeiter bis zum Universitätsprofessor. Viele von ihnen mögen rührende, von ihren Kindern geliebte Familienväter sein. Sie sehen ganz und gar nicht so aus, wie man sich einen Schwerverbrecher vorzustellen pflegt. Es wäre weltfremd zu glauben, daß von ihnen heute noch eine Gefahr ausginge. Gerade weil sie so überaus bürgerlich sind, bedurfte es ja so

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großer Zurüstungen und hat es so lange gedauert, sie überhaupt zu finden. Nicht anders steht es mit der Sicherungstheorie, die den Sinn der Freiheitsstrafe darin sieht, die Gesellschaft vor der Bedrohung zu schützen, die von einem Verbrecher ausgeht. Daß diese Leute sich auf freiem Fuße befinden, ist aber keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Zu fürchten ist von ihnen nichts. Dann gibt es die Abschreckungstheorie, als spezielle und als generelle, aber diese Täter brauchen aus den genannten Gründen auch nicht abgeschreckt zu werden. Und was die Abschreckung der Allgemeinheit betrifft: diese Taten waren ein grausiges Beispiel dafür, daß sie nicht hilft. Was diese Leute taten, war, als es geschah, noch mit der Todesstrafe bedroht. Sie glaubten nur, sie würden durchkommen, weil sie Hitler, Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner, weil sie die Macht auf ihrer Seite wußten. Das genügte, um die vom geltenden Recht ausgesprochene Drohung, um die allgemeine Abschreckung unwirksam zu machen. Ferner haben wir die Resozialisierungslehre. Die Strafe soll den Verbrecher auf die Wiedereingliederung in die bürgerliche Gesellschaft vorbereiten und ihn dafür geeignet machen. Nun, hier tut sie genau das Gegenteil. Die Strafgründe, die übrigbleiben, sind die der Vergeltung und der Sühne. Das Gleichgewicht ist durch schwere Untaten gestört und muß durch Strafen wiederhergestellt werden. Freilich stockt man auch hier. Lebenslanges Zuchthaus ist die Strafe, die unser Gesetz für den Mord an einem einzigen Menschen als die gerechte Wiederherstellung des Gleichgewichts ansieht. Eine höhere Strafe haben wir nicht. Wir brauchen hier nicht auf die Frage der Todesstrafe einzugehen. Unser Grundgesetz hat sie abgeschafft. An ihre Wiedereinführung ist in absehbarer Zeit nicht zu denken, und würde sie wieder eingeführt, so könnten doch Taten, die vor solcher Wiedereinführung begangen sind, nicht mit ihr belegt werden. Die Frage, ob man zur Todesstrafe grundsätzlich ja oder nein sagt, gehört also ganz sicherlich nicht zur Problematik der NS-Prozesse. Übrigens ist die Todesstrafe überall, wo man sie noch hat, die Sühne für einen, einen einzigen Mord. Das Problem, daß man für alles, was darüber hinausgeht, die Strafe nicht weiter erhöhen kann, bliebe immer bestehen. Da ist der Vergeltung so oder so eine Grenze gesetzt; für den zweiten, für den zwanzigsten, den zweihundertsten, den zweitausendsten Mord kann man dem Täter nichts mehr zufügen, als was man ihm schon für den ersten Mord zufügen muß. Das ist gewiß kein Grund, um mit der Vergeltung überhaupt einzuhalten. Aber es ist gewiß ein Grund, der einem das Strafen aus einem anderen Gesichtspunkt schwermacht. Der ethische Sinn des Strafens liegt in der Sühne; Sühne im Sinn einer Versöhnung zwischen dem Täter und dem Opfer, zwischen dem Volk,

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das sich das Recht gegeben hat, und dem Verbrecher, der es verletzt hat. Diese Versöhnung tritt nun freilich nicht schon dadurch ein, daß man den Verbrecher verurteilt und einsperrt. Sühne ist vielmehr eine autonome Leistung des menschlichen Gewissens; sie setzt voraus, daß der Täter die Strafe willig, als verdient auf sich nimmt, in der Hoffnung, daß man ihm dann nach ihrer Verbüßung werde verzeihen können, und daß er auch selbst wieder seelischen Frieden finden werde. Das wäre bei lebenslangem Zuchthaus also am Ende seines Lebens. Wir brauchen uns keiner Täuschung darüber hinzugeben: die Zahl der Verurteilten, die ihre Strafen in solchem Geiste auf sich nehmen, ist äußerst gering. Das willige Sühnen kann man einem Menschen eben nicht aufzwingen; sonst würde es gerade aufhören, eine autonome Leistung zu sein, und es würde seine versöhnende Wirkung verlieren. Aber für einen christlichen Richter liegt die Rechtfertigung der Strafe doch nun einmal darin, daß sie dem Täter wenigstens die Gelegenheit gibt, zu sühnen. Und es gibt doch Fälle, in denen er davon Gebrauch macht und sich dann nach Verbüßung der Strafe von seinen Selbstvorwürfen befreit fühlt. Ich habe Angeklagte gehabt, die mir das nach ihrer Entlassung gesagt und geschrieben haben. Aber auch an dieser Hoffnung möchte man angesichts der Massentötungen aus der Zeit des Dritten Reichs verzweifeln. Kann denn jemand, der Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat, selbst in der Verbüßung einer lebenslangen Zuchthausstrafe hoffen, wieder Frieden zu finden? Ich getraue mich nicht, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Aber vielleicht finden wir einen Sinn dieser Verfahren und dieser Strafen, wenn wir den Begriff der Sühne auf das ganze Volk beziehen, in dessen Namen die Urteile gesprochen werden. Daß solche Taten im Namen des Volkes verurteilt werden, daß wir weit von ihnen abrücken, daß unserem Abscheu gegen sie ein nüchterner, sachlicher Ausdruck gegeben wird, daß Beschönigungsversuche zurückgewiesen werden, das ist eine ganz unerläßliche Voraussetzung für unsere Versöhnung mit den Angehörigen der Opfer und mit ihrem Volk. Fänden wir die Richter und Geschworenen nicht, deren Hände dazu rein genug geblieben sind, und deren Gerechtigkeitssinn ihnen auch die innere Kraft dazu verleiht, so bliebe die Blutschuld unversöhnt und unversöhnlich auf unserem Volke haften. Soviel über die Probleme, die eher die rechtsphilosophische als die juristische Seite der Sache betreffen. Die juristischen Schwierigkeiten sind nicht unüberwindbar. Immerhin werden sie gelegentlich von den Schwurgerichten nicht ganz beachtet und führen dann zur Aufhebung von Urteilen und zur Neuverhandlung. N u r noch selten gilt das von dem ersten Rechtsproblem, nämlich dem der Verjährung. Freilich sieht das nur bei rein juristischer, sozusagen technischer Betrachtung einfach aus. Verbrechen, die mit lebenslangem

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Zuchthaus bedroht sind, verjähren in zwanzig Jahren. Das gilt für den Mord. Totschlag verjährt in fünfzehn Jahren. Für Verbrechen, die im Dritten Reich aus politischen, rassen- oder religionsfeindlichen Gründen nicht bestraft wurden, ruhte die Verjährung vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945. Demnach sind alle Fälle von Totschlag, gegen die bis zum 8. Mai 1960 kein Richter eingeschritten ist, schon verjährt. Alle Fälle von Mord, gegen die bis zum 8. Mai 1965 kein Richter einschreitet, werden an diesem Tage verjähren 3 . Nun ist aber der Unterschied zwischen Mord und Totschlag nicht so gewaltig, nicht so grundsätzlich, nicht so volkstümlich, daß das Rechtsgefühl nicht litte, wenn ein Mord mit lebenslangem Zuchthaus und ein am gleichen Tage begangener Totschlag überhaupt nicht gesühnt wird. Das aber müssen wir bei unseren NS-Prozessen hinnehmen. Natürlich tritt die Frage auf, wie es möglich war, daß anderthalb Jahrzehnte lang überhaupt nichts gegen die Täter so schwerer Taten unternommen wurde. Eine Teilerklärung ist vielleicht die Tatsache, daß in den ersten Jahren nach dem Kriege die deutsche Justizhoheit noch eingeschränkt war. Ferner waren die Zeugen, soweit sie auf der Opferseite standen, zu einem erheblichen Teil mit beseitigt worden. Wie häufig ist in den jetzigen Prozessen der Zeuge, bei dem man ergriffen an die Hiobspost denken muß, die jedesmal mit den Worten des Boten endet: ich bin allein entronnen, daß ich dirs ansagte. Damals waren diese Zeugen vielfach in alle Winde zerstreut, und jetzt müssen sie oft aus Israel, aus Frankreich, aus Amerika kommen, um ihr Zeugnis abzulegen. So etwas war damals kaum möglich. Und die anderen Beteiligten, die auf der Täterseite, die drängten sich vielfach aus schlechtem Gewissen nicht zu der Zeugenrolle. Die Zonengrenzen, die darniederliegenden Verkehrsverhältnisse, die Flüchtlingsbewegungen, die Internierungslager, das große Durcheinander, alles waren Hindernisse einer systematischen Strafverfolgung. Und mit tiefer Beschämung müssen wir gestehen, daß auch die Zahl der Mitschuldigen in unserem Volk doch groß genug war, um ein ernstliches Hindernis einer geordneten Aufklärung zu bilden. Nun bedenken Sie folgendes: Der innere Grund der Verjährung ist ein doppelter. Erstens macht der Zeitablauf jeden Beweis schwieriger, bis er schließlich unmöglich wird. Die Zeugen vergessen immer mehr, schließlich sterben sie. Urkunden gehen verloren oder sind vernichtet worden. Der in dem Vortrag angegebene Verjährungsbeginn wurde im folgenden durch das sog. Berechnungsgesetz vom 13.4.1965 bis 31.12.1969 hinausgeschoben; anschließend erneut durch die Verlängerung der Verjährung auf 30 Jahre durch das 9. Strafrechtsänderungsgesetz bis Ende 1979. Seit dem 16. Strafrechtsänderungsgesetz besteht für Völkermord und Mord gem. §78 Abs. 2 StGB keine Verjährung mehr. Zur rechtspolitischen Diskussion um die Verjährung der NS-Verbrechen, vgl. UK-Jähnke, § 78 Rdn. 5 und die dort angegebene Literatur. 3

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Auch im Gedächtnis des Täters selbst verblaßt die Erinnerung. Das alles gilt nicht nur für die Beweismittel, die der Uberführung dienen sollen, sondern auch für jedes Mittel eines Entlastungsbeweises. Selbst wenn man glaubt, den Beweis gegen den Täter geführt zu haben oder führen zu können, muß man bedenken, daß der Zeitablauf auch seine Verteidigung in einem Maße zu erschweren beginnt, daß einem schließlich Zweifel kommen, ob man das noch ein faires Verfahren nennen kann. Das Gesetz hat starre Verjährungsfristen; es kann nicht anders, es muß einen Tag bestimmen, bis zu dem die Tat nicht verjährt ist, und von dem ab sie überhaupt nicht mehr verfolgt werden kann. So sagt Faustine bei Conrad Ferdinand Meyer: „Wenn ich gestern noch meinen Mann vergiftet hatte und über Nacht wird die Zeit völlig, so bin ich heute keine Mörderin mehr. Du willst meiner schonen! Du heißest die Richterin, aber du bist die Ungerechte, du machst Ausnahmen, du siehst die Person an!" So sehr einem der verfahrensrechtliche Grundgedanke der Verjährung einleuchten muß, so wenig befriedigt die unvermeidlich starre Grenzziehung. Und ähnlich ergeht es einem mit dem materiellen Grund der Verjährung, dem Gedanken nämlich, daß die Zeit alle Wunden heilt. Wenn zwanzig Jahre selbst einen Mord heilen, so nimmt man das noch hin, wenn auch schon nicht ganz leicht. Aber wenn dieselben zwanzig Jahre auch tausend Morde heilen sollen, da macht das Rechtsgefühl nicht mehr mit. Andererseits: wenn zwanzig Jahre zur völligen Straflosigkeit führen, dann mag es unbefriedigend scheinen, daß achtzehn Jahre nicht wenigstens zu einer etwas milderen Strafe führen können. Es ist kein Wunder, daß die Nähe dieser Grenzen das Rechtsgefühl verwirrt. Die Beweise gehen allmählich verloren, die lindernde Wirkung der Zeit tut ihr Werk ebenfalls allmählich: die Verjährung, die dem Rechnung tragen soll, kann nicht anders als plötzlich eintreten. Und dazu kommt die Unangemessenheit aller unserer Maße. Was Wunder also, daß überall die Verteidiger, manchenorts aber auch die Gerichte im Gesetz nach der Möglichkeit einer Abstufung suchen. Solange die Totschlagsfälle noch nicht verjährt waren, konnte man einen Weg bisweilen an der Grenze zwischen Mord und Totschlag zu finden hoffen. Mit dieser Grenze hat es wiederum eine ungute Bewandtnis. Sie ist nicht ganz so klar, wie man wünschen möchte. Auch ist sie mitten in der Zeit, mit deren Beurteilung wir es zu tun haben, geändert worden. Bis 1943 galt als Mord die Tötung, die mit Überlegung ausgeführt wurde. Das war eine höchst unsachgemäße Abgrenzung. Man braucht nur daran zu denken, daß auf diese Weise auch die aus Barmherzigkeit geschehene Tötung eines Schwerkranken als Mord bestraft werden mußte. Die Änderung des Mordparagraphen ist 1943 denn auch zwar in nationalsozialistischer Zeit, aber nicht in nationalsozialistischem Geiste

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vorgenommen worden. Sie folgte einem schweizerischen Vorbilde. Aber sie leidet an einem anderen Mangel. Sie ist kasuistisch, sie knüpft an eine große Zahl von einzelnen Erschwerungsgründen an, die untereinander wenig Gemeinsames haben, und von denen jeder eine große Zahl von juristischen Streit- und Zweifelsfragen heraufbeschworen hat. Die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag ist zu etwas geworden, was eigentlich nur noch Juristen verstehen; und die sind sich keineswegs auch nur im großen und ganzen einig. N u n bieten freilich die Massentötungen in der NS-Zeit keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gerade an der Grenze zwischen Mord und Totschlag. Der Bundesgerichtshof hat schon Anfang 1952 ausgesprochen, daß politische und rassische Unduldsamkeit niedrige Beweggründe sind und eine Tötung zum Mord machen (BGHSt. 2, 254). Und mit Überlegung wurden alle diese Tötungen ausgeführt, meist mit einer entsetzlich kalten, geradezu geschäftsmäßig nüchternen Überlegung. Oft hat man das Gefühl, daß die Ausführenden ihren Opfern nicht einmal mit Haß, sondern nur mit unmenschlicher Gleichgültigkeit gegenüberstanden. Aber dazu hat der Bundesgerichtshof vor einem Jahr gesagt: „Wer mit Vorstellungen zur Tat schreitet, die bewußt an Haßinstinkte eines verbrecherischen Regimes anknüpfen, von denen er selber frei ist, handelt womöglich noch verwerflicher als ein anderer, der diese Haßgefühle teilt und sich unmittelbar von ihnen leiten läßt" (BGHSt. 18, 39). Haben also diese Täter nur selten eine Chance, ihre Taten als Fälle bloßen Totschlages milder beurteilt oder sogar als verjährt unbestraft zu sehen, so beginnen nun meistens die Anstrengungen ihrer Verteidiger mit dem Versuch, sie nicht als Täterschaft, sondern als Beihilfe erscheinen zu lassen. Die Strafe des Gehilfen muß zwar nicht, aber kann auf drei bis fünfzehn Jahre Zuchthaus ermäßigt werden 4 . Bei der Frage, ob Täterschaft oder Beihilfe, leiden wir immer noch etwas unter der materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Unsicherheit, die auf die sogenannte subjektive Teilnahmelehre des Reichsgerichts zurückgeht. Diese Lehre stellte es darauf ab, ob jemand die Tat als eigene oder als fremde wollte, ob er den „animus auctoris" oder den „animus socii" hatte. Das ist eigentlich eine Vexierfrage. Einmal ist es recht undeutlich, was das überhaupt heißt, eine Tat als eigene oder als fremde zu wollen; zum anderen ist es im Ernste nicht möglich, solche Dinge, die nicht in der Außenwelt, sondern allein im Kopfe des Täters vorgegangen sein sollen, wirklich zuverlässig festzustellen. Wenn man den Täter fragt, erklärt er natürlich, die Tat als fremde gewollt zu haben. Das Reichsgericht hatte die Sache noch dadurch auf die äußerste Spitze getrieben, daß es 4

Die Strafmilderung richtete sich nach § 4 9 Abs. 2 i . V . m . § 4 4 Abs. 2 StGB a. F.

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Gehilfenvorsatz auch bei solchen Tätern für möglich erklärte, die eine Tötung aus eigenem Entschluß ganz allein ausgeführt hatten. Es ist kein Wunder, daß diese Theorie bei den Schwurgerichten immer noch nachwirkt, obwohl der Bundesgerichtshof inzwischen in mehreren grundsätzlichen Entscheidungen von ihr abgerückt ist. Wir haben das zunächst 1954 im Falle eines Diebstahls entwickelt, später haben wir 1956 (BGHSt. 8, 393) ganz klar gesagt: „Wer mit eigener Hand einen Menschen tötet, ist grundsätzlich auch dann Täter, wenn er es unter dem Einfluß und in Gegenwart eines anderen nur in dessen Interesse tut". Das war ein erster Versuch zur Klärung wenigstens eines Teiles der Fälle, ein eng umgrenzter Ausschnitt. Es ist seltsam, wie oft schon diese Teillösung zum Ziele führt. Sie führt immer dann zur Verurteilung wegen Täterschaft, wenn jemand sich unmittelbar, mit eigener Hand, an den Massentötungen beteiligte, von dem das seinem Range und seiner Stellung nach niemand erwartete. Ein örtlicher Führer, dem von oben herunter die Organisation und die Leitung einer Massentötung aufgetragen wurde, sollte sich an der Ausführung natürlich nicht in eigener Person beteiligen. Er sollte nicht selbst Listen schreiben, nicht persönlich die Opfer einfangen, sich nicht ans Steuer der Lastwagen setzen, nicht den Spaten in die Hand nehmen, um Gruben auszuheben, und er sollte nicht selbst schießen. Und all jenes andere tat er natürlich auch nicht. Nur - es schaudert einen bei der Vorstellung - beim Schießen machten solche Leute, die damit keineswegs beauftragt waren, nicht selten ganz aus freien Stücken mit. Solchen Menschen geschieht doch wohl kein Unrecht, wenn wir sie als Mörder verurteilen und ihre Behauptung, sie hätten sich nur als Gehilfen Hitlers und seiner nächsten Mitarbeiter betrachtet, als leere Ausrede beiseite schieben. Aber nur in einem Teil der Fälle ist dies die Lösung. Es gehört zu den Bedingungen richterlicher Arbeit, daß sie immer nur von dem einzelnen Fall ausgehen kann, der dem Gericht gerade zur Entscheidung vorliegt. Das gilt auch von den Gerichten letzter Instanz. So war es beim Reichsgericht, und so ist es beim Bundesgerichtshof. Das Verallgemeinern, das Aufstellen von Grundsätzen für jede Ausgestaltung des Falles ist weder unsere Pflicht, noch unser Recht. Wir müssen immer wieder warten, bis ein neuer Fall zu uns kommt. Diese Beschränkung kennzeichnete schon die Entwicklung der reichsgerichtlichen Rechtsprechung. Zunächst kam das Reichsgericht bis zum Jahre 1924 an die Fälle des Mordes und der Beihilfe dazu überhaupt nicht heran, weil wir früher ein anderes Schwurgerichtsverfahren hatten, das eine sachlichrechtliche Nachprüfung der sogenannten Wahrsprüche nicht gestattete. So wird man in den ersten 60 Bänden der Reichsgerichtsentscheidungen so gut wie gar keinen Aufschluß über den Mord finden; über die Abgrenzung

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zwischen Täterschaft und Teilnahme im allgemeinen, also beim Diebstahl, beim Betrug usw. gibt es zwar früher und später genug Reichsgerichtsentscheidungen; aber Fälle, in denen es gerade beim Morde auf diese Abgrenzung ankam, sind auch nach 1924 nur einige wenige, drei oder vier, an das Reichsgericht gekommen, und natürlich gar keine mit den spezifischen Besonderheiten jener Massentötungen, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Es ist für die Gerichte jetzt eben etwas ganz Neues, Mordfälle zu bearbeiten, bei denen auf der Aktivseite so zahlreiche Personen beteiligt sind, vom Staatsoberhaupt und dem Chef der Polizei angefangen über Leute wie Huppenkothen, wie Eichmann, bis zu den Ortsgewaltigen, den kleinen Organisatoren und schließlich den Schützen, Henkern, Vergasungshandlangern hinunter. Das vorhin erwähnte Urteil des Bundesgerichtshofs enthält, für den Kundigen unüberhörbar, das Wort „grundsätzlich". Im Stil der Juristen bedeutet das eine Andeutung, daß auch Ausnahmen denkbar sein mögen. Eine dieser Ausnahmen wird sogar ausdrücklich genannt, nämlich das militärische oder ein vergleichbares Befehlsverhältnis. Es scheint sich allmählich eine Praxis herauszubilden, in der man die letzten, kleinsten Befehlsempfänger nicht als Täter, sondern als Gehilfen ansieht. Die Grenze möchte sich vielleicht zwischen dem Offizier und dem Unteroffizier abzeichnen, bei SS und Parteiorganisationen zwischen vergleichbaren Diensträngen. Jemandem, der eine offiziersähnliche Stellung bekleidet hat, wird man kaum noch abnehmen können, daß er sich nur als Organ eines fremden Willens gefühlt und betätigt habe. Sehr häufig, aber immer ohne Erfolg, wird zur Verteidigung vorgetragen, die Tötungsbefehle seien bindend gewesen oder doch von den Gehorchenden für bindend gehalten worden. Das erste ist für eine Rechtsordnung, die sich nicht selbst verneinen will, ein gänzlich unmöglicher Standpunkt. Das zweite wird häufig einfach tatsächlich nicht zu glauben sein. Sonst aber könnte man wohl schon nicht mehr von Rechtsirrtum, müßte vielmehr von Rechtsblindheit sprechen, die nicht zu entschuldigen wäre. Ernster zu nehmen, mindestens rechtlich, ist bisweilen schon der Einwand, ein Täter habe sich im Notstand befunden oder doch zu befinden geglaubt. Hier sucht also die Verteidigung darzulegen, man habe dem jetzt Angeklagten gedroht oder doch angedeutet, es werde ihm etwas passieren, es werde ihm schlecht bekommen, wenn er nicht in der verlangten Weise mitmache. Das wäre also der Nötigungsstand des § 52 StGB 5 . Oder man habe ihm so etwas zwar nicht gesagt oder angedeutet, § 5 2 StGB a.F. hat folgenden Wortlaut: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht 5

Die strafrechtliche Problematik der NS-Prozesse

III

aber er habe eben von sich aus Angst - begründete oder äußerstenfalls unbegründete Angst - vor Repressalien gehabt. Das wäre wirklicher oder vermeintlicher Notstand gemäß § 54 StGB 6 . Auch diese Verteidigung hat, soviel mir bekannt ist, bisher kaum zum Erfolg geführt, wenngleich man sie nicht etwa ganz allgemein und schlechthin als abwegig bezeichnen kann. Sie gewinnt ihr praktisches Gewicht durch zwei Umstände: erstens ist es gerade hier wegen der inzwischen verstrichenen Zeit besonders schwierig, die tatsächlichen Behauptungen des Angeklagten zu widerlegen; es versteht sich von selbst, daß auch in dieser Hinsicht jeder tatsächliche Zweifel zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden muß. Auf einen so selbstverständlichen Rechtsgrundsatz können wir auch bei den entsetzlichsten Untaten nicht verzichten. Und es muß auf den ersten Blick ja auch eingeräumt werden, daß diesem Regime auch in dieser Beziehung alles mögliche zuzutrauen war, sowohl aus der nachträglichen Sicht von heute als auch, vielleicht erst recht, aus der damaligen Sicht desjenigen, dem solche Untaten zugemutet wurden, zweitens ist es, was den vermeintlichen Notstand betrifft, natürlich ganz besonders schwierig, einem Angeklagten heute bündig zu widerlegen, daß er damals innerlich die und die Befürchtungen gehabt habe. Auf der anderen Seite steht aber folgendes. Es hat eine Reihe von nachgewiesenen Fällen gegeben, in denen Untergebene sich strikt und mit Erfolg geweigert haben, an der Tötung wehrloser Menschen teilzunehmen. Soweit mir bekanntgeworden ist (diese Einschränkung muß ich natürlich machen), ist dem Betreffenden in keinem dieser Fälle etwas Schlimmeres widerfahren, als etwa eine Kommandierung an die Front. Das aber mußte riskiert werden. Im Kriege kann man dieses Risiko, das ja Millionen von Soldaten ohnehin zu tragen hatten, nicht als eine „gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben" in dem Sinne ansehen, daß sie schwere Verbrechen entschuldigen könnte, die begangen wurden, um ihr zu entgehen, im Gegenteil: es war ohne weiteres zumutbar, daß einer, dem solche Verbrechen angesonnen wurden, dieses Ansinnen mit einer sofortigen Meldung an die Front beantwortete. So etwas ist in einer Reihe von Fällen geschehen, und es hat oft zum Erfolg geführt. Auch abwendbaren Gefahr für Leib und Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist. .. Diese Regelung ist ersetzt durch den geltenden § 35 StGB. ' § 5 4 StGB a. F. hat folgenden Wortlaut: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Notwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters oder eines Angehörigen begangen worden ist." Auch § 5 4 StGB a. F. ist durch die Neuregelung des § 3 5 StGB ersetzt worden.

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wird man es kaum jemandem abnehmen, wenn er heute behauptet, er sei damals nicht auf diesen Ausweg verfallen. Wir hatten vor kurzem einen Fall zu entscheiden, in dem der Angeklagte unwiderlegt vortrug, er habe sich tatsächlich an die Front gemeldet. Bevor aber diesem Gesuch entsprochen worden sei, habe man ihn noch zur Mitwirkung an der Tötung jüdischer Menschen herangezogen. Auf Gegenvorstellungen habe sein Vorgesetzter ihn gefragt, ob er denn ins Gefängnis wolle. Aber aus dieser seiner eigenen Darstellung geht doch wohl hervor, daß ihm auch nach seiner eigenen Ansicht wohl nichts Schlimmeres drohte als Gefängnis - und man wird vielleicht hinzusetzen dürfen: wenn überhaupt. Und die Frage, wie man sich zu entscheiden hat, wenn man vor die Wahl gestellt wird, entweder selbst unschuldig ins Gefängnis zu gehen oder sich an der Tötung von Hunderten ebenfalls unschuldiger Menschen zu beteiligen, diese Frage ist wiederum eine Rechtsfrage. Ich darf es jedem von Ihnen überlassen, sie sich selbst zu beantworten. Eine der größten Belastungen bei der Aburteilung von NS-Verbrechen liegt in der Gewissensfrage: wer ist im deutschen Volke eigentlich berufen, über diese Dinge zu entscheiden? Sind nicht eben doch sehr viele von uns in irgendeiner, wenn auch vielleicht sehr mittelbaren Form daran mitschuldig geworden? Wir haben als Beamte dem Staat des Unmenschen gedient und so seine Zwecke gefördert; wir sind seine Soldaten gewesen und haben ihm seine ungerechten Kriege führen helfen; wir haben ihm nicht nur Steuern gezahlt, sondern auch bei seinen Sammlungen gespendet - nicht ganz freiwillig, gewiß nicht, aber auch nicht immer unter einem unwiderstehlichen Zwang. Viele von uns haben wenigstens Lippenbekenntnisse zu ihm abgelegt. Wir sind nicht gegen ihn aufgestanden, als längst klargeworden war, wes Geistes Kinder er und seine „Paladine" waren. Wir haben uns in mannigfacher Weise wenigstens durch Untätigkeit, durch Unterlassungen an seinen Verbrechen mitschuldig gemacht. Nicht gerade in einer Form, die unter das Strafgesetz fiele, aber doch vielfach so, daß wir das sehr deutliche Gefühl mit uns herumtragen, politisch, menschlich versagt zu haben. Und dazu kommt bei vielen von uns, bei den Ehrlichsten von uns die bange Frage: ist es nicht in weitem Maße nur ein glücklicher Zufall oder eine Gnade gewesen, daß wir nicht in die gleichen Versuchungen geraten sind, denen doch der eine oder andere von uns in gleicher Weise hätte erliegen können? Wer also sind wir, um über andere zu Gericht zu sitzen? Es ist der alte Konflikt, der die Dichter eigentlich aller Zeiten immer wieder beschäftigt hat: der Konflikt des Richters, der die Tat oder doch eine gleiche, eine ähnliche Tat selbst begangen hat. Das ist nicht nur, wie in Kleists „Zerbrochenem Krug" oder in Spoerls „Maulkorb", ein Lustspielstoff. Bei Ernst Wiechert legt der Richter, der Vater des Mörders, sein Amt nieder; bei Conrad Ferdinand Meyer erklärt die

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Richterin die Tat ihrer Untergebenen für verjährt, wegen ihrer eigenen Tat unterwirft sie sich einem Gottesurteil, das gegen sie entscheidet. In Shakespeares „Maß für Maß" sagt der Verbrecher auf dem Richterstuhl zynisch: „ . . . Leugnen will ich nicht, In dem Gerichte, das auf Tod erkennt, Sei unter zwölf Geschwor'nen oft ein Dieb, Wohl zwei noch schuld'ger als der Angeklagte. Wer offenbar dem Rechte ward, Den straft das Recht. Was kümmerts das Gesetz, Ob Dieb den Dieb verurteilt?"

Aber wer mag so denken? Eben das ist die Verpflichtung und die Last dieser Prozesse, daß sie im Namen eines Volkes und von Angehörigen eines Volkes entschieden werden müssen, das sich als Ganzes nicht von jeder Mitschuld freisprechen kann. Vielleicht ist das aber gar nicht etwas gar so Unerhörtes. Auch bei anderen, alltäglicheren Taten spricht man oft von der Mitschuld der Gesellschaft. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei, daß solche Taten abgeurteilt werden müssen, bisweilen von Menschen, die zu illusionslos, zu selbstkritisch sind, als daß sie sich eine befriedigende Antwort auf die Frage zutrauen könnten, wie sie denn wohl selbst in einer solchen Lage gehandelt haben würden. Sie müssen sich damit zufriedengeben, daß sie eben tatsächlich doch nicht mitschuldig geworden sind, und daß es jetzt, um nicht nachträglich noch mitschuldig zu werden, an ihnen ist, ein gerechtes Urteil zu fällen. Lassen Sie mich mit einem Wort von Zuckmayer schließen: „Es gibt sehr viele Arten von Schuld oder Sünde, und es gibt sehr wenige Möglichkeiten ihrer Tilgung, wenn man mit menschlichen Maßen mißt. Irdische Gerechtigkeit, die wir alle erstreben, entspricht nur bedingt der wahren, göttlichen, deren Wesen im überzeitlichen Ausgleich beruht. Das meiste Unrecht, die meisten Sünden und Vergehen, sind kaum im Gesetz und nicht einmal in den Geboten genau zu fassen - und das menschliche Gesicht, von dem man sagt, daß es ein Spiegel der Seele sei, ist in Wahrheit nichts als die Maske, hinter der sich Schuld und Unschuld in einer kaum entwirrbaren Weise vermischt."

Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat 1 (1977) „Sprecht leise, haltet euch zurück, wir sind belauscht mit Ohr und Blick." Das singt der Gefangenenchor im „Fidelio". Der Ort ist „ein spanisches Staatsgefängnis", Ende des 18.Jahrhunderts, als das Land von dem verhaßten Godoy diktatorisch regiert wurde. Diese Gefangenen hatten es gut; sie wußten wenigstens, daß sie belauscht wurden, und konnten sich mit ihren Äußerungen danach einrichten. Bei uns dagegen . . . Bei uns hat sich der bestürzende Fall zugetragen, daß Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern heimlich belauscht worden sind. Daß Männer, die einer Volksvertretung verantwortlich sind, so etwas anordnen konnten, und daß sie es, nachdem es bekanntgeworden ist, auch noch verteidigen, sollte uns das Fürchten lehren. Man sollte diesen Vorgang nicht mit einer Telefonüberwachung vermengen, die der Richter (in Eilfällen auch der Staatsanwalt bis zu drei Tagen) unter bestimmten strengen Voraussetzungen zur Ermittlung schwerer Verbrechen anordnen kann. Wer das Telefon zu unvorsichtigen Mitteilungen benutzt, der sollte sich selbst sagen, daß er abgehört werden kann - sogar versehentlich. W e r hätte nicht schon mal ein fremdes Gespräch in seiner Leitung gehabt? Aber die Vertraulichkeit des Gesprächs von Mann zu Mann zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger muß in einem Rechtsstaat unbedingt respektiert werden. Auch ein Schwerverbrecher muß einen Verteidiger haben; ohne das kann er gar nicht verurteilt werden. Mit dem Verteidiger muß er sich rückhaltlos aussprechen können; sonst wird die Verteidigung zur Farce. Wenn man handfeste Gründe für die Annahme hat, daß der Verteidiger ein Spießgeselle des Angeklagten ist, dann soll man ihn von der Verteidigung ausschließen; dazu gibt es rechtliche Handhaben, die man allenfalls verbessern könnte. Aber ihn nicht auszuschließen und statt dessen seine Gespräche mit dem Angeklagten zu belauschen, das ist eines Rechtsstaats unwürdig. Unser Strafgesetzbuch bedroht einen Verteidiger, der Dinge ausplaudert, die sein Mandant ihm anvertraut hat, seit mehr als hundert Jahren mit Vergehensstrafe; anfänglich mit Geldstrafe oder Gefängnis bis zu drei Monaten, zur Zeit mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit 1

Veröffentlicht als Spiegel-Essay in „Der Spiegel" N r . 22/1977, S. 54 f.

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Geldstrafe. Damit der Verteidiger nicht einmal vom Staat gezwungen werden kann, solche Geheimnisse preiszugeben, verleiht ihm unsere hundertjährige Strafprozeßordnung das Recht, selbst als Zeuge vor Gericht die Aussage darüber zu verweigern. Diese Regelung hat das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg, die Revolution und die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und seinen Zusammenbruch, die Besatzungszeit und mehrere Jahrzehnte unserer heutigen Staatsform überstanden. Es hat auch bei allen Reformarbeiten an unserem materiellen Strafrecht und am Strafverfahren niemand den Vorschlag gemacht, gerade an diesen Regeln etwas zu ändern. Es handelt sich also um einen alten und bewährten Rechtszustand, auf dessen Festigkeit sich der Angeklagte und sein Verteidiger getrost verlassen konnten. Bis vor einigen Wochen. Unser Leben ist auf allen Gebieten recht verwickelt. Wenn unser Recht lebensnah sein soll, kann es darum nicht anders als ebenfalls recht verwickelt sein. Ein gemeinverständliches „Volksgesetzbuch" zu schreiben, war ein Nazitraum; an dem Versuch seiner Verwirklichung scheiterte selbst ein Machtmensch wie Freisler, und er scheiterte schlimmer als andere. Mit der Schwerverständlichkeit des Rechts müssen wir leben. Um so wichtiger ist es, daß jemand in einer so behinderten und bedrohten Lage wie ein Angeklagter in H a f t sich ungehindert und unbelauscht mit einem Rechtskundigen besprechen kann. Das ist eine Forderung, die unser Prozeßrecht seit eh und je als berechtigt anerkennt: „Der Beschuldigte kann sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen." An anderer Stelle sagt das Gesetz: „Dem Beschuldigten ist, auch wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet, schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet." Diese Vorschrift hat freilich eine Geschichte. Die Prozeßordnung von 1877 fügte hinzu: „Solange das Hauptverfahren nicht eröffnet ist, kann der Richter schriftliche Mitteilungen zurückweisen, falls deren Einsicht ihm nicht gestattet wird. Bis zu demselben Zeitpunkte kann der Richter, sofern die Verhaftung nicht lediglich wegen Verdachts der Flucht gerechtfertigt ist, anordnen, daß den Unterredungen mit dem Verteidiger eine Gerichtsperson beiwohne." 1926 wurde die Vorschrift in einem unscheinbaren, aber wichtigen Punkt geändert. An die Stelle der „Gerichtsperson" (Sekretär, Referendar, Justizwachtmeister), die auf Anordnung des Richters dem Gespräch „beiwohne", trat jetzt der Richter selbst. Man kann sich vorstellen, daß die Zahl der Fälle, in denen der Richter eine solche Überwachung anordnete, alsbald schlagartig zurückging. Denn von nun an kostete das Uberwachen ihn seine eigene Zeit; außerdem wird er bemerkt haben, daß bei überwachten Gesprächen

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nichts für ihn Verwertbares erörtert wurde; das Ganze war peinlich für alle Beteiligten. Der Verteidiger konnte seinem Klienten sagen: „Sie sehen, ich komme nicht allein; von Ihrer Sache können wir jetzt also nicht sprechen, ich komme dann später zu Ihnen; bis dahin schweigen Sie auch bei etwaigen Vernehmungen, sonst müßte ich Ihre Verteidigung niederlegen." Aber all das ging in völliger Offenheit vor sich; woran niemand auch nur dachte, war heimliches Lauschen. Hätte man derartiges als möglich angesehen, so hätte der andauernde Streit, der von den Verteidigern wie von den Strafverfolgern leidenschaftlich fortgeführt wurde, gar keinen Gegenstand gehabt. Die Verteidiger nämlich sahen schon die bloße Möglichkeit einer offenen Überwachung als ehrenrührig an; sie erblickten darin den Ausdruck eines grundlosen Mißtrauens in ihre Lauterkeit. Unter diesem Zeichen setzte sich die Auseinandersetzung bis zu ihrem Höhepunkt im Jahre 1964 fort. Der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer als Wortführer der einen Seite hatte nicht gefordert, die Überwachung ganz abzuschaffen; vielmehr verlangte er nur die Einführung strengerer Voraussetzungen dafür im Gesetz. Dem folgte im Grundsatz der Rechtsausschuß des Bundestages. Erst dessen Plenum beseitigte in zweiter Lesung alle beschränkenden Anordnungen des Richters. Das stieß auf Widerstand im Bundesrat; dort sprach sich die Mehrheit der Länder dafür aus, dem Richter bestimmte Überwachungsmöglichkeiten vorzubehalten. Der Bundesrat rief den Vermittlungsausschuß an, der Bundestag mußte sich noch einmal mit der Frage beschäftigen; schließlich wurde „schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger" ohne alle Einschränkungsmöglichkeiten gestattet. Man täte den damals beteiligten Abgeordneten gewiß unrecht, wenn man auch nur die Möglichkeit unterstellte, der eine oder andere von ihnen habe sich im stillen von der Vorstellung leiten lassen, man könne ja getrost auf die offizielle Überwachung verzichten, weil man die Verteidigergespräche mit viel besseren Erfolgsaussichten heimlich überwachen lassen könne. Denn einer solchen Vorstellung steht eine Vorschrift entgegen, auf die der Gesetzgeber (des Jahres 1950) ganz besonders stolz gewesen ist: „Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch . . . Täuschung..." Dazu habe ich schon 1963 in einem Kommentar geschrieben: „Tonbandaufnahmen verstoßen dann gegen das Täuschungsverbot und sind deshalb unverwertbar, wenn sie ohne Wissen des Sprechenden bei einer Unterhaltung gemacht worden sind, die ihm als unbelauscht erscheinen mußte. Geheime Mikrophone in der Zelle oder in einem Besuchsraum,

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in dem der Gefangene mit seinem Anwalt oder mit einem Geistlichen spricht, verstoßen eindeutig gegen das Täuschungsverbot." 1967 bedrohte der Gesetzgeber den mit Strafe, der „das nicht zu seiner Kenntnis bestimmte nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen unbefugt mit einem Abhörgerät abhört". Alsbald entspann sich in Schrifttum und Rechtsprechung ein Streit über die Bedeutung des Wortes „unbefugt". Vielfach wird die Meinung vertreten, es hänge von einer Abwägung der gegenüberstehenden Interessen ab, ob das Abhören im Einzelfall „unbefugt" sei. Aber wie soll man das Verteidigungsinteresse eines noch nicht verurteilten Angeklagten, für den die Vermutung der Unschuld spricht, gegen das Interesse des Staates an seiner Überführung abwägen? Die Überführung darf nur in einem rechtlich geordneten Verfahren gesucht werden. Was in diesem Verfahren mit dem Beschuldigten getan werden darf, müßte sich also wohl aus eben der rechtlichen Ordnung ergeben, die für dieses Verfahren geschaffen worden ist. Deshalb wird man der Ansicht sein dürfen (auch sie wird im Schrifttum vertreten), der Gesetzgeber habe mit jenem Ausdruck „unbefugt" diejenige Entscheidung umgangen, die nur er selbst hätte treffen können und müssen. Dadurch sei die Strafvorschrift so unbestimmt geworden, daß man ihre Geltung bezweifeln müsse. Es ist bei uns, seit die Folter abgeschafft ist, das gute Recht eines jeden Beschuldigten, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder das abzulehnen. Seit 1965 schreibt das Gesetz ausdrücklich vor, ihn bei seiner ersten Vernehmung auf dieses Wahlrecht ausdrücklich hinzuweisen. Nun ist es aber vielfach gar nicht leicht zu entscheiden, welche der beiden Möglichkeiten, reden oder schweigen, im jeweiligen Fall die klügere Verteidigung ist. Das gilt nicht nur für den schuldigen, sondern ganz besonders auch für den unschuldigen Angeklagten. Gerade bei ihm denke man an die Möglichkeit, daß die Wahrheit in Einzelheiten sehr unwahrscheinlich sein mag; daß gewisse Tatsachen den Schluß auf seine Täterschaft nahelegen, obwohl er nicht der Täter ist. In solcher Lage bedarf der Beschuldigte besonders dringend des Rates eines erfahrenen und hilfsbereiten Rechtskundigen, und das Verfahrensrecht billigt ihm diesen Rat zu. Aber wenn er etwas wert sein soll, muß der Angeklagte - schuldig oder nicht - die Gelegenheit haben, sich vor dem Verteidiger offen auszusprechen. Freilich darf man sich nicht vorstellen, daß er ihm immer die Wahrheit sagte. Nur ausnahmsweise sind Verbrecher so harmlos, ihrem Verteidiger zu sagen: „Ich bin es gewesen, aber sorgen Sie dafür, daß ich freigesprochen werde." Denn natürlich sagen sie sich, daß er sie dann weniger überzeugt und deshalb auch weniger überzeugend verteidigen

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wird. Um so geringer ist die Aussicht, durch Abhören dieses Gesprächs die wirkliche Wahrheit zu erfahren. Andererseits muß der Verteidiger in der Lage sein, dem Beschuldigten gleich bei Beginn des Gesprächs Vertraulichkeit zuzusichern. Kann er das noch nach dem jetzt Vorgefallenen? Muß er nicht fürchten, gerade dadurch den Anstoß zu geben, daß der ihm vertrauende Klient sich zu seinem Schaden selbst vor dem heimlichen Lauscher bloßstellt? Müßte er ihn nicht selbst auf diese Gefahr hinweisen? Müßte er ihm also nicht raten: „Sagen Sie nichts, was nicht jeder hören soll; am besten sagen Sie gar nichts"? Und was könnte er dann noch auf die Frage antworten: „Wie wollen Sie mich eigentlich verteidigen?" Es gibt gewiß Leute, die gegen solche Bedenken einwenden werden, das sei alles nicht so schlimm. Die Justiz dürfe es mit dem Schutz der Verbrecher nicht gar so ernst nehmen. Eine wirksame Strafverfolgung sei wichtiger als solche Skrupel. Aber man täusche sich nicht. Auf der einen Seite wird man mit den Lauschaktionen gerade gegen Verbrecher wenig ausrichten; gerade die gefährlichsten unter ihnen werden sich vorsehen. Auf der anderen Seite ist nicht jeder Untersuchungsgefangene schuldig. Es kann buchstäblich jedem von uns, dem kritischen Leser oder mir selbst, begegnen, daß wir uns plötzlich zu Beschuldigten oder Angeklagten befördert sehen. Davor schützt kein guter Ruf und kein Ansehen. 1925 ist ein Reichsminister in der Untersuchungshaft gestorben. Als Häftling braucht man ein vertrauensvolles, unbelauschtes Gespräch. Aber auch diese Überlegung ist noch zu vordergründig. Will man die Gründe für und wider das Abhören in die Waagschale legen, so darf man unter den Gegengründen nicht vergessen, welchen Verlust der Ruf eines Rechtsstaates erleidet, in dem eine solche Maßnahme möglich gewesen ist. Vielleicht bin ich zu optimistisch, wenn ich sage: „gewesen". Denn zweifellos ist mindestens das Vertrauen der Angeklagten und der Verteidiger, daß sie bei ihren Gesprächen nicht abgehört werden würden, auf lange Zeit dahin. Selbst wenn also bei diesem bekanntgewordenen Sündenfall etwas Nennenswertes herausgekommen wäre, wenn etwa die Abwendung eines gefährlichen Anschlages erreicht worden wäre, dann bliebe es sicherlich bei diesem einen Mal. In Zukunft wird sich eine solche Möglichkeit so bald nicht wieder ergeben. Und selbst das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist die politische Kurzsichtigkeit, mit der sich die Verantwortlichen haben hinreißen lassen, genau den Weg zu gehen, auf dem der Terror, die Feinde unserer Ordnung sie haben möchten. Mit größerer Uberzeu-

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gungskraft als bisher können und werden sie nun sagen: „Da habt ihr euren Rechtsstaat! Sagt selbst: Verdient er diesen Namen?" Ich finde, wir sollten uns mehr Mühe mit ihm geben. Rechtsstaat ist keine Errungenschaft, sondern eine Aufgabe. Hier ist sie nicht bewältigt worden. Man hat ein Stück von unserem guten Ruf leichtfertig verspielt.

Reform der Untersuchungshaft1 (1963) Vielleicht geht es Ihnen wir mir: vielleicht hassen Sie historische Einleitungen. Aber „Reform der Untersuchungshaft" ist nun einmal ein Thema, das nicht nur auf das geltende und das künftige Recht bezogen werden kann, sondern das auch schon eine höchst lehrreiche Vergangenheit hat. Schon in der Zeit zwischen der Verkündung und dem Inkrafttreten unserer Strafprozeßordnung, also zwischen dem 1. Februar 1877 und dem 1. Oktober 1879, hat man über die Reformbedürftigkeit der Untersuchungshaft geschrieben. Seitdem ist diese Literatur ins Unübersehbare angewachsen; außerdem haben wir inzwischen schon mehrere Reformen 2 dieser Rechtseinrichtung hinter uns. Sie waren zum Teil sehr einschneidend, einschneidender als das, was jetzt vor sich geht; und man hat sich Großes von ihnen versprochen. Wenn man etwa im zweiten Bande der Juristischen Wochenschrift von 1925 liest3, wie allgemein die Verteidiger damals glaubten, schier allem Übel werde gesteuert sein, sobald der Gesetzgeber nur erst einmal die mündliche Haftprüfung eingeführt haben werde, und wenn man sich jetzt die jahrzehntelangen Erfahrungen mit dieser Haftprüfung ansieht 4 , die doch nur in einem kleinen Teil der Fälle zur Freilassung führt, in den meisten Fällen dagegen nur das Verfahren aufhält und damit die Untersuchungshaft verlängert: dann muß man der Bundesregierung dankbar sein, daß sie dem Beschuldigten das Recht geben wollte, auf die Haftprüfung zu verzichten (§118 c). Der Rechtsausschuß des Bundestages hat das, und dafür gebührt ihm erst recht Dank, dahin geändert, daß die Haftprüfung überhaupt nur noch auf Antrag stattfindet (§ 117 Abs. 1), abgesehen von einer praktisch bedeutungslosen Ausnahme ( § 1 1 7 Abs. 5 a). Das ist für die einstmals gerade von den Rechtsanwälten so sehnlich herbeigeVortrag, gehalten auf der 4. Fortbildungstagung für Richter und Staatsanwälte in Stuttgart am 10. Mai 1963; zuerst veröffentlicht in: Die Justiz 1963, S. 184. 2 Gesetze vom 27.Dez. 1926 „lex Höfle" (RGBl. I S.529); vom 24. Nov. 1933 (RGBl. I S 1000); vom 24. April 1934 (RGBl. I S.341); vom 28.Juni 1935 (RGBl. I S. 844); vom 12. Sept. 1950 (BGBl. S.455, 629); vom 4. August 1953 (BGBl. I S.735). 3 Vgl. ζ. B. Alsberg J W 1925, 1433; Brandt J W 1925, 1439; Kohlrausch J W 1925, 1440; v. Pestalozza J W 1925, 1442; Beringer J W 1925, 1444; Rosenberg J W 1925, 1446; v. Lilienthal J W 1925, 1448; Klefisch J W 1925, 1449; Straßmann J W 1925, 1453; Ebermayer J W 1925, 1454; Heine J W 1925, 1455; Bendix J W 1925, 1456. 4 Vgl. Löwe/Rosenberg/Dünnebier, StPO 21. Aufl. 1962, Anm.6 vor §§112 ff. 1

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wünschte Haftprüfung ein Begräbnis vierter Klasse, ohne Feierlichkeiten. Denn der erfahrene Verteidiger wird dem Beschuldigten genauso selten zu diesem Antrage raten, wie er ihm zu einer Haftbeschwerde rät, und aus den gleichen Gründen. Diese Leidensgeschichte enttäuschter Hoffnungen muß man sich ansehen, wenn man über die Untersuchungshaft und ihre von Reform zu Reform größer und dringender gewordene Reformbedürftigkeit ein Urteil gewinnen will. Es paßt auch hier sehr gut, was gestern nachmittag Herr Professor Dr. Baur 5 über die Reformen sagte, „deren Ursprung das schlechte Gewissen und deren Motiv der Wunsch nach einer Atempause vor berechtigter und unberechtigter Kritik" sei. Von Jacob Burckhardt 5 stammt der schöne Satz, es sei der höhere und zugleich bescheidenere Sinn der Geschichte als einer Lehrmeisterin des Lebens, durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) machen zu wollen. Aber die bitteren Erfahrungen auf dem Gebiet des Haftrechts und seiner Reform hätten uns eigentlich schon klüger machen können für ein andermal, vor allem gerade für diesesmal. Vielleicht hätten sie unserem Gesetzgeber den Mut und die Kraft verleihen sollen, es zunächst einmal mit einer einfachen Aufhebung der früheren, mißlungenen Reformen zu versuchen, auch in anderen Punkten als dem eben erwähnten. Aber diese Erfahrungen scheinen ganz vergessen zu sein. Wer weiß heute überhaupt noch, wie die Untersuchungshaft von 1879 bis 1926 geregelt war? Stellen Sie sich bitte vor, jemand würde heute vorschlagen, folgende Vorschrift in das Gesetz einzufügen: „Der vor Erhebung der öffentlichen Klage erlassene Haftbefehl ist aufzuheben, . . . wenn nicht binnen einer Woche nach Vollstreckung des Haftbefehls die öffentliche Klage erhoben . . . ist. Wenn zur Vorbereitung und Erhebung der öffentlichen Klage die Frist von einer Woche nicht genügt, so kann dieselbe auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Amtsrichter um eine Woche und, wenn es sich um ein Verbrechen oder Vergehen handelt, auf erneuten Antrag der Staatsanwaltschaft um zwei weitere Wochen verlängert werden."

Mit anderen Worten: jemand würde vorschlagen, daß in allen Fällen, in denen nicht innerhalb von äußerstenfalls vier Wochen nach der Verhaftung Anklage erhoben oder Voruntersuchung beantragt ist, der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt werden müßte. Würde man sich mit einem solchen Vorschlage nicht dem Vorwurf eines ganz utopischen Liberalismus aussetzen? Und doch ist das, was ich Ihnen vorgelesen habe, in Deutschland fast ein halbes Jahrhundert lang der Wortlaut des § 126 StPO gewesen. Und nicht, weil er zu liberal gewesen wäre, hat man ihn geändert; sondern man wollte - damals wie heute - die 5 6

In seinem Vortrag über „Bestrebungen zur Reform der Zivilprozeßordnung". Weltgeschichtliche Betrachtungen, Erstes Kapitel, 1.

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Haftdauer abkürzen, die Anwendungsfälle der Untersuchungshaft einschränken. Man traute sich zu, das so schön zu machen, daß man der erwähnten kurzen Fristen gar nicht mehr zu bedürfen glaubte. Sie hatten doch immerhin die Wirkung, daß die Haftsachen, die in einer, zwei oder vier Wochen bis zur Anklage gebracht werden konnten, in diesen Fristen auch wirklich soweit gebracht wurden; wäre nicht schon das, im Vergleiche zu heute, eine wesentliche Verbesserung? Aber diese Sachen standen damals eben nicht im Vordergrund der Betrachtung. V o r Augen hatte man vielmehr die Voruntersuchung, bei der es im Argen lag. In allen den Fällen, in denen vier Wochen Untersuchungshaft nicht ausreichten, mußte der Staatsanwalt Voruntersuchung beantragen, was ja eine F o r m der öffentlichen Klage ist. Erließ dann freilich der Untersuchungsrichter keinen neuen Haftbefehl, so wurde der Beschuldigte ebenfalls entlassen. Außerdem war Voruntersuchung damals in Schöffengerichtssachen unzulässig; in allen Schöffengerichtssachen konnte damals die Untersuchungshaft bis zur Anklageerhebung mit aller Gewalt nur vier Wochen dauern. So etwas heute zu erreichen, traut der Gesetzgeber sich offenbar nicht mehr zu, obwohl wir es fast ein halbes Jahrhundert lang in Deutschland so gehabt haben. Die große Beschwer, die in den zwanziger Jahren auf die öffentliche Meinung drückte, war die große Zahl und die lange Dauer der Voruntersuchungen und der mit ihnen verbundenen Untersuchungshaftfälle. Allerdings mußte erst ein früherer Reichsminister 7 in der Untersuchungshaft sterben, ehe die Öffentlichkeit aufmerkte. Schon bei jener Reform verfehlte man die Pointe. Die lange Untersuchungshaft, die es bis dahin nur während der Voruntersuchung gegeben hatte, war in den Augen der öffentlichen Meinung eine schwere H y p o thek auf dem Rechtsinstitut der Voruntersuchung gewesen; und man gab sich der unbegreiflichen Täuschung hin, eine starke Einschränkung der Voruntersuchungsfälle werde auch eine starke Abkürzung der Untersuchungshaft mit sich bringen. Den Staatsanwalt kannte man bis dahin nur als den Herrn eines Verfahrens mit ganz kurzer, höchstens vierwöchiger Untersuchungshaft; und man scheint der Illusion erlegen zu sein, das würde im wesentlichen auch so bleiben, wenn man ihn zum Herrn eines großen Teils derjenigen Verfahren machte, deren Herr bis dahin der Untersuchungsrichter gewesen war. Es konnte nicht ausbleiben, daß man bei diesem quid pro quo in seinen Erwartungen schmählich enttäuscht wurde. Aber man hatte auch noch etwas anderes übersehen, was subjektiv verzeihlicher, objektiv dagegen noch verhängnisvoller war. Man ging von der an sich zutreffenden Überlegung aus, daß der Beschuldigte in der Hand des Staatsanwalts nicht schlechter aufgehoben 7

Reichspostminister a. D. Dr. Anton Höfle.

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sein werde als in der Hand des Untersuchungsrichters. Man erkannte, daß es keine spezifische Bedrohung der staatsbürgerlichen Freiheit bedeutet, wenn die Ermittlungen gegen den Beschuldigten nicht von dem unabhängigen Untersuchungsrichter, sondern von dem weisungsgebundenen Staatsanwalt geführt werden 8 . Man sah ganz richtig, daß die Gleichheit der inquirierenden Funktion und der rechtlichen Ausbildung des Inquirenten praktisch viel wirksamer ist als der Unterschied zwischen Unabhängigkeit und Weisungsgebundenheit. Aber man verkannte die praktische Bedeutung der Tatsache, daß der Staatsanwalt Hilfsbeamte hat, denen es an der rechtlichen Vorbildung und Erziehung seines eigenen Ranges fehlt. Man sah nicht, wohin das in dem Augenblick führen mußte, in dem man die Arbeit des Staatsanwalts stark vermehrte. Die Voruntersuchungen hatten einfach deshalb oft so lange gedauert und auch die Untersuchungshaft so stark in die Länge gezogen, weil die Zahl der Untersuchungsrichter im Verhältnis zu der Arbeit, die sie zu bewältigen hatten, zu klein war. Da steckte ein sachliches Problem, das nicht auf sozusagen terminologischem Wege, also nicht dadurch zu lösen war, daß der überlastete Jurist, der diese Arbeit tun sollte, jetzt nicht mehr Untersuchungsrichter, sondern Staatsanwalt hieß - daß einige Richterstellen in Staatsanwaltsstellen umgewandelt wurden. Das schadete zwar nichts, aber es half auch nichts. U m dem Übel wirklich abzuhelfen, hätte man die Zahl dieser Stellen in großzügiger Weise vermehren müssen. Da man das nicht tat, kam es, wie es kommen mußte: um mit der Arbeit durchzukommen, mußte der Staatsanwalt seit jener Reform seine Ermittlungen in immer steigendem Maße an seine polizeilichen Hilfsbeamten abgeben. Die Mittel und die Stellen, die der Justiz nicht bewilligt wurden - der Polizei wurden sie bewilligt. Das Schwergewicht des Vorverfahrens gelangte aus der Hand des dem Recht verpflichteten Staatsanwalts immer mehr in die Hand des kriminalistisch erzogenen Polizeibeamten. Daß damit auch die Festnahme immer häufiger auf die Initiative des Polizeibeamten, immer seltener auf die des Staatsanwalts zurückging, konnte nicht ohne Einfluß auf den Zeitpunkt und auf die Zahl der Festnahmefälle, damit auch nicht ohne Einfluß auf Zahl und Dauer der Haftfälle bleiben. In vielen Fällen entsteht Verdunklungsoder Fluchtgefahr überhaupt erst dadurch, daß der Beschuldigte von den gegen ihn geführten Ermittlungen erfährt. Geschieht das durch die polizeiliche Festnahme, so ist also bisweilen sie es, die den richterlichen Haftbefehl erst erforderlich macht. Die gekennzeichnete Gewichtsverschiebung des Ermittlungsverfahrens vom Staatsanwalt zum Polizeibeamten ist durch keinen politischen

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Graf zu Dohna, Das Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1925, S. 120-124.

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Umsturz aus der Richtung gebracht worden 9 . Hitler und Himmler haben sie nur beschleunigt, und ich wüßte nicht, daß seit 1945 jemand den Versuch gemacht hätte, sie aufzuhalten oder gar umzukehren. Diese Entwicklung hat sehr eigenartige Wurzeln. Die bemerkenswert gedrückte Stellung der Justiz in Deutschland hängt geschichtlich mit ihrer Unabhängigkeit zusammen. Die ist der Krone sehr zu deren Unbehagen aufgenötigt worden. Friedrich der Große schrieb zwar in seinen politischen Testamenten, es sei „dans les tribunaux ou les lois doivent parier et ou le souverain doit se taire" 10 ; Sie wissen aber, daß er in Wahrheit gar nicht daran dachte, sich an solche schönen Grundsätze zu halten, und daß er sich noch weniger daran gehalten haben würde, wenn er nur gekonnt hätte. Der unabhängige Richter war der Krone auch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch nicht geheuer, und sie hat es ihn fühlen lassen, indem sie ihn schlecht behandelte. Was sie überhaupt vermochte, und das war gar nicht wenig, das behielt sie denjenigen vor, die ihren Willen taten: den Offizieren, den höheren Verwaltungsbeamten, den Diplomaten - nicht den Richtern 11 . H o f rang, die davon abhängige gesellschaftliche Geltung und das wieder damit einhergehende Ansehen im Volke, Beförderungsaussichten, Dienstgebäude, Besoldung - in allem mußte die Justiz zurückstehen. Jeder Generalleutnant, jeder Vizeadmiral war „Exzellenz"; beim Reichsgericht war es nur der Präsident, und gelegentlich einmal ein Senatspräsident unmittelbar vor seiner Pensionierung. Richter waren liberale Frondeure und gehörten nicht „dazu". Man kann es in Fontanes Stechlin nachlesen, wer auf dem Lande zur Gesellschaft gehörte: „Rittergutsbesitzer und Domänenpächter, aber auch Gerichtsräte, die so glücklich waren, den ,Hauptmann der Reserve' mit auf ihre Karte setzen zu können (!), . . . Forst- und Steuerbeamte, Rentmeister, Prediger und Gymnasiallehrer" (die diesen Relativsatz also nicht hinter sich herzuziehen brauchten). Sehr bezeichnend schon, daß der Richter es als eine „Standeserhöhung" annehmen mußte, w e n n man ihn vom „Richter" zum „Rat" machte. Jeder akademisch gebildete Regierungsrat konnte und kann sich ausrechnen, wann er Oberregierungsrat wird; jeder Amtsoder Landgerichtsrat kann sich ausrechnen, daß seine Aussichten, jemals im Leben befördert zu werden, 25 vom Hundert betragen. Bei dieser Stellung der Justiz als der armen Verwandten der anderen Ressorts ist es auch in der Republik, unter Hitler und nach dem Zusammenbruch geblieben. Solche lang eingebürgerten Werturteile sind keineswegs leicht ' Vgl. darüber auch Löwe/Rosenberg/Sarstedt, StPO 21. Aufl. 1962, A n m . 3 zu § 7 3 . Testament Politique (1752), D e l'administration de la justice; ähnlich auch Testament Politique (1768), De la justice. 11 Bei Frensdorff, Gottlieb Planck (1914), kann man nachlesen, wie der König von Hannover diesen aufrechten Richter geschurigelt hat. 10

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und schnell zu überwinden; ein Federstrich des Gesetzgebers genügt dazu nicht. Auch ist das jetzt ja nicht das Ziel; die Frage ist aber, ob auch nur das jetzige Ziel bei einer so gedrückten Justiz erreicht werden kann. Die jetzige Reform will die Voraussetzungen der Untersuchungshaft in mehrfacher Hinsicht tatbestandlich strenger fassen. Das wird nicht viel schaden, aber auch nicht viel nützen. Es werden einige, nicht viele, Haftbefehle weniger ergehen, darunter gerade auch solche, die sachlich notwendig wären; die in solchen Fällen niemals ausbleibenden Vorwürfe werden nicht den Gesetzgeber, sondern den Richter treffen. Das werden wir ertragen. Die Verengerung betrifft besonders die Verdunkelungsgefahr. Das wird so gut wie gar nicht zu Buche schlagen. Die Fälle der Untersuchungshaft nur wegen Verdunkelungsgefahr spielen prozentual eine sehr geringe Rolle; es handelt sich etwa um ein halbes Prozent aller Haftbefehle12. Selbst wenn es dem Gesetzgeber gelingen sollte, die Voraussetzungen der Verdunkelungsgefahr so zu fassen, daß sie in einem Teil der Fälle, in denen sie bisher bejaht wurde, künftig verneint werden muß, wird man damit rechnen müssen, daß bei solchen Fällen nunmehr die Fluchtgefahr bejaht werden wird. Alle Bemühungen um eine schärfere Fassung der Tatbestände können nichts daran ändern, daß sowohl die Fluchtgefahr als auch die Verdunkelungsgefahr begrifflich Elemente der Ungewißheit enthalten. Man kann eben die Sorge, daß jemand fliehen oder verdunkeln wird, niemals exakt beweisen und niemals exakt widerlegen. Es ist schlechterdings nicht möglich, sie so in die Worte einer Bestimmung einzufangen, daß sie beweisbar oder widerlegbar wird; denn es handelt sich ja immer um etwas, was der Zukunft angehört und was man deshalb in der Gegenwart noch nicht fest greifen kann. D a helfen die entschiedensten Ausdrücke nichts. Eine Neuerung, jedenfalls im Wortlaut des Gesetzes, ist das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit. Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel außer Verhältnis steht (§112 Abs. 1 Satz 2). Das ist bisher schon immer praktiziert worden, mit Ausnahme vielleicht einiger OJs-Sachen bei den Oberlandesgerichten. Da handelt es sich ja regelmäßig um Täter, deren Flucht so gut wie feststeht, wenn sie entlassen werden. Da kann man also das Verfahren nicht mehr zu Ende bringen, wenn die Untersuchungshaft so lange gedauert hat, wie die zu erwartende Strafe. Wenngleich ich bezweifle, ob der Gesetzgeber gerade an diese kleinen Staatsschutzsachen gedacht hat, finde ich es gut, daß diese Vorschrift den Oberlandesgerichten Mut machen wird, diese Leute ruhig laufen zu lassen. Im übrigen wird sie nicht viel ändern. Ihr 12

Dünnebier

a. a. O. (oben Anm. 4), Anm. 5 vor §§ 112 ff.

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Angelpunkt ist die Höhe der „zu erwartenden" Strafe, also wiederum etwas, was der Zukunft angehört. Es ist eben häufig recht schwer, in dem Augenblick, in dem man einen Haftbefehl zu erlassen oder abzulehnen, zu bestätigen oder aufzuheben hat, vorauszusagen, wie hoch die Strafe ausfallen mag. In diesem Zusammenhang muß ausdrücklich davor gewarnt werden, mit der Statistik zu argumentieren. In der Bundestagsdebatte hat ein Abgeordneter 13 darauf aufmerksam gemacht, daß 1959 in Niedersachsen rund 6000 (genau 6105) Haftbefehle erlassen, von den Verhafteten aber 137 freigesprochen, weitere 1396 nicht zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind; das seien fast 25 Prozent. Nach meiner Rechnung sind es sogar etwas über 25 Prozent (25,11). Ich will hier keine Gemeinplätze über die allgemeine Unzuverlässigkeit der Statistik aufwärmen (Sie kennen diese Sprüche), sondern auf eine spezifische Gefahr gerade dieser Argumentation aufmerksam machen. Mir beweist diese Statistik, daß die niedersächsischen Spruchrichter der suggestiven Kraft nicht erlegen sind, die beim Schuldspruch und bei der Strafzumessung davon ausgehen könnte, daß der Angeklagte so und so lange in Untersuchungshaft gewesen ist. Zweifellos ist es etwas peinlich, wenn der Richter durch sein Urteil dokumentieren muß, daß er selbst oder ein anderer Richter den Angeklagten vergeblich in Untersuchungshaft gehalten hat. Natürlich darf der Richter nicht der Versuchung erliegen, dieser Peinlichkeit dadurch zu entgehen, daß er sich in solchen Fällen dann eben doch von der Schuld „überzeugt" und die Strafe so bemißt, daß sie zur Dauer der Untersuchungshaft paßt. Daß das Ergebnis für ihn, den Richter, persönlich peinlich wird, darf ihn nicht kümmern; solchen Anfechtungen muß er Widerstand leisten, und wie gesagt, diese Statistik beweist mir nur das erfreuliche Maß seiner Widerstandskraft. Aber - es ist nicht weise, diese Widerstandskraft dadurch noch zu strapazieren, daß man dem Richter diese Peinlichkeit möglichst oft und möglichst öffentlich unter die Nase reibt. Ich meine, Mißtrauen wäre erst am Platz, wenn diese Prozentzahlen auffallend sinken würden. Wenn es praktisch kaum noch vorkäme, daß jemand, der in Untersuchungshaft gewesen ist, freigesprochen wird: das wäre statistisch ja großartig, aber gleichzeitig wäre es, so denke ich, im höchsten Maße alarmierend. Der Gesetzgeber will das Wort „Fluchtverdacht" durch das Wort „Fluchtgefahr" ersetzen, den Begriff also objektivieren; außerdem nennt er Beispiele dafür, wie die Fluchtgefahr begründet werden kann. Aber es hilft nichts, den Begriff zu objektivieren, solange man darauf angewiesen 13 Abg. Dr. Achenbach, Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, 69. Sitzung (27. März 1963), S. 3103 B; die von ihm erwähnte Statistik befindet sich in der Drucks.2784 der 3. Wahlperiode.

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bleibt, daß ein Mensch an das Bestehen des Objekts glaubt; das Subjektive des Richters kann man aus der Sache nicht herauseskamotieren. Und auch hier ist mit den entschlossensten Ausdrücken so gut wie nichts gewonnen. Nehmen Sie als Parallele den Tatverdacht. Da haben wir seit eh und je das Erfordernis, daß der Tatverdacht „dringend" sein muß, um einen Haftbefehl zu rechtfertigen. Da hat der Gesetzgeber also von vornherein ein Wort mit einem hohen Nennwert gewählt; der „dringende" Verdacht ist dem Wortsinne nach natürlich ein stärkerer Verdacht als der „hinreichende" Verdacht, der nach §203 StPO zur Eröffnung des Hauptverfahrens gehört. So können Sie denn auch in den Lehrbüchern des Strafprozeßrechts lesen, „dringend" bedeute eine höhere Wahrscheinlichkeit als „hinreichend" 14 . Aber mit starken Ausdrücken allein setzt der Gesetzgeber sich in solchen Fragen einfach nicht durch. In jeder Untersuchungshaftanstalt sitzen zahlreiche Menschen, die in den Haftbefehlen als „dringend verdächtig" bezeichnet worden sind - so bezeichnet worden sein müssen, sonst könnten sie gar nicht sitzen - , die aber trotzdem nicht „hinreichend verdächtig" sind und es vielleicht niemals sein werden; „hinreichend" nämlich, um das Hauptverfahren gegen sie zu eröffnen. Darauf gerade beruht ja ihr Leiden, daß es so lange dauert, bis aus dem „dringenden" endlich ein „hinreichender" Verdacht wird. Unser geltendes Haftrecht freilich behandelt diesen Fall als Ausnahme. Die Paragraphen, mit denen der Abschnitt über Verhaftung und Festnahme anfängt, sprechen jetzt alle vom „Angeschuldigten", also von einem, gegen den das Verfahren schon bis zur öffentlichen Klage gediehen ist; und erst ganz hinten, gleichsam anhangsweise (§125), ist davon die Rede, daß der Haftbefehl „auch schon" vor Erhebung der öffentlichen Klage erlassen werden kann. Sie alle wissen aber, daß in Wirklichkeit dies der Regelfall geworden ist. Die Reform will ihn deshalb auch an den Anfang stellen. Das ist zu loben, weil es ehrlicher ist und die Regelung übersichtlicher macht; aber in der Sache selbst ändert sich damit natürlich gar nichts. Im Gegenteil, mit dieser Umstellung kapituliert der Gesetzgeber, der die Verhaftung vor Anklage ursprünglich vor der Praxis, deren Erfordernisse und Anschauungen sich schlechterdings als die Stärkeren erwiesen haben. Es gehört durchaus keine übernatürliche Prophetengabe dazu, um vorauszusagen, daß auch die jetzt vorgesehenen Verschärfungen der Haftgründe an der Zahl der Haftbefehle kaum etwas ändern werden, sondern höchstens an der Fassung ihrer Gründe. Im großen und ganzen ist nämlich - mit einer

M

Gerland, Der deutsche Strafprozeß (1927) S.256 Fn. 134; v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß (1941) S.443 Fn. 1; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil II (1957) Rdn. 10 zu § 112 nennt das sogar die herrschende Lehre, der er „durchaus" zustimmt.

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ganz bestimmt zu beschreibenden Ausnahme - der eine Ausgangspunkt der Reform, der Vorwurf nämlich, es werde überhaupt zu viel verhaftet, nicht berechtigt; und soweit er das nicht ist, wird die sogenannte Reform aus zwingenden inneren Gründen nichts erreichen können. Da überschätzt der Gesetzgeber seine Aufgaben und seine Kräfte. Die eben erwähnte Ausnahme ist der Vorwurf, es werde bisweilen zu früh verhaftet; diesen Vorwurf halte ich für berechtigt. E r richtet sich im wesentlichen gegen die Polizei, der dann der Richter notgedrungen die Verantwortung abnehmen muß. Wir erwähnten schon die Fälle, in denen die Flucht- oder Verdunkelungsgefahr dadurch geschaffen wird, daß der Beschuldigte zu früh von den Ermittlungen erfährt, die gegen ihn geführt werden. Die Fluchtgefahr beruht dann vielfach gar nicht einmal auf dem Wunsch, sich der Aburteilung und der Strafe zu entziehen (die meisten Angeklagten wollen doch um ihre Freisprechung kämpfen!), sondern auf der Angst vor der - Untersuchungshaft. Aber bisweilen findet die Polizei es eben bequemer, der Verdunklung nicht dadurch entgegenzuwirken, daß sie ihre Ermittlungen vor dem Beschuldigten geheimhält und sie ohne ihn bis zum „hinreichenden Verdacht" vorantreibt, sondern dadurch, daß sie ihn festnimmt. Das bringt für sie die Chance mit sich, daß sie ihn als Beweismittel gewinnt, während es an anderen Beweismitteln noch fehlt; und wo das das Ziel der Festnahme und der Untersuchungshaft ist, handelt es sich ganz zweifellos um einen Mißbrauch. Der Richter kann dem nur schwer steuern. Denn wenn man den Beschuldigten einmal vorzeitig von dem gegen ihn erhobenen Vorwurf in Kenntnis gesetzt hat, besteht die Verdunklungsgefahr und die Fluchtgefahr eben oft wirklich. Die Abhilfe läge in der Uberwindung des Satzes „confessio regina probationum" 1 5 ; in der beschleunigten Entwicklung derjenigen kriminalistischen Methoden, die eine Uberführung ohne Mitwirkung des Täters gestatten und damit einen Druck auf ihn entbehrlich machen; in der Stärkung des staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins gegen staatliche Organe, die der Versuchung erliegen möchten, sich der Untersuchungshaft als einer Überführungshaft zu bedienen, als eines Druckmittels, mit dem die Geständnisbereitschaft erhöht oder sonst die Verteidigung niedergebrochen wird. Ganz zweifellos ist das schon nach dem geltenden Recht unzulässig; aber wirksam bekämpfen kann es nicht der Gesetzgeber, jedenfalls nicht so, sondern vor allem der Staatsbürger selbst, der diesem Druck nicht nachgibt, und natürlich auch der Staatsdiener, der dieser Versuchung nicht erliegt. Der andere Ausgangspunkt der Reform ist die Ansicht, die Untersuchungshaft dauere, auch wo sie an sich nicht zu vermeiden ist, vielfach zu lange. Diese Ansicht halte ich für zutreffend; die Mittel aber, die dem 15

Vgl. dazu auch Sarstedt a. a. O. (oben Anm. 9) Anm. 1 zu § 136 a.

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Gesetzgeber dagegen bisher eingefallen sind, drohen das Übel nur noch zu verschlimmern. Es sind typisch deutsche Mittel: Erlaß einer strengeren Vorschrift und Einschaltung einer höheren Instanz (§ 121). Ganz als ob wir mit dem letzteren, der Beteiligung einer Oberinstanz, gerade in Haftsachen nicht über die traurigen Erfahrungen vieler Jahrzehnte verfügten! Wozu braucht bei uns der soeben Verhaftete, der in solchen Dingen unerfahrene Beschuldigte am nötigsten einen Verteidiger? Er braucht ihn, damit der ihm die Absicht ausredet, eine Haftbeschwerde einzulegen. Jeder erfahrene Strafverteidiger weiß, daß das im allgemeinen ein Fehler ist. Auch wenn die Begründung des Haftbefehls sich beanstanden läßt, sind die Aussichten einer Beschwerde im allgemeinen gering, gerade weil wirklich unnötige Haftbefehle doch eben selten sind, trotz allem, was man darüber bisweilen zu lesen bekommt. Der Verteidiger weiß, daß sich die Haft notgedrungen um die Dauer des Beschwerdeverfahrens verlängert. Die Akten müssen von der Staatsanwaltschaft, wenn nicht gar von der Polizei zurückgeholt werden. Auch wenn die Aussichten gering sind, muß der Amtsrichter gefragt werden, ob er der Beschwerde abhilft. Er hilft nicht ab. Dann gehen die Akten wieder zur Staatsanwaltschaft, die Stellung zu der Beschwerde nimmt; dann kommen sie zum Landgericht und warten auf die nächste Beschlußsitzung. Neun gegen eins, daß die Beschwerde - mit Recht — verworfen wird, sei es „aus den zutreffenden Gründen des Haftbefehls", sei es aus besseren; dann gehen die Akten zur Kanzlei, die den Beschluß schreiben muß. Das dauert auch seine Weile; ich wüßte nicht, daß es irgendwo ein Landgericht mit einer nicht überlasteten Kanzlei gäbe. Wenn bei alledem das Beschwerdeverfahren vierzehn Tage dauert, ist es schnell gegangen; während dieser Zeit sitzt der Beschuldigte in Haft, ohne daß die Ermittlungen weitergehen. Gelingt es dem Verteidiger, der es mit seinem Beschuldigten gut meint, ihm aus diesen Gründen die Haftbeschwerde auszureden, so kann es ihm passieren, daß ein weniger gut beratener Mitbeschuldigter seinerseits Haftbeschwerde einlegt, was dann die Ermittlungen auch gegen den Einsichtigen aufhält. Es ist schon ein Elend. Und dieses Elend will der Gesetzgeber jetzt auch dem Beschuldigten, der gar keine höhere Instanz anrufen will, von Amts wegen nach sechs Monaten bescheren! Die Akten sind jetzt dicker. Der Staatsanwalt, der sie seinem vorgesetzten Generalstaatsanwalt vorlegen muß, wird das nicht ohne ausführliche und sorgfältige Stellungnahme tun können. Dazu braucht er Zeit und die Akten. So wird er die Ermittlungen schon rechtzeitig vor Ablauf der Sechsmonatsfrist unterbrechen müssen. Die Stellungnahme wird aus Gründen des rechtlichen Gehörs dem Beschuldigten und seinem Verteidiger zugänglich gemacht werden müssen; das bedeutet wieder für eine Woche Aufenthalt der Akten auf der Kanzlei.

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Dann reisen sie zum Oberlandesgericht; allein die Reise pflegt, warum weiß ich nicht, eine Woche und länger zu dauern. Jetzt muß sich erst der Sachbearbeiter des Generalstaatsanwalts, sodann der Vorsitzende des Senats und schließlich der Berichterstatter in den ihnen bisher fremden Sachverhalt einarbeiten. Beschlußsitzung, Niederschrift des Beschlusses, Kanzlei, Zustellung, Rückreise der Akten - wenn dieses ganze Kontrollverfahren weniger als durchschnittlich einen Monat in Anspruch nehmen sollte, müßte ich die Verhältnisse sehr schlecht kennen. Gewiß, wenn die Rechtsanwälte, die im Bundestag die Mehrheit der dortigen Juristen bilden, das zum Gesetz erheben, so sind die Rechtsanwälte, die den Beschuldigten während dieses Verfahrens verteidigen müssen, die Verantwortung für diesen Aufenthalt des Verfahrens los; aber ist das ein Trost - angesichts der Sorge, daß diese „Reform" trotz des guten Willens ihrer Väter dahin tendieren wird, wohin die bisherigen Reformen trotz ebenfalls guten Willens auch schon tendiert haben, dahin nämlich, die Durchschnittsdauer der Untersuchungshaft zu verlängern? Die Väter der Reform haben sich ja ganz gewiß etwas dabei gedacht, als sie verordneten, daß der Fristenlauf von der Vorlage beim Oberlandesgericht bis zu dessen Entscheidung ruhen soll (§121 Abs. 3). Sie haben sich offenbar selbst keine Illusionen darüber gemacht, daß das etwa schnell gehen könnte. Also die Akten sind fort, die Ermittlungen ruhen, die Frist ruht auch, der Beschuldigte sitzt, das Oberlandesgericht grübelt über die Kautschukbegriffe 16 des §121 Abs. 1, und das Ganze heißt dann Reform der Untersuchungshaft. Man vermißt eigentlich nur noch eine Vorschrift, nach der das Oberlandesgericht, wenn es dabei von einem anderen Oberlandesgericht abweichen will, die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen hat 17 . Wie könnte man es denn sonst machen? Ich schlage einen Blick über die Grenzen vor. In England kommt man bekanntlich mit einer durchschnittlich sehr viel kürzeren Untersuchungshaft aus, und das mit einer im Grunde höchst einfachen Regelung. Sobald ein Beschuldigter festgenommen ist, hat der Richter das Recht, das anzuberaumen, was wir den Hauptverhandlungstermin nennen würden. Nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht. Die Aufgabe des englischen Strafrichters wird bisweilen einfach darin gesehen, „to clear the King's prisons", also in den Untersuchungsgefängnissen aufzuräumen. Nun habe nicht nur ich den Eindruck, daß der englische Strafrichter zu dem Verfahren und " Der Abg. Dr. Achenbach a. a. O. (oben Anm. 13) S. 3110 Α nannte die Vorschrift mit Recht einen „ausgesprochenen Kautschukparagraphen", blieb aber mit dem von ihm und 14 anderen Abgeordneten gestellten Änderungsantrag in der Minderheit. Vgl. ferner G.Schmidt ZStW Bd.74 (1962) S.648 Fn. 111; Schmidt-Leichner N J W 1961, 340. 17 Ahnlich wie nach dem lächerlich perfektionistischen § 2 9 Abs. 1 S.2, 3 EGGVG (Div^rgenzvorlage trotz fehlender Einheit des materiellen Rechts!).

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dessen Ergebnis mehr inneren Abstand hat als wir. Nicht nur, daß er überhaupt ein größerer Herr ist als wir es sind. Er bereitet die Hauptverhandlung nicht vor, er leitet sie nur formell, gleichsam als idealer Zuhörer, und er fällt auch den Schuldspruch nicht; also ist seine Verantwortung weit geringer als die unsrige. Er kann deshalb die anderen Prozeßbeteiligten viel unbefangener darauf aufmerksam machen, wo ihre Verantwortung steckt. Er setzt seine Verhandlungen auf den bereitesten Termin, völlig ohne Rücksicht auf den Stand der Ermittlungen, den er ja gar nicht kennt. Wollte die Anklagebehörde (also die Polizei oder der director of public prosecutions) ihn um einen späteren Termin bitten, weil die Ermittlungen noch nicht so weit seien, so würde er das nicht nur ablehnen, sondern er würde äußerst befremdet fragen, wieso man denn dann den Mann verhaftet habe. Eher noch hätte ein Vertagungsantrag des Verteidigers Aussicht auf Erfolg (bei uns bleibt ja dem Verteidiger oft trotz überlangen Vorverfahrens keine ausreichende Zeit zur Vorbereitung). Und bei alledem hat England eine nicht nur durchaus wirkungsvolle Strafjustiz, sondern auch eine, die das uneingeschränkte Vertrauen des Volkes genießt, ja auf die jeder Engländer ausgesprochen stolz ist. Nun kann das nicht zu dem Vorschlag führen, das englische Recht in Deutschland zu rezipieren. Ich trage das nur zum Beweise dafür vor, daß es kriminalistische Methoden gibt, die im wesentlichen vor und ohne Verhaftung des Beschuldigten, ohne seine Mitwirkung zur Bereitstellung des Schuldbeweises führen. Auch unsere Polizei müßte sie sich aneignen können, wenn es unseren Gesetzgebern gelänge, wenn er sich das überhaupt zur Aufgabe stellte, auf sie in dieser Richtung einen gewissen Druck auszuüben. Bei uns ist die Macht der Polizei zu groß, ihre Verantwortlichkeit zu klein; die Macht der Justiz zu klein, ihre Verantwortlichkeit zu groß. Will der Gesetzgeber wirklich etwas tun, so bietet sich die schwedische Lösung an18. Sie vereint englische Anschauungen über staatsbürgerliche Freiheit mit einer Gesetzestechnik, die sich in unsere Strafprozeßordnung organisch einfügen ließe. Zunächst setzt dort jeder Haftbefehl einen Antrag des Staatsanwalts voraus; mit einer polizeilichen Vorführung beim Haftrichter ist es also nicht getan. Diese Regelung ist geeignet, der Polizei ihre untergeordnete Stellung gegenüber dem Staatsanwalt klarer zu machen als bei uns; geeignet, sie schon vor der Festnahme eines Beschuldigten zu einer Rückfrage beim Staatsanwalt zu veranlassen. Ergeht der Haftbefehl vor Erhebung der Anklage, so muß das Gericht dem Staatsanwalt dabei eine Frist zur Anklageerhebung setzen. 18 Zum folgenden G. Schmidt, Die Untersuchungshaft im schwedischen Strafprozeßrecht, ZStW Bd. 74 (1962) S. 623 ff.

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Die Regel sind Fristen von einer oder von zwei Wochen. Die Fristen können allerdings länger angesetzt und auf Antrag des Staatsanwalts auch verlängert werden. Ist aber der Beschuldigte - auf die eine oder die andere Weise - länger als zwei Wochen in Haft, so muß grundsätzlich alle zwei Wochen ein mündlicher Haftprüfungstermin stattfinden. Wenn Sie bedenken, wie lästig das ist, dann können Sie sich vorstellen, daß das Gericht bei diesen Gelegenheiten dem Staatsanwalt - verzeihen Sie den Ausdruck - etwas auf die Hacken treten wird, um ihn zu möglichst schleunigen Ermittlungen zu veranlassen. Sicherlich wird er nicht, wie das bei unseren Dreimonatsfristen doch nicht ausgeschlossen ist, solch einen Haftprüfungstermin mit dem Gefühl verlassen können, daß es nun wieder Zeit habe. - Wird der Haftbefehl nach Anklageerhebung erlassen, so muß binnen Wochenfrist die Hauptverhandlung stattfinden. Aber zu solchen energischen Lösungen (die übrigens auch personelle und sachliche Mittel erfordern würden) fehlt unserem Gesetzgeber offensichtlich Kraft und Mut. Wenn man nun noch die anderen Artikel der Novelle durchsieht, dann können einem Zweifel kommen, ob es dem Gesetzgeber überhaupt ernst ist mit der Absicht, die Untersuchungshaft zu verkürzen. Betrachten Sie den Artikel 9 Nr. 1 und 2 in der vom Plenum des Bundestages gebilligten Fassung des Rechtsausschusses. Nr. 1 verlängert die Revisionsbegründungsfrist von zwei Wochen (früher war es einmal eine Woche) auf einen Monat. Damit verlängert sich die Untersuchungshaft des Revisionsführers automatisch um mehr als zwei Wochen. Das gilt sogar dann, wenn sein Verteidiger die Monatsfrist gar nicht ausnutzt, sondern die Revisionsbegründung schon drei Tage nach Zustellung des Urteils einreicht oder sie gar, was doch auch vorkommt, in die Einlegungsschrift aufnimmt. Denn das Landgericht kann die Akten nicht vor Ablauf der Begründungsfrist in die Revisionsinstanz schicken, weil bis dahin ja immer noch etwas kommen kann. Artikel 9 N r . 2 betrifft die Verwerfung der Revision durch Beschluß. Dafür soll jetzt ein begründeter Antrag der Staatsanwaltschaft erforderlich sein. Nun gut; dafür werden sich bei der Staatsanwaltschaft und bei der Bundesanwaltschaft drei oder vier Muster entwickeln, und das braucht dann keinen Aufenthalt zu kosten. Aber nun muß die Staatsanwaltschaft den Antrag mit den Gründen dem Beschwerdeführer mitteilen, und der kann binnen zwei Wochen (der Regierungsentwurf hatte gesagt: binnen einer Woche) eine schriftliche Gegenerklärung einreichen. Mit diesem Verfahren habe ich schon Erfahrungen, die der Bundestag nicht hat. Ich habe eine Weile (möglichst aber nicht gerade in Haftsachen) den Verteidigern geschrieben, aus welchen Gründen die Bundesanwaltschaft ihre Revisionen für offensichtlich unbegründet halte, und habe ihnen dabei eine Erklärungsfrist von drei Wochen

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gestellt. Es ist niemals etwas dabei herausgekommen. Aber die Verlängerung des Revisionsverfahrens und mit ihm gegebenenfalls der Untersuchungshaft, die durch diese beiden Nummern des Artikels 9 verursacht wird, beträgt zusammen genau einen Monat. Ein Monat - das ist, wie in Thomas Manns Zauberberg, die kleinste Zeiteinheit, mit der man heutzutage bei Haftsachen rechnen will. Wohin sind doch die Zeiten gekommen, als die Zeiteinheit noch die Woche war, und das Höchstmaß vier Wochen - bitte: nicht „ein Monat", sondern „vier Wochen"! Machen wir uns darauf gefaßt, daß unsere Kassandrarufe nichts ändern werden; daß es auch den Landesjustizverwaltungen, bei denen die Sachkunde in diesen Dingen konzentriert ist und die ihre Stimme dazu vielleicht im Bundesrat zur Geltung bringen könnten19, nicht gelingen wird, die Gefahr aufzuhalten. Machen wir uns weiter darauf gefaßt, daß nicht alle Länderparlamente geneigt sein werden, die zusätzlichen Mittel bereitzustellen, die für diese vom Bundesgesetzgeber der Landesjustiz verschriebenen zusätzlichen Aufgaben erforderlich sind20 (dafür gibt es ja Beispiele) - was dann? Dann dürfen wir nicht etwa übelnehmen, die Achseln zucken und auf den Gesetzgeber schimpfen, sondern dann — und wohl nicht nur dann — ist die Reform der Untersuchungshaft zunächst einmal unsere Aufgabe. Besinnen wir uns darauf, daß wir eine Staatsgewalt sind, die gerade zu diesen Dingen auch einen unmittelbaren, eigenen Zugang hat. Wir, die Staatsanwälte und Richter, müssen zusehen, was sich tun läßt, um welche Hilfen wir unsere Justizverwaltungen bitten können, und was wir vielleicht auch ganz aus eigener Kraft vermögen. Es ist meine Überzeugung, daß wir eine ganze Menge tun können. Ich möchte Ihnen einige ziemlich wahllos herausgegriffene Beispiele nennen und Sie bitten, das alles aus zwei Winkeln zu sehen, einem großen und einem kleinen. Der große, der uns immer wieder Mut machen und Kraft verleihen muß, ist dieser: Die Abkürzung der Untersuchungshaft ist eine große, wichtige, schöne, menschliche und unserer wahrhaft würdige Aufgabe. Einem einzigen Menschen die Freiheit auch nur einen einzigen Tag früher wiederzugeben, sollte jeden von uns so schön dünken, daß es allemal ein paar zusätzliche Arbeitsstunden wert ist; vor allem wenn wir bedenken, daß er vielleicht unschuldig oder - wenn dieses Wort Ihnen zu pathetisch klingt - vielleicht kaum schuldiger ist als wir selbst. Viele " Der Bundesrat hält die Novelle für ein Zustimmungsgesetz, die Bundesregierung nicht (BT-Drucks. IV/178 S.49, 51). 20 Die Bundesregierung meint, eine Vermehrung der Richterstellen bei den Oberlandesgerichten werde sich „in engen Grenzen halten können"; bei Bundesanwaltschaft und Staatsanwaltschaften werde „eine geringfügige Vermehrung des Personals nicht zu umgehen sein" (BT-Drucks. IV/178 S.20f. - III der Begründung).

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von uns sind ja selbst einmal Gefangene gewesen: kriegsgefangen, interniert, vielleicht auch einmal im Gefängnis. Denken wir daran, daß wir es mit einem Mitmenschen zu tun haben, daß seine Familie mit ihm leidet, daß wir ihm näher sind, als der Gesetzgeber ihm ist, daß die Haft auch die legitimste Verteidigung stark behindert, und daß es vielleicht unsere Irrtümer sind, für die er büßt. Stumpfen wir unser ursprüngliches, natürliches Mitgefühl nicht ab; genieren wir uns nicht, uns von dieser Aufgabe hinreißen zu lassen. Herr Landgerichtspräsident Dr. Kellermann zitierte gestern21 einen in Stuttgart gefallenen Ausspruch über den alternden Strafrichter. Auch mir hat dieser Ausspruch meines früheren Chefs, den ich sehr verehre, wehgetan. Aber lassen Sie uns den Akzent darin ein klein wenig verschieben. Wer so nüchtern und skeptisch wäre, daß eine solche Aufgabe wie die Bekämpfung der überlangen Untersuchungshaft sein Herz niemals schneller schlagen ließe, der wäre wirklich zu alt zum Strafrichter - und wäre er dreißig Jahre alt. Und der ebenso notwendige kleine Gesichtswinkel ist dieser: Diese Aufgabe kann nur in einem beständigen Kampf gegen die Einzelheiten angepackt werden, gegen den Alltag, gegen die Tücke des Objekts, gegen den täglichen Schlendrian, gegen die Bequemlichkeit des eigenen Denkens, gegen Kleinigkeiten. Das große Gefühl ist unentbehrlich, aber mit ihm allein richtet man nicht das allermindeste aus; hinzukommen muß die Liebe zum Detail. Es gibt keine Vorschrift, die von uns verlangt, mit unserer eigenen Schreibkraft und unserer eigenen Registratur nur schriftlich zu verkehren, und wenn es eine solche Vorschrift gibt, sollten wir bitten, sie aufzuheben; das ist ein schlechter Brauch, er hält manchmal die eiligsten Sachen tagelang auf, Anwälte und Kaufleute verfahren auch nicht so und können doch genaue Arbeit leisten. Wir vergeben uns nichts, wenn wir uns eine Akte unter den Arm klemmen, um eine Unterschrift unter einem eiligen Beschluß zu besorgen. Die Stunden, die das einspart, summieren sich zu Tagen. Die uns gegebene Methode zur Abkürzung der Untersuchungshaft besteht darin, daß wir das Verfahren überall, wo wir nur können, beschleunigen. Da gibt es Möglichkeiten en gros und en detail. Wir müssen die Stellen aufs Korn nehmen, an denen es erfahrungsgemäß hakt. Eine dieser Stellen ist der Sachverständige. Wir schicken ihm die Akten, er ist überlastet, wird von uns ja auch nicht sehr großartig bezahlt, und es dauert monatelang, bis die Akten mit dem Gutachten manchmal auch ohne es - zurückkommen. Viele Verfahren ließen sich ganz erheblich beschleunigen, wenn man ohne Sachverständigen auskommen könnte. Als ich noch Tatrichter war, konnte man das in viel 21

In seinem Vortrag über „Richterpersönlichkeit und Richtertätigkeit".

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größerem Umfang als heute. Das Reichsgericht zwang die Tatrichter längst nicht so weitgehend zur Vernehmung von Sachverständigen wie der Bundesgerichtshof es heute tut. Man kann es gut verstehen, daß ein Richter, dem ein paarmal Urteile aus diesem Grunde aufgehoben worden sind, klug geworden für ein andermal, lieber einmal zu oft einen Sachverständigen beizieht als einmal zu wenig. Also sind wir Revisionsrichter keineswegs ganz unschuldig daran, daß Verfahren und Haft sich heute mehr in die Länge ziehen als früher. Sie trauen mir hoffentlich nicht zu, daß ich nur in andrer Leute Augen nach Splittern suche. Aber es ist das Gute dieser Tagungen, wie sie ja von mehreren Landesjustizverwaltungen regelmäßig veranstaltet werden, daß hier Gelegenheit zu einer engeren Fühlung auch zwischen Tatrichtern und Revisionsrichtern ist. Bene iudicat qui bene distinguit. Es ist ganz und gar nicht erforderlich, daß in jedem Mordprozeß ein psychiatrischer Sachverständiger über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten vernommen wird. Ganz im Gegenteil: je schwerer die Tat, desto weniger ist das erforderlich. Die Gefahr, daß der Richter als medizinischer Laie eine große Psychose des Angeklagten übersieht, liegt gerade bei der etwas eingehenderen Beschäftigung mit dem Werdegang, wie sie bei solchen Tätern üblich ist, nicht nahe. Und die landläufige Psychopathie mit und ohne „Krankheitswert" spielt für die Zurechnungsfähigkeit eine um so geringere Rolle, je schwerer die Tat ist. Auch Psychopathen und Schwachsinnige pflegen durchaus zu wissen, daß man nicht töten darf; und daß sie dann die Hemmungen aufbringen, die dieser Einsicht entsprechen, muß die Rechtsordnung auch von ihnen verlangen. Hier wird mit der verminderten Zurechnungsfähigkeit - einem Begriff, dem ja die meisten Sachverständigen ohnehin ziemlich unsicher gegenüberstehen - viel Unfug getrieben. Sodann gibt es Strafbestimmungen, bei denen eine gewisse Abnormität des Täters schon vom Gesetzgeber einkalkuliert und bei der Strafdrohung berücksichtigt ist. Das gilt etwa von der Erregung öffentlichen Ärgernisses. Daß solche Täter Psychopathen sind, dazu braucht man keinen Sachverständigen; das hat schon der Gesetzgeber gewußt, und er hat diese Taten trotzdem mit Strafe bedroht. Meine weiteren Beispiele stammen aus einem Verfahrensabschnitt, den der Gesetzgeber nicht in den Vordergrund seiner Betrachtung gerückt hat, in dem aber die Beschleunigung und die mit ihr verbundene Abkürzung der Untersuchungshaft nicht weniger wichtig ist. Ich meine den Verfahrensabschnitt zwischen dem ersten Urteil und der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts. Gewiß, um den „dringenden Tatverdacht" braucht man sich hier im allgemeinen keine besonderen Sorgen mehr zu machen. Aber die Beschleunigung des Verfahrens dient auch hier nicht etwa nur der Schlagkraft der Strafjustiz. Auch hier ist eine zu lange Untersuchungshaft ein großes und bekämpfenswertes Übel.

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Gewiß kann und wird sie oft auf die Strafe angerechnet werden, aber das bedeutet eine weitgehende Vermengung zwischen Strafvollstreckung und Untersuchungshaft (übrigens auch zwischen Gefängnis und Zuchthaus), eine Vermengung, die jede Untersuchungshaft zu einem noch größeren Übel macht, als sie es ohnehin schon ist. Auch ist die Haft in diesem Verfahrensabschnitt mit dem Odium belastet, daß von ihr eine gewisse Nötigung ausgeht, auch begründete Rechtsmittel lieber nicht einzulegen. Ferner tragen diese Fälle bedeutend zur Uberfüllung der Haftanstalten und zu den schlechten Lebensbedingungen in ihnen bei. Schließlich noch ein ganz primitiver und zu einem Teil, von uns aus gesehen, sozusagen egoistischer Gesichtspunkt: je länger diese Gefangenen da sitzen, desto mehr zusätzliche Arbeit verursachen sie den Staatsanwaltschaften und den Gerichten durch alle möglichen Eingaben und Beschwerden. Die darauf verwendete Arbeitskraft fehlt dann wieder am anderen Ende, und das hält wieder andere Verfahren auf. Nicht daß ich die Gefangenen wegen dieser Eingaben schelte. Neulich schrieb mir ein Mann aus einer Haftanstalt, er sei da schon 39 Monate, vor über einem Jahr habe er Revision eingelegt, und wann denn der Bundesgerichtshof endlich einmal darüber entscheiden wolle. Ein Telefongespräch mit dem zuständigen Generalstaatsanwalt ergab, daß seine Angaben stimmten; aber wir hatten die Sache noch nicht! Sie werden es verständlich finden, daß gerade mir die Betrachtung gerade dieses Abschnitts nahe liegt; und noch verständlicher werden Sie es finden, wenn Sie folgendes erfahren. Im allgemeinen dauert bei uns ein Revisionsverfahren von dem Augenblick, in dem die Sache beim Senat eingeht, bis zu dem Augenblick, in dem die Akten mit den fertigen Abschriften des Revisionsurteils bei uns wieder hinausgehen, sechs bis acht Wochen. Daß es länger als drei Monate dauert, kommt im Jahr höchsten ein- oder zweimal vor. Beschlußsachen dauern nur drei bis vier Wochen (in Zukunft werden sie genau so lange dauern wie Urteilssachen). Wenn Sie aber meine Terminzettel ansehen, die ich Ihnen hier mitgebracht habe, können Sie sich überzeugen, daß zwischen dem ersten Urteil und dem Revisionsurteil ein Vielfaches dieser Zeit zu vergehen pflegt. Am 30. April 1963 verhandelten wir über eine Haftsache vom 26. Juni 1962; am 23. April 1963 über ein Urteil vom 28. August 1961; am 9. April 1963 über ein Urteil vom 22. Juni 1962 (das war der „Einsatzgruppen"-Fall); am 2. April 1963 über ein Urteil vom 9. April 1962 (da fehlte eine Woche an einem Jahr!); am 12. März 1963 über ein Urteil vom 19. Oktober 1961; am 5. März 1963 über ein Urteil vom 2. Februar 1962; am 26. Februar 1963 über ein Urteil vom 12. März 1962; am 19. Februar 1963 über ein Urteil vom 6. Februar 1962; am 5. Februar 1963 über ein Urteil vom 15. Dezember 1961 - und so weiter. Sie können meine Terminzettel von Woche zu Woche rückwärts blättern

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und feststellen: daß es vom angefochtenen Urteil bis zum Revisonsurteil ein ganzes Jahr und länger dauert, ist gar keine Seltenheit. Wie ist das möglich? Es liegt nur selten daran, daß die Urteilsgründe nicht rechtzeitig zu den Akten kommen; und wenn, dann beruht es nicht auf Unfleiß, sondern im Gegenteil darauf, daß die Urteilsgründe zu lang sind. Das längste Urteil, das ich als Tatrichter geschrieben habe, war 2 VA Seiten lang. Das längste Urteil, das ich als Revisionsrichter gelesen habe, war 946 Seiten lang22; ich hätte mir zugetraut, auch dieses Urteil auf zwanzig Seiten zu begründen. Je länger ein Urteil ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß etwas Wesentliches darin fehlt. Denn wenn man solche Wälzer schreibt, verliert man selbst den Uberblick. Manchmal finden wir, daß die Gründe eigentlich nur eine Stoffsammlung zu einem Urteil, aber nicht selbst ein Urteil sind. Eine unglaubliche Zeit vergeht bisweilen zwischen dem Eingang des Urteils bei der Geschäftsstelle und seiner Zustellung. Ich kenne Fälle, in denen das monatelang gedauert hat. Wahrscheinlich liegt es am Fehlen von Kanzleikräften oder an schlechter Organisation, ζ. B. an Uberorganisation; bei Gerichten, die eine Zentralkanzlei haben, ist es häufiger als dort, wo immer derselbe Richter mit immer derselben Kanzleikraft arbeitet. Persönlicher Kontakt funktioniert im allgemeinen besser als organisierte Perfektion. Eine Frist, die so gut wie niemals eingehalten wird, ist die Wochenfrist für die Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft (§ 347 Abs. 1 S. 2 StPO). Das liegt oft daran, daß die Staatsanwaltschaft entbehrliche dienstliche Äußerungen der Richter usw. zu Verfahrensrügen einholt. Ich möchte den Staatsanwaltschaften nahelegen, sich mit der Gegenerklärung in dem Augenblick, in dem sie das Verfahren aufzuhalten droht, leichter zu tun. Dienstliche Äußerungen kann das Revisionsgericht, wenn es sie braucht, auch noch in der Zeit zwischen der Terminsbestimmung und dem Termin einholen, da halten sie das Verfahren keine Minute auf. Oft braucht es die Äußerungen aber schon deshalb nicht, weil es eine andere Rüge durchgreifen läßt als jene, auf die sich die eingeholten Äußerungen beziehen. Wenn die staatsanwaltliche Kanzlei innerhalb der Wochenfrist nicht dazu kommt, Beweisanträge u. ä. für die Gegenerklärung aus dem Protokoll abzuschreiben, kann das Revisionsgericht sie auch selbst im Protokoll lesen; so hilflos sind wir gar nicht. Ein ganz dunkles Kapitel ist der Übersendungsbericht. Das Gesetz schreibt ihn gar nicht vor, er ist in den Richtlinien für das Strafverfahren Die Sache wird auch von Seibert NJW 1960 S.21 erwähnt; vgl. dazu Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 85 Fn.23. 22

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geregelt; vielleicht sollten die Justizverwaltungen überlegen, ob er nicht abgeschafft werden kann. Es handelt sich ja mehr um eine Courtoisie gegenüber dem Revisionsgericht, die ihm die Prüfung der Formalien etwas erleichtert. Etwas, nicht sehr; die Sache ist keineswegs wert, daß ein Mensch ihretwegen einige Tage länger in Haft sitzt - und oft bleibt es nicht bei einigen Tagen. Alle diese Angaben kann das Revisionsgericht auch denjenigen Aktenteilen entnehmen, die es ohnehin lesen muß. D a der Ubersendungsbericht vom Rechtspfleger entworfen, von der Kanzlei in zwei Stücken ins Reine geschrieben, vom Sachbearbeiter abgezeichnet und vom Abteilungsleiter unterschrieben wird, wird da übergründlich und entsprechend langsam gearbeitet, was nicht ausschließt, daß es dann manchmal doch nicht stimmt. Ferner wird da oft die Behebung von Fehlern veranlaßt, die gar nicht behoben zu werden brauchen, z . B . Unrichtigkeiten des Rubrums. Das erfordert einen Antrag, einen Gerichtsbeschluß, Kanzleiarbeit, Zustellungen, und dauert gewöhnlich mindestens vierzehn Tage. Das ist die Sache keineswegs wert. Manche Generalstaatsanwälte lassen die Akten mit Revisionen des Angeklagten unmittelbar von der örtlichen Staatsanwaltschaft an die Bundesanwaltschaft schicken; andere verlangen, daß das durch ihre Hand geht. Sie werden ihre Gründe haben, aber das kostet mindestens acht Tage. Das sind, wie gesagt, Beispiele. Wir brauchen das Thema hier nicht zu erschöpfen und können es auch gar nicht. Ich glaube, daß sich an vielen Stellen des Verfahrens solche etwas klemmenden Mechanismen finden, denen eigentlich nur ein Tropfen O l fehlt. Was wir mitbringen müssen, ist die Fähigkeit, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden, eine Fähigkeit, die ja eigentlich das Kennzeichen allgemeiner wie fachlicher Bildung sein soll. Was wir ferner brauchen, oder, wie man hierzulande mit so feiner Unterscheidung sagt, bräuchten, ist eben als jener Tropfen O l — die Eigenschaft, die man drüben in Frankreich „debrouillard" nennt, eine leichte Hand, die Gabe, mit den Dingen fertig zu werden, und der Mut, sich dieser Gabe auch zu bedienen, ohne einen gar zu schmiedeeisernen Respekt vor etwa entgegenstehenden altehrwürdigen Bräuchen. Was uns belohnen würde, wäre die Aussicht, unsere Arbeit mit etwas geringerer Belastung des Gewissens tun zu können, und ein Zuwachs an Vertrauen bei den Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Gelänge es uns, dem Gesetzgeber ein solches Beispiel zu geben, so würde vielleicht auch er leichter den richtigen Weg finden.

III. Praxis der Strafrechtspflege

Die Entscheidungsbegründung im deutschen strafgerichtlichen Verfahren1 (1974)

Nach der deutschen Strafprozeßordnung müssen Entscheidungen, die mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, sowie Entscheidungen, durch die ein Antrag abgelehnt wird, mit Gründen versehen werden (§34 StPO). Mit Rechtsmitteln anfechtbar sind alle Urteile erster Instanz (nämlich mit Berufung oder Revision) und alle Berufungsurteile (nämlich mit der Revision). Für die Entscheidungen der jeweils letzten Instanz, insbesondere für die Revisionsurteile und -beschlüsse, gelten Besonderheiten, die weiter unten erörtert werden. Ferner ist ein Rechtsmittel, nämlich die Beschwerde, gegeben gegen alle Beschlüsse des Gerichts erster Instanz und des Berufungsgerichts sowie gegen alle Verfügungen des Vorsitzenden, des Untersuchungsrichters, des Amtsrichters und eines beauftragten oder ersuchten Richters, soweit das Gesetz solche Verfügungen nicht ausdrücklich der Anfechtung entzieht (§ 304 Abs. 1 StPO). Für die Form, den Inhalt und den Umfang der Begründung gibt es zum Teil überhaupt keine, zum Teil (vor allem für Urteile, § 267 StPO) nur lückenhafte und nur zu einem kleinen Teil (insbes. für Haftbefehle, §114 Abs. 2, 3 StPO und für die Ablehnung von Beweisanträgen, §244 Abs. 3-6 StPO) fast erschöpfende gesetzliche Vorschriften. So ist ein großer Teil der Regeln, nach denen die Begründungen sich richten, von der Rechtsprechung frei entwickelt worden. Entscheidend ist dabei jeweils die Rücksicht auf den Zweck, genauer auf die mehreren Zwecke der Begründung gewesen. Die Begründung solcher Entscheidungen, die mit Rechtsmitteln anfechtbar sind, soll vor allem zwei Zwecken dienen: Erstens soll sie dem oder den Anfechtungsberechtigten eine ausreichende Grundlage dafür geben, ob er sich für oder gegen die Einlegung des Rechtsmittels entscheidet; zweitens soll sie der höheren Instanz eine Grundlage für deren eigene Entscheidung liefern. Dieser zweite Zweck tritt vor allem da in den Vordergrund, wo nach besonderer Regelung das Rechtsmittelgericht nur die Begründung der angefochtenen Entschei-

1 Zuerst veröffentlicht in: Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und in Verfahren vor internationalen Gerichten, herausgegeben von Rainer Sprung, Wien/New York 1974, S. 83-99.

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dung zum Gegenstand seiner Prüfung machen darf; das ist vor allem der Fall bei der revisionsrichterlichen Nachprüfung der Anwendung des sachlichen Rechts auf den vom Tatrichter - für das Revisionsgericht bindend - festgestellten Sachverhalt. Gerade hier ist es viel weniger das Gesetz gewesen als die ständig gesteigerten Ansprüche der Revisionsgerichte, die dem Begründungszwang seinen eigentlichen Inhalt und Umfang gegeben haben. Ferner soll die Begründung dazu dienen, dem Unterlegenen, vor allem dem Beschuldigten, zu zeigen, daß er verstanden, mit seinen Einwendungen ernst genommen worden ist und daß die Richter sich die erforderliche Mühe um seinen Fall gegeben haben. Dies gilt vor allem für die Gründe unanfechtbarer Entscheidungen. Ganz allgemein führt dies zu der Forderung, oder sollte doch zu ihr führen, die Gründe so zu schreiben, daß der Betroffene sie verstehen kann. Schließlich dient die Abfassung von Gründen einer gewissen Selbstkontrolle des Gerichts und seiner Bewahrung vor übereilten Entscheidungen. Die Anforderungen des Gesetzes (§267 Abs. 1, 2 StPO) an die Begründung verurteilender Entscheidungen sind ausgesprochen bescheiden. Die Vorschrift lautet: „Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der strafbaren Handlung gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden". Diesem Wortlaut wäre genügt, wenn eine Verurteilung etwa wegen Totschlags zum Schuldspruch wie folgt begründet würde: „Der Angeklagte erschoß am 27.5.1972 auf der Reeperbahn in Hamburg den Kellner Hermann Schwarz". Beruhte die Überzeugung des Gerichts von dieser Tat auf einem Geständnis oder auf Zeugenaussagen, so brauchte - immer nach dem Wortlaut - weder das Geständnis noch brauchten die Zeugenaussagen erwähnt zu werden. Beruhte der Beweis auf Indizien („anderen Tatsachen"), so „sollen" sie mitgeteilt werden; d.h. nach dem Sprachgebrauch des Gesetzes: Sie müssen es nicht. Wollte das Gericht dieser „Sollvorschrift" genügen, so genügte jedenfalls der Satz: „Als Schwarz blutend vor dem Angeklagten auf der Straße lag, hatte dieser den Revolver in der Hand, aus dem der tödliche Schuß abgegeben worden war".

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Hätte der Angeklagte sich auf Notwehr berufen, so würde es - immer nach dem Wortlaut - genügen hinzuzufügen: „Der Angeklagte behauptet, Schwarz habe ihn angegriffen; dies hat das Gericht für nicht festgestellt erachtet". Daß dieser letzte, dem Wortlaut des Gesetzes entsprechende Satz schlicht rechtsfehlerhaft sein würde, weil er gegen den Satz „in dubio pro reo" verstößt, sei schon hier angemerkt. Auch sonst würde heutzutage gewiß kein deutsches Revisionsgericht eine so knappe Begründung als ausreichend ansehen. Dabei kann nicht zweifelhaft sein, daß diese anspruchslose Regelung vom Gesetzgeber des Jahres 1877 gewollt war. Folgendes ist zu bedenken. Die gesamte schwere Kriminalität, nämlich alle Verbrechen, die mit mehr als 5 Jahren Zuchthaus bedroht waren, lagen damals in der Hand der Schwurgerichte alter Art. Dort entschieden allein die Geschworenen über die Schuldfrage in Form eines „Wahrspruchs" („Ja, mit mehr als sieben Stimmen") ohne jede Begründung. Es mochte deshalb widersinnig erscheinen, in den Sachen minderen Gewichts allzu hohe Anforderungen an die Urteilsgründe zu stellen. Daß dies nicht beabsichtigt war, wird dadurch bestätigt, daß § 275 StPO in der ursprünglichen Fassung dem Gericht eine Frist von nur 3 Tagen zur Abfassung der Gründe setzte (erst 1921 wurde diese Frist auf eine Woche verlängert). In den Motiven des Entwurfs (zu Ε §225) 2 wird gesagt: Unter der früheren Herrschaft von Beweisregeln sei „die Frage, was bewiesen oder nicht bewiesen sei, zugleich eine Rechtsfrage" gewesen; damals hätten deshalb auch die Beweisgründe zu den objektiven Entscheidungsgründen gehört, und auch in bezug auf sie habe die Mehrheit des Gerichts einig sein müssen. Nunmehr aber verweise das Gesetz den Richter nicht mehr auf Beweisregeln, sondern auf seine Uberzeugung (vgl. §261 StPO). Es sei „also völlig zulässig und (komme) auch häufig genug vor, daß die zur Entscheidung berufenen Richter sämtlich die Uberzeugung von der Wahrheit einer Tatsache haben, daß sie indes in den Gründen, aus denen sie zu dieser Überzeugung gelangt (seien), von einander abweichen. Deshalb (sei) die Forderung, daß die Gerichte die Gründe ihrer Überzeugung in dem Urteil angeben sollen, bei Kollegialgerichten nicht selten geradezu unerfüllbar". Bezeichnend dafür, wie weit man sich inzwischen von dieser Anschauung entfernt hat, ist die jetzt erhobene Forderung, in solchen Fällen müsse die Grundlage der Überzeugungsbildung und - trotz des Beratungsgeheimnisses - das Stimmverhältnis angegeben werden3: Sei 2 Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, Erste Abteilung (1880), S.210. 3 Schmidt/Räntsch, Gegenstand, Sinn und Grenzen des Beratungsgeheimnisses, J Z 1958, S. 332.

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also etwa ein Teil der erforderlichen Mehrheit (nur) auf Grund von Indizien, ein anderer Teil (nur) auf Grund einer Zeugenaussage überzeugt, so müßten die Gründe das sagen. Fälle dieser Art sind vielleicht nicht selten. In der Rechtsprechung sind sie jedoch bisher nicht hervorgetreten. Die Instanzgerichte pflegen dergleichen nicht zu schreiben; deshalb haben die Revisionsgerichte keine Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Im übrigen jedoch sind die Anforderungen an den Inhalt der Urteilsgründe immer größer geworden. Diese Entwicklung hat sich praeter legem, ja wenn man will, contra legem vollzogen. Sicherlich hat hierzu beigetragen, daß 1924 die Schwurgerichte alten Stils durch einen, freilich immer noch „Schwurgericht" genannten, einheitlichen Spruchkörper ersetzt wurden, der aus Berufs- und Laienrichtern zusammengesetzt ist und der, statt des alten „Wahrspruchs", seine Urteile mit regelrechten Gründen zu versehen hat. Von diesem Vorgang fiel helles Licht auf die Erforderlichkeit und den Nutzen der Urteilsgründe. Bis 1924 hatte das Reichsgericht nur sehr selten Gelegenheit bekommen, sich zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale gerade der schwersten und wichtigsten Straftaten zu äußern. Was ζ. B. unter dem damaligen Mordmerkmal des „Ausführens mit Überlegung" zu verstehen sei, hatte es von 1879 bis 1924 nur ein einziges Mal 4 erörtern können - und das auch nur, weil der Angeklagte ein Jugendlicher war, den statt des Schwurgerichts die Strafkammer abzuurteilen hatte. Die Gründe des Reichsgerichtsurteils zeigen, wie leicht die Strafkammer es sich mit der Begründung des Mordversuchs gemacht hatte. Die Sorge liegt nahe, daß es mit der Rechtsbelehrung der Geschworenen (§ 300 S t P O a. F.) durch den V o r sitzenden ebenso im argen gelegen haben mag. Ein weiterer Grund dafür, daß die Urteilsgründe allmählich immer länger wurden, daß insbes. die Beweis Würdigung immer ausführlicher wurde, lag in der Neuentwicklung von Beweisregeln 5 . Sie wiederum gründete sich auf die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Erkenntnis: etwa der Abstammungsforschung (bedeutsam für den Nachweis von Meineiden in Unterhaltsprozessen), der Unfallmechanik (für Verkehrsstraftaten), des Blutalkoholnachweises (für die Zurechnungsfähigkeit). T r o t z der in § 2 6 1 S t P O geforderten Freiheit der (tat-)richterlichen Uberzeugung konnte es auf die Dauer nicht hingenommen werden, wenn solche gesicherten Erfahrungen in tatrichterlichen Urteilen unberücksichtigt blieben. Deshalb begannen die Revisionsgerichte hier einzugreifen, und da sie nicht befugt waren und sind, eine eigene Beweiswürdigung an die Stelle der des Tatrichters zu setzen, verlangten sie von ihm 4 5

RG vom 2 6 . 3 . 1 9 0 9 , RGSt. 42, 260. Sarstedt, Beweisregeln im Strafprozeß, in Festschrift für Hirsch (1968), S. 171.

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in immer steigendem Maß eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlich erarbeiteten Erfahrungssätzen. Noch in anderer Weise führten Eingriffe der Revisionsgerichte zu größerer Ausführlichkeit der tatrichterlichen Urteilsgründe. Es ist zweifellos nicht möglich, die Wahrheit vergangener Tatsachen logisch zwingend zu beweisen. So versuchen die Tatrichter, das Revisionsgericht durch Ausführlichkeit zu überzeugen: einmal von der Sorgfalt ihrer Arbeit, sodann von der Richtigkeit des festgestellten Sachverhalts. Freilich geht dies nun über die Aufgabe der Urteilsgründe hinaus. Die Urteilsgründe sollen eigentlich nur die Ergebnisse der tatrichterlichen Beratung beurkunden. Anstatt dessen beginnen sie nun, mit dem Revisionsgericht über diese Ergebnisse gleichsam eine Diskussion zu eröffnen - und immer öfter läßt das Revisionsgericht sich darauf ein. Es klopft die ihm vorgelegten Gründe auf ihre Uberzeugungskraft hin ab was ihm nach der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers ganz gewiß nicht zusteht. Aber je ausführlicher solche Gründe sind, desto mehr Angriffsflächen geben sie oft für eine Kritik unter dem Gesichtspunkt der Lebenserfahrung, des Allgemeinkundigen, einer Verletzung von Denkgesetzen, Auslegungsregeln (ζ. B. bei Außerungsdelikten), selbst der Grammatik. Der Bundesgerichtshof hat einmal die tatrichterliche Auslegung eines Gedichts (in dem eine Gotteslästerung erblickt worden war) mit der Begründung korrigiert, daß die Worte „Maria virgine" kein Vokativ seien, wie vom Landgericht angenommen, sondern ein Ablativ, abhängig von der Präposition „ex", und daß es sich aus diesem Grund nicht um eine (lästernde) Anrede an die Gottesmutter handle 6 . Mit solchen und einigen anderen Mitteln (verfahrensrechtlicher Art, die in unserem Zusammenhang nicht interessieren) sind große Schritte in Richtung auf die von vielen geforderte „aufgelockerte Revision" schon seit langem getan. Das alles hat dazu beigetragen, daß die Urteilsgründe im Lauf der Jahrzehnte immer umfangreicher geworden sind; und das, obwohl erfahrungsgemäß und einleuchtenderweise kurze Gründe eher „revisionssicher" sind als lange. Daß ein Schwurgericht oder eine Strafkammer ihr Urteil auf mehreren 100 Seiten begründet, ist schon seit langem keine Seltenheit mehr. Es kommt immer öfter vor, daß der „Berichterstatter" (d. h. der Richter, der die Gründe zu schreiben hat) zu diesem Zweck für Wochen, ja für Monate von allem anderen Dienst befreit wird. Die deutschen Richter haben weithin das Gefühl, daß die Abfassung schriftlicher Urteilsgründe das Schwergewicht ihrer Berufstätigkeit ausmacht.

6 BGH vom 2 3 . 6 . 1 9 6 1 (5 StR 573/60); insoweit in GoltdA 1961, 240, nicht abgedruckt.

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Diese Erscheinung hat berechtigte Kritik erfahren. Es ist zweifellos ein Mißstand, daß das richterliche Berufsbild mehr zu dem eines überaus fleißigen, mit Schreibarbeit überlasteten Aktenmenschen geworden und weniger das eines überlegenen Welt- und Menschenkenners, eines gelassenen und vernünftigen Beurteilers menschlicher Verfehlungen und Streitigkeiten geblieben ist. Es ist Anlaß zur Sorge, daß jahrzehntelang in der richterlichen Ausbildung die Regeln, nach denen Urteilsgründe kunstgerecht aufgebaut werden, eine weitaus größere Rolle gespielt haben als etwa die Erfahrungen der Aussagepsychologie und deren praktische Anwendung. Das Maß an richterlicher Arbeitskraft und Arbeitszeit, die bei uns auf das Schreiben von Urteilsgründen verwendet werden, ist einer der Gründe, die zu einem so großen Personalbedarf geführt haben. 1970 hatte die Bundesrepublik Deutschland 11 802 Richter. Bei einer so großen Zahl müssen sich die Ansprüche an die Eignung zwangsläufig vermindern. Ein 60-Millionen-Volk kann kein Heer von wirklichen Richterpersönlichkeiten im Umfang einer kriegsstarken Division hervorbringen. Damit wiederum hängt es zusammen, daß das Schreiben von Urteilsgründen bei uns einigermaßen schulmäßig gelehrt und gelernt wird. Es gibt dafür Lehrbücher 7 . Sie haben kaum rechtswissenschaftlichen Ehrgeiz, behandeln das Urteil vielmehr als ein Werk, nach dem der angehende und der fertige Richter von seinen Vorgesetzten beurteilt wird, und dessen Hauptzweck die „Revisionssicherheit" ist. Dem ausländischen Leser mag dies etwas kümmerlich erscheinen. Zum besseren Verständnis, wenn auch nicht zur Rechtfertigung, sei bemerkt, daß der deutsche Staatsbürger von den Rechtsmitteln, die das Gesetz ihm zur Verfügung stellt, sehr ausgiebigen Gebrauch zu machen pflegt, und daß der deutsche Gesetzgeber dieser Neigung nicht entgegentritt, sondern daß er die Bereitstellung einer möglichst breiten Palette von Rechtsmitteln und sonstigen Rechtsbehelfen („Rechtswegestaat") geradezu für das wesentliche Kennzeichen eines Rechtsstaats zu halten geneigt ist. Diese beiden Umstände verführen den Richter der Eingangsinstanzen vielfach dazu, nach Methoden zu suchen, mit deren Hilfe er die höheren Instanzen entweder zufriedenstellen oder doch am Eingreifen hindern kann. Die Urteilsgründe folgen regelmäßig einem einheitlichen Gliederungsschema. Sie beginnen mit einer erzählenden Darstellung des Sachverhalts, wie das Gericht ihn auf Grund der Hauptverhandlung für erwiesen hält. In einem schulgerecht geschriebenen Urteil hält dieser Abschnitt sich frei von jeder Diskussion; die Darstellung wird nicht durch Erörterungen darüber unterbrochen, was der Angeklagte zugege7 H.Arndt, Das Urteil 2 (1962); Furthner, Das Urteil im Strafprozeß (1970); Kroschel/ Doerner, Die Abfassung der Urteile in Strafsachen21 (1967).

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ben und was er bestritten hat, was die Zeugen und Sachverständigen gesagt haben, wie dies und jenes ermittelt worden ist und dgl. Auch die rechtliche Beurteilung unterbleibt hier. Die Niederschrift des Sachverhalts dient der Beurkundung dessen, was die erforderliche Mehrheit der Richter gegen den Angeklagten am Ende der Beratung für erwiesen gehalten hat. Die Ansicht einer etwaigen Minderheit bleibt unerwähnt. Zum Sachverhalt gehören auch die inneren Tatsachen, soweit es auf sie ankommt: beim Diebstahl also die Kenntnis des Angeklagten, daß die von ihm weggenommene Sache jemandem anders gehörte, und seine Absicht, sie sich anzueignen. Gegen diese Regel wird viel verstoßen; oft werden die inneren Tatsachen erst in einem späteren Abschnitt erwähnt, oder es tritt das ein, was das strenge Gliederungsschema gerade verhindern soll: Sie werden vergessen. Als nächster Abschnitt folgt die Beweiswürdigung, die, wie erwähnt, vom Gesetz nicht geforden wird, heutzutage aber fast niemals fehlt. Sie beginnt üblicherweise mit der Mitteilung, ob und was der Angeklagte zu der Beschuldigung gesagt hat. War er geständig, hat das Gericht dem Geständnis geglaubt und keine weiteren Beweise erhoben, so kann (und sollte) dieser Abschnitt sich auf den Satz beschränken, daß der Sachverhalt auf dem glaubhaften Geständnis beruht. Im anderen Fall sind mehr oder weniger breite Mitteilungen üblich, was die Zeugen gesagt, die übrigen Beweismittel ergeben haben und weshalb das Gericht dem geglaubt oder nicht geglaubt hat. Ein weiterer Abschnitt enthält die rechtliche Würdigung. Hier wird im einzelnen gezeigt, inwiefern das Verhalten des Angeklagten die einzelnen Tatbestandsmerkmale einer oder mehrerer Strafvorschriften erfüllt, und welcher. J e nach der rechtlichen Einfachheit oder Schwierigkeit des Falls mag dieser Teil der Gründe kurz oder lang sein. Unter Umständen finden hier sogar Auseinandersetzungen mit Schrifttum und Rechtsprechung einen Platz, wenngleich das erfreulicherweise selten ist und wohl immer seltener wird. Wo die Erörterung von geltend gemachten Strafausschließungs-, -verminderungs- oder -erhöhungsgründen (§ 267 Abs. 2 StPO) ihren richtigen Platz hat, wird nicht einheitlich beantwortet. Manche Gerichte behandeln insbesondere die Frage der Zurechnungsfähigkeit schon vor Beschreibung der Tat („wissend, was gut und böse ist, begab der Angeklagte sich an den Tatort"). Das entspricht nicht dem materiellen deutschen Recht, wonach es auf die Einsicht in das Unerlaubte „der (konkreten) Tat" ankommt. Das läßt sich also sinnvoll erst erörtern, wenn der Leser „die Tat" kennt. Streng genommen gehört die tatsächliche Seite der Zurechnungsfähigkeit (der Geisteszustand des Angeklagten zur Tatzeit) zur Sachdarstellung; die Subsumtion unter den §51 (heute: § 20) StGB (oder ihre Ablehnung) gehört zur rechtlichen Würdigung.

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Nunmehr folgte früher meist, heute nur noch selten eine formelhafte (durchaus entbehrliche) „Schlußfeststellung": „Der Angeklagte hat also am 27. Mai 1970 in Berlin einem anderen, nämlich dem Gastwirt Meyer, einen diesem gehörenden Zwanzigmarkschein, also eine fremde bewegliche Sache, in der Absicht weggenommen, ihn sich zuzueignen, obwohl er keinen Anspruch darauf hatte, Vergehen gegen § 2 4 2 S t G B " . In den ersten Jahren der Geltung der S t P O hätte man diesen einzigen Satz als Sachdarstellung und rechtliche Würdigung ausreichen lassen! Jetzt kann man ihn fortlassen, weil der Leser das alles schon mehrmals, bis zum Uberdruß, erfahren hat. D e r nächste Urteilsabschnitt befaßt sich mit den Rechtsfolgen der Tat, vor allem also mit der Strafzumessung. N o c h vor wenigen Jahrzehnten pflegte es hier zu heißen: „Eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten erschien angemessen" oder „erforderlich, aber auch ausreichend". Inzwischen verlangt sowohl das Prozeßrecht ( § 2 6 7 Abs. 3 Satz 1 S t P O ) als auch das neue materielle Recht ( § 1 3 [heute: § 46] S t G B ) nähere Auskunft über die „Umstände, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind". Dementsprechend würdigt sich jetzt dieser Abschnitt über Seiten mit mancherlei „einerseits, andererseits", „strafschärfend die verbrecherische Intensität", „strafmildernd die bisherige Unbescholtenheit", und was der „Umstände" mehr sind. Unbehagen verursacht dabei nur die Gewißheit, daß es schlechterdings unmöglich ist, eine rationelle Beziehung zwischen dergleichen Erwägungen auf der einen und einer bestimmten Strafhöhe auf der anderen Seite herzustellen. Angenommen, die Strafzumessungsgründe seien fehlerfrei und die Strafe halte sich innerhalb des jeweiligen gesetzlichen Strafrahmens, so könnte es ohne erkennbaren Bruch enden: „Nach alledem erscheinen 6 M o n a t e . . . " oder „erscheinen 2 Jahre und 6 Monate angemessen". In Wahrheit pflegen die Gerichte auch viel vernünftiger und in den Grenzen des Möglichen rationeller zu verfahren, als es nach diesen schriftlichen „Zumessungserwägungen" den Anschein hat. Sie vergleichen den Fall mit den früheren Fällen und suchen das Gleiche gleich, das Ungleiche entsprechend seiner Verschiedenheit ungleich zu bestrafen. Streitig ist, ob die Urteilsgründe einen Lebenslauf des Angeklagten enthalten sollten, und wenn ja, an welche Stelle er gehört 8 . Das Gesetz fordert ihn zweifellos nicht, und auch die Revisionsgerichte haben, soweit ersichtlich, sein Fehlen noch niemals beanstandet. Viele Gerichte stellen ihn, je nach Umfang und Schwere der dem Angeklagten vorgeworfenen Tat mehr oder weniger ausführlich, als Einleitung an den Anfang der Urteilsgründe. Das wird mit dem „Täterstrafrecht" begründet, d . h . mit der Forderung, die Strafjustiz sollte „nicht die Tat, 8

Vgl.

Hülle, Die

Begründung der Urteile in Strafsachen, D R i Z 1952, S . 9 4 .

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sondern den Täter", oder wie Radbruch 9 lieber sagen wollte, „nicht den Täter, sondern den Menschen" zum Gegenstand ihrer Bemühungen machen. Man kann dieser kriminalpolitischen oder rechtsphilosophischen Forderung zustimmen und braucht trotzdem nicht zu glauben, daß ihr mit einer Aneinanderreihung biographischer Tatsachen, wie sie sich in einer Hauptverhandlung ermitteln lassen, wesentlich gedient sei. Oft findet man in diesen Lebensläufen einen wahren Wust gänzlich unerheblicher Dinge. Man erfährt da, daß der Kraftfahrer, dem fahrlässige Tötung vorgeworfen wird, es auf dem Gymnasium nur bis zur Quarta gebracht hat; daß der sechzigjährige Dieb in der Volksschule einmal sitzengeblieben ist; daß die erste Frau des Hehlers verstorben ist und die zweite ein voreheliches Kind hat; daß der Fälscher einer Fahrkarte Gefreiter bei einer Flakeinheit gewesen ist10. Man wird grundsätzlich der Ansicht sein dürfen, daß so etwas mit dem „Täterstrafrecht" nicht das mindeste zu tun hat, und daß auch der Schuldige menschenwürdiger behandelt wird, wenn man ihn für das zur Verantwortung zieht, was seine Taten wert sind, als dafür, was er selbst wert ist. Manche Urteilsverfasser erwähnen deshalb persönliche Verhältnisse des Angeklagten, wenn überhaupt, nur soweit sie einen Bezug auf die gerade abgeurteilte Tat haben, und erst im Zusammenhang mit der Strafzumessung. Besonderen Regeln folgt die Begründung freisprechender Urteile (§267 Abs. 5 StPO). Sie beginnt mit der Angabe des Vorwurfs, der dem Angeklagten gemacht worden ist. Im übrigen muß auch hier sorgfältig zwischen dem Tatsächlichen und seiner rechtlichen Beurteilung unterschieden werden. Die schlichte Angabe (die der Wortlaut des Gesetzes nahezulegen scheint), der Angeklagte sei „für nicht überführt erachtet worden", hat das Reichsgericht11 von Anfang an nicht als ausreichend angesehen. Denn hinter diesem Satz kann sich sehr leicht ein Rechtsirrtum verbergen; der Richter kann einen Umstand für nicht erwiesen gehalten haben, auf den es nach richtiger Rechtsansicht für die Strafbarkeit gar nicht ankam. Einfach sind freilich Freisprüche zu begründen, die darauf beruhen, daß nicht aufzuklären ist, ob der Angeklagte oder jemand anders der Täter war. Nicht völlig ausgetragen ist die Frage, wie ein Freispruch begründet werden muß, wenn der tatsächliche Hergang (noch) nicht (ganz) geklärt ist, dabei aber feststeht, daß der Angeklagte jedenfalls nicht zurechnungsfähig war. Die hier entstehende Schwierigkeit hat schon zu dem Vorschlag (de lege ferenda) geführt12, bei Frei' Radbruch, Rechtsphilosophie4 (1950), S.267. Hülle, a. a. O. " RG vom 3.12.1881, RGSt. 5, 225. 12 Henrichs, Freispruch und Menschenwürde, MDR 1956, S. 199. ,0

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Sprüchen überhaupt auf die Mitteilung von Gründen zu verzichten (!). Ein ähnliches Dilemma entsteht, wenn der bewiesene Tatbestand einer üblen Nachrede (§186 StGB) auf jeden Fall durch den Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen (§193 StGB) gerechtfertigt sein würde, vielleicht aber auch ein Wahrheitsbeweis möglich wäre. Hier hat der Bundesgerichtshof 13 die Begründung des - so oder so gebotenen - Freispruchs allein aus dem Gesichtspunkt des § 193 StGB nicht gebilligt. Die Begründung von Berufungsurteilen folgt im allgemeinen den Regeln für erstinstanzliche Urteile. Eine Besonderheit liegt nur darin, daß hier die Bezugnahme auf das angefochtene Urteil des ersten Richters als erlaubt gilt. Dies ist die einzige Ausnahme von der sonst streng eingehaltenen Regel, daß in Urteilsgründen keinerlei Bezugnahme gestattet ist, weder auf andere Urteile in derselben oder gar in anderen Sachen, noch auf irgendwelche Urkunden innerhalb oder außerhalb der Akten. Jedes tatrichterliche Urteil muß allein aus sich selbst völlig verständlich und vollständig sein. Bezugnahmen, die darin etwa enthalten sind, werden vom Revisionsgericht schlechthin als nicht vorhanden behandelt und beweisen in aller Regel nur eine Lücke der Gründe, die zur Aufhebung führt. Auch in Berufungsurteilen ist sorgfältig darauf zu achten, daß die Darstellung durch die Bezugnahme nicht undeutlich wird. Völlig anders verhält es sich mit der Begründung von Revisionsentscheidungen. Da das Revisionsgericht an die tatsächlichen Feststellungen des jeweils angefochtenen Urteils zum Sachverhalt gebunden ist, läge kein Sinn darin, daß es sie selbst noch einmal niederschriebe. Es pflegt auch nicht Bezug darauf zu nehmen, sondern sie einfach als bekannt vorauszusetzen. So verfuhr das Reichsgericht selbst bei solchen Entscheidungen, die es zur Veröffentlichung bestimmte, auch wenn die Kenntnis des Sachverhalts zum Verständnis unerläßlich war. Der Redaktor übernahm es dann, den Sachverhalt in einem „Vorspann" zu den amtlichen Gründen mit eigenen Worten darzustellen 14 . Der Bundesgerichtshof verfährt so nur noch selten15. Im allgemeinen faßt er die Gründe, wenn er sie selbst zur Veröffentlichung vorsieht, so ab, daß sie aus sich verständlich sind. Die große Mehrzahl der Entscheidungen wird freilich nicht veröffentlicht. Was im übrigen Form und Inhalt der Gründe betrifft, so unterwerfen sich die Revisionsgerichte keinem festen Schema. Im allgemeinen behandeln sie etwaige Verfahrensrügen vor der Sachrüge. Rügen, auf die es 13 14 15

BGH vom 12.2.1958, BGHSt. 11, 273. Beispiele von RGSt. 1, 5 bis RGSt. 77, 399. B G H vom 26.5.1954, BGHSt. 6, 369.

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deshalb nicht ankommt, weil eine andere Rüge der Revision zum Erfolg verhilft, bleiben in der Regel unerörtert. Freilich kommen Ausnahmen von dieser Regel vor, besonders bei Revisionsurteilen der Oberlandesgerichte, wenngleich solche Ausnahmen gegen den bewährten Satz verstoßen, daß der Richter nichts entscheiden sollte, was er nicht zu entscheiden braucht. Gerade bei den Revisionsgerichten vermögen manche Urteilsverfasser bisweilen nicht der Versuchung zu widerstehen, ihre Lieblingsgedanken, um ihnen den Schein der höchstgerichtlichen Autorität zu verleihen, auch dann in die Gründe aufzunehmen, wenn es für die Entscheidung selbst nicht darauf ankommt. Das ist ein Mißbrauch, denn eine solche Autorität ist wirklich nur scheinbar, auch wenn die übrigen Senatsmitglieder derartige Ausführungen billigen und unterschreiben. Die spezifische Autorität einer richterlichen Rechtsansicht verbindet sich nur mit dem, was unerläßlich ist, um die Entscheidung zu tragen (ratio decidendi), und nicht mit noch so geistvollen obiter dicta. Freilich wird dieser Unterschied bei der wissenschaftlichen und gerichtlichen Benutzung von Revisionsentscheidungen vielfach übersehen. Bisweilen sind Veröffentlichungen von Urteilen auch so lückenhaft, daß der Leser gar nicht erkennen kann, was ratio decidendi, was obiter dictum ist. Dabei ist das in mehrfacher Hinsicht von verfahrensrechtlicher Bedeutung. Hebt das Revisionsgericht ein Urteil auf und verweist es die Sache an den Tatrichter zurück, so ist dieser bei der neuen Entscheidung gemäß § 358 Abs. 2 StPO an „die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist", gebunden - nicht auch an etwaige andere Rechtsausführungen im Revisionsurteil. Ferner muß ein Senat des Bundesgerichtshofs, der „von der Entscheidung" eines anderen Senats abweichen will, den Großen Senat anrufen (§ 136 G V G ) ; ebenso muß ein Oberlandesgericht, das „von der Entscheidung" eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs abweichen will, den letzteren anrufen (§121 Abs. 2 GVG). Dabei wird unter Abweichung „von der Entscheidung" nur die Abweichung von einer ratio decidendi, von einer Rechtserwägung verstanden, auf der die Vorentscheidung beruht. Leider führt die oben erwähnte Unsitte, Revisionsurteile mit obiter, dicta „anzureichern", nicht selten zu überflüssigen und unzulässigen Vorlegungen16. Die Frage, ob ein Urteil auf einer Rechtsansicht „beruht", ist besonders dann schwierig zu entscheiden, wenn es zwei (oder mehr) rechtliche Erwägungen nebeneinanderstellt, deren jede für sich allein die Entscheidung tragen würde. Dann läßt sich die Meinung

14 BGH vom 23.10.1951, NJW 1951, 969; BGH vom 15.10.1952, BGHSt. 3, 234; BGH vom 6.4.1955, BGHSt. 7, 314 (m. Anm. Sarstedt in LM 10 zu §121 GVG); BGH vom 9.4.1963, BGHSt. 18, 324 (m. Anm. Willms in LM 22 zu §121 GVG); BGH vom 28.8.1963, NJW 1963, 2085 (m. Anm. Martin in LM 23 zu § 121 GVG).

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vertreten, es „beruhe" auf beiden, oder auch die Meinung, es „beruhe" auf keiner von beiden - jedenfalls nicht auf derjenigen, von der das später entscheidende Gericht gerade abweichen möchte: Denn das frühere Urteil werde ja schon von der anderen getragen. Die Lehre aus solchen Erfahrungen und Überlegungen sollte sein, daß man als Revisionsrichter möglichst wenig schreibt; daß man nicht starke und schwache Gründe häuft, sondern sich auf den einen beschränkt, den man für den stärksten hält, und daß man obiter dicta, wenn es irgend geht, überhaupt vermeidet. Dies letztere gilt freilich nur mit einer Einschränkung. Bisweilen erkennt das Revisionsgericht, daß der Tatrichter in einer Ungewißheit oder einem Irrtum befangen war, woraus ihn zu befreien für die neue Verhandlung und Entscheidung auch dann wichtig sein kann, wenn es sich nicht gerade um den Aufhebungsgrund handelt. Bei Verfahrensfehlern kann diese Lage insbesondere dann eintreten, wenn der Revisionsführer sie nicht gerügt hatte, und wenn gerade das der Grund dafür ist, daß nicht diese Fehler, sondern etwas anderes, etwa ein Verstoß gegen das sachliche Recht oder ein anderer (gerügter) Verfahrensfehler zur Grundlage der Aufhebung geworden ist. So kann das Revisionsgericht am Ende seiner Urteilsgründe etwa sagen: „Das Landgericht wird darauf hingewiesen, daß der Zeuge Α wegen Teilnahmeverdachts nicht wieder vereidigt werden darf"; oder: „Das Landgericht wird prüfen müssen, ob das Verhalten, das - jedenfalls nach den bisherigen Feststellungen - nicht als Betrug strafbar ist, den Tatbestand der Unterschlagung erfüllt". J e mehr Erfahrungen ein Revisionsgericht sammelt, desto vorsichtiger wird es mit solchen Hinweisen. Handelt es sich dabei nicht um völlig unzweifelhafte Dinge, so kann man sich damit nämlich in eine sehr unbequeme Lage manövrieren. Es kann dem Revisionsrichter begegnen, daß er in einem solchen - rechtlich unverbindlichen - Hinweis von einer Rechtsauffassung ausgeht, die dann bald darauf von einem anderen Senat nicht geteilt wird. Gelangt dann die betreffende Sache an das Revisionsgericht zurück, so sieht es sich vor die Wahl gestellt, entweder sich selbst zu desavouieren oder nach Anrufung des Großen Senats möglicherweise von diesem desavouiert zu werden. W e m das einmal begegnet ist, der wird dazu neigen, sich mit Hinweisen solcher Art zurückzuhalten und im Gegenteil eher zu schreiben: „Von einer Stellungnahme zu der Frage, ob der festgestellte, vom Landgericht zu Unrecht als Betrug angesehene Sachverhalt den Tatbestand der Unterschlagung erfüllt, sieht der Senat ab". D e r Leser hat schon bemerkt, daß der Verfasser ein Freund möglichst knapper Urteilsgründe bei Tatrichtern wie bei Revisionsgerichten ist. Diese Neigung ist jedoch nicht so allgemein verbreitet, wie es zu wünschen wäre. Jedes Gericht, jeder Spruchkörper, jeder einzelne Rieh-

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ter folgt hier bis zu einem gewissen Maß seinem eigenen Stilgefühl. Wer einen beliebigen Band der Reichsgerichtsentscheidungen mit einem beliebigen Band der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vergleicht, kann leicht feststellen, daß das Reichsgericht auf dem gleichen Raum etwa um die Hälfte mehr Entscheidungen unterbrachte als der Bundesgerichtshof. Sprachlich hat die Rechtsprechung der oberen (und wohl auch der anderen) deutschen Gerichte eine Entwicklung durchgemacht, die durch ein gewisses Auf und Ab gekennzeichnet ist. In den ersten Bänden der Reichsgerichtsentscheidungen finden sich noch Urteile im „Erwägungsstil", die sich in einem einzigen Satzgebilde, bisweilen durch Absätze und Strichpunkte gegliedert, oft über mehrere Seiten dehnen: „In Erwägung, daß . . . , und daß . . . , und daß . . . , ist die Revision verworfen worden" 17 . Dies stammt natürlich aus der französischen Praxis („attendu que . . . , vu que . . . " ) , wirkt aber in deutscher Sprache schwerfällig und erschwert das Verständnis. Andere Reichsgerichtsräte sahen in Cicero ihr Vorbild, bauten kunstvolle Perioden und schmückten ihre Urteile dergestalt mit Fremdwörtern, daß die Angeklagten gewiß kein Wort verstanden haben; etwa das unglückliche MieterEhepaar „G. u. Gen.", das sich einer detrectatio der inferierten und vom Hauswirt retinierten Sachen schuldig gemacht hatte18. Dieser kuriose Stil mauserte sich aber im Lauf der Jahrzehnte; etwa seit Ende der zwanziger Jahre schrieb das Reichsgericht mustergültiges Deutsch, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Einen sprachlichen Tiefpunkt erreichten dann die Urteile des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone zum KontrollratsG Nr. 10" mit ihren zerblasenen Begriffen: „eine FürNichts-Achtung (!) des ideellen (!) Menschenwerts mit Wirkung für die Menschheit (!)", „Unmenschlichkeitsverbrechen aus humaner Einstellung"20 und was des Lichtvollen mehr war. Zur gleichen Zeit wußte das traditionsreiche Bayerische Oberste Landesgericht seinen präzisen, vielleicht etwas umständlichen Begründungsstil beizubehalten. Die Sprache des Bundesgerichtshofs litt in seinen ersten Jahren gelegentlich an einer gewissen Neigung zum Pathos („daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das

R G vom 1 . 6 . 1 8 8 0 , RGSt. 2, 78; R G vom 2 8 . 9 . 1 8 8 0 , RGSt. 2, 271; R G vom 1 9 . 1 0 . 1 8 8 0 , RGSt. 2, 359; R G vom 7 . 1 2 . 1 8 8 0 , RGSt. 3, 92; R G vom 1 4 . 3 . 1 8 8 1 , RGSt. 3, 421; R G vom 2 4 . 3 . 1 8 8 1 , RGSt. 4, 216; R G vom 5 . 4 . 1 8 8 1 , RGSt. 4, 59. 18 R G vom 2 3 . 1 1 . 1 8 8 0 , RGSt. 3, 58. Die Sache spielte in Berlin; die Leutchen waren, wie man dort sagt, „gerückt", unter Mitnahme ihrer Möbel und Hinterlassung ihrer Mietschulden. Dabei hatte der Hauswirt an den „Illatis" ein Pfandrecht, wie das Reichsgericht den Unglücksmenschen mit gewaltigem, gelehrtem Apparat beweist, um den Mann, aber nicht die Frau, wegen „strafbaren Eigennutzes" ( § 2 8 9 StGB) bestrafen zu können. 17

" Oberster Gerichtshof für die Britische Zone vom 2 0 . 5 . 1 9 4 8 , O G H B Z 1 , 1 1 . O G H B Z 1, 17.

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Unrecht entscheidet" 21 ; „um der personhaften Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt" 22 ). Beides sind Deklamationen des Großen Senats für Strafsachen. Inzwischen hat sich eine schlichtere Ausdrucks weise durchgesetzt. Die einzelnen Senate unterscheiden sich ein wenig in ihren Zitiergewohnheiten. Der eine pflegt etwas häufiger Vorentscheidungen und Stellen aus dem Schrifttum anzuführen, der andere etwas seltener. Angesehene juristische Schriftsteller beklagten sich gelegentlich, daß der Bundesgerichtshof sich nicht häufiger, nicht gründlicher mit ihren Lehrmeinungen auseinandersetzt. Indessen werden damit die Aufgaben eines Gerichts doch wohl ein wenig verkannt. Der heutige Richter nimmt von wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufmerksam und dankbar Kenntnis; aber wenn er - vor allem als Strafrichter - Urteilsgründe schreibt, denkt er mehr an die Menschen, in deren Leben er eingreift, als an die Gelehrten, deren Werke er benutzt. Anders sollte man es sich nicht wünschen! Die bereits erwähnte Rechtsmittelfreudigkeit der Deutschen hatte im Jahr 1922 zu einem unerträglichen Stau von Revisionen beim Reichsgericht geführt. Die Folge war, daß selbst für Haftsachen alle Termine auf neun Monate hinaus besetzt waren. Deshalb wurde auf Vorschlag des Senatspräsidenten Adolf Lobe die bis heute umstritten gebliebene Beschlußverwerfung eingeführt 23 . Wenn alle Mitglieder des Senats die Revision einstimmig für „offensichtlich unbegründet" hielten, konnte (nicht mußte) das Reichsgericht (nicht die Oberlandesgerichte) sie durch Formularbeschluß ohne weitere Begründung verwerfen. Das geschah von da ab zunächst in etwa der Hälfte aller Fälle. Gegen diese Vorschrift und gegen den ausgiebigen Gebrauch, den das Reichsgericht zu seiner Entlastung von ihr machte, erhob sich Widerspruch, vor allem der Anwaltschaft. Gleichwohl wurde die Vorschrift später24 auch auf die Oberlandesgerichte ausgedehnt, obwohl es gewiß ein erheblicher Unterschied ist, ob drei oder ob fünf Richter einer Meinung sind. Die nicht abreißende Erörterung 25 führte schließlich zu einem Kompromiß. Das Recht zur Beschlußverwerfung wurde 26 von einem Antrag der Staatsanwaltschaft (Bundesanwaltschaft) abhängig gemacht, der seinerseits

B G H vom 15.3.1952, BGHSt. 2, 194 (201). B G H vom 17.2.1954, BGHSt. 6, 46 (53). 23 § 3 4 9 Abs.2 StPO, Gesetz vom 8 . 7 . 1 9 2 2 , RGBl. I 569: „lex lobe". 24 Notverordnung vom 6 . 1 0 . 1 9 3 1 , RGBl. I 537. 25 Penner, Reichweite und Grenzen des § 3 4 9 Abs. 2 StPO (lex lobe), 1961; Stoll, Entwicklung und Bedeutung der lex lobe (§ 349 Abs. 2 StPO) für den Bundesgerichtshof, 1967. 26 § 349 Abs. 2, 3 i. d. F. des ebenfalls stark umstrittenen Strafprozeßänderungsgesetzes vom 19.12.1964, BGBl. I 1067. 21

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begründet werden muß. Hier erwächst nun der Staats-(Bundes-)anwaltschaft die oft ein wenig heikle Aufgabe, das Offensichtliche und dessen Offensichtlichkeit mit Gründen darzulegen. Lautet die Revisionsbegründung nur: „Ich rüge die Verletzung des sachlichen Rechts" (was nach dem Gesetz ausreicht), so kann die Antragsbegründung häufig nur sagen: „Das angefochtene Urteil läßt keine Verletzung des sachlichen Rechts erkennen". Damit ist gewiß für keine der beiden Seiten viel erreicht; in solchen (sehr zahlreichen) Fällen bedeutet das Erfordernis der Antragsbegründung nichts als eine unerwünschte Verzögerung des Verfahrens und gegebenenfalls der Untersuchungshaft. Schreibt dagegen die Staats-(Bundes-)anwaltschaft mehr zur Begründung ihres Verwerfungsantrags, so erreicht sie sehr bald einen Punkt, wo sie sich der Replik ausgesetzt sieht, allein die Ausführlichkeit dieser Gründe beweise schon, daß die Angriffe der Revision jedenfalls nicht „offensichtlich" unbegründet seien. Im ganzen hat diese Antrags- und Begründungspflicht ein unerwartetes Ergebnis gehabt: Der Anteil der Beschlußverwerfungen ist auf etwa 90 % aller Revisionsentscheidungen angestiegen. Die einfache Erklärung liegt darin, daß solche Antragsbegründungen oft schon alles enthalten, was auch das Revisionsgericht in seinen Urteilsgründen sagen könnte. Eine weitere von den Urhebern nicht beabsichtigte, wenngleich voraussehbare Folge besteht darin, daß Revisionen der Staatsanwaltschaft im allgemeinen nicht mehr durch Beschluß verworfen werden können. Das aber bedeutet keine große Unbequemlichkeit, weil das Revisionsgericht sich in derartigen Fällen nicht scheut, das Urteil nur mit dem einen Satz zu begründen: „Die Revision ist offensichtlich unbegründet" 27 . Die schriftliche Niederlegung der Gründe ist bei allen Spruchkörpern, die mit mehr als einem Berufsrichter besetzt sind, also beim erweiterten Schöffengericht, der großen Strafkammer, dem Schwurgericht, den Strafsenaten der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs, Aufgabe des sog. „Berichterstatters"; das ist einer der mitwirkenden Berufsrichter, der vom Vorsitzenden bestimmt wird. Er kann auch sich selbst dazu bestellen. Der Einzelrichter und die Vorsitzenden des (nicht erweiterten) Schöffengerichts sowie der kleinen Strafkammer verfassen ihre Urteilsgründe selbst. Die Schöffen und Geschworenen sind an der Fassung der Gründe nicht beteiligt; sie erhalten auch keine Kenntnis davon. Der Berichterstatter verfaßt einen Entwurf, den er unterschreibt und dann dem Vorsitzenden vorlegen läßt. Hat der Vorsitzende Änderungswünsche, so sollte er sich korrekterweise mit dem Berichterstatter darüber zu verständigen suchen. Verbreitet ist freilich der Brauch, daß 27

B G H vom 30.5.1972, 5 StR 132/72.

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der Vorsitzende die von ihm gewünschten Änderungen in dem Entwurf des Berichterstatters einfach selbst anbringt und das Aktenstück damit kurzerhand an den oder die anderen Beisitzer zur Unterschrift weiterleitet. So sollte man als Vorsitzender nicht verfahren; als Berichterstatter sollte man es sich nicht gefallen lassen. Denn erstens entspricht das nicht der beiderseitigen Stellung; die Ansicht des Vorsitzenden hat bei der Frage, wie die Gründe gefaßt werden sollen, rechtlich kein größeres Gewicht als die Stimme des Berichterstatters oder eines anderen mitwirkenden Richters. Zweitens ist solche Anmaßung des Vorsitzenden unzweckmäßig. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß auf solche Weise innere Widersprüche, Lücken und andere Fehler in das Urteil hineingeraten. Drittens kann das Revisionsgericht, wenn es in der Urteilsurschrift solche Änderungen bemerkt, die Frage stellen, ob der Berichterstatter überhaupt Kenntnis von ihnen gehabt und sie wenigstens nachträglich gebilligt hat. Fehlt es daran und stimmt der Berichterstatter auch nachträglich nicht zu, so hat das Urteil überhaupt keine gültigen Gründe. Das ist gemäß § 3 3 8 Nr. 7 S t P O ein zwingender Revisionsgrund. Können Vorsitzender und Berichterstatter sich über die Fassung der Gründe nicht einigen, so müssen alle beteiligt gewesenen Berufsrichter darüber abstimmen. Soweit es sich dabei nicht um Fragen des bloßen Ausdrucks handelt, ist Gegenstand dieser Abstimmung freilich nicht, wie das Urteil nach jetziger Ansicht begründet werden soll, sondern nur, wie es vor der Verkündung (gegebenenfalls unter Mitwirkung der Laienrichter) beschlossen worden ist. Wir haben bisher nur von den schriftlichen Urteilsgründen gesprochen. Nach § 2 6 8 Abs. 2 Satz 1, 2 StPO müssen jedoch schon bei der Urteilsverkündung die Gründe „durch mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts" öffentlich bekanntgegeben werden. Diese mündlichen Gründe haben zum Teil andere Adressaten (Öffentlichkeit, Presse) als die schriftlichen, die nicht nur für die Anwesenden, sondern auch für die nächste Instanz, die Strafvollzugs- und die Gnadenbehörden bestimmt sind. Mündlich soll vor allem auch der Angeklagte in eindrucksvollerer Weise angesprochen werden, als das schriftlich möglich ist28. Bestimmte Rechtsregeln lassen sich dafür nicht aufstellen. Gelegentlicher Spott über die Verschiedenheit der mündlichen, der schriftlichen („und der wahren") Gründe mag deshalb im Einzelfall einmal berechtigt sein, aber kaum im Grundsatz. Für das weitere Verfahren kommt es nur auf die schriftlichen Gründe an. Abweichungen von den mündlichen (die übrigens nicht protokolliert werden) haben keine verfahrensrechtlichen Folgen. 28

Vgl. Werner,

1951, 779.

Mündliche und schriftliche Urteilsbegründung im Strafprozeß, J Z

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Abgesehen von den Urteilen sind die wichtigsten Entscheidungen, bei denen es verfahrensrechtlich auf die Begründung ankommen kann, die Beschlüsse, mit denen während der Hauptverhandlung Beweisanträge abgelehnt werden (§ 244 Abs. 6 StPO). Wird einem Beweisantrag stattgegeben, so kann das ganz formlos geschehen. Es bedarf keines Beschlusses, eine einfache Anordnung des Vorsitzenden genügt; und erst recht ist keine Begründung erforderlich. Sie besteht eben einfach in der gerichtlichen Pflicht, die Wahrheit zu erforschen. Dagegen bedarf die Ablehnung eines Beweisantrags einer Begründung, die - wenn es sich nicht um einen Hilfsantrag handelt, der in den Urteilsgründen beschieden werden kann - in der Verhandlung noch vor der Urteilsverkündung durch den Vorsitzenden mündlich bekanntgegeben und in das Protokoll aufgenommen werden muß. Das Gesetz zählt die Gründe, aus denen ein Beweisantrag abgelehnt werden darf, einzeln auf (§244 Abs. 3 - 5 StPO). Die Zahl der Fehler, die dabei gemacht werden können, ist Legion 29 ; sie gehören in der Praxis zu den wichtigsten Revisionsgründen. In unserem Zusammenhang ist dabei das Interessanteste, daß das Revisionsgericht vielfach nicht in der Lage ist, von sich aus an die Stelle eines fehlerhaften Ablehnungsgrunds den bisweilen leicht erkennbaren richtigen zu setzen; denn der Antragsteller hat ein Recht darauf, den richtigen Ablehnungsgrund zu einer Zeit zu erfahren, zu der es ihm möglich ist, das Urteil noch durch die Stellung weiterer Anträge zu beeinflussen. Es soll deshalb ausgeschlossen werden, daß er in der Tatsachenverhandlung durch einen unrichtigen Ablehnungsgrund irregeführt wird.

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Vgl. im einzelnen Alsberg/Nüse,

der Beweisantrag im Strafprozeß3, 1967.

Der Strafrechtler und der psychiatrische Sachverständige1 (1962)

Das Verhältnis zum psychiatrischen Sachverständigen, der sich über die Schuldfähigkeit des Angeklagten äußert, beansprucht das Interesse des Strafrechtlers in höherem Maße als seine Stellung gegenüber irgendwelchen anderen Sachverständigen, die sich über Bremswege, Geschoßbahnen, Brandursachen, Schriftvergleichung, Fingerspuren, Giftwirkungen, Blutgruppen oder auch über die Glaubwürdigkeit jugendlicher Zeugen äußern. Nicht daß alle diese Gutachten weniger wichtig wären. Auch von ihnen hängt oft schlechthin die Entscheidung des Prozesses ab; der Fall Rohrbach war ein Beispiel. Aber der Psychiater, der über die Voraussetzungen des §51 StGB 2 oder auch des §3 J G G zu uns spricht, der tritt damit in ein, ich möchte sagen, intimeres Verhältnis zum Strafrichter als alle jene anderen Sachverständigen. Ihre Gutachten haben es alle mit der Frage zu tun, was geschehen ist: ob, wie und von wem eine Tat begangen worden ist. Mit dem Psychiater dagegen erörtern wir nicht die Frage nach den tatsächlichen Voraussetzungen, sondern nach dem eigentlichen inneren Sinn unseres Tuns gegenüber diesem Angeklagten. Haben wir überhaupt einen Menschen vor uns, den zu strafen einen vernünftigen Sinn hat? Ist er, wenn strafrechtliche Schuld so viel ist wie Vorwerfbarkeit, überhaupt ein tauglicher Adressat für den Vorwurf, der gegen ihn erhoben wird? Kann das Strafen hier die Wirkung haben, die ihm zugedacht ist? Das sind die Zweifel, die wir gelöst haben möchten, wenn wir einen Sachverständigen über den Geisteszustand des Angeklagten hören.

Vortrag auf der Fortbildungstagung für Richter und Staatsanwälte in Berlin vom 26. bis 3 1 . 3 . 1 9 6 2 ; zuerst veröffentlicht in: Die Justiz 1962, S. 110 bis 119. 2 § 5 1 StGB a. F. hat folgenden Wortlaut: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Ansicht zu handeln. W a r die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden." E r wurde ersetzt durch die §§ 20, 21 StGB. 1

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Es sind Fragen, die nur aus dem Mittelpunkt des Strafrechts heraus gestellt werden können. Um zu fragen, ob der Vorwurf einer Tat, ob der Schuldspruch, ob die Strafe diesem Menschen gegenüber Sinn hat, muß der Fragende sich erst einmal darüber klar sein, welcher Sinn denn überhaupt mit dem Schuldigsprechen und mit dem Strafen verbunden ist. Was will das eigentlich sagen, wenn man einem gesunden Täter eine bestimmte Tat zur Schuld zurechnet? Diese Frage muß erst bündig beantwortet sein, ehe man vernünftigerweise fragen kann, ob etwa Krankheit des Täters einen Grund bildet, ihm die Tat nicht zuzurechnen. Und dieser Ausgangspunkt für jede Vernehmung eines psychiatrischen Sachverständigen, diese Frage nach dem Grunde und dem Sinne des Strafrechts überhaupt, ist, soweit überhaupt eine einzelne Wissenschaft neben der Philosophie für sie zuständig sein kann, eine rechtliche und keine ärztliche Frage. Gewiß kann jeder Laie, und so auch der Psychiater, seine Ansichten darüber haben. Soweit es aber einen rationellen Zugang, ein wissenschaftliches Rüstzeug zur Beantwortung dieser Fragen gibt, ist es in Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, im Studium des Strafrechts, in der praktischen juristischen Ausbildung und im ständigen beruflichen Umgang mit Rechtsbrechern zu suchen und nicht in einem Teilgebiet der Naturwissenschaft, auch nicht in dem Teil, der sich mit der gesunden oder kranken Psyche des Menschen befaßt. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Frage nach dem Sinn des Strafens für einen, der das nur richtig gelernt hat, etwa leicht zu beantworten wäre. Aber wir Strafrechtler sind es, denen nach der Ordnung der Dinge in unserem Gemeinschaftsleben nun einmal aufgegeben ist, eine solche Antwort zu finden, die wir tagtäglich jedem neuen Angeklagten gegenüber immer wieder von neuem zu bedenken und zu verantworten haben. Wir; niemand anders. Einer der führenden Gerichtsberichterstatter hier in Berlin schrieb vor mehreren Jahren einmal zu einem größeren Prozeß, es seien daran in erster Instanz drei Berufsrichter und sechs Geschworene, in zweiter Instanz fünf Berufsrichter beteiligt gewesen - aber entschieden habe den Prozeß der Psychiater. Ich weiß nicht, ob dem Berichterstatter klar gewesen ist, eine wie herbe Kritik dieser Satz enthielt; und ich zweifle sogar, ob unter den juristischen Lesern des Berichts viele anerkannt haben, wie berechtigt und wie notwendig dieser Satz als Kritik war und auch noch ist. Die Verantwortung dafür, daß die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit richtig beantwortet wird, trägt das Gericht. Es versteht sich, daß es sie in zweifelhaften Fällen nicht ohne die Hilfe eines oder sogar mehrerer Sachverständiger beantworten kann. Auf keinen Fall darf der Richter eine Frage, für die es irgendwo ein überlegenes Fachwissen gibt, nach Art der Halbgebildeten aus eigenem zu beantworten suchen. Aber die

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Mitwirkung des Sachverständigen ist hier wie überall nur eine Hilfe. Bei uns hat jede Entscheidung eine richterliche Entscheidung zu sein. D e r Richter darf sie sich nicht abnehmen lassen. In seinem eigenen Gewissen muß er sie verantworten, auf seiner eigenen U b e r z e u g u n g muß sie beruhen, auch wenn es für ihn als ärztlichen Laien noch so schwer und lästig ist, zu einer solchen Ü b e r z e u g u n g zu gelangen. Nicht mit Naturnotwendigkeit, nicht aus Gründen innerer zwingender L o g i k muß das so sein, wie ich sage. Man könnte sich eine Rechtsordnung, man könnte sich ein Strafverfahren denken, in dem es anders gehandhabt wird. D e r Gesetzgeber könnte vielleicht Sachverständige auf die Richterbank setzen, oder er könnte den Richter an das psychiatrische Gutachten binden. Aber das sind für uns müßige Spekulationen. N a c h unserem geltenden Recht kann gar kein Zweifel an der Alleinverantwortung des Richters sein, und mit allem, was man dagegen einwenden könnte, entfernte man sich von dem eindeutigen und verbindlichen Gesetz. D a s Gesetz in diesem Punkte zu ändern, wäre übrigens nichts Kleines, sondern eine Durchbrechung wichtigster und bewährter Grundsätze unseres Verfahrens und außerdem eine Rückkehr zu einem Zustand, dessen Uberwindung immer als einer der wesentlichsten Fortschritte unserer Rechtsentwicklung gegolten hat. Sie werden einwenden, das lasse sich aber nun einmal mit aller Gewalt nicht so heiß essen, wie es gekocht werde. Die ärztliche und die rechtliche Beurteilung gingen ineinander über. Auch wisse der Psychiater ja, worauf es rechtlich ankomme. Die Fragestellung an ihn müsse ohnehin dem § 5 1 S t G B entnommen werden, und so könne er auch gleich die rechtliche N u t z a n w e n d u n g ziehen. U n d Sie könnten auch eine erhebliche Zahl von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs anführen, die so etwas zwar nicht mit ausdrücklichen Worten gebilligt, wohl aber stillschweigend haben durchgehen lassen. Sie könnten mir sogar meine eigene Unterschrift unter ziemlich vielen Verwerfungsbeschlüssen dieser Art zeigen, Beschlüssen, die nur einstimmig haben ergehen können und denen ich also zugestimmt haben muß. Lassen Sie uns diese Einwände einen nach dem anderen vornehmen. Es trifft nicht zu, daß ärztliche und rechtliche Beurteilung ineinander übergingen. Sie lassen sich begrifflich ganz sauber trennen, und es muß angestrebt werden, sie auch praktisch in jedem einzelnen Fall auseinanderzuhalten. D i e A u f g a b e des psychiatrischen Sachverständigen besteht darin und beschränkt sich darauf, zu erforschen und zu beschreiben, wie es im K o p f e des Täters zur Tatzeit ausgesehen hat. Meist wird der Richter kaum in der Lage sein, das Sachverständigengutachten in diesem seinem spezifischen Teil zu kontrollieren. Aber er muß den Sachverständigen in diesem Stück wenigstens zu verstehen suchen. Schon das ist bisweilen nicht leicht. Man kann schwierigste Dinge eben nicht simpel

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sagen. Aber der Sachverständige kann sich bemühen, und der Richter wird ihn bitten, sie möglichst einfach darzustellen. Auch die Laienrichter müssen ja folgen können. Wir wollen uns die Grenzziehung zwischen der Zuständigkeit des Sachverständigen und der des Richters an dem einfachsten Beispiel verdeutlichen, an demjenigen Fall der Bewußtseinsstörung, den die meisten Richter aus eigener Erfahrung kennen: ich meine die Trunkenheit. Dieser Fall ist so beschaffen, daß der Richter nicht einmal immer einen Sachverständigen braucht. Kennt der Richter die in Betracht kommenden Schweregrade dieser Bewußtseinsstörung aus eigener Erfahrung und Erinnerung, so beschränkt sich die Aufgabe des Sachverständigen darauf, dem Richter den Grad der beim Angeklagten zur Tatzeit gegebenen Trunkenheit anschaulich zu machen. Wenn aber feststeht, was der Angeklagte vor der Tat getrunken hat, oder wenn der Blutalkoholgehalt zur Tatzeit ermittelt worden ist, so bleibt von der spezifischen Aufgabe des Sachverständigen schier gar nichts mehr übrig. Denn wenn der Richter sich aus eigener Erfahrung oder vielleicht sogar im Wege des Experiments genau in den Zustand versetzen kann, in dem der Angeklagte zur Tatzeit war, dann gehört alles, was nun noch zu beurteilen ist, ausschließlich zur spezifischen Aufgabe des Richters. Ist also der Blutalkoholgehalt bekannt, so bleibt für den Sachverständigen höchstens noch die Frage übrig, ob dieser Angeklagte Alkohol besonders gut oder besonders schlecht verträgt, ob er vielleicht an einer Krankheit leidet, die im Rausch besondere psychische Wirkungen hervorbringt, oder dergleichen. Ist dagegen der Alkoholgehalt nicht bekannt, gehen etwa die Aussagen darüber auseinander, ist keine Blutprobe gemacht worden und fehlt es auch sonst an Anhaltspunkten, so sind das Zweifel, die auch der Sachverständige oft nicht aufhellen kann. Gewiß kann er besser beurteilen, ob die Behauptungen des Angeklagten oder der Zeugen möglich, wahrscheinlich, unwahrscheinlich oder unmöglich sind. Aber das tatsächliche „non liquet" zu überbrücken, darf der Richter keinesfalls dem Sachverständigen zumuten. Ein ideales Sachverständigen-Gutachten, dargestellt an diesem einfachsten Fall, würde etwa lauten können: Wenn es zutrifft, daß dieser Angeklagte die Alkoholmengen getrunken hat, die hier der Gastwirt Meyer als Zeuge angegeben hat, dann hat er sich zur Tatzeit in einem Zustand befunden, wie Sie, Herr Amtsgerichtsrat, wenn Sie nach einem reichlichen Abendessen innerhalb von zwei Stunden zwei Liter Pilsner trinken. An diesem Beispiel lassen sich mehrere Rechtssätze zeigen. Soweit ein Gutachten auf Tatsachen beruht, zu deren Ermittlung keine besondere Sachkunde gehört, ist die Feststellung dieser Tatsachen - der Idee nach Aufgabe nicht des Sachverständigen, sondern des Richters. Hat man also

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mehrere voneinander abweichende Zeugenaussagen darüber, wieviel der Angeklagte getrunken hat, so muß das Gericht, nicht der Sachverständige, entscheiden, welchem dieser Zeugen zu folgen ist. Gewiß kann das Gericht unter Umständen auch bei der Beantwortung dieser Vorfrage den Sachverständigen zu Hilfe rufen. Es kann ihn etwa fragen, welche Menge nach dem Verhalten des Angeklagten eher der Erfahrung entspricht. Aber dann ist die Feststellung der sogenannten Anknüpfungstatsachen, hier also der Menge und Zeitdauer des Trinkens, wieder allein Sache des Gerichts; das Gericht muß dem Sachverständigen sagen, von welcher Menge er in seinem Gutachten ausgehen soll. Es kann ihm auch eine mehrgleisige Begutachtung aufgeben: einmal für den Fall, daß der Angeklagte acht Glas, zum anderen für den Fall, daß er zwölf Glas getrunken hat. Diese Trennung zwischen den Anknüpfungstatsachen, also dem, was vor der fachkundigen Begutachtung liegt, und dieser Begutachtung selbst, ist immer völlig sauber durchführbar, wenngleich sie bisweilen im Einzelfall umständlich, zeitraubend und schwierig sein kann. Der Bundesgerichtshof hatte einmal einen Fall zu entscheiden (BGHSt. 8, 113), in dem es darum ging, ob der Angeklagte bei einem Totschlagsversuch in einem Affektsturm gehandelt hatte. In dem Gutachten des Psychiaters spielten unter anderem drei Dinge eine Rolle. Eines davon war die Annahme, der Angeklagte habe das Beil, mit dem er die Tat ausführte, eine Woche vorher nicht zu diesem Zweck gekauft, sondern in der Absicht, es dem Sohn des späteren Opfers zu Weihnachten zu schenken. Der Sachverständige glaubte ihm das, das Gericht glaubte es ihm nicht. Der Bundesgerichtshof sagte, das sei eine Frage der gewöhnlichen, nicht von dem behaupteten späteren Affektsturm beeinflußten Motivation; zu ihrer Beantwortung sei das Gericht zuständig und nicht der Sachverständige. Zweitens glaubte der Sachverständige dem Angeklagten eine Erin-

nerungslücke, die er für den Tathergang behauptete. Das begründete er im Gutachten damit, daß der Angeklagte über die zeitliche Ausdehnung dieser Erinnerungslücke immer die gleichen Angaben gemacht habe. Das Gericht vernahm die Verhörsbeamten als Zeugen und stellte fest, daß der Angeklagte· über den Umfang der Erinnerungslücke einmal dieses, einmal jenes gesagt hatte. Auch die Feststellung dieser Anknüpfungstatsache fiel in die Zuständigkeit des Gerichts. Drittens begründete der Sachverständige sein Gutachten damit, daß der Angeklagte eine derartige Tat sicherlich nicht bei voller Besinnung auf einer belebten Straße ausgeführt haben würde. Das Gericht stellte aber fest, daß er das auch gar nicht getan hatte, sondern daß es sich im Gegenteil um einen dunklen, einsamen Winkel gehandelt hatte, wo das Geschrei des Opfers erst nach geraumer Zeit Passanten herbeigerufen hatte. Auch diese Feststellung hing nicht von psychiatrischer Sachkunde ab und war

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deshalb allein Sache des Gerichts. O b der Sachverständige in all diesen Beziehungen den Zeugen glaubte, war ganz gleichgültig; er mußte dem Gutachten die Anknüpfungstatsachen so zugrunde legen, wie das Gericht sie für erwiesen hielt. Wenn das Gericht hinsichtlich solcher Anknüpfungstatsachen nicht zur Klarheit kommt, so muß es in dieser Beziehung von dem Satz „in dubio pro reo" ausgehen. Wie weit dieser Satz reicht und was er im einzelnen vorschreibt, ist eine reine (bisweilen verwickelte) Rechtsfrage. Sie darf nicht dadurch untergepflügt werden, daß der Sachverständige sich eine eigene Meinung in dem Punkt bildet, in dem das Gericht sich nicht schlüssig werden kann. Das Gericht muß sich vergewissern, daß er von dieser eigenen Meinung über die Anknüpfungstatsachen absieht. Das Auseinandersortieren der Anknüpfungstatsachen, zu deren Feststellung keine besondere Sachkunde gehört, und derjenigen Beurteilungsgrundlagen, die nur der Psychiater ermitteln kann, mag unter Umständen eine etwas knifflige Arbeit sein. Das ist aber kein Grund, aus dem das Gericht sie sich ersparen dürfte. Sie kann eine sehr eingehende Unterhaltung mit dem Sachverständigen erfordern. In zunehmendem Maße verlangen die Revisionsgerichte, daß davon auch etwas in die schriftlichen Urteilsgründe übergeht. In dem erwähnten Affektsturmfall hatte übrigens das Schwurgericht (Braunschweig) in dieser Beziehung ganz vorbildliche Arbeit geleistet. Es war in mehrfacher Hinsicht im Ergebnis vom Sachverständigen abgewichen, obwohl es zu dessen Sachkunde vollkommenes Vertrauen hatte. Es hatte sich nirgends ein laienhaftes Urteil über psychiatrische Fragen erlaubt, aber mit großer Sorgfalt diejenigen Grundlagen festgelegt, deren Ermittlung auch einem ärztlichen Laien möglich war. Das Urteil wurde in der Revisionsinstanz bestätigt, nachdem allerdings auch hier die genaue Nachprüfung erhebliche Arbeit gemacht hatte. Das Schwurgericht war aber auch an einen Sachverständigen geraten, der ihm diese Arbeit sehr erleichtert hatte. Er hatte in seinem schriftlichen Gutachten überall deutlich gemacht, von welchen tatsächlichen Annahmen für ihn die Beurteilung abhing. Er hatte sich nicht gescheut, sein Gutachten in den Punkten, die laienhafter oder juristischer, was vom Psychiater aus gesehen ja dassselbe ist, Kritik zugänglich waren, dieser Kritik auch getrost auszusetzen. Er hatte stellenweise darüber geirrt, wo die Grenzen seiner eigenen Zuständigkeit lagen; aber das schadete nichts, weil er seine irrigen Ansichten darüber genügend unbefangen aussprach. Solche Irrtümer gereichen auch keinem Psychiater zum Vorwurf; Sache des Gerichts ist es, sie herauszufinden und ihnen nicht ebenfalls zu erliegen. Soviel über die Dinge, die logisch vor der eigentlich sachverständigen Begutachtung liegen. Bis hierher hoffe ich, ernstlichem Widerspruch -

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jedenfalls von juristischer Seite - um so weniger zu begegnen, als diese Dinge mutatis mutandis ja für alle gerichtlichen Sachverständigen gelten, nicht nur für die psychiatrischen. Jetzt nun das Mittelstück, die spezifische Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen gegenüber dem Gericht. Erlauben Sie mir, auch hier wieder von dem Beispiel der Trunkenheit auszugehen. Dieses freundliche Thema hat den großen Vorzug, daß der Jurist hier noch verhältnismäßig am wenigsten in Gefahr ist, sich vor den Psychiatern durch seine Unkenntnis zu blamieren. Wir sagten schon, ein solches Gutachten könne, ins Primitive übersetzt, lauten: Im Kopf des Angeklagten sah es zur Tatzeit so aus, wie in Ihrem eigenen Kopfe, wenn Sie zehn Glas Bier getrunken haben, oder fünf oder zwölf. Damit wäre, unter der Voraussetzung, daß dem Angeklagten weiter nichts gefehlt hat, alles gesagt, was zu sagen ist. Vorausgesetzt ist natürlich weiter, daß der Richter diesen Grad der Verunnüchterung aus eigener Erfahrung kennt. Dann wäre das ein völlig erschöpfendes Gutachten. Genauer kann man es unmöglich sagen, und wenn man knietief in Fachausdrücken watet. Jedes Wort darüber hinaus wäre eine Überschreitung der psychiatrischen Zuständigkeit und vom Übel. Stellen Sie sich einen Richter vor, der diesen Zustand nicht kennt; der aus gesundheitlichen oder anderen Gründen völlig enthaltsam ist und noch niemals einen Rausch gehabt hat. Hier wäre die Aufgabe des Sachverständigen, diesem Richter den Rausch möglichst so anschaulich zu beschreiben, daß er sich da hineindenken könnte. Und just das ist nun die psychiatrische Aufgabe bei den sonstigen Bewußtseinsstörungen, krankhaften Störungen der Geistestätigkeit und bei der Geistesschwäche. Ich schweige von derjenigen Tätigkeit des Sachverständigen, die dieser Beschreibung vorangehen muß: von der Diagnose, von der Anwendung der psychiatrischen Erfahrung auf den Befund. Dazu kann der Jurist nichts sagen, es sei denn, daß auch insoweit Zweifel zugunsten des Angeklagten ausschlagen müssen. Nicht zugunsten einer bestimmten Beurteilung, nicht „im Zweifel gesund" und auch nicht „im Zweifel krank"! Der Zweifel zwischen Gesundheit und Krankheit führt einerseits zum Freispruch, andererseits zur Ablehnung der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt. Aber das ist schon eine juristische Folgerung; der Sachverständige darf sich nicht in dubio für oder gegen irgendetwas aussprechen, sondern er muß den Zweifel aussprechen. Es gibt Sachverständige, die das nicht wissen; und es gibt Richter, die es ihnen nicht sagen, die im Gegenteil die Erwartung zur Schau tragen, daß ein Sachverständiger, der diesen Namen mit Recht tragen wolle, eben jede Frage aus seinem Fachgebiet müsse beantworten können, etwa nach dem Motto:

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Gebt ihr euch einmal für Psychiater, So kommandiert die Psychiatrie!

Und es gibt Lehrbücher der forensischen Medizin, die dem Gutachter empfehlen, dem Gericht diesen Wunsch zu erfüllen und möglichst entschiedene Meinungen zu äußern, fast so, als sei der Rat: U n d wenn ihr euch nur selbst vertraut, Vertrauen euch die andern Seelen,

nicht ein Rat des Teufels an den unerfahrenen Schüler. Das ist er aber wirklich. Aber so groß auch die Versuchung sein mag, den ganzen Dialog in diesem Zusammenhang hereinzuziehen, verlassen wir den Fall des psychiatrischen Zweifels. Hat der Psychiater keinen Zweifel, so besteht seine Aufgabe darin, dem Richter den psychischen Zustand zu beschreiben (zu beschreiben, nicht zu benennen!), in dem der Angeklagte sich zur Tatzeit befunden hat. Leicht gesagt, nicht wahr, und schwer getan. Der Zweck der Übung besteht darin, dem Richter ein eigenes Urteil darüber zu ermöglichen, welche Anforderungen man wohl gerechter- und vernünftigerweise an einen Mann in dieser Lage, mit diesem psychischen Zustand und angesichts dieser Versuchung stellen kann - welche Anforderungen an seine Einsicht und an seine Selbstbeherrschung nach dem Gefüge unserer ganzen Rechtsordnung der Billigkeit entsprechen, und zwar Anforderungen bei einer so und so hohen Strafe. Das ist die richterliche, nicht die psychiatrische Aufgabe, und ihre Lösung muß der Psychiater dem Richter mit seinen Erfahrungen so gut wie möglich erleichtern. Nun ist mir durchaus nicht bekannt, ob den Psychiatern selbst die Zustände eines Schizophrenen, eines Zyklothymen, eines Epileptikers so anschaulich sind wie uns allen die der Trunkenheit in ihren verschiedenen Graden. Mit dem Schwachsinn ist es wohl leichter. Da jeder Mensch in Lagen kommt, in den er seine eigene Intelligenz als durchaus unzureichend empfindet, kann er sich in die geistige Lage eines extrem Dummen wohl einigermaßen einfühlen. Aber wenn - was ich nicht weiß - die Psychiater das auch mit den Zuständen der echten Psychosen können, so scheint es jedenfalls ungemein schwierig zu sein, sie so anschaulich zu beschreiben, daß ein Gesunder, der Laie ist, sich da hineindenken kann. Es gibt Gutachten, die das mit solchem Erfolge unternehmen, daß man es halbwegs zu verstehen glaubt. Aber sehr oft findet man an dieser Stelle des Gutachtens, also im vorletzten Abschnitt des Teils, der als „Beurteilung" überschrieben zu sein pflegt, eine derartige Anhäufung von Premdwörtern und anderen Fachausdrücken, daß man alle Hoffnung fahren läßt, irgend etwas zu verstehen. Man wird von der Sorge befallen, ob diese Worte sich nicht eingestellt haben, weil Begriffe fehlen. Wenn man dann im Urteil den schlichten Satz liest (zu dem der

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Bundesgerichtshof die Tatrichter ja gezwungen hat), das Gericht habe das Gutachten geprüft und sich ihm aus eigener Überzeugung angeschlossen, dann geht es einem etwas wie an der schönen Stelle im Barbier von Sevilla, wo Almaviva, Bartolo, Basilio, Figaro, Marzelline und Rosina alle gleichzeitig jeder mit einem anderen Text auf den Offizier der Wache einsingen, der dann in die plötzlich eintretende Stille hinein antwortet: „Hab's verstanden!" - Nicht möglich, denkt man; man selbst hätte gesagt: noch einmal, eins nach dem anderen! Und so ähnlich auch hier. Man fragt sich etwas bänglich, was denn der Tatrichter von diesem - verzeihen Sie, es soll kein Werturteil sein, ich spreche nur aus der Fülle meiner eigenen Ignoranz - was denn der Tatrichter von diesem Gallimathias wohl verstanden haben kann. Man sucht sich mit der stillen Hoffnung zu beruhigen, daß der Vorsitzende den Sachverständigen in der Hauptverhandlung schon veranlaßt haben wird, die Sache den Schöffen oder Geschworenen auszudeutschen. Aber dann fragt man sich wieder, ob es wohl wahrscheinlich ist, daß ein Sachverständiger, dem das zwei-, drei-, viermal widerfahren wäre, sich nicht schon von selbst in seinem schriftlichen Gutachten gemeinverständlicher ausdrücken würde. Ich bin überzeugt, daß das oft für beide Teile sehr schwer sein wird: für den Sachverständigen, der es erklären, und für das Gericht einschließlich der Laienrichter, die es verstehen sollen. Aber hier, an diesem Punkte, bei der Beschreibung der Zustände im Kopf des Angeklagten, hängt nun schlechterdings alles vom Verstehen ab. Wenn der Richter an dieser Stelle nicht folgen kann, dann nützt es nicht das mindeste, daß das Gutachten nun noch einen letzten kurzen Absatz bietet, worin es heißt, daß die Zustände des Angeklagten „Krankheitswert" haben oder nicht, und daß dem Angeklagten „der Schutz" des § 5 1 Abs. 1 oder Abs. 2 „zuzubilligen" sei oder nicht. Das versteht man zwar wieder; auch der Geschworene versteht es; aber damit ist nicht das mindeste geholfen, denn an dieser Stelle ist der Psychiater schon weit an der Station vorbeigefahren, wo er hätte aussteigen müssen. Hier sind wir schon wieder auf rein juristischem Gelände, wo der Psychiater nur laienhafte Meinungen haben kann. Davon gibt es nur eine einzige Ausnahme. Wenn der Gutachter den Richter überzeugt, daß der Angeklagte kerngesund ist, daß an ihm keinerlei Befund zu erheben ist, und daß er sich auch zur Tatzeit in diesem beneidenswerten Zustand befand - dann ist in der Tat auch schon über die Anwendbarkeit des § 5 1 S t G B entschieden. Nicht dagegen im umgekehrten Fall. Der § 5 1 S t G B , in seiner jetzigen Fassung auf den Vorschlag von Psychiatern geschaffen, und in eben dieser Fassung von vielen Psychiatern auf das heftigste kritisiert, ist für uns Juristen nun einmal verbindlich, ob er uns gefällt oder nicht. Er setzt voraus, daß die Störungen, von

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denen er handelt, den Täter unfähig oder erheblich vermindert fähig machen, entweder das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Einer der klarsten und schärfsten Kritiker dieser Fragestellung ist der Heidelberger Psychiater Kurt Schneider. In einem glänzenden Vortrag, der jetzt schon in vierter Auflage veröffentlicht worden ist, hat er ausgesprochen, daß diese beiden Fragen schlechthin unbeantwortbar seien. Man könne einfach nicht wissen, was für eine Einsicht jemand habe oder gehabt habe, und „noch hoffnungsloser" ich zitiere ihn wörtlich - sei „die Beurteilung, ob die Fähigkeit bestand, entsprechend einer Einsicht zu handeln", also die Frage nach dem Hemmungsvermögen. Weil diese Fragen nicht beantwort seien, weil jeder Ansatzpunkt für eine Antwort fehle, deshalb antworte der Psychiater gröber, als er gefragt werde. Wenn er die betreffenden krankhaften Zustände festgestellt habe, dann nehme er stillschweigend an, daß die Fähigkeit der Einsicht oder die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, nicht vorgelegen habe, womit dann allerdings zu dem „oder" nicht Stellung genommen sei. Zwischen diesen beiden Fragen unterscheide der Psychiater fast nie; so weit komme er gewissermaßen gar nicht. Dem psychiatrischen Gehalt dieser Ausführungen hat der Jurist natürlich nichts entgegenzusetzen. Ihre Klarheit und ihre Ehrlichkeit fordern Bewunderung ab. Das Juristische daran stimmt aber nicht ganz. Der Richter kann mit einem Gutachten, das zwischen Einsichtsvermögen und Hemmungsvermögen nicht unterscheidet und auch ihm, dem Richter, eine solche Unterscheidung nicht ermöglicht, gar nichts anfangen. Sowohl der Begriff des EinsichtsVermögens als auch der des Hemmungsvermögens enthält nämlich eine juristische Komponente, mit der das Gericht sich selbstverantwortlich zu beschäftigen hat. Dazu muß das Gutachten des Psychiaters es in die Lage setzen; und das ist im Regelfall auch nicht gar so schwierig, wie Schneider es annimmt, weil er den juristischen Gehalt des §51 verkennt. Schneider beanstandet zunächst, daß vom Psychiater eine Antwort auf die Frage verlangt werde, ob der Täter bei der Tat die aktuelle Einsicht gehabt habe, daß sie unerlaubt sei. Darin irrt er. Das Gesetz fragt nur nach dem, was Schneider die potentielle Einsicht nennt; es fragt, ob der Täter es hätte einsehen können, es fragt nach der Fähigkeit, das Unerlaubte einzusehen, es fragt nicht nach der Einsicht selbst. Lassen Sie mich die Einsicht in das Unerlaubte mit dem Augenblick vergleichen, in dem der Kraftfahrer das rote Licht der Verkehrsampel erblickt. Ich hebe hervor, daß das nur ein Vergleich ist. Das Erblicken einer roten Ampel und die Einsicht in das Unerlaubte des Weiterfahrens liegen in ganz verschiedenen Ebenen. Aber der Vergleich soll die abstrakte Überlegung anschaulicher machen. Wir fragen den Verkehrs-

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sünder nicht, ob er die rote Ampel tatsächlich gesehen hat. Höchstens rhetorisch, im Sinne des Vorwurfs, richten wir eine solche Frage an ihn, nicht weil es uns für die Entscheidung darauf ankäme. Wir begnügen uns mit der Feststellung, daß die Ampel sichtbar da hing und rot zeigte und daß der Täter das sehen konnte. Dann verlangen wir von ihm, daß er rechtzeitig nach ihr Ausschau hielt. Hat er sie überfahren, so machen wir ihn verantwortlich, gleichviel ob er sie wirklich gesehen hat oder nur sehen konnte. Entsprechend fragen wir auch nicht nach der wirklichen Einsicht des Täters in das Unerlaubte der Tat. Wir fragen nicht, ob er sie hatte, sondern ob er sie hätte haben können und sollen; denn diese Frage schreibt uns das Gesetz vor, die Frage nach der Fähigkeit zur Einsicht. Diese Frage ist nun auch nach Schneider nicht unbeantwortbar. Er sagt selbst, die Fähigkeit der Einsicht könne einigermaßen geprüft, sie könne durch Befragen festgestellt werden. Daß die Tat unerlaubt gewesen sei, werde der Täter ja in den meisten (!) Fällen inzwischen eingesehen haben. Nun, das ist doch eine völlig ausreichende Antwort auf die erste der beiden angeblich unbeantwortbaren Fragen. Wenn wir es also mit einem von diesen meisten Fällen zu tun haben, wenn wir durch Fragen herausbringen können, daß der Angeklagte trotz seiner Zustände inzwischen eingesehen hat, er durfte das nicht, dann ist das Einsichtsvermögen damit festgestellt und diese Alternative des §51 verneint. Man sollte glauben, die Begründung zu diesem Teilstück müsse sich auch gemeinverständlich darstellen lassen. Das Frage- und Antwortspiel, aus dem sich die Einsichtsfähigkeit oder -Unfähigkeit ergibt, läßt sich wörtlich wiedergeben. Der Gutachter kann dartun, aus welchen Antworten sich die inzwischen aktuell gewordene Einsicht nach seiner Meinung ergibt, und das sollte eine Darlegung sein können, der jeder Geschworene zu folgen vermag. Es müßte für den Richter auch ein Leichtes sein, das mit einigen gedrängten Sätzen so in sein Urteil zu schreiben, daß es jeden Laien einschließlich der Revisionsrichter überzeugt. Schneider fährt nun fort: Ob die Einsicht aber auftauchte, nämlich zur Tatzeit, vollends ob man das verlangen konnte, das entziehe sich jedem fremden Urteil. Oh sie auftauchte, ist nach dem Gesetz gleichgültig. Ob man es aber verlangen konnte, das entzieht sich freilich dem psychiatrischen Einblick und Urteil. Was man verlangen kann: das ist allemal eine Rechtsfrage. Natürlich kann die Psychiatrie keine Antwort darauf geben. Sie hat ja keinerlei Gesichtspunkte, unter denen sie eine solche Antwort auch nur suchen könnte. Diese Gesichtspunkte können sich nur aus der Rechtsordnung ergeben; sie können sich demnach sogar im Laufe der Zeit und von einem Land zum anderen ändern. Der Richter allein, nachdem der Psychiater sein Gutachten erstattet hat, muß entscheiden, was von dem - laut Gutachten - so und so beschaffenen

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Angeklagten mit diesem Einsichtsvermögen an wirklicher Einsicht zu verlangen war. Übrigens ist die Frage nach dem Einsichtsvermögen manchmal so einfach zu beantworten, daß der Richter sie (selbst bei einem Angeklagten mit sehr unklaren psychischen Zuständen) ohne Sachverständigen entscheiden kann. Bisweilen kann dann sogar der Revisionsrichter es anhand der Urteilsfeststellungen über den Tathergang noch nachholen. Das ist dann der Fall, wenn sich erkennen läßt, daß der Angeklagte bei der Tat die aktuelle Einsicht gehabt hat. Das mag, wie Schneider mit einer psychologischen Begründung ausführt, die seltene Ausnahme sein. Immerhin kennt jeder von uns Fälle, in denen eine solche Feststellung gar nicht schwierig war. Es sind das die Fälle, in denen das Verhalten des Angeklagten kurz vor, während oder kurz nach der Tat erkennen läßt, daß ihm das Unerlaubte sehr wohl bewußt war. Er hat etwa besondere Mühe und Zurüstungen darauf verwendet, die Tat heimlich auszuführen - warum wohl? Oder er hat dem Opfer im unmittelbaren Anschluß an die Tat Schweigen geboten oder Schweigegeld bezahlt, mit der Begründung, daß er sonst ins Zuchthaus käme - bei Unzucht mit Kindern ist so etwas eher die Regel als die Ausnahme. Oder er streitet die Tat ab, was ja nun wirklich zu den Alltäglichkeiten gehört. Wenn ihm die Fähigkeit fehlte, das Unerlaubte einzusehen, läge es doch näher, auf die Beschuldigung zu antworten: „Ja natürlich habe ich das getan - was ist denn dabei?" Auch Schneider sagt, der Täter werde das Unerlaubte in den meisten Fällen inzwischen eingesehen haben. Das bedeutet aber, daß wir uns in den meisten Fällen um diese Seite der Sache, um das Einsichtsvermögen, ganz unnötige Sorgen machen. Wenn ich mich - um auf unseren Vergleich zurückzukommen - überzeugen kann, daß der Kraftfahrer die rote Ampel wirklich gesehen hat, dann brauche ich mich nicht mit langen Erörterungen darüber zu plagen, ob er sie hätte sehen können, und ob man das verlangen konnte. Auch die andere Alternative, die Frage nach dem Ausschluß oder der Verminderung des Hemmungsvermögens, hat außer der psychiatrischen eine juristische Komponente. Bei näherer Erörterung führt das gewöhnlich über kurz oder lang auf eine sehr heikle andere Frage, nämlich auf die nach dem freien Willen. Sie sehen das bei Schneider. Sie sehen es in den Kommentaren zu §51 StGB, Sie sehen es auch in dem früheren Wortlaut dieser Vorschrift, der nach dem Ausschluß der freien Willensbestimmung fragte. Nun wären wir nach meiner Ansicht auf dem Holzwege, wenn wir uns auf diese philosophische Frage einließen. Die Weisen der Jahrtausende haben sie nicht schlüssig zu beantworten vermocht; und wenngleich wir jetzt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs haben (BGHSt. 2, 201), in der rechtskräftig festgestellt ist, daß der Mensch einen freien Willen hat, daß er auf verantwortliche,

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„freie sittliche Selbstbestimmung angelegt" ist - so bin ich angesichts der Unmöglichkeit, diese Behauptung oder ihr Gegenteil zu beweisen, noch gar nicht so fest überzeugt, daß das überhaupt eine vernünftige Frage ist. Für den Strafrichter ist sie es jedenfalls nicht. Mag man doch Determinist oder Indeterminist sein; mag doch, wer Freude am Paradoxen hat, sagen, wir seien „zum Indeterminismus determiniert" (Kohlrausch); ich würde es für geradezu frivol halten, es von der Antwort auf eine solche Vexierfrage abhängig zu machen, ob ein Mitmensch eingesperrt oder nicht eingesperrt werden soll. Eine Überlegung, die vom Determinismus her nicht zur selben Antwort führt wie vom Indeterminismus, ist für mich als Strafrichter einfach falsch. Solche Argumente pflegen unter Praktikern auch gar nicht aufzutreten. In dem Senat, dem ich seit zehn Jahren angehöre und dessen Mehrheit seit zehn Jahren in der gleichen Besetzung zusammen ist, weiß ich von den anderen Mitgliedern gar nicht, ob sie an den freien Willen des Menschen glauben oder nicht; dabei haben wir doch nun schon so manche tausend Strafsachen miteinander beraten. Die zweite Frage des § 5 1 S t G B lautet für uns nämlich gar nicht, o b der Täter aktuelle Hemmungen hatte, die er erst überwinden mußte, oder auch, ob er potentielle Hemmungen, also ein Hemmungsvermögen hatte, das nicht eingesetzt zu haben ihm zum Vorwurf gemacht wird. Die Frage lautet nicht, ob er sich hätte beherrschen können. Schneider hat vollkommen recht darin, daß es auf diese Frage keine Antwort geben kann. So stellt das Gesetz sie aber auch gar nicht. Das ist - nach einem posthumen Aufsatz des Bonner Strafrechtlers Graf zu D o h n a „ein unausrottbares Mißverständnis". Der Täter hat die Tat ja begangen; sonst wäre er kein Täter, sonst stünde er nicht vor uns, und sonst brauchte der Psychiater ihn nicht zu untersuchen. Wenn wir eines mit völliger Sicherheit wissen, dann ist es dies: deterministisch betrachtet, haben seine Hemmungen, indeterministisch betrachtet, hat sein H e m mungsvermögen die Tat nicht verhindert. Das Hemmungsvermögen oder die Hemmungen haben jedenfalls nicht ausgereicht. Und die Frage des § 51 lautet nun nicht, wie groß sie waren; angesichts der begangenen Tat wäre das eine ganz müßige Frage. Die Frage lautet vielmehr, woran das lag, daß sie nicht ausgereicht haben. Lag es an etwas, wofür wir (wir Strafrichter!) den Täter verantwortlich machen, oder an etwas, wofür wir ihn nicht verantwortlich machen: lag es am Charakter, oder lag es an einer Krankheit? Wenn einer betrunken etwas tut, was er nüchtern noch nie getan hat, dann ist es doch keine gar so unbeantwortbare Frage, ob es der Alkoholgenuß war, der sein Hemmungsvermögen beeinträchtigte. Wenn jemand nach einem einwandfrei verbrachten Leben sich mit achtzig Jahren plötzlich an kleinen Kindern vergeht: gibt es da wirklich keine Antwort

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auf die Frage, ob es die Schlechtigkeit des Menschen oder die Dementia senilis war, was das Hemmungsvermögen beeinträchtigt hat? Wenn die Erfahrung den Psychiater lehrt, daß ein ganz bestimmtes Syndrom sehr oft mit einem ganz bestimmten (strafbaren) Verhalten einhergeht, dessen Motivation ein Gesunder nicht recht nachempfinden kann: was ist da noch unbeantwortet? Freilich, wir wissen nicht, wir werden vielleicht niemals wissen, wie das im einzelnen hergeht. Aber was wir als Juristen vom Psychiater wissen möchten, eben diese Erfahrung, daß solche Leute mit diesem Befund solche unerklärlichen Taten zu begehen pflegen, das kann er uns doch sagen. Lassen Sie mich - im Sinne unseres Vergleichs von der Verkehrsampel - das Hemmungsvermögen mit der Intaktheit der Bremse vergleichen. Der Wagen hat nicht gebremst, und es ist ein Unfall geschehen. Die Frage nach der Verantwortlichkeit des Fahrers lautet, wenn man sie für unsere Zwecke exakt stellen will, nicht, ob der Fahrer „hätte" bremsen können; das ist nach dem Unfall eine ziemlich müßige Frage; man sollte strafrechtliche Verurteilungen überhaupt nicht von einem „hätte" abhängig machen. Es steht fest, daß der Wagen nicht gebremst hat, und die Frage nach der Verantwortlichkeit des Fahrers lautet, warum nicht. Wenn der technische Sachverständige nachträglich feststellt, daß das Bremsseil infolge eines Materialfehlers, für den der Fahrer nicht konnte, gerissen war, so ist der Fahrer entschuldigt. War dagegen die Bremse, wie gewöhnlich bei Kraftfahrzeugen, in Ordnung, so bedarf es keines Wortes über das „hätte;" dann ist er verantwortlich, weil er nicht gebremst hat. Ein psychiatrisches Gutachten, das sich gar nicht über den Unterschied zwischen Einsichtsvermögen und Hemmungsvermögen ausspricht, ist für den Strafrichter kaum verwertbar. Zunächst einmal steht es schlimm um die tatsächliche Uberzeugungskraft eines solchen Gutachtens. Wie soll der Sachverständige den Richter überzeugen können, wenn er ihm sagt: Es war hier irgend etwas nicht in Ordnung. Ich habe auch einen wissenschaftlichen Namen für die Störung, die an der Sache schuldig war, sogar einen sehr schönen. Die Dame hat einen griechischen Vornamen und einen adligen Nachnamen, sie heißt „Psychopathie von Krankheitswert". Aber ob die Störung, die ich so bezeichne, zur Folge hatte, daß die Ampel nicht zu sehen war, oder ob sie zur Folge hatte, daß die Bremse nicht anzog - das kann ich auch nicht sagen. Was würde man zu einem Kraftfahrsachverständigen sagen, der solche Auskünfte gäbe? Man würde bezweifeln, daß er das Geringste von der Sache verstünde. Und was soll der Richter von dem „Einsichtsvermögen" des Sachverständigen in die Psyche des Angeklagten haken, wenn er nicht imstande ist, zu diesem doch sehr augenfälligen Unterschied Stellung zu nehmen?

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Vor allem aber ist ein Gutachten, das diesen Unterschied nicht macht, für das Gericht deshalb unverwertbar, weil weder die Frage nach dem Einsichtsvermögen noch die nach dem Hemmungsvermögen schon vom Sachverständigen allein abschließend beantwortet werden kann. Deshalb darf sie von ihm auch nicht abschließend ausgespart werden. In beidem steckt nämlich als juristische Komponente die Frage, welche Anstrengung man von jemandem verlangen kann, damit er etwas einsieht (die „Ampel" entdeckt), und damit er dieser Einsicht gemäß handelt (die „Bremse" tritt). Weder das Fehlen der Einsichtsfähigkeit noch das Fehlen des Hemmungsvermögens ist nämlich ein Befund, der sich unter rein ärztlichen Gesichtspunkten an dem Untersuchten erheben ließe. Die Ansprüche der Rechtsordnung können da nämlich noch sehr verschieden sein. Einer der Unterschiede kann sich schon aus der Art der Tat herleiten. Nehmen wir wieder den Alkoholrausch zur Verdeutlichung. Sie können sich einen Trunkenheitsgrad vorstellen, in dem man noch weiß, daß man seinen Mitmenschen nicht beleidigen darf (Einsichtsvermögen vorhanden), in dem man sich aber doch nicht mehr beherrschen kann, ihm doch ein Schimpfwort nachzurufen (Hemmungsvermögen beeinträchtigt). In dem gleichen Grade der Alkoholisierung beherrscht man sich aber noch, ihn auch zu schlagen, obwohl es einen juckt (Hemmungsvermögen vorhanden). Im weiteren Verlauf der Zecherei sieht man vielleicht nicht mehr ein, warum man keine Stühle zertrümmern soll (Einsichtsvermögen beseitigt), kann es aber, wenn es einem ausdrücklich gesagt wird, auch lassen (Hemmungsvermögen vorhanden). Übrigens ist das nicht einfach eine Frage der Schwere des Delikts. Man kann sich nicht ein Schema der Art aufstellen, daß man bei 1 %o für Übertretungen, bei 2 %0 für Vergehen, bei 3 %o für Verbrechen zurechnungsunfähig würde. Das Hemmungsvermögen kann für Notzucht schon geschwunden sein, wenn es für Diebstahl noch vorhanden ist. Entsprechendes ist, wie bei der Trunkenheit, vielleicht auch bei anderen geistigen Störungen möglich. Vielleicht ist in dem einen oder anderen Falle von Dementia senilis die Hemmungsfähigkeit für Unzucht an Kindern schon herabgesetzt und für, sagen wir, Betrug noch nicht. Das Beispiel kann falsch sein, dann wird es bessere geben. Die Rechtsordnung kann sogar bei einem und demselben Störungsgrad und bei einer und derselben Tat noch Unterschiede machen. So unterscheidet sie bei einer Rauschtat, ob es sich um eine actio libera in causa handelt, oder ob — wenn das nicht der Fall ist - der Täter vorsätzlich, fahrlässig oder schuldlos in den Rausch geraten ist. Der psychiatrische Befund für die Tatzeit ist in allen vier Fällen ein und derselbe, die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit eine vierfach verschiedene.

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Der Ausdruck „Volltrunkenheit", den das Gesetz (§ 42 c StGB) 3 leider verwendet, führt leicht zu dem Irrtum, als handele es sich hier um einen bestimmten Grad von Alkoholisierung, bis zu dem man für alle Taten verantwortlich (wenigstens vermindert zurechnungsfähig) und von dem ab man für gar nichts mehr verantwortlich sei. Das ist nicht richtig. Auch von einem Betrunkenen verlangt das Gesetz größere Anstrengungen, wenn es um die Unterlassung eines Totschlages, als wenn es um die Unterlassung einer leichten Körperverletzung geht. Das hat aber gewiß nicht die Psychiater zu kümmern. Mit der Frage nach dem Einsichts- und dem Hemmungsvermögen macht das Gesetz die Sache für den Psychiater und für das Gericht nicht schwieriger, als sie von Hause aus schon ist, sondern leichter. Es entbindet - aus bestimmten rechtlichen Erwägungen, die wir jetzt nicht zu erörtern brauchen - den Psychiater und den Richter von der Aufgabe, sich eine ganz und gar vollständige Innenansicht des Täters zu verschaffen. Es beschränkt die Aufgabe auf den Anblick von zwei Seiten her. Das ist eine sehr wesentliche Vereinfachung. Sie geht so weit, daß man es unter Umständen sogar dahingestellt sein lassen kann, ob der Täter an einem der Zustände des §51 S t G B leidet, wenn sich nur eine Überzeugung darüber gewinnen läßt, daß er Einsichts- und Hemmungsvermögen besaß. Die Trennung zwischen psychiatrischer und rechtlicher Beurteilung, die wir als nötig bezeichnet haben, ist in erster Linie die Sorge des Richters, nicht so sehr die des Psychiaters. Vom Psychiater ist es zuviel verlangt, sich der Rechtsgutachten zu enthalten. Wenn der Psychiater „exkulpiert", wenn er erklärt, dem Angeklagten den §51 Abs. 1 oder 2 „zuzubilligen" oder „nicht zuzubilligen" (als ob das eine Ermessensfrage wäre!), so wäre es wohl ungeschickt vom Richter, ihm in der Verhandlung auseinanderzusetzen, daß er, der Psychiater, niemanden zu exkulpieren habe, und daß weder der Psychiater noch der Richter dem Angeklagten die Zurechnungsunfähigkeit oder die verminderte Zurechnungsfähigkeit „zubilligen" könne. Wenn der Sachverständige glaubt, mit dem § 51 S t G B Bescheid zu wissen (und das glauben sie fast alle), so schadet das so lange nichts, als der Richter sich nicht auch darauf verläßt. § 4 2 c a. F. StGB hatte folgenden Wortlaut: „Wird jemand, der gewohnheitsmäßig im Ubermaß geistige Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich nimmt, wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das er im Rausch begangen hat, oder das mit einer solchen Gewöhnung in ursächlichem Zusammenhang steht, oder wegen Volltrunkenheit ( § 3 3 0 a ) zu einer Strafe verurteilt und ist seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt erforderlich, um ihn an ein gesetzesmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Unterbringung an." Die Vorschrift wurde durch § 64 StGB ersetzt. 3

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Es wäre ja auch sehr schön, wenn der Psychiater wirklich mit dem § 5 1 genau Bescheid wüßte. Wir Juristen dürfen das aber nicht verlangen, und wir müssen uns darüber klar sein, wie unwahrscheinlich es ist. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht größer als die, daß ein Rechtsanwalt oder Richter imstande wäre, eine Epilepsie zu erkennen, ihre Ursachen anzugeben und sie zu heilen. Im Bereich des § 5 1 S t G B liegen die schwierigsten Fragen, die im sachlichen Strafrecht überhaupt vorkommen. Die Psychiater und wir Juristen sollen vor der Schwierigkeit unserer Aufgaben gegenseitig so viel Respekt haben, daß wir uns beide nicht einbilden, gerade die heikelsten Fragen des fremden Fachgebiets so nebenbei mit erledigen zu können. Jedenfalls gehört es zur Aufgabe des Juristen, zu erkennen, daß der Psychiater nicht in der Lage sein kann, zu entscheiden, ob der § 5 1 S t G B anwendbar oder nicht anwendbar ist. Das ist ein Rechtsgutachten, erstattet von einem Laien. Ein Rechtsgutachten steckt aber häufig auch schon darin, daß der Psychiater einem bestimmten Zustand „Krankheitswert" zuerkennt. Freilich ist das Rechtliche hier gut getarnt, weil das Wort ja sehr medizinisch klingt. Übrigens beschränkt es sich nicht auf die Psychiatrie, sondern kommt auch auf anderen Gebieten vor. Neulich lasen wir von einer Zeugin, daß sie einen Hängebauch von Krankheitswert hatte. Daß in dem Wort ein Rechtsgutachten stecken kann, beruht auf folgendem. Es ist ja sehr schwierig, den Begriff der Krankheit zu bestimmen, und es ist überhaupt unmöglich, ihn eindeutig zu bestimmen. Sehr zu Unrecht machen manche Leute sich darüber lustig, daß es der medizinischen Wissenschaft nicht recht zu gelingen scheint, sich für diesen ihren Grundbegriff auf eine Definition zu einigen. Wir können ja auch die Gerechtigkeit nicht definieren. W o der Arzt seinen eigentlichen Beruf, den des Heilers, ausübt, braucht er keine Begriffsbestimmung der Krankheit. In unserem Zusammenhang sind erst wir Juristen es, die dem Arzt die Frage nach dem Vorliegen der „Krankheit" stellen; und deshalb haben wir die Begriffsbestimmung zu liefern. Sie können in Lehrbüchern der gerichtlichen Medizin den Satz finden, krankhaft sei ein Zustand dann, wenn er die für das betreffende Lebensalter normale Arbeitsfähigkeit wesentlich herabsetzt. Das ist eine sehr schöne Begriffsbestimmung - für die Zwecke des Sozialversicherungsrechts; für uns ist sie völlig unbrauchbar. Es interessiert uns sehr wenig, ob der Angeklagte arbeiten kann; wir wollen wissen, was er einsehen konnte, und warum er sich nicht beherrscht hat - und dies auch nicht allgemein, sondern mit Bezug auf eine ganz bestimmte konkrete Tat. So wie bei der erwähnten versicherungsrechtlichen Krankheitsdefinition die Antwort, ob krank oder nicht, noch davon abhängen kann, welche Arbeit der Mann eigentlich tun soll, so kann der Krankheitsbegriff bei uns unter Umständen davon abhängen, was ihm eigentlich vorgeworfen

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wird. Wenn man also den Arzt fragt, ob jemand krank ist, muß er erst zurückfragen, warum, zu welchem Zweck man das wissen will. Mit anderen Worten: es bedarf eines außermedizinischen Gesichtspunkts, um den Begriff der Krankheit hier zu bestimmen, eines archimedischen Punktes außerhalb der rein ärztlichen Begriffswelt, von dem aus diese Schwierigkeit der Definition zu beheben ist. Diesen Punkt haben wir, für unsere jeweiligen Zwecke, in der Tat nirgend anders zu suchen als in der Rechtsordnung. Zur Erläuterung soll ein Urteil des Bundesgerichtshofs dienen (NJW 1958, 2123 = MDR 1958, 528 = LM Nr. 15 zu §51 Abs. 2). Der Angeklagte war ein rückfälliger Dieb. Sein Geisteszustand war von zwei Psychiatern begutachtet worden. Was es nun dem Bundesgerichtshof ermöglichte, an diesem Falle die Abgrenzung der psychiatrischen und der richterlichen Verantwortung genau zu zeigen, war die sehr bezeichnende Tatsache, daß die beiden psychiatrischen Gutachten just bis zu dem Punkte völlig übereinstimmten, bis zu dem sie sich auf dem psychiatrischen Fachgebiet bewegten, und daß sie von diesem Punkte ab, also in dem, was wir die rechtliche Komponente der Sache nennen müssen, auseinanderliefen. Beide Gutachten sagten, der Angeklagte sei ein Psychopath, in seiner Gesamtpersönlichkeit gestört, habe kein Gefühl für mitmenschliche Beziehungen, sei gefühlskalt, egozentrisch und jedes Pflichtgefühls unfähig. Die Sachverständigen stritten auch nicht etwa über den Umfang und die Stärke dieser Erscheinungen. Aber der eine verneinte den Krankheitswert und der andere bejahte ihn. Diesem zweiten Gutachten folgte die Strafkammer, wie sie sagte, „angesichts des Vorlebens und ihres persönlichen Eindrucks vom Angeklagten". Sie wandte also den § 51 Abs. 2 an, verhängte eine milde Strafe und ordnete die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an. Der Bundesgerichtshof hob diese Anordnung auf. Er erklärte mit dürren Worten, die Frage, ob eine Psychopathie im Einzelfall Krankheitswert habe, sei eine Rechtsfrage. Hier sei sie rechtlich falsch entschieden worden. Für Leute dieser Beschaffenheit, so wie die beiden Sachverständigen und ihnen folgend die Strafkammer den Angeklagten sehr anschaulich beschrieben hatten, seien die Strafgesetze gerade da. Aus solchen gefühlskalten, selbstsüchtigen Psychopathen ohne Pflichtgefühl rekrutierten sich ja die Schwerverbrecher überhaupt. Daß sie nun einmal so seien, bilde für die Rechtsordnung (nämlich für unsere geltende Rechtsordnung; man kann sich ja eine andere denken!) keinen Grund, die Ansprüche an ihre Selbstbeherrschung herabzusetzen. Wenn sie so gefährlich würden, daß man sie um der öffentlichen Sicherheit willen nach der Strafverbüßung nicht in Freiheit lassen könne, dann gehörten sie in die Sicherungsverwahrung und nicht in die Heilanstalt. Dabei hoffen wir übrigens auf den Beifall derjenigen Psychiater, die

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solche Heilanstalten leiten; sie können mit solchen Insassen ja gar nichts Sinnvolles anfangen, die stören dort nur. Das Urteil legt Gewicht darauf, daß bei der Sicherungsverwahrung die Voraussetzungen besonders streng und rechtsstaatlich geregelt sind. Es geht nicht an, diese Sicherungen einfach dadurch zu umgehen, daß ein Psychiater das Verdikt „Krankheitswert" spricht. Ich habe Ihnen nur noch ein Wort darüber versprochen, daß es so viele Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, besonders Beschlußverwerfungen gibt, die einen erheblich großzügigeren Standpunkt zu vertreten scheinen. Was für eine Bewandtnis es damit hat, läßt sich am besten an einem Beispiel zeigen: Nach den Gründen eines Schwurgerichtsurteils hat der Sachverständige gesagt, sinnlose Trunkenheit habe nicht vorgelegen, die Voraussetzungen des §51 Abs. 1 seien nicht festzustellen, dafür fehle es an Anhaltspunkten; dagegen liege vom ärztlichen Standpunkt eine erhebliche Verminderung der Zurechnungsfähigkeit vor. Das sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und nach dem, was ich Ihnen vorgetragen habe, etwa so viele Fehler wie Worte. Erstens: die „sinnlose" Trunkenheit. Wenn „sinnlose" Trunkenheit vorgelegen hätte, dann würde es am Vorsatz fehlen. Dann hätten wir gar keine Handlung, für die man die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit stellen könnte. Dann wäre der Angeklagte nicht nach § 51, sondern nach § 59 StGB freizusprechen. Der alte § 51 sprach von Bewußtlosigkeit. Die Rechtsprechung hat sofort erklärt, daß bei richtiger Bewußtlosigkeit die Frage der Zurechnungsfähigkeit gar nicht auftrete. „Sinnlose" Trunkenheit muß also ausgeschlossen sein, ehe man überhaupt vor den Fragen des §51 stehen kann. Nicht etwa ist man mit dem §51 Abs. 1 schon fertig, wenn man die „sinnlose" Trunkenheit verneint. Zweitens: der Sachverständige bejaht oder verneint „die Voraussetzungen" des §51 StGB, und dem schließt das Gericht sich an. Das ist, als wollte das Gericht einen Schuldspruch wegen Untreue oder einen Freispruch von dieser Anklage mit weiter nichts begründen als mit dem Satz: „Der Buchsachverständige bejaht - oder verneint - die Voraussetzungen des § 2 6 6 S t G B . " Keine Darstellung des Sachverhalts, keine Erörterung der Tatbestandsmerkmale, keine Unterscheidung zwischen Mißbrauchstatbestand und Treubruchstatbestand - nichts als die schlichte Bezugnahme auf das juristische Endergebnis eines Sachverständigen-Gutachtens. Man kann auch noch hinzufügen: „Dem hat sich die Kammer nach sorgfältiger Prüfung aus eigener Überzeugung angeschlossen." Das kostet nichts, aber es hilft auch nichts. Der Bundesgerichtshof hat schon Urteile bestätigt, die diesen Satz enthielten; aber er hat sie nicht bestätigt, weil sie ihn enthielten. Drittens: „nicht festzustellen". Wenn die Voraussetzungen des §51

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nicht festzustellen sind, dann muß im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden. Das ist im Bereich des § 51 nicht anders als sonst im Strafrecht. Sind dem Gericht einmal Zweifel gekommen, und darauf deutet ja die Heranziehung eines psychiatrischen Sachverständigen hin, so kann der Angeklagte nur verurteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 5 1 Abs. 1 ausgeschlossen werden können. Viertens: „keine Anhaltspunkte". Das ist ein Verstoß gegen die Logik. Es kommt natürlich vor, daß „die Voraussetzungen" des § 5 1 Abs. 2 vorliegen, die des Abs. 1 dagegen nicht. Es kann aber nicht sein, daß es an „Anhaltspunkten" für die Anwendbarkeit des Abs. 1 fehlt, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen. Denn diese Voraussetzungen bestehen in biologischen Zuständen von gleicher Art im Abs. 1 wie im Abs. 2. Das Gesetz zählt sie im Abs. 2 ja gar nicht besonders auf, sondern verweist nur auf den Abs. 1. Wenn man den Abs. 2 für anwendbar hält, muß man also davon ausgehen, daß eine Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder Geistesschwäche vorliegt oder doch vorliegen kann. Und dann kann man zwar darlegen, daß diese Zustände die Zurechnungsfähigkeit nicht ganz ausgeschlossen haben; man kann aber doch unmöglich behaupten, das sei deshalb so, weil „keine Anhaltspunkte" vorlägen. Fünftens: „Verminderung der Zurechnungsfähigkeit". Auch das ist nichts als die formelhafte Mitteilung eines juristischen Ergebnisses; keine Begründung, sondern der Verzicht auf eine Begründung. Sechstens: „vom ärztlichen Standpunkt erheblich". Einen ärztlichen Standpunkt darüber, was in diesem Zusammenhang erheblich ist, kann es nicht geben, sondern nur einen rechtlichen Standpunkt. Denn die Frage nach der Erheblichkeit lautet, ob der festgestellte Grad von Angetrunkenheit, ob gewisse sonstige Zustände des Täters zur Tatzeit für die Rechtsordnung ein triftiger Grund sind, ihre Ansprüche an das Wohlverhalten des Menschen herabzusetzen. Das hängt nicht nur von der Natur und der Stärke des betreffenden Zustandes, sondern von der Art des Delikts, von der Begehungsweise, von dem geschützten Rechtsgut und noch sonst von mancherlei Dingen ab, die der ausschließlich rechtlichen Beurteilung nicht deshalb entzogen werden dürfen, weil man in Paragraphen und Kommentaren bisweilen wenig darüber zu lesen findet. Der Psychiater hat zu dieser Beurteilung nur eine eng umgrenzte Komponente beizutragen, die für sich allein niemals schon eine ausreichende Grundlage für die Beurteilung abgeben kann, ob die damit verbundene Herabsetzung des Einsichtsvermögens oder des Hemmungsvermögens unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit „erheblich" ist. Siebentes - aber ich will Sie nicht mit einer Fortsetzung dieser Kritik an den Urteilsgründen langweilen, sondern Ihnen jetzt die Pointe sagen,

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daß nämlich trotz aller dieser Fehler die Revision des Angeklagten mit meiner Zustimmung als offensichtlich unbegründet durch Beschluß verworfen worden ist. Der Angeklagte, ein geistig gesunder Mann, hatte sich nämlich in nüchternem Zustand vorgesetzt, sich mit Leuchtgas das Leben zu nehmen, wobei er sich sagte, daß diese Art der Selbsttötung noch anderen Hausbewohnern das Leben kosten würde. Er legte sich Werkzeug zum Offnen des Gasrohrs zurecht und trank. Sein Trunkenheitsgrad zu der Zeit, da er das Gasrohr dann öffnete, bildete den Gegenstand der Ausführungen, die ich Ihnen mitgeteilt habe. Sie lagen alle neben der Sache, denn nach den Feststellungen war das ein ganz klarer und eindeutiger Fall einer actio libera in causa. Wenn eine Revision offensichtlich unbegründet sein kann, dann war es diese; denn daß das Schwurgericht fälschlich den §51 Abs. 2 StGB angewendet und den Angeklagten nicht zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt hatte, beschwerte ihn nicht. Ganz so zugespitzt sind die Dinge nicht oft. Aber daß Urteile sehr anfechtbare Ausführungen über Einsichtsvermögen und Hemmungsvermögen enthalten und trotzdem im Ergebnis richtig sind, das ist doch ziemlich häufig. Ein recht gewöhnlicher Fall ist etwa der, daß ein Urteil zwar bedenkliche Sätze über die Voraussetzungen von Zurechnungsfähigkeit und -Unfähigkeit enthält, in anderem Zusammenhange aber gar keinen Zweifel daran läßt, daß dem Angeklagten nach Uberzeugung des Gerichts nicht das Geringste fehlte. Es ist gar nicht so selten, daß §51 Abs. 2 wegen Verminderung des Einsichts- oder des Hemmungsvermögens angewendet wird, ohne daß diese Verminderung auf einer der drei im Gesetz aufgeführten biologischen Voraussetzungen beruht. Die Revisionsgerichte haben sehr selten Gelegenheit, so etwas zurechtzurükken, weil die Staatsanwaltschaften in solchen Fällen keine Revision einzulegen pflegen. Ein Urteil kann dann schon bestätigt werden, wenn das Revisionsgericht von sich aus in der Lage ist, die erforderliche Trennung zwischen der Verantwortlichkeit des Richters und der des Sachverständigen nachzuholen, d. h. oft, die richterliche Verantwortlichkeit selbst zu übernehmen. Von der grundsätzlichen Forderung nach dieser Trennung läßt sich aber nichts abhandeln. Denn wir dürfen es nicht dahin kommen lassen, daß der Richter glaubt, der Sachverständige nehme ihm die Verantwortung ab, während der Sachverständige glaubt, er dürfe sie tragen, oder der Richter trage sie. Vor etwa vierzig Jahren gab es eine Art von dreirädrigen Kraftfahrzeugen, Zyklonetten genannt, die mit einem Lenkhebel zwischen den beiden Sitzplätzen gesteuert wurden. Damals zeichnete Paul Simmel für die Berliner Illustrierte zwei Leute, die mit einem solchen Vehikel spät abends in Schlangenlinien nach Hause fuhren. Laut Unterschrift sagte der eine zum anderen „Mensch, kannst

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du nicht ein bißchen gerade fahren?", worauf der andere antwortete: „Was, ich denke, du fährst!" Nachdem Sie mir mit so liebenswürdiger Geduld so lange zugehört haben, glaube ich, daß Sie hinter diesem scherzhaften Vergleich den Ernst nicht verkennen werden.

Das Verhandeln des Verteidigers vor dem Tatrichter und dem Revisionsgericht 1 (1952) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ist gegenüber den vier Karlsruher Strafsenaten dadurch bevorzugt, daß vor ihm ungleich mehr Strafverteidiger persönlich auftreten. Gerade hier in Berlin verspricht darum eine Aussprache zwischen Strafverteidigern und Revisionsrichtern besondere Erfolge für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Ich bin Ihnen deshalb dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben, heute eine solche Aussprache einzuleiten - oder richtiger gesagt - fortzusetzen. Denn es handelt sich nur darum, eine Unterhaltung wieder aufzunehmen, die bereits der verstorbene Kammergerichtsrat Gage vor über einem Jahre in Ihrem Kreise begonnen hat. Seine klaren und gründlichen Ausführungen liegen uns im Druck vor2, und es ist nicht gar so viel, was er mir zu sagen übriggelassen hat. Es wäre noch weniger, wenn sein kleines Werk schon allgemein bekannt wäre und allgemein beherzigt würde. Lassen Sie mich an etwas anknüpfen, was hier in einer Ihrer letzten Versammlungen gesagt wurde, als Herr Landgerichtsdirektor Dr. Berger über das Jugendstrafrecht sprach. Er bekannte sich als einen grundsätzlichen Anhänger der zweiten Tatsacheninstanz (mit Ausnahme der Jugendschutzsachen), und gerade darin erfuhr er bei der Diskussion Zustimmung und keinen Widerspruch. Ahnliche Äußerungen habe ich in Berlin auch sonst schon öfter gehört. Daraus muß wohl entnommen werden, daß die Verteidiger hier mit der Revision, jedenfalls mit der Revision allein nicht ganz glücklich sind. Nun ist das Für und Wider der zweiten Tatsacheninstanz nicht das Thema des heutigen Abends. Gewiß erfüllt unser jetziges Rechtsmittelverfahren nicht alle berechtigten Wünsche. Aber wir sind nicht der Gesetzgeber, und es fragt sich, ob der Gesetzgeber uns folgen würde. Unsere Aufgabe liegt nicht darin, die beste oder auch nur eine bessere Regelung ausfindig zu machen, sondern darin, das Beste aus dem zu machen, was wir haben; und das ist die Revision. Um das Beste aus ihr zu machen, müssen wir uns vor allem völlig klar darüber sein, daß sie keine zweite Tatsacheninstanz ist. Man sollte 1 Vortrag gehalten auf Einladung der „Vereinigung Berliner Strafverteidiger" am 26.11.1952. 2

Kurt Gage, Die Revision in Strafsachen, Essen 1952.

Verteidiger vor dem Tatrichter und dem Revisionsgericht

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denken, darüber könne kein Zweifel sein, zumal nach dem Buch von Gage; aber das wäre ein Irrtum. Vor gar nicht langer Zeit trug ein Verteidiger uns vor, die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts seien unrichtig; und im offensichtlichen Glauben, damit etwas recht Schlagendes gesagt zu haben, fügte er hinzu: „Das ist ja doch wohl ein Revisionsgrund!" Und erst vor wenigen Wochen lasen wir in einer Revisionsbegründung, der Verteidiger sei sich bewußt, daß die tatsächlichen Feststellungen mit der Revision nicht angegriffen werden könnten; von diesem Satz müsse aber eine Ausnahme gelten, nämlich dann, wenn die Feststellungen so unrichtig seien, daß das Urteil darauf beruhe. Dieser Irrtum liegt, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, fast allen den Revisionen zugrunde, die durch Beschluß verworfen werden; und sie bilden einen erschreckend hohen Anteil. Sie werden mit entgegnen, es gebe keinen besseren Beweis für die Notwendigkeit einer zweiten Tatsacheninstanz, wenn das Revisionsgericht da nicht helfe. Nun, es hilft, wo es kann; und es kann oft helfen, wenn die Revision ihm mit richtigen und richtig begründeten Verfahrensrügen den Weg dazu freimacht. Das ist Sache der schriftlichen Revisionsbegründung, die ebenfalls nicht das Thema des heutigen Abends ist, und über die Gage alles Erforderliche gesagt hat. Aber die eigentliche Abhilfe muß an einer ganz anderen Stelle einsetzen, und das ist nun das erste Hauptanliegen meines Vortrages: sie muß von der Mitarbeit des Verteidigers in der ersten Instanz kommen. Voraussetzung dafür ist, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung einen Verteidiger hat. Es handelt sich vor der Strafkammer nicht immer um Fälle der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO. Aber auch in anderen Sachen muß immer von Amts wegen darauf geachtet werden, ob nicht wegen der Schwere der Tat, wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage, oder weil der Angeklagte sich nicht selbst verteidigen kann, ein Verteidiger bestellt werden muß. Dabei handelt es sich zwar um eine Ermessensfrage. Aber der Bundesgerichtshof prüft dieses Ermessen nach. Zunächst ist es allemal ein Verfahrensverstoß, wenn diese Frage überhaupt nicht geprüft worden ist. Das hat der 5. Strafsenat am 10. April 1952 ausgesprochen3. Dieser Entscheidung hat der 2. Strafsenat am 28. Oktober 19524 nicht nur ausdrücklich zugestimmt, sondern er hat den Grundsatz noch dahin erweitert, daß bei der Entscheidung des Vorsitzenden alle Gesichtspunkte erörtert werden müssen, aus denen nach § 140 Abs. 2 StPO die Beiordnung eines Verteidigers geboten sein kann. Aber selbst ein noch so eingehend begründeter 3 B G H 5 StR 5 2 / 5 2 ; der betreffende Teil des Urteils ist in B G H S t . 2, 386 nicht mitabgedruckt. 4 B G H 2 StR 4 3 5 / 5 2 .

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Ablehnungsbeschluß ist kein ganz sicherer Weg, um hier einer Verfahrensrüge zu entgehen. Denn der 5. Strafsenat hat wiederum das Recht für sich in Anspruch genommen, nachzuprüfen, ob die Sache wirklich rechtlich nicht schwierig war5. Diese Prüfung hängt ja eng mit seiner eigentlichsten Aufgabe zusammen. Denn mindestens bei jeder erfolgreichen Revision läuft es darauf hinaus, daß die Sache nach Ansicht des Revisionsgerichts nicht so einfach war, wie der Tatrichter angenommen hatte. Es könnte eingewendet werden (wenn auch vielleicht gerade Sie das nicht einwenden werden), es stehe dem Revisionsgericht nicht zu, derart tief in das Ermessen einzugreifen, das vom Gesetz nun einmal dem Vorsitzenden zugedacht worden sei. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß die Beschneidung des Ermessensspielraums sich einfach aus dem Zuständigkeitsbereich der Strafkammer ergibt. Abgesehen von Fällen, in denen die Verteidigung ohnehin notwendig ist, sind die Strafkammern zuständig zunächst einmal dann, wenn eine Strafe von mehr als zwei Jahren Zuchthaus zu erwarten ist. Hier wird man also im allgemeinen von „Schwere der Tat" sprechen dürfen. Vor einiger Zeit wurde ein unverteidigter Angeklagter zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Hätte hier der Rechtsanwalt, der später die Revision begründet hat, die unterbliebene Beiordnung gerügt, so hätte die Rüge wahrscheinlich Erfolg gehabt. Wenn hier die Gerichte nicht helfen, seien es die der ersten oder die der zweiten Instanz, so rufen sie schließlich nur den Gesetzgeber auf den Plan. - Ferner sind die Strafkammern zuständig, wenn die Staatsanwaltschaft wegen der „besonderen Bedeutung des Falles" bei ihnen Anklage erhebt. Eine solche besondere Bedeutung geht in aller Regel Hand in Hand entweder mit rechtlicher oder mit tatsächlicher Schwierigkeit. Übrig bleiben also im wesentlichen die Fälle, die eigentlich vor das Schöffengericht gehört hätten. In den anderen, die das Landgericht selbst behält, werden in Zukunft vielleicht doch öfter Verteidiger bestellt werden. Was die Anwälte selbst dazu tun können, ist einmal, daß sie dem Bundesgerichtshof in den Revisionsbegründungen das Wort zu dieser Frage erteilen, indem sie die unterbliebene Beiordnung rügen und die Rüge eingehend sachgemäß begründen. Wenn diese Rüge vergessen, oder, wie es uns neulich begegnet ist, absichtlich und ausdrücklich unterlassen wird, so sollte man nicht das Revisionsgericht und auch nicht das Fehlen der zweiten Tatsacheninstanz für den Mißerfolg verantwortlich machen. Vor allem aber würden die Verteidiger sicherlich, je größer sie ihren großen Beruf auffassen, desto leichter die Gerichte von der Erwünschtheit ihrer Mitwirkung überzeugen.

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B G H v o m 2 3 . 1 0 . 1 9 5 2 , 5 StR 641/52.

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Gehen wir also davon aus, daß in der ersten Instanz ein Verteidiger mitwirkt. Es liegt mir fern, ihm hier mit irgendwelcher Vollständigkeit Ratschläge zu geben, wie das etwas weit gefaßte Thema glauben machen könnte. Ich kann Ihnen nur einige Gedanken vortragen, wie sie sich aus der Perspektive des Tatrichters aufdrängen. Sie werden mich auch nicht dahin mißverstehen, als wollte ich Ihnen Hinweise geben, wie man mit kleinen Tricks kleine Vorteile erreichen kann. Wenn man immer wieder sieht, wieviele Verteidiger glauben, noch in der Revisionsinstanz neue oder andere Tatsachen vortragen zu können, dann kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß eben dieser Irrtum sie in der Tatsacheninstanz Versäumnisse begehen läßt. Was Schneidewin 6 schon 1923 schrieb, daß es nämlich kaum Revisionsbegründungen ohne unzulässige Tatsachenangriffe gebe, das ist heute noch genau so richtig. Daraus ergibt sich schier unabweislich der Schluß, daß alle die Verfasser dieser Revisionsbegründungen sich, während sie vor der Tatsacheninstanz verteidigen, der gefährlichen Illusion hingeben, als sei später noch Zeit für Korrekturen, die dann in Wahrheit unzulässig und unmöglich sein werden. Eine sachgemäße Verteidigung vor dem Tatrichter setzt die völlige Beherrschung des Revisionsrechts voraus. Das ist der einzige wichtige Satz, den ich bei Gage vermisse. Dieses Buch darf man nicht erst dann zur Hand nehmen, wenn man eine Revision zu begründen hat. In diesem Zeitpunkt wird man daraus allzu häufig nur noch sehen können, daß und warum eine Revision keinen Zweck mehr hat,. Dann allerdings muß das Revisionsrecht als unerträglich streng erscheinen, dann muß sich der Ruf nach einer zweiten Tatsacheninstanz aufdrängen, und dann kommt es zwangsläufig immer wieder zu dem aussichtslosen Versuch, das Revisionsgericht mit Gewalt zu einer zweiten Tatsacheninstanz zu machen. Der Verteidiger muß das, was im Gage steht, zu seinem geistigen Besitz gemacht haben, ehe er in die Hauptverhandlung vor dem Tatrichter geht. E r muß sich darüber klar sein, daß hier und jetzt die einzige, die letzte Gelegenheit ist, Tatsachen zur Schuld- und Straffrage zu erörtern. E r muß sich über die verfahrensrechtlichen Wege klar sein, auf denen er diese Tatsachen - notfalls auch gegen den Willen des Tatrichters - so in das Verfahren einführen kann, daß sie später dem Revisionsrichter vorliegen. E r darf sich nicht scheuen, zugunsten seines Mandanten von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Gewiß mag es Gelegenheiten geben, in denen es sich empfiehlt, nicht jede Stellung bis zur letzten Patrone zu halten. Man mag bei einem schuldigen Angeklagten in

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Schneidewin,

Fehlerhafte Revisionsbegriindungen in Strafsachen, J W 1923, S.345.

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Einzelheiten auf dem Gebiet der Schuldfrage nachgeben, um zum Ausfechten der Straffrage eine günstigere Stellung beziehen zu können. Aber das kommt fast dem englischen pleading guilty gleich. Der Verteidiger übernimmt damit eine schwere Verantwortung, die er nur tragen kann, wenn er sich völlig klar darüber ist, daß er diesen Verzicht ein für allemal tut - daß jeder Versuch, die aufgegebene Stellung etwa in der Revisionsinstanz wieder zu besetzen, von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. In der Tatsacheninstanz muß die Verteidigung sich verantwortlich entscheiden, ob sie um den favor judicis bei der Strafzumessung werben oder ob sie mit allen rechtlichen Mitteln um den Freispruch kämpfen will. Gewiß senkt sich damit auf die Schultern des Verteidigers eine schwere Last. Was eben gesagt wurde, bedeutet für ihn die Pflicht zu fleißigster, sorgfältigster Vorbereitung, zu schärfster Konzentration während der ganzen Verhandlung, zum bürgerlichen Mut, zu geistesgegenwärtigem Eingreifen, und oft auch die Bereitschaft zum Verzicht. Aber glauben Sie nicht, daß sich daran durch irgendwelche Änderungen der Prozeßordnung oder der Gerichtsverfassung etwas Wesentliches ändern ließe. Zum Beispiel hat es - im Bereich einer ganz anderen Gerichtsorganisation - der englische Verteidiger eher noch schwerer als leichter. E r ist bis zur Hauptverhandlung fast ausschließlich darauf angewiesen, was der mehr oder weniger wahrheitsliebende Angeklagte ihm erzählt. Weder kann er die Ermittlungsakten einsehen, noch erfährt er auch nur, welche Beweismittel die Anklage vorführen wird. Derart unvorbereitet sieht er sich vor der Aufgabe, die Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Der Angeklagevertreter braucht nicht einmal so zu tun, als sei er objektiv. Ihm stehen aber, wie bei uns dem Staatsanwalt, die Geld-, Macht- und Erkenntnismittel des Staates zur Verfügung. In jeder denkbaren Gerichtsverfassung ist eine Tatsacheninstanz die letzte und stellt äußerste Anforderungen an einen gewissenhaften Verteidiger. Lassen Sie mich ein Wort über die Vorbereitung auf die erstinstanzliche Verhandlung sagen. Wenn Sie eine Biographie irgendeines beliebigen englischen oder amerikanischen Juristen zur Hand nehmen, dann wird Ihnen immer wieder dasselbe auffallen: alle diese Männer sind groß geworden durch die unendliche Sorgfalt, mit der sie sich auf die Verhandlungen erster Instanz vorbereitet haben, und zwar nicht in rechtlicher, sondern in tatsächlicher Hinsicht. Ihr Erfolg steht und fällt mit dem Kampf gegen die Belastungszeugen, und zwar weniger im Plädoyer als bei der Vernehmung. Dazu gehört die Kenntnis aller kleinsten Einzelheiten, deren ein Verteidiger vor der Verhandlung habhaft werden kann. Wenn auch bei uns so gearbeitet würde, dann wären die Aussichten des Angeklagten bei uns größer als in England.

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Sie wissen, daß bei uns eine geschickte Aufklärungsrüge dem Revisionsrichter den Blick in die Akten eröffnet. Noch aufschlußreicher sind bisweilen die Beiakten. Nur allzu oft fragt man sich vergeblich, warum der Verteidiger nicht vor der Strafkammer den förmlichen Antrag gestellt hat, eine bestimmte Stelle einer bestimmten Beiakte zu verlesen, die dem Prozeß eine andere Wendung hätte geben müssen. Wir sehen zum Beispiel immer wieder Verurteilungen wegen Meineides, bei denen zwar der Wortlaut der beschworenen Aussage, aber nicht der Wortlaut der Beweisfrage festgestellt ist. Vielfach kann man eine Antwort nur dann richtig auslegen, wenn man die Frage kennt. In zahlreichen Fällen legt die Beweisfrage, und in manchen Fällen legt auch der Prozeßhergang bis zu dem Eide eine einschränkende Auslegung der beschworenen Aussage nahe - vielfach schon objektiv, und noch häufiger wenigstens subjektiv 7 . Wenn das alles überhaupt nicht gesehen wird, so liegt das in aller Regel mit am Verteidiger. Er darf sich nicht dabei beruhigen, daß die Beiakten soundso „zum Gegenstand der Verhandlung gemacht" werden, sondern er muß beantragen, Ziffer soundso des Beweisbeschlusses von dem und dem Tage, Absatz soundso des und des Schriftsatzes zu verlesen. Er muß das nicht selbst tun, sondern er muß es beantragen, damit der Antrag nebst dem Beschluß, der darauf ergeht, ins Protokoll kommt. Dann hat er auch später in der Revisionsinstanz einen leichteren Stand 8 . Seine Verfahrensrüge hat dann eine ganz andere Farbe und Form. Aber die erste Voraussetzung für ein solches Eingreifen der Verteidigung ist eben, daß der Verteidiger den Inhalt solcher Akten und Beiakten mit allen Einzelheiten gegenwärtig hat, und daß er sich bis ins kleinste darauf vorbereitet hat, welcher Gebrauch sich davon machen läßt. Das Geheimnis des Erfolges ist eben Arbeit - und zwar Arbeit, von der man vorher nicht immer wissen kann, ob sie etwas Verwertbares erbringen wird. Ich darf nun etwas näher auf die wichtigste Waffe eingehen, die dem Verteidiger im Kampf um die Tatsachenfeststellungen zur Verfügung steht. Das ist der Beweisantrag. Die praktisch wichtigste und aussichtsreichste Verfahrensrüge ist immer die, daß ein Beweisantrag zu Unrecht übergangen oder zu Unrecht abgelehnt worden sei. U m diese Rüge später erforderlichenfalls mit Aussicht auf Erfolg erheben zu können, muß der Verteidiger vor dem Tatrichter einen richtigen Beweisantrag gestellt haben. Das ist nicht immer ganz einfach. Es empfiehlt sich dringend, und es lohnt sich, diese Dinge in dem Buch von Alsberg über

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BGHSt. 1, 149. BGHSt. 1, 220.

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den Beweisantrag 9 zu studieren, und zwar ebenfalls, ehe man in die Hauptverhandlung geht. Ich darf nur das Wichtigste hervorheben. Der Beweisantrag muß in der Hauptverhandlung gestellt werden. Schriftliche Anträge vor der Hauptverhandlung sind zwar unter Umständen sehr zu empfehlen, aber sie sind keine Beweisanträge, mit denen sich vor dem Revisionsgericht arbeiten läßt10. Das wird immer und immer wieder übersehen. Im Beweisantrag muß eine bestimmte Tatsache behauptet werden. Das Wort „ob" ist dabei gefährlich. Der Antrag, einen Zeugen darüber zu vernehmen, „ob" der Angeklagte zur Tatzeit in seiner Gesellschaft war, kann als Beweisanregung oder als Ermittlungsantrag aufgefaßt werden, so daß die Übergehung keine Rüge begründet. Auch sonst kann es auf die Formulierung der Tatsache entscheidend ankommen. Wenn es irgend möglich ist, sollte man die Behauptung so auszudrücken suchen, daß sie der Beschuldigung unmittelbar und nicht erst auf dem Wege über Rückschlüsse entgegensteht. Rückschlüsse sind nämlich im allgemeinen nicht revisibel. Beispiel: Wenn Sie einen Zeugen dafür benennen, daß er die dem Angeklagten vorgeworfene beleidigende Äußerung nicht gehört habe, und daß er sie hätte hören müssen, wenn sie gefallen wäre, so setzen Sie sich der Ablehnung mit folgender Begründung aus: Es wird als wahr unterstellt, daß der Zeuge die Äußerung nicht gehört hat. Das hindert den Tatrichter nicht, aufgrund anderer Beweise festzustellen, daß der Angeklagte die Äußerung getan hat. Daß der Zeuge sie dann hätte hören müssen, ist keine Tatsache, sondern eine Meinung. Der Tatrichter kann anderer Meinung sein, ohne den Zeugen zu hören. Das alles - bis auf die Wahrunterstellung - erfährt der Verteidiger erst aus dem Urteil. Dann ist es zu spät. Mit der Revision ist dagegen nicht mehr anzukommen. Es empfiehlt sich also, den Zeugen dafür zu benennen, daß der Angeklagte die Äußerung nicht getan hat. Dann gibt es nur drei Möglichkeiten. Entweder kann die Äußerung dem Angeklagten nicht zur Last gelegt werden. Oder der Zeuge muß vernommen werden. Oder der Angeklagte hat nunmehr einen Revisionsgrund. Nur so kann eine Tatsache, die der Tatrichter nicht feststellt, trotzdem vor das Revisionsgericht gebracht werden. Es ist unvorsichtig, sich allzu fest darauf zu verlassen, daß eine Beweisaufnahme günstig verlaufen zu sein scheint. Wenn der Verteidiger noch weitere Entlastungszeugen benennen kann, sollte er es immer tun, auch dann, wenn sie nur dasselbe bekunden können, was eine Reihe von vernommenen Zeugen schon bekundet haben. Denn die Aussage des 9 10

Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 1930. BGHSt. 1, 286.

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vernommenen Zeugen kann der Tatrichter ganz frei würdigen. Er kann aus ihr das Gegenteil von dem entnehmen, was der Verteidiger glaubt. Alle Beteuerungen der Revisionsbegründung, der Tatrichter habe den Zeugen mißverstanden, der Zeuge habe nichts dergleichen gesagt, der Satz „in dubio pro reo" sei verletzt, der Angeklagte habe noch weitere Zeugen dafür - all das sind für das Revisionsgericht nur „unbeachtliche Angriffe gegen die Beweiswürdigung". Ganz anders verhält es sich mit einem richtig gefaßten Beweisantrag. Die darin aufgestellte Behauptung bildet für den Tatrichter ein unübersteigliches Hindernis, bis er den Zeugen vernommen hat. Auch und gerade nach einer günstig verlaufenen Beweisaufnahme sollte der Verteidiger deshalb nicht auf seine Beweisanträge verzichten. In diesem Zusammenhang muß eine Schwäche unserer Strafprozeßordnung erörtert werden. Förmlichkeiten, zu denen auch die Beweisanträge gehören, können nur durch das Protokoll bewiesen werden. Stehen sie nicht darin, so sind sie für das Revisionsgericht nicht gestellt. Nun kann es - verzeihlicherweise oder vielleicht auch unverzeihlicherweise - vorkommen, daß ein wirklich gestellter Beweisantrag nicht ins Protokoll aufgenommen wird. Auch mit anderen Förmlichkeiten kann es so gehen. Der Verteidiger bemerkt das Versehen Wochen oder Monate später. Sein Berichtigungsantrag wird abgelehnt, weil der Vorsitzende und der Protokollführer sich jetzt nicht mehr erinnern. Was tut man dagegen? Es ist vielfach üblich geworden, Beweisanträge - auch in der Hauptverhandlung - schriftlich zu überreichen. Der Vorsitzende kann das sogar verlangen. Damit ist die Gefahr des Vergessens verringert, aber nicht beseitigt. Wir haben es erlebt, daß ein Verteidiger behauptete, einen Beweisantrag schriftlich überreicht zu haben, daß der Antrag aber nicht bei den Akten war. Das Protokoll schwieg. Wir haben es sogar erlebt, daß der schriftliche Antrag bei den Akten war und Vorsitzender wie Protokollführer sich trotzdem nicht erinnerten, beim Schweigen des Protokolls. Wie kann der Verteidiger sich also sichern? Einen Rechtsbehelf, mit dem der Verteidiger die Protokollierung - die an sich zwingend vorgeschrieben ist - in der Hauptverhandlung oder später durchsetzen könnte, kennt die Strafprozeßordnung nicht. Man mag das für eine Lücke halten. Aber es gibt einen Weg, der praktisch nicht zu versagen pflegt. Erfahrungsgemäß sind es von den Beweisanträgen nur die Hilfsanträge, die bisweilen übersehen werden. Das ist vielfach auch sehr verständlich. Auf einen Hilfsantrag braucht im Augenblick nichts zu geschehen, er braucht erst in den Urteilsgründen beschieden zu werden. Hilfsanträge werden vielfach unauffällig zwischen andere Prozeßvorgänge eingeschaltet und entgehen so der Aufmerksamkeit. Manchmal werden sie im Zusammenhang des Plädoyers vorgetragen. Das ist ein Prozeßabschnitt, den nicht jeder Protokollfüh-

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rer mit der angespanntesten Aufmerksamkeit verfolgt, während der Vorsitzende vielleicht gerade wegen seines gefesselten Zuhörens nicht an das Protokoll denkt. So kommt es, daß der Hilfsantrag unter den Tisch fällt. Würde der Verteidiger den Antrag als Hauptantrag stellen, so wäre das alles anders. Der Hauptantrag muß durch einen Beschluß beschieden werden. Der Beschluß muß nach Beratung mit Gründen verkündet werden. Das ist ein Vorgang, den auch ein ermüdeter Protokollführer nicht so leicht übersieht, und der sich auch nicht ganz so leicht vergißt. Der Verteidiger behält die Kontrolle darüber, was aus seinem Beweisantrage wird. Er kann notfalls den Vorsitzenden unmittelbar vor der Urteilsverkündung daran erinnern, daß der Beschluß noch nicht ergangen ist. Wird jetzt etwa bezweifelt, daß der Antrag gestellt war, oder daß es ein Hauptantrag war, so kann der Verteidiger ihn jetzt noch einmal als Hauptantrag stellen. Er sollte das auch tun. Es wäre nicht fair und auch nicht klug, sich darauf zu verlassen, daß das Gericht durch die unterlassene Beschlußfassung einen Revisionsgrund gegeben hat. Denn einmal hat der Vorsitzende bei der Urteilsverkündung ja im allgemeinen das Protokoll noch nicht endgültig unterschrieben; schwarz auf weiß hat der Verteidiger den Revisionsgrund also noch nicht. Zum anderen sollte der Verteidiger einen Revisionsgrund, der während der Verhandlung unterläuft, nicht geflissentlich für sich behalten, wenn er ihn bemerkt. Wenn nämlich das Revisionsgericht zu der Auffassung kommt, daß der Verteidiger absichtlich geschwiegen hat, so wird es daraus vielfach folgern, daß das Urteil nicht auf dem Verstoß, sondern auf dem Schweigen des Verteidigers beruht, das sich in solchen Fällen als stillschweigender Verzicht auffassen läßt11. Der Verteidiger soll eben nicht ein Aufpasser, sondern ein Helfer des Richters sein. Mein Rat ist also: Stellen Sie Beweisanträge als Hauptanträge, hilfsweise höchstens dann, wenn Sie Ihrer Sache ganz sicher sind, daß Überraschungen nicht in Frage kommen. Man fragt sich auch vergebens, welchen Vorteil der Angeklagte davon haben könnte, daß der Verteidiger den Beweisantrag hilfsweise statt als Hauptantrag stellt. Im Gegenteil: auch noch aus anderen Gründen verdient der Hauptantrag vielfach den Vorzug vor dem Hilfsantrag. Gerade weil er das Gericht zwingt, die Ablehnungsgründe vor der Urteilsverkündung bekanntzugeben, verhindert der Hauptantrag Überraschungen. Nehmen Sie wieder das Beispiel von vorhin. Dem Verteidiger wird auf seinen Beweisantrag gesagt, es könne als wahr unterstellt werden, daß der Zeuge nichts gehört habe. Wahrunterstellungen müssen den Verteidiger immer hellhörig machen. Eine Wahrunterstellung n

BGHSt. 1, 285.

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zugunsten des Angeklagten bedeutet, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, daß der Angeklagte verurteilt werden soll. Denn ein Urteil kann immer nur trotz einer Unterstellung, niemals aufgrund einer Unterstellung ergehen. Würde das Gericht den Angeklagten aufgrund einer unterstellten Tatsache freisprechen, so hätte die Staatsanwaltschaft einen Revisionsgrund. Der Verteidiger hat also allen Anlaß, den Ablehnungsbeschluß mit der Wahrunterstellung genau unter die Lupe zu nehmen. In unserem Beispielsfall müßte ihm dann auffallen, daß seine zweite Behauptung - der Zeuge hätte die Äußerung hören müssen, wenn sie gefallen wäre - nicht beschieden worden ist. Es wäre wieder ein Fehler, sich darauf zu verlassen, daß damit ein Revisionsgrund gegeben sei. Denn das Gericht war nicht verpflichtet, diesen zweiten Teil des Antrages zu bescheiden. Da dieser zweite Teil keine eigentliche Tatsachenbehauptung enthält, handelt es sich insoweit nicht um einen Beweisantrag. Darauf muß der Verteidiger von selbst kommen. Er müßte also in unserem Beispielsfall wenigstens jetzt den Zeugen dafür benennen, daß der Angeklagte die Äußerung nicht getan hat. Jeder Verteidiger kennt den Sinn der Vorschrift, daß der Ablehnungsbeschluß begründet werden muß. Der Grund liegt darin, daß der Angeklagte Gelegenheit bekommen soll, weitere Anträge zu stellen12. So kann man denn in Revisionsbegründungen, die das Fehlen eines Beschlusses oder das Fehlen einer Begründung rügen, auch immer wieder lesen, daß dem Angeklagten diese Gelegenheit abgeschnitten worden sei. Das kann ganz richtig sein. Aber so oft dieser Gesichtspunkt in Revisionsbegründungen vorgetragen wird, so selten kommt es erstaunlicherweise in der Hauptverhandlung erster Instanz vor, daß ein Verteidiger einen solchen Ablehnungsbeschluß nun tatsächlich zum Anlaß nimmt, den abgelehnten Antrag in berichtigter Form zu wiederholen oder einen anderen Antrag zu stellen. Und immer wieder erlebt man es, daß dem Verteidiger dann später vor dem Revisionsgericht genau das fehlt, was er vor dem Tatrichter in so unbegreiflicher Großzügigkeit verschenkt hat. Dann muß gewöhnlich die Aufklärungsrüge herhalten 13 . Gewiß ist sie ein unentbehrlicher Rechtsbehelf, gewiß benutzen alle Revisionsgerichte sie in steigendem Maße, um manchmal in verzweifelten Fällen eine zweite Tatsacheninstanz zu eröffnen. Aber eigentlich ist sie nicht dazu da, um den Angeklagten gegen die Unterlassungssünden seines eigenen Verteidigers in Schutz zu nehmen. Es ist insbesondere nicht ihr Zweck, vergessene Beweisanträge nachzuholen. Denn die Aufklärungsrüge setzt voraus, daß die Prozeßlage in der ersten Instanz auf eine bestimmte 12 13

BGHSt. 1, 32. BGHSt. 2, 168.

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Aufklärung hindrängte. Dann aber mußte dieselbe Prozeßlage in aller Regel den Verteidiger zu einem Beweisantrage hindrängen. Das ist eine Hilfe, die der Tatrichter, vor allem der von unserer Strafprozeßordnung in jeder Hinsicht überforderte Vorsitzende, von dem Verteidiger wohl verlangen kann. Nicht selten scheitern deshalb Aufklärungsrügen gerade daran, daß der Angeklagte einen Verteidiger hatte und dieser Verteidiger keinen Beweisantrag gestellt hat. Anders ist es allerdings dann, wenn der Tatrichter von einer Beurteilung ausgeht, mit der die Verteidigung nicht zu rechnen brauchte. Beispiel: Wenn dem Angeklagten eine Tat zur Last gelegt ist, die nach Anklage und Eröffnungsbeschluß am 26. begangen sein soll, und wenn für diesen 26. ein Alibibeweis erbracht wird, dann braucht der Verteidiger nicht ohne weiteres damit zu rechnen, daß das Gericht annehmen werde, dann müsse die Tat eben am 27. begangen sein14. Für solche Fälle ist die Aufklärungsrüge da; nur - sie muß dann auch erhoben und richtig begründet werden. Mit dem §265 StPO kann man da nicht arbeiten. Das bisher Gesagte ist nur ein Beispiel für einen allgemeineren Satz. Der Verteidiger darf sich nicht scheuen, das Gericht an den entscheidenden Punkten des Verfahrens zu einem Beschluß zu nötigen. Das kann sich unter Umständen selbst bei der Zurückweisung einzelner Zeugenfragen dringend empfehlen15. Der Verteidiger kann von der Rüge des §338 Ziff. 8 StPO immer nur dann Gebrauch machen, wenn es ein Gerichtsbeschluß war, der den Angeklagten in seiner Verteidigung beschränkt hat16. Diesen Beschluß muß der Verteidiger durch einen Antrag herbeiführen. Vielleicht darf ich dafür noch ein Beispiel heranziehen. Oft nimmt eine Beweisaufnahme überraschende Wendungen. Neue Tatsachen können dem Angeklagten ein Recht auf Aussetzung geben (§246 StPO). Ebenso ist es bei veränderter Rechtslage (§265 StPO) und bei Nachtragsanklagen (§266 StPO). Hier hat man kein Recht, über eine Überrumpelung zu klagen, wenn man von dem Recht, die Aussetzung zu beantragen, keinen Gebrauch macht17. Gewiß ist es zu verstehen, wenn der Angeklagte die Sache am liebsten hier und heute beendet sehen möchte, wenn auch das Gericht nicht gerne aussetzt, und wenn gerade der gute Verteidiger den Schein vermeiden möchte, als sei es ihm aus Honorargründen um einen weiteren Verhandlungstag zu tun. Das alles sind falsche Rücksichten. Für den Verteidiger muß hier der einzige Gesichtspunkt der sein, daß er den Angeklagten vor Überrumpelung zu BGH vom BGHSt. 2, "> BGHSt. 1, 17 BGHSt. 1, 14 15

2 9 . 5 . 1 9 5 2 (5 StR 419/52). 285. 325. 285.

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schützen hat. Nicht der Wunsch des Angeklagten, nicht die Überlastung des Gerichts befreien den Verteidiger von dieser Verantwortung. Auch wenn er nur die geringsten Zweifel hat, sollte er die Aussetzung hilfsweise eine Unterbrechung - beantragen, und zwar förmlich, so daß ein Beschluß ergehen muß. N u r damit hält er sich notfalls den Weg in die Revisionsinstanz offen. Es gibt noch einen anderen Vertagungsgrund, von dem auffallend selten Gebrauch gemacht wird. Das ist die Ermüdung der Beteiligten, vor allem des Angeklagten, aber auch der Richter, der Schöffen oder Geschworenen, und nicht zuletzt des Verteidigers selbst. Das Gefährlichste an dieser Ermüdung ist, daß man selbst nichts von ihr merkt. Deshalb sollte man sich hier mehr auf die Erfahrung und auf die Uhr verlassen als auf das subjektive Empfinden. Insbesondere der Vorsitzende wird noch nach zwölf, nach vierzehn Stunden leicht das Empfinden haben, völlig frisch zu sein. Aber fragen Sie einmal seine Frau, wie „frisch" er ist, wenn er nach einer auch nur achtstündigen Verhandlung nach Hause kommt; da werden Sie ein anderes Urteil hören. Die Beisitzer und die Schöffen werden es nicht immer gern zugeben, daß sie auch subjektiv schneller ermüden. Den Angeklagten hält die Spannung aufrecht. Wenn man ihn fragt, wird er oft weiterverhandeln wollen, schon um die Spannung endlich einmal loszuwerden. Aber gleichwohl läßt die Spannkraft nach. Der Verteidiger sollte also von sich aus den Mut aufbringen zu sagen, daß es nicht mehr geht. Ganz gewiß ist es besser, wenn es zu einer Vertagung kommt, als wenn erst in der Revisionsinstanz darüber gestritten wird, ob ein Schöffe, wie fest und wie lange er geschlafen hat, und ob das ein Revisionsgrund ist18. Meist ist es nach der Rechtsprechung keiner. Der gegebene Weg ist eben auch hier nicht die Revision, sondern das Eingreifen in der Verhandlung selbst. Es taugt nicht, wenn die Richter sich nur mit Anstrengung aufrecht halten. Das gilt auch für die Berufsrichter. Allzu vielen Urteilen merkt man es an, daß sie von völlig überarbeiteten, gehetzten, wirklich über Menschenkraft in Anspruch genommenen Richtern stammen. Dieser Zustand schreit nach Abhilfe. In England Ich bin grundsätzlich nicht der Ansicht, daß man seine Vorbilder immer im Auslande suchen sollte. Vor allem ist es gefährlich, eine kleine Vorschrift, nur weil sie einem gefällt, aus einem Rechtssystem in ein ganz anderes zu verpflanzen. Aber es gibt Dinge, die sich aus der menschlichen Natur ergeben, und die deshalb den Menschen in der ganzen Welt gemeinsam sind. Dazu gehören, im großen und ganzen, die Grenzen geistiger Leistungsfähigkeit. 18

BGHSt. 2, 14.

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In England also fangen alle Gerichtssitzungen um halb elf Uhr vormittags an. Mittags wird eine Stunde Pause gemacht, und wenn die Verhandlung nicht bis vier oder fünf Uhr nachmittags zu Ende ist, dann geht es am nächsten Tage weiter. Spätere Sachen müssen warten. Viel weiter wird man die Grenzen wirklicher Aufnahme- und Leistungsfähigkeit auch bei uns in der Tat nicht ziehen können. Die bei uns eingerissene chronische Uberanstrengung der Richter mag sich im Einzelfall einmal zugunsten des Angeklagten auswirken. Selbst dann tut sie dem Recht Abbruch. Sie kann dem Angeklagten aber auch zum Verderben werden, und sei es nur, daß Nervosität und Gereiztheit das Strafmaß beeinflussen. Die Verteidiger sind deshalb berufen, hier auf Abhilfe hinzuarbeiten - nicht durch Entschließungen oder Eingaben, sondern durch Anträge in den einzelnen Fällen. Man wende nicht ein, die allgemeine Überlastung werde durch solche Vertagungen nur noch schlimmer. Das allgemeine Mißverhältnis zwischen Arbeitslast und Arbeitskräften der Richter ist nicht in erster Linie die Sorge des Verteidigers. E r muß darauf denken, für seinen Angeklagten Zeit, Ruhe, Ausgeruhtheit des Gerichts in Anspruch zu nehmen. Auch seine eigenen Aufgaben erfordern geistige Frische. Ein Verteidiger, der mit voller Konzentration dem Angeklagten so beisteht, wie er ihm beistehen muß, wird nach etwa sechs Stunden mit gutem Gewissen erklären dürfen, daß er nun für diesen Tag am Ende seiner Kraft sei. Wahrscheinlich ist gar nicht zu befürchten, daß das Gericht dann einen Vertagungsantrag ablehnt. Es ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen die Richter das Recht, sich überarbeiten zu dürfen, mit besonderem Nachdruck verteidigen sollten. Ein Antrag des Verteidigers würde ihnen aber den Absprung, den Entschluß zur Vertagung wesentlich erleichtern. Äußerstenfalls müßte einmal versucht werden, die Frage vor ein Revisionsgericht zu bringen, das dann den Beschluß, der die Vertagung ablehnt, nach § 1 3 6 a S t P O überprüfen müßte. Bisher sind solche Fälle nicht bekanntgeworden. In engem Zusammenhang mit der Frage der Ermüdung des Angeklagten steht die seiner Verhandlungsfähigkeit. Der 5. Strafsenat hatte kurz hintereinander über zwei Revisionen zu entscheiden, in denen vorgetragen wurde, der Angeklagte sei in der Hauptverhandlung wegen Krankheit und Schmerzen nicht verhandlungsfähig gewesen. Es ist für das Revisionsgericht ungemein schwierig, in solchen Fällen einzugreifen, wenn diese Frage in der ersten Instanz überhaupt nicht zur Sprache gekommen ist, wenn der Angeklagte widerspruchslos verhandelt, der Verteidiger weder etwas gesagt noch etwas beantragt hat, und die Urteilsgründe ergeben, daß der Angeklagte sich zur Sache geäußert hat. Das alles sind nur Beispiele für den einen Satz: Der Schwerpunkt des Strafverfahrens und damit auch der Schwerpunkt der Verteidigung liegt

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in der Tatsacheninstanz. Was hier von der Minute ausgeschlagen wird, bringt in der Revision keine Ewigkeit zurück. Je früher der Verteidiger etwas für den Angeklagten tut, desto wirksamer wird es sein. Die Revision kann immer nur das sein, was ihr Name sagt: eine Nachschau. Ein Verteidiger, dem die begrenzten Möglichkeiten der Revision deutlich bewußt sind, wird es gerade darum als sein Recht und als seine Pflicht ansehen dürfen, dem Tatrichter immer wieder das Gewissen zu schärfen; ihm immer wieder zum Bewußtsein zu bringen, daß er seine tatsächlichen Feststellungen in letzter Instanz trifft; daß seine Verantwortung dafür ihm auch durch ein bestätigendes Urteil des Revisionsgerichts nicht abgenommen wird. Der Verteidiger wird sich diese Aufgabe erleichtern, wenn er sein Amt recht groß auffaßt; wenn er das Verfahrensrecht nicht zu Winkelzügen und kleinen Quertreibereien mißbraucht; wenn man ihm anmerkt, daß es ihm heiliger Ernst ist - nicht nur um das Schicksal des Angeklagten, sondern um das Recht selbst. Verteidiger und Revisionsrichter haben eines gemeinsam. Beide sind Spezialisten, der eine für das, was dem Angeklagten günstig ist, und der andere für die rein rechtliche Seite der Dinge. Beiden fehlt deshalb etwas von der Gesamtschau, wie sie die schwere und schöne Aufgabe des Tatrichters ist. Beide haben ihre Stärke in der Begrenzung des Aufgabengebiets, die sie - auf dem begrenzten Gebiet - zu höheren Leistungen befähigen soll. Im Interesse solcher höheren Leistungen ist es auch zu begrüßen, daß sich Anwälte auf den Beruf des Strafverteidigers spezialisieren, wie das gerade hier in Berlin der Fall ist und schon im Bestehen der Vereinigung Berliner Strafverteidiger zum Ausdruck kommt. Ein reiner Zivilanwalt übernimmt bei der Schwierigkeit des Strafrechts und bei den Besonderheiten unseres Strafverfahrens mit einer Verteidigung eine schwere Verantwortung. Die Aufgabengebiete des Strafverteidigers und des Revisionsrichters überschneiden sich, und nur die gemeinsame kleine Fläche ist es, wo beide einander etwas zu sagen haben. Dazu bietet die mündliche Verhandlung vor dem Revisionsgericht eine hervorragende Gelegenheit. Man hat das bestritten. Vor einiger Zeit hat ein Revisionsrichter 19 die Meinung vertreten, der Verteidiger solle überhaupt nicht zum Revisionsgericht kommen dürfen. Die ganze Hauptverhandlung sei hier ein Scheingepränge. Das Beste, was der Verteidiger zur Entscheidung beitragen könne, sei eine sorgfältige schriftliche Revisionsbegründung. Die Entscheidung selbst müsse im Studierzimmer, in sorgfältiger, unprätentiöser Diskussion innerhalb des Senats erarbeitet werden. Sie pflege schon vor der Hauptverhandlung " Less, Revisionsurteil oder Revisionsbeschluß?, SJZ 1950, 68.

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festzuliegen20; rhetorische Künste, spontane Vortragseinfälle, persönliche Eindrücke könnten und sollten keinen Einfluß auf sie haben. Diese Auffassung hat im Schrifttum Widerspruch erfahren21, und auch ich möchte ihr ganz entschieden widersprechen. Für den Bundesgerichtshof jedenfalls treffen weder ihre Voraussetzungen noch ihre Ergebnisse zu. Zunächst darf ich Sie darüber beruhigen, daß bei uns die Entscheidungen nicht vor der Hauptverhandlung festliegen. Das würde sich in einem Fünfersenat rein technisch und arbeitsmäßig sehr schwer machen lassen. In einem Dreiersenat verkörpern der Vorsitzende und der Berichterstatter - also die beiden Mitglieder, denen die Akten bekannt sind zusammen die Mehrheit, im Fünfersenat sind sie die Minderheit. Es bedeutet hier also sehr viel weniger, wenn diese beiden sich etwa schon vorher einig sind. Deshalb fällt auch für diese beiden die Versuchung weg, vor der Sitzung eine solche Einigung herbeizuführen. Überraschungen von einem der drei anderen, die zusammen die Mehrheit bilden, führen häufig zu einer ganz neuen Sicht. In einem Fünfersenat könnten die Entscheidungen also nur dann vorher festgelegt werden, wenn zu diesem Zwecke regelrechte Beratungen zu fünft stattfänden, bei denen die drei anderen Beisitzer erst einmal genau mit dem Sachverhalt vertraut gemacht werden müßten. Dazu hätten wir gar keine Zeit. Der Senat tritt nur an den Sitzungstagen zusammen und ist dann mit den anstehenden Sachen völlig in Anspruch genommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von den Beisitzern es wagen würde, die anderen dann noch mit einer später anstehenden Sache zu befassen, und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die anderen sich darauf einlassen würden. Der Verteidiger steht hier also vor einem Kollegium, dessen Vorsitzender und Berichterstatter sich zwar schon zu einer bestimmten Meinung durchgearbeitet haben, aber völlig daran gewöhnt sind, daß diese Meinung nicht endgültig ist. Der Berichterstatter kennt auch die Meinung des Vorsitzenden noch nicht. Er hat ein schriftliches Votum gefertigt, das dem Senat vorliegt. Aber was der Senat dazu meint, erfährt er erst, nachdem die Hauptverhandlung vorbei ist. Ich würde gern noch mehr aus der Schule plaudern, wenn es notwendig wäre, um Sie davon zu überzeugen, daß Sie als Verteidiger fünf völlig aufgeschlossene und unvoreingenommene Zuhörer haben. Der Verteidiger hat beim Revisionsgericht außer und vor seinem eigenen Vortrag noch eine andere Aufgabe, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Die Mehrheit des Senats lernt den Sachverhalt nur durch den Vortrag des Berichterstatters kennen. Dieser Vortrag 20 21

Graßberger, Psychologie des Strafverfahrens, Wien 1950, S.326. Härtung, DRiZ 1950, 221 m . w . N .

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steht in der Hauptverhandlung gewissermaßen an Stelle der Vernehmung des Angeklagten und der Beweisaufnahme. Beim Bundesgerichtshof sind freie Vorträge üblich. Es ist nicht, wie in der Berufungsverhandlung, vorgeschrieben, das angefochtene Urteil zu verlesen. Allerdings wäre auch das eine korrekte und vielleicht eine besonders objektive Form der Berichterstattung. Aber wir ziehen den freien Vortrag vor. Erstens sind die Urteile vielfach allzu lang und ausführlich. Die Urteilsverfasser haben gewöhnlich nicht genügend Zeit, um kurze Urteilsgründe zu schreiben, wie das - nebenbei gesagt - auch von den Revisionsbegründungen gilt. Und zweitens geht es Revisionsrichtern wie allen anderen Menschen: es ist für sie weniger ermüdend, sich an einem Vormittage acht Sachen vortragen zu lassen als sie sich vorlesen zu lassen. Die vielleicht größere Objektivität beim Vorlesen würde also unter Umständen damit bezahlt werden, daß notgedrungen die Aufmerksamkeit nachließe. Das aber käme den Sachen nicht zugute. Die Entscheidungen würden dann praktisch in höherem Maße beim Berichterstatter liegen, also bei einem statt bei fünf Richtern. Nun fällt dem Verteidiger die Aufgabe zu, den Vortrag des Berichterstatters, nennen wir es ruhig, zu überwachen. Er kann gewiß sein, daß es nicht übelgenommen, sondern dankbar begrüßt wird, wenn er den Vortrag anhand des angefochtenen Urteils ergänzt oder erforderlichenfalls berichtigt. Dabei wird er allerdings gut tun, sich an den Wortlaut des Urteils zu halten, notfalls die betreffenden Stellen vorzulesen. Dadurch entgeht er dem Verdacht, als wolle er die Urteilsfeststellungen durch andere ersetzen. Wenn der Verteidiger nicht erscheint, trägt der Berichterstatter auch die Revisionsbegründung vor. Mancher Verteidiger würde wahrscheinlich überrascht sein, wie kurz sie dabei wird, und wie vieles in dem einen Satz zusammengefaßt wird: „Im übrigen beschränkt sich die Revision auf Angriffe gegen die Beweiswürdigung." Ist der Verteidiger anwesend, so werden nur die Verfahrensrügen vorgetragen. Sie werden fragen, warum man das nicht auch dem Verteidiger überläßt. Die Erklärung liegt in der Gewohnheit vieler Verteidiger, Dinge vorzutragen, die nur bei der Erörterung von Verfahrensrügen erheblich sein würden, ohne daß sie aber die Verfahrensrügen form- und fristgerecht erhoben hätten. Dadurch kann den drei Senatsmitgliedern, die die schriftliche Revisionsbegründung nicht kennen, das Folgen geradezu unmögÜch gemacht werden. Sie müßten dann den Vortrag des Verteidigers immer wieder mit der Frage an den Berichterstatter unterbrechen, ob diese oder jene Verfahrensrüge erhoben worden sei. Deshalb teilt der Berichterstatter das von vornherein mit. Auch dabei sollte der Verteidiger ihn aber kontrollieren. Es kommt vor, daß er glaubt, eine Verfahrensrüge erhoben zu haben, die der Berichterstatter in der schriftlichen Revisionsbe-

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gründung nicht findet. Das kann eine Auslegungsfrage sein. Auch hier kann es sich also empfehlen, die betreffenden Sätze im Wortlaut mitzuteilen. Glauben Sie aber bitte nicht, daß diese Aufgaben ein Grund sein könnten, dem Angeklagten für das Revisionsverfahren einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Diese Überwachung des Berichterstatters obliegt in erster Linie dem Vorsitzenden, daneben auch dem Bundesanwalt, und bei der Sorgfalt, mit der diese beiden Stellen besetzt werden, liegt es kaum im Sinne der Verfahrensordnung, nun noch auf Staatskosten einen weiteren Helfer aus dem Kreise der Anwaltschaft zu bestellen. Das Strafprozeßrecht kennt keinen Fall der notwendigen Verteidigung vor dem Revisionsgericht. Beim Bundesgerichtshof, und meines Wissens auch bei anderen Revisionsgerichten, sind Beiordnungen nicht üblich. Daran wird sich auch zum mindesten so lange nichts ändern, als die große Menge der Verteidiger das Revisionsverfahren mit seinen Besonderheiten behandelt wie ein Stiefkind". Erscheint aber ein Verteidiger auf Kosten des Angeklagten, so wird er um so willkommener sein, je mehr er sich zur Mitarbeit berufen zeigt. Wenn ich nun auf das Plädoyer des Verteidigers eingehe, so muß ich zunächst noch einmal meinen Kehrreim wiederholen: bitte keine Angriffe auf die tatsächlichen Feststellungen. Für einen Verteidiger, der von der Unschuld seines Angeklagten überzeugt ist, mag es schwer sein, das dem Revisionsgericht nicht vorzutragen. Aber bitte bedenken Sie, wie wenig inneres Gewicht solchen Ausführungen zukommt. Die Wahrheit ist uns allen unzugänglich, auch dem Verteidiger. Auch er war bei der Tat nicht zugegen. U n d nun klagt er den Tatrichter an einem Orte, w o der sich nicht verteidigen kann, des Irrtums an. Gewiß steht der Verteidiger dem Angeklagten näher und mag starke Gründe haben, ihm zu glauben. Man hat den Verteidiger mit einem Eisberg verglichen, von dem nur ein Siebtel zu sehen ist, während sechs Siebtel unter der Oberfläche bleiben. Aber bei alledem wirken Tatsachenausführungen immer leicht wie Variationen über das Thema: „Der Angeklagte ist unschuldig, denn er hat es mir selbst gesagt." Solche Ausführungen sind nicht nur vergebens, sondern sie sind ausgesprochen schädlich und gefährlich f ü r den Angeklagten. Sie führen nicht nur von dem einzigen Thema fort, mit dem das Revisionsgericht sich beschäftigen darf, sondern sie hinterlassen häufig den Eindruck, als halte der Verteidiger selbst seine rechtlichen Angriffe gegen das Urteil für nicht stark genug. U n d selbst vom rein rhetorischen Standpunkt sind sie der schlimmste Fehler, den ein forensischer Redner, ein Redner überhaupt begehen kann: sie sind für die Zuhörer langweilig. Das Revisionsgericht kann und darf 22

Graß berger, a . a . O .

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kein Interesse für sie haben. Glauben Sie mir, daß es geradezu eine Qual ist und daß man - je nach Temperament - gegen eine Verstimmung oder gegen ein Abgleiten der Aufmerksamkeit ankämpfen muß, wenn einem ein Sachverhalt vorgetragen wird, während man gerade einen abweichenden Sachverhalt zu beurteilen hat. Viele Verteidiger scheinen es selbst gar nicht zu merken, wenn sie die Tatsachenfeststellungen angreifen. Es ist ein unzulässiger Angriff, wenn das Urteil auch nur durch weitere Tatsachen ergänzt wird, die nicht darin stehen. Das Revisionsgericht binden auch die Feststellungen zum inneren Tatbestand. Wenn das Landgericht sagt, der Angeklagte habe dieses und jenes gewußt, dann können Sie dagegen nicht sagen, das sei „nicht dargetan", das Urteil enthalte „keine Feststellungen", aus denen sich das ergebe. Für das Revisionsgericht hat er es gewußt; der Satz des angefochtenen Urteils, daß er es gewußt habe, ist selbst die erforderliche Feststellung. Ferner ist die Auslegung mündlicher oder schriftlicher Erklärungen, vertraglicher Abmachungen, beleidigender Äußerungen usw. ausschließlich Sache des Tatrichters. Man kann also mit der Revision weder geltend machen, eine festgestellte Äußerung bedeute nach ihrem Wortsinn etwas anderes, als der Tatrichter annehme, noch auch, der Angeklagte habe sie nicht so gemeint, wie das Urteil „unterstelle". In 95 von hundert Fällen sind es auch reine Tatsachenangriffe, die sich hinter der Rüge verbergen, die Denkgesetze, die Lebenserfahrung, Auslegungsregeln oder der Satz „in dubio pro reo" seien verletzt, es sei eine Vermutung zur Feststellung erhoben oder dergleichen. Bei den „Denkgesetzen" wird immer wieder eines verkannt. Im Bereich der reinen Logik ist ein Schluß, der nicht zwingend ist, schlechthin ein Trugschluß, ein Verstoß gegen die Denkgesetze. Die Gerichte sind aber so gut wie niemals in der Lage, mit logisch zwingenden Schlüssen zu arbeiten. Deshalb können wir keine zwingenden Schlüsse von ihnen verlangen. Der Schluß von einem Geständnis auf die Täterschaft ist nicht zwingend, denn es gibt falsche Geständnisse. Der Schluß vom Augenschein ist nicht zwingend, denn es gibt Sinnestäuschungen. Die glaubwürdigen Zeugen können sich irren und haben sich schon oft geirrt. Es ist überhaupt keine Möglichkeit denkbar, die Überzeugung von einem bestimmten tatsächlichen Hergang auf lauter denkgesetzlich zwingende Schlüsse zu gründen. Daß ein Zeuge die Wahrheit sagt, ja daß ich ihn auch nur richtig verstehe, ist vor dem Forum der Logik immer nur eine Prämisse, die sich mit logischen Mitteln weder beweisen noch widerlegen läßt. Wenn das ein Revisionsgrund wäre, so hätte kein einziges Urteil Bestand. Ein revisibler Denkfehler ist dagegen der innere Widerspruch. E r schadet aber nur, wenn er nicht gelöst werden kann. Häufig ergibt die unbefangene Betrachtung, daß einer der beiden scheinbar Widerspruchs-

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vollen Sätze nicht so gemeint sein kann, wie er lautet. Wenn ein weiterer und ein engerer Satz miteinander in Widerspruch zu stehen scheinen, so ist oft der weitere als Regel, der enge als Ausnahme gemeint. Vor allem ist es kein Widerspruch des Urteils, wenn es auf widerspruchsvolle Beweisergebnisse gegründet ist. Ein schädlicher Widerspruch liegt dann vor, wenn das Revisionsgericht nicht erkennen kann, auf welchen Sachverhalt das Recht angewendet werden soll. Revisible Denkfehler sind weiterhin der Zirkelschluß (petitio principii) und die Begriffsvertauschung (quaternio terminorum). Auch bei den Erfahrungssätzen werden die Möglichkeiten der Revision gewöhnlich überschätzt. Der Tatrichter verstößt nicht gegen Erfahrungssätze, wenn er etwas erfahrungsgemäß Unwahrscheinliches feststellt. Gerade auf dem Gebiet des Strafrechts wird oft das Unwahrscheinlichste Wirklichkeit; also kann man dem Tatrichter nicht verbieten, es festzustellen. Auf ein solches Verbot würde aber die Aufhebung wegen Erfahrungswidrigkeit vielfach hinauslaufen; denn der Aufhebungsgrund bindet den Tatrichter. Es gibt hier für die Revision nur zwei Möglichkeiten. Die erste betrifft den Fall, daß den Feststellungen ein Erfahrungssatz entgegensteht, von dem keine Ausnahmen vorkommen. Beispiel: Der Tatrichter nimmt an, der Angeklagte sei der Erzeuger eines Kindes, obwohl nach seinen Feststellungen das Kind die Blutgruppe A, der Angeklagte und die Mutter die Blutgruppe 0 haben. Die zweite Möglichkeit betrifft den Fall, daß der Tatrichter die Feststellung ausdrücklich auf einen Erfahrungssatz zurückführt, der in Wahrheit nicht gilt. Der Ton liegt hier auf dem Wort „ausdrücklich"; so etwas wird nicht vermutet. Hier ist es gefährlich, Beispiele zu nennen. Denn häufig hat der Tatrichter nur scheinbar einen allgemeinen Satz aufgestellt, in Wahrheit aber nur den vorliegenden Fall gemeint. Dann bleibt die Feststellung bindend. Der dritte Kelch, der in keiner, aber auch in keiner Sitzung an dem Senat vorübergeht, ist der Satz „in dubio pro reo". So häufig, wie die Verletzung dieses Satzes gerügt wird, so selten ist er wirklich verletzt. Und gerade in diesen wenigen Fällen wird die Verletzung von der Revision gewöhnlich nicht bemerkt. Gegen den Satz „in dubio pro reo" verstößt ein Urteil nur dann, wenn gegen den Angeklagten etwas verwertet wird, wovon das Gericht selbst ausdrücklich sagt, daß es nicht erwiesen ist. Ein „dubium" besteht nicht schon dann, wenn eine Tatsache sich anzweifeln läßt, sondern erst dann, wenn der Tatrichter selbst zum Ausdruck bringt, daß er seine Zweifel nicht überwunden hat. Praktisch sind es eigentlich nur zwei Fälle, in denen das gelegentlich vorkommt: Es wird strafschärfend berücksichtigt, daß der Angeklagte „wahrscheinlich" noch mehr auf dem Gewissen hat, als ihm nachzuweisen ist. Denn „mehr, als nachzuweisen", das kann nur heißen: „nicht

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nachgewiesen". Oder ein Indizienbeweis wird auf Umstände gegründet, von denen das Urteil selbst sagt, sie hätten sich nicht mit Sicherheit feststellen lassen. (Gelegentlich führen übrigens Verteidiger den Satz „in dubio pro reo" in einem ganz anderen Sinne an, nämlich zur Begründung des Wunsches, ein als zu hart empfundenes Gesetz „im Zweifel" milde auszulegen. Das ist freilich eine Rechtsausführung, jedoch eine völlig falsche. Gesetze müssen nach Wortlaut, Zusammenhang, Sinn und Zweck ausgelegt werden. Ist man über den Sinn und Zweck im unklaren, so müssen solche „Zweifel" durch juristische Gedankenarbeit behoben werden. Eine Auslegungsregel „in dubio pro reo" gibt es nicht.) Gerade der Verteidiger sollte Verständnis dafür haben, daß der Revisionsrichter ihm auf das Gebiet der Tatsachen nicht folgen kann. Denn auch für den Anwalt gibt es in jedem Verfahren eine ganz ähnliche unübersteigbare Schranke. Von dem Revisionsrichter zu verlangen, er solle um der wirklichen Wahrheit und um des wahren Rechts willen die festgestellten Tatsachen beiseite schieben, ist ebenso unmöglich, wie von dem Rechtsanwalt zu verlangen, er solle im Interesse des wahren Rechts zugunsten seines Gegners plädieren. Gewiß haben beide nur dem wahren Recht zu dienen, aber beide nur innerhalb von Grenzen; und gerade diese Umgrenzung dient letztlich auch dem Recht und der Wahrheit. Es ist ein bescheidener Dienst und er fordert die Fähigkeit zur Bescheidung. Andererseits sollten die Grenzen aber auch ausgeschritten werden. Nicht selten scheuen die Verteidiger sich, vor dem Revisionsgericht da von Tatsachen zu sprechen, wo das unbedingt erforderlich ist. Es handelt sich um die Tatsachen, mit denen die Verfahrensrügen begründet werden müssen. Hier verlangt § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich die Angabe von „Tatsachen", mit diesem Wort. Dabei halten sich nun die allermeisten Revisionen viel zu sehr zurück. Die einen glauben, es sei mit dem Satz getan: „Gerügt wird die Verletzung der §§244, 261, 267 S t P O . " Dieser Satz kann ebensogut ungeschrieben bleiben. Was das Revisionsgericht braucht, sind nicht die Paragraphen, sondern die Tatsachen, in denen der Verfahrensverstoß liegen soll, und diese Tatsachen können gar nicht eingehend genug geschildert, gar nicht genau genug bezeichnet werden. Es steht dem Revisionsgericht rechtlich nicht zu, im Protokoll oder in den Akten nach diesen Tatsachen zu suchen. - Andere wieder glauben, das sei nun eine Gelegenheit, doch die Tatsachen vorzutragen, die dem Revisionsgericht verschlossen sind. Dabei sind die beiden Gruppen von Tatsachen nicht gar so schwer auseinanderzuhalten. Alles was die Schuld- und Straffrage betrifft, alles was vor Beginn des Verfahrens geschehen sein soll, ist der eigenen tatsächlichen Prüfung des Revisionsgerichts entzogen (soweit es sich nicht etwa um Prozeßvoraussetzungen handelt, deren Fehlen auch ohne Rüge von Amts wegen

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berücksichtigt wird). Tatsachen zur Schuld- und Straffrage dürfen also auch zur Begründung von Verfahrensrügen nicht vorgetragen werden. Verfahrensrügen müssen sich auf Tatsachen stützen, die im Verfahren geschehen sind, oder, obwohl sie hätten geschehen müssen, nicht geschehen sind. Diese Tatsachen müssen dem Revisionsgericht bewiesen werden. Im allgemeinen geschieht das durch das Protokoll, oder aber durch dienstliche Erklärungen der Beteiligten. Damit sie rechtzeitig eingeholt werden können, müssen sie innerhalb der Frist und in der Form der Revisionsbegründung behauptet werden. Sie können also nicht etwa noch in der Hauptverhandlung nachgebracht werden. Es geschieht immer wieder, daß ein Verteidiger das versucht. Aber der Verteidiger muß auf Fragen zu diesen Rügen gefaßt sein, und diese Fragen können auf tatsächlichem Gebiet liegen. Dazu ein Beispiel. § 2 6 5 S t P O verlangt einen Hinweis auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes, wenn der Angeklagte aufgrund eines anderen Strafgesetzes verurteilt werden soll. O b der Hinweis erfolgt oder nicht erfolgt ist, ergibt sich aus dem Protokoll. Da entstehen also keine Beweisschwierigkeiten. Aber wenn die Rüge, daß der Hinweis unterblieben ist, Erfolg haben soll, muß wenigstens die Möglichkeit bestehen, daß das Urteil auf der Unterlassung beruht. Sie wissen, wie es bei diesem Hinweis oft hergeht. Das Gericht stößt erst bei der Urteilsberatung auf den veränderten Gesichtspunkt. Es erscheint zur Urteilsverkündung und gibt vorher noch den Hinweis. In zahlreichen Fällen geschieht dann weiter nichts, als daß der Staatsanwalt und der Verteidiger ihre Anträge wiederholen, der Angeklagte noch einmal das letzte Wort erhält, aber nichts sagt, und daß dann nach kurzer Verständigung das Urteil verkündet wird. Damit ist der Vorschrift genügt. Es ist äußerst unbefriedigend, ein Urteil nur deshalb aufzuheben, weil diese Zeremonie unterblieben ist. Das Revisionsgericht wird also erwägen, ob der Hinweis überhaupt zu etwas anderem hätte führen können. Wenn das zweifelhaft ist, so liegt es nahe, den Verteidiger kurzerhand zu fragen, ob und wie er denn den Angeklagten nach einem solchen Hinweis anders verteidigt haben würde". Auf eine derartige Frage sollte er vorbereitet sein. Im übrigen müßten Rechtsausführungen den Kern seines Vortrages bilden. Dazu läßt sich allgemein nicht sehr viel sagen. Es soll nur zweierlei hervorgehoben werden. Erstens vergessen viele Verteidiger, und unter ihnen oft gerade die besten und die selbständigsten Köpfe, daß jeder Senat des Bundesgerichtshofs an die Vorentscheidungen der anderen Senate gebunden ist. Eines der besten Plädoyers, das uns neulich für eine genußreiche halbe Stunde gefesselt hat, mußte in der Beratung mit dem einen Satz abgetan werden, daß die betreffende Frage bereits von 23

BGHSt. 2, 250.

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mehreren anderen Senaten in veröffentlichten Urteilen anders entschieden war, als der Verteidiger sie entschieden haben wollte. Gerade in diesem Falle wäre es ganz aussichtslos gewesen, etwa den Großen Senat anzurufen; Sie können einen so ungewöhnlichen Schritt überhaupt nur dann vorschlagen, wenn Sie sehr stichhaltige Gründe gegen die Vorentscheidungen haben. Der Verteidiger sollte sich also, ehe er in eine Revisionsverhandlung geht, eingehend mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den betreffenden Fragen vertraut machen. Andernfalls ist er in Gefahr, seine Mühe und seine Zeit nutzlos zu vergeuden von der Zeit des Senats nicht zu sprechen. In dieser wie auch in jeder anderen Beziehung wäre es gut, wenn die Verteidiger sich hier in Berlin, wo die Gelegenheit dazu besteht, ein Beispiel nehmen würden an den ganz hervorragenden Plädoyers, die von den Vertretern der Bundesanwaltschaft gehalten zu werden pflegen. Sie tun den Bundesanwälten übrigens Unrecht, wenn Sie sie als „Vertreter der Anklage" bezeichnen. Das sind sie schon der Form nach nicht - und der Sache nach pflegen sie etwa in der Hälfte aller Fälle, die zur Verhandlung kommen, ausgesprochene und für jeden Anwalt vorbildliche Vertreter der Verteidigung zu sein. Zweitens wäre es dankenswert, wenn die Rechtsausführungen bisweilen mehr auf den Kern und weniger auf die Peripherie des Rechts zielen würden. Die Frage, ob Taten im Fortsetzungszusammenhang stehen, oder ob Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, liegen nach meiner Auffassung an der Peripherie dessen, worauf ein Revisionsgericht hingeleitet werden sollte. Allein zum §73 StGB 2 4 gibt es jetzt schon beinahe 25 Leitsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs. Dabei wird ein vernünftiger Tatrichter einen Angeklagten im Ergebnis meist ziemlich gleich behandeln, ob nun Einzeltaten oder Fortsetzungszusammenhang, Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt. Meist wird der Angeklagte also durch Fehler auf diesem Gebiet nicht beschwert sein. Selbst wenn aufgehoben und zurückverwiesen würde, wird er nach aller Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Strafmaß zu rechnen haben. Ausnahmen kommen freilich vor. Aber nicht das sind die wesentlichen, die ernsten und großen Auffassungen, die unserer Zeit auf dem Gebiet des Strafrechts gestellt sind, und an die wir unsere beste Kraft wenden sollten. Bisweilen werden uns Ausführungen vorgetragen, deren Sinn wir erst dann richtig verstehen, wenn wir bemerken, daß der Angeklagte oder seine Angehörigen im Zuhörerraum sitzen. Es hat vielleicht wenig Zweck, dazu etwas zu sagen. Verteidiger, die gar nicht für den Richter sprechen, werden den Vorstellungen des Richters nicht viel Gewicht beimessen. Es ist eine heikle Frage des Taktes, ob und wann es sich für 24

§ 73 StGB a. F. betraf die Tateinheit und wurde durch § 52 StGB ersetzt.

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den Verteidiger empfiehlt, den Angeklagten in die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht mitzunehmen. Nach meiner Auffassung sollte er es aber dann nicht tun, wenn ihn die Anwesenheit des Angeklagten veranlassen würde, anders zu sprechen, als er sonst sprechen würde. Es muß auf den Richter einen ungünstigen Eindruck machen, wenn er bemerkt, daß nicht er, sondern der Angeklagte der wahre Adressat des Plädoyers ist. Es sollte in diesem späten Abschnitt des Verfahrens nicht mehr nötig sein, mit einem solchen Mittel um das Vertrauen des Angeklagten zu werben. Ein Verteidiger, der das tut, verdient jedenfalls das Vertrauen des Angeklagten in geringerem Maße. Er dürfte sich nicht beklagen, wenn das bisweilen auch in Einwürfen und Fragen vom Richtertisch her zum Ausdruck käme. Bisweilen ist es nicht verkehrt, den Angeklagten selbst zu Worte kommen zu lassen. Es sind uns schon mehrfach Fälle vorgekommen, in denen der Angeklagte selbst, wenn auch in unfachmännischen und unbeholfenen Worten, rechtlich den Nagel auf den Kopf getroffen und damit die Entscheidung zu seinen Gunsten beeinflußt hat. Das ist etwas sehr Legitimes; denn was wäre das Strafrecht, wenn es in seinem wesentlichen Kern gerade von seinen eigentlichen Adressaten nicht verstanden werden könnte und eine Sache von Fachleuten bleiben müßte! Einige der besten Plädoyers, die wir bisher gehört haben, wurden von Verteidigern gehalten, die erst in der Revisionsinstanz in das Verfahren eingetreten waren und mit dem Angeklagten kaum persönliche Fühlung gehabt hatten. In dieser Lage ist der Verteidiger darauf angewiesen, so zu arbeiten wie ein Revisionsrichter. Infolgedessen hat er es in dieser Lage am leichtesten, zum Vorteil des Angeklagten dem Revisionsgericht eine Hilfe zu leisten, von der er gewiß sein darf, daß sie das aufmerksamste Gehör und die dankbarste Anerkennung findet. Um diese Einstellung sollte der Verteidiger sich deshalb auch dann bemühen, wenn er schon in der ersten Instanz mitgewirkt hat. Er sollte bei der Vorbereitung auf die Revisionsverhandlung zu vergessen suchen, wie er selbst die Tatfrage beurteilt, und sollte sich die Urteilsfeststellungen innerlich zu eigen machen. Dann kommt er dem Revisionsrichter psychologisch am nächsten. Man könnte auf den Gedanken kommen, daraus die Forderung nach besonderen Revisionsverteidigern abzuleiten, wie ja auch in Zivilsachen beim Bundesgerichtshof nur wenige Rechtsanwälte zugelassen sind. Ich würde eine solche Spezialisierung bedauern. Sie würde zwar ganz gewiß den Strafsenaten die Arbeit auf die Dauer beträchtlich erleichtern. Sie würde sicherlich auch die Zahl der Beschlußverwerfungen erheblich vermindern - jener allzu vielen Revisionen, die entweder gar nicht eingelegt oder anders begründet werden müßten. Aber gleichzeitig würde diese Spezialisierung die Hoffnung vermindern - einstwei-

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len ist es eine Hoffnung daß die Mitarbeit am Revisionsverfahren den Verteidigern Impulse für ihre erstinstanzliche Tätigkeit gibt. Daß sie das auf die Dauer könne, ist mein Wunsch und meine Uberzeugung. Ein Verteidiger, der öfter zu uns kommt, müßte erkennen, daß die Revision nicht eine Fortsetzung oder eine Wiederholung der ersten Verhandlung ist, sondern daß beide Instanzen organische Teile eines Ganzen bilden, die sinnvoll ineinandergreifen und deren jeder den anderen ergänzt. Gerade bei dieser gegenseitigen Ergänzung ist nach meiner Ansicht die verständnisvolle Mitarbeit der Verteidiger wertvoll. Dieser Aufgabe kommt es zugute, wenn ein Verteidiger im Regelfalle den Prozeß durch beide Instanzen begleitet. Die Aufgabe des Verteidigers erscheint mir unendlich schwer, aber auch beneidenswert schön. Wenn ich nicht Richter wäre, möchte ich wohl Strafverteidiger sein.

Das Wirken des Strafrichters in der Revisionsinstanz 1 (1957) „Jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je höher das Amt, desto tiefer die Bindung. J e größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. J e stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür." Das ist, wie einige von Ihnen sich erinnern werden, eine Vorschrift der Ordensregel, über die Hermann Hesse in seinem „Glasperlenspiel" den Helden Josef Knecht, den späteren Meister dieses die ganze Kultur begreifenden Spiels, als jungen Menschen bei seinem Eintritt in den Orden meditieren läßt. Die Vorschrift ist gut und richtig. Als allgemeiner Grundsatz für die Haltung eines Amtsträgers sollte sie sich von selbst verstehen. Sie paßt nicht nur in das Zukunftsland Kastalien, in die pädagogische Provinz, in den Orden der Glasperlenspieler, sondern erst recht in die Gegenwart und in die Wirklichkeit. Sie kennzeichnet besonders treffend den Schritt vom Tatrichter zum Revisionsrichter. Nimmt man einmal diese Regel zum Maßstab der Höhe eines Amtes, so ist jedes Richteramt, auch das bescheidenste, ein sehr hohes Amt, als solches ausgewiesen durch strenge Bindungen, durch eine zuchtvolle, an das Gesetz gefesselte Denk- und Arbeitsweise, durch die Verpönung jeder Art von Willkür. Willkür ist für den Richter ein Verbrechen, Rechtsbeugung, mit Zuchthaus bedroht. W o der Richter in seinem Amt überhaupt tätig werden darf, da ist dieses Dürfen gleichzeitig ein Müssen. Weder das O b noch das Wie seiner Tätigkeit ist ihm überlassen. Wo er etwas zu entscheiden hat, da darf es kein anderer an seiner Stelle tun, nicht einmal ein anderer Richter. Weder Initiative noch Reichtum an Einfällen ist für ihn ein Feld, auf dem er die Stärke seiner Persönlichkeit bewähren dürfte. Man braucht nur die Arbeit eines Verwaltungsbeamten der gleichen Besoldungsgruppe mit der Arbeit des Richters zu vergleichen, oder an den Lehrberuf, an das Künstlertum, an den Staatsmann, an den Arzt zu denken, um sich der Strenge bewußt zu werden, die unter allen Führungsberufen gerade dem des Richters zu eigen ist.

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Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1957.

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Gleichwohl hat der Richter noch Freiheit. Es ist eine alte Sache, daß man das Gute oft erst erkennt, wenn man es verloren hat. Daß auch der Richter noch frei sein kann, das bemerkt er am deutlichsten, wenn ein „Aufstieg in der Stufe der Amter" einen weiteren empfindlichen Verlust an Freiheit mit sich bringt. Er lernt neue, bisher nicht erfahrene Bindungen kennen, wenn er Revisionsrichter wird. Denn nun legt ihm das Gesetz mehrere zusätzliche Fesseln an: die Bindung an die tatsächlichen Feststellungen des Untergerichts, die Bindung an fremde Ermessensentscheidungen, und die Bindung an die Rechtsentscheidungen anderer Revisionsgerichte. Der Tatrichter ist bei seinen Feststellungen frei. Es ist eine der wenigen Stellen, an denen in unserer Verfahrensordnung das Wort „frei" vorkommt: „Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung." Allerdings hat es, wie Sie wissen, mit dieser Freiheit eine besondere Bewandtnis. Es ist eine Freiheit von gesetzlichen Vorschriften, aber nicht etwa eine Ermessensfreiheit. Es wäre ein grobes Mißverständnis, zu glauben, es stünde im Ermessen des Richters, was er an Tatsachen als festgestellt ansehen „will", ob er dem einen oder dem anderen Zeugen glauben „will". Von Willensfreiheit ist hier nicht die Spur vorhanden. Wovon man überzeugt ist, das ist keine Willensentscheidung. Es ist - am Ende einer vollständigen und einwandfrei durchgeführten Beweisaufnahme - ein eher passives Erlebnis, bei dem man keine Wahl des Ermessens hat. Die „Freiheit" besteht nur darin, daß man sich diesem inneren Erlebnis überlassen darf und ihm folgen muß. Nur über den vorangegangenen äußeren Ablauf des Verfahrens, nicht über das innere Zustandekommen der Überzeugung schuldet der Richter Rechenschaft. Vor seinem Gewissen verantwortet er nur, daß das auch wirklich seine eigene, seine innerste Überzeugung ist, und nicht bloß die Vorstellung, es werde „schon so gewesen sein". Diese Freiheit ist also, bei Licht besehen, auch eine Form der Bindung, einer strengen Bindung sogar, nur daß sie eben ausschließlich vom eigenen Verstand des Richters kontrolliert und nur vor seinem eigenen Gewissen, vor keiner anderen Instanz verantwortlich wird. Aber auch diese Freiheit büßen Sie ein, wenn Sie Revisionsrichter werden. Sie müssen jetzt von dem ausgehen, was nicht Sie selber, sondern was andere Richter für Tatsachen halten. Sie kennen dieses Gefühl von den Fällen her, wo Sie mit Ihrer tatsächlichen Überzeugung in der Minderheit geblieben sind. Aber da haben Sie wenigstens eine Möglichkeit gehabt, die Überzeugung der anderen zu beeinflussen, entstehen zu sehen, sich in Rede und Wechselrede von ihrem wirklichen Vorhandensein zu überzeugen. Als Revisionsrichter haben Sie, was die Tatsachen betrifft, überhaupt keine Chance. Sie sind gleichsam ständig, ohne

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überhaupt gefragt zu werden, in der überstimmten Minderheit. Sie müssen jetzt immer von dem ausgehen, was nicht Sie selbst, sondern was andere Richter für Tatsachen halten. Stellen Sie sich das nicht leicht vor. Sie dürfen Ihrer eigenen Entscheidung jetzt nur das zugrunde legen, was Sie dem angefochtenen Urteil an Feststellungen entnehmen. Aber auch als Revisionsrichter lösen Sie ja nicht Fälle, sondern Sie entscheiden Schicksale lebendiger Menschen, die sich Ihnen bisweilen vor Augen stellen. Daß der Revisionsrichter die Beweisaufnahme nicht selbst erlebt, verkleinert nicht, sondern vergrößert die Anforderungen an seine Einbildungskraft, oder vielleicht deutlicher gesagt, an sein Vorstellungsvermögen. Er muß sich das, was er da in den gelassenen Sätzen des Tatrichters liest, was ihm der Berichterstatter in ruhigem Tonfall vorträgt, so farbig und lebendig vorstellen wie er kann. Er sieht nur Papier, aber er soll urteilen über Menschen; das darf er keinen Augenblick vergessen. Glauben Sie, dabei sei es möglich, sich innerlich von der Frage freizumachen, ob sich das auch wohl in Wirklichkeit alles genau so zugetragen hat, wie es da geschrieben steht? Vielleicht gibt es Revisionsrichter, die das können; ich habe keinen Zweifel, daß das eine kleine Minderheit ist. Fragen Sie sich selbst, ob Sie das könnten; fragen Sie sich vielleicht auch, ob Sie als Angeklagter - schuldig oder unschuldig - vor einem Richter stehen möchten, der seelisch imstande wäre, seine eigene Meinung, seine eigenen Zweifel an dem, was über Sie geschrieben steht, vollkommen zu unterdrücken; der imstande wäre, darüber gar keine Meinung, gar keine Zweifel zu haben. Aber die Meinung des Revisionsrichters über die Tatsachen gilt nicht; auch dann nicht, wenn ihm noch so starke Bedenken gegen die Richtigkeit der Feststellungen kommen. Es ist seine strenge Pflicht, von diesen Bedenken abzusehen. Der Angeklagte, wenn er persönlich erscheint oder wenn er schreibt, und auch der Verteidiger tun regelmäßig alles, um ihm die Erfüllung dieser Pflicht schwer zu machen - oder vielleicht sollte man sagen: um ihn ihre Schwere besonders drückend empfinden zu lassen. Denn was im Strafprozeß die Gemüter fast immer leidenschaftlich bewegt, ist nicht der Kampf ums Recht, sondern der Kampf um die Tatsachen. Sie kennen das. Bei uns sollte es zwar anders sein, aber das versteht kein Angeklagter; das verstehen auch nicht alle Verteidiger. Auch bei uns ist es ganz selten, daß der Angeklagte sagt: ich durfte das tun, was da festgestellt ist. In 99 von 100 Fällen sagt er auch bei uns: ich habs nicht getan, nicht so, alles war ganz anders. Er fleht uns manchmal an, ihm zu glauben; es ist bisweilen sehr hart, ihm entweder in der Verhandlung oder in den Urteilsgründen klarmachen zu müssen, daß wir ihm gar nicht glauben dürfen, daß das gar nicht die Frage ist, vor der wir stehen.

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Wir hatten einmal über die Revision eines Rechtsanwalts zu entscheiden, der wegen Beihilfe zu einer falschen Versicherung an Eides Statt verurteilt worden war. Diese eidesstattliche Versicherung war von einer Mandantin in einem früheren Strafprozeß abgegeben worden, in dem er sie verteidigt hatte. Er suchte uns nun davon zu überzeugen, daß erstens die Versicherung gar nicht falsch gewesen war, und daß er zweitens wenigstens an ihre Richtigkeit geglaubt hatte. Er tüftelte an den Feststellungen herum und suchte sie vergeblich als fehlerhaft darzutun. Wir mußten unsere Ohren gegen alles das verschließen, obwohl es sehr eindringlich und schier verzweifelt klang. Denn wenn wir auf ihn gehört hätten, hätten wir ihm niemals helfen können. Wir sprachen ihn frei, weil es keine gültige eidesstattliche Versicherung eines Angeklagten in einem gegen ihn selbst gerichteten Verfahren gibt, und weil es zu dieser gar nicht strafbaren Tat auch keine strafbare Beihilfe gibt. Darauf war er, in den Tatsachen verfangen, gar nicht gekommen, und er war über dieses Ergebnis sehr erstaunt. Und das war ein Rechtsanwalt, und gar nicht einmal ein schlechter. Wir haben ihn später in anderen Sachen als tüchtigen Verteidiger kennengelernt. Der Revisionsrichter muß einen kühlen Kopf auch da bewahren, wo die Wärme des Herzens, ohne die niemand ein guter Richter sein kann, ihn mitreißen will. Er kann und darf sehr oft, öfter als der Tatrichter, nicht das tun, was er eigentlich tun möchte. Als ich Tatrichter war, da pflegten wir zu denken und zu sagen: Das Reichsgericht liest nicht nur das Urteil, sondern auch die Akten; und wenn ihm dann Bedenken gegen die tatsächlichen Feststellungen kommen, dann sucht und findet es einen „Dreh", um das Urteil aufzuheben. Lassen Sie uns ganz offen und vertrauensvoll miteinander über diese Sache sprechen. So etwas ist nicht undenkbar, und es ist auch gewiß vorgekommen. Auch ich selbst will nicht bestreiten, dergleichen schon unternommen zu haben. Aber grundsätzlich tragen diese Dinge ihre Unmöglichkeit in sich selbst, und die Erfahrung belehrt den Revisionsrichter im Laufe der Zeit immer mehr, daß man damit gewöhnlich nicht durchkommt. Sie erinnern sich vielleicht an das alte Märchen vom Gevatter Tod. Ein armer Mann hatte bei seinem jüngsten Sohn den Tod zum Gevatter gebeten. Als der Sohn zu Jahren gekommen war, führte der Tod ihn in den Wald, zeigte ihm ein Kraut und sprach: „Jetzt gebe ich dir dein Patengeschenk. Wenn man dich zu einem Kranken ruft, wirst du mich erblicken. Stehe ich zu Häupten des Kranken, so gibst du ihm von diesem Kraut, und er wird genesen. Stehe ich aber zu seinen Füßen, so mußt du sagen, daß keine Hilfe ist und der Kranke sterben muß." Der Arzt wurde sehr berühmt, so daß man ihn rief, als der König krank wurde. Der Tod stand zu Füßen. Weil man dem Arzt aber für die

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Heilung viel versprochen hatte - jetzt kommt es! drehte er den Kranken herum, so daß ihm der Tod zu Häupten stand, gab ihm das Kraut ein, und er wurde gesund. Der Tod sprach zum Arzt: „Einmal sehe ich dir das nach, weil du mein Pate bist; tust du das noch einmal, so nehme ich dich selbst mit." So kam es auch: bei der kranken Königstochter, die ihm zur Frau versprochen war, machte der Arzt es ebenso; auch sie wurde gesund, aber den Arzt holte der Tod. Treffender kann man die Lage des Revisionsrichters nicht schildern. Er könnte oft einen „Dreh" finden; es geht auch vielleicht einmal gut; aber auf die Dauer muß das ein schlimmes Ende nehmen. Es gibt einen sehr bekannten Fall eines solchen „Drehs": das sogenannte „Badewannenurteil" des Reichsgerichtes, RGSt. 74, 84, in dem ausgesprochen wurde, daß auch jemand, der alle Tatbestandsmerkmale in eigener Person verwirklicht, nicht als Täter, sondern nur als Gehilfe bestraft werden kann, wenn er in fremdem Interesse handelt - und das beim Mord. Die Schwester einer unehelichen Mutter hatte deren Kind in der Badewanne ertränkt und war wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Dem Reichsgericht erschien das unter den ganz besonderen Umständen des Falles zu hart. Wir kennen die Geschichte aus einer späteren Veröffentlichung eines der Richter. U m zu helfen, überdrehte es die subjektive Teilnahmelehre. Die Angeklagte wurde vor dem Tode bewahrt; aber die Folgen nicht nur für das Ansehen des Reichsgerichts, sondern für die Rechtssicherheit und für die Gerechtigkeit waren sehr schlimm. Unzählige Fälle sind daraufhin ungerecht entschieden worden. Das Reichsgericht wurde wegen der Entscheidung hart angegriffen. Sie goß den grundsätzlichen Gegnern der subjektiven Teilnahmelehre Wasser auf die Mühle, so daß die Gefahr entstand, das Pendel werde nun nach der anderen Seite ausschwingen, das bisher Erarbeitete werde verlorengehen, die ganze Teilnahmelehre in Unordnung geraten. Nun könnte ein Schlauberger sagen: Ja, so darf man es natürlich nicht machen. Wenn man schon einen „Dreh" braucht, dann darf er nicht so auffällig sein. Man muß solche Entscheidungen ja auch nicht gerade in der Amtlichen Sammlung veröffentlichen. Man müßte bei irgendeiner Besonderheit des konkreten Falles anhaken, bei einem mißverständlichen Satz der Urteilsgründe, bei einer Unregelmäßigkeit des Verfahrens, und müßte jeden allgemeineren Satz ängstlich vermeiden. Aber auch das geht praktisch oft nicht an, und grundsätzlich ist es erst recht falsch. Denn einmal gibt es ja nun doch Tatrichter, die sich auf das Abfassen von Urteilsgründen verstehen und sich dabei keine Blößen geben. Man nehme einen erfahrenen Vorsitzenden, der möglichst ein halbes oder ein ganzes Jahr als Hilfsrichter im Revisionsstrafsenat des Oberlandesgerichts mitgearbeitet hat, und der sich wenigstens in wichtigen Sachen die Urteilsgründe genau und kritisch ansieht: mit dem kann sich kein

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Revisionsgericht Späße erlauben. Gewiß kann es auch seine Urteile einmal aufheben; aber nur, wenn es eine andere Rechtsansicht hat und sich zu ihr auch klar bekennt. Sodann steht der Revisionsrichter in einem anderen Sinne im Lichte der Öffentlichkeit, als der Tatrichter. Wir verkünden unsere Urteile meist in einem leeren Saal. Die Tagespresse interessiert sich kaum für unsere Arbeit. Von ihr aus gesehen, sind unsere Entscheidungen nicht aktuell. Während die Verhandlung und Entscheidung erster Instanz in den Spalten der Zeitung bisweilen großen Raum einnimmt, wird unseren Urteilen höchstens einmal eine kurze Notiz gewidmet. Ausnahmen sind ganz selten. Unsere Öffentlichkeit besteht aus einem ganz anderen Publikum. Sie wirkt viel langsamer, dafür aber auch nachhaltiger. Unsere Entscheidungen - und zwar alle, nicht nur die abgedruckten werden von unseren Kollegen, in den Justizministerien, mindestens im Einzelfall auch von den Richtern der Tatsacheninstanz und von den Verteidigern gelesen, wir müssen immer mit der Möglichkeit rechnen, daß sie irgendwo auch abgedruckt werden. Nicht zuletzt haben wir dann an den Rechtslehrern ein ebenso aufmerksames wie kritisches Publikum. Die Bedeutung dieser Art von Publizität kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie führt den Revisionsgerichten ihre strenge Pflicht zur Gesetzlichkeit immer wieder eindrucksvoll vor Augen. Schließlich führt ja selbst der geschickteste „Dreh" im allgemeinen nur zur Aufhebung und Zurückverweisung. Da ist der Tatrichter dann doch wieder die letzte, die entscheidende Instanz. Das gilt nun ganz besonders für alle Fragen der Strafzumessung. Darüber haben wir uns gerade jetzt auf dem VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen eine geschlagene Woche lang unterhalten. Es ist nichts irgendwie Greifbares dabei herausgekommen. Es ist beschlossen worden, die Strafzumessung müsse mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Nun ja, bei uns haben wir das; es gibt genügend Strafmaßrevisionen, und sie führen auch oft zu Strafmaßaufhebungen. Aber sie betreffen fast immer nur die Gründe; die eigentliche Entscheidung liegt immer wieder beim Tatrichter. Gegenüber der materiellen Frage, welches Strafmaß gerecht sein würde, ist der Revisionsrichter zum Verzicht verurteilt. Berufen, die Rechtseinheit zu wahren, steht er gleichwohl machtlos davor, daß ζ. B. ein betrügerischer Kaufmann in Hamburg im allgemeinen das Vierfache von dem an Strafe zu erwarten hat, was ein Berliner Gericht ihm geben würde. Ich habe in Athen die Gelegenheit benutzt, mich mit ausländischen Kollegen über diese Frage zu unterhalten. Sie haben mir bestätigt, daß daran selbst mit einer Umgestaltung des Revisionsrechts nichts zu ändern sei. Besonders interessant war die Mitteilung eines Richters vom Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne über die dortige Praxis.

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Man hat da etwa dieselben revisionsrechtlichen Fesseln wie bei uns. Aber die Kleinheit des Landes bringt es mit sich, daß die Revisionsrichter und die Tatrichter näher miteinander bekannt sind. Da ruft dann der Revisionsrichter den Tatrichter ganz unbefangen an und fragt ihn: Warum hast du eigentlich diesem Mann eine so strenge Strafe gegeben? Solch eine Aussprache erweist sich dann bisweilen als sehr fruchtbar. Sie hat zwar keinen Einfluß auf die Revisionsentscheidung; aber entweder vermindert sie das Unbehagen des Revisionsrichters, indem er erfährt, warum die zunächst auffällige Strafe eben doch angemessen ist; oder sie macht den Tatrichter darauf aufmerksam, daß seine Maßstäbe von denen abweichen, die sonst im Lande üblich sind. Auf diese Weise erreicht man mit leichter Hand, ohne das schwere Geschütz der Aufhebung, ohne gegenseitige Verstimmung, ohne Machtproben zwischen Tat- und Revisionsgericht, doch wenigstens für die Zukunft eine gewisse Angleichung der tatrichterlichen Maßstäbe bei den verschiedenen Instanzgerichten. Aber bei uns ist dieser Weg kaum gangbar. So unbefangen sind wir Deutschen nun einmal nicht. Bei uns würde entweder der Tatrichter sich das als eine Kritik verbitten, die dem Revisionsrichter nicht zusteht; oder der Angeklagte würde den Revisionsrichter, der sich vertrauensvoll mit dem Tatrichter über seinen Fall unterhält, als befangen ablehnen. Ich bekenne Ihnen, daß ich erst eine gewisse Schüchternheit habe überwinden müssen, ehe ich vorhin diesen ganz allgemeinen Vergleich zwischen Hamburg und Berlin zog. Als Regel erlauben wir uns solche Bemerkungen eigentlich nicht. In diesem für die Angeklagten so ungemein wichtigen Punkt bleibt uns im allgemeinen nichts übrig als zu resignieren. Dieser Verzicht ergibt sich rechtlich aus der Verfahrensordnung; menschlich gehört er zu den Belastungen des Revisionsrichters. Die Spannung zwischen dem, was man an Tatsachen für wahr hält, und den Feststellungen, an die man gebunden ist - zwischen dem Strafmaß, das man selbst aus dem Vergleich zwischen der Praxis zahlreicher Tatrichter entnehmen würde, und dem Maß, das der Tatrichter nun einmal innerhalb des ihm und nicht uns zustehenden Ermessens gefunden hat: diese Spannungen bringen es einem immer zum Bewußtsein, daß uns das Recht nicht gegeben, sondern aufgegeben ist; daß die Losung der Aufgabe nur dem Tatrichter ganz, uns aber nur zu einem Teil anvertraut ist. Wer diese Spannung gar nicht empfände, wem niemals der Wunsch käme, den Kranken herumzudrehen, der wäre kaum ein guter Revisionsrichter. Wer aber dazu neigt, dieser Versuchung nachzugeben, wer in solchen Fällen den „Dreh" sucht, mit dem er den „Schwarzen Peter" wenigstens erst einmal wieder dem Tatrichter zuschiebt, der wird sich auf die Dauer schweren Rückschlägen und Enttäuschungen ausgeliefert sehen; der ist in Gefahr, in unserem Beruf unglücklich zu werden.

Das Wirken des Strafrichters in der Revisionsinstanz

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Zu Spannungen besonderer Art führt auch die letzte Bindung, der das Verfahrensrecht - die §§ 121, 136 G V G - alle Revisionsgerichte unterwirft. Der Tatrichter legt das Gesetz so aus, wie er es für richtig hält. Gewiß, er hält sich meist an die höchstrichterliche Rechtsprechung, um nicht aufgehoben zu werden. Aber wo diese Gefahr nicht besteht Beispiel: der Fortsetzungszusammenhang - oder wo er sie nicht sieht, weil er ja unmöglich derart eingehend mit allen höchstrichterlichen Entscheidungen vertraut sein kann, da ist er doch in der Auslegung praktisch sehr viel freier als wir. Neue und eigene Rechtsgedanken zu vertreten, eingefahrene Gleise zu verlassen, Kritik am Hergebrachten zu üben - das macht das Verfahrensrecht ihm leichter, und ich erinnere mich an ausgezeichnete tatrichterliche Urteile, die ich gerade unter diesem Gesichtspunkt nicht ohne Neid gelesen habe. Gewiß braucht auch der Revisionsrichter keine Entscheidungen zu erlassen, die er nicht für richtig hält; und er darf es gar nicht, ebensowenig wie der Tatrichter. Aber wenn er von einer früheren Entscheidung eines anderen Revisionsgerichts abweichen will, muß er vorlegen: das Oberlandesgericht dem Bundesgerichtshof, der Einzelsenat des Bundesgerichtshofs dem Großen Senat. Es klingt ganz einfach; in Wirklichkeit verbirgt sich dahinter die bisweilen zerreißende Spannung zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtseinheit, den beiden großen Zielen, denen die Revisionsgerichte gemeinsam zustreben sollen. Gewiß besteht der Idee nach gar kein Unterschied dazwischen: Rechtseinheit ist ein Stück der Gerechtigkeit; beide Ideen enthalten den Gedanken, daß Gleiches gleich behandelt werden soll. Aber ob die Rechtseinheit gewahrt wird, läßt sich ohne Wertung des Einzelfalls objektiv bestimmen; was im gegebenen Falle gerecht ist, das ist jeweils eine Sache der persönlichen Auffassung. Der würde die Welt und die Menschen schlecht kennen, der es für möglich hielte, daß ein Revisionsgericht immer dann, wenn eine „bindende" Entscheidung - „bindend" in Anführungsstrichen - seiner eigenen Auffassung entgegensteht, den Weg der Vorlegung gehen könnte. Nehmen Sie an, ein Senat des Bundesgerichtshofs hielte den Beschluß des Großen Senats über den Verbotsirrtum für falsch. Es geht einfach nicht an, daß er dann jede Sache, in der es darauf ankommt, vor den Großen Senat brächte. Das hielte die Entscheidung auf - denken Sie an Haftsachen - und führte nach menschlichem Ermessen doch zu keiner anderen Entscheidung. Oder nehmen Sie an, ein Oberlandesgericht könnte sich nicht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über den Einfluß des Alkohols auf die Fahrtüchtigkeit befreunden. Es kann dann gleichwohl nicht jede solche Sache vorlegen. Es geht dabei einfach nicht ohne sacrificium intellectus ab.

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Praxis der Strafrechtspflege

Man muß ein Gefühl dafür haben, wann die Zeit zu einer Vorlegung reif ist. Man muß unter Umständen lange genug warten können, bis einmal ein Fall kommt, an dem sich die Ungerechtigkeit der bisherigen Auffassung möglichst einleuchtend zeigen läßt. Denn gerade wenn es einem besonders am Herzen liegt, die Weiche anders zu stellen, muß man es vermeiden, daß die Vorlegung dazu führt, den angegriffenen Standpunkt nur noch mehr zu verfestigen. Es ist nicht einfach damit getan, daß man sich die Verantwortung für die als falsch angesehene Entscheidung abnehmen läßt. Man hat eine Verantwortung auch dafür, daß die Gesamtentwicklung im aussichtsreichsten Augenblick beeinflußt wird. Die Bindungen und Spannungen zwischen Rechtseinheit und Gerechtigkeit, zwischen diszipliniertem Sich-einfügen und entschlossenem Gegensteuern sind äußerst komplex.

Die Überlastung des Richters 1 (1957)

Zum Sprengel dieses Senats gehören das größte deutsche Landgericht, Berlin, und die Landgerichte von fast ganz Nordwestdeutschland. Der Senat hat deshalb in den vergangenen fünf Jahren die Arbeit vieler deutscher Richter gesehen und geprüft. Ein Versuch, das Ergebnis zusammenschauend zu würdigen, führt zu mancher Sorge und zu mancher Hoffnung. Erlauben Sie mir, Ihnen aus der ganzen Fülle nur einen einzelnen Eindruck mitzuteilen. Er bezieht sich auf eine Gefahr, die von Richtern aller Instanzen immer wieder mit Sorge gesehen wird. Es ist die Gefahr der Überlastung und die Frage, wie man ihrer Herr wird. Nicht selten hören wir von Verhandlungen und nicht selten lesen wir Urteile, die den Eindruck erwecken, als gebräche es den Richtern an der nötigen Muße. Ich denke es mir schrecklich, als Angeklagter vor einem Richter zu stehen, den schon die nächste Sache drängt und der es nicht wagt, sich so viel Zeit zu nehmen, wie er selbst eigentlich glaubt, nötig zu haben. Wie kommt das? Es gibt keine bindenden Vorschriften darüber, wieviel ein Richter tun soll. Er hat auch keine Vorgesetzten, die ihn antreiben. Wie viele Termine er ansetzt, das entscheidet der Vorsitzende in richterlicher Unabhängigkeit. Was ihn drängt, ist nur sein eigenes Pflichtgefühl, das Beispiel der anderen Richter und die Einsicht, daß man einen Angeklagten nicht über Gebühr auf sein Urteil warten lassen darf. Aber die Verantwortung dafür, daß Überarbeitung nicht zu einer Gefahr für die Gerechtigkeit wird, liegt auch bei dem Richter selbst. In diesem Zwiespalt wird oft nach einer Vermehrung der Richterstellen gerufen, und gewiß mag sie mancherwärts nötig sein. Sie hat aber ihre naturgegebenen Grenzen. Irgendwo wird der Punkt erreicht, an dem man die Zahl der Richter nur noch um den Preis erhöhen könnte, daß man die Ansprüche an die Eignung herabsetzt. Ein Volk bringt eben immer nur eine begrenzte Zahl von Menschen hervor, die sich zu Richtern wirklich eignen und auch Richter werden wollen. Beim Bundesgerichtshof selbst kommt noch etwas anderes hinzu. Ein Gericht, das die Rechtseinheit in einem Volke wahren soll, kann nicht beliebig groß Vortrag anläßlich des fünfjährigen Bestehens des 5. Strafsenats in Berlin; zuerst abgedruckt in D R i Z 1957, 6 0 - 6 1 . 1

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gemacht werden. Sonst zerfiele die Rechtseinheit schon in diesem Gericht selbst, oder sie wäre nur noch um den Preis einer Spezialisierung zu haben, die den Horizont verengen würde. Es scheint also nur der Versuch übrigzubleiben, die Zahl der Sachen zu vermindern, die überhaupt vor die Gerichte oder doch vor den Richter selbst kommen. Solche Vorschläge sind schon seit langem gemacht worden, und vielleicht wird eines Tages die große Justizreform Entscheidendes ändern. Darüber etwas zu sagen, bin ich nicht der Mann, und ist dies nicht die Gelegenheit. Wenn man, wie wir es getan haben, fünf Jahre lang zahlreiche Gerichte ständig bei ihrer Arbeit beobachtet, dann drängt sich einem der Eindruck auf, daß die Überlastung oft nicht so sehr in einem Mißverhältnis zwischen viel Arbeit und wenig Zeit besteht als in einer falschen geistig-seelischen Haltung gegenüber der Arbeit. Es ist, als komme der lähmende Uberdruck nicht von außen, sondern von innen; als störe bisweilen geradezu ein Übermaß an Bemühung und gutem Willen die Gelassenheit, die der Richter zu seiner Arbeit braucht. Die gleiche Schwierigkeit, die der eine mit einer Handbewegung beiseite schiebt, bewältigt der andere nur in schwerem Ringen. Und das liegt nicht etwa daran, daß eben der eine einfach tüchtiger wäre als der andere. Das Auffällige ist, daß dieser Unterschied nicht so sehr zwischen den einzelnen Richtern als zwischen ganzen Gerichten auftritt, zwischen allen Strafkammern in der einen und allen Strafkammern in der anderen Stadt. Ein einziges Beispiel: Unser Gesetz erlaubt es, das Verfahren wegen einer Tat einzustellen, wenn die Strafe nicht ins Gewicht fällt neben dem, was der Täter wegen einer anderen Tat zu erwarten hat. In der einen Stadt machen die Gerichte davon den unbefangensten Gebrauch. Selbst wenn mit dieser kleinen Nebentat die reizvollsten und schwierigsten juristischen Probleme verbunden sind, lassen sie sie getrost auf sich beruhen. Sie haben keine Angst, daß die Dienstaufsichtsbehörde oder die höhere Instanz darüber lächeln könnten; und das tun sie auch gar nicht. So bleibt der Kopf frei für das Wesentliche. Anderwärts aber frißt der Kleinkrieg mit dem Unwichtigen die besten Kräfte. U m der Überlastung wirksam zu begegnen, bedarf es zunächst der Fähigkeit, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist das Merkmal fachlicher wie allgemeiner Bildung und in Deutschland bei den Richtern auch unterer Instanzen ohne weiteres vorauszusetzen. Nur muß dabei die Frage nach dem Wesentlichen nicht vom Gesichtspunkt fachlich-juristischen Interesses, sondern von den großen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und des anständigen Verfahrens gestellt und beantwortet werden. Der Richter muß den Mut fassen, sie so unbefangen zu stellen; er muß das Selbstvertrauen gewinnen, daß er etwas Vernünftiges tut, wenn er Unwichtiges beiseite läßt.

Die Überlastung des Richters

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Das gilt auch von der Arbeit, die dem Richter in Deutschland die meiste Mühe macht und auf die er großen Fleiß und Gewissenhaftigkeit verwendet: die Abfassung der schriftlichen Urteilsgründe. Wir glauben beobachtet zu haben, daß in besonders langen Urteilsbegründungen häufiger etwas Wesentliches fehlt als in besonders kurzen. Übrigens gilt das auch von den Schriftsätzen der Anwälte, wie überhaupt die unruhige Vielgeschäftigkeit und die durch sie immer weiter gesteigerte Überlastung sich nicht auf einen bestimmten Berufsstand beschränken, sondern eine allgemeine Krankheit unserer Zeit sind. Deshalb sollte man sie sich auch nicht gegenseitig zum Vorwurf machen. So möchte ich nicht verstanden werden. Ich möchte auch niemandem das Stichwort geben, nun zu sagen: Ihr Richter könntet Euch recht gut selbst helfen und bedürft weder der Entlastung noch der Hilfe. Wenn es so einfach wäre, könnte man es allen sagen, die an der Überlastung kranken, nicht nur den Richtern. Für den Richter aber ist es eine Pflicht, von dieser Krankheit zu gesunden. E r ist es den Menschen schuldig, die vor seinen Schranken stehen, daß er nicht in erschöpfter Geschäftigkeit, sondern in gelassener Ruhe urteilt. Eine Fünfjahresfeier ist eine Gelegenheit, sich zu besinnen, daß der Weg des Richters von der Peripherie ins Zentrum der Gerechtigkeit zu gehen hat, daß er sich nicht durch die Zentrifugalkraft des allgemeinen Strudels in irgendwelche zufällige Richtungen nach außen schleudern lassen darf. Das Amt des Richters ist fast die letzte Stelle, an der ein moderner Staat noch das Gesicht eines Menschen trägt. Die Gesetzgebung und die Verwaltung sind zu Apparaten geworden. Für ihre Entschlüsse, mögen sie gut oder schlecht sein, trägt nur selten einmal ein bestimmter Einzelmensch die ganz persönliche alleinige Verantwortung. Fast überall teilt sich die Verantwortung mindestens zwischen einem Vorgesetzten, der Richtlinien gibt, und einem Sachbearbeiter, der die Einzelheiten studiert. Nur vor Gericht begegnet der heutige Staatsbürger seinem Staat noch in der Gestalt eines oder einiger Menschen, die nicht auf Weisungen von oben, nicht auf Vorschläge von unten entscheiden, sondern ihre ganze Entscheidung mit allen Grundlagen selbst erarbeiten, selbst treffen, dem von ihr betroffenen Menschen selbst ins Gesicht sagen und sie vor ihm, vor der Allgemeinheit und vor ihrem Gewissen allein verantworten. Vor grauen Zeiten hatte der ganze Staat diese Menschengestalt in der Person des einen Herrschers; nur dem Richteramt ist sie geblieben. Es sollte ein Gegenstand unserer Sorge sein, sie ihm zu erhalten. Sie wäre schwer gefährdet, wenn wir die Überlastung dergestalt Macht über uns gewinnen ließen, daß man auch den Richter mit einem Apparat von Helfern umgeben müßte, die ihm allmählich Stücke der richterlichen

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Entscheidung aus der Hand nähmen; wenn es dann schließlich auf die persönliche Art des Richters nicht mehr so sehr ankäme wie auf die Tüchtigkeit seiner Hilfskräfte, so daß man bald in Versuchung geriete, das Richteramt selbst zu politisieren; wenn der Urteilsspruch die Willensentscheidung eines oder mehrerer Mächtigen und die Urteilsgründe eine Fleißarbeit Ungenannter würden. Die Gefahr besteht. Wir müssen sie wachen Auges beobachten, damit wir ihr nicht erliegen. Wir müssen das rechte Maß unserer Arbeit finden, damit wir das Menschentum des Richteramtes nicht verlieren.

Überlastung der Strafjustiz1 (1971)

Vor mir liegen die Akten eines alltäglichen Strafprozesses. Es sind ein „Anzeigenband" (Bd.Anz.), dazu vier Hefte „Nachträge", und die Bände I bis IV, zusammen 1199 Blätter. Bd.Anz. enthält polizeiliche Ermittlungen. Er wirkt wie das eine Siebentel eines Eisberges, das aus dem Wasser schaut. Ein großer Teil der geleisteten Ermittlungsarbeit muß sich außerhalb dieser Niederschriften abgespielt haben. Im Herbst 1968 wurden neun Schaufenstereinbrüche angezeigt, davon sieben in Juweliergeschäften und zwei in Pelzgeschäften. In jedem Falle waren die Fenster mit einem (wie sich später herausstellte, jeweils zu diesem Zweck gestohlenen) Vorschlaghammer oder mit einer Eisenstange eingeschlagen worden. Ferner wurden Autodiebstähle angezeigt, deren Tatzeiten jeweils kurz vor denen der Einbrüche lagen. Wie die Polizei den Zusammenhang zwischen diesen Dingen herausgefunden hat, läßt der Bd.Anz. nur andeutungsweise erkennen. Soweit auf die Anzeigen hin Ermittlungen „über Wasser" vorgenommen wurden, d. h. durch Tatortbesichtigungen, Fingerabdruckvergleiche und protokollierte Vernehmungen von Zufallszeugen, hatten sie so gut wie keinen Erfolg. Anonymen Anrufen wurde nachgegangen; soweit die Akten erkennen lassen, ebenfalls erfolglos. Aber stückweise „wurde dienstlich bekannt", daß und wie die Dinge zusammenhingen. Eine zwielichtige Kneipe schien der Mittelpunkt des Ganzen zu sein. Ein und der andere Spitzname tauchte auf. Auf einmal wußte die Polizei zu den Spitznamen auch die richtigen Namen, und dann kam der große Tag: am 5.11.1968 wurden Spiegelberg, Schweizer, Grimm, Razmann und Schufterle festgenommen. Eine Durchsuchung bei Schufterle förderte das gesamte Diebesgut aus dem letzten Schaufenstereinbruch zutage. Spiegelberg und Schufterle verweigerten die Aussage, die übrigen „sangen". An diesem und dem folgenden Tage, an dem fünf Haftbefehle ergingen, wurden 94 Blatt Akten geschrieben (davon übrigens nicht eine Zeile mit der Hand). Sie enthielten schon fast alles, was in dem ganzen Verfahren an Tatsachen ermittelt wurde, und noch einiges mehr. Kommentar: Bis zur Festnahme nebst Haftbefehl arbeiten Polizei und Justiz schnell, geschickt, sorgfältig und gründlich. 1

Manuskript aus dem Jahre 1971.

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Praxis der Strafrechtspflege

Am 31.1.1969 vermerkte der Sachbearbeiter (SB) der Staatsanwaltschaft (StA) den Abschluß der Ermittlungen in den Akten, ohne daß seit dem 6.11.1968 etwas besonders Belangreiches ermittelt worden wäre. Was über jenes erste Ergebnis hinaus an Tatsachen festgestellt wurde, ergab sich erst nach dem „Abschluß der Ermittlungen" und ohne Initiative der StA oder des Gerichts. Die Zeit ist mit zwei (erfolglosen) Haftbeschwerden, zwölf anderen Eingaben der Angeklagten (neun davon waren von Spiegelberg), Verteidigerbestellungen und Haftprüfungen hingegangen. Da Spiegelberg dem Anstaltsarzt auffiel, ordnete die Strafkammer (StrK) am 18.12.1968 seine Unterbringung gemäß § 81 StPO an. Seine sofortige Beschwerde dagegen vom 27.12.1968 wird dem Kammergericht (KG) am 13./18.3.1969 vorgelegt und am 24.3.1969 „aus den zutreffenden Gründen" verworfen. Inzwischen hat die StA am 10.2.1969 Anklage erhoben; am 19.2.1969 wird sie den Angeschuldigten und Verteidigern zugestellt. Nach dem Beschluß vom 24.3.1969 sandte der Generalstaatsanwalt beim KG die Akten am 9.4.1969 an die StA zurück. Am 21.4.1969 eröffnete die StrK das Hauptverfahren. Termin wird auf den 9., 10. und 12.6.1969 bestimmt. Die Untersuchungshaft dauert fort. Am 29.4. (Eingang am 5.5.) 1969 legt der GenStA beim K G diesem die Akten gemäß § 122 StPO vor und beantragt Haftfortdauer; die Angeklagten hätten „durch eine Vielzahl von Eingaben und Beschwerden" das Verfahren verzögert. Die Gesamtzahl dieser Eingaben beläuft sich inzwischen auf 29. Der größere Teil davon bedurfte freilich keines oder nur eines kurzen Bescheides. Kommentar: Nach der Verhaftung sind Strafsachen plötzlich längst nicht mehr so eilig. Manchmal vergehen Wochen, in denen überhaupt nichts geschieht („Wiedervorlegung nach Rückkehr der Akten"). Wäre der Abschluß der Ermittlungen zu dem Zeitpunkt vermerkt worden, als die Ermittlungen abgeschlossen waren, so hätten die Angeklagten weniger Gelegenheit zu Eingaben gehabt. Am Tage des Eingangs, dem 5.5.1969, setzt der Vorsitzende des Strafsenats den Angeklagten eine Erklärungsfrist von fünf Tagen. „Gef.u.ab" am gleichen Tage. Am 19.5.1969 wird die Haftfortdauer angeordnet. Die Eröffnung des Hauptverfahrens habe sich „durch die zur Begutachtung des Angeklagten Spiegelberg erforderlich gewordenen Maßnahmen und dessen hiergegen eingelegtes Rechtsmittel verzögert". Kommentar: Hätte die StA dieses Rechtsmittel nicht vom 27.12.1968 bis zum 13.3.1969, also zwei und einen halben Monat liegen lassen, dann wäre die Vorlegung nach § 122 StPO überhaupt nicht nötig geworden, vorausgesetzt allerdings, daß . . . - darüber sogleich. Nachdem alle Ladungen zur Hauptverhandlung vom 9.6.1969 hinausgegangen sind, stellt der Vorsitzende der StrK am 3.6.1969 fest, daß auf den Unterbringungsbeschluß vom 18.12.1968, bestätigt durch das

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K G am 2 4 . 3 . 1 9 6 9 , bisher nichts veranlaßt worden ist. Die StA hat auch diesen Beschluß liegen lassen. Spiegelberg, der in Wittenau untersucht werden sollte, hat die ganze Zeit in Moabit gesessen und seine Eingaben gemacht. Sie waren lästig, aber nicht so lästig, daß sie den SB wirklich an ihn erinnert hätten. Also wird der Termin aufgehoben. Neuer Termin wird auf den 24., 31. 7. und 7. 8.1969 bestimmt. Kommentar (von Spiegelberg, Bd. II, S. 203 d. Α.): Gericht und Staatsanwaltschaft möchten sich selbst auf ihren Geisteszustand untersuchen lassen. Am 9 . 6 . 1 9 6 9 beantragt der Verteidiger von Razmann, auch diesen untersuchen zu lassen. Der Gefängnisarzt vermute bei ihm eine DefektSchizophrenie. Auf diesen Antrag geschieht nichts. Am 1. 7.1969 begeht Razmann einen Selbstmordversuch, nach Ansicht des Arztes ernst gemeint. Razmann sagt: „Ich befand mich in einem Zustand von tiefer Depression, da ich die Haft nicht mehr ertragen kann. Besonders bedrückt mich, daß die Länge der Untersuchungshaft nach meiner Meinung in keinem Verhältnis zur Strafe steht (Razmann bekam später sechs Monate Gefängnis). Eine große Erleichterung würde für mich eine Beschäftigung sein, ich würde auch mit Zellenarbeit zufrieden sein." Den Spiegelberg untersucht Wittenau vom 1. bis 17.7.1969. Ergebnis: er ist geistig gesund und von durchschnittlicher Intelligenz. Die Hauptverhandlung ging an den ersten beiden der drei vorgesehenen Tage, also am 24. und 31. Juli, planmäßig über die Bühne. Am 24.7. wurde die Unterbringung Razmanns bis zum 31.7.1969 angeordnet. Der Psychiater sagte am 31.7., Razmann sei verwahrlost, aber nicht krank, unterdurchschnittlich begabt, aber nicht schwachsinnig. Nachdem der Vorsitzende die Hauptverhandlung am 31.7.1969 unterbrochen und ihre Fortsetzung am 7.8.1969 angeordnet hatte, stellt sich am 1 . 8 . 1 9 6 9 folgendes heraus. Als Schöffin hatte die Schneiderin Pauline Kleefeld mitgewirkt, nachdem sie dem Saalwachtmeister ihre Benachrichtigungskarte übergeben hatte. Auf dieser war sie nicht zum 24., 31.7. und 7.8.1969, sondern nur zum 24. 7.1969 geladen worden, und zwar nicht vor diese, sondern vor eine andere Ferienstrafkammer, und in einen anderen Saal, nicht 618, sondern 621. Kurz nachdem Frau Kleefeld im Beratungszimmer erschienen war, meldete der Saalwachtmeister das Eintreffen einer weiteren Schöffin und fragte, ob eine „Ersatzschöffin" benötigt werde. Das verneinte der Vorsitzende. Nach Beendigung des ersten Verhandlungstages änderte die Protokollführerin die Benachrichtungskarte der Frau Kleefeld dahin, daß sie auch an die Sitzung vom 31.7. „erinnert" werde, weil die Verhandlung fortgesetzt werde. Auch an diesem Tage nahm Frau Kleefeld teil. Erst am Schluß dieses Verhandlungstages bemerkte die Protokollführerin, daß Frau Kleefeld zur Verhandlung einer anderen Kammer in einen anderen

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Saal geladen gewesen war. Die Sitzung mußte natürlich abgebrochen werden. Kommentar: Wie kann man sich so wenig für die Menschen interessieren, mit denen man gemeinsam zu Gericht sitzt! Gewiß hat ein Strafkammervorsitzender vor und in der Verhandlung viel zu tun und an vieles zu denken. Aber von all seinen Pflichten müßte ihm am leichtesten die fallen, zunächst ein paar persönliche Worte mit seinen Laienrichtern zu sprechen. Das erleichtert nämlich später die Zusammenarbeit mit ihnen. Zu diesem Zweck muß der Vorsitzende sich vorher vergewissern, wie sie heißen. Hat er nämlich schon einmal mit ihnen zusammengearbeitet, so stößt er sie vor den Kopf, wenn er sich an ihre Namen nicht erinnert. Da er sich in Wirklichkeit nicht erinnern kann, muß er sie nachsehen. Hätte er Frau Kleefeld mit dem Namen der richtigen Schöffin angeredet, so hätte sich der Irrtum rechtzeitig herausgestellt. Hat der Vorsitzende mit einem Schöffen noch nicht zusammengearbeitet, so muß er sich erst recht mit ihm bekanntmachen. Außerdem muß er sich überzeugen, ob der Schöffe schon vereidigt ist. Auch dabei erfährt er vor der Sitzung, wie er heißt. Es ist schlechter Stil, die Laienrichter, von denen doch Entscheidendes abhängt, im Gerichtsgebäude zu behandeln „wie irgend jemand". Außerdem hätte das Erscheinen einer „weiteren" Schöffin doch wohl auffallen müssen, wenn der Vorsitzende gar keinen Ergänzungsschöffen bestellt hatte. Der Vorsitzende vermerkte ferner, da die Verteidiger (!) von Spiegelberg, Schufterle und Roller auf Freispruch bestünden (Spiegelberg und Schufterle sagten in der Hauptverhandlung nicht zur Sache aus), seien die zunächst abbestellten Zeugen Harras, Frießhardt und Leuthold unentbehrlich; sie befänden sich jedoch auf Urlaub. In der Tat hatte Harras sich damit entschuldigt, daß er bis zum 10.8.1969 im Ausland auf Urlaub sei; Frießhardt und Leuthold, die zum 31.7.1969 geladen waren, hatten geantwortet, daß sie „an diesem Tage noch" Urlaub hätten. Am 5.8.1969 bemerkte der SB, daß an diesem Tage die Dreimonatsfrist des § 122 Abs. 4 S. 2 StPO ablief. Deshalb wurden die Akten in aller Eile wieder dem K G vorgelegt, wo sie am 12. 8. eintrafen. Am 13. 8. („gef.u.ab" am 14.8.) setzte der Senatsvorsitzende den Angeklagten und Verteidigern wiederum eine fünftägige Erklärungsfrist. Alle beantragten Aufhebung der Haftbefehle, hilfsweise Haftverschonung. Am 22.8.1969 beschloß das KG Fortdauer der U-Haft für alle: „Hinsichtlich aller Angeklagten steht die U-Haft nicht außer Verhältnis zu den zu erwartenden Freiheitsstrafen; sie muß weiter aufrechterhalten werden. Die am 24. 7.1969 begonnene und am 31. 7.1969 unterbrochene Hauptverhandlung mußte nicht nur deshalb ausgesetzt werden, weil das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, sondern insbesondere (!)

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deshalb, weil die Vernehmung der drei von Berlin abwesenden Zeugen Harras, Frießhardt und Leuthold unumgänglich wurde, die Zeugen jedoch nicht innerhalb der Frist des §229 StPO nach Berlin zurückkehrten." Kommentar: Erstens waren alle drei Zeugen Beamte und mußten eine Urlaubsanschrift hinterlassen haben. Man hat Zeugen schon mit Telegramm und Flugzeug in zwei Tagen um die halbe Welt herbeigeholt. Zweitens enthalten die Akten nicht die leiseste Andeutung dafür, daß auch nur einer dieser drei Zeugen „nicht innerhalb der Frist des §229 StPO", d.h. nicht bis zum 17.8.1969 nach Berlin kommen würde; im Gegenteil, Harras hatte ausdrücklich geschrieben, daß er (nur) bis zum 10. 8.1969 fort sei. Alle Versuche, die Zeugen heranzuholen, waren nur deshalb völlig sinnlos, weil die Hauptverhandlung eben unwiderruflich „geplatzt" war, und zwar ohne jedes Zutun der Angeklagten. Daß übrigens die Verteidiger „auf Freispruch bestehen" und daß Spiegelberg und Schufterle keine Angaben zur Sache machen würden, hätte jeder Leser der Akten dem Vorsitzenden unschwer voraussagen können. Spiegelberg „spielte" ohnehin „verrückt". Er schrieb am 7.8.1969 an das Gericht: „Das gegen mir ergangene Urteil vom 7. 8.1969 nähme ich aus Protest an, ich verzichte auf das Rechtsmittel der Revision. Wenn ich gewust hätte das das Gericht voreingenommen ist, dann hätte ich keine Aussagen gemacht". Neuer Termin zur Hauptverhandlung wurde auf den 22. und 24.9.1969 bestimmt. Dieser Termin führte zum Urteil. An der Verhandlung nahmen ein anderer Vorsitzender, ein anderer SB der StA und andere Schöffen teil. Leuthold war als Zeuge geladen, aber nicht erschienen; außerdem fehlte ein anderer Zeuge, der am 31.7.1969 vernommen worden war. Das Urteil beruhte im wesentlichen auf den Angaben des Zeugen Kosinsky, der aus der Strafhaft vorgeführt wurde. Es erhielten: Spiegelberg drei Jahre, Schweizer zehn Monate (nach zehn Monaten 18 Tagen U-Haft), Schufterle vier Jahre, Roller sechs Monate, Razmann, wie schon erwähnt, sechs Monate, und Grimm sieben Monate. Kommentar: Dieses Ergebnis wäre bei konzentrierterer Prozeßführung mindestens ein halbes Jahr früher zu erreichen gewesen. Nur Schufterle legte Revision ein. Das Urteil - 20 Seiten Gründe, davon 5 Seiten Lebensläufe - ging am 3.11.1969 bei der Geschäftsstelle ein; die Akten gelangten aber erst am 23.12.1969 an die StA zurück, nachdem der SB wiederholt gemahnt und sogar mit Dienstaufsichtsbeschwerde gedroht hatte. Inzwischen waren nämlich bei ihm eine große Anzahl der verschiedensten Anträge eingegangen, in einem Fall ebenfalls mit Androhung einer Dienstaufsichtsbeschwerde verbunden. Dem Verteidiger wurde das Urteil am 31.12.1969 zugestellt. Ein Haftverschonungsantrag des Angeklagten Schufterle vom 2.12.1969 wurde am

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14.1.1970 abgelehnt. Dieser Haftverschonungsantrag war damit begründet worden, daß inzwischen jemand anders gestanden hatte, eine der beiden Taten, deretwegen Schufterle verurteilt worden war, selbst begangen zu haben, und zwar ohne Beteiligung Schufteries. Dazu sagte der Beschluß vom 14.1.1970, dann bliebe immer noch die Strafe von drei Jahren für den anderen Fall zu verbüßen. Deshalb bleibe der Fluchtverdacht bestehen. Die Revisionsbegründung vom 30.1.1970, ordnungsgemäß an das Landgericht adressiert, ging noch am selben Tage ein, wurde aber nicht beim Landgericht, sondern bei der Staatsanwaltschaft mit dem Vermerk präsentiert: „Zur Zustellung eingegangen". Am 10.2.1970 verfügte der SB: „Mit Akten nach Rückkehr". Die Akten befanden sich nämlich beim KG. Dorthin waren sie auf folgende Weise gelangt. Spiegelberg hatte zunächst mit Schreiben vom 24.9.1969 Revision eingelegt. Am 7.10.1969 hatte er geschrieben: „Ich nehme das seltsame komische Urteil, vom 24.9.1969 an. Ich verzichte auf die Revision." Darauf hatte ihm die StrK durch Beschluß vom 30.10.1969 die Kosten des Rechtsmittels auferlegt. Der Beschluß war ihm am 3.1.1970 zugestellt worden. Dagegen hatte er, entsprechend der Rechtsmittelbelehrung im Beschluß, sofortige Beschwerde eingelegt, die am 8.1.1970 beim KG einging. Das KG verwarf sie natürlich als unbegründet (durch Beschluß vom 20.2.1970); aber nicht ohne daß der GenStA dieser Beschwerde noch ein oder zwei bedeutsame Rechtsprobleme abgewonnen hätte (Vorlegungsschreiben vom 10.2.1970). Er meinte nämlich erstens, der angefochtene Beschluß hätte gar nicht ergehen sollen, weil er lediglich die zwingende gesetzliche Folge des § 473 Abs. 1 StPO wiedergebe. Zweitens sei die Rechtsmittelbelehrung falsch, weil Kostenentscheidungen ohne Hauptentscheidung überhaupt nicht anfechtbar seien. Kommentar: Je gelehrter, desto verkehrter. Zwingende gesetzliche Regelungen ersetzen den Kostentitel nicht, auf Grund dessen die Gebühr festgesetzt wird. Und selbstverständlich ist gegen eine derartige beschwerende Entscheidung (mit der Einschränkung des § 304 Abs. 3 StPO) ein Rechtsmittel gegeben; wollte man den §464 Abs. 3 S. 1 StPO trotz seines klaren Wortlauts nicht darauf anwenden, dann wäre es statt der sofortigen die einfache Beschwerde; denn „ausdrücklich einer Anfechtung entzogen" (§304 Abs. 1 StPO) ist der Beschluß nun einmal nicht. Aber da Spiegelberg natürlich ohnehin keinen roten Maravedi sein eigen nennt, sind das alles Verrenkungen am Phantom. Während die höheren Instanzen sich damit beschäftigen, sind die Akten der Bearbeitung der von Schufterle eingelegten Revision wieder einmal für anderthalb Monate entzogen. Um diese Zeit verlängert sich seine Untersu-

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chungshaft. Sie dauert schon so lange, daß es eh nicht mehr darauf ankommt. Diese Ansicht teilte Schufterle selbst freilich nicht. Er war Querulant genug, um gegen den Beschluß vom 14.1.1970, der seine Haftverschonung ablehnte, am 3 0 . 1 . 1 9 7 0 Beschwerde einzulegen. Sie ging am 2 . 4 . 1 9 7 0 beim K G ein. Am 13.4.1970 wurde sie verworfen. Es heißt in dem Beschluß, daß über die Revision „noch nicht entschieden werden konnte, weil die Akten bisher nicht dem Revisionsgericht, dem B G H , vorgelegt worden sind". Kommentar: Man lasse sich die Feinheit des Ausdrucks nicht entgehen, in den diese unschlüssige Argumentation gekleidet ist. Schlüssig wäre sie gewesen, wenn man hätte schreiben können, daß über die Revision „noch nicht entschieden worden ist, weil die Akten bisher dem Revisionsgericht nicht vorgelegt werden konnten". Das konnte man nur deshalb nicht schreiben, weil es nicht zutraf. Sie konnten schon, aber sie wurden nicht. Deshalb mußte das „konnte" nach vorn und das „sind" nach hinten gesetzt werden. Es klingt fast ebenso, hat aber keinen begründenden Inhalt mehr. Im übrigen sagt das K G , auch wenn nur eine Strafe von drei Jahren verbleibe, sei von ihr bisher „weniger als die Hälfte" verbüßt. Der Fluchtverdacht bestehe deshalb fort. Kommentar: Auf die Möglichkeit, daß die Strafhöhe von drei Jahren durch die Verurteilung wegen der anderen Tat beeinflußt worden und deshalb bei deren Fortfall möglicherweise herabzusetzen sein könnte, geht der Beschluß nicht ein. An der Hälfte von drei Jahren fehlten bei Erlaß des Beschlusses 22 Tage. Mit der Frage der Verhältnismäßigkeit setzt der Beschluß sich nicht auseinander. Ebenso schweigt er zu der Frage, ob die bisherige U-Haft in dieser Länge nötig war. Zwischenspiel: Die Akten sind voll von Anfragen und Eingaben aller möglichen Absender. Z . B . bitten die verschiedenen Versicherungsgesellschaften, die die zerschlagenen Schaufensterscheiben bezahlt haben wollen, immer wieder um Akteneinsicht. Natürlich ist sie noch nicht möglich, so daß allein aus diesem Anlaß die Prozeßdauer eine umfangreiche Korrespondenz zeitigt. Eine der Versicherungsgesellschaften hat einen Anwalt beauftragt, der jetzt wegen des einem Dr. Steinkohl entstandenen Schadens Einsicht in eine Beiakte (nämlich der StA Kiel) verlangt, und zwar am 2 3 . 5 . 1 9 6 9 (nicht beantwortet), 2 0 . 6 . 1 9 6 9 (Antwort: Akten sind versandt; bitte Aktenzeichen überprüfen, „da sich das hiesige Verfahren nicht gegen Dr. Steinkohl richtet"), 20.11.1969 („Dr. Steinkohl ist der Geschädigte!" - nicht beantwortet), 18.12.1969 („wenn ich die Akten nicht sofort bekomme, erhebe ich hiermit Dienstaufsichtsbeschwerde"; darauf am 23.12.1969 ausführliche Schilderung, warum die Akten nicht versandt werden konnten und können; Dienst-

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aufsichtsbeschwerde damit erledigt?), 5 . 1 . 1 9 7 0 (nur wenn ich die Akten jetzt sofort bekomme). Antwort am 2 7 . 1 . 1 9 7 0 : Das geht nicht, die Dienstaufsichtsbeschwerde wird der vorgesetzten Stelle vorgelegt. Am 9. 3.1970 schreibt der Anwalt an das K G und bittet um die Akten; keine Anwort. Am 12. 3.1970 reisen die Akten vom Kammergericht zur StA. Am 17.3.1970 schreibt der SB dem Anwalt: „wegen eines Diebstahls zum Nachteil des Herrn Dr. Steinkohl ist in diesem Verfahren keine Anklage erhoben worden." Kommentar: Das hatte auch niemand behauptet. Der Anwalt wollte ja die Kieler Beiakten haben. Am 3 1 . 3 . 1 9 7 0 schreibt der Behördenleiter an den SB: Die Dienstaufsichtsbeschwerde vom 18.12.1969 hätte mir eher vorgelegt werden müssen. . . . Ich bitte, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, bevor die Akten der Revisionsinstanz zugeleitet werden." Diese vom Behördenleiter persönlich angeordnete Verzögerung des Revisionsverfahrens unterbleibt aber. Am 5 . 5 . 1 9 7 0 bedankt sich der Anwalt beim SB für die Mitteilung vom 17.3.1970, beschreibt den Schadensfall genau (Autounfall in Kiel) und bittet um weitere Aufklärung. Aktenvermerk vom 1 3 . 5 . 1 9 7 0 : Aus dem Schreiben des Anwalts vom 5 . 5 . 1 9 7 0 ergeben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte zur Ermittlung des Täters. Am 2 2 . 6 . 1 9 7 0 Schreiben an den Anwalt: „Auf Grund Ihrer Angaben vom 5. 5.1970 habe ich festgestellt, daß das Verfahren, soweit es den Diebstahl . . . in Kiel betrifft, am 10.2.1969 abgetrennt und der StA Kiel zu 3 Js 2113/68 übersandt worden ist." Kommentar: Das traf zwar nicht ganz zu, weil es sich von vornherein um ein Verfahren der StA Kiel gehandelt hatte, das niemals in das Berliner Verfahren einbezogen gewesen war und deshalb nicht „abgetrennt" zu werden brauchte. Die StA Kiel hatte nur ihre eigenen Akten zurückbekommen, ehe der Anwalt seinen ersten Brief geschrieben hatte. Aber damit war dieses Zwischenspiel nun beendet. Hätte der SB das allererste Schreiben des Anwalts etwas genauer gelesen, so hätte er sich selbst und anderen viel Arbeit, Ärger und Zeit erspart. Wir haben die Revision etwas aus den Augen verloren. Da die StA davon ausging, die Revisionsbegründung sei bei ihr am 30.1.1970 „zur Zustellung eingegangen", konnte sie nach §347 Abs. 1 S.2 StPO „binnen einer Woche" eine Gegenerklärung einreichen. Das tat sie auch nur daß die Woche 121 Tage hatte: Die Gegenerklärung wurde am 2 2 . 5 . 1 9 7 0 zu den Akten gebracht. Sie hatte 21 Zeilen und hätte bequem in einer Stunde gefertigt werden können. Kommentar: Das ist nichts Ungewöhnliches. Es kommt vor, daß die StA für die Erklärung, es werde keine Gegenerklärung abgegeben, noch länger braucht. Der Verfasser vermag sich an keinen Fall zu erinnern, in dem die gesetzliche Wochenfrist des § 347 Abs. 1 S. 2 StPO eingehalten

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worden wäre. Inzwischen beschäftigen sich Kommissionen mit der Frage, wie das Strafverfahren abgekürzt werden könnte. Die Gemächlichkeit des behördlichen Geschäftsganges macht jeden Versuch unglaubwürdig, den - schon weithin erfolgreich gewesenen - Bemühungen der Anwaltschaft um weitere Verlängerung der ihr gesetzten Fristen entgegenzutreten. Am 2 2 . 6 . 1 9 7 0 läßt der SB die Akten dem Rechtspfleger zur Fertigung des Revisionsübersendungsberichts vorlegen. Dieser schickt sie am 2 6 . 6 . 1 9 7 0 zurück und vermerkt: „Die Rechtzeitigkeit des Eingangs der Revisionsbegründung ist nicht festgestellt worden. Ein Eingangsstempel fehlt. Außerdem ist die Zustellung gemäß § 347 StPO unterblieben." Am 3 0 . 6 . 1 9 7 0 beantragt die StA bei der StrK, „die Revision gemäß §346 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, da die Begründung vom 3 0 . 1 . 1 9 7 0 nicht rechtzeitig angebracht worden ist. Das angefochtene Urteil ist am 31.12.1969 zugestellt worden. Die Begründungsfrist des §345 StPO ist nicht eingehalten worden, da die Begründungsschrift nicht rechtzeitig dem Gericht vorgelegen hat." Kommentar: Wenn die StA sich die Revisionsbegründung vom 3 0 . 1 . 1 9 7 0 richtig angesehen hätte, wäre es nicht zu dieser Behandlung gekommen, die man wohl als eine unerhörte Schlamperei bezeichnen darf. Freilich lagen an jenem 3 0 . 1 . 1 9 7 0 der StA die Akten nicht vor. Sie befanden sich vom 2 0 . 1 . 1 9 7 0 bis zum 10.2.1970 beim GenStA beim K G , dessen SB diese drei Wochen brauchte, um sich die oben näher beschriebenen unrichtigen, vom K G mit Recht keines Wortes gewürdigten Lukubrationen zu dem Kostenbeschluß gegen Spiegelberg einfallen zu lassen. Aber man brauchte die Akten nicht, um am 3 0 . 1 . 1 9 7 0 zu sehen, daß die Revisionsbegründung irregelaufen war. Sie konnte nicht vom Landgericht „zum Zwecke der Zustellung" eingegangen sein, denn sie trug weder einen Eingangsstempel noch irgendeinen anderen Vermerk des Landgerichts. Außerdem war sie vom 30.1.1970, dem Tage des Eingangs, datiert; wann also hätte sie dem Vorsitzenden der StrK vorgelegen haben sollen? Die StA hätte dafür sorgen müssen, daß dieses zunächst nicht für sie bestimmte Schriftstück zur Fristwahrung sofort dahin kam, wohin es gehörte und wohin es auch richtig adressiert war, nämlich an das Landgericht. Dorthin gelangte es nun fünf Monate später. Die StrK beschied den Antrag der StA nicht, sondern ihr Vorsitzender schrieb auf die Revisionsbegründung am 7 . 7 . 1 9 7 0 : „1. Vermerk: Eingangsstempel fehlt. Daher 2. Revisionsbegründung rechtzeitig. 3. Mit Akten Herrn GenStA." Kommentar: Das war ein zweifellos gut gemeinter Versuch, die Panne stillschweigend zu bereinigen. Er konnte nicht gelingen, weil nur allzu offensichtlich war, daß die Revisionsbegründung zu keinem Zeitpunkt

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innerhalb der Frist im Geschäftsbereich des Landgerichts gewesen sein konnte. Die nächsten Monate vergingen mit Hausstrafen gegen Schufterle, der sich ein „Katapult" angefertigt, damit auf eine Krähe geschossen und so „die Sicherheit und Ordnung in der Anstalt erheblich gefährdet" hatte. Das ging durch alle Instanzen bis zum KG. Dann hatte er noch die Stirn, eine Genehmigung zum Einzelrundfunkempfang zu beantragen. Immer mußten die Akten mitgehen. Am 21.9.1970 legte der SB die Akten von neuem dem Rechtspfleger vor, damit dieser „nunmehr unverzüglich" den Übersendungsbericht fertige. Das tat er dann auch am 25.9.1970; seit dem Urteil vom 24.9.1969 waren genau „Jahr und Tag" vergangen. Am 8.10.1970 ging die Sache beim Generalbundesanwalt - Dienststelle Berlin - ein, der sich sofort darüber hermachte und sie - am 9.10.1970 wieder zurückschickte, weil die Revisionsbegründung ja nun einmal mit aller Gewalt verspätet war. Er bat, den Verteidiger zu einem Wiedereinsetzungsgesuch zu veranlassen. Das geschah. Am 14.10.1970 war das Gesuch da (so einfach ist das), am 18.10.1970 war die Sache wieder beim Generalbundesanwalt, der sie dem Strafsenat am 19.10.1970 vorlegte. Am 20.10.1970 wurde Termin auf den 17.11.1970 bestimmt. In diesem Termin wurde das Urteil in dem einen Diebstahlsfall wegen eines Kreisschlusses in der Beweiswürdigung im Schuldspruch sowie in allen Strafaussprüchen aufgehoben. Auch der Haftbefehl wurde aufgehoben, erstens wegen nunmehrigen Fortfalls der Fluchtgefahr und zweitens wegen UnVerhältnismäßigkeit. Schufterle hatte zwei Jahre und zwölf Tage in Untersuchungshaft zugebracht. Kommentar: Zu diesem Aktenbericht, der mit Absicht so pedantisch gehalten ist, könnte man vieles sagen. Sagen wir nur wenig. 1. Der Bericht ist nicht vollständig. Es gab noch mehr Zwischenspiele. Spiegelberg überschwemmte Gericht und StA mit herrlich beleidigenden Briefen, Schufterle strapazierte die Briefkontrolle. Ursprünglich sollte die Hauptverhandlung schon Anfang Mai 1969 stattfinden. Einmal wurde beantragt, die Unterbrechung der U-Haft zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen zu genehmigen. Die StrK genehmigte das auch. Aber es geschah dann nicht; die Sache geriet wieder in Vergessenheit. 2. An der Sache ist nichts ungewöhnlich. Niemand wird glauben, daß eine solche Häufung solcher Fehlleistungen ein Zufall sei. Ich hätte mir zu einem solchen Bericht die Akte eines beliebigen von den Prozessen heraussuchen können, bei denen zwischen Verkündung des ersten Urteils und Eingang der Sache beim Revisionsgericht mehr als ein Jahr vergangen ist. Davon gibt es genug. Die Auswahl dieser Sache beruht nur darauf, daß mir die Akten gerade am Bußtag - dem Tage nach der Revisionsverhandlung - zur Verfügung standen.

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3. Die Sache war tatsächlich und rechtlich einfach. Bei Einbruchsdiebstahl gibt es kaum rechtliche Probleme. Daß es auch Bandendiebstahl war, ist - wie meist - übersehen worden. Die Strafschärfung bei Bandendiebstahl ist auch ganz überflüssig. Mitglieder von Diebesbanden, die gemeinsam gefaßt werden, sind schon durch die Gemeinsamkeit des Verfahrens hinreichend gestraft. Unter jeder Verzögerung, die einer von ihnen verursacht, leiden die anderen mit. Aber man stelle sich vor, wie das Verfahren erst in schwierigen Sachen aussehen soll, verwickelten Betrugs-, Untreue-, Konkurssachen. 4. Die Begutachtung Spiegelbergs war überflüssig. Einbrecher, zumal wiederholt vorbestrafte Führer von Diebesbanden, wissen selbstverständlich, daß sie nicht stehlen dürfen; dazu gehört ja nicht viel. Sie wissen es auch dann, wenn sie etwa an ganz raren Geisteszuständen leiden sollten. Also kommt es auf diese Zustände nicht an. Uber das „Hemmungsvermögen", also darüber, ob die Täter die Taten auch hätten unterlassen können, wissen die Psychiater ohnehin nichts. Das haben mehrere ihrer Großen schriftlich gegeben. Aber was soll werden, wo man wirklich einmal Sachverständige braucht, Buchsachverständige, Brandsachverständige, Schriftsachverständige? Wie lange soll es dann dauern? 5. Daß die Kontrolle der Haftdauer durch das O L G zur Verlängerung und nicht zur Verkürzung der U-Haft führen würde, wußte ich schon mehrere Jahre vor ihrer Einführung (Die Justiz 1963, 184; vgl. Eb. Schmidt, N J W 1968, 2209). Ganz so hart gegenüber den Häftlingen, ganz so weich gegenüber der Bummelei hatte ich mir die O L G e freilich nicht vorgestellt. 6. Der geschilderte Arbeitsstil vermehrt, ja vervielfacht die Arbeit. Die Überlastung der Justiz ist nicht die Ursache, sondern die Folge solcher Arbeitsweise. Wäre das Verfahren straffer geführt worden, so wäre es zu den meisten der Eingaben, die so viel Zeit gekostet und so viel Kraft verzehrt haben, gar nicht erst gekommen. Es wäre dann nicht erforderlich gewesen, daß sich insgesamt vier Staatsanwälte und zwei Vorsitzende in die Akten einarbeiteten und damit Arbeit leisteten, die schon einmal oder mehrmals getan worden war. 7. Für die Nachwuchskräfte, die bei der Strafjustiz ausgebildet werden, ist ein solcher Arbeitsstil in mehrfacher Weise schädlich. Er fordert scharfe Kritik der Begabteren unter ihnen heraus und zieht für später die nach Können und Temperament am wenigsten Geeigneten an. 8. Solange bei der Justiz solche Dinge möglich sind, sollten Richter und Staatsanwälte es peinlich vermeiden, öffentlich über ihre Besoldung zu sprechen. Sie sollten sich auch nicht mit ihren eigenen Amtsbezeichnungen, der „Robenfrage", Sitzordnung und ähnlichen Nebensachen befas-

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sen, sondern ihr Interesse mehr der handwerklichen Seite ihres Berufs zuwenden. 9. Der Abteilungsleiter der StA k o m m t in der A k t e nicht vor, der Behördenleiter nur mit jener wenig hilfreichen Zurechtweisung des SB. Es erscheint ganz offensichtlich, daß Richter und Staatsanwälte dringend einer bemühteren, wacheren, weniger distanzierten, besser ratenden und helfenden Dienstaufsicht bedurft hätten, und daß auch die Träger dieser Dienstaufsicht ihrerseits eine straffere Leitung nötig gehabt hätten. Die Forderung mancher Staatsanwälte nach Weisungsfreiheit w i r k t im Lichte der beschriebenen Vorgänge ausgesprochen lächerlich. 10. Die J u s t i z v e r w a l t u n g fürchtet Sprengstoff in der Haftanstalt. N u n , dies ist Sprengstoff. Die Zündschnur brennt schon eine Weile, niemand kann sagen, w i e lang sie noch ist. W e n n in dieser A r t weitergemacht w i r d , ist es nur noch eine Frage der Zeit, w a n n nicht mehr mit Katapulten und nicht mehr auf Krähen geschossen w i r d . 11. Es bedarf keiner neuen Vorschriften; w i r haben ihrer genug. § 2 7 5 S t P O : „Das Urteil ist binnen einer W o c h e nach der V e r k ü n d u n g zu den A k t e n zu bringen." N r . 7 R i S t V : „Die Ermittlungen sind schnell und z i e l b e w u ß t d u r c h z u f ü h r e n . " „In Haftsachen sind die Ermittlungen besonders zu beschleunigen." N r . 14: „Hilfsakten sind namentlich in Haftsachen ein geeignetes Mittel, die fortlaufende Bearbeitung zu fördern." N r . 137: „Die Zustellung (des Urteils) ist zu beschleunigen, wenn sich der A n g e k l a g t e in Untersuchungshaft befindet." N r . 152: „Rechtsmittelsachen sind stets als Eilsachen zu behandeln." N r . 161: „Wird das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten, so gibt der Staatsanw a l t seine Gegenerklärung fristgemäß ab." N r . 166: „Das Revisionsverfahren w i r d mitunter dadurch verzögert, daß Haftbeschwerden, Dienstaufsichtsbeschwerden, Beschwerden über die Verhängung von O r d nungsstrafen, sonstige Beschwerden oder Anträge auf Festsetzung von Kosten, Vergütungen und Entschädigungen geprüft oder Gnadengesuche von Mitverurteilten bearbeitet werden oder daß gegen Mitverurteilte die Strafvollstreckung eingeleitet w i r d , bevor die A k t e n dem Revisionsgericht übersandt w e r d e n . " Für solche Fälle geben die Richtlinien eine ganze Reihe von praktischen Ratschlägen, die hier samt und sonders nicht befolgt w o r d e n sind.

Bundesrichter in der heutigen Gesellschaft1 (1970)

Nicht ohne Hemmungen unternehme ich es, über ein Thema zu sprechen, das mehr soziologisch als rechtlich zu sein scheint. Ich wollte erst ablehnen, habe aber Mut gefaßt, als ich einige soziologische Veröffentlichungen2 zum Thema gelesen hatte. Sie schienen mir noch Raum für Bemerkungen eines Bundesrichters übriggelassen zu haben. Für die Soziologen scheint es eine große Rolle zu spielen, welchen Beruf und wieviel Geld die Väter hatten. Nach diesen Gesichtspunkten ordnen sie die Menschen in Schichten; und es hat den Anschein, als betrachteten sie das Verhalten der Menschen weithin als determiniert durch die Zugehörigkeit der Eltern zu einer bestimmten Schicht. Nun mag das für die Berufswahl noch gerade eben einen Sinn haben. Eltern von einfachem Bildungsgrad und mit geringen Mitteln werden häufiger als andere ihren Kindern vom Studium abraten, weil es einen Aufschub des Geldverdienens und keine ins Gewicht fallende Erhöhung der Verdienstaussichten mit sich bringt, und weil solche Leute vielfach kein Verständnis für die Kompensationen haben, die geistige Interessen ihrem Träger vermitteln können. Da hätten wir denn eine sehr einfache Erklärung für die mit so vielem Stirnrunzeln hervorgehobene statistische Erfahrung, daß die sogenannte „Unterschicht", die „Arbeiterklasse", in den juristischen Berufen, also auch im Richterberuf und im besonderen unter den Bundesrichtern, „unterrepräsentiert" ist. Wird daraus nun aber der Schluß gezogen, die Juristen, die Richter, die Bundesrichter hätten typischerweise kein Verständnis für diese sogenannte „Unterschicht", so wird es gleich falsch: Herkunft aus einer Schicht und Verständnis für die Lage, die Bedürfnisse, die Sorgen dieser Schicht haben typischerweise gar nichts miteinander zu tun. Ich gehöre zu einer Generation, die sich noch gut der Zeit erinnert, in der zu einem „bürgerlichen" Haushalt auch bescheideneren Zuschnitts eine Hausangestellte gehörte, damals unbefangen und ohne Kränkungsabsicht „Dienstmädchen" genannt. Es war gerade eine Zeit, in der vielfach die Ehemänner früherer „Dienstmädchen" rasch zu viel Geld kamen und in Vortragsmanuskript um 1970. Dahrendorf\ Soziologie der juristischen Berufe, Anwaltsblatt 1964, 216 ff; Feest, Die Bundesrichter. Herkunft, Karriere und Selektion der juristischen Elite, in: Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, Tübingen 1964, S. 127. 1

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Lebensumstände aufrückten, in denen ihre Frauen nun selbst über „Dienstmädchen" geboten. Nirgends wurden diese armen Kinder verständnisloser behandelt, schlechter bezahlt und rücksichtsloser ausgenutzt als gerade in solchen Haushaltungen. Das war damals ganz allgemein bekannt. - Wir haben durch alle Instanzen eine ausgesprochen arbeitnehmerfreundliche Arbeitsgerichtsbarkeit. Da sich in den Arbeitsgerichten bis hinauf zum Bundesarbeitsgericht die beisitzenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Waage halten, darf man die Arbeitnehmerfreundlichkeit wohl auf das Konto der Berufsrichter schreiben. Die Determinierung menschlichen Verhaltens durch die Herkunft wird, mindestens bei Juristen, völlig überspielt von einer anderen Determinierung durch die Berufsausbildung und -ausübung. Das nimmt all diesen Herkunftsuntersuchungen weithin den Erkenntniswert. Ich habe in Kollegien zusammengearbeitet mit Söhnen von Lokomotivführern, Bankbeamten, Förstern, Brauereibesitzern, Kaufleuten, Berufsoffizieren, kleinen Angestellten, Bauern, Gymnasialdirektoren, Ärzten, Universitätsprofessoren und einem unehelichen Kind. Ich selbst bin Kaufmannssohn. Niemals, auch nicht bei schweren und grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten, ist mir der Einfall gekommen: nun ja, der Vater war eben Landwirt, reicher Industrieller, kleiner Beamter oder gar nichts - da ist es kein Wunder, daß der Mann solche Ansichten hat. Viel signifikanter sind allemal die Unterschiede zwischen Berufsrichtern und Laienrichtern, und zwar völlig ohne Rücksicht darauf, was diese Laienrichter von Beruf sind und welchen „Schichten" sie angehören; ohne Rücksicht auch darauf, ob im Einzelfall die Meinungen zwischen den beiden Gruppen geteilt sind, hier Laien, hier Juristen, oder ob die Fronten quer durch die Gruppen hindurchgehen. Bei genau der Hälfte meiner eigenen Senatsmitglieder habe ich keine Ahnung, was die Väter von Beruf waren. Nach allem, was ich weiß, können es Schornsteinfeger, Schwerindustrielle oder Landwirtschaftsgehilfen gewesen sein. Die Ausübung eines juristischen Berufs, insbesondere des Richterberufs, prägt den Menschen tiefer als die Erinnerung an Kindheit und Elternhaus. Das kann man freilich nicht durch Statistiken beweisen und auch kaum durch Fragebogen erfassen. Vielmehr gehört dazu eine intimere Kenntnis der juristischen Berufswelt, als sie manchen heutigen Soziologen eigen zu sein scheint. Deshalb mag solche Betrachtung eines juristischen Spezialberufs auch ohne soziologisches Handwerkszeug dem erlaubt sein, der sich diese intime Kenntnis hat erwerben können. Wodurch unterscheiden sich Bundesrichter von anderen Richtern? Sie sind im Durchschnitt älter. Sie haben die letzte Station ihrer Laufbahn erreicht. Sie stehen den von ihnen zu beurteilenden Einzelfällen ferner. Sie haben einen größeren Bezirk und sehen mehr Sachen. Sie sind in höherem Grade spezialisiert. Sie unterliegen strengeren Bindungen.

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Die Hauptsache hätte ich beinahe vergessen. Die Soziologie hat - als den bedeutendsten Unterschied - herausgefunden, die Bundesrichter seien „mobiler" 3 als die Richter bei den Oberlandesgerichten. Sie seien häufiger und weiter umgezogen als die Oberlandesgerichtsräte, im Durchschnitt einmal mehr; und aus dieser größeren geographischen Beweglichkeit wird allen Ernstes auf größere geistige Mobilität geschlossen. Nun mag diese Logik bei ordentlichen Professoren gar nicht so falsch sein. Wer da geistig mobiler ist als seine Kollegen, der kann wohl öfter mit einem Ruf an eine andere Universität rechnen, und wenn sich die Rufe häufen und er ihnen auch oft folgt, dann mag sich die geographische Mobilität in der Tat in eine Beziehung zu der intellektuellen Mobilität setzen lassen. Immanuel Kant, der all seiner Lebtage in Königsberg blieb, ist dann die große Ausnahme; oder vielleicht wird seine Intelligenz auch überschätzt. - Aber Oberlandesgerichtsrat kann man, wie bei uns die Dinge nun einmal liegen, praktisch fast nur in seinem eigenen Bezirk, äußerstenfalls in seinem eigenen Lande werden. Wer Landgerichtsrat in Bielefeld ist, der hat beim Oberlandesgericht Hamm nun einmal die weitaus besseren Chancen, selbst wenn er „mobil" genug sein sollte, etwa Bamberg oder Stuttgart schöner zu finden. Die Bayern und die Baden-Württemberger glauben eben, daß ihre wenigen Beförderungsstellen kaum für ihre eigenen Leute ausreichen. Andererseits: Wer Bundesrichter wird, der kann nur dann in seinem eigenen Oberlandesgerichtsbezirk bleiben, wenn das zufällig Karlsruhe ist; und diese Möglichkeit schlägt bei unserer Proporzwirtschaft statistisch nicht so sehr zu Buche. Die meisten Bundesrichter bekommen also bei ihrer Ernennung die geographische Mobilität gleich von Amts wegen mitgeliefert; und das könnte man bei ihnen zu der intellektuellen Mobilität doch nur dann in eine Beziehung setzen, wenn man etwa unterstellen wollte, daß der Richterwahlausschuß die seltsame Laune hätte, ausgerechnet die Tüchtigsten zu Bundesrichtern zu wählen. Von solchen gewagten Mutmaßungen halten wir uns doch besser fern, zumal dann das Reisen und das Umziehen ja seinen Erkenntniswert ganz verlöre. - Was also bedeuten die anderen, vorher erwähnten Unterschiede im einzelnen? Das höhere Durchschnittsalter bedeutet, daß die Bundesrichter das allgemeine Schicksal älterer Menschen teilen, nicht mehr von ihresgleichen beurteilt zu werden, sondern von einer Mehrheit Außenstehender und jüngerer Berufsgenossen, die an ihren Erfahrungen nicht teilhaben. Jeder Richter in unserem Lande weiß, daß er in der Drecklinie unverständiger, bisweilen böswilliger Kritik steht und daß er kaum Waffen hat, sich dagegen zu wehren. Der Bundesrichter steht hier an besonders 3

Feest, a . a . O . , 131.

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ausgesetzter Stelle, und er ist besonders wehrlos. Wenn es etwa einem jüngeren, bisher nicht erfolgreichen Kollegen einfällt, von der zu fünft sorgfältig vorbereiteten und beratenen, von der Wissenschaft längst geforderten, nicht zuletzt auch auf jahrzehntelange eigene tatrichterliche Erfahrungen gestützten Entscheidung öffentlich zu sagen, sie sei „dürftig und unzutreffend begründet" und man werde ihr nicht folgen 4 - dann kann der Bundesrichter nichts erwidern; er hat zu schweigen. Wenn ein junger Privatdozent oder auch ein Referendar den Ehrgeiz hat, sich mit vernichtender Kritik an einem Urteil immerhin der erfahrensten Praktiker des Landes auf dem betreffenden Rechtsgebiet die Sporen zu verdienen, so gehört es sich für einen Bundesrichter nicht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Das gilt freilich auch für einen Richter beim Amts- oder Landgericht; nur daß es seltener jemandem einfällt, sich gerade an ihm öffentlich zu vergreifen. Ein besonders seltsames Gefühl ist es immer, wenn die Kritik auf den Ton gestimmt ist, der Bundesrichter wisse nicht, wie es bei der tatrichterlichen Arbeit hergehe. Dahin wird es vielleicht einmal kommen, wenn nämlich die vielfach vorgetragene Forderung verwirklicht werden sollte, daß die höchsten Richterstellen vorwiegend anderen Juristen, nicht gerade Richtern zu übertragen seien. Vorläufig aber sind fast alle Bundesrichter lange Zeit Tatrichter gewesen und wissen, wie einem als Tatrichter zumute ist; umgekehrt wird ein Schuh daraus, der Tatrichter weiß nicht, wie dem Bundesrichter zumute ist, und wenn er selbst einer wird, stehen ihm manche Überraschungen bevor. Wer Bundesrichter werden will, braucht drei Dinge: ein gutes Gewissen, einen gesunden Humor und ein dickes Fell. Dies letztere wird ihm nun freilich durch seine dienstliche Stellung erleichtert. Bei ihm funktionieren die sogenannten Garantien der richterlichen Unabhängigkeit praktisch besser als bei jüngeren Richtern, denen es wenig hilft, daß niemand sie absetzen oder versetzen kann, solange sie noch den verständlichen Wunsch haben, auch einmal befördert zu werden. Denn damit kann der Bundesrichter im allgemeinen nicht mehr rechnen. Die Zahl der für ihn überhaupt in Betracht kommenden Beförderungsstellen ist noch viel kleiner als bei den Richtern anderer Dienstgrade. In den Ministerien gibt es kaum Stellen, deren Besoldung oder deren Tätigkeit ihn reizen könnte. Eine Verbesserung wäre nur die Beförderung zum Ministerialdirektor; und selbst sie verliert an pekuniärem Reiz durch die um drei Jahre frühere Pensionierung abgesehen davon, daß das Leiten einer Abteilung im Ministerium kaum jemandem liegen wird, der an richterliche Arbeit so intensiv gewöhnt ist wie ein Bundesrichter. Die Vorsitzendenstellen sind wegen der Fünferbesetzung der Senate bei den Bundesgerichten weit dünner gesät als bei 4

Ostermeyer,

Anm. zu B G H N J W 1968, 1246, N J W 1968, 1789.

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den Land- und Oberlandesgerichten mit ihrer Dreierbesetzung. Der Bundesgerichtshof hat 104, das Oberlandesgericht Düsseldorf hat 103 Planstellen. Davon sind in Düsseldorf eine Präsidenten-, eine Vizepräsidenten- und 22 Senatspräsidentenstellen; beim Bundesgerichtshof eine Präsidenten-, eine Vizepräsidenten- und nur 14 Senatspräsidentenstellen. Dazu kommt, daß man beim Bundesgerichtshof wohl mit Rücksicht auf die Kontinuität der Rechtsprechung die Senatspräsidenten oft schon verhältnismäßig jung ernennt, damit der Senat möglichst lange in einer Hand bleibt. Ich zum Beispiel bin mit 46 Jahren befördert worden, blockiere die Stelle also (wenn nichts dazwischenkommt) insgesamt 22 Jahre lang. Auch bei mir war die Beförderung nur ein Zufall: sie beruhte darauf, daß die Frau meines Amtsvorgängers nicht nach Berlin ziehen wollte und daß ich genau sechs Wochen dienstälter war als zwei andere, mindestens ebenso geeignete Mitglieder meines Senats. Mein Vorgänger hätte noch 15 Jahre in Berlin bleiben können, und dann wäre ich für eine Beförderung zu alt gewesen. Es ging also um Zufälle, die sich bei meiner Ernennung zum Bundesrichter und auch noch kurz vor meiner Beförderung nicht voraussehen ließen; und das ist typisch. Es war schon beim Reichsgericht so. Auch dort waren es gar nicht immer die angesehensten und tüchtigsten Mitglieder, die es zu Senatspräsidenten brachten. Nehmen Sie nur Werner Rosenberg, den bekannten Kommentator des Strafgesetzbuchs und der Strafprozeßordnung. Er genoß auch als Richter einen hervorragenden Ruf; besonders angesehen war er wegen seiner Fähigkeit des aufmerksamen und guten Zuhörens. Die Namen seiner Vorsitzenden, außer Lobe, werden Sie kaum jemals gehört haben. Mit dieser Erscheinung hängt es zusammen, daß für Bundesrichter keine Beurteilungen geschrieben werden. Es kann ihnen völlig gleichgültig sein, was der Vorsitzende von ihrer Befähigung hält; und auch der Vorsitzende selbst kommt gar nicht erst in die Verlegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, ob er das nun „knapp befriedigend" oder „vollbefriedigend und besser" nennen würde. Das dienstliche Verhältnis innerhalb der Senate ist infolgedessen entspannter als bisweilen bei anderen Gerichten. Wie wird man überhaupt Bundesrichter? Die gesetzlichen Voraussetzungen - „Befähigung zum Richteramt", Lebensalter von 35 Jahren und die Prozedur - Wahl durch den Richterwahlausschuß - sind bekannt; aber wie kommt man mit seinen beiden Staatsprüfungen und seinen 35 Jahren - Voraussetzungen, die ja ziemlich viele Leute erfüllen - wie kommt man überhaupt erst einmal in die engere Wahl? Das nächstliegende ist: durch einen Vorschlag der eigenen Landesjustizverwaltung, die ja in dem Richterwahlausschuß Sitz und Stimme hat und einen Anteil an dem Proporz. N u n soll es Justizverwaltungen geben, die es gerade im Interesse der eigenen Landesjustiz für das richtigste halten,

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hier den besten Fuß nach vorn zu stellen, also jeweils denjenigen vorzuschlagen, den sie selbst für den besten und geeignetsten halten. Es soll andere Justizverwaltungen geben, die - relata refero - gerade die besten am liebsten für sich selbst behalten, die also nach ihrem eigenen Urteil weniger Geeignete vorschlagen und „wegloben". Es sind Fehlanzeigen vorgekommen, Fälle also, in denen das Land, das nach dem Proporz an der Reihe war, erklärt hat, man habe gerade niemanden. Es ist auch vorgekommen, daß Landesjustizverwaltungen teils mit, teils ohne Erfolg es unternommen haben, ihre eigenen juristischen Landeskinder wegen Unerwünschtheit an den Bundesgerichtshof abzuschieben. Jedenfalls kann ich einen Fall mit Veröffentlichungen belegen, in dem ein höherer Beamter einer Landesjustizverwaltung durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß ziemlich „bemalt" worden war, worauf dann der Chef dieser Justizverwaltung, in seinem Parlament zur Rede gestellt, was er denn auf diesen Ausschußbericht hin getan habe oder zu tun gedenke, in aller Harmlosigkeit zur Antwort gab, er habe den Herrn inzwischen zum Bundesrichter vorgeschlagen, man möge also ganz beruhigt sein. Nun brauchen ja solche Vorgänge im Einzelfall durchaus keine Einwände gegen die Eignung des Betreffenden zu motivieren. Trotzdem werden Sie verstehen, daß der Bundesgerichtshof selbst sich nicht so sehr gern als den hochherrschaftlichen Müllschlucker der Justizverwaltungen verstanden sehen möchte, und daß sein Präsident, der formell an der ganzen Prozedur groteskerweise überhaupt nicht beteiligt ist, es unter Umständen für seine Amtspflicht halten mag, sich trotzdem um einen gewissen Einfluß zu bemühen. Seine Behörde ist es schließlich, die weniger geeignete Mitglieder verkraften müßte. Selbst ein kleiner Senatspräsident, in dessen Senat eine Vakanz bevorsteht, kann in Versuchung kommen, sich zu überlegen, wer denn vielleicht in Betracht käme. In den Anfängen des Bundesgerichtshofs, ehe die Erstbesetzung beisammen war, wurden angesichts der Zurückhaltung einiger Justizverwaltungen alle Mitglieder, auch die der Bundesanwaltschaft, ganz offen befragt, ob sie jemanden wüßten. Diesem Umstand verdanke ich selbst meine Ernennung. Ich war der Kandidat des damaligen Oberbundesanwalts Wiechmann, der zuvor beim Oberlandesgericht Celle mein Senatsvorsitzender gewesen war. Es gab zwar kaum eine Rechtsfrage, politische Frage oder sonstige Frage, in der wir in Celle nicht verschiedener Meinung gewesen wären; aber das war eben damals nicht der Gesichtspunkt und ist es wohl auch heute noch nicht. Ich bemühe mich gerade um jemanden, von dem ich nicht weiß, ob er einer politischen Partei angehört oder nahesteht und bejahendenfalls welcher, nicht weiß, ob er einer Verbindung angehört und gegebenenfalls welcher, nicht weiß, was sein Vater von Beruf war; und ich wüßte nichts, was mir noch gleichgültiger wäre.

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Man begegnet manchmal eigenartigen Ansichten darüber, welche Eigenschaften jemand mitbringen sollte, um sich bei der Arbeit des Bundesrichters wohlfühlen zu können. Manche Kollegen, sogar manche Justizverwaltungen scheinen zu glauben, daß jemand, der gern Haare spaltet, jemand, der noch zum Oberlandesgerichtsrat zu umständlich ist, der gern möglichst lange Zeit mit einer einzigen Akte zubringt, der am liebsten alle Spitzen aller juristischen Bäume erklettert - daß der zum Bundesrichter prädestiniert sei. Dem ist nicht so. In meinem Senat sind im Jahr etwa 750 Revisionssachen zu entscheiden. Bei fünf bis sechs Beisitzern entfallen auf jeden also 125 bis 150 Sachen im Jahr. Wieviele davon Beschlußsachen sind, und über wieviele öffentlich verhandelt und durch Urteil entschieden werden muß, das hängt immer entscheidend von der Entschlußfähigkeit aller ab; genauer gesagt: von der Entschlußfähigkeit des am wenigsten entschlußfähigen Senatsmitglieds. Ein einziger - verzeihen Sie den Ausdruck - ein einziger „Bedenkenschulze" ist in der Lage, seine eigene Arbeit und die Arbeitslast auch der anderen zu vervielfachen, weil sowohl Verwerfungsbeschlüsse als auch Aufhebungsbeschlüsse nur einstimmig gefaßt werden können - mit fünf, nicht wie beim Oberlandesgericht mit nur drei Stimmen. Über Beschlußanträge der Bundesanwaltschaft beraten wir jeweils in der ersten Sitzung nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen zweiwöchigen Wartezeit. Termine für Spruchsachen beraume ich auf einen Sitzungstag vier bis fünf Wochen nach Eingang der Sache an. Nach der Geschäftsordnung ist der Berichterstatter, der gleichzeitig bestellt wird, verpflichtet, eine Woche vor der Sitzung eine schriftliche Bearbeitung vorzulegen, entweder einen Urteilsentwurf oder ein ausführliches Gutachten. Wer ein Gutachten vorlegt, verurteilt sich selbst dazu, nachher noch die Urteilsgründe zu schreiben, und zwar innerhalb einer Woche nach dem Termin. Der Senat ist also - wie übrigens auch die Karlsruher Strafsenate immer völlig ä jour, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Angeklagten, von denen bei uns mehr als die Hälfte in Untersuchungshaft sind. Wer dieses Tempo nicht mithalten kann, wer sich an „Problemen" festbeißt, wer sich ein „Bedenkenfach" anlegt, wer nicht flott in druckreifem Deutsch diktieren kann, der hält es bei uns nicht lange aus. Der bricht mit den Nerven zusammen und wird krank. Andererseits ermöglicht eine so zügige Arbeitsweise es jedem Senatsmitglied, jede Akte nur einmal durchzuarbeiten. Die Akte, das heißt: die Urteilsbegründung, die Revisionsbegründung, die Gegenerklärung. Bitte glauben Sie nicht, wir studierten den übrigen Akteninhalt, die polizeilichen Protokolle, die Schriftsätze, den Inhalt von „Hülle Blatt 2 8 " , um uns eine Meinung über die Tatsachen zu bilden und dann einen „Dreh" zu suchen, mit dessen Hilfe wir das Urteil aufheben. Das ist

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nicht die Aufgabe eines Revisionsgerichts, das dürfen wir nicht, und vor allem: dazu haben wir weder Zeit noch Kraft. Bedenken Sie dazu bitte, daß es bei einem Bundesrichter mit dem Studium des Falles, der schriftlichen Vorbereitung, den Sitzungen und Beratungen nicht getan ist. Der Kopf des Bundesrichters ist die Stelle, an der sich in erster Linie die Osmose zwischen Theorie und Praxis vollzieht. Der Bundesrichter kann seine Alltagsarbeit nicht tun, ohne über jede neueste Entwicklung in Rechtsprechung und Wissenschaft auf dem laufenden zu sein. E r kann nicht erst anfangen nachzuschlagen, wenn ein Fall ihn mit der Nase auf eine Rechtsfrage stößt. Das bedeutet, daß er ständig einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit und -kraft auf das juristische Studium verwenden muß. Bei mir ist das ein Drittel bis zur Hälfte der Zeit, und bei meinen Beisitzern wird es nicht weniger sein. Die N J W , die M D R , die J Z , die J R , Goltdammers Archiv, die ZStW, die Juristische Schulung, die Verkehrsrechtssammlung, das Deutsche Autorecht, das Justizministerialblatt Nordrhein-Westfalen, die Niedersächsische Rechtspflege, die Schleswig-Holsteinischen Anzeigen, die Neuauflagen von Baumann, Maurach, Schönke/Schröder, Welzel, Mezger/Blei, Karl Peters, Henkel, Kern/Roxin, jetzt Jescheck, werden bei Erscheinen durchgearbeitet: jeder hält seinen Lindenmaier/Möhring, seine Deutsche Rechtsprechung, seine NJW-Leitsatzkartei persönlich in Ordnung. Die wichtigsten Monographien werden gelesen. Kurz - seines Fleißes darf man sich bekanntlich rühmen - der Bundesrichter ist ein Student und ein Arbeiter, der sich als solcher innerhalb der Gesellschaft wohl sehen lassen kann. Aber ich höre schon den Soziologen spotten, jeder Stand habe eben „seine etwas hymnischen Ideologen" 5 . Das will ich nicht sein und füge deshalb gleich hinzu, daß Sie sich von dieser Lesearbeit nun aber auch keine übertriebenen Vorstellungen machen dürfen. Ich käme gar nicht auf den Gedanken, auch nur eine einzige Nummer der N J W ganz zu lesen; und auch meine Senatskollegen - Strafrichter wie ich - tun das bestimmt nicht. Gelesen wird, in strikter Beschränkung, nur das, was zu unserer Berufsarbeit gebraucht wird. Was seit der Neufassung des § 50 S t G B zu dieser Vorschrift veröffentlicht worden ist, das braucht bestimmt in keiner Beratung eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs vorgetragen zu werden; jeder Bundesrichter kann das bei seinen Kollegen ohne weiteres als bekannt voraussetzen - was, nebenbei gesagt, die Beratungen stark abkürzt. Aber schon Entscheidungen zu, sagen wir, §172 oder § 3 2 9 S t P O werden wahrscheinlich überschlagen. Diese Vorschriften gehören in das Arbeitsgebiet der Oberlandesgerichte, kommen bei uns normalerweise nicht vor, so daß es rationeller ist, sie gegebenen5

Dahrendorf,

a. a. O., 229.

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falls erst ad hoc zu studieren. Bundesrichter sind also Facharbeiter, sie wissen sehr viel von sehr wenig, ihr fachlicher Horizont ist im allgemeinen scharf und eng umrissen. In den Zivilsenaten ist das noch ausgeprägter als in den Strafsenaten. Die Strafsenate haben sich die Arbeit im wesentlichen geographisch aufgeteilt; soweit das der Fall ist, bearbeiten sie alle dasselbe Strafgesetz und denselben Strafprozeß. Auch innerhalb der Strafsenate kommt es im allgemeinen zu keiner weiteren Spezialisierung. Wir haben keine Fachleute für Brandstiftung, Notwehr oder öffentliches Ärgernis, wenngleich man sich vorstellen kann, daß die Spezialisierung vielleicht schon in der nächsten Generation so weit gehen wird. Noch kann ich jeden meiner Beisitzer in jeder Sache zum Berichterstatter bestellen. Aber schauen Sie sich die Zivilsenate an. Deren Zuständigkeit verteilt sich nach Materien. Nehmen wir als Paradigma den II. Senat. Er hat das Seerecht, das Binnenschiffahrtsrecht, das Wertpapierrecht, das Recht der Vereine, der bürgerlichen und Handelsgesellschaften, das Bankrecht und einen Teil des Firmenrechts. In einem solchen Senat entwickelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Spezialist für Wechsel- und Scheckprozesse, einer für Schiffszusammenstöße, einer für Firmenrecht usw., und eine der ständigen Sorgen des Vorsitzenden wird es sein müssen, daß jeder dieser hochspezialisierten Fachleute innerhalb des Senats überhaupt noch ebenbürtige Gesprächspartner findet. In der Spezialisierung ist, wie Sie wissen, überhaupt Glanz und Elend des heutigen Lebens in weitem Umfange begründet. Es wird einen nachdenklich und auch traurig stimmen müssen, diese fluchbeladene Segnung der Zivilisation auch einem Beruf aufgedrängt zu sehen, der doch davon lebt, daß er ein geistiger Beruf ist. Wohin ist es mit uns seit den Zeiten gekommen, da der Jurist mit Stolz sagen konnte: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia" 6 ! Aber wenn der Verzicht auf diese umfassende Bildungsgrundlage zweifellos ein hoher Preis ist, so läßt sich doch, wie ich glaube, nicht leugnen, daß wir dafür auch einen hohen Gegenwert bekommen. Die Einheitlichkeit unserer Entscheidungen und ihre grundsätzliche Vorausberechenbarkeit hat einen hohen Grad erreicht. Von mindestens 95 Prozent aller Sachen, die auf meinen Schreibtisch kommen, weiß ich mit großer Sicherheit nach dem ersten (und einzigen) Durcharbeiten im voraus, wie der Senat sie einstimmig entscheiden wird. Das ist eine vorsichtige Schätzung. Natürlich stecken die interessanteren Fälle in dem kleinen Rest. Sie sind es auch, die in höherem Grade die öffentliche Aufmerksamkeit finden; bei ihnen treten trotz aller Umsicht gelegentliche Abweichungen zwischen den Senaten auf, aber das sind verhältnismäßig sehr seltene 6

Ulpian, Dig. I, 1, 10, 2.

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Ausnahmen. Wenn der Staat schon nicht ohne Strafen auszukommen glaubt, ist es doch wohl wichtig, daß diese Waffe bei all ihrer Schwerfälligkeit und Kompliziertheit möglichst wenig streut; und dieses Ziel wird - jedenfalls im Rechtlichen - weitgehend erreicht. Daß die Sicherheit und Zuverlässigkeit der tatsächlichen Aufklärung dahinter mehr oder weniger weit zurückbleiben mag, wird man kaum bestreiten können; und daß es auch den Wert der rechtlichen Präzision stark beeinträchtigt, wenn ihre tatsächlichen Grundlagen schwanken, muß ebenfalls eingeräumt werden. Gleichwohl verdient die Sicherheit und Festigkeit der rechtlichen Beurteilung schon deshalb hervorgehoben zu werden, weil sie weithin unbekannt ist. Mindestens zwei Drittel unserer ganzen Arbeit wären überflüssig, wenn die Frage, ob Revision eingelegt und wie sie begründet werden soll, jeweils von einem Anwalt entschieden würde, der seinerseits etwa in demselben Grade spezialisiert wäre, wie wir es sind. Wir brauchten dann statt drei Revisionssenaten nur einen. Aber das sind Träume, an deren Verwirklichung in absehbarer Zeit nicht zu denken ist. Die Engländer machen es grundsätzlich anders. Man könnte die Bundesrichter ja vielleicht insofern mit den englischen Richtern zu vergleichen geneigt sein, als die Zahl der einen etwa der Zahl der anderen entspricht. Aber die Engländer vermeiden es peinlichst, ihre Richter zu solchen Spezialisten einzelner Fachgebiete werden zu lassen; das überlassen sie gerade umgekehrt den Anwälten, nämlich denjenigen unter ihnen, die Lust dazu haben. Insbesondere vermeidet man es in England bewußt, einen Richter dauernd mit Strafsachen zu beschäftigen, „weil man befürchtet, er könnte sonst abstumpfen oder zu anklagefreundlich werden" 7 . Daß man dann den Satz „iura novit curia" nicht auf eine so steile Spitze treiben kann wie bei uns, nimmt man bewußt in Kauf. Wir wiederum müssen in Kauf nehmen, daß gerade unsere letztinstanzlichen Richter keine „königlichen" Richter sein können. Dafür sind sie in ihrer Eigenschaft als gutbezahlte, hochspezialisierte Fachkräfte etwas gar zu Modernes, eben nur eine besondere Abart des brauchbaren Arbeiters, wie man ihn heute mutatis mutandis in allen Sparten des arbeitenden, wirtschaftenden, produzierenden Lebens findet. Der Bundesrichter ist ein zeitgenössischer Arbeitnehmer gerade auch in dem Sinne jenes bitteren Wortes, daß man den Menschen heute beurteilt und einschätzt, wie man im klassischen Altertum nur die Sklaven zu beurteilen und einzuschätzen pflegte: nämlich nach ihrer Brauchbarkeit, nach ihrer beruflichen Verwendbarkeit. Juristen werden damals auf dem Sklavenmarkt in Alexandria zweifellos die allerschlechtesten Preise erbracht haben. Der heutige Bundesrichter wird nicht selten auf seine berufliche Vervollkommnung stolz sein und vielleicht in Gefahr kommen können, 7

Romberg,

Die Richter Ihrer Majestät, 2. Aufl., 1966, S. 173.

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auf die große Zahl der all-round-Juristen etwas hochmütig herabzusehen und bisweilen die Schwierigkeiten ihrer Aufgaben zu unterschätzen, soweit er sie nicht aus eigener früherer Tätigkeit kennt, also etwa der Anwälte. Aber daß ihm die mit seiner Stellung und seinem Können zwangsläufig verbundene Macht zu Kopfe steigt, ja auch nur zum Bewußtsein kommt, das liegt fern, möge man es nun begrüßen oder bedauern. Selbst die manchmal berechtigte Überzeugung, von dieser oder jener Materie entschieden mehr zu verstehen als der Gesetzgeber, hindert ihn im allgemeinen nicht, sich dem als unvollkommen erkannten Gesetz kampflos unterzuordnen. Das Selbstbewußtsein des englischen Richters, der sich als Rechtsschöpfer fühlt und es notfalls fertigbringt, ein vor sechs Monaten erlassenes Gesetz mit der Begründung unangewendet zu lassen, daß es inzwischen schon veraltet sei - dieses Selbstbewußtsein fehlt dem deutschen Bundesrichter durchaus. Selbst die Auflehnung gegen das Gesetz in Form der Einleitung eines Normenkontrollverfahrens beim Bundesverfassungsgericht ist bei den Bundesgerichten seltener als bei den unteren Gerichten. Allerdings mag das auch mit einer größeren „Beweglichkeit" in einem anderen als dem bisher erörterten Sinne zusammenhängen. Der Bundesrichter findet vielleicht eher Wege zu einer elastischen, „verfassungskonformen" Auslegung des unbequemen Gesetzes. Hermann Hesse sagt im „Glasperlenspiel": „jeder Aufstieg in der Stufe der Amter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung". Das könnte, wie so manches in diesem Buch, ausdrücklich an die Adresse von Bundesrichtern geschrieben sein. Ich glaube nicht, daß die Mehrheit der deutschen Juristen sich darüber klar ist, in welchem Grade und in wie vielfältiger Hinsicht ihre letztinstanzlichen Richter gebunden sind. Die Bindung an die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen haben sie allerdings mit den anderen Revisionsrichtern, das heißt mit den Strafrichtern an den Oberlandesgerichten gemeinsam. Aber das ist eben auch eine kleine Minderheit. Man muß sich erst sehr daran gewöhnen, daß die eigenen Vorstellungen davon, wie eine strafbare Handlung, ja ob sie sich überhaupt zugetragen hat, überhaupt keine Rolle spielt. Dabei ist es - mindestens in Strafsachen - ja gerade das, was die eigentlich Betroffenen in erster Linie oder auch ganz ausschließlich interessiert. Sie und häufig auch ihre Anwälte bestürmen uns mit Protestaktionen, daß sie es nicht gewesen seien, daß überhaupt alles ganz anders gewesen sei - das alles geht an unseren Ohren vorbei. Darauf zu hören, ist uns verboten; und wir haben gelernt, uns an das Verbot zu halten. Wir hören das, wie der an den Mast gebundene Odysseus den Gesang der Sirenen. Ein besonders seltsames Gefühl vermittelt die Bindung hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes. Auch insoweit ist der Revisionsrichter nicht frei, seinen eigenen Erfahrungen zu folgen,

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selbst wenn er Grund hat, sie für umfassender und besser gegründet zu halten. Erst recht muß man sich daran gewöhnen, daß die Bindung auch im Rechtlichen sehr fest ist, und daß sie mit jedem Tage fester wird. Seit dem Studium weiß jeder Jurist, wie es mit der Bindung des Richters an das Gesetz bestellt ist. Ausdehnende und einengende Auslegung, Analogieschlüsse und Argumente e contrario lassen da praktisch oft einen weiten Spielraum. Aber jede Entscheidung eines anderen Senats zieht für den Bundesrichter die Fäden fester. Gewiß gibt es auch hier noch die eine oder andere Methode, sich loszureißen oder durchzuwinden. Beruhte die Vorentscheidung wirklich auf der jetzt so unbequemen Ansicht, hängt die jetzt beabsichtigte Entscheidung wirklich von der entgegengesetzten Ansicht ab? Handelt es sich nicht um einen etwas anderen Fall? Läßt sich vielleicht die frühere Entscheidung als Regel, die jetzt beabsichtigte als Ausnahme auffassen, oder gar umgekehrt? Besteht der andere Senat noch, oder ist er aufgelöst, war es vielleicht ein Feriensenat? Hat er die lästige Ansicht inzwischen aufgegeben, ist er später selbst von ihr abgewichen, oder ist er vielleicht auf Anfrage bereit nachzugeben? Sollen wir selbst nachgeben, vielleicht einen passenderen Zeitpunkt, einen überzeugenderen Fall, eine Umbesetzung abwarten, oder sollen wir den Großen Senat anrufen? Schon dem Reichsgericht und so auch uns ist immer wieder der „horror pleni" vorgeworfen worden, und wir haben ihn wirklich. Allerdings haben wir den Großen Strafsenat in 18 Jahren 27mal angerufen; dazu hat das Reichsgericht 34 Jahre gebraucht. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die Häufigkeit der Anrufungen, ebenso wie beim Reichsgericht, allmählich abnimmt, obwohl die Zahl der möglichen Konfliktsfälle ja mit der zunehmenden Masse der Entscheidungen wächst. Der Horror ist also gar nicht zu leugnen. Unsere Kritiker überlegen sich seine Gründe nicht. Zunächst sei an das erinnert, was wir über das Spezialistentum in den Senaten und bei den einzelnen Bundesrichtern gesagt haben. Nehmen Sie an, es ergebe sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem VI. Zivilsenat, der über Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen zu entscheiden hat, und dem 4. Strafsenat, dem die Verkehrsstrafsachen zugewiesen sind. Da müßten also die Vereinigten Großen Senate angerufen werden. Das ist auch schon zweimal geschehen: einmal wegen des Vertrauensgrundsatzes beim Vorfahrtsrecht 8 , einmal wegen des Fahr ens auf Sicht auf der Autobahn'. Ich war dabei, ich gehöre seit 16 Jahren dem Großen Strafsenat an, spreche also nicht mit der Mißgunst des Außenstehenden. Die Vereinigten Großen Senate haben 17 Mitglieder; davon gehört eines dem VI. Zivilse8

BGHSt. 7, 118 = B G H Z 14, 232. ' BGHSt. 16, 145 = B G H Z 35, 400.

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nat, zwei gehören dem 4. Strafsenat an. Es handelt sich also um drei Spezialisten unter 14, sagen wir ruhig, Laien, Leuten wie ich, der ich von diesen Dingen kaum mehr verstehe als jeder beliebige andere Sonntagsfahrer auch. Und das ist schon viel, denn da wird die Mehrheit wenigstens den Führerschein und eine gewisse Fahrpraxis haben; wäre es um Schiffszusammenstöße gegangen, so hätte man die drei Spezialisten ebensogut mit vierzehn Schöffen umgeben können. Freilich können sich nun auch die Vorsitzenden der beiden streitenden Senate entweder selbst beteiligen, oder sie können je einen weiteren Spezialisten abordnen. Aber das hat nur dann einen Sinn, wenn jeder den Standpunkt seines eigenen Senats vertritt, das heißt wenn ihre Stimmen sich gegenseitig paralysieren. Da haben wir dann also einen sehr unhandlichen Beschlußkörper von neunzehn Mitgliedern, fünf zerstrittene Spezialisten unter vierzehn Nichtspezialisten. Es kann Fälle geben, in denen das als ein notwendiges Übel erscheint; aber daß es ein Übel ist, steht allemal viel fester, als daß es notwendig ist. Daß jeder Senat und jeder Bundesrichter einen Horror davor hat, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Sie werden verstehen, daß man erst jeden anderen Ausweg versucht, ehe man sich auf dieses Verfahren einläßt. Das kann, wenn man sich nicht wenigstens eine faire Chance für die eigene Ansicht herausrechnet, bis zum sacrificium intellectus gehen. Zweifellos würden unsere „zornigen jungen Männer" 1 0 ein solches sacrificium intellectus mit dem häßlichen Namen „Rechtsbeugung" belegen. Sie wäre in diesem Falle nicht einmal mit nur bedingtem, sondern mit direktem Vorsatz begangen. Ich bekenne mich öffentlich und mit Nachdruck dazu, mich schon öfter so verhalten zu haben. Ich fordere den für mich zuständigen Staatsanwalt auf, mich deswegen anzuklagen. Wenn man sich aus seiner langjährigen Kenntnis der Personen und der Dinge vorher ausrechnen kann, daß eine Vorlegung doch zu keinem anderen Ergebnis führen kann als zu einer Zementierung des für falsch Gehaltenen durch einen Plenarbeschluß, dann wäre es eine sehr billige Prinzipienreiterei, sich persönlich durch Anrufung des Großen Senats der förmlichen Verantwortung für das so oder so „falsche" Ergebnis zu entledigen. Man leistet der Entwicklung des Rechts zu dem, was man für richtig hält, unter Umständen einen besseren, weil wirksameren Dienst, wenn man auf einen geeigneteren Fall wartet: einen Fall, dessen konkrete Gestaltung die Unrichtigkeit der bisherigen Praxis zwingender erkennen läßt, vielleicht einen Fall, bei dem der Angeklagte in Freiheit oder etwa in anderer Sache in Strafhaft

10 Bemmann, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, eine Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch (1968), S. 308; Dellian, Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht, ZRP 1969, 51; „Aktionskomitee Justizreform", ZRP 1969, 44.

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ist, so daß er unter dem Aufenthalt, den die Vorlegung zwangsläufig mit sich bringt, weniger leidet. Ich bekenne Ihnen, daß es für mich in diesem Zusammenhang sogar eine gewisse Rolle spielt, ob es eine Aufhebung oder eine Bestätigung des angefochtenen Urteils sein würde, die man sich mit der Anrufung des Großen Senats ermöglichen müßte. Hat nämlich der Tatrichter selbst, dem das ja freisteht, sich gegen die bisherige Praxis aufgelehnt, weil sie ihn in dem vorliegenden Fall unerträglich dünkte, so hat man im Großen Senat einen ganz anderen Impetus, eine überzeugtere und überzeugendere Verhandlungsweise, als wenn man vorlegt, um dem Tatrichter beibringen zu können, wie töricht es von ihm war, sich auf die bisherige Praxis zu verlassen. Es kann für mein Gefühl und nach meiner Erfahrung den entscheidenden Unterschied im Großen Senat ausmachen, ob man den jeweiligen Tatrichter zum Verbündeten oder zum Gegner hat. Es kommen noch andere Dinge hinzu, die den horror pleni erklären. Entscheidungen werden nicht grundsätzlich richtiger, je größer das Gremium ist, das sie erläßt. Es gibt da ein Optimum, dem die Fünferbesetzung näherkommt als die Neuner- oder gar die Siebzehnerbesetzung. In einem Fünfersenat kann jemand, dem etwas Gutes einfällt, noch das Wort ergreifen, ohne daß gleich ein Chaos daraus wird. In größeren Gremien muß man sich zum Wort melden und warten, bis man an der Reihe ist. Bis dahin kann die Diskussion schon an dem Punkt vorbei sein, zu dem man etwas sagen wollte. Ein Einzelsenat entwickelt ein „Wir"-Gefühl, Teamgeist, die Empfindung, daß man einen guten Namen zu verlieren habe. Da kann man Streitfragen ausdiskutieren, der Minderheit mit einer zurückhaltenden Begründung so weit entgegenkommen, bis sie schließlich mitmacht; oft kann man grundsätzliche Kontroversen aussparen, und man ist bereit dazu. Im großen Senat steht viel leichter alles auf Spitz und Knopf. Da sind, wenn schrittweise abgestimmt werden muß, bei wechselnden Mehrheiten Entscheidungen möglich, mit denen, wenn sie schließlich fertig sind, nicht ein einziger der Mitwirkenden einverstanden ist. Die Entscheidungen der Großen Senate sind erfahrungsgemäß ganz allgemein nicht etwa von besserer Qualität als die der Einzelsenate. Sie pflegen meist auch von der Kritik schärfer angegriffen zu werden, oft zur herzlichen Genugtuung ihrer eigenen Mitglieder. Das liegt nur zum Teil daran, daß es sich hier jeweils um ohnehin sehr streitige Fragen handelt. Zum Teil liegt es einfach an der notwendig schlechteren Qualität. Lassen Sie uns von da zu der eigentlichen, alltäglichen Domäne bundesrichterlicher Arbeit, nämlich in den Einzelsenat zurückkehren. Was dem frisch ernannten Bundesrichter als erstes auffällt, ist die Tatsache, daß er plötzlich ein kleineres Stück eines größeren Apfels ist. Beim Land- oder Oberlandesgericht war er ein Drittel der Kammer oder

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des Senats; jetzt ist er nur noch ein Fünftel. Beim Oberlandesgericht sind der Vorsitzende und der Berichterstatter zusammen schon die Wahrheit; beim Bundesgerichtshof sind sie eine Minderheit. Nun sind das freilich Binsenwahrheiten. Aber sie vermitteln dem, der ihnen das erste Mal in der Wirklichkeit begegnet, ein - wenn der Ausdruck erlaubt ist - ganz anderes Richtergefühl. Die Versuchung für den Vorsitzenden, sich einen passenden Berichterstatter auszusuchen und sich mit dem über den Kopf des dritten Mannes hinweg zu einigen, fällt beim Bundesgericht einfach aus. Die beiden sehen sich nicht einem dritten Mann gegenüber, der sich schon im voraus als überstimmt betrachten kann, sondern einer potentiellen Mehrheit. Insofern ist alles viel offener. Andererseits wirkt ein solcher Fünfersenat, wenn man als neues Mitglied hineinkommt wie ein Löffel Mehl in ein fertig gebackenes Brot, viel starrer und unbeweglicher als ein Kollegium, in dem man einer von Dreien ist. Viel stärker spürt man die Stimmung: „das haben wir immer so gemacht" und „das haben wir noch nie so gemacht" und „wohin kämen wir da", wenn hier jeder Neue gleich neue Sachen einführen wollte. Sollte also ein gerade ernannter Bundesrichter seinen Dienst etwa mit dem Gefühl angetreten haben, ein neuer Besen zu sein, der jetzt den alten Staub und Muff einmal gründlich auskehren werde, dann mag sein erster Eindruck wohl der eines geradezu unüberwindlichen und unerträglichen Konservativismus sein - und das sogar dann, wenn er zufällig einen Senat erwischt hat, der innerhalb des Gerichts als eher revolutionär verschrieen ist. Freilich kommen die meisten neuen Männer wohl schon von vornherein nicht mit diesem Besengefühl, sondern mit dem besten Willen der Anpassung und Einordnung. Auch das muß aber nicht unbedingt das Richtige sein. Vor einigen Jahren besuchte mich ein Ministerialbeamter, der sich ausgerechnet hatte, daß er demnächst Bundesrichter werden müßte, und zwar in meinem Senat. U m sich mir zu empfehlen, berichtete er, daß er in letzter Zeit schon immer fleißig Bundesgerichtsurteile gelesen habe, nicht etwa aus Interesse an deren Inhalt, sondern um sich die Technik ihrer Begründung anzueignen. Das kam mir vor, als ob jemand sich auf eine Bäckerlehre dadurch vorbereitet, daß er immer schon möglichst viele Brötchen ißt. Was die Technik der Begründung angeht, so hat eigentlich jeder Fall seine eigenen Gesetze; gerade in diesem Punkte läßt man bei uns auch dem Neuling freie Hand. Der besondere Stil eines Senats entwickelt sich von selbst, ohne Abstimmung und ohne Übergriffe des Vorsitzenden. Übrigens bin ich natürlich niemals nach meiner Ansicht über den erwähnten Herrn gefragt worden, so daß mein Gewissen nicht mit dem Selbstvorwurf belastet ist, eine hoffnungsvolle Bundesrichterkarriere vereitelt zu haben. Die Bundesgerichte leiten ihre Daseinsberechtigung zu einem Teil davon her, daß ihre Rechtsprechung im großen und ganzen einigerma-

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ßen gleichbleibend und deshalb berechenbar ist. Gewiß wird ihnen niemand das Recht bestreiten, ihre Praxis in dem einen oder anderen Punkt auch einmal zu ändern; bisweilen werden Änderungen ja auch leidenschaftlich gefordert. Prozeßrechtlich ist kein Senat an seine eigenen Vorentscheidungen gebunden; es gibt also Fälle genug, in denen nichts ihn hindert, sich eines Besseren oder eines Schlechteren zu besinnen. Das gilt besonders von solchen Materien, in denen ein Senat allein zuständig ist. Es gibt Beispiele, oder doch ein Beispiel dafür, daß man eine Materie bei einem einzigen Senat konzentriert hat, um zu einer stetigeren Rechtsprechung zu gelangen, und daß dann gerade dieser Senat seine Alleinzuständigkeit dazu benutzt hat, um in seiner Rechtsprechung zu schwanken. Das bemerkt man ungern; und eines würde man bestimmt nicht verzeihen: fortwährendes Schwanken, von Sitzung zu Sitzung, in irgendeiner Rechtsfrage. Jeder Bundesrichter und jeder Außenstehende muß und wird einsehen, daß das nun einmal nicht angeht. Daraus ergibt sich ein besonderes Problem, wenn ein Senat in irgendeiner Frage ständig geteilter Meinung ist. Nehmen Sie etwa an, drei von den sieben Mitgliedern eines Strafsenats hielten nicht den Gesamtvorsatz, sondern nur den Fortsetzungsvorsatz für erforderlich, um einen Fortsetzungszusammenhang anzunehmen. Das Beispiel ist theoretisch; ich kenne nur ein Mitglied des Bundesgerichtshofs, das zu dieser Meinung neigt, und dieser eine gehört nicht zu meinem Senat. Aber so etwas wäre doch denkbar. Und nun stellen Sie sich vor, eines schönen Tages finden diese drei Mitglieder sich in einer Sitzung zusammen und bilden also die Mehrheit. Sie könnten also, ja sie müßten eigentlich diese häufig auftretende Frage in ihrem Sinne entscheiden; das heißt, sie würden, da ja Entscheidungen anderer Senate entgegenstehen, die Rechtsfrage dem Großen Senat vorlegen. Der Große Senat braucht dazu, so wie sein Verfahren nun einmal beschaffen ist, ein halbes Jahr. Inzwischen taucht diese Frage fast in jeder Sitzung ein oder zweimal auf. In jeder dritten Sitzung bilden unsere drei die Mehrheit. Sie müßten also, wenn sie nicht gegen ihre eigene Meinung stimmen wollen, immer wieder vorlegen oder alle Sachen, in denen es darauf ankommt, auf Eis legen. In zwei Dritteln der Sitzungen dagegen wird entschieden wie bisher. Glauben Sie, so etwas ginge an? Es hat Vorsitzende gegeben, die in solchen Fällen alle Mitglieder des Senats zusammengebeten haben. Aber dafür gibt es keine gesetzliche Handhabe; niemand braucht sich in diesem Gremium überstimmen zu lassen. Jetzt kommt die Entscheidung des Großen Senats. Es ist nicht schwer vorauszusagen, wie sie lauten und wie sie begründet sein wird: sie wird mit den alten Gründen an der alten Praxis festhalten. Neue Gründe sind nicht zu erwarten, die Frage ist längst ausdiskutiert. Unsere drei Dissentierer sind also nicht überzeugt. Sie müßten demnach bei der nächsten Gelegenheit mit einer

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neuen Anrufung des Großen Senats die zweite Runde dieses Spiels einleiten. Halten Sie so etwas für möglich? Ich habe dieses Beispiel deshalb zu Tode gehetzt, um Sie von einer grundsätzlichen These zu überzeugen: Bei aller richterlichen Unabhängigkeit, bei allem Recht und aller Pflicht zur eigenen Meinung gehört zum Bundesrichter ein gewisses Minimum an Konformismus, eine gewisse Bereitschaft, sich einzufügen. Der Vorsitzende darf die Gleichmäßigkeit der Rechtsprechung nicht dadurch herzustellen suchen, daß er die Besetzung des Senats manipuliert, daß er also etwa die drei Dissentierer konsequent auseinanderhält. Erstens widerspräche das unseren Vorstellungen vom gesetzlichen Richter, und zweitens wäre es praktisch nicht möglich. Wenn also das Bundesgericht nicht ein wesentliches Stück seiner Aufgabe verfehlen soll, geht es nicht ohne eine gewisse Anpassung des einzelnen ab. Ich sage das nicht, um etwas Unerhörtes und Neues zu postulieren. Ich sage es auch nicht einmal gern; denn es funktioniert schon von selbst, und im großen und ganzen ist mir das Maß des in unserer Justiz - auch und gerade bei den unteren Instanzen gebotenen Konformismus schon zu groß. Zu wünschen wäre etwas mehr Fingerspitzengefühl dafür, wohin er gehört und wo er vom Übel ist. Zu wünschen wäre auch ein wenig Gefühl dafür, daß man einer solchen praktischen Schwierigkeit nicht mit einem so groben Instrument wie dem Rechtsbeugungsparagraphen zu Leibe rücken kann, obwohl ja gar nicht zu leugnen ist, daß wir hier die Forderung nicht nur stellen, sondern auch erfüllen, der Richter, sogar der Bundesrichter, möge unter gewissen Voraussetzungen bewußt gegen seine eigene Überzeugung stimmen. Wir haben noch ein heikles Problem, dem wir nicht ausweichen wollen. Die Soziologen machen sich gern Gedanken darüber, welches Ansehen ein Beruf genießt; sie ermitteln das, wie so manches andere, mit Fragebogen, und haben auf diese Weise herausgebracht, daß es mit dem Ansehen der Juristen, obwohl sie eigentlich die Führungsschicht kat' exochen seien, schlecht bestellt ist". Dabei könnten sich nun gerade Bundesrichter wohl beruhigen, denn zur Ausübung ihres Berufs bedarf es keines besonderen Glanzes. Im großen Ganzen leisten sie eine stille Referentenarbeit an ihrem Schreibtisch, in der Bücherei, in der freundnachbarlichen Ruhe des Beratungszimmers, vielleicht auch auf einsamen Spaziergängen oder schlaflos im Bett liegend. Dabei kann der Pegelstand ihres Ansehens sie wohl kalt lassen. Das tut er auch; symptomatisch dafür ist, daß in den letzten Jahren viele Bundesrichter bei Erreichung des Ruhestandes auf das ihnen zugedachte Bundesverdienstkreuz mit höflichem Dank verzichtet haben. Die Sorge, daß auch das Entgelt für 11

Dahrendorf,

a. a. O., 220.

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ihre Dienste auf die Dauer unter dem mangelnden Ansehen leiden könnte, haben sie im allgemeinen nicht und brauchen sie nicht zu haben. Entgelte richten sich nach Angebot und Nachfrage. Schon bisher ist von Zeit zu Zeit der Punkt erreicht worden, an dem man für das bis dahin gebotene Gehalt keine Bundesrichter mehr bekommen konnte, so daß man sich genötigt sah, das Gehalt zu erhöhen. Früher hatte der Staat einmal Möglichkeiten, Geld zu sparen, indem er unmittelbar Ansehen verlieh: Titel, Orden, Uniformen, Hofrang, alles billig zu haben. Das zieht nicht mehr, die Gesellschaft und der Staat selbst untergraben es, und nun wird er dafür bezahlen müssen. Es ist nämlich ganz richtig, was die Soziologen über das geringe Ansehen der Bundesrichter herausgebracht haben. Wir können das leicht mit persönlichen Erlebnissen belegen und erläutern. Einer meiner Senatskollegen war vor seiner Ernennung Oberstaatsanwalt gewesen. Seine Metamorphose zum Bundesrichter wurde von seiner Umwelt mit vielem Takt behandelt; denn natürlich konnte man sich kaum etwas anderes denken, als daß er wohl etwas ausgefressen haben müsse, um einer so schmählichen capitis diminutio unterworfen zu werden. Das Umgekehrte habe ich bei meiner Bestellung zum Honorarprofessor erlebt. Leute, denen es niemals eingefallen wäre, einen gewöhnlichen Senatspräsidenten beim Bundesgerichtshof anders als mit seinem Namen anzureden, nehmen sich das gegenüber einem Professor nicht heraus. Der Respekt und sogar der Kredit, die Bereitschaft, einen Scheck in Zahlung zu nehmen, ist selbst bei so gewiegten Menschenkennern wie Hotelportiers gegenüber einem Professor weit größer als gegenüber einem Bundesrichter - gar nicht zu reden von dem Wohlwollen, um nicht zu sagen der Narrenfreiheit, die man als Professor bei Polizeibeamten und solchen Leuten genießt, die Richtern gegenüber zu besonderer Strenge neigen. Andererseits ist es vielleicht interessant zu sehen, welche Machtfülle viele Menschen den Bundesrichtern zuschreiben. Das ergibt sich aus der täglichen Fülle der Briefe, die man so bekommt. Die Leute glauben es einfach nicht, daß auch ein Bundesrichter dem Gesetz unterworfen ist. Sie verbinden das Anliegen, das sie einem vortragen, gern mit der Ermahnung: „Kommen Sie mir nicht mit Paragraphen!", ganz wie Faust zu Mephisto: „Mein Herr Magister Lobesan, laß er mich mit dem Gesetz in Frieden!" Selbst wenn sie an die gesetzliche Bindung selbst glauben, trauen sie dem Bundesrichter doch Intelligenz und guten Willen genug zu, dem Gesuchsteller zuliebe einen Weg zwischen den Paragraphen hindurch oder um die Paragraphen herum zu finden; und wenn er das nicht will, halten sie ihn sehr leicht für böswillig. Sie halten uns eigentlich immer für ermächtigt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Sie schreiben uns die Befugnis der Dienstaufsicht über alle Gerichte, Staatsanwaltschaften, Verwaltungsbehörden, insbesondere aber über die

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Polizei zu. Einer wollte mir nicht einmal glauben, daß ich nicht befugt bin, dem Niederländischen Königshaus Weisungen zu erteilen. — Daß dagegen wir selbst einer Dienstaufsicht unterstehen, darauf kommen nur die allerwenigsten - und die glauben dann natürlich, daß die Dienstaufsicht auch unsere Entscheidungen abändern könne. Besonders interessant sind die Vorstellungen der Leute darüber, wie man uns beeinflussen könne. Weit über die Hälfte versucht es mit kriecherischer Unterwürfigkeit, einige wenige mit hanebüchener Grobheit. Ein Bestechungsversuch ist mir in meiner ganzen Richterzeit noch niemals begegnet - so gern ich einmal gewußt hätte, auf welchen Preis man mich taxiert. Am nächsten kam dem ein Kassiber, worin ein wegen Lebensmittelfälschung verurteilter Industrieller an einen Bekannten schrieb, er sei optimistisch, weil für seine Revision der Bundesgerichtshof zuständig sei - zum Bundesgerichtshof habe er nämlich „einen Draht". Natürlich wartete ich voller Spannung, wo dieser „Draht" bei mir herauskommen würde; aber er kam nicht, und so wurde denn die Revision verworfen. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß die Leute uns doch wohl für unbestechlich halten. Wenn sie uns drohen, dann immer mit demselben Mittel: mit der Presse. Sie kennen eine Reporterin der Bildzeitung, sie werden an den Spiegel schreiben, die Öffentlichkeit wird erfahren, daß Deutschland ein Unrechtsstaat ist, schlimmer als unter Hitler. Wenn man ihnen dann antwortet, Drohungen machten keinen Eindruck, sind die wilden Männer gewöhnlich gleich wieder ganz zahm. Drohungen haben ihnen ganz ferngelegen, man muß sie völlig mißverstanden haben, vielleicht haben sie sich nicht juristisch genug ausgedrückt. Gefangene, gerade sie, sind meist angenehm enttäuscht, bisweilen sogar geradezu gerührt, wenn man ihre Briefe postwendend beantwortet. Das führt zu einem letzten Charakteristikum bundesrichterlicher Arbeit und Lebensform: der Ferne von den Menschen, über deren Wünsche und Sorgen wir zu entscheiden haben. Übrigens lassen diese Menschen sich nicht als eine bestimmte Gruppe umschreiben. Es ist ja nicht mehr der Fall, wenn es überhaupt jemals der Fall gewesen sein sollte, es ist ja nicht einmal mehr ein Vorurteil, daß Verbrecher, „Spitzbuben", „arme Sünder", zu einer Unterschicht gehörten, zu den humiliores, und daß in Kreisen der honoratiores so etwas nicht vorkomme. Nicht erst das Verkehrsstrafrecht hat diese Vorstellung durcheinandergebracht. Mit ihm hat zum Beispiel mein Senat gar nichts zu tun, sondern nur mit der schweren Kriminalität, und trotzdem: unsere Angeklagten sind Landstreicher und Universitätsprofessoren, Großindustrielle und Geistliche, Prostituierte und Politiker, Analphabeten (oder, wie neulich einer sagte, „Antialphabetiker") und Büchernarren, Studienräte, Künstler und Banausen, Kluge und Dumme, kleine Ange-

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stellte und große Ganoven, Teenager und Greise, von ihrer kriminologischen Einordnung einmal ganz abgesehen. Aber nicht den zehnten Teil unserer Angeklagten bekommen wir Auge in Auge zu sehen. Selbst die Anwälte, die sie in erster Instanz verteidigt haben, kommen nur zum kleineren Teil zu uns. Oft erscheint überhaupt niemand; nicht selten erscheinen Verteidiger, die ihrerseits den Angeklagten niemals gesehen haben. Auch bei den Zivilsenaten ist der Abstand, den die Anwälte zu überbrücken haben, sehr groß. Dort sieht die Klientel natürlich anders aus. Schon die Revisionssumme von 15 000 D M bringt das mit sich. Man hat sie ja sogar als unsozial bezeichnet - als ob es ein beneidenswertes Vorrecht wäre, Zivilprozesse durch drei Instanzen zu führen. Die drei Anwaltsfirmen auf jeder Seite bedeuten auch hier eine starke Mittelbarkeit und Distanzierung zwischen den Streitparteien und den Bundesrichtern. Das trägt leider sehr zu dem durch die Prozeßordnungen ja geradezu geforderten Umstand bei, daß der Bürger für seine Richter der letzten Instanz mehr ein Fall als ein Mensch ist. Und wir sind wahrscheinlich für ihn - vorsichtig gesagt - nichts besseres. O b die Anwälte dem ohne Erfolg sein Recht, oder doch ein günstigeres Urteil, suchenden Menschen seine fernen Richter im freundlichen Sinne ausdeuten, wird man oft bezweifeln müssen. Daß wir ganz gewöhnliche Menschen mit ganz gewöhnlichen Sorgen, mit alltäglichem Ärger und manchmal auch mit Angst vor dem Leben sind, mit Frau und Kindern und einem Hund, der auch nicht folgt - das wird ihnen wohl nicht immer bewußt. Wir versuchen uns in unseren Urteilsgründen den davon in erster Linie Betroffenen verständlich zu machen, so gut es geht. Gewiß gelingt das oft nicht. Sehen wir doch immer wieder, wie schwer selbst die Verständigung mit den Fachgenossen unter unseren Lesern fällt. Um so dankbarer ist unsereiner, wenn ein freundlicher Veranstalter und ein Kreis aufmerksamer Zuhörer einem Gelegenheit gibt, sich einmal offen auszusprechen.

Von der Höflichkeit des Richters1 (1958)

Die Ehrerbietung des Bürgers gilt seinem Amt Es war einmal ein junger Mensch, der kam zum ersten Mal im Leben in einen Gerichtssaal - den Hut auf dem Kopfe. Der Richter fuhr ihn barsch an. Das ist nun wohl schon ein halbes Jahrhundert her. Manches hat sich seitdem geändert, auch in der Rechtspflege. Aus dem jungen Mann von damals ist einer unserer angesehensten Mitbürger geworden. Neulich fragte man ihn vor der Öffentlichkeit nach seiner Meinung über die Justiz; über die heutige, versteht sich. Da kam die alte Geschichte zutage, und mit ihr ein alter, noch immer nicht ganz verwundener Groll. Der würdige Greis wird wohl bis an sein Lebensende die Richter für etwas überheblich halten. Sein Unwillen machte Eindruck auch auf die Richter, die mit ihm am Tische saßen. Nun ja, meinten sie, der Richter solle eben daran denken, daß die Leute nicht für ihn da seien, sondern er für die Leute. Man bekommt als Richter bisweilen Briefe von Leuten, die sich über irgend etwas, beispielsweise über eine Strafe, beschweren und das nicht damit begründen, daß sie unschuldig seien, sondern damit, daß sie Steuerzahler sind. Als Angeklagte halten sie sich für eine Art von Arbeitgeber des Richters. Das sind Ausnahmen. Aber sie regen zum Nachdenken darüber an, in welchem Sinne der Richter eigentlich „für die Leute da ist". Er urteilt im Namen des Volkes. Begegnet man ihm in den Formen besonderer Ehrerbietung, wie sie anderen Staatsdienern gegenüber nicht üblich sind, so weiß er, daß das nicht ihm persönlich gilt. Ihn selbst als einen hoffentlich bescheidenen Menschen würde es verlegen machen, daß alles aufsteht, wenn er den Saal betritt. Nicht im eigenen Namen, sondern als ein Stellvertreter nimmt er solche Ehrbezeigungen entgegen, weil er weiß, sie werden der rechtsprechenden Gewalt des Volkes erwiesen. Als ihr Diener und selbst voller Achtung vor ihr gewöhnt er sich daran, in ihrem Namen solche Formen zu erwarten; zu verlangen, daß jemand, dem er in der Straßenbahn seinen eigenen Sitzplatz anbieten würde, im Gerichtssaal vor ihm steht, während er sitzt.

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Zuerst veröffentlicht in: Der Tagesspiegel (Berlin) vom 1 . 6 . 1 9 5 8 , S. 12.

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Praxis der Strafrechtspflege

Selbst die formlosen

Amerikaner...

Die Würde des Rechts und die Gewalt des Volkes, die er nur als ein Dienender verwaltet, hindern ihn auch, auf diese Formen zu verzichten. Wenn man ihn in der Sitzung als „Herr Richter" anredet, so kann er nicht erwidern: „Sagen Sie bitte ruhig Meyer zu mir." Das darf er nur da, wo die Anrede seiner Person gilt, also nicht im Gerichtssaal. So hält man es auch im Ausland überall. Selbst die Amerikaner, sonst recht formlos, nennen ihre Richter im Amt „your honor". Wollte ein Richter sich in der Sitzung zur Begrüßung eines eintretenden Klägers oder Beklagten erheben, wollte er einem Zuhörer die T ü r öffnen oder den Angeklagten auffordern, es sich bequem zu machen, so wäre das nicht höflich; vielmehr wäre es anmaßend. Denn der Richter täte dann, als käme man zu ihm, Herrn Meyer, weil er es ist. In Wahrheit kommt man zum Gericht, und seine Person ist den Erscheinenden mit Recht gleichgültig. Zu einer Höflichkeit ganz anderer Art verpflichtet das Richteramt. Sie bringt in der Tat zum Ausdruck, daß er „für die Leute da ist". E r muß seine Sitzungen auf die Minute pünktlich anfangen lassen. E r sollte die Termine so bestimmen und die Zeugen so laden, daß niemand unnötig warten muß. Kommt es trotzdem dazu, so vergibt er sich nichts mit einem Wort der Erklärung oder Entschuldigung. Er muß die Beteiligten in Ruhe zu Worte kommen lassen und ihnen aufmerksam zuhören; nicht Akten lesen, während der Anwalt vorträgt, und nicht schon das Urteil schreiben, während der Angeklagte noch sein letztes Wort spricht. Er hat die Menschen, die er vor seine Schranken lädt, gegen Entwürdigungen zu schützen: gegen zudringliche Photographen wie gegen die Zumutung, in das Mikrophon des Rundfunks zu sprechen. E r muß verhindern, daß ein Zeuge nach seinen Vorstrafen gefragt wird, wenn es darauf gar nicht ankommt. Er darf sich keine Ironie erlauben und niemanden lächerlich machen. Er muß so reden, daß man ihn versteht, und den juristischen Fachjargon unterdrücken. In Hannover gab es einmal einen Amtsrichter, der fragte einen jungen Landwirt, ob er etwa die „exceptio plurium concumbentium" erheben wolle. Der Richter darf die Unkenntnis der Leute nicht ausnutzen, sondern muß sie über ihre Rechte belehren und bei ihren Anträgen beraten. Er darf keine Voreingenommenheit zeigen, sollte aber schließlich auch nicht ganz verheimlichen, wohin die Waage sich zu neigen beginnt; eine Straf- oder Zivilkammer ist keine Dunkelkammer, Überraschungsurteile sind oft falsch. V o m Richter muß eine so überzeugende Sachlichkeit ausgehen, daß auch die Streitenden sachlich werden. Von solcher Art muß seine Höflichkeit sein. Ein Richter, der sich selbst richtig benimmt, wird nur höchst selten etwas an der Aufführung anderer Erschienener zu beanstanden brau-

Von der Höflichkeit des Richters

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chen. Freilich muß er auch darauf ein Auge haben. Eine gewisse Feierlichkeit bringt den Frieden des Gerichts zum Bewußtsein der Beteiligten und beruhigt sie. Gelegentlich ist Nachsicht am Platze. Vielleicht hält ein Aufgeregter die Hand nur aus Verlegenheit und nicht aus Frechheit in der Hosentasche. Dann kann man so etwas einfach übersehen. Aber daß jemand mit dem Hut auf dem Kopf hereinkommt, läßt sich eigentlich kein Mensch gefallen, der auf sich hält; warum also sollte gerade der Richter es sich gefallen lassen? Es ist schon mehrere Jahrzehnte her, da passierte in einer kleinen Universitätsstadt ein ganz ähnlicher Vorfall. Ein junger Rechtsstudent wollte, ebenfalls zum ersten Mal im Leben, einer Gerichtsverhandlung zuhören. Es war ein besonders heißer Tag, und er war deshalb nur in Oberhemd und Hose. Er wurde sofort hinausgeworfen; mit Recht. Es war der Verfasser dieses Artikels.

IV. Justiz und Öffentlichkeit

Urteilsschelte liegt im Interesse der Rechtsprechung (1960) Uber das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen unabhängiger Justiz und unabhängiger Presse1 Rechthaberei ist vielleicht bei uns eine nationale Schwäche. Aber wenn es einen Beruf gibt, der seinem Träger hilft, diese Schwäche zu überwinden, dann ist es der des praktischen Dieners am Recht. Niemand wird so unablässig daran erinnert, daß man glauben kann, recht zu haben, im Recht zu sein - und daß man sich doch damit abfinden muß, unrecht zu bekommen - , wie der Rechtsanwalt, der Staatsanwalt und der Richter. In unserem Beruf sind Kritik und Selbstkritik eine alltäglich, unpathetisch, selbständig und selbstverständlich geübte Methode der freien Meinungsbildung. Wer ein Ritter von der eigenen Meinung ist, wird entweder keinen Beruf der praktischen Rechtsanwendung ergreifen, oder dieser Beruf des Anwalts oder Richters wird ihn erziehen, Kritik zu vertragen, gelassen auf sie zu hören und ihre Gründe in sachlicher Ruhe zu bedenken. Kläger und Beklagter, Anklage und Verteidigung atmen in gegenseitiger Kritik ihre Lebensluft. Der Richter unterwirft sich der Kritik durch das höhere Gericht; und höhere Gerichte sind Kollegien, in denen man sich überzeugen oder überstimmen lassen muß. Vom Richterberuf gilt in besonderem Maße das schöne Wort aus Hermann Hesses Glasperlenspiel, daß jedes Aufsteigen in der Hierarchie der Amter ein Schritt nicht in die Freiheit, sondern in die Bindung ist. Je höher ein Richter steht, desto weniger kann er machen, was er will. Die Stärke einer Richterpersönlichkeit äußert sich nicht in der Vielzahl, Besonderheit und Ungewöhnlichkeit der juristischen Einfälle, sondern im Gegenteil darin, daß das Rechtsgefühl im Einklang mit den Überzeugungen aller anständigen Menschen des Volkes gehalten wird. Scharfsinnige Leute haben wir in unserem Lande und auch in unserem Stande reichlich. Die selbstgefällige Freude an diesem Scharfsinn gehört zu unseren Berufsgefahren. Zu unseren wesentlichen Pflichten gehört es, unsere beruflichen Kenntnisse und Erkenntnisse nicht zu einer Geheimwissenschaft werden zu lassen, sondern sie in ständiger Berührung mit der öffentlichen Meinung zu bewähren, fortzubilden und durchzusetzen. Die Justiz hat eine Aufgabe 1

Zuerst veröffentlicht in: Der Journalist, Jahrgang 1960, S.2-9.

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Justiz und Öffentlichkeit

nicht nur gegenüber den Menschen, die vor den Schranken des Gerichts erscheinen; den wesentlicheren Teil ihrer Aufgabe hat sie vielmehr gerade an den Menschen zu erfüllen, die niemals etwas mit dem Gericht zu tun haben. - Die Begegnung zwischen diesen Menschen und der Rechtspflege vermitteln die Organe der öffentlichen Meinung. Es wäre ein Zeichen ungesunder Stagnation, wenn sich dabei keine Meinungsverschiedenheiten ergäben. Es wäre - man könnte auch wohl sagen - , es ist kein gutes Zeichen, daß nur so wenige Urteile gescholten werden. Früher

wurde mehr

kritisiert

Vergleichen Sie die juristischen Fachzeitschriften der Jahre 1923 bis 1933 mit denen der Jahre 1949 bis 1959. Das Reichsgericht hatte in diesem Jahrzehnt vor 1933 einen Höhepunkt an vernünftiger, klarer, volksnaher, gemeinverständlicher Rechtsprechung erreicht. In der „Juristischen Wochenschrift" dieser Jahrgänge wurden seine wichtigeren Urteile so gut wie niemals ohne kritische Anmerkung eines hervorragenden Sachkenners, eines Universitätslehrers oder eines bedeutenden Anwalts abgedruckt. U n d gar nicht selten wurden die Urteile in diesen Anmerkungen gescholten. Heute sind die Anmerkungen zur ziemlich seltenen Ausnahme und demgemäß auch die Fälle fachkundiger Urteilsschelte recht gering geworden. Anstatt dessen gibt es heute eine ganze Reihe von Sammelwerken, deren Ehrgeiz statt der kritischen die vollständige Zusammenstellung höchstrichterlicher Leitsätze bildet. Nun ist aber die Rechtsprechung des auch nach dem Lebensalter und der Erfahrung seiner Mitglieder ziemlich jungen Bundesgerichtshofs nicht etwa über die Weisheit des alten Reichsgerichts hinausgelangt, sondern einstweilen noch merklich hinter ihr zurück. Sachlicher Grund zur Urteilsschelte wäre bei uns gewiß nicht seltener, sondern häufiger als beim Reichsgericht. Aber uns wird der kritische Spiegel seltener vorgehalten. Wenn man die große Menge der tatrichterlichen Urteile betrachtet, so gehört eine öffentliche Kritik zu den ganz seltenen Ausnahmen. Das ist eine beunruhigende Erscheinung; denn es kann doch keine Rede davon sein, daß es da eben kaum etwas zu kritisieren gäbe. Die Ergebnisse der Rechtsmittelverfahren sprechen auch eine ganz andere Sprache. Es gehört nicht zu den Seltenheiten, daß die Strafkammer in den tatsächlichen Feststellungen, in der rechtlichen Beurteilung oder im Strafmaß zu ganz anderen Ergebnissen kommt als das Schöffengericht. Die Zeitungen berichten das auch, aber in aller Regel berichten sie darüber mit einem erstaunlichen Gleichmut. Man kann das noch verstehen, soweit es um bloße Meinungsverschiedenheiten geht. Gewiß können die erste und die zweite Instanz verschiedener Ansicht darüber sein, ob ein Zeuge Glauben verdient oder nicht. Rechtliche Vorschriften sind vielfach

Urteilsschelte liegt im Interesse der Rechtsprechung

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verschiedener Auslegung fähig. Erst recht ist die Strafzumessung oft Sache der persönlichen Auffassung. Aber es kommt doch vor, daß die Verschiedenheit der Beurteilung durch mehrere Instanzen eben nicht auf Meinungsverschiedenheiten beruht, sondern einfach auf Fehlern. Dabei muß der Fehler nicht immer bei der unteren Instanz liegen. Auch das höchste Gericht kann etwas falsch machen und macht bisweilen etwas falsch.

Keine Anteilnahme

der Presse

Solche Fehler und selbst solche Meinungsverschiedenheiten in Fragen, die das Recht und seine Anwendung betreffen, müßten - so sollte man denken - die leidenschaftliche Anteilnahme der Öffentlichkeit wecken. Aber in unseren Zeitungen bemerkt man so gut wie nichts davon. Da wird nur die Arbeit der ersten und der zweiten Staatsgewalt umkämpft. Die Gesetzgebung, die Außenpolitik und die Innenpolitik sind die Themen der Leitartikel. Uber diese Dinge bilden die Zeitungen sich eine fundierte Meinung, und sie sprechen sie mit Nachdruck aus, oft ohne Rücksicht darauf, ob sie dabei Porzellan zerschlagen. Wir beklagen zwar das zerschlagene Porzellan, aber wir setzen uns trotzdem mit Nachdruck für das Recht, ja für die Pflicht der Presse ein, solchergestalt ihre Meinung zu sagen. Wir erwarten von unseren Politikern bis hinunter zum Stadtverordneten und zum Kommunalbeamten, daß sie diese Meinungsäußerungen zur Kenntnis nehmen, trotzdem aber mitten im Kampfeslärm bereit und in der Lage bleiben, sich im Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung selbständig zu entscheiden. Und wir Richter? Über die Arbeit der dritten Staatsgewalt liest man in den Zeitungen wenig. Was man darüber liest, ist seltsam unkräftig, leidenschaftslos, uninteressiert und uninteressant. Es sind nur wenige Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Es müssen schon sehr prominente Angeklagte kommen, ehe die Presse aus ihrer Lethargie gegenüber der Justiz erwacht. Dabei wäre jeden Tag aus jedem Gerichtssaal etwas zu berichten, was gleichzeitig das allgemeine staatsbürgerliche Interesse und die besondere menschliche Anteilnahme erregen sollte. Ob wir einen Rechtsstaat haben, hängt ja zu einem sehr wesentlichen Teil davon ab, wie wir unsere Strafjustiz handhaben. Eberhard Schmidt hat die Strafprozeßordnung das Ausführungsgesetz zum Grundgesetz genannt. Und es liegt ja keineswegs so, daß auf diesem Gebiet alles zum besten stünde und gar nichts zu kritisieren wäre. Nur ein Beispiel für einen großen öffentlichen Mißstand, eine tief eingerissene Gesetzwidrigkeit auf dem Gebiet unserer Strafverfolgung, von dem sich die zur Kritik berufenen Organe der öffentlichen Meinung gelangweilt abwenden: Nach unserem geltenden Strafverfahrensrecht kann gar kein Zweifel daran sein, daß das Gesetz die beherrschende Rolle bei der Aufklärung

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Justiz und Öffentlichkeit

von Straftaten der Staatsanwaltschaft und nicht der Polizei zudenkt. Die Praxis hat diesen vom Gesetz gewollten und ursprünglich auch so bestehenden Zustand in sein Gegenteil verkehrt. Der Polizei, die vom Innenministerium ressortiert, werden die für eine moderne Verbrechensverfolgung erforderlichen Mittel und Planstellen zur Verfügung gestellt; der Staatsanwaltschaft, die vom Justizministerium ressortiert, dagegen nicht. Es ist eine bedenkliche Sache, daß in einem Staat, der ein Rechtsstaat sein, oder sagen wir lieber, werden möchte, der Innenminister als Polizeiminister es in aller Regel leichter hat, sich mit Geldforderungen durchzusetzen, als der Justizminister; daß das Amt des Justizministers weit weniger begehrt ist als die meisten anderen Ministersessel und bei Koalitionen der kleinsten Partei zuteil zu werden pflegt; daß man sich bisweilen nur mit Mühe des Eindrucks erwehrt, Justizministerien dienten gelegentlich als Trost- und Wanderpreise für Politiker, die ihren eigentlichen Ehrgeiz damit nicht befriedigt sehen. Es geht hierbei um Wesentlicheres als um Eifersüchteleien und Machtstreitigkeiten zwischen Ressorts. Es geht um die für die Praxis eines Rechtsstaats schlechthin entscheidende Frage, ob der Staatsbürger, dem zu Recht oder zu Unrecht strafbares Verhalten vorgeworfen wird, dabei von Anfang an einem vollkommen rechtskundigen Beamten anvertraut ist, einem Manne, der sich nach seiner Ausbildung, seinem Berufsgang und Berufsethos dem Recht als der obersten Norm seines Verhaltens verpflichtet weiß, oder ob er einem bloßen Kriminalisten in die Hand gegeben wird, dessen Ausbildung und beruflicher Ehrgeiz sich auf die Technik der Überführung bezieht, und der nach dem Sinn und klaren Wortlaut unseres Gesetzes gerade nicht der Herr des Ermittlungsverfahrens, sondern nur dessen Hilfsbeamter sein soll. Die Gerichtsberichterstattung der Presse und von Fall zu Fall auch eine Urteilsschelte könnten in dieser eminent öffentlichen Angelegenheit der Entwicklung unseres Landes zu einem Rechtsstaat einen erheblichen Beitrag leisten, wenn sie anhand einzelner Fälle diesen Gedanken in kleiner Münze auszahlten. Es gibt keine Gerichtssitzung, die dafür nicht Stoff böte. Die Gründe für die allzu vorsichtige Zurückhaltung der Presse kann man nur vermuten. Zum Teil liegen sie wohl in den Gefühlen, die wir den Journalisten wie anderen Laien einflößen, und die schon vor 170 Jahren mein hannoverscher Landsmann, der Freiherr von Knigge, in so dringenden Ermahnungen ausgedrückt hat: „Man sei äußerst vorsichtig im Schreiben, Reden und Behaupten gegen Rechtsgelehrte. Sie kleben am Buchstaben. Ein juristischer Beweis ist nicht immer ein Beweis der gesunden Vernunft; juristische Wahrheit zuweilen etwas mehr, zuweilen etwas weniger als gemeine Wahrheit; juristischer Ausdruck nicht selten einer anderen Auslegung fähig als gewöhnlicher Ausdruck. Einen besseren Rat weiß ich nicht zu geben als den: man hüte sich, in die Hände der

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Justiz zu fallen. Man weiche auf alle mögliche Weise jedem Prozesse aus, auch bei der sichersten Überzeugung vom Recht. Man mache sich gefaßt, nie wieder in den Besitz seiner Güter zu kommen. Man waffne sich mit Geduld." Unsere Titel machen die Leute nicht vertraulich. Es gehört für einen Journalisten Mut dazu, sich mit der Justiz anzulegen. Und es gehört, wenn er nicht wirklich übel anlaufen will, auch Sachkenntnis dazu. Es fehlt die

Sachkenntnis

Damit liegt es nun in der Tat oft im argen. Sie alle kennen die haarsträubenden Belege für die Ahnungslosigkeit, der wir schier jeden Tag in den Zeitungen begegnen. Da wird berichtet, der Staatsanwalt habe gegen einen Verdächtigen einen Haftbefehl erlassen. Das steht da im Tone biederer Erfüllung einer Chronistenpflicht, durchaus nicht mit der Entrüstung, die am Platze wäre, wenn ein Staatsanwalt sich wirklich einen derart unglaublichen Ubergriff erlaubt hätte. Aber auch wir brauchen uns nicht aufzuregen; denn natürlich ist die Nachricht nicht wahr. Da halten wir es nun für eine solche Errungenschaft, daß über die Zulässigkeit jeder Freiheitsentziehung nur der Richter zu entscheiden hat - aber die Öffentlichkeit und ihre berufenen Sprecher sind es ganz zufrieden, wenn es, wie sie glauben, der Staatsanwalt war. Da erscheint in einer anderen Meldung ein Schwurgericht als Rechtsmittelinstanz über einem anderen Schwurgericht. Oder es rafft sich ein Berichterstatter auf, einmal eine Strafe auffallend milde zu finden, um dann hinzuzufügen, ein Rechtsmittel könne die Staatsanwaltschaft nicht einlegen, weil der Staatsanwalt selbst diese milde Strafe beantragt habe. Neulich lobte eine Zeitung einen Strafkammervorsitzenden als einen besonders aufrechten, mutigen und unabhängigen Richter, weil er in öffentlicher Sitzung mannhafte Worte gegen den Bundesgerichtshof gefunden hatte, dessen Rechtsprechung ganz falsch sei. Vielleicht war sie wirklich falsch. Aber Lob, jedenfalls dieses Lob des Mutes und der Unabhängigkeit, verdiente dieser Richter gerade nicht. Denn in seinem Urteil hatte er sich, wie nun weiter berichtet wurde, der kritisierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs angeschlossen. Vor sich hin zu schimpfen und dann doch die Hände an die Hosennaht zu nehmen, das ist zwar sehr deutsch, aber mutig und unabhängig ist es nicht! Dieses Lob hätte der Journalist - übrigens einer unserer besten - sich für einen Richter sparen sollen, der seiner eigenen besseren Überzeugung auch wirklich gefolgt wäre. Aber welcher Journalist weiß schon, daß der Richter das überhaupt darf und soll? Einstweilen sind also unsere Zeitungen zu einer Urteilsschelte oder auch zu einem Lob des Urteils nicht in der Lage. Sie sind ja, von der Kritik ganz zu schweigen, nicht einmal in der Lage, auch nur einigerma-

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Justiz und Öffentlichkeit

ßen zuverlässig über Urteile oder über Prozesse zu berichten. Ich hätte aus staatsbürgerlichem und auch aus fachlichem Interesse wirklich gern gewußt, um was es eigentlich genau in dem Blankenhorn-Prozeß geht. Die Zeitungen haben dieser Sache so viel Raum gewidmet, daß sich sehr schwierige und verwickelte Dinge ausführlich und gemeinverständlich hätten darstellen lassen. Aber ich bin daraus nicht klug geworden. Ich habe geglaubt, das läge vielleicht an mir. Deshalb habe ich meine Senatskollegen gefragt. Aber auch von ihnen hat es niemand verstanden. Schade um das schöne Zeitungspapier. Daß bei dieser Lage der Dinge viele Juristen an jeder Urteilsschelte in der Presse nur das Unangemessene, das Unzulängliche, das Ärgerliche, das Zwecklose, das Lästige, das Kränkende zu sehen bereit sind - wen wollte das wundern? Es ist schon zu verstehen, daß die ungeduldige Forderung laut werden konnte, dieses Treiben irgendwie gesetzlich zu beschneiden. Und erst recht verständlich ist das Verlangen mancher Richter, die Presse möge angehalten werden, sich ihres oft törichten Dazwischenredens wenigstens so lange zu enthalten, bis das Gericht erst einmal mit seiner Arbeit fertig sei. In diesem Wunsch werden die Richter nicht selten von den Strafverteidigern unterstützt, die in der begreiflichen Sorge leben, die journalistische Begleitmusik zu einem aufsehenerregenden Strafprozeß könne Stimmung gegen den Angeklagten machen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch beim Gericht, mindestens bei den Laienrichtern. Man lenkt unseren Blick nach England, wo solche Dinge unter den Begriff des contempt of court, der Verachtung des Gerichts, gebracht werden, infolgedessen kaum vorkommen oder, wenn es doch geschieht, mit überraschend scharfen Maßnahmen unterdrückt werden. Nennt eine englische Zeitung einen Mann, der des Mordes beschuldigt wird, vor seiner Verurteilung einen Mörder, so kann sie mit einer Geldstrafe rechnen, die den Verlust ihrer E x i s t e n z bedeutet. Englisches Beispiel nicht

übertragbar

Es ist schwer, sich dem imponierenden Eindruck zu entziehen, der von der englischen Strafrechtspflege ausgeht. Sie ist sehr rechtsstaatlich. Sie kommt mit sehr kurzer Untersuchungshaft aus. Sie verzichtet auf den Angeklagten als Beweismittel. Sie arbeitet rasch und wirksam. Sie ist sehr volkstümlich; die Richter werden nicht nur geachtet, sie sind nicht nur unvergleichlich angesehener als wir, sie werden vom Volke geliebt. Wenn jemand stolz ist, Engländer zu sein, dann ist einer der Hauptgründe dafür, daß er stolz auf die englische Strafrechtspflege ist. So etwas zu sehen, ist für einen deutschen Juristen faszinierend. So etwas wünschte man sich auch. Deshalb fällt es unserem Gefühl schwer, zu widersprechen, wenn vorgeschlagen wird, das eine oder andere Stück des englischen Verfahrensrechts zu rezipieren.

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Aber das sind Wunschträume, denen der Wirklichkeitssinn fehlt. Es steht nicht in der Macht des Gesetzgebers, der Justiz eine Stellung zu verleihen, wie die englische Justiz sie in England einnimmt. Auch dort ist ihr diese Stellung nicht von Gnaden der Gesetzgebung zuteil geworden. Sie ist langsam gewachsen, durch die Jahrhunderte hindurch, in einem Volk, das von unserem doch sehr verschieden ist. Die Beschäftigung mit dem Recht übt auf die stärksten Persönlichkeiten unter den Engländern eine ganz andere Anziehungskraft aus als bei uns. Das liegt an der anderen Art der Menschen und nicht, wie manche deutschen Juristen zu glauben scheinen, an der Besoldungsordnung. Niemals werden die Deutschen bereit sein, ihren Richtern auch nur einen Bruchteil der Machtfülle anzuvertrauen, über die der Richter in England verfügt. Und wir deutschen Richter sind auch nicht dazu erzogen, von einer solchen Macht einen so maßvollen, meist sehr zurückhaltenden, im richtigen Augenblick aber wiederum höchst kraftvollen und nachdrücklichen Gebrauch zu machen. Wo kann man in Deutschland überhaupt so etwas lernen? Welchem Kollegen würden Sie zutrauen, zu entscheiden, wann man vorlaute Bemerkungen einer Zeitung stillschweigend übersehen kann, und wann man sie mit einer vernichtenden Geldstrafe ruinieren muß - , und jede dieser Entscheidungen so zu treffen, daß sich überhaupt kein Widerspruch erhebt? So etwas gedenkt aber auch niemand bei uns einzuführen. Beim contempt of court gibt es weder einen gesetzlichen Tatbestand, noch gibt es dabei das Legalitätsprinzip. Das Ermessen der englischen Richter hat aus dem recht unbestimmten Begriff des contempt of court eine Handhabe gemacht, mit der das Zwangsvollstreckungsrecht ersetzt, die Ungebühr vor Gericht geahndet, die Grenzen des Zeugnisverweigerungsrechts gezogen, die Kritik an Urteilen in wohlerzogenen Schranken gehalten, auf eine faire Prozeßführung hingewirkt und nebst manchem anderen auch eine Beeinflussung der Geschworenen durch die Zeitungen verhindert werden kann. Da wird nicht subsumiert, da bedarf es keiner Anklage, da wird überhaupt ziemlich formlos verfahren, da braucht man nur Minuten, da wird überhaupt kein Gesetz angewendet, sondern unmittelbar die Weisheit, die Erfahrung, der common sense des Richters in die Wirklichkeit umgesetzt. Und jeder findet das so in der Ordnung. Bei uns dagegen müßte man - und so wird es auch vorgeschlagen zunächst einmal einen gesetzlichen Tatbestand austifteln. Sie brauchen nur an die lex Soraya und an das geplante Gesetz zum Schutz der Persönlichkeit zu denken, um sich eine Vorstellung davon zu machen, welches Tauziehen um jedes Merkmal dieses Tatbestandes beginnen würde, welche Anstrengungen zu erwarten wären, um dieser Vorschrift, wenn man sie nicht ganz zu Fall bringen könnte, doch wenigstens jede Schlagkraft zu nehmen. Sie würde sicherlich nur eine sehr maßvolle

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Strafe androhen können, von der eine abschreckende Wirkung auf Unternehmungen von der Größenordnung unserer Zeitungen kaum ausgehen würde. Und dann würde es zu einem normalen Strafverfahren kommen, Vorermittlungen, Anklage, Eröffnungsbeschluß, Ladungsfrist, Hauptverhandlung, Urteil und zwei bis drei Instanzen - einem Verfahren, das im gewöhnlichen Verlauf der Dinge erst zu Ende käme, wenn das Ursprungsverfahren, zu dessen Schutz der ganze Aufwand dienen soll, längst vergessen wäre. Und wenn jemand glaubt, solche Bestrafungen würden schließlich hingenommen werden und auf die Dauer abschreckend wirken, dann sei ihm empfohlen, seine Vorstellungskraft in der Erinnerung an den Fall Stiller zu beleben, den Fall jenes kleinstädtischen Journalisten, der ohne jede Rücksicht auf wirkliche, angebliche oder vermeintliche journalistische Diskretion veröffentlicht, angezeigt und ausgesagt hatte, der sich erst dann auf ein nicht bestehendes journalistisches Zeugnisverweigerungsrecht berief, als die Sache nicht mehr nur für seinen Informanten, sondern für ihn höchst persönlich unangenehm wurde, den ein Gericht dann in Beugehaft nahm, und der in dem Augenblick herausgelassen wurde, als er sich entschloß, von dem richtigen Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, nämlich dem Auskunftsverweigerungsrecht desjenigen, der sich bei wahrheitsgemäßer Aussage selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müßte. Wenn man sich erinnert, welch ein Rauschen damals durch den deutschen Blätterwald ging, wie dieser Stiller als Märtyrer einer anmaßenden Justiz hingestellt wurde, wie es dann nur langsam stiller um Herrn Stiller wurde, und wie wir heute noch darauf warten, ob die Presse vielleicht endlich einmal die Wahrheit über diesen von ihr selbst so wichtig gemachten Fall veröffentlichen wird - dann gibt man die Illusion auf, man könne solcher Erscheinung mit kleinen Strafbestimmungen beikommen, die Presse würde dazu schweigen und sich in aller Ruhe abschrecken lassen. Es gibt keinen praktikablen

Tatbestand

Man darf es sich auch nicht allzu leicht vorstellen, einen geeigneten Tatbestand zu schaffen - selbst wenn man einmal ganz von der Schwierigkeit absieht, ihn durchzubringen. Es ist vorgeschlagen worden, die Veröffentlichung von Vermutungen über den Ausgang eines Verfahrens zu bestrafen. So wird man sich nicht ausdrücken dürfen, denn das ist sicherlich gar nicht gemeint. Dann könnte eine Zeitung also schreiben: „Wenn wir Vermutungen über den Ausgang dieses Verfahrens hätten, dürften wir es nicht sagen; denn das ist uns bei Strafe verboten. Vielleicht hat sich der Leser schon seine eigenen Gedanken darüber gemacht, ob von diesem Vorsitzenden, diesen Beisitzern und diesen Geschworenen zu erwarten ist, daß sie das Lügengespinst eines so

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abgefeimten Mörders durchschauen werden. Wir wissen es nicht; wir würden auch dann, wenn man uns nicht durch Strafdrohungen dazu zwänge, nur sagen können: Bei Gott und unserer Justiz ist kein Ding unmöglich." Eine solche Veröffentlichung würde kaum unter den vorgeschlagenen Tatbestand fallen, der Vermutungen über den Ausgang des Verfahrens oder Erörterungen über den Wert eines Beweismittels mit Strafe bedrohen soll. Die Einlassung eines bestreitenden Angeklagten ist ja kein Beweismittel. Solche Sätze würden aber gerade das enthalten, was verhindert werden soll: sie würden eine bestimmte Entscheidung als die einzig mögliche suggerieren. Und just dieses, das Suggerieren, bringt man überhaupt nicht unter einen praktikablen Tatbestand. Eine solche Bestimmung würde jeden halbwegs intelligenten Journalisten zur Umgehung reizen. Da gibt es die bewährten Mittel der Umschreibung, der Erzählung aus fremden Ländern, mit deren Hilfe schon S\vift in „Gullivers Reisen" und Montesquieu in den „Lettres Persanes" ihren Lesern beibringen konnten, was sie geradezu nicht schreiben durften; noch Bergengruen konnte mitten im Jahre 1935 den „Großtyrannen" bei diesem Namen nennen und ihn vor die Wahl stellen, sich das entweder gefallen zu lassen oder sich diese Kappe auch noch selbst aufzusetzen. Er ließ es sich gefallen. Und es gibt das Mittel der Ironie, die das Gegenteil von dem meint, was sie ausdrücklich sagt. Gerade Vermutungen über einen Ausgang lassen sich in Formen kleiden, die tatbestandsmäßig nicht zu greifen sind. Wenn man Anfang 1945 von einem Obernazi gefragt wurde, wie man die Aussichten des Krieges beurteile, konnte man getrost antworten, da sei man derselben Ansicht wie alle vernünftigen und anständigen Deutschen - das war deutlich genug, und zu machen war dagegen nichts. Vor ungefähr zwei Jahren wurde einer damals prominenten Berliner Persönlichkeit ein Plagiat vorgeworfen. Es entwickelte sich eine Privatklage daraus, die dann später irgendwie im Sande verlaufen ist. Eine führende Tageszeitung erlaubte sich damals den Spaß, jeden Tag irgendeine Lesefrucht über den Begriff des Plagiats abzudrucken, ζ. B. aus dem Großen Brockhaus und anderen Nachschlagewerken, und das, ohne einen Namen oder ein Verfahren zu erwähnen. Das wußten die Leser sowieso. Man kann sich gut vorstellen, daß so etwas, wenn es geschickt gemacht wird, außerordentlich suggestiv wirken kann. Und selbst wenn man eine Strafvorschrift zustande brächte, mit der sich so etwas fassen ließe, dann brächte man die Justiz nur in die Verlegenheit, sich mit Hilfe dieser Strafvorschrift lächerlich zu machen. Man kann der Zeitung doch nicht, ohne sich zu blamieren, das Zitieren aus allgemein zugänglichen Nachschlagewerken verbieten. Das wäre auch nur eine von vielen Möglichkeiten, die sich einem gewandten Journalisten anbieten würden. Und

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wenn der Prozeß gegen einen beliebigen Angeklagten der Presse ein solches Geplänkel vielleicht nicht wert wäre - der Nachprozeß gegen einen Journalisten wegen unbefugter Vermutungen oder unbefugter Suggestionen würde ohne Zweifel die besten Federn des Landes auf den Plan rufen. Da die Justiz gar keine Möglichkeit hat, vor der Öffentlichkeit so oft, so ausführlich, so vielstimmig und so eindrucksvoll zu Worte zu kommen wie die Presse, würde sie bei solchen Kämpfen sicherlich den kürzeren ziehen und selbst dann, wenn der Journalist schließlich zu 200 D M Geldstrafe verurteilt werden würde, vor den Augen der Öffentlichkeit als die moralisch Unterlegene dastehen. Auf eine Strafvorschrift

verzichten!

Man sollte deshalb nicht versuchen, den § 459 des Entwurfs über die Störung der Strafrechtspflege durch eine vollkommenere Fassung zu ersetzen, sondern man sollte auf eine derartige Vorschrift überhaupt verzichten. Dieser Bestimmung liegt ein wenig die bei uns ungemein verbreitete Täuschung zugrunde, das Strafrecht sei eine Art von Allheilmittel für alle möglichen speziellen Schäden. Dieser Glaube hat schon viel Unheil angerichtet. Der Strafrichter gilt vielen Leuten als das Mädchen für alles, das überall aufräumen soll, wo man irgendeine Art von Schmutz oder Unordnung zu bemerken glaubt. Auf diese Weise wird nicht nur zu seiner Überlastung beigetragen, wird nicht nur das Strafrecht allmählich immer mehr seines Ernstes entkleidet; sondern auf diese Weise werden dem Strafrichter auch Aufgaben gestellt, an denen er scheitern muß. Zu diesen Aufgaben gehört gerade die Verbesserung des Verhältnisses der Presse zur Justiz. Als Friedrich Wilhelm I. bemerkte, daß seine Landeskinder auf der Straße vor ihm davonliefen, setzte er ihnen eines Tages nach. Er bekam einen ängstlichen Handelsmann zu fassen, der ihm auf die Frage nach dem Grunde dieser Flucht zur Antwort gab: „Weil ich mich fercht." Daraufhin verprügelte ihn der König und schrie dazu: „Lieben sollt Ihr mich, Ihr Kanaillen!" Mit dem Strafrecht erreicht man nicht ein taktvolles Eingehen der Presse auf die besonderen Notwendigkeiten der Justiz. Wir müssen unser Ziel ohnehin höher stecken, als von der Presse ein paar bestimmte Unterlassungen erreichen zu wollen. Schon die Unterlassungen, auf die es uns ankommt, setzen bei den Journalisten besonderes Verständnis für die rechtliche und tatsächliche Verfahrenslage voraus. Vertrauensvolle Zusammenarbeit erreichen wir nicht mit dem Stock. Wir sind auf das bemühte Mitmachen der Presse angewiesen, damit unsere eigene Arbeit richtig in der Öffentlichkeit ankommt. Nicht nur im Namen des Volkes, nicht nur vom Volke her wird Recht gesprochen, sondern auch zum Volke hin: an die Adresse nicht nur des Rechtsbrechers, sondern vor allem an die Adresse der Allgemeinheit, damit sie es nachprüfen, in ihre

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Mitverantwortung und ihr Gefühl aufnehmen kann; damit sie sich danach richten und es somit verwirklichen kann; damit sie aber auch eine Gelegenheit hat, kritisch dazu Stellung zu nehmen. Diese breite Grundlage und diese breite Wirkung ist der Arbeit des Richters wesentlich. Seine Verantwortung ist so groß, daß sie ohne enge Fühlung mit der Öffentlichkeit, ohne ihr Vertrauen, ohne ständiges Geben und Nehmen zwischen der Justiz und der öffentlichen Meinung von niemandem getragen werden könnte. Das heimliche Gerichtsverfahren hatte bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einen Zustand erzeugt, der mit dem heute beliebten Ausdruck „Vertrauenskrise der Justiz" nur recht schwach gekennzeichnet wäre. Es war ein Zustand, der - zusammen mit anderen Ursachen der Unzufriedenheit - ganze Staatsgebäude zum Einsturz bringen konnte. So wurde 1848 die Öffentlichkeit des Verfahrens zu einer der vornehmsten Errungenschaften der Neuzeit auf dem Gebiet der Justiz. Die Öffentlichkeit bedeutet in der Prozeßordnung aber nur, daß es nicht verboten ist, in den Gerichtssaal zu kommen und zuzuhören. Was aus dieser Möglichkeit gemacht wird - ob ihr der für die Justiz lebensnotwendige Sinn gegeben wird - , das ist Sache der Richter und Staatsanwälte auf der einen, der Organe der öffentlichen Meinung auf der anderen Seite; denn ohne diese Organe geht es nicht. Selbst bei den Gerichtsverhandlungen zuhören, kritisch zuhören, das kann gerade die Menge jener anständigen und rechtschaffenen Menschen nicht mehr, auf deren Meinung es ankommt. Auf die Organe der öffentlichen Meinung, diese Horchposten der Allgemeinheit, ist also die Justiz angewiesen, um ihre eigenste Aufgabe richtig, d.h. auf genügend breiter Grundlage und mit genügend breiter Wirkung, erfüllen zu können. Das Recht und seine Handhabung sind uns Juristen nur zu treuen Händen überlassen, sie sind nicht etwa unsere eigene Domäne. Ihre richtige Behandlung geht über unsere Berufsinteressen weit hinaus. Wir bedürfen dabei des bewußten Mitgehens der Öffentlichkeit. Voraussetzung dafür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Justiz und Presse. Der Richter ist der Träger eines ganz besonders öffentlichen Amtes und muß, um dieses Amt richtig ausüben zu können, die Öffentlichkeit suchen und Bedacht darauf nehmen, wie er vor der Öffentlichkeit wirkt und auf die Öffentlichkeit einwirkt. Deshalb gehört ein nicht nur korrektes, allen denkbaren Vorschriften entsprechendes, sondern vor allem ein diesem Zweck entsprechendes Verhalten gegenüber den Organen der öffentlichen Meinung zu den Pflichten unseres Amtes, auch wenn das nirgends geschrieben steht. Dieses zweckentsprechende Verhalten besteht vor allem in der Pflege guter persönlicher Beziehungen zwischen dem einzelnen Staatsanwalt und Richter auf der einen und dem einzelnen Journalisten auf der anderen Seite. Wenn die Justizverwaltung

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Justiz und Öffentlichkeit

Pressestellen einrichtet und sonstige Anstrengungen unternimmt, um solche persönlichen Beziehungen einzuleiten und zu vertiefen, dann gebührt ihr für solche Hilfestellung der Dank beider beteiligten Seiten. Das ist aber nur eine Hilfestellung; die eigentliche Leistung müssen die Richter und die Journalisten selbst erbringen. Die Neugier

des Journalisten

ist legitim

Wir müssen uns mit den besonderen Arbeitsbedingungen der Journalisten bekannt machen und ihnen Gelegenheit geben, sich mit den unseren bekannt zu machen. Der Journalist braucht Informationen, und zwar immer so früh wie möglich. Ich will nicht auf die Doktorfrage eingehen, inwieweit ihm das Grundgesetz ein verfassungsmäßiges Recht auf Informationen verleiht. Wir kommen miteinander nicht weiter, wenn wir uns darauf verlegen, die juristischen Grenzen unserer Befugnisse gegeneinander abzustecken. Der Journalist hat von Berufs wegen neugierig zu sein, und gerade der Justiz gegenüber ist seine Neugierde höchst legitim und erwünscht. Wenn wir nach Wegen suchen, dem zu entgehen und damit auch einer Urteilsschelte auszuweichen, werden wir niemals in ein förderliches und fruchtbares Verhältnis zur Presse kommen und niemals die Dienste von ihr erwarten können, auf die wir angewiesen sind. Im Gegenteil müssen wir lernen, die berufsmäßige Neugierde der Presse für unsere Zwecke zu nutzen. Bei einer schematischen Handhabung kann nur etwas Schematisches herauskommen. Was wir uns um der Presse willen und um der Justiz willen wünschen, das läßt sich deshalb nicht einfach anordnen, sondern das kann nur das Ergebnis einer ganz persönlichen Anstrengung und Leistung von beiden Seiten her sein. Ein Spannungsverhältnis zwischen Presse und Justiz ist etwas Natürliches und Gesundes. Man kann es nicht und man sollte es nicht hinwegzudekretieren versuchen. Vielmehr muß man sich bemühen, es auf eine gute und für beide Seiten förderliche Art auszutragen. Nicht ganz allgemein, nicht ein für allemal, sondern jeweils anhand der einzelnen Sache. Die besten Bedingungen dafür scheinen mir in möglichst zahlreichen persönlichen Gesprächen zwischen je einem Journalisten und einem Richter oder Staatsanwalt zu liegen. Der Journalist muß wissen, daß der Richter zu solchen Gesprächen mit ihm bereit ist. Die Erfahrung müßte ihm zeigen, daß dabei für ihn, den Journalisten, etwas herauskommt; sei es eine Anregung zu einer kleinen allgemeinen Betrachtung, sei es der Hinweis auf interessante Sachen, die bevorstehen, sei es eine für später nützliche Erweiterung der prozessualen Kenntnis oder was sonst. Der Richter würde ihm von seinen Berufssorgen erzählen: von den Vorurteilen, die ihm die Arbeit erschweren, von dem ewigen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, von dem Umfang und der Art, in

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dem ungeeigneter Lesestoff und ungeeignete Filme die Jugendkriminalität beeinflussen, oder auch von dem Sand, den das Revisionsgericht in die Maschine der Justiz zu streuen pflegt. Auf solche Weise könnten auch allgemein interessierende Dinge aus den juristischen Fachzeitschriften in das Blickfeld der Tagespresse gerückt werden. Freilich kosten solche Gespräche Zeit und wohl auch für beide Beteiligten besondere Spannkraft. Die Kunst des richtigen Fragens müssen manche Journalisten auch erst lernen. Aber umsonst ist der Tod. Wenn der Journalist nicht zum Richter kommt, verzichtet er auf eine Informationsquelle. Und wenn der Richter solchen Gesprächen ausweicht, braucht er sich nicht zu wundern, daß er der öffentlichen Meinung ein Fremdling bleibt und mit seinen redlichsten Bemühungen auf Unverständnis stößt. Der falsche Weg:

Berichtigungsverlangen

Nachträgliche Richtigstellungen sind im allgemeinen ein leidiges Kapitel. Der § 11 des Reichspressegesetzes ist ein Messer ohne Heft und ohne Klinge. Gewöhnlich ist es fast unmöglich, eine Berichtigung streng auf die Tatsachen zu beschränken und sie dann so zu fassen, daß sie dem Anliegen genügt, der Sensationsmacherei entgegenzutreten, das Ansehen der Justiz zu wahren, oder um was es gerade geht. Selbst wenn das aber gelingt, sind die praktischen Möglichkeiten, eine Berichtigung durchzusetzen, gegenüber einer nicht gutwilligen Zeitung beschränkt. Die unberechtigte Weigerung ist ja nur eine Übertretung. Da wird die Strafe dann eben bezahlt, und bis die Veröffentlichung schließlich doch durchgesetzt ist, hat die Sache jedes Interesse verloren. Und wenn die Zeitung die Berichtigung wirklich gleich abdruckt, kann sie einem die Freude daran mittels eines Kommentars völlig versalzen. Das steht ihr zu. Sie hat immer das letzte Wort, und wenn sie nicht loyal ist, bleibt man da immer der zweite Sieger. Man sollte aber gegenüber unrichtigen Meldungen, auch gegenüber Meldungen, bei denen die Justiz zu schlecht wegkommt, und gegenüber abfälliger Kritik, die man für unbegründet hält, nicht so schreckhaft sein. Diesen Arger vergißt man am besten über dem nächsten Arger. Das geht auch der Öffentlichkeit so. Ein Sensationsblatt, das heute über einen angeblichen Justizskandal berichtet, schreibt mit der größten Sicherheit morgen über einen anderen Skandal. Dann vergessen die sensationslüsternen Leser die Justiz wieder bis zum nächsten Mal. Mit Gegenerklärungen tritt man die Sache in solchen Fällen nur unnötig breit. Nur kein Perfektionismus! Die eigentliche Aufgabe einer Justizpressestelle liegt nicht in den Berichtigungen; vielmehr besteht sie in einer Mittlerrolle. Der Leiter der Justizpressestelle kann, ohne der Würde seines Amtes etwas zu verge-

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ben, von sich aus den Kontakt zur Presse und zum Rundfunk suchen, was der Richter nicht kann. Er kann den Journalisten bei dem Richter oder Staatsanwalt einführen, den er sprechen möchte. Er kann RoutineInformationen verteilen, Terminsrollen bekanntgeben, auf die Sachen hinweisen, die der Justizverwaltung pressewichtig erscheinen, juristische Auskünfte geben, Staatsanwälte und Richter immer wieder an die große Eilbedürftigkeit aller Pressesachen erinnern und manche andere Hilfestellung leisten. Dagegen glaube ich nicht, daß die Justizpressestelle eine Art von Nachrichtenmonopol für sich begründen sollte. Justiz und Presse fahren besser, wenn die wirklich interessanten Nachrichten aus erster Hand geliefert werden, d. h. von dem Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft und von dem erkennenden Richter selbst. Das sollten sich beide Seiten nicht nehmen lassen. Wenn so etwas gut gemacht wird, sagt die Justizverwaltung erfahrungsgemäß auch dann nichts dagegen, wenn sie es eigentlich allgemein verboten hat. Der Richter kann nun freilich nicht schon vor dem Urteil mit einem Journalisten ausführlich über eine bei ihm anhängige Sache sprechen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die richtige Informationsquelle der Staatanwalt. Er ist ja der Verfasser der Anklage; und wenn er Mitteilungen daraus macht, dann ist die Gefahr kleiner, daß die Anklage als eine Art Vorwegnahme des Urteils mißverstanden wird. Der Richter gibt seine Erläuterung besser unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit ist, daß der Richter und Staatsanwalt auf der einen, der Journalist auf der anderen Seite persönlich miteinander bekannt sind. Sie müssen Vertrauen zueinander haben können. Spannungen, die zwischen zwei großen und vielköpfigen Institutionen unlösbar erscheinen, lassen sich zwischen zwei vernünftigen Menschen immer lösen. Allerdings kosten eingehende Erklärungen Zeit und Mühe. Aber es ist keine verlorene Zeit und keine vergebliche Mühe. Und der Richter muß sie aufwenden. Er darf es sich auch nicht verdrießen lassen, wenn von all seinen schönen Erklärungen nachher gar nichts in der Zeitung steht. Dann muß er sich mit dem Gedanken trösten, daß er wenigstens dazu beigetragen hat, Mißverständnisse zu verhüten und Irrtümer aus der Zeitung herauszuhalten. Auch tragen seine Erklärungen vielleicht später einmal Früchte. Es ist schon ein Gewinn, wenn er den Journalisten ermutigt hat, mit seinen Fragen auch in Zukunft zu ihm zu kommen. Der Gerichtsberichterstatter ist ja bisweilen ein noch sehr junger Journalist. Er bedarf vielleicht dieser Ermutigung. Nur so setzen wir ihn in die Lage, sich allmählich gegenüber seinem Redakteur durchzusetzen, der es ihm bald anmerken wird, daß er wirklich Bescheid weiß.

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Toleranz gegenüber jungen

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Journalisten

Wir sind ja die Leidtragenden, wenn der Gerichtsbericht erst von einem Manne zurechtgestutzt wird, der gar nicht dabei war. Noch lieber hätten wir freilich profilierte Männer als Gerichtsberichterstatter. Aber so viele Slings und Mostars gibt es eben nicht, und wer weiß, vielleicht wünscht die Presse sich bisweilen auch andere Richter als uns. Wir müssen etwas tolerant miteinander sein, und wir müssen das unsere dazu beitragen, daß die Nachwuchskräfte erfahrener werden können. Wir dürfen sie also nicht aus unseren Dienstzimmern hinausgraulen. Wir müssen ihnen die gewünschten Auskünfte und Erklärungen geben, und zwar gleich. Der Journalist lebt, wie der Name sagt, von der Aktualität seiner Arbeit. Das bedeutet, daß der Richter ihm sofort im Anschluß an die Urteilsverkündung zur Verfügung stehen muß, auch wenn ihm das noch so lästig vorkommt. Informationen, die die Presse nicht bei uns selbst bekommt oder nicht gleich bekommt, besorgt sie sich eben anderwärts. Sie fragt, wenn es nicht anders geht, den Inspektor, den Sekretär, den Kanzlisten und schließlich den Wachtmeister. Das kann man zwar verbieten, aber nicht verhindern, wenn man nicht gleich alle gewünschten Auskünfte selbst gibt. Aus subalternen Quellen können nur subalterne Informationen fließen. Darunter leiden Justiz und Presse gemeinsam, vor allem die Justiz, die dann in der Zeitung einen subalternen Eindruck macht. Oder der abgewiesene Journalist wendet sich an den Verteidiger, was ohnehin sein gutes Recht ist. Von der Partei ist aber keine unparteiische Unterrichtung zu erwarten. Und dann haben wir durch unsere eigene Unterlassungssünde die Urteilsschelte geradezu herausgefordert. Wir bedürfen keiner rechtlichen Handhabe, mit der wir der Presse oder dem Rundfunk verbieten könnten, vor dem Abschluß eines Verfahrens zu sagen, welches Ergebnis das Verfahren nach ihrer Ansicht haben sollte. Wenn man das in England verbietet, so liegt der eigentliche Grund in dem ganz anderen Strafverfahren dort. In England wird der Schuldspruch allein von den Geschworenen gefunden und ohne Beweiswürdigung verkündet. Deshalb kann man es dort zur Fairneß des Verfahrens rechnen, daß die Presse bis zur Verkündung des Schuldspruchs schweigt. Nur so hat man eine Gewähr dafür, daß die Geschworenen ihren Wahrspruch nur auf das gründen, was sie in der Verhandlung selbst hören. Bei uns bedeutet die gemeinsame Beratung der Berufsrichter und der Laienrichter und der Zwang, die Beweiswürdigung schriftlich darzutun, eine ausreichende Kontrolle darüber, ob das Urteil nur auf der Verhandlung selbst beruht. Wenn der Geschworene seine Lesefrüchte aus der Zeitung mit in die Beratung bringt, so merkt man das ja. Was dann an der Pressemeinung falsch ist, läßt sich in offener Aussprache widerlegen. Übrigens könnte es ja wundershalber

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auch einmal vorkommen, daß die Presse das Gericht auf richtige Gesichtspunkte aufmerksam macht. Auch kann niemand dem Staatsanwalt und dem Verteidiger verbieten, irreführende Presseveröffentlichungen in ihren Plädoyers richtigzustellen.

Richterliche

Unabhängigkeit

Bisweilen hat man aber solche Veröffentlichungen schon als Angriffe, womöglich als grundgesetzwidrige Angriffe auf die richterliche Unabhängigkeit und als Eingriffe in schwebende Verfahren bezeichnet. Davon kann nach meiner Ansicht keine Rede sein. Unter der richterlichen Unabhängigkeit versteht man zweierlei. Einmal bedeutet sie den Schutz, den das Gesetz und die Verfassung dem Richter dagegen gewähren, daß er wegen seiner richterlichen Entscheidungen abgesetzt oder sonst gemaßregelt wird. Darüber können die Organe der öffentlichen Meinung, darüber kann auch die öffentliche Meinung selbst nicht verfügen. Stellen Sie sich vor, die öffentliche Meinung fordere ganz einheitlich mit großer Entschiedenheit ein bestimmtes Urteil und lehne ein abweichendes Urteil mit äußerster Schärfe ab. Stellen Sie sich vor, die Organe der öffentlichen Meinung drohten dem Richter für den Fall, daß er sich nicht füge, gesetzwidrige, verfassungswidrige Maßnahmen an. Wir haben immerhin erlebt, daß ein Abgeordneter in der Sitzung eines Parlaments aus Anlaß einer bestimmten richterlichen Entscheidung gefragt hat: „Ist der Kerl (nämlich der Richter) noch im Amt?" Angesichts einer solchen Lage darf und muß der Richter auf den Schutz des Gesetzes und der Verfassung vertrauen, und in diesem Vertrauen kann und muß er das tun, was er selbst für Recht hält. Eine volksnahe Rechtsprechung besteht ja nicht darin, daß der Richter jedem Hosiannageschrei und jedem „Kreuzige!" nachgibt. Es ist dafür gesorgt, daß er auf einem sicheren Platz steht, von dem er auch sehr arge Stürme mit Gelassenheit beobachten kann. Deshalb sollte man nicht versuchen, die Stürme abzustellen. Das gelingt doch nicht. Ein Maulkorb für die Presse wäre eine Bedrohung auch für den Richter. Dann schon lieber ein Spannungsverhältnis, und wäre es ein unlösbares

Spannungsverhältnis. In einem Staatswesen, in dem die Justiz und die Presse auch nur halbwegs in Ordnung sind, ist das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ein Schutz und keine Bedrohung der richterlichen

Unabhängigkeit. Wenn freilich der Himmel einfällt, sind alle Spatzen tot. Wenn man mit der Gefahr rechnen will, daß es einer Woge der öffentlichen Meinung einmal gelingen könnte, die verfassungsrechtlichen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit zu durchbrechen - von 1933 bis 1945 haben wir auch das erlebt - , dann ist es freilich aus. Aber man glaube doch nicht, daß man solchen Erscheinungen mit irgendwelchen presserechtlichen Vorschriften entgegentreten könne, wenn schon

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das Grundgesetz nicht mehr hält. Im Gegenteil: man vergrößert diese Gefahr, wenn man sich ihr gegenüber so ängstlich zeigt. Die wahre richterliche Unabhängigkeit liegt im Charakter des Richters: in dem guten Gewissen, das einer hat, der ohne Ansehen der Person, auch ohne Ansehen der eigenen Person, seine Pflicht tut; mit dem Mut, sich notfalls höheren Orts unbeliebt zu machen und auch einmal etwas auszusprechen, was gerade nicht volkstümlich ist. Diese Art von Unabhängigkeit ist, wie ich glaube, bei den deutschen Richtern recht verbreitet. Es sind deshalb häufig auch gar nicht die Richter selbst, die den Versuch machen, eine selbständige Pressestimme als eine Gefahr für ihre Unabhängigkeit hinzustellen. Der Richter kann getrost das, was über den vor ihm anhängigen Prozeß veröffentlicht wird, mit der gleichen Aufmerksamkeit lesen, mit der er die Plädoyers der Parteien anhört. Seine Unabhängigkeit bricht vor diesen Plädoyers nicht zusammen; auch dann nicht, wenn er weiß, daß der Staatsanwalt zu seinen Anträgen von der höchsten Stelle der auch dem Richter vorgesetzten Justizverwaltung angewiesen ist. So wird er auch dem, was er in der Zeitung liest, nicht folgen, wenn es ihn nicht überzeugt. Aber ich halte es für keine Schande, wenn er wertvolle Anregungen da nimmt, wo er sie findet; und warum eigentlich sollte er sie nicht in der Zeitung finden? Warum sollte das, was über ein schwebendes Verfahren für eine große Leserschaft geschrieben wird - von einem Manne, der es gewohnt ist, mit einer so großen Leserschaft umzugehen - , warum sollte das nicht auch einmal geeignet sein, den Sinn des Richters aus der fachlichen Enge zu befreien, ihn - wie Sling sagt - für allgemeinere Erwägungen, für eine größere und deshalb auch gerechtere Anschauung empfänglich zu machen? Zwischen einer unabhängigen Justiz und einer unabhängigen Presse werden immer Spannungen auftreten. Sie sind ein Ausdruck dafür, daß die Gerechtigkeit und die Rechtsstaatlichkeit uns nicht gegeben, sondern aufgegeben sind. Auch diese beiden Aufgaben stehen untereinander in einem vielfach nicht lösbaren Spannungsverhältnis. Das ist kein Grund zum Verzweifeln. Gerade diese Spannungen machen Kräfte frei, die uns bei der Bewältigung unserer Aufgaben helfen. Jeder Kollegialrichter kennt das aus den Beratungen, wie gerade der unbequeme Widerspruch ihm zu einer richtigeren Entscheidung und zu einer überzeugenderen Begründung hilft. Wir könnten das Vertrauen der Öffentlichkeit, das uns zu erfolgreicher Arbeit bitter not tut, nicht gewinnen, sondern nur verlieren, wenn die öffentliche Kritik zum Schweigen käme. Wir haben sie zu achten; und wir haben uns um ihre Achtung Tag für Tag von neuem zu bemühen.

Die Stellung des Vorsitzenden im tatrichterlichen Strafverfahren gegenüber den Organen der öffentlichen Meinung1 (1960)

Der Vorsitzende eines Revisions-Strafsenats hat es gut. Er sitzt da und hört zu; er sitzt da und denkt nach; oder er sitzt überhaupt nur da. Der Angeklagte erscheint meistens nicht; und wenn er erscheint, braucht der Vorsitzende ihn nicht zu vernehmen. Auch mit einer Beweisaufnahme braucht er sich nicht zu plagen; statt dessen bittet er nur den Berichterstatter, die Sache vorzutragen. Dann kommen die Plädoyers; und wenn der Senat schließlich nach langer Beratung wieder in Erscheinung tritt, um das Urteil zu verkünden, dann hat sich gewöhnlich der ganze Schwärm verlaufen: Angeklagte, Verteidiger und etwaiges Publikum. Die mündliche Urteilsbegründung ist in solchen Fällen kurz, und die schriftliche - nun, dafür stehen beim Bundesgerichtshof hochqualifizierte Beisitzer zur Verfügung, mit deren Entwürfen der Vorsitzende nicht viel Arbeit hat. Seit Erlaß des tatrichterlichen Urteils hat die Sache gewöhnlich ihre Aktualität verloren. Da zudem die Verhandlung in hohem Maße undramatisch zu verlaufen pflegt, erscheinen in aller Regel weder Journalisten noch Fotografen, weder der Rundfunk noch das Fernsehen oder die Wochenschau. Sie werden es vielleicht als unangemessen empfinden, daß ein Mann, der seine Arbeit - oder was er so nennt - in einer derart beschaulichen Zurückgezogenheit tun kann, sich hinstellt, um über die Stellung des Vorsitzenden im tatrichterlichen Strafverfahren (gegenüber den Organen der öffentlichen Meinung) etwas zu sagen. Seine persönlichen Erfahrungen auf diesem Gebiet können nicht sehr groß sein. Aber es geht ja auch nicht um Erfahrungen. Es geht vielmehr um etwas spezifisch Rechtliches. Es handelt sich um die Auseinandersetzung, den Ausgleich und die Entscheidung zwischen zwei großen, wichtigen und ungemein berechtigten Anliegen. Auf der einen Seite steht das Anliegen der Öffentlichkeit - nicht im technisch prozessualen, sondern in einem weiteren und allgemeineren Sinn. Die Justiz hat nichts zu verbergen. Und daß sie nichts zu verbergen hat, muß man sehen.

1

Vortragsmanuskript aus dem Jahre 1960.

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Sowie bei uns in irgendeiner Weise geheimnisvoll getan wird, regt sich das Mißtrauen. Mißtrauen gegenüber der Justiz ist nicht nur für sie selbst gefährlich. Es ist gefährlich für den Staat, dessen Bestandteil sie ist; es ist gefährlich für die Grundsätze, für die dieser Staat eintritt. Aber das ist nur die kleinere, die negative Seite. Die Justiz hat eine positive Aufgabe nicht nur gegenüber den Menschen, die vor ihren Schranken erscheinen, sondern vor allem auch gegenüber denjenigen, die niemals in ihrem Leben einen Gerichtssaal betreten oder auch nur einen Brief von einer Gerichtsbehörde bekommen. Die Justiz hat das geltende Recht zu entwickeln. Man kann von einem Rechtssatz aber nur dann sagen, daß er gilt, wenn er in der großen Mehrzahl aller Fälle ohne das Eingreifen der staatlichen Gewalt befolgt wird. Der wichtigste Adressat dessen, was die Justiz zu sagen hat, ist deshalb die Allgemeinheit. Sie kann diesen Adressaten nur erreichen auf dem Wege über die Organe der öffentlichen Meinung; über Zeitungen und Zeitschriften, über den Rundfunk, über das Kino, über das Fernsehen. Nur diese Organe machen es ihr auch möglich, wenigstens gelegentlich ein Echo zu hören. Nicht an den Angeklagten und ihren Verteidigern, sondern nur an der Reaktion der Öffentlichkeit kann die Justiz sehen, ob ihre Arbeit verstanden oder mißverstanden wird. Wird sie nicht verstanden, so hat sie nicht die Wirkung, um derentwillen sie eigentlich da ist. Sie hat also wirklich allen Grund, sich mit den Organen der öffentlichen Meinung auf eine möglichst enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit einzulassen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Menschenwürde, das Persönlichkeitsrecht, die Ehre, das Schamgefühl des Angeklagten, der Zeugen, Sachverständigen, Verteidiger und aller sonstigen Prozeßbeteiligten. Sie alle kommen nicht freiwillig, sondern gezwungen. Der Angeklagte ergreift das Wort, um sich zu rechtfertigen und nicht um der Öffentlichkeit ein Schauspiel zu bieten. Die Zeugen, Sachverständigen usw. leisten eine Staatsbürgerpflicht, die übrigen Anwesenden eine Dienstpflicht. Sie alle sind dem Staat und seinem Gericht verpflichtet, aber nicht der Öffentlichkeit und ihrer Neugier. Es ist eine hohe und wichtige Aufgabe des Gerichts, vor allem seines Vorsitzenden, alle diese Menschen vor unbilligen Zumutungen der Öffentlichkeit und ihrer Vertreter zu schützen. Die Strafe des Prangers ist abgeschafft. Also muß der Vorsitzende, soweit es in seinen Kräften steht, dafür sorgen, daß nicht in Gestalt der illustrierten Zeitschriften ein neuer Pranger entsteht, an dem die Bildreporter den Angeklagten zur Schau stellen, noch ehe er überhaupt verurteilt ist. Damit sind wir bei der Frage des Fotografierens im Gerichtssaal. Die Richtlinien für das Strafverfahren, unverbindliche Verwaltungsvorschriften, auf die sich die Länderjustizminister geeinigt haben, sagen dazu, es empfehle sich nicht, Bildaufnahmen während der Vernehmung

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des Angeklagten und während der Beweisaufnahme zuzulassen; auch im übrigen werde der Vorsitzende berechtigte Wünsche der Beteiligten berücksichtigen; die einschlägigen Vorschriften des Kunsturheberrechtsgesetzes seien zu beachten. U m gleich mit dem letzten anzufangen, muß gesagt werden, daß die Vorschriften des Urheberrechts darüber keinen T o n sagen. Sie befassen sich nur mit der Verbreitung, nicht aber mit der Anfertigung von Bildern. Sie besagen, daß man das Bild eines anderen Menschen im Regelfall nur mit seiner Einwilligung verbreiten darf. Ausnahmen gelten für Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte und für Bilder von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen, an denen die dargestellten Personen teilgenommen haben. Unter welchen Voraussetzungen Angeklagte Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sind, ist streitig. Ebenso streitig ist, ob bei den Bildern von Versammlungen, Aufzügen und ähnlichen Vorgängen nicht nur an solche Vorgänge gedacht ist, bei denen die Abgebildeten sich freiwillig versammelt haben, aufgezogen sind usw., also nicht an Gerichtsverhandlungen. Von diesen Ausnahmen gilt wieder eine Ausnahme für den Fall, daß durch die Verbreitung ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten verletzt wird. Ich sollte meinen, damit sei jedenfalls der Fall des Angeklagten im Gerichtssaal entschieden. Denn sicherlich hat man ein berechtigtes Interesse daran, der Öffentlichkeit nicht gerade in der Rolle des Angeklagten im Bilde vorgestellt zu werden. Ein solches Bild bleibt länger frisch als die Eintragung im Strafregister. Bei der Frage, ob das Interesse des Angeklagten berechtigt ist, bedarf es einer Abwägung mit dem entgegenstehenden Interesse der Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang nun wiegt das Interesse der Öffentlichkeit nicht schwer. Denn von dem geistigen Gehalt dessen, worum es bei der Gerichtsverhandlung geht, offenbart ein solches Bild wenig oder gar nichts. Die Veröffentlichung ist nichts als eine Herabwürdigung des Angeklagten und kein Dienst an der Verbreitung des Rechts. Aber auch wenn man über diese Frage völlig anderer Ansicht ist, ändert das nichts am rechtlichen Ergebnis. Denn nirgends ist im Urheberrecht eine Vorschrift zu finden, nach der jemand sich fotografieren lassen müßte, der das nicht will. Jemanden gegen seinen Willen zu fotografieren, ist allemal ein rechtswidriger Angriff. Die erforderliche Verteidigung dagegen wäre Notwehr. Nähme also der Vorsitzende den Angeklagten nicht gegen das Fotografiertwerden in Schutz, so dürfte er nichts dagegen sagen, wenn der Angeklagte durch Bedecken seines Gesichts, durch Verstecken hinter einem Aktendeckel, äußerstenfalls durch tätliche Angriffe auf den Fotografen und dessen Kamera die Aufnahme verhinderte. Da der Vorsitzende die Ordnung in der Sitzung aufrechtzuerhalten hat, gehört es natürlich zu seinen Aufgaben, derartige Auftritte von vornherein unmöglich zu machen. Von der Sitzungspolizei gilt, wie von der Polizei

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überhaupt, daß ihre Maßnahmen sich in erster Linie gegen den Störer der Ordnung, und nur, wenn das nicht hilft, gegen den Angegriffenen richten darf. Beim Fotografieren ist der Störer der Fotograf, weil es kein Recht zum Fotografieren gibt. Das ergibt sich übrigens auch eindeutig aus einem Gegenschluß nach § 81 b StPO. Danach dürfen Lichtbilder des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen werden, soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Was die Justiz selbst nur unter diesen ganz bestimmten Voraussetzungen mit dem Beschuldigten tun darf, das darf sie nicht in ihren Räumen, in denen sie den Beschuldigten zum Erscheinen zwingt, irgendeinem Außenstehenden ohne diese Voraussetzungen gestatten. Andere Personen als Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige, Zuschauer, Staatsanwälte, Richter dürfen, wie sich aus § 81 c StPO ergibt, überhaupt nicht ohne ihre Einwilligung fotografiert werden. Nur im Rahmen von Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung wäre das allenfalls zulässig; und selbst hier nicht, wenn der Betreffende ein Zeugnisverweigerungsrecht hat. Aus diesen Gründen muß dem Vorsitzenden dringend empfohlen werden, das Fotografieren im Gerichtssaal schlechthin und ohne jede Ausnahme zu verbieten. Die Richtlinien, unverbindlich wie sie ohnehin sind, schaffen da nur Unklarheit. Ihr Satz, daß der Vorsitzende berechtigte Wünsche der Beteiligten berücksichtigen werde, hilft ihm nach keiner Seite weiter. Er sagt ihm nicht, unter welchen Gesichtspunkten Wünsche der Fotografen oder Wünsche der zu Fotografierenden berechtigt sein könnten. Aus persönlicher Erfahrung kann ich dazu nur ein Beispiel beisteuern, das sich bei einem Revisionsgericht zugetragen hat. Ein Beisitzer hatte bemerkt, daß vor der Urteilsverkündung Anstalten getroffen worden waren, das Gericht während der Urteilsverkündung zu fotografieren. Er teilte das dem Vorsitzenden im Beratungszimmer mit und bat, das Fotografieren zu verhindern; er sei nicht bereit, sich bei dieser Gelegenheit fotografieren zu lassen. Ich war übrigens weder dieser Beisitzer noch war ich der Vorsitzende. Der Vorsitzende antwortete, er sei nicht willens, dieser Bitte nachzukommen; er meinte, der Beisitzer wie auch die übrigen Mitglieder des Gerichts müßten es hinnehmen, wenn sie jetzt fotografiert würden. Es kam zu einer ziemlich lebhaften Aussprache zunächst nur zwischen diesen beiden Herren, bei der sich keiner vom anderen überzeugen ließ. Dann rief der Vorsitzende den Senat zur Entscheidung an; der Senat erklärte sich für unzuständig zu dieser Entscheidung. Gegen sitzungspolizeiliche Anordnungen oder Nichtanordnungen des Vorsitzenden gibt es keine Anrufung des Gerichts. Daraus wollte nun der Vorsitzende herleiten, seine Entscheidung sei also schlechterdings verbindlich. Der Beisitzer bestritt das und erklärte, er

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werde den Sitzungssaal solange nicht betreten, bis das Fotografieren verhindert oder verboten worden sei. Dadurch kam das Gespräch auf das Thema der Dienstaufsichtsbeschwerde; jeder der beiden streitenden Herren meinte, der andere müsse oder könne sich beschweren. Allmählich wurden nun die übrigen Beisitzer sauer und äußerten Zweifel, ob sie verpflichtet seien, noch sehr lange auf die Beendigung dieses Streites zu warten. Da der Dienstvorgesetzte an diesem Tage nicht mehr zu erreichen war, was alle wußten, gewann die Sache allmählich das Aussehen, daß der Beisitzer in der bei weitem stärkeren Position war. Deshalb suchte nun der Vorsitzende nach einer Rückzugsstraße. Er bat den widerstrebenden Beisitzer, doch wenigstens einen Grund anzugeben, aus dem er sich nicht fotografieren lassen wolle. Er deutete dabei an, daß er bereit sei, sich auch von dem fadenscheinigsten Grund sofort überzeugen zu lassen. Darauf ging der Beisitzer aber nicht ein. E r fühlte sich stark genug, um zu erklären, seine Weigerung müsse für den Vorsitzenden Grund genug sein. Es kam, wie es kommen mußte: der Vorsitzende konnte als Rückzugsgefecht nur noch bemerken, der Klügere gebe nach, der Fotograf wurde hinauskomplimentiert und nach einem Aufenthalt von immerhin 47 Minuten wurde das Urteil ohne weitere Zwischenfälle verkündet. N o c h bei weitem klüger wäre es natürlich gewesen, wenn der Vorsitzende schon 47 Minuten früher nachgegeben hätte. Dieser Vorfall mag als Beispiel dafür dienen, daß der Vorsitzende sich mit der Sitzungspolizei gegenüber dem Fotografen sehr viel leichter durchsetzen kann als gegenüber dem Beteiligten, der nicht fotografiert zu werden wünscht. Der Augenblick der Aufnahme ist übrigens der letzte, in dem der Vorsitzende dem widerrechtlich Fotografierten den Schutz gewähren kann, den er ihm schuldig ist. Sobald die Aufnahme erst einmal gemacht ist, geht von dem Fotografen keine Störung mehr aus. Jetzt hat er das Bild; jetzt beurteilt sich die Frage, ob er es veröffentlichen darf, nach dem Kunsturheberrechtsgesetz mit seinen verschiedenen Zweifelsfragen. Und darüber zu entscheiden, ist ganz gewiß nicht der Vorsitzende des Gerichts zuständig, vor dem die Aufnahme gemacht worden ist. Er hat jetzt unter keinem Gesichtspunkt mehr die Macht, die Veröffentlichung des Bildes zu verhindern. Wir haben es Vorjahren bei einem niedersächsischen Gericht erlebt, daß zwischen einem Strafkammervorsitzenden und den anwesenden Bildreportern ein Gentlemen's Agreement zustande gekommen war, wonach alle Bilder dem Vorsitzenden vorgelegt und nur mit seiner schriftlichen Zustimmung veröffentlicht werden sollten. Dieses Gentlemen's Agreement hatte aber die Schwäche, daß nur der Vorsitzende, nicht aber die Bildreporter Gentlemen waren. Sie scherten sich den Teufel um seine Anordnungen, druckten die Bilder mitsamt seinen faksimilierten Veröffentlichungsverboten ab und fügten so zum Schaden für den Angeklagten noch den Spott für den Vorsitzen-

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den. Das war nicht vornehm, aber dem Vorsitzenden geschah es ganz recht. Was von den Bildberichterstattern gilt, das gilt auch von den Kurbelmännern der Wochenschau und des Fernsehens. Selbst wenn man die Zustimmung aller Beteiligten hätte, so bleibt es immer noch eine Frage des Takts und des guten Geschmacks, ob man das Tribunal zur Szene werden läßt. Der Vorsitzende entfernt sich schon viel zu weit von seinen eigentlichen Aufgaben, wenn er überhaupt die Frage stellt, ob jemand Einwendungen gegen derartige Aufnahmen hat. Er sollte immer an die Möglichkeit denken, daß jemand vielleicht zu schüchtern ist, vielleicht Mißdeutungen fürchtet, wenn er in die Verlegenheit gebracht wird, erst ausdrücklich widersprechen zu sollen. Diese Frage sollte er allen Beteiligten ersparen, die ja just in diesem Augenblick weiß Gott ganz andere Sorgen haben. Wenn freilich in einem Prozeß, der weithin Aufsehen erregt hat, der Vorsitzende solche Aufnahmen dennoch gestattet und dann sein Justizminister ihn in der Presse, also vor aller Öffentlichkeit laut und vernehmbar rügt, so halte ich das für einen faux pas de deux. Was nun die Tonbandaufnahmen für Rundfunkzwecke angeht, so darf ich mich aus zwei Gründen kurz fassen: Erstens gibt es darüber eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, und zweitens habe ich meine Ansichten darüber schon ausführlich veröffentlicht. Mit dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat es übrigens eine ebenso eigenartige Bewandtnis wie mit der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, das die gleiche Frage im entgegengesetzten Sinne entschieden hat. Keine der beiden Entscheidungen beruht nämlich auf der Ansicht, die darin jeweils zu unserer Frage mit so viel Nachdruck und so viel Aufwand an wissenschaftlichem Apparat vertreten wird. Sie betrafen beide einen und denselben Prozeß. Der Verteidiger hatte sich geweigert, sein Plädoyer zu halten, solange die Aufnahmemikrophone des Bayerischen Rundfunks bereitstanden. Dadurch war eine Vertagung notwendig geworden, deren Kosten das Schwurgericht dem Verteidiger auferlegte. Dagegen legte der Verteidiger Beschwerde beim Bayerischen Obersten Landesgericht ein. Das Beschwerdegericht vertrat sehr ausführlich die Ansicht, er hätte sich nicht weigern dürfen; gleichwohl gab es seiner Beschwerde aber doch nach und befreite ihn von den Kosten, weil er das nicht habe zu wissen brauchen. Wäre das Beschwerdegericht in der uns interessierenden Frage entgegengesetzter Ansicht gewesen, so hätte es die gleiche Entscheidung natürlich erst recht erlassen müssen. In der neuen Verhandlung plädierte der Verteidiger nun tatsächlich vor den Mikrophonen des Bayerischen Rundfunks, gründete dann aber seine Revision darauf, daß er dazu gezwungen worden sei. Der Bundesgerichtshof gab ihm völlig recht in der Ansicht, daß diese Aufnahme durchaus unstatthaft war und daß man ihn unter keinen Umständen

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dazu hätte zwingen dürfen; gleichwohl verwarf er die Revision mit der Begründung, daß nicht ersichtlich sei, was der Verteidiger sonst noch zugunsten seines Angeklagten hätte geltend machen können, wenn von der Aufnahme abgesehen worden wäre. Er hätte natürlich die Revision genauso und erst recht verwerfen müssen, wenn er die Aufnahme gegen den Willen des Verteidigers für statthaft gehalten hätte. Nun, es ist trotzdem anzunehmen, daß die Ansicht des Bundesgerichtshofs sich durchsetzen wird. Die Öffentlichkeit des Verfahrens bedeutet nur, daß die Tür des Sitzungssaals nicht verschlossen werden darf und daß einigen wenigen Zuhörern der Zutritt gestattet werden muß; sie bedeutet, daß dem Vertreter des Rundfunks wie den Pressevertretern die Anwesenheit erlaubt ist, aber nicht, daß sie ein Tonbandgerät mitbringen dürfen. Das Persönlichkeitsrecht eines jeden, der in der Verhandlung das Wort ergreift oder auch nur ergreifen könnte, steht einer Aufnahme ohne seine Zustimmung entgegen. Die Sitzungspolizei des Vorsitzenden umfaßt das Recht und die Pflicht, Aufnahmen ohne Zustimmung des jeweils Sprechenden zu verhindern. Das einzige, was der Vorsitzende gestatten kann, ohne jemanden zu fragen, ist die Aufnahme seiner mündlichen Urteilsbegründung für den Rundfunk. Auch dazu ist er aber nicht verpflichtet. Ob das Mikrophon ihn befangen macht oder nicht, muß er selbst entscheiden. Selbst wenn er unter diesem Gesichtspunkt keine Bedenken hat, bleibt die Entscheidung darüber noch eine Sache des persönlichen Vertrauens zwischen ihm und dem betreffenden Rundfunkvertreter. Einen rechtlichen oder praktischen Weg, sinnentstellende Kürzungen oder sonstige Verballhornungen der Aufnahme zu verhindern, hat der Vorsitzende nicht. Das Urheberrecht steht ihm nicht zur Seite, weil die Urteilsverkündung ein Staatsakt ist und an ihr deshalb keine Urheberrechte bestehen. Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang einen Fall berichten, der den Vorzug hat, noch ganz neu zu sein, und den Nachteil, so neu zu sein, daß die eigentliche Pointe erst noch bevorsteht. Wir hatten am Dienstag eine Revisionsverhandlung gegen einen Regierungsdirektor, der als Abteilungsleiter in der Berliner Bauverwaltung zu Weihnachten von mehreren Tiefbau-Firmen kleine Geschenke wie Tischbarometer, Tischuhren, Brieföffner und Scheren in Lederetuis und dergl. im Gesamtwerte von etwa 150,- DM angenommen hatte. Am Tage vor der Verhandlung, also am Montag, suchte mich ein bekannter Berliner Gerichts- und Rundfunkberichterstatter auf, um mich zu bitten, die Aufnahme der Urteilsverkündung für den Rundfunk zu gestatten. Nach anfänglichem Widerstreben habe ich ihm dann nach über einstündiger Unterhaltung diese Erlaubnis gegeben. Dabei sagte er mir, für die Sendung stünden nur 29 Minuten zur Verfügung, und zwar am Sonnabend, also morgen abend. Er werde sich in der Zwischenzeit mit mir in

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Verbindung setzen, damit wir im beiderseitigen Einverständnis die Urteilsverkündung auf 29 Minuten zusammenschneiden könnten. Ich erklärte ihm sofort, das werde nicht nötig sein; ich würde voraussichtlich nur 10 bis allerhöchstens 15 Minuten brauchen. Dabei würde ich allerdings den Sachverhalt als bekannt voraussetzen. Darauf ging er ein, indem er in Aussicht stellte, im ersten Teil der Sendung den Sachverhalt mit eigenen Worten unter Verwendung des angefochtenen Urteils darzustellen, dessen Gründe ja vom Berichterstatter vorgetragen werden würden. Weiter machten wir aus, daß die Sendung mit der Urteilsbegründung abschließen sollte. Jeden weiteren Kommentar werde der Rundfunk sich schenken. Nach dieser Abrede wurde nun in der Verhandlung auch verfahren. Während des Vortrages und während der Plädoyers, die mehrere Stunden dauerten, war kein Aufnahmegerät im Saal. Der Rundfunkvertreter saß mit mehreren Journalisten am Pressetisch. Im übrigen war, was bei uns eine große Seltenheit ist, der Zuhörerraum bis auf den letzten Platz gefüllt. Als wir nach 4stündiger Beratungspause den Saal wieder betraten, waren inzwischen die Mikrophone aufgebaut worden. Auch im übrigen bot der Saal insofern ein ungewöhnliches Bild, als nicht nur der Angeklagte und sein Verteidiger, sondern auch etwa die Hälfte der Zuhörer so lange ausgehalten hatten, um die Urteilsverkündung zu hören. Sie ging dann ohne Zwischenfälle vor sich. Die Revision wurde verworfen. Die Verkündung dauerte 8 Minuten. Am anderen Vormittag, also am Mittwoch, besuchte mich der Rundfunkvertreter wieder, um mich zu bitten, ihm den Sinn der vom Verteidiger gemachten Ausführungen in einigen kurzen, gemeinverständlichen Sätzen zusammenzufassen. Das sollte natürlich nicht von mir ins Mikrophon gesprochen werden, sondern nur eine Hilfe für die Herstellung des Skripts sein. Ich sagte ihm, darum möge er den Verteidiger lieber selbst bitten. Diese Ausführungen waren nämlich nicht leicht verständlich gewesen. Ich hatte den Verteidiger während des Plädoyers wiederholt unterbrochen, weil mir der Sinn seiner Ausführungen nicht klar gewesen war. Ich wollte mir nun nicht gern nachträglich vorwerfen lassen, zu einer Sinnentstellung dieser Ausführungen beigetragen zu haben. Spät am Mittwochabend rief mich der Rundfunkvertreter in meiner Wohnung an und nun erfuhr ich etwas, was ich bis dahin nicht geahnt hatte. Die Initiative zu dem Plan dieser ganzen Sendung war nicht von dem Berichterstatter und auch nicht von der Redaktion des Senders ausgegangen, sondern von dem Verteidiger. Der Verteidiger hatte den widerstrebenden Rundfunkberichter durch langes Drängeln schließlich so weit gebracht, daß er endlich Feuer fing. Und nun rief der Berichterstatter mich ganz traurig und niedergeschlagen an, um mir zu eröffnen, daß der Verteidiger nunmehr, nach seiner Niederlage, keinen Spaß an der ganzen

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Geschichte mehr habe und sich der Sendung mit Entschiedenheit widersetze. Er habe sein Einverständnis ausdrücklich zurückgezogen und außerdem mitgeteilt, daß die Bauverwaltung keineswegs damit einverstanden sei. Ich möchte ihm doch nun bitte sagen, wie da die Rechtslage sei. Ich erwiderte ihm, daß es zu dieser Sendung keinesfalls des Einverständnisses des Angeklagten und seines Verteidigers oder der Bauverwaltung bedürfe. Im übrigen würde ich, wenn die Sendung nunmehr nicht erschiene, die ganze Geschichte nebst Vor- und Nachspiel in der Zeitung veröffentlichen. Was es mit dem Widerstand der Bauverwaltung, also der Senatsabteilung für Bau- und Wohnungswesen auf sich hat, ist leicht zu erraten, wenn man die Gründe des angefochtenen Urteils kennt. Dort ist nämlich zu lesen, daß eine Tischuhr just von der Machart, mit der dieser Angeklagte bestochen worden war, auch auf dem Schreibtisch des Herrn Senators für Bau- und Wohnungswesen steht. Diese Feststellung ist von dem Berichterstatter des Senats bei seinem Vortrage laut und deutlich mit verlesen worden. Damit ist er auf legale Weise an die Öffentlichkeit gedrungen, und ich möchte wissen, was den Sender Freies Berlin, wenn man das Wort „Freies" nicht in Anführungsstriche setzen will, hindern sollte, auch diese Einzelheit seinen Hörern mitzuteilen. Nun sehe ich der Pointe, nämlich der Sendung morgen abend um 20.45 Uhr, ebenso mit Spannung entgegen wie vielleicht auch Sie. Von solchen Zwischenfällen, die das langweilige Dasein etwas bunter machen, einmal abgesehen, ist das für uns bei weitem wichtigste Organ der öffentlichen Meinung die Tageszeitung. Sie erreicht die breite Öffentlichkeit für unsere Zwecke am besten. Beim Rundfunk hängt es allzu sehr vom Zufall ab, ob der Angesprochene sich hinreichend konzentriert. Das werden bei Sendungen aus unserem Bereich im allgemeinen nur verhältnismäßig wenige Hörer tun können. Unsere Anliegen leiden zwar bei den Tageszeitungen in ähnlichem Maße an Raummangel, wie beim Rundfunk an Zeitmangel. Aber ein geschickter Journalist kann dem leichter durch eine zusammengedrängte Schreibweise begegnen. Bei ihm schadet es nichts, wenn er den Leser zwingt, sich für die Lektüre Zeit zu lassen und den Bericht vielleicht zweimal zu lesen. Zeitungsberichte eignen sich auch besser als Grundlage einer Diskussion im Familienkreise. Mit anderen Worten, für uns ist der Gerichtsberichterstatter der Presse ein ungemein wichtiger Mann. Wir wünschten ihn uns vielleicht manchmal anders. Wir möchten bisweilen gerne, daß er etwas mehr von unserem Fach verstünde. Wir wünschten ihm vor allen Dingen oft ein wenig mehr Lebenserfahrung. Häufig sind ja die Gerichtsberichterstatter Anfänger unter den Journalisten, die sich bei uns erst einmal die Sporen verdienen müssen, bis sie als hinreichend qualifiziert gelten können, über Fußballspiele zu berichten.

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Wir müssen uns wünschen, daß der Gerichtsberichterstatter in seiner eigenen Redaktion ein möglichst angesehener Mann ist. Denn was hilft es uns, daß er seine Berichte so schreibt, wie wir sie gerne haben möchten, wenn dann der Lokalredakteur sie kürzt, umarbeitet, Lichter aufsetzt, aus der Fülle seiner Ununterrichtetheit Kritik anbringt usw. Aber da ist unser unmittelbarer Einfluß gering, und er soll und muß auch gering sein. Denn was wäre das für eine Pressefreiheit, und welche Befruchtung könnten wir von der Presse erwarten, wenn wir bei der Personalpolitik einer Zeitung mitzumischen hätten. Wir müssen unseren Einfluß an einem anderen Ende geltend zu machen suchen. Wir müssen dem Gerichtsberichterstatter, der uns vielleicht nicht gefällt, jede Art von Hilfe geben, damit er so werden kann, daß er uns gefällt. Das ist für uns eine ebenso notwendige wie unbequeme Pflicht. Sie besteht in erster Linie darin, daß wir für die Gerichtsberichterstatter viel Zeit haben müssen. Wir müssen für sie zu sprechen sein, und zwar häufig zu Tageszeiten, die von unserem Beruf aus gesehen ungewöhnlich und lästig erscheinen mögen. Der Gerichtsberichterstatter muß wissen, daß der Vorsitzende unmittelbar nach der Urteilsverkündung für ihn zu sprechen ist. Gewiß ist das für uns der allerlästigste Augenblick. Wir haben einen angestrengten Arbeitstag hinter uns, sind abgespannt, hungrig, sehnen uns nach Ruhe, nach unserer Familie und nach dem Bett. Aber das hilft nichts; wer auf eine gute Presse Wert legt, der muß sich gerade jetzt noch einmal zusammennehmen. Wer damit bis zum anderen Morgen warten möchte, der darf sich nicht wundern, wenn er sich dann schon beim Frühstück überzeugen muß, daß die Sache wieder einmal schief gelaufen ist, daß die Zeitung wieder einmal entstellt, irreführend berichtet, die rechtlichen Pointen des gestrigen Prozesses verfehlt hat. Die Morgenzeitungen haben etwa abends um 10 oder 11 Uhr Redaktionsschluß. Was bis dahin nicht geradegezogen ist, das erscheint eben am anderen Morgen schief. Deshalb muß man die Journalisten auch daran gewöhnen, daß sie einen abends noch zu dieser lästigen Zeit in der Wohnung anrufen können. Sie wissen natürlich, daß sich das nach allgemeinen bürgerlichen Maßstäben nicht gehört. Deshalb genügt es nicht, daß man sich darauf gefaßt macht; man muß das den Journalisten immer und immer wieder sagen, so lange, bis sie es wirklich glauben und dann schließlich auch Gebrauch davon machen. Man muß daran denken, daß diese häufig noch jungen Journalisten meist einen ganz geM'altigen Respekt vor einem haben. Darüber darf man sich nicht durch die kesse Art täuschen lassen, mit der sie einen bisweilen in ihren Zeitungen abkanzeln, und auch nicht durch das legere Auftreten, mit dem sie uns manchmal im Gerichtssaal auffallen. Das ist oft nichts als überkompensierte Schüchternheit. Nicht selten kostet es vieles Nachdenken und lange Zeit, bis man sich einen solchen jungen

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Mann herangewöhnt hat. Es ist falsch zu denken, daß er ja etwas von uns will. Gewiß will er das; aber wir wollen auch etwas von ihm, was für uns viel wichtiger ist und was er ohne unsere ständige Hilfe gar nicht leisten kann. Wir müssen ihm die rechtlichen Pointen der Prozesse erklären, wenn wir nicht wollen, daß sie in der Zeitung verkorkst werden. Er verdient sein Zeilengeld schließlich auch mit einem völlig verballhornten Bericht. Die besonderen Bedingungen der juristischen und der journalistischen Arbeit bringen es mit sich, daß für das entscheidende Gespräch des Richters mit dem Journalisten meist nur ein ganz kurzer Zeitraum zur Verfügung steht, nämlich eben der kurz nach der Urteilsverkündung. Der Journalist, der von Berufs wegen immer auf Aktualität aus sein muß, möchte die Ereignisse am liebsten immer schon wissen, ehe sie sich zugetragen haben. Die Zeitung bringt ja bisweilen auch schon eine Vorschau auf einen in den nächsten Tagen bevorstehenden Prozeß. Für den Richter, den der Journalist schon vor dem Urteil aufsucht, entsteht aber allzu leicht die Gefahr eines Konflikts zwischen dem Wunsche, dem Journalisten gefällig zu sein, und seiner richterlichen Pflicht. Die Tatsachen, um die es geht, stehen für den Richter noch nicht fest. Macht er dem Journalisten darüber konkrete Mitteilungen, so kommt er in Gefahr, gegenüber dem Angeklagten den Eindruck der Befangenheit zu erwecken. An dieser Klippe ist einmal ein Urteil des Landgerichts Braunschweig gescheitert. Die betreffende Entscheidung des Bundesgerichtshofs steht in unserer Amtlichen Sammlung. Hier könnte der Richter also höchstens sehr allgemeine tatsächliche und rechtliche Angaben machen. Ich möchte deshalb empfehlen, daß man die Journalisten daran gewöhnt, sich in diesem Stadium des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft zu wenden, soweit ihnen die Auskünfte der Justizpressestelle nicht ausreichen. Dieses Verfahren hat natürlich mehrere Voraussetzungen. Erstens gehört dazu, daß bei der Staatsanwaltschaft auch wirklich der Sachbearbeiter dem Journalisten zur Verfügung steht. Die heutigen Zustände, bei denen vielfach allein die Polizei praktisch die Herrin des Ermittlungsverfahrens ist, ein Staatsanwalt nur die Anklage verfaßt und ein anderer Staatsanwalt die Sache in der Sitzung vertritt, sind dem nicht sehr günstig. Zweitens darf der Vorsitzende den Journalisten nicht kurz und unfreundlich zur Staatsanwaltschaft schicken. E r muß suchen, bei ihm wirkliches Verständnis dafür zu erwecken, warum er zu diesem Zeitpunkt bei der Staatsanwaltschaft vor der richtigen Schmiede ist. Man sollte auch diese Gelegenheit nicht vorüber lassen, ohne dem Journalisten etwas Nützliches oder wenigstens Angenehmes zu sagen. Man kann ihn darauf aufmerksam machen, daß der und der demnächst anstehende Termin besonders interessant zu werden verspricht. Man kann ihm sagen, daß man kürzlich den und den Bericht von ihm besonders

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sachlich und besonders gut geschrieben gefunden hat. Man kann bei solchen Gelegenheiten vielleicht sogar eine vorsichtige Kritik anbringen. Dabei empfiehlt es sich aber, an die alte militärische Regel der richtigen Mischung von Lob und Tadel zu denken, die hier vielleicht aus einem Teil Tadel auf zehn Teile Lob besteht. Man muß den Mann so behandeln, daß er gern wiederkommt und das Gefühl hat, stets willkommen zu sein. Und schließlich darf man unter keinen Umständen versäumen, ihm mit Nachdruck zu sagen, daß man ihn sofort nach der Urteilsverkündung erwartet. Das muß man ihm unüberhörbar und als ein ausgesprochenes Anliegen beibringen. Man muß trachten, sich geradezu mit ihm für diesen Zeitpunkt zu verabreden. Wenn er dann nicht kommt, muß man nachfassen. Man muß ihn bei der nächsten Gelegenheit fragen, warum er denn nicht gekommen sei. Er muß das Gefühl bekommen, ernst und wichtig genommen zu werden. Denn er ist für uns ja in der Tat sehr wichtig. Nachträgliche Richtigstellungen haben in aller Regel sehr wenig Wert. Mit dem § 11 des Pressegesetzes ist so gut wie gar nichts auszurichten; im übrigen wäre das nicht Sache des Richters, sondern der Justizverwaltung. Wenn man sich über eine verfehlte Berichterstattung ärgert, schreibe man keinen Brief an die Redaktion. Das wird immer ein Reinfall, ganz gleich, ob man nun recht oder unrecht bekommt. Gibt einem die Redaktion nicht recht, so ist das eine unnötige Einbuße an Autorität; dem sollte man sich als Richter möglichst nicht aussetzen. Gibt einem die Redaktion recht, so bekommt der unglückliche Gerichtsberichterstatter eins auf die Nase. Das ist für den Richter eine im Augenblick sehr billige Genugtuung, für die Zukunft aber eine schwere Belastung des gegenseitigen Verhältnisses. Viel besser ist es, mit dem Gerichtsberichterstatter selbst zu sprechen. Man ruft ihn an, oder man wartet eine Gelegenheit ab, bei der er einen ohnehin aufsucht. Und wenn es sich irgendwie verantworten läßt, leite man das Gespräch damit ein, daß man in dieser nun einmal geschehenen Sache von ihm keine Schritte verlangt. So sehr im allgemeinen ein Richter bereit ist, seine Fehler einzusehen und dann auch sofort richtigzustellen, so sehr scheut im allgemeinen ein Journalist und eine Zeitung davor zurück. Da kann man im offensichtlichsten Recht sein und trotzdem auf Granit beißen. Man mute einem Journalisten und einer Zeitung möglichst nicht zu, was sie als einen Verlust an Gesicht zu empfinden pflegen. Selbst wenn man sich damit durchsetzt, entstehen daraus Belastungen des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses für die Zukunft. Sie haben vielleicht das Gefühl, daß ich hier zu viel vom Richter verlange. Aber seien Sie bitte überzeugt, daß diese Anstrengungen sich lohnen. Ich habe damit vier Jahre als Pressereferent und 3lA Jahre als Vorsitzender beim Bundesgerichtshof die besten Erfahrungen gemacht.

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Ich habe in der ganzen Zeit niemals Ärger mit der Presse gehabt. Ich habe es fast durchweg erreicht, daß unsere wichtigeren Entscheidungen in der Presse zutreffend wiedergegeben worden sind und eigentlich auch immer eine gute Presse gehabt haben. Das ζ. B. selbst in einem Falle, in dem das Fachschrifttum eine unserer Entscheidungen als allzu presseunfreundlich kritisiert hatte. Da haben die Zeitungen selbst gesagt, sie fänden das Urteil ganz in der Ordnung. Außerdem kann man als Richter von jedem Fachmann eines anderen Gebietes, und ganz besonders von einem Journalisten, immer etwas lernen. Während man eine Urteilsbegründung vorträgt, sagt einem niemand von den Zuhörern, daß er einen nicht versteht. Wenn man die Gewohnheit hat, sich allzu fachjuristisch, allzuwenig gemeinverständlich auszudrücken, so kommt einem das dabei gar nicht zum Bewußtsein. Im Zwiegespräch mit einem Journalisten, also einem Manne, der davon lebt, daß er sich noch für den letzten Mann auf der Straße gemeinverständlich ausdrückt, können wir für unsere eigene Ausdruckskunst immer etwas lernen. Und da gewinnen wir für uns selbst eine wichtige Voraussetzung für die fruchtbare Zusammenarbeit mit allen Organen der öffentlichen Meinung. Wir erwerben allmählich selbst die Fähigkeit, das Einfache einfach auszusprechen und auch das Schwierige nicht abstrus werden zu lassen. Gerade das Strafrecht, das sich ja mit seinen Forderungen an jedermann wendet, darf nach außen hin niemals so schwierig erscheinen, niemals derart als das Ergebnis gelehrter Spezialistenarbeit wirken, daß es nicht jeder einfache Mensch als sein Adressat verstehen könnte. Wir müssen auch schwierige Rechtsregeln wenigstens in ihrer jeweiligen Anwendung auf den konkreten Einzelfall als einleuchtend darzustellen lernen. Wer unsere Urteilsbegründungen hört, darf nicht den Eindruck gewinnen, daß hier die Ergebnisse eines mühsam eingelernten und für den gewöhnlichen Christenmenschen unzugänglichen Fachwissens spazierengeführt werden, sondern er muß unseren Gerichtssaal mit dem Gefühl verlassen, daß hier ein ganz einleuchtendes Recht gesprochen wird, daß hier insbesondere der geistig unbedarfte Mann weder in den Anforderungen an sein Verhalten noch in den Anforderungen an sein Verständnis überfordert wird. Man darf da nicht einwenden, daß unser Arbeitsgebiet doch nun einmal wirklich verwikkelt und schwierig sei, und daß man zum schrecklichen Vereinfacher, zum terrible simplificateur im Sinne von Jacob Burckhardt werde, wenn man das zu verbergen trachte. Gute juristische Arbeiten, insbesondere gute schriftliche oder mündliche Urteilsbegründungen, haben einen doppelten Boden. Erlauben Sie einen Vergleich mit der Musik Richard Wagners. Man braucht keine übertrieben tiefgehende musikalische Bildung, um eine Aufführung der Meistersinger genießen zu können. Der einfachste und unmusikalischste Mensch kann die Prügelszene im 2. Akt

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als ein kerniges und lautes Gaudium von ganzem Herzen genießen. E r kann die Lächerlichkeit Beckmessers empfinden und er kann die musikalische Wiedergabe der schwülen Johannisnachtstimmung unmittelbar genießen. Das ist die Oberschicht, der Vordergrund. Der musikalisch ausgebildete Zuhörer bemerkt aber außerdem noch, welch eine geradezu unglaubliche kompositorische Glanzleistung die Musik der Prügelszene enthält; er bemerkt mit einem geradezu schreckhaften Genuß, daß Wagner die Sommernachtsstimmung mit keinem anderen Motiv zeichnet als ausgerechnet dem Beckmesser-Motiv, dessen groteske Lächerlichkeit er durch eine Änderung der Tonart, des Tempos und der Instrumentierung in diese eigenartig lastende Süße verwandelt hat. So muß auch eine gute Urteilsbegründung beschaffen sein. Der simple Leser braucht daran nichts zu bemerken als das einfache und unmittelbar einleuchtende. Der Kenner muß dahinter entdecken, daß hier ein mit allen Feinheiten der Rechtswissenschaft vertrauter Jurist ein sorgsam überlegtes Stück Arbeit getan hat.

V. Richter und Strafverteidiger als Beruf

Besonderheiten des richterlichen Amtes 1 (1965)

Der italienische Rechtsanwalt Calamandrei hat ein Buch unter dem Titel „Lob der Richter, gesungen von einem Advokaten" veröffentlicht. Nun enthält dieses Buch keineswegs so in Bausch und Bogen ein Loblied auf die Richter. Der Titel ist eher ironisch zu verstehen. In Italien genießen zwar die Richter trotz ihres noch niedrigeren Gehalts höheres Ansehen als in Deutschland; die Italiener sind eben die Erben eines alten Rechtsvolkes. Aber ob sie ihre Richter loben, weiß ich nicht. Wir deutschen Richter müssen schon froh sein, wenn der Tadel, der uns zuteil wird, so sachlich ist, daß er das Hinhören lohnt. Aber weder das Lob noch die Verteidigung auf den Tadel kann heute abend das Thema sein. Vielmehr möchte ich Ihnen etwas über einige Besonderheiten des richterlichen Amtes und der richterlichen Arbeit sagen. Eine dieser Besonderheiten besteht darin, daß der Richter seine Arbeit selbst tut. Vielleicht glauben Sie, das sei gar nicht etwas so Besonderes und verstehe sich völlig von selbst. Aber werfen Sie zum Vergleich einmal einen Blick auf andere Seiten staatlicher Betätigung, oder auf die Verwaltung einer großen Gemeinde, selbst auf einen größeren oder auch nur mittleren Wirtschaftsbetrieb. Nehmen Sie an, ein Staatsbürger habe ein Anliegen, eine Frage an irgendeine Verwaltungsbehörde. E r schreibt einen Brief an den Regierungspräsidenten, an ein Ministerium, an die Allgemeine Ortskrankenkasse. Nehmen Sie weiter an, er bekommt postwendend eine zutreffende, höfliche und in gutem Deutsch geschriebene Antwort. Wir wollen hier ja nicht anderen Behörden am Zeuge flicken und die Gerichte im Vergleich zu ihnen herausstreichen. Es geht uns nur darum, eine Besonderheit des richterlichen Arbeitsstils durch diesen Vergleich deutlich zu machen. Zu diesem Zweck unterstellen wir auf beiden Seiten gute Arbeit. Stellen Sie sich nun bitte vor, unser Staatsbürger habe zu der Antwort, die er da bekommen hat, noch eine Zusatzfrage, einen Einwand, den Wunsch, sich mit dem Absender dieses netten und richtigen Schreibens zu unterhalten. Natürlich trägt der Brief eine Unterschrift. Daß man sie nicht lesen kann, schadet nichts; denn der Name ist mit Schreibmaschine wiederholt. Der Absender will sich so scheint es jedenfalls - nicht etwa verstecken. Unser Staatsbürger geht

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Vortragsmanuskript um das Jahr 1965.

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Richter und Strafverteidiger als Beruf

also zu seiner Behörde, sucht und findet den Träger dieses Namens, der ihn auch sofort empfängt und in freundlichster, geduldigster Weise anhört. Wenn dann aber etwas entschieden werden muß, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine von zwei Antworten, die alle beide sehr bezeichnend für die Verwickeltheit unseres heutigen Lebens sind. Die eine Antwort lautet: „Ich entsinne mich der Sache, sie ist mir seinerzeit vorgetragen worden. Uber die Einzelheiten bin ich aber nicht auf dem Laufenden. Am besten gehen Sie mal zu dem Sachbearbeiter, Herrn Soundso; ich melde Sie gleich telefonisch an, damit Sie keine Zeit verlieren." - Die andere Antwort lautet: „Ich habe die Sache, ehe ich Ihnen schrieb, dem Minister, dem Staatssekretär, dem Präsidenten, dem Direktor, dem Regierungsrat vorgetragen. Ich werde ihm auch ihr jetziges Anliegen vortragen, Sie bekommen dann Bescheid." Vielleicht fragt dann unser Bürger, ob er den Vorgesetzten nicht selbst sprechen kann. „Gewiß", wird ihm erwidert, „gehen Sie nur zu ihm hin, er sitzt in Zimmer 12, ich melde Sie gleich an." Wir sind eben in einer Behörde, wie sie sein soll. Aber auch hier wird der Vorgesetzte vielfach nicht entscheiden, ohne sich mit dem Sachbearbeiter beraten zu haben. Der eine kennt die Einzelheiten, der andere hat zu sagen. Nichts gegen diese Arbeitsteilung; sie ist vielfach unvermeidlich, sie hat vielleicht sogar ihr Gutes, sie verhindert, daß aus Beamten kleine Könige werden. Wenn Sie in der Privatwirtschaft etwas Ahnliches erleben wollen, so gehen Sie einmal zu einer großen Werkstatt und lassen Sie Ihren Wagen durchsehen; da gibt es Betriebe, wo durch die Organisation geradezu bewußt verhindert wird, daß Sie den Mann, der den Schraubenzieher in die Hand nimmt, überhaupt zu sehen bekommen. Übrigens haben wir sehr einfache Fälle gewählt. Häufig besteht der Apparat, mit dem man es zu tun hat, aus mehr als zwei Personen, häufig ist er für den Außenstehenden viel weniger durchsichtig. Das gilt etwa vom Gesetzgeber, von dem wir ja nur bildlich so sprechen, als sei er ein Mensch. Er ist alles andere als das. In Wahrheit ist er ein ungemein verwickelter, ein nicht mehr zur Verantwortung zu ziehender Apparat. Ein Ministerialrat entwirft ein Gesetz, nachdem er mancherlei Menschen, Stellen, Organisationen zu Rate gezogen hat. Der Ministerialdirektor, der Staatssekretär, der Minister bringen Änderungen an. Das Kabinett beschließt, den Entwurf, vielleicht mit weiteren Änderungen, dem Parlament vorzulegen. Hier geht er in drei Lesungen durchs Plenum, wobei jedesmal andere Abgeordnete teilnehmen. Zwischendurch ist er im Ausschuß oder sogar in mehreren Ausschüssen beraten worden. Viele - „Köche", hätte ich fast gesagt - viele Beteiligte geben etwas dazu; es wird mit wechselnden Mehrheiten über die einzelnen Paragraphen abgestimmt. Schließlich muß der Bundesrat, also die Vertretung der Länder, zustimmen, wobei die Stimme jedes einzelnen Landes auf ähnlich verwickelte Weise

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zustande gekommen ist. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundestag und Bundesrat wird ein Vermittlungsausschuß angerufen - und wenn das Gesetz schließlich im Bundesgesetzblatt steht, findet man keinen Menschen mehr, der für das Gesetz oder auch nur für einzelne Teile verantwortlich gemacht werden könnte, dem man zurufen könnte: was hast du da gemacht! Dabei haben wir nur von den legitimen Einflüssen gesprochen und die Lobby gar nicht erwähnt. Das alles ist nun bei der rechtsprechenden Staatsgewalt, bei den Gerichten ganz grundsätzlich anders. Der Richter entscheidet nicht nach Erkundigung bei und unter Beteiligung von Dritten, von Außenstehenden, niemals auf Weisungen von oben, niemals auf Vorschläge von unten. E r hat dieses oben und unten gar nicht. Der Richter, vor dem man steht, ist selbst der, mit dem man es allein zu tun hat. Das ist ganz klar, wenn es sich, wie beim Amtsgericht, um einen Einzelrichter handelt. Grundsätzlich ist es aber auch bei einem Kollegialgericht nicht anders. Dann sind es eben die drei oder fünf Richter, die man da zusammen sitzen sieht, und mit denen man selbst spricht. Gewiß beraten sie über ihre Entscheidung hinter verschlossenen Türen. Aber diese Türen sind dann gegen jeden verschlossen. Man kann gewiß sein, daß kein Vorgesetzter dabei ist und unkontrollierbare Einflüsse ausübt. Die Richter dürfen ihrem Urteil nichts zugrunde legen, als was in der Verhandlung vor den Ohren des Angeklagten erörtert worden ist, nichts, wozu die Prozeßbeteiligten sich nicht haben äußern können. Man kann auch sicher sein, daß die Richter sich nicht auf einen untergeordneten Sachbearbeiter verlassen, dem sie etwa die Einzelheiten überließen. Das Ganze bedeutet, daß der Staat an dieser Stelle, in der Person des Richters, noch das Gesicht eines oder einiger weniger bestimmter Menschen hat, nicht das unheimliche Aussehen eines, wenn auch vielleicht noch so gut funktionierenden Apparats. V o r grauen Zeiten war der ganze Staat so persönlich durch einen einzelnen Menschen verkörpert. Shakespeare gebraucht oft die Bezeichnungen des Landes und seines Herrschers als Synonyma; „Gloster kommt zurück mit Frankreich, Burgund und Gefolge" (König Lear I i ) . Aber mit den wachsenden Ansprüchen des Staates und vor allem mit den wachsenden Ansprüchen der Bürger an den Staat konnte der Herrscher nicht mehr alles selbst tun. Das Richteramt, das er früher selbst ausgeübt hatte, gab er ab. Der Richter vertrat den Herrscher; gegen seine Entscheidungen konnte der König angerufen werden. In der richterlichen Person behielt der Staat das Menschengesicht, wie sonst nur an ganz wenigen Stellen, wie etwa in der Person der Lehrer an den öffentlichen Schulen und Hochschulen. Wir dürfen uns nicht verbergen, daß diese Menschengestalt des Richters gefährdet ist. Wie man in vergangenen Jahrhunderten gesagt hat: das

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kann der Herrscher, der Minister, der Landrat doch nicht alles allein, doch nicht alles selber tun - ebenso beginnt jetzt, zunächst nur an einzelnen Stellen, der Ruf zu ertönen: der Richter, jedenfalls der hohe Richter, kann nicht die ganze richterliche Arbeit selber machen. Wir hören das Wort von den Richtergehilfen. Ganz langsam beginnt das von oben her einzusickern. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben jeder zwei Hilfsarbeiter, die ihrerseits zwar jünger sind, aber auch die Befähigung zum Richteramt haben; natürlich wählt man dafür besonders tüchtige Juristen aus. Im Bundesgerichtshof kommt auf einen Senat je ein wissenschaftlicher Hilfsarbeiter. Es gibt Senate, die davon nichts wissen wollen, und ihre Hilfsarbeiter anderen Senaten abtreten. Nach meiner Ansicht ist diese Einrichtung der Richtergehilfen, so wenig natürlich gegen diese Herren persönlich zu sagen ist, ein gefährlicher Anfang. In dieser sachkundigen und gutgemeinten Hilfe, die den nach außen allein verantwortlichen Richtern da zuteil wird, könnte der Beginn einer Umformung auch des Gerichts zu einem Apparat liegen. Es ist sehr verführerisch, sich solcher Hilfe zu bedienen. Gesetzgeber und Justizverwaltung, deren ständige Sorge es ja sein muß, wie die Gerichte mit ihrer Arbeit fertig werden sollen, werden, wenn das um sich greift, in Versuchung geraten, auf eine Steigerung der Arbeitslast nicht mit der Bestellung von mehr Richtern oder mit einer Vereinfachung der Vorschriften oder mit einem Abbau der Vielstraferei zu reagieren, sondern mit einer Vermehrung dieser Hilfe für den Richter. Bald kann dann ein Zeitpunkt erreicht werden, zu dem der eigentliche Richter, der nach außen die Verantwortung tragen soll, gar nicht mehr imstande ist, die ganzen Akten selbst zu lesen, das wissenschaftliche Schrifttum selbst zu studieren, die Prozeßparteien selbst zu hören. Schließlich könnte er dahin gelangen, nur noch die grundsätzlichsten Dinge selbst zu entscheiden. In allen anderen Verwaltungen sehen wir das vor Augen. Daß etwa ein Minister die Reden, die er hält, auch selbst verfaßt, wird immer mehr zur Ausnahme. Und dieser Vergleich mit einem Minister führt noch zu einer anderen Sorge. Man könnte auch beim Richter auf den Gedanken kommen, ihn nicht nach seiner fachlichen Befähigung, sondern mehr nach seinem politischen Standort auszuwählen. Wer fragt denn bei uns noch, ob ein Landwirtschaftsminister etwas von Landwirtschaft, ein Verkehrsminister etwas vom Verkehrswesen versteht. In dieser Beziehung beruhigt man sich damit, daß er dafür ja seine Leute hat. Ein Justizminister pflegt bei uns ja im allgemeinen noch Jurist zu sein, obwohl das nicht einmal vorgeschrieben ist. Kein Mensch aber würde auf den Gedanken kommen, ihn nun gerade nach seiner juristischen Bedeutung auszusuchen. Wir haben es doch immerhin erlebt, daß jemand nur deshalb Bundesjustizminister geworden ist, weil er nicht mehr Finanzminister bleiben sollte, man ihn aber dennoch im Kabinett

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behalten wollte. Das alles geht, wenn nicht sehr gut, so doch ganz gut, weil der Inhaber eines solchen Postens eben in fachlicher Hinsicht von seinem Apparat getragen wird. Dahin sollten wir es aber mit dem Richter nicht kommen lassen, und deshalb sollten wir den Anfängen einer Apparatbildung, eben der Einrichtung der Richtergehilfen, Widerstand leisten. Sie mögen einwenden, bei Kollegialgerichten sei nun aber die Verantwortlichkeit ohnehin dadurch verdunkelt, daß man nicht erfahre, wie der einzelne Richter abgestimmt habe. Das Beratungsgeheimnis ist bei uns ja in der Tat ebenfalls ein Charakteristikum des richterlichen Arbeitsstils. Man hat es im vorigen Jahrhundert eingeführt, um den Richter gegen Zugriffe der Obrigkeit sicherzustellen. Die Wurzeln dieser Entwicklung sehen ja so aus, daß man die Unterdrückung vom Herrscher und von der ihm untergebenen Administration befürchtete, während man sich den liberalen Richter, den Berufsrichter wie den Laienrichter, als einen Hort der Freiheit des Bürgers vorstellte. So sah man den Richter vor hundert Jahren nicht nur von unten, sondern auch von oben. Er erfreute sich des tiefen Mißtrauens der Monarchen. In Preußen etwa wurden die Richter systematisch schlecht behandelt. Man kann sich das heute nicht mehr so recht vorstellen, weil man kein Gefühl dafür hat, was damals Titel, Orden, Hofrang für das Ansehen des Menschen bedeuteten. Ein Amtsrichter, der gesellschaftlich etwa so angesehen sein wollte wie ein Oberförster, mußte dafür sorgen, daß er wenigstens Reserveoffizier war. Sie können das bei Fontane nachlesen. Mit leichter Ubertreibung wurde die Geschichte von dem Oberlandesgerichtspräsidenten erzählt, der an Größenwahn erkrankte, weil ihm geträumt hatte, er sei zum Regierungsreferendar ernannt worden. Jeder Generalleutnant, jeder Vizeadmiral, jeder Oberpräsident war selbstverständlich Exzellenz; davon gab es eine ganze Menge. Von den Richtern führte mit dieser Selbstverständlichkeit nur der Reichsgerichtspräsident diesen begehrten Titel; Senatspräsidenten beim Reichsgericht bekamen ihn nur ausnahmsweise, und dann auch nur unmittelbar vor der Pensionierung. Die sah man sich aber erst sehr genau an. Das Gros der Richter rechnete man - und es rechnete sich selbst - zur liberalen Fronde. Das Beratungsgeheimnis betrachteten sie als ein Palladium ihrer Unabhängigkeit von den herrschenden Gewalten. Die Dinge haben sich sehr gewandelt. Ich glaube nicht, daß wir heute noch das Beratungsgeheimnis als ein solches Palladium verteidigen sollten. Der Einzelrichter kann nicht verborgen halten, wie er entscheidet; er hat auch kaum Befürchtungen, daß ihm deshalb etwas geschehen könne. Es kommt vor, daß er sich auf seinen eigenen Kopf etwas zugute tut, und vor lauter Unabhängigkeitsgefühl auch noch in der Form entgleist. Heutzutage hat das Beratungsgeheimnis also eigentlich nur noch den Sinn, den Spruch des

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Kollegialgerichts als eine Einheit erscheinen zu lassen. Ob das nötig ist, und ob es gut ist, darüber kann man sich unterhalten. Sie mögen einwenden, wo diese Einheit tatsächlich nicht vorhanden sei, wo das Urteil tatsächlich nur der Meinung einer Mehrheit entspreche und die Minderheit mit ihm nicht einverstanden sei, da sei die Einheit eben nur scheinbar, die auf ihr beruhende Würde eine hohle Würde. Die Frage ist nicht ausdiskutiert; ich möchte sie auch heute abend nicht ausdiskutieren, sondern wollte sie nur erwähnen. Wir kamen darauf im Zusammenhang mit der richterlichen Unabhängigkeit. Es ist inzwischen ein über hundert Jahre alter Satz aller rechtsstaatlicher Verfassungen, daß der Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen ist; manche Verfassungen sagen „Recht und Gesetz", manche erwähnen auch noch das richterliche Gewissen. Der Sinn ist, daß niemand dem Richter Weisungen erteilen darf, wie er in einem bestimmten Prozeß entscheiden soll. Nicht einmal der Nationalsozialismus hat es gewagt, den Satz von der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne der Weisungsfreiheit förmlich aus der Verfassung und aus dem Gesetz zu streichen; er hat aber solche Eingriffe nicht gehindert. Ein Landgerichtspräsident hat sich erlaubt, einem Strafkammervorsitzenden zu sagen, die Rübe - mit diesem Wort - die Rübe des Angeklagten müsse herunter, der Gauleiter erwarte das. Der Reichsjustizminister Thierack hat den unbotmäßigen Senatspräsidenten beim Reichsgericht Voigt, der mit seinem Senat statt des gewünschten ein anderes Urteil erließ, entlassen. Bei dem Landgerichtsdirektor Kastendieck in Nordhausen erschien eines Tages in der Sitzung der Kreisleiter mit seinem Stabe, um in einem bestimmten Prozeß das Gericht einzuschüchtern; da geriet er allerdings an den Unrechten, Kastendieck warf die ganze uniformierte Gesellschaft hinaus. Wer nicht in der damaligen Zeit gelebt hat, kann sich kaum vorstellen, welcher Mut dazu gehörte. Es gibt noch einige solche Ruhmesblätter des Richtertums in der nationalsozialistischen Zeit; leider gibt es auch Gegenbeispiele. Im ganzen ist ihre Zahl nicht sehr groß; im großen und ganzen fand der Nationalsozialismus es nämlich leichter, die Entscheidungen, an denen ihm wirklich lag, den Richtern fortzunehmen und sie gefügigeren Instrumenten zu übertragen. An die Stelle des richterlichen Haftbefehls trat dann die von der Polizei verhängte Schutzhaft, an die Stelle der richterlich verhängten Freiheitsstrafe das Konzentrationslager, an die Stelle des Todesurteils die „Sonderbehandlung". Das meiste von dem, was in der richterlichen Zuständigkeit verblieb, war für den Nationalsozialismus nicht wichtig genug, um hier große Konflikte heraufzubeschwören. Das Amt des Richters erschien dem Nationalsozialismus, trotz gelegentlicher großer Sprüche, als ein kleines und unbedeutendes Amt. Bezeichnend dafür ist, daß 1933 Leute zu Richtern gemacht wurden, die gar nicht Richter

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hatten werden wollen, und daß sie deshalb zu Richtern gemacht wurden, weil sie dem Nationalsozialismus in anderen Amtern unerwünscht waren. Der Generalstaatsanwalt beim Kammergericht, Dr. Wiechmann, der der Sozialdemokratie nahestand (unser späterer erster Oberbundesanwalt), war auf diesem Posten für Hitler nicht tragbar; er machte ihn zum Senatspräsidenten beim Kammergericht, also zu einem gleich hochgestellten Richter. Ebenso wurden 1933 einige jüdische Oberstaatsanwälte zu Landgerichtsdirektoren gemacht. Gewiß dauerte das nicht sehr lange; der Terror erreichte die jüdischen Juristen sehr bald auch in diesen Stellungen. Aber es bleibt doch sehr charakteristisch, daß der Übergang aus dem Amt eines Anklagevertreters in das gleich bezahlte Amt eines Richters keineswegs, wie in den meisten anderen Ländern, eine Erhöhung, sondern eine Maßregelung war, ein Ausdruck dafür, wie unerwünscht der Betroffene der Staatsführung erschien. Diese Geringschätzung des richterlichen Amtes ist in Deutschland auch heute noch sehr verbreitet. Die Ausbildung, die Auswahl und das Ansehen der Richter leidet in Deutschland in mehrfacher Beziehung darunter, daß der Deutsche die Neigung hat, viel zu viel richterliche Arbeit in Anspruch zu nehmen und dem Richter viel zu viel Verantwortung aufzubürden oder zu überlassen, je nachdem, wie Sie es ansehen wollen. Das Handbuch der Justiz für 1964 führt 11162 Richter mit Namen auf. Niemand darf in Deutschland länger als für Stunden ohne einen richterlichen Haftbefehl seiner Freiheit beraubt werden. Es gibt fast keine richterliche Entscheidung, gegen die nicht ein höheres Gericht angerufen werden könnte. Zu diesen Entscheidungen gehören auch die Haftbefehle. Gegen sie gibt es Beschwerde an das Landgericht und weitere Beschwerde an das Oberlandesgericht. Wir Deutschen empfinden das als ein unabdingbares Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit. Wir üben zwar außerdem auch noch Kritik, bisweilen gewiß auch berechtigte Kritik daran, daß die Untersuchungshaft manchmal trotzdem noch zu lange dauert. Aber wir sehen nicht, daß wir gerade diesen Zustand durch unseren Wunsch nach einer so weit getriebenen Rechtsstaatlichkeit selbst herbeigeführt haben. In England, das doch ganz gewiß ein Rechtsstaat ist, gibt es dieses Erfordernis des richterlichen Haftbefehls gar nicht. Da nimmt die Polizei den Verdächtigen aus eigener Machtvollkommenheit fest, und dann bleibt er so lange in Haft, bis die Hauptverhandlung gegen ihn stattfinden kann. Die öffentliche Meinung würde es nicht ertragen, wenn das so lange dauerte wie bisweilen bei uns. Es pflegt dort auch sehr viel schneller zu gehen; die öffentliche Meinung zwingt die Polizei eben zu weit schnellerer Arbeit bei der Ermittlung und hindert sie mittelbar daran, jemanden festzunehmen, ehe die Beweismittel gegen ihn nicht im wesentlichen zusammen sind; bei uns dagegen begnügt man sich damit, rechtsstaatli-

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che Vorschriften zu erlassen, und nimmt dann bisweilen erstaunt wahr, daß die rechtsstaatlichen Vorschriften, selbst wenn sie aufs Wort befolgt werden, nicht immer einen rechtsstaatlichen Zustand herbeiführen. Wir haben 865 Amtsgerichte, 93 Landgerichte und 19 Oberlandesgerichte. Wir brauchen also mindestens ein kriegsstarkes Bataillon von Richtern, die sich allenthalben in drei Instanzen mit der Frage befassen, ob jemand in Untersuchungshaft kommen oder in Untersuchungshaft bleiben soll mit einer Frage also, für die in England normalerweise überhaupt kein Richter in Anspruch genommen wird. Die Deutschen erwarten und verlangen von ihren Berufsrichtern etwas, wofür den Engländern ihre Richter viel zu schade sind. Die englischen Richter sind erstens fast völlig befreit von der Verantwortung für die Schuldsprüche in wichtigen Strafsachen; darüber entscheiden die Geschworenen nach einer richterlichen Rechtsbelehrung, die mündlich gegeben wird, allein. Der Richter muß natürlich verantworten, daß seine Rechtsbelehrung stimmt; aber die eigentlich schwere Frage ist in den meisten großen Strafprozessen eben nicht die Rechtsfrage, sondern die Tatfrage - die Frage, ob der Angeklagte es gewesen ist oder nicht. Damit hat der englische Berufsrichter überhaupt nichts zu tun. Er steht also auch nicht in der Linie der Kritik, wenn ein Schuldspruch für falsch gehalten wird oder auch wirklich falsch ist. Zweitens ergibt sich daraus, daß die Engländer von ihren Richtern nicht verlangen können und auch wirklich nicht verlangen, ihre Urteile schriftlich zu begründen. Damit aber verbringt der deutsche Richter den größeren Teil seiner Arbeitszeit. Der englische Richter kann tagaus, tagein von halb elf bis fünf Uhr nachmittags Sitzungen abhalten und ist gleichwohl weniger belastet als der deutsche Richter, der nur zwei oder drei Sitzungen in der Woche hat und in der übrigen Zeit Akten studieren und Urteilsgründe schreiben muß. Auch das führt dazu, daß wir für die gleiche Anzahl von Sachen ein Vielfaches an Richtern brauchen. Eine weitere Ursache dafür ist die deutsche Rechtsmittelfreudigkeit. Auch der Engländer hat das Recht, Berufung einzulegen, wenn ein Urteil ihm nicht gefällt; er tut es nur nicht annähernd in dem Maße wie der Deutsche. Die meisten Angeklagten, mit deren Revisionen der Bundesgerichtshof befaßt wird, wissen ganz genau, daß sie schuldig und mit Recht verurteilt worden sind. Solche Dinge sind, wie ich glaube, in dem verschiedenen Volkscharakter begründet, und wir werden uns im wesentlichen damit abfinden müssen. Das heißt aber, wir müssen uns auch damit abfinden, daß wir eine fünfstellige Zahl von Richtern brauchen. Das aber wiederum bedeutet, daß wir deutschen Richter um keinen Preis der Welt durchschnittlich so gut sein können wie die englischen Richter, von denen es nur eine dreistellige Zahl gibt. Das liegt keineswegs hauptsächlich daran, daß wir unseren vielen Richtern nicht derar-

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tige Gehälter bezahlen können wie die Engländer ihren wenigen. Jedes Volk bringt nur eine begrenzte Zahl von Menschen hervor, die sich zu Richtern eignen und auch Lust haben, Richter zu werden. Woher nehmen wir die Richter? Wir verstehen den Richter im wesentlichen als eine Intelligenz. Wir bringen unserem Nachwuchs schon auf der Universität eine ziemliche Menge Wissen bei. Wer nicht imstande ist, schwierige Zusammenhänge zu verstehen, oder wem es nicht gelingt, eine große Menge Stoff in seinem Gedächtnis zu befestigen, der scheitert schon hier. Das juristische Studium schließt, nach frühestens sieben Semestern, mit der ersten juristischen Staatsprüfung ab, in der keine geringen Ansprüche gestellt werden. Der Beweis dafür ist der Prozentsatz der Mißerfolge, der, von Jahr zu J a h r und von Land zu Land etwas verschieden, etwa zwischen zehn und zwanzig Prozent der Prüflinge liegt. Die englischen Prüfungen sind, soweit ich das beurteilen kann, wesentlich leichter, und es gibt in England auch nur eine Prüfung. Bei uns folgt auf die erste Prüfung der Vorbereitungsdienst bei Gerichten, Staatsanwaltschaften, Rechtsanwälten, Behörden, im ganzen neuerdings 30 Monate. Auch während dieser Zeit trachtet man, das Wissen des angehenden Juristen noch zu vermehren. E r wird nicht nur praktisch angeleitet, wie man Urteile, Anklagen, Schriftsätze, Verfügungen entwirft, sondern er wird auch noch weiter systematisch geschult. Die Ansprüche der zweiten juristischen Staatsprüfung, des Assessorexamens, sind ausgesprochen streng. Sie müssen es sein, weil der junge Jurist mit dem Bestehen dieser Prüfung schon die Befähigung zum Richteramt erwirbt. Sobald er Assessor ist, kann er als voll stimmberechtigter Beisitzer zum Beispiel in einer Strafkammer mitwirken und mit den anderen darüber beraten, ob jemand fünfzehn Jahre Zuchthaus und Sicherungsverwahrung bekommen soll. Ich war gerade eben 25 Jahre alt geworden, als ich zum ersten Mal in diese Lage kam. Ich traf damals einen Engländer, der mir rundheraus sagte: "That is a bad system" - das ist ein schlechtes System. Sicherlich kann man bei einem 25jährigen schon einigermaßen zuverlässig sagen, ob er intelligent genug ist, um später einmal ein brauchbarer Richter zu werden. Aber ob er die menschlichen Qualitäten hat oder haben wird, die zu einem so verantwortungsvollen Amt gehören, das ist ungemein schwer zu beurteilen. E r kann im Examen sehr streng geprüft worden sein; aber dem Charakter des Menschen stehen die wesentlichen Prüfungen doch erst noch bevor. Und selbst soweit der Charakter sich jetzt schon beurteilen ließe: wir machen kaum einen Versuch dazu. Schlimmer noch: wir wenden dieser Frage geradezu den Rücken. Wir verlangen ein polizeiliches Führungszeugnis, praktisch also den Nachweis, daß der angehende Jurist nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen ist, abgesehen vielleicht von der einen oder anderen Verkehrsübertretung. Aber wir

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sind schon von der Schule an seltsam nachsichtig mit so bedenklichen Erscheinungen wie dem Mogeln. Schüler der Oberstufe können sich bei uns rühmen, bei Haus- oder Klassenarbeiten abgeschrieben zu haben, ohne sich der Verachtung ihrer Mitschüler, strengen Zurechtweisungen durch ehrgeizige Eltern auszusetzen. Uber solche Erscheinungen wird bei uns gelächelt. Moralisch ist man bei uns oder tut man bei uns mit Vorliebe auf ganz anderen Gebieten. Glauben Sie, das könne bei dem Schritt über das Abitur in das Studium mit einem Ruck anders werden? Wir bringen dem Prüfling das Vertrauen entgegen, uns bei seinen schriftlichen Hausarbeiten mit der Versicherung zu begnügen, er habe die Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und sich keiner anderen als der darin angegebenen Hilfsmittel bedient. Dabei ist es ein öffentliches Geheimnis, daß über diese Arbeiten nicht nur mit anderen Studenten, sondern auch mit älteren Juristen, etwa mit Repetitoren gesprochen zu werden pflegt. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, daß die Arbeiten dadurch viel besser werden. Insbesondere sind die besten Leistungen darunter so persönlich, daß man keine Sorge zu haben braucht, sie beruhten auf fremder Hilfe. Die besten unter den Studenten trauen sich eben selbst etwas zu, und ihnen wäre die Zeit zu schade, um fremde Meinungen einzuholen. Aber daß sich überhaupt angehende Bewerber um das Richteramt nicht selbst zu gut für solche kleinen Schwindeleien sind, daß sie das kaum als unfair und ihrer selbst unwürdig zu empfinden scheinen, daß sie so gar keine Sorge zu haben brauchen, ihre Umwelt werde sie deshalb verachten - daß niemand auf den Gedanken zu kommen scheint, selbst ein Scheitern in einer Prüfung könne den Bewerber um ein solches Amt nicht so nachhaltig disqualifizieren wie derartige kleine Schritte auf kleinen Schleichwegen: das kann wirkliche ernste Bedenken gegen unser System hervorrufen. Das ist ein Preis, den wir dafür bezahlen, daß wir unsere Jugend nicht nachdrücklich zu völliger Ehrlichkeit, Fairneß im Wettbewerb schon vom ersten Schuljahr an erziehen. Und wie können wir das, solange wir selbst auf Ferienreisen ein bißchen Schmuggeln für einen vergnüglichen Sport halten, Steuerhinterziehung als ein Kavaliersdelikt betrachten, und ein Minister sagen kann, das Schwarzfahren entspreche unserem Volkscharakter? Wie kommt der Richter zu fester Anstellung, wie kommt er zu einer Beförderung? Er wird von älteren und höhergestellten Richtern, nämlich von den Vorsitzenden der Kammern und Senate, in denen er tätig ist, beurteilt. Diese Methode hat ihr Gutes gerade da, wo der Uneingeweihte wahrscheinlich eine Gefahr vermutet. Der Außenstehende denkt vielleicht, der Vorsitzende werde Recht und Pflicht der Beurteilung mißbrauchen, um sich seine Beisitzer gefügig zu machen; die Sorge um das Weiterkommen werde die Beisitzer hindern, dem Vorsitzenden zu widersprechen. Das ist ganz falsch. Kollegialrichter sind daran gewöhnt,

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daß es über zahlreiche Dinge verschiedene Meinungen geben kann. Die anfängliche Empfindlichkeit darüber, daß man gelegentlich überstimmt wird, schleift sich ab. Es ist auf die Dauer keineswegs angenehm, mit Kollegen zusammenzuarbeiten, die wenig widersprechen. Das gibt das unbehagliche Gefühl, nicht richtig kontrolliert zu werden. Es ist viel beruhigender, einen Beisitzer zu haben, der einem mit guten Gründen entschieden entgegentritt, so daß jeder Beteiligte alle Kraft zusammennehmen muß, um das Richtige zu erkennen und es richtig begründen zu können. Setzt man sich gegen einen solchen Gegner durch, so kann man der Überzeugungskraft der eigenen Gründe besser trauen; überwindet er einen, nun, so bewahrt er einen vor einem Irrtum. Ein Beisitzer, der immer nur sagt; jawohl, Herr Direktor, wie Sie meinen, Herr Präsident, wird sich dadurch keineswegs eine besonders günstige Beurteilung verdienen. Ich habe meine drei Beförderungen der Fürsprache von Vorsitzenden zu verdanken, mit denen ich wiederholt die schärfsten sachlichen Gegensätze habe austragen müssen; ein Böswilliger könnte sagen, ich hätte mich emporgestänkert. Ein zweiter Gesichtspunkt, unter dem der Richter von seinen Vorsitzenden und Vorgesetzten bei uns beurteilt zu werden pflegt, ist nicht ganz so angenehm zu erörtern. E r ergibt sich aus der erheblichen Arbeitsbelastung unserer Gerichte. D e r Vorsitzende, aber auch die Justizverwaltung wird es bei uns notgedrungen besonders hochschätzen müssen, wenn dem Richter die Arbeit rasch und leicht von der Hand geht, wenn sich auf seinem Aktenbock keine Reste auftürmen, wenn er imstande ist, das Urteil, das am Vormittag verkündet worden ist, am Nachmittag schriftlich zu begründen. Wenn in der Beurteilung steht: er wird auch mit starker Mehrbelastung ohne weiteres rasch fertig, so wird das in der Personalabteilung immer besonders wohlwollende Leser finden. Das dritte, was auch bei der Beförderung 40- oder 50jähriger Richter immer noch eine bedeutende Rolle spielt, sind die Prüfungsergebnisse. Ein Doppelprädikatsmann, einer, der das Referendar- und das Assessorexamen mit gut bestanden hat, der wird auch dreißig Jahre später noch auf der goldenen Liste derer stehen, die man für eine Beförderung im Auge behält. Ein vierter Gesichtspunkt, nach dem bei uns Richter ausgesucht wurden und Richter befördert werden, ist noch kennzeichnender für die ganze deutsche Misere. Es ist die Qualifikation durch Negative. Wer nicht in der Partei, in der SA, in der SS, im N S K K , im Sondergericht gewesen ist, wer es aus diesen, aber vielleicht auch aus ganz anderen Gründen zur Zeit Hitlers auch in der Justiz zu nichts bringen konnte und zu nichts gebracht hat - der ist allein dadurch besser qualifiziert. Warum der Betreffende auf diese Fragen heute mit Nein antworten

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kann, danach wird kaum gefragt. Ob er vielleicht, obwohl er gern gewollt hätte, nur deshalb nicht in die Partei aufgenommen wurde, weil er Freimaurer war; ob er bei der Justiz vielleicht nur deshalb keine Chance hatte, weil er nichts konnte - danach kann man heute kaum noch fragen. Das bloße Negativum ist schon etwas wert. Das geht so weit, daß mehrere angesehene Zeitungen vor kurzem gefragt haben, ob man nicht für eine bestimmte, besonders exponierte hohe Richterstellung einen Mann finden könne, den schon wegen seiner Jugend niemand einer nationalsozialistischen Vergangenheit auch nur verdächtigen könne. Gewiß wäre es sehr schön, jemanden zu haben, den auch der Böswillige nicht verdächtigen könnte. Aber wie jung müßte er zu diesem Zweck sein? Wir haben es ja erlebt, daß der vorletzte Bundesjustizminister schon deshalb angegriffen worden ist, weil er Hitlerjunge war. Wer dem Jahrgang 1930 angehört, war 1945 immerhin fünfzehn Jahre alt. Wenn man jemanden schon wegen nationalsozialistischer Betätigung in diesem Alter als belastet ansehen will, müßte man gerade die verantwortungsvollsten Richterstellen mit Männern besetzen, die höchstens 35 Jahre alt wären. Das ist nach dem Gesetz gerade das Mindestalter für Bundesrichter. Es scheint mir also für diesen Rat jedenfalls vorläufig noch etwas früh zu sein. Jedenfalls ist es mindestens so lange noch sehr früh, als wir immer noch Strafsachen abzuurteilen haben, die aus jener Zeit stammen. Bei den unteren Gerichten besteht heute die Mehrheit der Berufs- und Laienrichter bisweilen schon aus solchen, die die Zeit des Nationalsozialismus gar nicht bewußt miterlebt haben. Wir mögen sie darum beneiden; aber sie haben den Terror nicht bewußt miterlebt und sollen trotzdem menschliches Verhalten beurteilen, aburteilen, das nur durch den Terror erklärt, wenn auch natürlich nicht entschuldigt werden kann. Ich möchte doch zu bedenken geben, ob man gut daran tut, die negative Qualifizierung so weit zu treiben, daß der Richter gerade durch seinen Mangel an Erfahrung besonders berufen erscheint, über seine Mitmenschen zu Gericht zu sitzen. Auch wenn man die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Mordtaten nicht verlängert hätte, wären unsere Gerichte noch mindestens fünf Jahre mit solchen Taten befaßt, die sich bis 1945 zugetragen haben. Denn die Verjährung ist ja vor dem 8. Mai 1965 in zahlreichen dieser Fälle schon unterbrochen gewesen. Da die Frist verlängert worden ist, können wir noch nach zehn Jahren solche Taten vor Gericht haben. Ich habe mich damals gegen die Verlängerung ausgesprochen, aus Gründen, die ich heute nicht wiederholen will. Der Gesetzgeber hat anders entschieden, und ich respektiere das. Aber im gleichen Augenblick nach einer Verjüngung der Richter für diese Taten zu rufen, das scheint mir nun noch viel weniger anzugehen. Unsere Generation, der es nicht gelungen ist, eine Erscheinung wie den nationalsozialistischen Terror niederzuhalten, ist dadurch schuldig gewor-

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den, nicht nur gegenüber den Opfern, sondern auch gegenüber unserer eigenen nächsten Generation. Aber daß die Generation der Söhne über die Generation der Väter zu Gericht sitzt, nicht bildlich, sondern ganz wörtlich, daß man ganz ausdrücklich nach Richtern ruft, die ihrem Alter nach die Söhne ihrer Angeklagten sein könnten - das scheint mir doch im Tiefsten unangemessen zu sein. In anderen Ländern hält man es für die natürlichste Sache von der Welt, daß alte Männer Richter sind. In England wählt man die Richter aus der Zahl der erfolgreichsten älteren Anwälte aus. Das ist dort möglich, weil - oder das hat zur Folge, daß - sich dort die Juristen als einen einheitlichen Stand verstehen. Richter zu werden, ist in England kein gewöhnliches Berufsziel, so wie es in Deutschland kein Berufsziel ist, Ministerpräsident zu werden. Es handelt sich dabei nicht um eine Laufbahn. Das Berufsziel ist das des Anwalts, und die äußerst exzeptionelle Krönung, nicht von vornherein anzustreben oder einzukalkulieren, ist die Ernennung zum Richter. In England funktioniert das ganz hervorragend; die englischen Richter genießen nicht nur das Vertrauen, sondern die Liebe ihres Volkes. Beneidenswert, aber nicht leicht nachzumachen. Bei uns müßte sehr vieles sehr viel anders werden, ehe man die deutschen Richter aus den ausgezeichnetsten Anwälten auswählen könnte. Bei uns ist die Tätigkeit des Richters so beschaffen, daß die Arbeit des Anwalts dafür keine Vorbereitung ist. Wir haben ja nach dem letzten Kriege verschiedentlich frühere Anwälte in Richterstellen erlebt. Das waren aber nicht die Eingangsstellen, nicht die der Amts- und Landgerichtsräte, auch nicht die der Oberlandesgerichtsräte. Was diese Richter zu tun haben, das Schreiben von Urteilsbegründungen, dabei würde sich ein erfolgreicher Anwalt bei uns ziemlich schwer tun. Man hat den Anwälten, die man wegen ihrer politischen Unbelastetheit - also wegen der negativen Qualifikation - in Richterstellen zu übernehmen wünschte, im allgemeinen nur Vorsitzenden- und Präsidentenstellen anbieten können. Die Meinungen darüber, wie sie sich darin bewährt haben, sind geteilt. Ich habe jahrelang unter einem solchen Oberlandesgerichtspräsidenten gearbeitet, der ein hervorragender Anwalt gewesen war und der sich auch in seinem neuen Amt charakterlich ganz ausgezeichnet bewährt hat. Die mangelnde richterliche und VerwaltungsErfahrung führte aber dazu, daß er sich in erheblichem Maße auf seine Mitarbeiter verlassen mußte, daß er nicht immer verstand, sich dafür die geeignetsten heranzuziehen, und daß schließlich in seinem Bezirk so manches im argen lag, was ein Laufbahnrichter wahrscheinlich besser einzurichten verstanden hätte. Heutzutage liegt das wesentlichste Hindernis eines Ubertritts vom Anwaltsberuf zum Richteramt bei uns wohl darin, daß das Richteramt weder so angesehen noch so bezahlt ist, daß es einen wirklich tüchtigen und erfolgreichen Anwalt locken könnte.

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Wir haben bisher nur vom Berufsrichter gesprochen. Die deutsche Justiz, ganz besonders die Strafjustiz ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, welche bedeutende - freilich meist verkannte - Rolle bei uns die Laienrichter spielen. Wir haben Laienrichter in der Arbeitsgerichtsbarkeit, wo sie paritätisch aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern zusammengesetzt sind, und zwar bis in die höchste Instanz, bis zum Bundesarbeitsgericht hinauf. Die Bundesarbeitsrichter sind Nichtjuristen. Etwas Entsprechendes gibt es beim Bundesgerichtshof in Landwirtschaftssachen. Wir haben Laienrichter ferner beim Landgericht in der Kammer für Handelssachen, die mit einem Juristen als Vorsitzendem und zwei Kaufleuten, Handelsrichtern, als Beisitzern besetzt sind. Diese Einrichtung hat sich besonders bewährt. Vor allem aber haben wir Laienrichter, Schöffen und Geschworene, in unseren Strafgerichten. Nur die allerkleinsten Sachen werden in erster Instanz von einem Juristen allein, dem Einzelrichter, entschieden. Dafür ist hier aber die Berufungsinstanz mit einer Zweidrittelmehrheit von Laien, nämlich zwei Schöffen unter dem Vorsitz eines Juristen, besetzt. Für etwas größere Sachen gibt es Schöffengerichte, die in erster Instanz ebenso besetzt sind, wenn nicht - beim erweiterten Schöffengericht - ein zweiter Jurist hinzutritt. Für die schwere Kriminalität, mit Ausnahme der allerschwersten, sind die großen Strafkammern zuständig, die mit je drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt sind. Diese Gerichte sind auch die Berufungsinstanz für Schöffengerichtssachen. Für Kapitalsachen haben wir die Schwurgerichte, die seit 1924 aus je drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen bestehen. Die Revisionsgerichte allerdings, die Strafsenate der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs, die nur über Rechtsfragen zu entscheiden haben, sind nur mit Juristen besetzt. Sie haben auch eine beschränkte Zuständigkeit in erster und einziger Instanz, nämlich für die sogenannten Staatsschutzsachen. U m die Bedeutung des Laieneinflusses in unserer Strafgerichtsbarkeit richtig zu würdigen, muß man wissen, daß allenthalben die Schöffen und Geschworenen zusammen mit den Juristen jeweils ein geschlossenes Kollegium bildet, das über alle Fragen, insbesondere über den Schuldspruch und die Strafhöhe, gemeinsam berät und abstimmt, und daß dabei jeder Laienrichter das gleiche Stimmrecht hat wie jeder Berufsrichter. Zu jeder Entscheidung, die dem Angeklagten ungünstig ist, gehört eine Zweidrittelmehrheit. Sie können sich danach ausrechnen, welche Urteile nur mit den Stimmen der Juristen, welche nur mit den Stimmen der Laien, und welche nur mit einer wenigstens teilweisen Übereinstimmung ergehen können. Beim Schwurgericht, das für Mord und T o t schlag und andere Kapitalsachen zuständig ist, können die sechs Geschworenen die drei Juristen immer überstimmen, sowohl mit dem Ziel eines Freispruchs als auch mit dem einer Verurteilung, mit dem Ziel

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einer milderen und mit dem Ziel einer strengeren Strafe. Bei der großen Strafkammer können die beiden Schöffen immer einen Freispruch, immer eine mildere Strafe gegen die drei Juristen erzwingen. Eine Verurteilung ist nur möglich, wenn sich insgesamt vier Stimmen dafür aussprechen. Bei der kleinen Strafkammer und beim Schöffengericht haben die Laienrichter wiederum immer die Zweidrittelmehrheit. Ich finde, die einfachste Fairneß sollte es erfordern, entsprechend diesen Machtverhältnissen auch die Verantwortung zu verteilen. Das pflegt aber nur sehr selten zu geschehen. Was diese aus Juristen und Laien gemischt zusammengesetzten Gerichte entscheiden, das kritisiert die Öffentlichkeit als Entscheidungen „der Justiz"; und „die Justiz" setzt man, soweit es um die Kritik an ihr geht, mit den Juristen gleich. Das Beratungsgeheimnis, das nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht ist, schützt nicht nur das einzelne Mitglied des Kollegiums davor, persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden; sondern es hindert das einzelne Mitglied auch, sich gegen die Verdächtigung zu wehren, für ein Fehlurteil - oder was die Kritik dafür hält - verantwortlich zu sein. Soweit sich das auf die Verteilung der Verantwortung zwischen Juristen und Laien bezieht, wird dagegen nun gern eingewendet, die Schulung der Juristen bewirke, daß die Schöffen und Geschworenen sich gegen sie nicht durchsetzen könnten. Zunächst ist das nach meinen Erfahrungen rein tatsächlich nicht richtig. Immer wieder sieht man Urteile, denen der Kundige ansieht, daß es im Gegenteil die Juristen waren, die sich gegen die Laienrichter nicht durchgesetzt haben. Vor einiger Zeit ging ein Fall durch die Zeitungen, bei dem das auch für die Presse ganz unzweideutig zu erkennen war. Aber selbst wenn es zuträfe, daß die Laienbeisitzer nicht die geistige Ausrüstung mitbrächten, um sich gegen die Juristen durchzusetzen: wen müßte man denn dafür verantwortlich machen? Die Laienbeisitzer werden bei uns ja nicht mehr, wie in früheren Zeiten, durch das Los ausgewählt. Sie werden aus einer Vorschlagsliste entnommen, die von der Gemeindevertretung mit Zweidrittelmehrheit aufgestellt wird. Verantwortlichkeit der Gemeindevertretung, der von uns allen gewählten Abgeordneten also, ist, dafür zu sorgen, daß Menschen mit vernünftigen Ansichten, gute Staatsbürger, die unser aller Vertrauen verdienen, Männer und Frauen auch mit hinreichendem Durchsetzungsvermögen gegenüber etwaiger fachlicher Anmaßung zu Schöffen und Geschworenen bestellt werden. Wem also ein Gerichtsurteil nicht gefällt, der tut sehr Unrecht daran, ohne weiteres auf „die Justiz" zu schelten und unter ihr nur oder vorzugsweise die Juristen zu verstehen. Vielmehr sollte er in jedem Fall bedenken, wieviele Laienstimmen zu diesem Urteil notwendig gewesen sind, und ihnen, die das gleiche Gewicht wie die Juristenstimmen gehabt haben, auch einen gleichen Teil der Verantwortung zuzuschreiben.

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Von der Heranziehung der Laienrichter hat man sich versprochen, daß die Justiz volkstümlicher werde. Im großen und ganzen ist das bisher eine Enttäuschung gewesen. Wir sollten uns dieser Enttäuschung aber nicht tatenlos überlassen. Die Mitwirkung der Laienrichter hat den unbestreitbaren Vorzug, daß die Strafgerichte sich immer wieder von neuem bemühen müssen, so zu verhandeln, daß auch die Laienrichter folgen können. Das hat die Nebenwirkung, daß auch nicht über den Angeklagten hinweg verhandelt werden kann. Es wäre also sehr schade, wenn Enttäuschung über die Schöffen und Geschworenen zu ihrer Absetzung führte. Ich möchte den Kritikern der Justiz deshalb nahelegen, sich nicht so ganz einseitig an die Berufsrichter zu halten, nicht so ganz ausschließlich ihre politische Vergangenheit, ihre wirkliche oder vermeintliche Weltfremdheit, Verbohrtheit oder was es sei, zum Gegenstand ihrer Kritik zu machen, sondern ihre Aufmerksamkeit auch einmal der Frage zuzuwenden, woher eigentlich die Laienrichter kommen, ob ihrer Auswahl die nötige Sorgfalt zugewendet wird, und was geschehen könnte, um ihr Verantwortungsgefühl zu steigern. Ihnen aber, meine Damen und Herren, danke ich, daß Sie - in Ihrer Mehrzahl Laien und nicht Juristen - die Sorgen eines Berufsrichters mit solcher Geduld und Aufmerksamkeit angehört haben.

Max Alsberg, ein deutscher Strafverteidiger1 (1978) Max Alsberg wurde vor hundert Jahren in Bonn geboren. Tiefes, ernstes, nicht sentimentales Mitleid mit allen Menschen in Rechtsnot, ein glänzender Verstand und ein erstaunliches Gedächtnis verbunden mit unerhörter Arbeitsamkeit ließen ihn in ziemlich jungen Jahren, etwa von seinem vierzigsten Lebensjahr ab, zum ersten Strafverteidiger Deutschlands werden. Es war, als hätte er gefühlt, daß ihm nur eine kurze Zeit der Wirksamkeit beschieden sein werde. Er begnügte sich nicht mit gewissenhafter Ausübung seiner Praxis. Er schuf, gleichsam nebenbei, von 1911 bis 1933 ein wissenschaftliches Werk von einem Umfang, einem Weitblick und einer praktisch fortwirkenden Durchschlagskraft, daß ihn mancher Ordinarius darum beneiden könnte. Es lohnt, dabei etwas zu verweilen. Wem sich heute in Deutschland eine aktuelle strafrechtliche, vor allem eine strafprozessuale Aufgabe stellt, sei es in der Rechtsprechung, in der Gesetzgebung oder in der Wissenschaft, der wird bei seiner Suche nach Gedanken, die vor ihm gedacht worden sind, in erstaunlich vielen Fällen auf Veröffentlichungen von Alsberg stoßen. Die erste Schrift von ihm, die mir zugänglich war (nach seiner Dissertation über Meineidsprobleme), stammt aus dem Jahre 1911. Sie betrifft einen Fall von Verbreitung unzüchtiger Darstellungen und ist in eine Form gekleidet, deren Alsberg sich später immer wieder einmal bedient hat: Prozeßdarstellung und Kritik. Er zeigt schon hier eine Fähigkeit, die den Leser beim Studium seiner Schriften immer wieder entzückt: die Gabe nämlich, äußerst verwickelte Dinge ganz einfach zu sagen. Es ist dafür gesorgt, daß auch spätere Juristengenerationen sich immer wieder mit diesem frühen Kabinettstück Alsbergscher Ironie und Ausdruckskunst werden beschäftigen müssen; denn der Gesetzgeber hat an dem §184 StGB ja erst achtmal herumgebastelt, und das vorläufig letzte Ergebnis bietet die Gewähr dafür, daß es damit auch noch eine Weile so weitergehen wird. Alsberg hatte ein Gespür für reformbedürftige Dinge. Das zeigte sich besonders deutlich in seinem ersten großen Werk „Justizirrtum und Wiederaufnahme" (1913). Sie alle wissen, daß das Wiederaufnahmerecht einer der wundesten Punkte unseres Strafverfah1

Zuerst veröffentlicht in: Anwaltsblatt 1978, S. 7-14.

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rens ist, und daß vor allem die Anwaltschaft es seit langer Zeit geändert zu sehen wünscht. Auch hier ist Alsberg vorangeschritten. Den Anstoß gab ihm der damals berühmte „Essener Meineidprozeß", eine als politisch empfundene Auseinandersetzung zwischen einem sozialdemokratischen Bergarbeiter und einem gewalttätigen Gendarmen. Einige Arbeiter waren 1895 wegen Meineides zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden. Ein Wiederaufnahmegesuch von 1896 wurde 1897 verworfen, die Beschwerde zurückgewiesen, die Strafen wurden verbüßt. Jahre später wurden Tatsachen bekannt, die den einzigen Belastungszeugen als völlig unzuverlässig erscheinen ließen. Trotzdem wurde ein erneutes Wiederaufnahmegesuch 1909 wiederum als unzulässig verworfen, 1910 ordnete das Oberlandesgericht erneute Hauptverhandlung an, 1911 sprach das Schwurgericht alle Angeklagten frei. Diesen Fall zusammen mit 17 anderen, darunter zwei eigenen, ließ Alsberg in seinem Handbuch von den jeweiligen Verteidigern ausführlich darstellen, wobei die Gründe der Entscheidungen und der Rechtsmittel wörtlich wiedergegeben wurden. Dem stellte er einen systematischen Teil voran, der in die Forderung nach durchgreifender Reform mündete. Sie alle wissen, was daraus geworden ist: bis zum heutigen Tage nichts Entscheidendes. Sie werden aber mit mir der Ansicht sein, daß es dabei nicht sein Bewenden haben kann, sondern daß auch hier an der von Alsberg gestellten Aufgabe weitergearbeitet werden muß. Während des ersten Weltkriegs verfaßte Alsberg ein ebenso unscheinbares wie unentbehrliches Büchlein über das Kriegswucherstrafrecht, das innerhalb von zwei Jahren vier Auflagen erlebte. Es hat heute keine praktische Bedeutung mehr, zeugt jedoch immer noch von der besonderen Art Alsbergs, sich nicht der Einseitigkeit zu überlassen. Das Buch hat keineswegs die Tendenz, die Straftatbestände einschränkend auszulegen, die Verteidiger und ihre Mandanten auf Gedanken zu bringen. Es zeichnet sich durch dieselbe großartige Objektivität aus, die seinem späteren Hauptwerk „Der Beweisantrag im Strafprozeß" (1930) eine so unbändige Lebenskraft und eine so durchschlagende Wirkung auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft verlieh. Aber in diesem Werk macht sich noch etwas anderes geltend, was Alsbergs wissenschaftliche Arbeiten von denen zahlreicher anderer juristischer Schriftsteller unterscheidet: Die ersten Anregungen entnahm er immer irgendeinem Vorgang des wirklichen, praktischen Rechtslebens, einem Prozeß meist seiner eigenen Praxis, gelegentlich auch einem veröffentlichten Urteil. Entscheidungen des Reichsgerichts und der Oberlandesgerichte reizten ihn oft zur Stellungnahme, und es gibt kaum jemanden, der damals oder heute so viele Urteilsanmerkungen geschrieben hätte wie er. Greifen Sie einen beliebigen Band der Juristischen Wochenschrift von 1921 bis 1932 heraus; Sie werden kaum einen darun-

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ter finden, der weniger als zwölf Alsbergsche Anmerkungen enthielte manchmal sind es 25. Wenn man auf eine strafprozessuale Reichsgerichtsentscheidung in den Bänden 55 bis 66 der Amtlichen Sammlung stößt, tut man immer gut, in der Juristischen Wochenschrift nachzusehen, ob sie dort nicht mit einer Anmerkung von Alsberg abgedruckt ist. Denn was sind das für Anmerkungen! Alsberg sah dem Reichsgericht genauer auf die Finger als jeder andere Kritiker. Einmal machte er es darauf aufmerksam, daß es stillschweigend von der früheren Entscheidung eines anderen Senats abgewichen war; ein andermal wies er ihm nach, daß es sich zu Unrecht auf eine von ihm angeführte Vorentscheidung berufen hatte, die in Wahrheit eine andere Rechtsfrage vor sich gehabt habe. Hier warf er der Rechtsprechung vor, daß sie auseinanderlaufe und unberechenbar geworden sei; dort tadelte er, daß das Reichsgericht gerade der Frage ausgewichen sei, auf die es praktisch ankomme. Das alles niemals in verletzendem, niemals in anmaßendem Ton, aber immer mit unüberhörbarer Deutlichkeit. Es konnte gar nicht ausbleiben, daß eine so sachkundige, eine so überzeugend vorgetragene Kritik allmählich ihre Wirkung zeigte. Aber sie zeigt, sozusagen, auch ihre Ursache; sie verrät ihre Entstehung. Diese Anmerkungen lassen auf einen sorgfältig geführten Zettelkasten schließen, wie man damals sagte - eine Kartei, wie man heute sagt. Heute liefert einem die N J W ja das Material für eine Leitsatzkartei fertig ins Haus; Alsberg mußte so etwas erst einmal für sich erfinden. Er kam auch auf den Gedanken, die strafprozessualen Entscheidungen der Oberlandesgerichte zu sammeln und in drei umfangreichen Bänden herauszubringen; das war ein Vorläufer der heutigen Loseblattsammlung. Ich kann es nicht beweisen, aber die Vermutung liegt doch wohl nahe, daß diese Art der fundierten Kritik in den Alsbergschen Anmerkungen, vielleicht zusammen mit anderen Gründen, das Reichsgericht veranlaßt hat, sich auch selbst eine Sammlung der Leitsätze seiner strafrechtlichen Entscheidungen, auch der unveröffentlichten, anzulegen. Für eine solche Annahme spricht jedenfalls der zeitliche Zusammenhang; denn eine solche Sammlung, Vorläufer des heutigen „Lindenmayer-Möhring", gab es beim Reichsgericht just seit 1924. Man kann sich vorstellen, daß es den Urteilsverfassern und den Senatsvorsitzenden beim Reichsgericht auf die Dauer zu peinlich geworden sein mag, sich in der Vertrautheit mit der eigenen Rechtsprechung von einem Strafverteidiger öffentlich übertreffen zu lassen. Die Krönung dieser praxisbezogenen wissenschaftlichen Arbeit war das schon erwähnte Buch Alsbergs über den Beweisantrag im Strafprozeß. Um die Bedeutung dieses Buches zu ermessen, muß man die Lage vor seinem Erscheinen (1930) betrachten. Einerseits war und ist der Beweisantrag die entscheidende Handhabe der Verteidigung, um die

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richterlichen Feststellungen auf tatsächlichem Gebiet zu beeinflussen, was sonst gerade angesichts der freien Beweiswürdigung seine Schwierigkeiten hat. Gewiß hat gerade Alsberg nachdrücklich hervorgehoben, welche Bedeutung auch insoweit das Plädoyer hat; und gewiß kommt auch dem Fragerecht des Verteidigers eine wichtige Rolle zu. Aber das Fragerecht hilft nichts, wenn der Zeuge nicht da ist, den der Verteidiger fragen möchte; und das Plädoyer wirkt nicht, wenn es nicht die unerläßlichen Anknüpfungspunkte in den Beweisergebnissen hat. Der Beweisantrag ist fast das einzige Mittel, dem Tatrichter eine Beweiserhebung aufzuzwingen, die er nicht will. Und das kann in zahlreichen Fällen schlechthin prozeßentscheidend sein, weil gerade im Strafprozeß regelmäßig um die Tatsachen und nur ganz ausnahmsweise ums Recht gestritten wird. Dieser großen Bedeutung des Beweisantrages entsprach das Prozeßrecht, wie es noch 1930 in Geltung war, nicht im geringsten. Die Voraussetzungen, unter denen ein Beweisantrag abgelehnt werden durfte, waren im Gesetz überhaupt nicht geregelt. Es war den Verfahrensbeteiligten überlassen, sie sich aus einer höchst kasuistischen Rechtsprechung aus 64 Bänden Reichsgerichtsentscheidungen, aus der Juristischen Wochenschrift, aus Goltdammers Archiv, der Leipziger Zeitschrift und wo noch sonst zusammenzusuchen. Man muß sich Kommentare und Lehrbücher aus der damaligen Zeit ansehen, um zu ermessen, welch ein Geschäft das war. Die Rechtsprechung war alles andere als folgerichtig, soweit es sie überhaupt gab, und die Lehre lief in den wenigen Einzelheiten, mit denen sie sich überhaupt abgab, hoffnungslos auseinander. Alsberg sah sich deshalb vor einer ungeheuren Aufgabe. Er nannte sie seine Lebensaufgabe - als ob er nicht im Hauptberuf ein vielbeschäftigter Praktiker gewesen wäre. Er bekennt, daß alles, was er von den Anfängen seiner Praxis über strafprozessuale Fragen veröffentlicht hatte, mehr oder weniger Vorarbeit zu diesem Buch gewesen sei - allerdings, so fügt er hinzu, sei nur weniges davon stehengeblieben. Jahre habe es gedauert, bis auch nur das Gerüst dagestanden habe. Betrachtet man die Fülle der angeführten Entscheidungen, veröffentlichter und unveröffentlichter, so begreift man, welche Riesenarbeit er hier geleistet hat. Ganz unüblich ist hier übrigens seine Zitierweise: er nennt jeweils nicht nur die Fundstelle der Entscheidung, sondern auch ihr Datum und den Senat, der sie erlassen hat. Das eine leitet den Leser an, die Rechtsprechung nicht als eine formlose Anhäufung von Rechtssätzen, sondern als eine langsam gewachsene, lebendige Kulturerscheinung zu begreifen. Das andere, die Sonderung der einzelnen Senate, versteht sich als ein diskreter Hinweis auf die nicht seltene Unterschiedlichkeit und gewiß auch als die taktvolle Aufforderung, einheitlicher zu entscheiden.

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Die lebendige Kraft und die Wirkung dieses Buches kann gar nicht überschätzt werden. Es ist heute noch unentbehrlich, und es ist heute noch so aktuell wie bei seinem Erscheinen; und das, obwohl inzwischen der Gesetzgeber das Versäumte nachgeholt und die Materie ausdrücklich geregelt hat. Das geschah bereits 1932. Dadurch sind Alsbergs Gedanken nicht überholt worden; aus dem einfachen Grunde nicht, weil der Gesetzgeber sie schlicht übernommen hat. Die Rechtsprechung war und ist froh, eine so fundierte, so ausführliche und dabei so leicht lesbare Darstellung dieses schwierigen Stoffes zu besitzen, und kommt gar nicht auf den Gedanken, wider den Stachel zu locken. Ich wüßte keinen anderen Fall zu nennen, in dem die Privatarbeit eines einzelnen Verfassers Wissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung mit einem Schlage derart - man kann nur sagen - überwältigt hätte. In welchem Maße dieses Werk sich von einem einseitigen Verteidigerstandpunkt freihält und unbefangener Wissenschaftlichkeit verpflichtet ist, zeigte sich ein Vierteljahrhundert später, als der Oberstaatsanwalt Nüse eine Neuauflage herausbrachte. Nüse hatte seine Erfahrungen bei der Reichsanwaltschaft und als Mitglied der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht erworben, hatte also einen von Alsberg doch recht verschiedenen Background. Auch waren ja Wissenschaft und Praxis von 1930 bis 1956 nicht untätig geblieben. Gleichwohl konnte Nüse sich darauf beschränken, das Buch durch Einarbeitung des inzwischen erschienenen Schrifttums und der neueren Rechtsprechung auf den gegenwärtigen Stand zu bringen. Am ursprünglichen Aufbau und Inhalt dagegen fand er nichts zu ändern, und schon gar nichts an dessen Haltung, was die gegenseitige Stellung von Verteidigung und Gericht betraf. Ich meine, ein überzeugenderer Beweis für Alsbergs Objektivität läßt sich nicht denken. In einem anderen Punkt hat die Mühe, die er auf die Reform des Verfahrensrechts verwandte, nicht so schlagartig zum Erfolg geführt. Es bandelt sich um ein immer noch höchst aktuelles Thema, nämlich um die Revisibilität der tatrichterlichen Feststellungen. Dazu äußerte er sich besonders dezidiert in einem Aufsatz aus dem Jahr 1928 „Zur Lage der Strafrechtspflege". E r übte hier anhand eines ausführlich dargestellten Falles - übrigens eines ziemlich banalen Eierprozesses - scharfe Kritik an einer wirklich recht unpsychologischen Beweiswürdigung. Der Aufsatz erschien zwischen der Berufungs- und der Revisionsverhandlung. Alsberg gab darin der Überzeugung Ausdruck, daß das Reichsgericht abhelfen würde, worin er übrigens später enttäuscht wurde. Gleichwohl benutzte er noch vor diesem Mißerfolg die Gelegenheit, um ganz grundsätzliche Reformen zu verlangen. Auf der einen Seite forderte er eine weitaus schärfere Auswahl, strengere Beobachtung und häufigere Umsetzung der Strafrichter. Auf der anderen Seite wollte er Vorschrif-

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ten zur eingehenderen Urteilsbegründung, Einführung einer Revisionsrüge der Aktenwidrigkeit und, nach österreichischem Vorbild, die Befugnis des Revisionsgerichts, bei erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen das Verfahren zugunsten des Verurteilten wieder zu eröffnen. Wie Sie wissen, werden diese Forderungen immer noch und jetzt wieder leidenschaftlich diskutiert; der Gesetzgeber hat sie bisher nicht erfüllt. Die Frage, was daraus werden wird, läßt sich zur Zeit nicht beantworten; meine eigene Ansicht kommt hier nicht in Betracht. Aber daß der ganz allgemeine Trend praktisch in Richtung der Alsbergschen Vorschläge läuft, scheint mir unverkennbar. Auch ohne Änderung der gesetzlichen Vorschrift sind die Urteilsgründe sehr viel ausführlicher geworden, als sie damals zu sein pflegten. Manchmal geschieht sogar zuviel des Guten. Auch ohne Eingreifen des Gesetzgebers haben die Revisionsgerichte eine ganze Reihe von Möglichkeiten gefunden, mittels der Beanstandung von Denkfehlern oder von Verstößen gegen die Erfahrung Abhilfe zu schaffen. Was dagegen die gewünschten Maßnahmen der Justizverwaltung betrifft, so sind die Aussichten schlecht. Im Gegenteil scheint - verglichen mit den Zeiten Alsbergs - die Dienstaufsicht über Richter zurückgewichen zu sein, stellenweise in bedenklichem Maße. In einem speziellen, praktisch wichtigen Punkte hatte das Bemühen Alsbergs um die Erweiterung der Revisionsmöglichkeiten jedoch vollen Erfolg. Es handelt sich um die Aufklärungsrüge, also um den Vorwurf des Revisionsführers, der Tatrichter habe nicht von Amts wegen alles getan, um die Tatsachen auch zugunsten des Angeklagten hinreichend aufzuklären. Noch 1929 ist Schneidewin der Zulassung dieser Rüge scharf entgegengetreten. Er prophezeite, solche Hoffnungen würden sich als trügerisch erweisen. Eine Aufklärungsrüge, so meinte er, könne sich nur gegen den Angeklagten richten. Wenn das Gericht eine feste Uberzeugung weder von der Schuld noch vom Gegenteil erlangt habe, dürfe es den Schuldspruch nicht ohne weiteres ablehnen, sondern müsse zunächst untersuchen, ob nicht noch Mittel vorhanden seien, mit denen sich die Zweifel beheben lassen. „Wie aber", so fragte er, „soll für das Gericht noch Anlaß bestehen können, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Uberzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt hat?" - Diesem allzu begrifflichen Argument ist Alsberg mit Nachdruck und überzeugend entgegengetreten. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Aufklärungsrüge wird heute nirgends mehr angezweifelt. Daß erfolgreiche Aufklärungsrügen gleichwohl seltener geworden sind, hat seine Erklärung wahrscheinlich darin, daß die Tatrichter sich weithin auf diese Möglichkeit der Revision eingerichtet haben. Das vermindert den Erfolg Alsbergs in diesem wichtigen Punkte nicht.

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Lassen Sie uns nun von seiner eigentlichen Berufsarbeit als Verteidiger sprechen. Wir haben da, um das gleich ganz offen zu sagen, weniger zuverlässige Grundlagen als bei der Befassung mit seinen Veröffentlichungen. Gewiß hat er selbst immer wieder einmal über seine Prozesse berichtet, nämlich regelmäßig zu dem ausgesprochenen Zweck, daran Forderungen an den Gesetzgeber zu knüpfen. Aber im Verhältnis zu der ganzen Summe der Berufsarbeit eines so beschäftigten Strafverteidigers sind das doch nur wenige Ausnahmen, und vielleicht nicht immer typische. Ferner sind da die Berichte der Tagespresse. Die Alteren unter Ihnen werden sich vielleicht noch erinnern, daß die Berichte früher, etwa bis zur Abschaffung der alten Schwurgerichte 1924, viel ausführlicher waren, als sie es jetzt sind. Bei bedeutenden Prozessen druckten die Zeitungen das Frage-und-Antwort-Spiel bei den Vernehmungen mehr oder weniger vollständig ab, und nicht selten gaben sie die Plädoyers im Wortlaut. Freilich hat Alsberg selbst wohl unwissentlich dazu beigetragen, ihnen das abzugewöhnen. Seine Plädoyers waren nämlich lang. Sein Biograph, Curt Rieß, nennt ein Plädoyer von sechs Stunden „für Alsbergs Verhältnisse kurz". Im Caro-Petschek-Prozeß plädierte er sechs Tage. Er war eben, wie alle seine Veröffentlichungen zeigen, ein ungewöhnlich gründlicher Jurist, der nichts dem Zufall überließ. Und er durfte so lange sprechen, weil er ein begnadeter Redner war, dem man willig so lange zuhörte. Der Satz, daß man über alles sprechen kann, aber nicht über 45 Minuten, galt für ihn eben nicht. E r bereitete sich mit ganz außerordentlicher Sorgfalt vor. Aber selbst wenn er seine Rede schriftlich im Wortlaut festgelegt, wenn er an diesem Wortlaut immer wieder gefeilt hatte, gab er sich damit nicht zufrieden. Ich muß Ihnen das mit seinen eigenen Worten sagen: „Wer sich auf die See der Rede begibt, für den ist die Arbeit, die er am Schreibtisch geleistet hat, gewissermaßen das Schiff, das er sich für die Reise vorsorglich und sorgfältig zimmern mußte; aber ein Schiff zimmern und damit segeln, ist zweierlei. - Horaz tut Unrecht und spricht wohl ein wenig pro domo poetae, wenn er sagt: poeta nascitur, orator fit. Auch zum Redner muß man geboren sein, und zwar, wenn wir bei dem Bilde des Schiffbauers und Schiffsteuermanns bleiben, vornehmlich für die letztere Funktion. Der wirkliche Redner gebiert sich, sobald er sich zum Vortrag erhoben hat, immer aufs neue, er wird, einmal schneller, einmal langsamer, zumindest der erkennbaren Sklaverei seiner Notizblätter entrinnen und selbst das vorher aufgezeichnete Wort wird, jenseits von aller gewöhnlichen Rezitation, die Frische der Spontaneität gewinnen. Es ist immer wieder ein Hervorstürmen des inneren Menschen nach außen - nicht ohne Besinnung, versteht sich, aber der Abschluß solcher Besinnung liegt weit zurück, sie ist längst ausgereift, wenn ihre Ergebnisse von den jungen Sprößlingen oratorischer Leiden-

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schaft verkündet werden. Das, was aus einem leidenschaftlichen Redner spricht, ist sehr wohl die Spiritualisierung seiner Persönlichkeit, aber auch diese Persönlichkeit unterliegt einem historischen Werden, von dessen Beschaffenheit dann der Augenblick des Ausbruchs um so beredtere Kunde gibt, je näher Wort und Wesen beieinander wohnen. Auch die Persönlichkeit des Redners liegt also gewissermaßen konzipiert und geordnet vor, wenn er zu reden beginnt, aber wenn aus seiner Rede nichts als der erworbene Status seines Ichs hervortritt, fehlt ihm eben gerade das zum Redner, was leider so vielen fehlt, in deren Mund das Wort nicht Werbung, die klarste Konstruktion niemals Überredung, niemals Verführung werden kann . . . " Es fällt schwer das Zitat abzubrechen und Sie um die Nutzanwendung, die Alsberg von diesen Gedanken auf das Plädoyer des Verteidigers macht, gleichsam zu betrügen, Sie zu nötigen, nun wieder meinen Nachen zu besteigen. Sie haben gehört, daß Alsberg über seinen Beruf, der auch Ihr Beruf ist, und über die Bedingungen seiner Ausübung reflektierte. In diesem Zusammenhang liegt die Frage nahe, wie er, der im Sinne von Schillers schöner Antrittsrede ein philosophischer Kopf war, über seinen Beruf dachte. Sein Biograph will uns glauben machen, er hätte nur solche Angeklagte verteidigt, die er für unschuldig gehalten habe. Aber das wäre eine schreckliche Vereinfachung, eine sehr bescheidene Auffassung vom Verteidigerberuf. Es widerspräche auch sehr tiefen Gedanken, die Alsberg in seiner Philosophie der Verteidigung vorgetragen hat. Er begreift dort den Strafprozeß als einen Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum. Er sieht den Angeklagten, weil er nicht nur Individuum, sondern auch selbst Mitglied der Gesellschaft ist, als den Hauptbeteiligten eines wahrhaft tragischen Dramas. Damit kann er nicht nur Unschuldige meinen, die gleichsam nur aus Versehen angeklagt worden sind; es ist kein tragisches Ende, wenn jemand von einer Bildsäule erschlagen wird. Er meint auch nicht nur die Konfliktsfälle, in denen das positive Recht nicht mit der Idee der Gerechtigkeit im Einklang steht, nicht nur die Fälle - obwohl sie vorkommen - , in denen die Sittlichkeit um der Sittlichkeit willen verletzt wird, Fälle, in denen der immer wiederkehrende Michael Kohlhaas „aus Rechtsgefühl um des Rechts willen am Rechte schuldig geworden ist". E r verlangt vom Verteidiger Mitleid: nicht „ein falsches, ein weichliches Mitleid, auch wenn sich mit ihm die . . . Furcht paart, daß auch uns ähnliches Leid treffen könnte; sondern ein starkes, ein ethisch begründetes Mitgefühl". Der Verteidiger dürfe, so fordert er, nicht die Kraft vergessen, die das Gesetz ihm nicht nur gegeben habe, die es gerade von ihm verlange, die Kraft, sich als Letzter diesem Schicksalswerden entgegenzustellen. Was wäre das für eine Kraft, wenn sie sich nur gegen Justizirrtümer richten sollte? Gegen Justizirrtümer ist jeder; das erfordert nur intellektuelle

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Kräfte, kein besonders starkes Mitgefühl. Alsberg sagt es nicht ausdrücklich, aber es leuchtet aus seinen Sätzen hervor, daß für ihn der Verteidiger mehr noch als der Angeklagte der tragische Held dieses Dramas ist. Und das ist er, weil gerade er sich in einem Widerstreit von Pflichten befindet, dem Dienst an der Rechtsordnung, der er sich verpflichtet weiß, und dem Dienst an dem schuldigen Angeklagten, der ebenfalls seine Pflicht ist. Daß Alsberg das so sieht, obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, sieht man an der großen Mühe, die er sich macht, um diese Pflichtenkollision aufzulösen. Er beruft sich auf das Gesetz, das gerade dem schwersten Verbrecher zwangsweise einen Verteidiger zur Seite stelle. Man könnte einwenden, daß das aber eine rein positive Lösung ist, die nur bedeutet, daß der Verteidiger eines Schuldigen zwar der Gerechtigkeit, aber nicht dem Gesetz entgegentritt. Aber wie auch immer: von einem Geist wie Alsberg ist nicht zu glauben, daß er seinen Dienst am Recht nur als Verteidigung von Unschuldigen gesehen hat. Denn die Verteidigung des schuldigen Angeklagten hat ihn immer wieder beschäftigt. Einmal sprach er sich selbst etwas bitter Mut zu, indem er sagte, man könne nicht nur Cato den Alteren in einem Prozeß wegen passiver Bestechung verteidigen. Ein andermal sagte er: „Glauben Sie, ein Anwalt könnte das alles aushalten, wenn er nicht eine höhere Aufgabe in sich spürte? Die vom Gesetz selbst geheiligte Aufgabe, an der Seite des Bedrohten zu kämpfen, ihn zu verteidigen. Mein Beruf hat mich auf die eine Schale von Justitien Waage gestellt. Zu wägen hat der Richter." Wir stoßen bei Alsberg immer wieder auf solche Bemühungen, den Pflichtwiderstreit, den tragischen Konflikt aufzulösen, ihn als nicht vorhanden zu betrachten. Er fand es leichter, einen Menschen zu verteidigen, an dessen Unschuld er glaubte, und wenn es Unschuld auch nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes war, sondern vielleicht nur vor dem Forum einer höheren Gerechtigkeit. Dieses Gefühl ist nicht so selten - obgleich es selten vorkommt, daß ein Angeklagter seinem Verteidiger ein Geständnis ablegt und dann von ihm verlangt, er solle ihn vor Gericht als unschuldig hinstellen. Das kommt deshalb so selten vor, weil es sich unter vier Augen leichter lügt als im Gerichtssaal, in Gegenwart der Belastungszeugen, und weil selbst ganz naive, ja primitive Menschen ein Gespür dafür haben, daß der Anwalt sie besser verteidigen wird, wenn er an ihre Unschuld glaubt. Und dieses Gefühl haben auch Anwälte. Das Besondere an Alsberg war, daß es bei ihm so leidenschaftlich war, und daß sein scharfer Verstand ihn dabei zwang, seine eigenen Empfindungen so genau zu analysieren. Wiederum machte gerade das ihn zu einem so hervorragenden Verteidiger und in dieser Rolle gelegentlich zu einem tragischen Helden. Es ist schon manches Jahr her, da durfte ich einmal einem Streitge-

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sprach zweier sehr bekannter, mit Recht angesehener und erfolgreicher Strafverteidiger zuhören, die über die Verteidigung schuldiger Angeklagter diskutierten. Einer von ihnen lebt noch und ist hier unter uns. Der eine sagte, er könne nur Menschen verteidigen, die ihm die volle Wahrheit sagten. Deshalb dränge er seine Angeklagten zum Geständnis, zunächst im vertraulichen Gespräche unter vier Augen, dann aber auch zur Wiederholung des Geständnisses vor dem Gericht. Der andere widersprach entschieden. Die Uberführung des Angeklagten durch ein Geständnis könne nicht seine Aufgabe sein, und er brauche zur Erfüllung seiner Aufgabe die Wahrheit auch gar nicht so genau zu wissen. Er pflege seinem Mandanten deshalb allenfalls zu sagen, er müsse damit rechnen, daß das Gericht ihm seine Geschichte nicht glauben werde, aber seine eigene Meinung darüber sei ja ohnehin nicht entscheidend. Hier kann jeder Verteidiger gewiß nur seiner eigenen inneren Stimme folgen. Alsbergs Empfinden entsprach eine Synthese zwischen diesen beiden scheinbar so widersprüchlichen Meinungen. Sein Verstand und seine Erfahrung sagte ihm, daß er besser, überzeugender verteidigen werde, wenn er mit dem Gefühl an die Unschuld seines Mandanten glaubte; und deshalb kam es vor, daß er sich zu zwingen suchte, an sie zu glauben, daß er sich wünschte, die Rolle des Verteidigers eines Unschuldigen zu spielen, und daß er sich - manchmal mit Gewalt - in diese Rolle hineinlebte. (Sie werden fragen, wie ich dazu komme, von einem Mann, den ich nie gesehen habe, so etwas zu behaupten; ich werde es Ihnen nachher sagen.) Es versteht sich, daß dabei, bei einem so klugen und gleichzeitig so leidenschaftlichen Mann, Konflikte nicht immer ausbleiben konnten, und er wußte auch das. Er litt schwer, es waren schlimme Augenblicke in seinem Leben, wenn ein Mandant, den er mit solchem Einsatz verteidigt hatte, ihm nachträglich die Illusion zerstörte. Vielleicht wird mancher von Ihnen geneigt sein zu sagen, das sei ihm dann recht geschehen; denn in solchen Fällen sei er nicht als Verteidiger, sondern als Schauspieler aufgetreten. Aber darüber werden wir uns verständigen, wenn wir uns nur erst den rechten Begriff von einem Schauspieler machen. Alsberg hatte eine Leidenschaft fürs Theater, war mit großen Schauspielern befreundet, Albert Bassermann, Emil Jannings, Mathias Wiemann, dachte groß von ihrem Beruf und schrieb selbst erfolgreiche Theaterstücke. Den Vergleich zwischen dem Verteidiger und dem Schauspieler hat Alsberg selbst gezogen. Hören Sie seine eigenen Worte: „Selbst dem, der nach dem Gesetz schuldig ist, steht ein Rechtsanspruch zur Seite, den das Recht nicht negieren will noch kann: der Rechtsanspruch des schuldigen Individuums, daß seine Tat nicht nur als eine Verwirklichung des Unrechts, sondern auch als eine Fügung begrif-

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fen wird, die aus der Tiefe und den Notwendigkeiten dieses Einzelschicksals geboren ist. Solch völliges Verwachsen mit der Person eines dramatisch vom Schicksal gezeichneten und von Rächern Bedrohten, diese Verbundenheit mit einem vielleicht versinkenden Leben schafft im Verteidiger jene tragische Grundstimmung, die ihn den Ablauf des forensischen Geschehens als ein Drama sehen läßt. Er selbst ist Mitspieler in solchem Drama, und man darf getrost annehmen, daß Demosthenes von den attischen Schauspielern, daß Cicero von Roscius und William Pitt von Garrick etwas mehr gelernt haben, als wie man das ,R' am eindrucksvollsten rollt. Der Verteidiger ist, wenn er plädiert, in manchem Sinne Schauspieler. Kein Komödiant, der, wie es in Hugo von Hofmannsthals Spiel vom Toren und dem Tod heißt, ,vom Klang der eignen Stimme ungerührt und hohlen Tones andere rührend nicht' eine Rolle herunterspricht, sondern ein tragischer Schauspieler, der dem Chor Rechenschaft ablegt über ein schicksalhaftes Geschehen; selbst gefangen von dieser Tragik, vom mächtigen Mitfühlen selbst ergriffen, nach klassischen Gesetzen agierend, folgend als der Dichter seines Textes den Ideen der Tragödie, der Verbindung von Ethik und Ästhetik, an seinen Platz gefesselt mit Banden der erarbeiteten und erfühlten Uberzeugung - ein echter Schauspieler! Anders als Corcos, der von der Schauspielerei eine geringe und falsche Meinung hat, bin ich der Ansicht, daß gerade der intuitive Schauspieler über den geistigen zu stellen ist; daß die Überlegungen, wie etwas zu sagen ist, weit zurücktritt hinter die Sicherheit: so spreche ich es aus, und so habe ich es gefühlt... Nicht das Kostüm und nicht die Robe machen den hinreißenden forensischen Redner oder den zwingenden Darsteller: was sie beide unwiderstehlich macht, ist ein starkes Gefühlsleben, ist die Fähigkeit, auch das Fremdeste mitzufühlen und sich ganz zu eigen machen zu können." Wieder wird es schwer, mit dem Zitieren einzuhalten. Wenn bei Ihnen der Eindruck entstanden sein sollte, daß Alsberg die Rhetorik im allgemeinen und die Kunst des gerichtlichen Plädoyers im besonderen für eine unveränderliche, durch die Jahrtausende von der Antike bis heute gleichgebliebene Kunst gehalten hätte, so wäre das unzutreffend. Er wußte sehr wohl und sprach es auch aus, daß zu ihr ein lebendiger Kontakt zwischen dem Redner und seinen Zuhörern gehört, und daß es entscheidende Unterschiede sind, ob Sokrates zu einem Gericht von 501 Mitgliedern spricht und dafür nur den Rest des einen Verhandlungstages zur Verfügung hat, oder ob ein moderner Verteidiger vor einer Strafkammer aus drei Juristen und zwei Laien mit unbeschränkter Redezeit plädiert. Erlebte er doch gerade auf dem Gipfel seiner Tätigkeit 1924 den Ubergang von dem alten Schwurgericht, dessen Geschworenenbank aus zwölf Laien bestand, zu der neuen Besetzung mit drei Juristen und sechs

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Laien. Anfänglich ist er dieser Änderung entschieden entgegengetreten, scheint sich aber schneller als andere auf die neue Besetzung eingerichtet zu haben. Seit Alsbergs Tagen ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Seine Ratschläge für das Plädoyer sollten deshalb heute vielleicht mit den Modifikationen befolgt werden, die sich aus dem Wandel der Zeiten ergeben. Den Satz, daß der Leidenschaftliche - freilich nur er - auch das Recht zum Pathos habe, würde Alsberg selbst heute wohl nicht mehr so betonen. Sicherlich würde er heutzutage etwas zurückgenommener plädieren, weniger nach französischem und mehr nach englischem Vorbild. Denn in den vergangenen 50 Jahren haben wir Deutschen so abschrekkende Beispiele von pathetischen Rednern erlebt, daß wir empfindlich dagegen geworden sind. Es verhält sich damit ähnlich wie mit nationalen Symbolen, die bei uns jetzt weitaus weniger gezeigt und benutzt werden als bei allen unseren Nachbarvölkern. Es wäre der forensischen Beredsamkeit bei uns sicherlich zugute gekommen, wenn wir nach Alsbergs Vorschlag das englische Strafverfahren bei uns eingeführt hätten. Indessen hat er selbst gewiß nicht verkannt, daß die Vorbedingungen dafür bei uns ungünstig sind. In seinem schönen Vortrag über den Prozeß des Sokrates jedenfalls hat er die überzeugende Bemerkung gemacht, daß bei solchen Anklagen wie der gegen ihn gerichteten ein festumschriebener gesetzlicher Tatbestand unabdingbare Voraussetzung der Rechtsstaatlichkeit sei. Eine Tradition aber von jener Festigkeit und Verläßlichkeit, wie sie in England solche gesetzliche Tatbestände weithin entbehrlich macht, ist bei uns gewiß so bald nicht zu begründen. Alsbergs Biograph sagt ihm politische Ahnungslosigkeit nach und wirft ihm vor, daß er deshalb in zahlreichen Prozessen auf der falschen Seite gestanden habe. Er nahm Anfang April 1919 in einem Zivilprozeß den früheren Kaiser erfolgreich gegen Verunglimpfung in einem Film in Schutz. E r verteidigte 1920 Helfferich gegen die Anklage wegen übler Nachrede zum Nachteil von Erzberger. Helfferich kam mit 300 Mark Geldstrafe davon, was nach Lage der Dinge einem Freispruch und einer moralischen Verurteilung Erzbergers gleichkam. U m dieselbe Zeit verteidigte Alsberg einen Hauptmann v. Kessel gegen eine Anklage wegen Meineides, den v. Kessel im Zusammenhang mit einem politischen Massenmord an kommunistischen Soldaten geleistet haben sollte. 1925 verteidigte er drei junge Adlige, denen die betrügerische Aufnahme recht hoher Kredite vorgeworfen wurde. 1927 vertrat er wieder einmal den früheren Kaiser, diesmal gegen Piscator. 1929 verteidigte er Hugo Stinnes junior erfolgreich in einem großen Betrugsverfahren, und mehrere Mitglieder des Vereins „Immertreu" gegen den Vorwurf des Landfriedensbruchs im Zusammenhang mit einer Messerstecherei. Dann kam

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der große Fall Ullstein, eine unerfreuliche Familiengeschichte. Curt Rieß meint, es hätte vermieden werden sollen, die Zwistigkeiten dieser prominenten jüdischen Familie in solcher Zeit (nämlich 1931) publik werden zu lassen. Der Gewinner sei weder Alsberg noch Ullstein gewesen, sondern Hitler. Dann verteidigte Alsberg Carl v. Ossietzky vor dem Reichsgericht erfolglos gegen den Vorwurf des Landesverrats und Ludwig Katzenellenbogen mit halbem Erfolg gegen den Vorwurf der Untreue. Schließlich kam Alsbergs letzter großer Prozeß, wiederum ein jüdischer Familienzwist, der nach Ansicht des Biographen hätte vermieden werden oder aus dem wenigstens Alsberg sich hätte heraushalten sollen. Der Biograph schreibt dazu: „Alsberg hatte sich in den letzten Jahren nicht mehr um Politik gekümmert als sein ganzes Leben lang. Er hatte die politische Bedeutung des Erzberger-Helfferich-Prozesses nie begriffen. Er hatte Ossietzky nicht aus politischen Motiven verteidigt, sondern weil er der Uberzeugung war, dem Manne geschehe Unrecht." Als Vorwurf halte ich das alles für abwegig. Uber die Gefahr, die Hitler bedeutete, haben sich damals sehr viele Leute geirrt. Auch kann sich ein richtiger Anwalt auf solche Erwägungen ebensowenig einlassen, wie ein Arzt sich darum kümmern kann, ob sein Patient ein von Rechten verprügelter Linker oder ein von Linken verprügelter Rechter ist. Einem Juristen vom Range Alsbergs sollte man zutrauen, daß er den früheren Kaiser auch dann vertreten hätte, und mit dem gleichen Erfolg, wenn er nicht als Monarchist aufgewachsen wäre. Es würde gar nicht lohnen, über solche Selbstverständlichkeiten Worte zu verlieren, wenn sich nicht in der letzten Zeit zum Schaden der Justiz und zum Schaden mancher Angeklagten die Meinung breitgemacht hätte, ein Angeklagter sei am besten bei einem Verteidiger seiner eigenen politischen Uberzeugung aufgehoben. Dabei ist gewiß nicht der Anwalt der beste Verteidiger, der mit seinem Mandanten durch dick und dünn geht; und gerade Alsberg war ein Mann der Distanz. Nicht nur mit anspruchsvollen Vorträgen, wie dem über den Prozeß des Sokrates, über die Philosophie der Verteidigung, über das Weltbild des Strafrichters hat Alsberg das Ohr der Öffentlichkeit für seine rechtlichen Anliegen gesucht. Er hat auch Theaterstücke geschrieben, bei denen wir einen Augenblick verweilen sollten. 1930 schrieb er unter dem Titel „Voruntersuchung" ein Stück, das Curt Rieß einen Reißer nennt und von dem er behauptet, Hermann Sudermann habe so etwas besser gemacht. Aber diesem Biographen ist die Biographie ohnehin streckenweise zur Schmähschrift geraten mit ihrem Klatsch, ihren Rasier-, Frisier- und Manschettengeheimnissen, und ihrem Unverständnis für rechtliche Dinge. Für mich war diese „Voruntersuchung", als sie 1930 in Hannover aufgeführt wurde, die erste Begegnung mit dem Geiste Alsbergs. Ich erinnere mich noch gut, daß alles, was damals in

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Hannover als Jurist Rang und Namen hatte, im Theater erschienen war; und welch nachdenkliche Betroffenheit diese Geschichte vom Danebengreifen eines ganz braven, aber übereifrigen und etwas engen Richters nicht nur auf mich, den Studenten im fünften Semester, sondern auch auf die reifen Anwälte und Richter machte. Gewiß ist richterliche Befangenheit als literarisches Thema nichts Neues und nichts Einmaliges. Der Untersuchungsrichter, den seine Ermittlungen in einem Mordfall auf den Verdacht bringen, sein eigener Sohn sei der Täter, wirkt für mein Gefühl keineswegs reißerisch; die überraschende Aufklärung, die bei Alsberg übrigens nicht von dem Verteidiger herbeigeführt wird, bringt den Richter zu einer, wenn das gut gespielt wird, glaubhaften Metanoia - und es liegt nahe, daß auch die Zuschauer zum Nachdenken gebracht wurden. Noch ganz anders steht es mit Alsbergs zweitem Theaterstück, dem „Konflikt". Die Heldin, Frau Christine, hat einen musikalisch hochbegabten Sohn aus erster Ehe; ihr zweiter Mann ist ein Trunkenbold, der nicht nur sein eigenes Vermögen in einem schäbigen Geschäft angelegt hat, sondern auch das väterliche Erbe seines Stiefsohns zur Sanierung dieses Geschäfts verwenden möchte. Der Junge selbst soll dort, sehr gegen seinen eigenen Wunsch, als Lehrling eintreten. U m den entgegenstehenden Willen der Mutter zu überwinden, will er ihr seinen Teilhaber gerichtlich als Beistand bestellen lassen und hat eine Unterschrift von ihr erschlichen, mit der sie dieser Bestellung zustimmt. Als sie die Machenschaften ihres Mannes durchschaut, geht sie zum Anwalt, der ihr helfen soll, die Bestellung dieses eigensüchtigen Beistandes zu verhindern. Das erweist sich aber als nicht ganz leicht, weil der Mann - ohnehin meist betrunken - das Schriftstück nicht herausgibt. Der Sohn macht ihr Vorwürfe, daß sie ein solches Schriftstück unterzeichnet habe und bedrängt sie, es wieder an sich zu bringen. Sie sagt ihm das zu und geht in das Schlafzimmer, hoffend, daß der Mann in seiner Trunkenheit schlafen werde und daß sie die Urkunde aus der Nachttischschublade an sich nehmen könne. In dieser Schublade liegt auch, wie sie weiß, ein Revolver. Es fallen zwei Schüsse, die Frau kommt heraus, der Mann ist erschossen. Sie wird, wie Sie sich vorstellen können, wegen Mordverdachts festgenommen; der Anwalt besucht sie in der Untersuchungshaft, nachdem sie eine etwas verworrene Geschichte von Rangelei, Griff des Mannes zum Revolver, Handgemenge und unabsichtlich losgegangenen Schüssen zu Protokoll gegeben hatte. Das Gespräch im Gefängnis ist ein Höhepunkt des Stückes. Der Anwalt zeigt sich gütig und verständnisvoll, fordert sie mehrfach auf, ihm den Hergang genauer zu schildern; sie könne Vertrauen zu ihm haben, zu ihrer Verteidigung müsse er alles wissen. Im Verlauf dieses Gesprächs setzt sie mehrmals erkennbar zu einem Geständnis an; aber jedesmal unterbricht er sie, es wird ganz

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deutlich, daß er das Geständnis nicht hören will. Schließlich versteht sie und gibt kalt eine klare, entlastende Erklärung ab. Auf sein Plädoyer hin wird sie freigesprochen. Bei der Rückkehr in ihre Wohnung empfängt ihr Sohn sie mißtrauisch und abweisend. Er sagt ihr auf den Kopf zu, daß sie seinen Stiefvater erschossen habe. Trotz der Anwesenheit des Anwalts und eines anderen, älteren Juristen, und trotz deren Versuchen, einzugreifen, fühlt sie sich schließlich so in die Enge getrieben, daß sie die Tat zugibt. - Der Teilhaber ihres Mannes, der ebenfalls nicht an ihre Unschuld glaubt, sieht sich vor dem wirtschaftlichen Ruin, wenn dessen Vermögen von seiner Witwe als Erbin aus seinem Geschäft gezogen wird. E r droht mit einem Erbunwürdigkeitsverfahren. Sie auch dabei zu vertreten, lehnt der Anwalt ab. Als ihre Bitten immer dringender werden, braucht er Ausflüchte. Mit diesem Rechtsgebiet sei er wenig vertraut, er könne ihr viel bessere Anwälte empfehlen. Sie wendet ganz einleuchtend ein, wenn nicht er sie vertrete, werde man das auf sein nachträgliches Wissen von ihrer Schuld, vielleicht auf ein nachträgliches Geständnis schieben, auch wenn er das Zeugnis verweigere. Schließlich appelliert sie an seine Menschlichkeit, vor der ihre Tat doch vielleicht bestehen könne. Nach schwerem inneren Kampf gibt er nach. E r vermittelt einen Vergleich, nach dem das Geld des Toten in dem Geschäft des Teilhabers bleibt, das Geld des Sohnes aber nicht hineinkommt und - wie sich versteht, der Sohn selbst für seinen erwählten Beruf frei wird. Der Sohn löst sich von seiner Mutter; der Zuschauer bleibt im ungewissen, ob er vielleicht einmal zurückkehren wird. Der Anwalt, zunächst sehr erschüttert, versinkt in neuer Arbeit. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß dieser Anwalt ein Selbstporträt Alsbergs ist. Gar zu viele Einzelheiten stimmen mit dem überein, was man auch sonst von ihm weiß. Die Sekretärin im Stück, Fräulein Zerb, ist Alsbergs Sekretärin Jenny Braun. Die von dem Rechtsanwalt Bohlen im Stück geäußerten Ansichten und Grundsätze sind auf Schritt und Tritt dieselben, die man aus Alsbergs Schriften und Vorträgen kennt. Das Selbstporträt ist auch nicht geschmeichelt. Dieser Anwalt Bohlen ist keine Idealfigur, sondern ein Mensch, auch mit seinen Schwächen, nämlich mit Alsbergs kleinen Schwächen: seiner Unpünktlichkeit, der Neigung, seine Mitarbeiter ebenso zu überfordern wie sich selbst und - wofür ich Ihnen den Beweis versprochen hatte - der Neigung, sich über die Unschuld seiner Schutzbefohlenen selbst etwas vorzumachen. Wer wollte ihm wohl darob gram sein - ihm, der sich dieser Schwäche, wenn es eine ist, vor einem breiten Publikum aus Juristen und Nichtjuristen selbst zu zeihen imstande war. Denn Alsberg war nach Verstand und Gefühl der Mann, ganz genau zu wissen, daß man ihn mit diesem Rechtsanwalt Bohlen identifizieren würde, daß man Bohlen als das Selbstporträt erkennen würde, das er war. Wer wollte einem solchen

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Manne das Recht bestreiten, seine innere N o t in alle Welt hinauszuschreien? Der Schrei wurde nicht gehört. Der „Konflikt" wurde im Februar 1933 in Bremen und vom 7. bis zum 31. März 1933 in Berlin aufgeführt. Es war der Anfang der schrecklichen und beschämenden Zeit, an die wir uns nicht gern erinnern lassen, an die wir uns aber dennoch erinnern müssen. Es war die Zeit, in der man vielen der besten Deutschen, zu denen auch Alsberg gehörte, ihr Deutschtum bestritt. Es war die Zeit, in der man einer großen Zahl der Wertvollsten unter uns ihren Beruf nahm, ihre Habe, ihren guten Namen, ihre Heimat, ihr Leben. Es war die Zeit, in der wir es uns verdient haben, daß wir bis zum heutigen Tage von taktvollen und freundlichen Menschen im Ausland nicht auf unser Deutschtum angesprochen werden. Wer viel hinauskommt, kennt das: „Sie sind wohl Engländer? Sie sind wohl Däne? Sie sind wohl Schweizer?" Daß man einen Fremden für einen Deutschen hält, wagt man ihm aufs Geratewohl vielfach nicht ins Gesicht zu sagen. Auch Alsberg mußte fort. Menschen, die er für Freunde gehalten hatte, sagten sich ängstlich, schmählich von ihm los. In Berlin war er seines Lebens nicht sicher. In Baden-Baden war seines Bleibens nicht. In Zürich traf er viele andere Opfer der deutschen Zustände. Nicht alle waren so entmutigt wie er selbst. Manche hatten Pläne für Wien, für Paris, London, New York. Alsberg konnte das nicht. Er wurzelte im deutschen Recht, in der deutschen Sprache, in der deutschen Kultur. Er bekam einen Ruf an die Sorbonne. Er lehnte ab; sein Französisch sei nicht gut genug. Ein Kollege schlug ihm vor, sich in London mit ihm zu assoziieren. Alsberg antwortete gar nicht. Der eine oder andere seiner treu gebliebenen Sozien besuchte ihn. Sie fanden wohl, die Emigrantenatmosphäre in Zürich bekomme ihm nicht. Schließlich ging er nach Samaden in ein Sanatorium. E r vermochte keinen Sinn mehr in seinem Leben zu finden. Am 11. September 1933 machte er ein Ende. Auf dem Dorffriedhof in Sankt Moritz ist er begraben. Die deutschen Zeitungen schwiegen über den Mann, der noch wenige Jahre vorher zum Honorarprofessor an der Universität Berlin, der damals angesehensten in Deutschland, bestellt worden war. Eine Ausnahme machte das Grunewald-Echo, ein Stadtviertelblättchen, wie sie es auch heute wieder in Berlin gibt. Es brachte einen ausführlichen Nachruf. Eine angemessene Würdigung fand er in der gesamten Presse des Auslandes. Daß Sie bei Beginn Ihrer ersten Tagung dieses Ihres großen Kollegen gedenken, gereicht Ihnen zur Ehre.

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"That is a bad system", sagte die Engländerin, die ich zu Tisch führte. Sie hatte mich nach meinem Beruf gefragt; und ich hatte geantwortet, ich sei Hilfsrichter beim Landgericht. Darauf war ich mit meinen 25 Jahren stolz wie ein Schwein mit zwei Schwänzen; und nun nannte sie das System unserer Justiz schlecht, weil es so jungen, unerfahrenen Menschen eine so große Verantwortung übertrug. Bald darauf kam ich zum Amtsgericht Emden. Als dem jüngsten Assessor wurde mir natürlich ein Dezernat aus all den Sachen zusammengestellt, die sonst niemand wollte. Zum Beispiel mußte das Grundbuch umgeschrieben werden. Auf vielen Blättern stammte die letzte Eintragung aus dem vorigen Jahrhundert. Da hatte das BGB noch nicht gegolten. Aber was hatte eigentlich gegolten? Früher hatten in Ostfriesland die Cirksenas geherrscht, erst als Häuptlinge, dann als Grafen, schließlich als Fürsten. Den letzten von ihnen hatte Friedrich der Große beerbt; Ostfriesland war preußische Provinz geworden. Aber war hier das Allgemeine Landrecht eingeführt worden, und wenn ja, hatte es die Turbulenzen des 19. Jahrhunderts hier überstanden? 1806 war Ostfriesland ein holländisches, 1810 ein französisches Departement, der Wiener Kongreß hatte es zu Hannover geschlagen, Hannover war Gemeinrechtsgebiet, aber hat man das Gemeine Recht auch in Ostfriesland eingeführt? 1866 war ganz Hannover einschließlich Ostfriesland preußisch geworden - und welches Recht hatte von da an gegolten? Das wußte in Emden kein Mensch, in der Bücherei des Amtsgerichts gab es nichts darüber, und ich weiß es bis heute nicht. A bad system. Aber das Grundbuch habe ich umgeschrieben. Eines Tages kam der Landgerichtspräsident aus Aurich zur Visitation. Er kannte mich aus Celle, wo er als Oberlandesgerichtsrat mein Ausbilder gewesen war. Er wollte mir wohl. Ich klagte ihm, ich fände das Grundbuch sooo langweilig. Er war entsetzt: „Ja, wissen Sie denn nicht, daß es für jeden Richter eine Auszeichnung ist, am Grundbuch arbeiten zu dürfen?" Ich wußte es nicht. Heutzutage machen das die Rechtspfleger. Meines Wissens machen sie es gut; bestimmt besser als ich damals. Für jeden Richter eine Auszeichnung.

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Zuerst veröffentlicht in: STRAFVERTEIDIGER 1981, S. 42-46.

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Aber das Grundbuch war noch die geringste meiner Sorgen. Es verstand sich von selbst, daß ich auch die Haftsachen bekam. Warum sich das von selbst verstand? Das erfuhr ich gleich, als ich den Assessor aufsuchte, der die Haftsachen bis dahin bearbeitet hatte. Er empfing mich mit ungeheuchelter Freude, fast jubelnd. Denn von nun an konnte er übers Wochenende nach Norderney oder Borkum fahren und war überhaupt nicht mehr so fest an seinen Stuhl geschmiedet, wie das beim Haftrichter der Fall ist. In seiner Herzensfreude wies er mich sehr liebenswürdig, sehr ausführlich in alles ein, Arbeitsreste gab es in diesem Dezernat natürlich nicht, er unterrichtete mich über die kleinsten Kleinigkeiten, bis zur Telefonnummer des Dolmetschers für den Fall, daß mir einmal ein holländischer Übeltäter vorgeführt werden sollte. In den sechs Monaten, die ich in Emden zubrachte, geschah das übrigens nicht. Zum Schluß erkundigte er sich, ob ich noch eine Frage hätte. Ja, ich hatte noch eine Frage: „Was tut man, wenn man den Haftbefehl nicht erläßt? Genügt es, dem Mann einfach zu sagen: ,Sie können nach Hause gehen', oder muß man einen förmlichen Beschluß erlassen, ,der Erlaß eines Haftbefehls wird abgelehnt' oder ,vom Erlaß eines Haftbefehls wird abgesehen' oder wie sonst? Und muß man dazu Gründe schreiben, oder genügt ,mangels Tatverdacht' oder ,mangels Fluchtverdacht', oder was schreibt man da sonst? Im Gesetz steht doch das alles nicht, oder? Wie ist da die Praxis?" Er sah mich eine Weile nachdenklich an und machte dazu ein Gesicht, als ob ich wohl nicht recht bei Tröste sei. Dann sagte er: „Aber bester Herr Kollege, machen Sie sich doch darüber keine Sorgen. Der Fall kommt gar nicht vor. Man erläßt doch den Haftbefehl! Ich habe das hier zwei Jahre lang gemacht, und es ist noch niemand ohne Haftbefehl wieder weggegangen. Wie man es anfangen sollte, ihn nicht zu erlassen, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Das ist schon alles in Ordnung." Draußen war er. Ich habe bestimmt ein sehr dummes Gesicht gemacht, mit meinen beiden „gut" bestandenen Staatsprüfungen. Mir fiel meine Engländerin ein. Ich hatte ihr natürlich heftig widersprochen und mich dabei bis zu der Behauptung verstiegen, unser System sei viel rechtsstaatlicher als das englische. Dort könne einen jeder Polizeibeamte in Untersuchungshaft bringen; bei uns gehöre dazu die Entscheidung eines Richters. Eines unabhängigen Richters. Eines hilflosen jungen Menschen mit zwei Staatsprüfungen. Man erläßt doch den Haftbefehl. Wenn das so einfach ist und sozusagen gar nicht anders geht, dann brauchte man ja eigentlich keinen Richter, keine Unabhängigkeit, keine zwei Staatsprüfungen und kein Prädikat. Nun, ich fand dann einen älteren Richter, dem ich mich anvertraute und der mir beibrachte, wie man einen Haftbefehl nicht erläßt. Aber verwundert oder gar entrüstet war er

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nicht. „Mein Gott", sagte er, „lassen Sie doch die Leute Haftbeschwerde einlegen, wenn es ihnen nicht paßt." Aber die Haftbefehle lagen mir doch sehr im Magen. Später war ich einmal beim Landgericht Stade. Wenn man Assessor in Stade war, wanderte man bei schönem Wetter an die Elbe, trank Tee in Twielenfleth und spazierte auf dem Elbdeich, wobei die stromauf- und stromabfahrenden Seeschiffe den Sinn in die Ferne lenkten. Einmal blieb der Kollege neben mir stehen und fragte: „Was machen Sie im Urlaub?" - Ich sagte: „Ich fahre nach Amerika." - Für eine Weile verschlug es ihm die Sprache. Man schrieb das Jahr 1937. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er mit bedenklichem Gesicht: „Glauben Sie, das wird oben gern gesehen?" - Das wußte ich auch nicht; ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. Es handelte sich um eine sogenannte Studienreise für Juristen, veranstaltet von American Express. Wir waren nur fünf Teilnehmer: ein Professor, ein Rechtsanwalt, ein Amtsrichter im Ruhestand, ein „Industriejurist", der als einziger von uns erster Klasse fuhr, und ich. Es war schon richtig - diesen Leuten konnte es ziemlich gleichgültig sein, was man „oben" dazu meinte. Mich interessierte der Industriejurist, der mir erzählte, er verdiene im Monat 3000 Mark. Das war damals eine Menge Geld. „Ja", sagte er, „es war mein Glück, daß ich bei der Assessorprüfung durchgefallen bin; sonst verdiente ich jetzt auch nur 220 Mark, wie Sie." - Mit den „Studien" war es nicht so schlimm. Eine Sitzung des Nachtschnellgerichts in New York - 180 kleine Strafsachen in drei Stunden; ein Besuch im Eastern Penitentiary in Philadelphia von Robert v. Hippel „großartig" genannt, die erste große Anstalt für Einzelhaft mit Strahlenplan (Deutsches Strafrecht Bd. I 1925, S.337, 596, 597); eine Sitzung des Supreme Court in Washington (sehr eindrucksvoll vor allem dadurch, daß sich alle neun Richter am Rechtsgespräch mit den Anwälten beteiligten); ein Gefängnisbesuch in Chikago (wo ich auf dem elektrischen Stuhl sitzen durfte); eine Besichtigung der Fordwerke in Detroit, und zum krönenden Abschluß die Niagarafälle bei Nacht, wechselnd in allen Bonbonfarben angestrahlt. Die eigentlichen Studien machte jeder Teilnehmer für sich am Wegesrand. Nachdem ich einmal auf den Geschmack gekommen war, wollte ich in dem Jahr darauf wieder eine größere Auslandsreise machen und bat auf dem Dienstweg um drei Monate unbezahlten Urlaub. Man ließ mich ein Drei Vierteljahr lang warten und tat mir dann den Willen. Ich fuhr rund um Afrika. Als ich mich zurückmeldete, wurde ich zum Oberlandesgerichtspräsidenten vorgeladen. Der sonst freundliche und gütige Herr hatte ein Dienstgesicht aufgesetzt, bot mir keinen Stuhl an und sprach: „Auf Weisung des Herrn Reichsjustizministers habe ich Ihnen zu eröffnen, daß Ihnen Ihr Urlaub nicht auf Ihr Besoldungsdienstalter angerechnet wird, weil derartige Reisen dem öffentlichen Interesse

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zuwiderlaufen." Ich war damals und bin auch heute noch der entgegengesetzten Ansicht, sagte aber nichts und trollte mich. Ich mußte an den Spaziergang auf dem Elbdeich bei Twielenfleth denken. Jetzt wußte ich die Antwort auf die Frage, die ich damals dem Kollegen nicht hatte beantworten können. Übrigens hatte der Rüffel nur symbolischen Wert. Ich wurde kurz darauf zum Landgerichtsrat in Lüneburg ernannt, so daß das Besoldungsdienstalter als Assessor keine Rolle mehr spielte. Von nun an bekam ich ohnehin 320 Mark monatlich. Aber die Justiz hatte es noch besser mit mir vor. Zum 1. August 1939 wurde ich als Hilfsarbeiter ins Reichsjustizministerium einberufen. Mein Lüneburger Kammervorsitzender machte sich Vorwürfe. E r hatte mir eine übertrieben gute Beurteilung geschrieben, um auszugleichen, daß ich nicht einmal der SA angehörte; und so hatte er mich, sehr gegen seinen Willen, „weggelobt"! Im Reichsjustizministerium sollte ich das Fideikomißrecht reformieren helfen, von dem ich nicht der blassen Ahnung blauen Dämmerschein hatte. Der Referent empfing mich mit der Eröffnung, es gebe in Deutschland nur fünf Kenner des Fideikomißrechts. Dann nannte er drei Namen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, und fuhr fort: „Der Vierte bin ich selbst, und der Fünfte sind Sie - sobald Sie sich eingearbeitet haben werden. Aber erst einmal gehen Sie im Hause herum und stellen sich überall vor." - So lernte ich Gürtner, Schlegelberger und Freisler kennen. Als ich Freisler Besuch machte, kam jemand herein, der etwa mit mir gleichaltrig sein mochte. Freisler sagte: „Darf ich Sie mit meinem persönlichen Referenten bekanntmachen", und, zu dem anderen gewendet: „Wie war doch Ihr Name?" - Als wir beide wieder draußen waren, fragte ich: „Sie sind wohl auch neu hier?" - „I w o " , sagte er; „ich bin schon zwei Jahre persönlicher Referent dieses Verrückten; seien Sie froh, daß Sie nichts mit ihm zu tun haben." Wenige Wochen später war ich Soldat. Polen, Frankreich, wieder Polen, Rußland, Italien. Damals schien mir das ein hartes Schicksal. Aber nachträglich bin ich dankbar für alles, was mir dadurch wahrscheinlich erspart geblieben ist. Wer kann wissen, wie er allen Verstrikkungen entgangen wäre, ob er allen Versuchungen widerstanden hätte, denen er unter demselben Dach mit Freisler, Schlegelberger, Thierack und solchen Leuten begegnet wäre? Ich bekam während des ganzen Krieges nur einen Brief aus dem Ministerium: man hatte mich zum Oberlandesgerichtsrat in Celle befördert. Aber da war ich Soldat in Italien und blieb es auch. Juristische Kriegserlebnisse hatte ich nur wenige. Eines war beim Vormarsch in Rußland. Unsere Marschkolonne kam in ein Dorf, und der Oberst bemerkte einen Mann an einer Hausecke, den er aus irgendwelchen - sicherlich abwegigen - Gründen für einen Spion hielt. Er befahl kurzerhand meinem Nebenmann: „Erschießen Sie sofort diesen

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Mann!" - Es durchfuhr mich: der rechtswidrige Befehl und seine ganze Problematik, Mord oder Ungehorsam vor dem Feinde - was tätest du jetzt, wenn der Oberst dir das befohlen hätte? Mein Nebenmann war „ein Soldat und brav", wie Valentin im Faust, galt aber bei seinen Kameraden als leicht schwachsinnig. Er riß seine Knochen zusammen, Gewehr bei Fuß, und wiederholte den Befehl: „Jawoll, Herr Oberst! Mann erschießen!" - Der Oberst wurde ungeduldig: „Los, Mann, machen Sie schon, schießen Sie!" - Nach einem weiteren „Jawoll, Herr Oberst", nahm der sein Gewehr hoch, legte an, zielte sorgfältig und schoß: daneben. Von der Hausecke rieselte Kalk. Der Oberst tobte. Mein Nebenmann schoß sein ganzes Magazin leer, bis er den „Spion", ohne ihm ein Härchen zu krümmen, in die Flucht geschlagen hatte. Dem Oberst half kein Toben. Wie gut, daß er nicht mich, sondern diesen meinen Nebenmann ausgesucht hatte; der war zwar, wie gesagt, leicht schwachsinnig - aber klüger als ich war er auf alle Fälle. Außerdem war er ein ausgezeichneter Schütze. Aber das wußte der Oberst nicht. Die zweite Begegnung mit dem Strafrecht hatte ich in Italien. Ein Hauptmann war vor dem Kriegsgericht angeklagt und bat mich, ihn zu verteidigen. Ich besuchte ihn im Castel Vecchio, der alten Skaligerburg in Verona, wo er in Untersuchungshaft saß - in einem finsteren Loch, in dem er weder aufrecht stehen noch lang liegen konnte. „Mein Gott, wie halten Sie das nur aus!" sagte ich. Er antwortete: „Man hat immer etwas abzubüßen - freilich nicht das, was mir vorgeworfen wird." Vorgeworfen wurden ihm Heimtücke und Wehrkraftzersetzung. Das konnte ans Leben gehen. Er hatte mit zwei Bekannten, Südtirolern wie er selbst, in Klausen am Brenner bei einem Glas Kälterer See auf dem Markt gesessen. Die beiden Zivilisten, große Nazis, hatten höchst patriotische Redensarten über den unmittelbar bevorstehenden Endsieg von sich gegeben. Es war wohl während der Ardennenschlacht; jedenfalls verlief die italienische Front damals am Nordhang des Apennins, hart südlich von Bologna. Mein „Mandant" hatte sich von dem Quatsch angewidert gefühlt und den beiden erwidert: „Wir Südtiroler sollten uns lieber darauf einrichten, unsere Heimat an ihren Grenzen verteidigen zu müssen." - Das bekundeten sie beide in der Hauptverhandlung, die in Bozen stattfand, und er räumte es ein. Ich sagte: „Auf der Fahrt von der Front hierher habe ich im Etschtal südlich von Ala gesehen, daß dort an Geländeverstärkungen gearbeitet wird. Diese Schanzarbeiten kann jeder sehen, der da vorbeikommt; sie sind nicht geheim und können gar nicht geheim sein. Die Führung bereitet sich also ganz offen darauf vor, Südtirol an seinen Grenzen zu verteidigen. Deshalb kann dem Angeklagten kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er das diesen beiden Heimkriegern gesagt hat." - Das Kriegsgericht zog sich zur Beratung zurück und blieb zwei Stunden. Es erkannte auf ein Jahr Gefängnis und

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Degradierung. Der Verhandlungsführer sagte: „Um zu diesem Urteil zu kommen, haben wir nicht so lange gebraucht. Die Länge der Beratungszeit erklärt sich daraus, daß wir uns überlegt haben, was mit dem Verteidiger geschehen soll. Der Haftbefehl gegen den Angeklagten wird aufgehoben, wenn der Verteidiger sich ehrenwörtlich dafür verbürgt, daß der Angeklagte nicht flieht." Ich erinnerte mich nicht, dergleichen jemals in einem Gesetz gelesen zu haben. Aber ich verbürgte mich ehrenwörtlich. Er floh auch nicht; jedenfalls nicht so schnell. Ich traf ihn noch auf meiner Flucht in Prad am Stilfser Joch, als das Kriegsgericht schon über den Brenner war. Er schenkte mir Landkarten, mit denen ich über die Berge ins Otztal fand. Dort kam ich in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Als ich einige Monate später daraus entlassen wurde, hatte ich mein drittes juristisches Kriegserlebnis. Gleichzeitig mit der Entlassungsurkunde wurde mir ein schriftlicher Haftbefehl übergeben, worin „Automatic Arrest" gegen mich angeordnet war. Neben dem vorgedruckten Wort „Haftgrund" war vermerkt: „Oberlandesgerichtsrat". So begann meine Umerziehung zum Demokraten. Etwa ein Jahr später wurde ich endgültig entlassen und fuhr nach Celle, wohin meine Familie aus Hannover „evakuiert" worden war. Bald fand ich zu meiner Verwunderung heraus, daß ich immer noch Oberlandesgerichtsrat war, und zwar in Celle, obwohl ich dort ja eigentlich nur gleichsam „in partibus infidelium" ernannt gewesen war. Am 4. Februar 1947 konnte ich meinen Dienst in dem (damals einzigen) Strafsenat antreten. Die britische Besatzungsmacht hatte anstelle der meist politisch belasteten Gerichtspräsidenten vielfach Anwälte eingesetzt. Einerseits fanden sich unter ihnen bedeutend mehr Unbelastete; andererseits entsprach die Ernennung von Anwälten zu Richtern dem englischen „system". Der Erfolg war sehr unterschiedlich. Die Bestellung des Rechtsanwalts Dr. Freiherr von Hodenberg zum Celler Oberlandesgerichtspräsidenten erwies sich schnell als eine hervorragende Wahl. Das zeigte sich schon bei seiner Antrittsrede (abgedruckt NdsRpfl. 1945, S.2), in der er zum Schrecken der Anwesenden in Gegenwart von Vertretern der Britischen Militärregierung sagte: „Ich gedenke bei meinem Amtsantritt meines Amts Vorgängers Herrn von Garßen, der seit dem Jahre 1932 unter Hintansetzung seiner Gesundheit bemüht gewesen ist, alle der Rechtspflege entgegenstehenden Schwierigkeiten zu überwinden und das Wohl der ihm anvertrauten Justizangehörigen zu fördern. Mit diesen teile ich den herzlichen Wunsch, daß er bald in die Heimat zurückkehren möge." Garßen, seit 1933 der einzige Oberlandesgerichtspräsident in Deutschland, der sein Amt nicht den Nationalsozialisten verdankte, war gleichwohl von der Besatzungsmacht abgesetzt worden und befand sich

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in einem Internierungslager. Den dortigen Lebensbedingungen war seine Gesundheit nicht gewachsen. Er ist nicht zurückgekehrt. Nicht alle Anwälte, die von der Besatzungsmacht zu Richtern bestellt wurden, haben sich in diesem Amt in gleichem Maße bewährt. So leicht ließen sich englische Gewohnheiten nicht nach Deutschland verpflanzen. Der Celler Vizepräsident der Stunde Null (später Bundesrichter) hatte - wohl aufgrund der langen Gewohnheit, immer auf einer Seite zu stehen - Schwierigkeiten, sich für den Kläger oder für den Beklagten zu entscheiden. So fand er nicht recht den Glauben des Senats, den er zu führen hatte. Auch die früheren Richter, die damals Anwälte wurden, hatten in sehr verschiedenem Grade Erfolg. Ein solcher Berufswechsel hatte damals ja gewöhnlich politische Gründe; sie lagen in der nationalsozialistischen Belastung, die weiterer richterlicher Tätigkeit entgegenstand. Das ist keine gute Grundlage für einen Berufswechsel, es kam zwar vor, daß sich verhinderte Richter zu führenden Anwälten heranbildeten; aber das war doch die große Ausnahme. In alledem kam zum Ausdruck, daß es bei uns keinen einheitlichen Berufsstand der Juristen gibt. Das ist sehr zu bedauern. Die Rechtsanwendung leidet unter den Spannungen zwischen den beiden Gruppen. Das englische System vermeidet sie. Ein Richter, der lange Jahre selbst Anwalt gewesen ist, versteht die Lage des Anwalts, der vor ihm steht, besser, als der junge Richter einen älteren Anwalt versteht. Daß Anwälte und Richter privat miteinander verkehren, gehört bei uns zu den Ausnahmen. Der alljährliche Juristenball ändert daran kaum etwas. Auf dem Juristentag erlebt man es nicht selten, daß die gemeinsam erschienenen Richter und Anwälte in Fronten zerfallen, sobald die Diskussion eröffnet wird. Vielfach wirken Richter auf Anwälte ebenso arrogant wie Anwälte auf Richter. Das Gefühl des Neides spielt hinüber und herüber. Der wenig erfolgreiche Anwalt neidet dem Richter die Sicherheit des Festbesoldeten. Ich habe einen erfolgreichen - freilich sehr empfindlichen - Richter gekannt, der, zu einem sehr erfolgreichen und entsprechend wohlhabenden Anwalt eingeladen, nur ein Glas Wasser annehmen mochte. Man wünschte sich beide „Parteien" unbefangener. Beim Strafsenat in Celle hatte ich das Glück, einen ungewöhnlichen Staatsanwalt kennenzulernen: Es war Karl Schneidewin, seit 1921 Sachbearbeiter für Revisionen bei der Reichs an wal tschaft, zunächst als Hilfsarbeiter, 1923 als Erster Staatsanwalt, 1925 als Oberstaatsanwalt, später als Reichsanwalt. Man ging nie von ihm fort, ohne daß er einem etwas Belehrendes oder etwas Liebenswürdiges gesagt hatte. Wenn ich etwas über die Revision in Strafsachen gelernt habe, verdanke ich es ihm. Ich erfuhr da manches Wissenswerte vom Reichsgericht und von der Reichsanwaltschaft. Tief eingeprägt haben sich mir seine Mitteilungen über die

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Praxis bei Verwerfungsbeschlüssen gemäß der „lex Lobe" (§ 349 Abs. 2 StPO). Wenn ein Sachbearbeiter bei der Reichsanwaltschaft, der dort noch nicht fest angestellt war, eine solche Beschlußverwerfung beantragt hatte, der Senat darauf aber einen Verhandlungstermin anberaumte, dann - so erzählte mir Schneidewin - wurde dieser Sachbearbeiter zum frühest möglichen Termin wieder zu seiner Heimatbehörde zurückgeschickt. Es half ihm nichts, wenn dann der Senat die Revision durch Urteil verwarf. Beschlußanträge durften bei der Reichsanwaltschaft eben nur dann gestellt werden, wenn die Revision auch wirklich und wahrhaftig und mit Zustimmung des Senats offensichtlich unbegründet war. Beim Reichsgericht war das etwa die Hälfte aller Fälle. Beim Bundesgerichtshof waren es bis 1964 etwa zwei Drittel aller Fälle; seit dem Strafprozeßänderungsgesetz von 1964 ist der Anteil auf neun Zehntel und darüber angestiegen - obwohl oder weil seitdem der Antrag der Bundesanwaltschaft eine Voraussetzung der Beschlußverwerfung ist. Da die Anträge jetzt begründet werden müssen, ist ein großer Teil der Arbeitslast und der Verantwortung vom Revisionsgericht auf die Bundesanwaltschaft übergegangen. O b das eine richtige Entwicklung ist, wage ich zu bezweifeln. Ein anderes großes Erlebnis war die Begegnung mit Carlo Wiechmann. Die Nationalsozialisten hatten ihn als Generalstaatsanwalt beim Kammergericht abgesetzt und ihn zum Senatspräsidenten beim Kammergericht „degradiert". Eine Ernennung zum hohen Richter als Maßregelung - das war auch wohl nur in Deutschland denkbar. 1948 übernahm Wiechmann den Vorsitz des Celler Strafsenats. Die dienstlichen Beziehungen zwischen ihm und mir begannen mit einem großen Krach. Wiechmann hielt sich für befugt, die Urteilsentwürfe seiner Beisitzer kurzerhand zu ändern; ich ließ mir das nicht gefallen. Unser Gespräch ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Er drohte mir mit Dienstaufsichtsbeschwerde, ich erwähnte den §267 StGB. Dabei brachten wir - widerwillig aber ehrlich - unsere gegenseitige fachliche und menschliche Hochschätzung zum Ausdruck. Aber ein Kompromiß war in dieser Verfahrensfrage nicht möglich. Schließlich erwies Wiechmann sich als der Klügere und gab nach. Wir sind dann in diesem Punkte sehr behutsam miteinander umgegangen. Er hielt sich mit Änderungsvorschlägen sehr zurück; wenn er wirklich etwas beanstandete, mußte ich gewöhnlich einsehen, daß er recht hatte. Aber „kurzerhand" verbesserte er nichts mehr. Später habe ich auch als Senatsvorsitzender gefunden, daß sich mit dieser Handhabung leben läßt. Ende 1949 wurde ich zur Militärregierung bestellt. Dort eröffnete mir der Oberst Pickering: „You are a guinea-pig." - Ich wußte zwar, daß man im Englischen unter einem guinea-pig („Meerschweinchen") soviel versteht wie ein Versuchskaninchen; aber ich wußte nicht, welche

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Versuche mit mir angestellt werden sollten. Es handelte sich um eine Studienreise von fünf deutschen Juristen nach England unter Führung von Mr. Romberg, barrister-at-law. Die fünf waren der Staatssekretär im Niedersächsischen Justizministerium Meyer-Abich, drei Richter in Eingangsstellungen, und ich. Die Reise dauerte zwei Wochen und war ein ernsthafteres Unternehmen als jene USA-Reise von 1937. Mr. Romberg war ein hervorragender Leiter. Da es in England kein Justizministerium gibt, war Treasury federführend. Das Programm füllte die Zeit völlig aus. Nachdem wir es gelesen hatten, fragten wir etwas schüchtern, ob kein Gespräch mit einem englischen Richter vorgesehen sei. Unsere Betreuer sahen sich etwas verlegen an. Man wollte ja gern alles für uns tun, Besuche von Gerichtssitzungen, beim Director of Public Prosecutions, bei Anwälten, beim Rektor der Universität Cambridge, Einladung zum Mittagessen im Middle Temple - aber ein Richter? Man hatte Hemmungen, einen Richter auch nur zu fragen, ob er uns empfangen würde. Schließlich fragte man Sir Norman Birkett, der in den Nürnberger Verfahren mitgewirkt hatte. Er empfing uns sehr freundlich und unterhielt sich etwa eine Stunde mit uns. In meiner späteren Stellung hatte ich zwanglosere Gelegenheiten, mit englischen Richtern umzugehen. Jeder von ihnen hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Die Studienreise wurde auf beiden Seiten als Erfolg angesehen und mit anderen Teilnehmern wiederholt. Kaum zurückgekehrt, wurde ich zur Dienstleistung ins Niedersächsische Justizministerium abgeordnet. Mein Sachgebiet wurde das Ausbildungs- und Prüfungswesen. Was immer man von Ministerien sagen und denken mag: es wird dort viel und angestrengt gearbeitet. Auch das Prüfen macht viel Arbeit. Eine meiner ersten Aufgaben war, eine Erhöhung des Prüferentgelts zu erreichen. Ich sagte im Finanzministerium: „Es ist ein Glück für die Staatskasse, daß es keine Vorschrift gibt, nach der die juristischen Staatsprüfungen durch Scheuerfrauen abgenommen werden müssen; die bekäme man nämlich nicht für einen solchen Stundenlohn." - Aber auch dieses Argument half nichts. Hier „bezahlt" der Staat eben immer noch damit, daß das Prüfen eine Ehre ist und das Ansehen erhöht. Am 1. Oktober 1950 wurde der Bundesgerichtshof errichtet und Wiechmann wurde Oberbundesanwalt. Er bemühte sich um meine Wahl zum Bundesrichter. Ich wußte das damals nicht; ich habe den dicken Leitzordner, den sein Schriftwechsel in dieser Sache anfüllte, erst später gesehen. Das Minsterium fragte den Oberlandesgerichtspräsidenten. Hodenberg erklärte mich für „ungeeignet zum Bundesrichter". Ich suchte ihn auf und fragte ihn: „Seit wann ist das Ihre Meinung? Sie haben mich doch, ehe die Gerichtspräsidien wieder eingeführt wurden, mit just den Aufgaben betraut, Mitarbeit im Strafsenat, mit denen ich als Bun-

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desrichter befaßt sein würde!" - Er sagte, ich solle seine Beurteilung nicht so auf die Goldwaage legen; es sei nicht so schlimm gemeint. E r habe mich nur halten wollen; alle tüchtigen Kräfte verließen ihn, er stehe da, „ein entlaubter Stamm". Ich erwiderte, auf diese Weise werde er die tüchtigen Kräfte nicht halten. Wir schieden, bei all meiner Verehrung für ihn, im Unfrieden. Das Ministerium Schloß sich seiner Beurteilung nicht an, im O k t o b e r 1951 wurde ich zum Bundesrichter gewählt. Das war damals schon geldlich ein großer Sprung. Statt 900 D M im Monat (einschließlich der Ministerialzulage) bekam ich plötzlich 1500 D M . Damals wurden Landgerichtspräsidenten Bundesrichter. Wenige Jahre später wurden Bundesrichter Landgerichtspräsidenten. Diese seltsame Entwicklung hat der Bundesgerichtshof (nebst manchem anderen) mit dem Reichsgericht gemeinsam. Als das Reichsgericht errichtet wurde, bekam sein Präsident 2 5 0 0 0 Mark, die Senatspräsidenten und der Oberreichsanwalt 14 000 Mark, die Räte und die Reichsanwälte 1 2 0 0 0 Mark (im Jahr). 1 2 0 0 0 Mark bekam damals nicht einmal ein Oberlandesgerichtspräsident. Nach einigem Auf und A b bekam der Reichsgerichtspräsident 1929 wieder 25 000 Mark. In den ersten J a h r zehnten des Reichsgerichts gab es dort für die Richter auch keine Altersgrenze. Das Ruhegehalt betrug bis zur Vollendung des zehnten Dienstjahres 2%> des Gehalts; es erhöhte sich bis zur Vollendung des fünfzigsten (!) Dienstjahrs jährlich um Άο. Dabei wurde früherer Dienst mitgerechnet, etwa so wie jetzt. Das alles stand in der ursprünglichen Fassung des § 130 G V G . Für mich würde das heißen: da ich Mitte 1931 Referendar geworden bin, hätte ich ab Mitte 1981 mein volles Gehalt als Ruhegehalt verdient. Aber zurück in die Wirklichkeit. Die letzten sechs Wochen des Jahres 1951 war ich im 3. Strafsenat; vom 2. Januar 1952 an kam ich in den an diesem Tage errichteten 5. Strafsenat in Berlin. W i r waren zu fünft, einschließlich des Vorsitzenden Richard Neumann; im April kam ein sechster dazu. Im ersten Jahr hatten wir über tausend Revisionen. Erst von Ende 1953 ab schaffte die Wiedereinführung der erweiterten Schöffengerichte dem Bundesgerichtshof Erleichterung. Neumann vollendete Ende 1952 das 75. Lebensjahr und wurde zu seinem Schmerz und sehr gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. E r hat sich mit Tränen von uns verabschiedet. Dann wurde Friedrich Wilhelm Geier unser Vorsitzender, der auch nur ein Jahr blieb. Etwa anderthalb Jahre lang hatte der Senat keinen ordentlichen Vorsitzenden; ich war sechs Wochen dienstälter als die anderen, wenn auch der Lebensjüngste, und mußte den Senat „führen". So etwas ist, wie man sich vielleicht vorstellen kann, schwieriger als die Arbeit des Beisitzers oder die des ordentlichen Vorsitzenden. Dann bekamen wir Hans Eberhard Rotberg als Vorsitzenden. A m 11. April 1956 wurde mir dieses A m t übertragen. Ich habe es bis zur Erreichung der Altersgrenze,

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Oktober 1977 ausgeübt. Mit Ludwig Ebermayer möchte ich sagen: „Es gibt kaum eine schönere Stellung . . V o r a u s s e t z u n g ist allerdings, daß man, wie ich, hervorragende Mitarbeiter hat. Von ihnen möchte ich nur Else Koffka hervorheben. Sie war mehr als zwölf Jahre Rechtsanwältin gewesen und brachte schon daher Erfahrungen mit, die wir alle nicht hatten. Vor allem aber war sie eine Frau und hat uns manchmal den Star gestochen, zum Beispiel über Sittlichkeitsverbrechen und deren Opfer. Man konnte auch Zivilcourage von ihr lernen. Niemand, der dabei war, wird vergessen, wie sie in der ersten Sitzung des Senats zu unserem ehrwürdigen Vorsitzenden Neumann sagte: „Was Sie da reden, Herr Präsident, ist der Gipfel des Quatsches - der Gipfel des Quatsches." Neumann vertrug das übrigens. Wer ihm nicht ab und zu energisch widersprach, den verachtete er. In der Tat sind Jasager für einen Vorsitzenden durchaus nicht angenehm. In der Beratung ist Krach leichter zu ertragen, als das Gefühl, daß einer dem anderen nach dem Munde redet. Aber das war eine Sorge, die man im 5. Strafsenat nicht zu haben brauchte. Eine ganz neue Erfahrung war die Mitgliedschaft im Großen Senat für Strafsachen. Schon dem Reichsgericht wurde ja ein „horror pleni" vorgeworfen. Der Bundesgerichtshof schien ihn zunächst überwunden zu haben. Allein im Jahr 1953 haben es die Strafsenate auf vier Vorlegungen beim Großen Senat gebracht. Aber das hat sehr nachgelassen. Man darf wohl sagen, daß sich unter den Entscheidungen des Großen Strafsenats diejenigen befinden, die am wenigsten überzeugt haben. Zwar hat das Präsidium sich immer große Mühe gegeben, die Großen Senate möglichst gut zu besetzen. Auch zwingt die Vorbereitung durch zwei Gutachten (Berichterstatter und Mitberichterstatter) zu besonders sorgfältiger Arbeit. Die anderen Mitglieder sind - wie es die Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Senaten mit sich bringt - genau vorbereitet. Aber eben das bringt die Beratung um ihre Dramatik. Jeder hat sich alle Gründe, das ganze Für und Wider, so eingehend überlegt, daß man ihm kaum noch etwas Neues sagen kann. Auch die größere Zahl der Mitglieder ist eine Belastung. Sie kann zu wechselnden Mehrheiten führen, wie sie in einem Fünfersenat nicht aufzutreten pflegen. Da der Große Senat nur sporadisch zusammentritt, entwickelt sich in ihm auch schwerer als in den Einzelsenaten ein „Teamgeist". Eine Entscheidung wie etwa BGHSt. 9, 390 würde ich keinem der Einzelsenate zutrauen. Vom Jahre 1959 an lud mich der Deutsche Anwaltverein oft als Vortragenden zu seinen zweiwöchigen Strafprozeßlehrgängen ein, zusammen mit Schmidt-Leichner. Ob die Teilnehmer etwas von mir haben lernen können, weiß ich nicht; gewiß ist aber, daß die häufige und enge Berührung mit Anwälten mir selbst in vielen Dingen einen anderen Glauben vermittelt hat. Ich wäre in A^erlegenheit, das mit Einzelheiten

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zu belegen; aber es ist nach einigen Jahren auch meinen Senatskollegen aufgefallen. Ich habe gelegentlich hören müssen: „Ja Sie mit Ihrer A n w a l t s f r e u n d l i c h k e i t . . . " . Dazu trug auch bei, daß ich von 1965 ab als sogenannter „Ständiger Gast" zu den Beratungen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer eingeladen wurde, den Hans Dahs sen., später Walter Isele leitete. Seitdem hat sich in mir immer mehr das Gefühl verfestigt, es könne der Rechtsprechung zugute kommen, wenn solche Kontakte zwischen Anwälten und Richtern häufiger und enger wären. Die „Anwaltsfreundlichkeit" ist eine Haltung, die jeder englische Richter von selbst annimmt, weil er sein A m t nicht anders als nach eigener langer Anwaltstätigkeit hat bekommen können. Es ist von Einfluß auf mein Denken geworden, daß einer meiner Schwiegersöhne, dessen juristischen Werdegang ich mit Anteil verfolgt hatte, sich für den Anwaltsberuf entschied. Er ist es gewesen, der zuerst den Gedanken aussprach, ich solle nach Eintritt in den Ruhestand Rechtsanwalt werden. Seitdem hat mich das nicht wieder losgelassen. Freilich: quam quisque norit artem, in hac se exerceat. Deshalb konnte ich nichts anderes als Strafverteidiger sein. Das ist für einen alten Richter ein neues Leben. Es überrascht mich immer wieder zu sehen, wie wenig ich - trotz aller Bemühung - bis zu meinem 68. Lebensjahr von der Verteidigung und von den Verteidigern gewußt habe, mit denen ich doch jahrzehntelang eng zusammenzuarbeiten geglaubt hatte. Das Aussehen der Berufswelt hat sich völlig verändert. Ich habe erkennen müssen, daß ich meinen Anteil an der Fehleinschätzung gehabt habe, die man gerade in Deutschland dem Anwaltsberuf entgegenbringt. Max Hachenburg hat in seinen Lebenserinnerungen (1927) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Einschätzung des Rechtsanwalts sich auch in der Literatur offenbart. „Weder im Drama noch im Roman hat ein bedeutender deutscher Dichter das Problem des Rechtsanwaltes behandelt .« Daran hat sich seit 1927 nichts geändert. W i r haben nichts, was sich auch nur - etwa - dem Roman „To kill a mockingbird" von Harper Lee an die Seite stellen ließe. Ich weiß - mancher ist mit meinem Berufswechsel nicht einverstanden. W e r vom Staat ein auskömmliches Ruhegehalt bezieht, soll sich so wird mir gelegentlich angedeutet - in das otium cum dignitate schicken, statt jüngeren Berufsgenossen die Butter vom B r o t zu nehmen. Aber das Ruhegehalt habe ich mir durch Arbeit verdient; ich wäre auch bereit gewesen, noch länger dafür zu arbeiten, aber daran hindert mich ja das Gesetz. U n d Gesetz ist bei uns auch die freie Advokatur.

Skizzen1 (1985) Eine Ausbildung in der freien Rede, wie sie sich bei den Theologen von selbst versteht, gibt es bei den deutschen Juristen nicht. Das einzige, was mir auf diesem Gebiet zuteil geworden ist, war folgendes. Als ich in der Ausbildungsstation bei der Staatsanwaltschaft war, hatten wir Referendare, während sich unser Staatsanwalt in der Sitzung befand, in seinem Dienstzimmer Akten zu bearbeiten. Wenn er dann zurückkam, billigte er unsere Anklageschriften, Einstellungsbescheide, Ermittlungsverfügungen usw. - oder auch nicht. Es war schon der Gipfel von Langeweile. Daß wir es immerhin mit Menschenschicksalen zu tun hatten, kam uns überhaupt nicht zum Bewußtsein. Die Welt dadurch kennenzulernen, daß man sie anklagt, ist ja auch schon eine seltsame Ausbildungsmethode. Nun kam eines schönen Tages eine Verhandlung auf meinen Chef zu, die interessant zu werden versprach. Dem Angeklagten wurden drei verschiedene Sittlichkeitsdelikte vorgeworfen, er bestritt, es würden ein Dutzend Zeugen aufmarschieren - vielleicht auch der eine oder andere bekannte Sachverständige, der Verteidiger war ein Mann von Ruf - kurz, da ich doch während meiner Zeit bei der Staatsanwaltschaft wenigstens einmal eine Verhandlung anhören wollte, bat ich meinen Staatsanwalt — Beume hieß er mich für diesen Tag vom Dienst im Büro zu befreien und mich in die Sitzung mitzunehmen. Das wurde huldvoll genehmigt, und Beume fügte sogar huldvoll hinzu: „Wissen Sie was, setzen Sie sich nicht in den Zuhörerraum, wahrscheinlich wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, und dann muß ich erst beantragen, Ihre Anwesenheit besonders zu gestatten - setzen Sie sich einfach hier oben neben mich, dann gehören Sie zur Staatsanwaltschaft. Der Vorsitzende kennt Sie doch?" - „Ja, ich war in einer früheren Station bei ihm als Referendar." - „Nun also". Die Verhandlung wurde wirklich so spannend, und ich beglückwünschte mich, mir statt des langweiligen Bürodienstes einen interessanten Tag verschafft zu haben. Als die Beweisaufnahme gegen Abend zu Ende ging, fragte mich Beume leise: „Was würden Sie denn da beantragen?" - Ich erwiderte ebenso leise: „Zwei Jahre Zuchthaus." Er sagte nichts. Bald darauf schloß der Vorsitzende die Beweisaufnahme und erteilte dem Staatsanwalt das

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Unveröffentlichte Bruchstücke einer Autobiographie aus dem letzten Lebensjahr.

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Wort. Beume erhob sich andeutungsweise und sagte: „Herr Referendar Sarstedt wird sprechen", und da saß er schon wieder. Ich glaubte, die Welt ginge unter. Aber niemand verzog eine Miene. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Brandmüller, sah mich wohlwollend an, und ich mußte wohl oder übel aufstehen und etwas sagen. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, wie viele Gedanken in kurzer Zeit auf einen zukommen können, wenn es sein muß. Während des Aufstehens dachte ich: du mußt jetzt sagen: „Herr Vorsitzender, meine Herren Richter und Schöffen" - und damit hast D u ja schon eine Menge Zeit gewonnen. In diesem Augenblick fiel mir ein, was die alten römischen Rhetoren zu einer Rede brauchten: inventio, dispositio, pronunciato, memoria, actio. Ich war mit meiner Anrede noch nicht bei den „Herren Richtern", da fiel mir ein: „inventio", Stoffsammlung - was brauchst du noch eine Stoffsammlung? Du hast ja hier den ganzen Tag gesessen und zugehört, also hast du den ganzen Stoff zusammen - du weißt genau so viel über den Fall wie jeder andere hier im Saal; wenn D u noch mehr davon wüßtest, dürftest du es gar nicht verwerten, das Urteil darf nur auf der Hauptverhandlung beruhen, und dasselbe gilt deshalb auch von deinem Plädoyer. Außerdem hast du sechs Semester Jura studiert, und das ist mehr, als die Herren Schöffen von sich sagen können. „Dispositio" - Gliederung - ach was, Anklagereden haben alle die gleiche Gliederung, los, fang schon an, gib dem Wägelchen einen Stoß, es wird schon die Straße hinunterrollen: „Die Beweisaufnahme hat ergeben", (nun, was soll sie schon ergeben haben?) „daß der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten schuldig ist." (Mensch, du hast doch selbst schon gesagt, daß er zwei Jahre haben soll, und Beume hat nichts dagegen eingewendet. Und wenn du stecken bleibst, sagt du: ich beantrage zwei Jahre Zuchthaus, mehr kommt sowieso nicht ins Protokoll, dann kann Beume den Rest erzählen; aber warum solltest du eigentlich stecken bleiben?) „Er bestreitet das zwar; aber in dem ersten Fall hat der Zeuge Müller - Sie erinnern sich an den blassen schüchternen Menschen . . . " Da stand ich und hörte mich plädieren wie einen Alten. Kein Mensch erlaubte sich auch nur ein Grinsen. Zum Schluß bekam der Angeklagte zweieinhalb Jahre Zuchthaus.

In der Vorlesung über Strafprozeßrecht kam einmal die Rede auf die Würde des Gerichts. In Berlin war der Fall bekanntgeworden, daß ein Strafkammervorsitzender den Angeklagten zum Aufstehen aufgefordert, und daß dieser sich in die Höhe gerappelt und dazu nachsichtig bemerkt hatte: „Wenn's der Wahrheitsfindung dient." In einem anderen Fall hatte ein Amtsrichter im Fränkischen einen Angeklagten selbst mit Hilfe von Ordnungsstrafen nicht in die Höhe bekommen; die weiteren Tatsa-

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chen, daß der Angeklagte ihn mit „Richter Meier" (so hieß er) angeredet und ihm vorgeworfen hatte, er sei so „muffig", hatte den Anlaß zu weiteren Ordnungsstrafen gegeben - wegen Ungebühr vor Gericht und wegen Verletzung der Würde des Gerichts. Ich versuchte, meine Hörer davon zu überzeugen, daß es ein Fehler sei, wenn ein Richter seine eigene Würde oder die Würde des Gerichts auf solche Weise in die Hände eines spaßhaft aufgelegten Angeklagten lege. Der Rechtssatz, den ich ihnen auf diese Weise nahebringen und einprägen wollte, war die Regel, daß Ungebührstrafen nicht dem „Legalitätsprinzip", sondern dem „Opportunitätsprinzip" unterliegen: daß der Richter sie verfügen kann, aber nicht verfügen muß, und daß er sich im Einzelfall sehr sorgfältig überlegen sollte, was für die „Würde des Gerichts" besser ist. „Würde" sei - nach Schiller - der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung, und gerade dafür hätte es jener fränkische Richter nach meinem Empfinden an Gefühl fehlen lassen. An diesem Punkt unterbrachen mich einige Hörer und fragten, wie ich mich denn als Vorsitzender verhalten würde, wenn ich mit meinem Senat den Gerichtssaal beträte und irgend jemand, etwa ein Zuhörer, stünde nicht auf. Ich erwiderte, „das würde ich überhaupt nicht bemerken". - Vielstimmiger Protest: „Das glauben wir Ihnen nicht!" - Ich: „Es kann mir doch niemand beweisen, daß ich es bemerkt habe, solange ich nicht selbst den Mund auf tue und sage: ,Sie da, stehn Sie mal auf!'" Die Hörer: „Wenn Sie aber jemand mit der Nase daraufstößt, wenn etwa ein Beisitzer oder der Bundesanwalt ruft: „Herr Vorsitzender, da ist jemand nicht aufgestanden!" - „Glaube ich von meinen Beisitzern und Bundesanwälten nicht, die haben andere Sorgen. Aber wenn, dann würde ich mein dümmstes Gesicht aufsetzen und etwas abwesend sagen: „Ja - nehmen wir doch alle Platz". - „Würden Sie solches absichtliches Nichtbemerken für gesetzmäßig halten?" - „Warum nicht? Es gibt kein Gesetz, das das Aufstehen vor Gericht vorschriebe. Es ist ein Brauch, nun ja, aber den braucht doch nicht jeder zu kennen. Und ich brauche doch nicht auf den Gedanken zu kommen, daß jemand sitzen bleibt, um die Würde des Gerichts herabzusetzen. Ja, und selbst wenn ich ganz genau wüßte, daß das seine Absicht ist, bin ich doch nicht verpflichtet, ihm das leicht zu machen, indem ich ihm noch selbst ein Stichwort dazu gebe. Aber wenn Sie mir nicht glauben wollen: probieren Sie es doch mal aus." Das war nun freilich ein Stichwort. Am nächsten Morgen hatte der Senat seine regelmäßige Sitzung. Der Wachtmeister kam ins Beratungszimmer, wo wir uns versammelten, und berichtete, der ganze Zuhörerraum sitze voll. Das war sehr ungewöhnlich; normalerweise kam jahraus, jahrein keine Katz. Ich erzählte also meinen Gespielen von der Auseinandersetzung im Hörsaal, und dann gingen wir hinaus. Richtig:

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da saßen meine lieben Hörer, oder doch dreißig oder vierzig von ihnen saßen wie festgemauert und keiner stand auf. D e r Bundesanwalt war aufgestanden, die Protokollführerin, der Wachtmeister, und wir blieben stehen. Ich sah meine Hörer amüsiert an, auch meine Kollegen konnten sich das Lächeln nicht verkneifen - und dann rappelten sich in der ersten Reihe des Zuhörerraums zwei Kerle zögernd in die H ö h e , andere folgten, schließlich stand die ganze Gesellschaft mit etwas verlegenen Gesichtern. Dann sagte ich mit freundlichem Gesicht und verbindlichem T o n : „Aber behalten Sie doch Platz", und ließ die erste Sache aufrufen. Nach der ersten Sache machte ich fünf Minuten Pause, damit die Ärmsten mit Anstand wieder fortgehen konnten. Sie hatten ihre Zeit ja schließlich nicht gestohlen, und ziemlich langweilig muß es bei uns für sie ohne Aktenkenntnis auch gewesen sein. D e r Würde des Gerichts hoffe ich nicht geschadet zu haben.

Der Umgangston an der Universität wurde gegen Mitte der sechziger Jahre nicht besser. Einer der Ordinarien für Strafrecht sprach mich darauf an, ob ich in den Vorlesungen auch hinreichend auf meine Sicherheit bedacht sei. Dabei zeigte er mir verstohlen, daß er in der Hosentasche eine Fahrradkette bei sich trug. Ich sagte: „Damit ist mir nicht gedient. Ich bin nicht so stämmig wie Sie. Bisher habe ich mich immer noch auf meine Schnauze verlassen können." Eines schönen Tages glaubte ich, jetzt sei es so weit. Als ich meinen Mantel zur Garderobe brachte, sagte die Garderobenfrau: „Behalten Sie ihn nur gleich an, Herr Professor, heute können Sie nicht lesen." - „Warum denn nicht?" - „Ja, sehen Sie denn nicht? Alle Türen zu den Hörsälen sind ausgehängt." - „Das macht mir nichts aus, ich brauche die Türen nicht zum Lesen." - In meinem Hörsaal saß, trotz der ausgehängten Tür, ein Häuflein Unentwegter. Ich fing also getrost mit meiner Vorlesung an, ohne Bemerkungen über die fehlende T ü r zu machen. Draußen herrschte ein ziemliches Auf und A b von Aufgeregten, Neugierigen und Störenfrieden. Ein Teil von ihnen schaute, trat auch einen Augenblick herein, um sich zu überzeugen, was da getrieben wurde. Vielleicht dachten sie, ich hielte Hetzreden gegen das Rektorat. U n d immer blieb ein Teil dieser „Laufkundschaft" drinnen. Zum Schluß hatte ich für mein Strafprozeßrecht ein so volles Haus wie noch nie. Ein anderes Mal - die Türen waren wieder da - hatte ich gerade mit dem schönsten Vorlesen angefangen, als plötzlich die T ü r aufgerissen wurde. Ein wilder Trupp strömte herein, kein bekanntes Gesicht - das waren keine Juristen, waren es überhaupt Studenten? „Die Vorlesung ist umfunktioniert, es wird diskutiert über das Thema: Rektoratsverfassung oder Präsidialverfassung an der Universität?" - Damit machten sich die

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Neuankömmlinge zwischen meinen Hörern breit und richteten sich offensichtlich auf eine tumultuarische Diskussion ein. Sie waren die überwältigende Mehrheit. Es war ersichtlich für mich Zeit, von der „Schnauze" Gebrauch zu machen, deren ich mich gegenüber meinem Kollegen so gerühmt hatte. Ich bemühte mich, schnell, ohne Unterbrechung, freundlich und laut zu sprechen. „Meine Damen und Herren, ich würde Ihnen ja gerne gefällig sein, aber für Ihr Thema habe ich keine venia legendi. Außerdem haben die zuerst erschienenen Hörer ein Recht darauf, daß ich über das angekündigte Thema spreche. Es trifft sich glücklich, daß dieses Thema ebenfalls aktuell und für Sie, gerade für Sie, von großem praktischem Interesse ist. Das Thema sind die Voraussetzungen des Haftbefehls. In Zeiten wie diesen kann es Menschen wie Ihnen und mir jederzeit ganz überraschend passieren, daß sie plötzlich festgenommen werden und in Untersuchungshaft geraten. Eine der Voraussetzungen dafür ist, daß man in den Verdacht einer Straftat geraten ist. Das geht schneller, als Sie vielleicht denken. Zum Beispiel hat es schon Amtsgerichte gegeben, die eine Nötigung oder einen Hausfriedensbruch darin gesehen haben, wenn Studenten oder gar NichtStudenten in eine fremde Vorlesung eingedrungen sind und versucht haben, deren Thema „umzufunktionieren". Bitte keine Aufregung. Solange ich Ihnen bestätigen kann, daß wir nur vom Haftrecht gesprochen haben, sind Sie ganz sicher. Nun zu den weiteren Voraussetzungen. . . " . Inzwischen war der geeignete Augenblick zum „Umfunktionieren" vorbei. Ich sah meinen legitimen Hörern an, daß sie an Selbstsicherheit gewonnen hatten.

In den sechziger Jahren waren die Engländer auf den unenglischen Gedanken gekommen, ihr Strafprozeßrecht dem kontinentalen Vorbild anzupassen. Wie macht man so etwas? Man errichtet eine Kommission und beauftragt sie mit einem Entwurf. Bei uns wäre das Justizministerium zuständig; aber so etwas gibt es in England nicht. Für das Recht hat man die Richter, für Ausgaben das Schatzministerium. Für wichtige Änderungen braucht man eine Kommission, mit deren Vorschlägen man vor das Parlament treten kann. Das Recht ist Richterrecht; also beruft man in eine solche Kommission Richter. Soweit sie nicht sachkundig sind, müssen sie sich sachkundig machen. Also laden sie ausländische Richter zu Gesprächen ein. Der erste war ein Franzose, der zweite war ich. In London angekommen, machte ich dem Vorsitzenden der Kommission meinen Besuch. Es war ein Richter des High Court, Mr. Justice (Sir Edward) Lawton. Er sagte: „Leider habe ich morgen keine Zeit für Sie, weil ich Sitzung habe. Was wollen Sie machen: wollen Sie sich die Stadt

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ansehen, wollen Sie einen Strafprozeß anhören, oder wollen Sie in meine Sitzung mitkommen? Ich habe einen Zivilprozeß." Ich sagte: „Die Stadt kenne ich schon ein bißchen, ich war schon öfter hier, einmal acht Wochen; Strafprozesse habe ich zu Hause genug; wenn ich darf, komme ich mit Ihnen." - „Gut, dann finden Sie sich morgen gegen zehn hier in meinem Dienstzimmer ein." Vielleicht wird dem Leser auffallen, daß der Vorsitzende einer Kommission zur Reform des Strafverfahrens gerade mit einem Zivilprozeß beschäftigt war. Aber man vermeidet es in England überhaupt, daß sich Richter auf einzelne Rechtsgebiete, und gar auf das Strafrecht, spezialisieren. Daß jemand - wie der Verfasser - sich jahrzehntelang so gut wie ausschließlich mit Strafrecht beschäftigte, wäre dort ganz undenkbar. Unser Strafverfahren freilich setzt diese Spezialisierung voraus. Schon deshalb - und das habe ich meinen freundlichen Gastgebern von Anfang an gesagt - halte ich es nicht für einen Exportartikel. Am nächsten Morgen kam ich gerade dazu, wie Judge Lawton von seinem Sekretär eingekleidet wurde. Die englischen Richter tragen Roben, die von hinten zugeschnallt werden - von den Perücken gar nicht zu reden. Dann erschien ein Konstabier mit einem übermannslangen Stock, den er bei jedem zweiten Schritt würdevoll auf den Boden zu stoßen hat. So ging es im Gänsemarsch zum Sitzungssaal: vorweg der Konstabier, hinter ihm der Richter, am Schluß der Sekretär. Ich wurde hinter dem Richter und vor dem Sekretär in diesen Zug eingereiht. Ich fühlte mich nicht wenig beklommen, schon weil ich wußte, daß ich auf diese Weise niemals dahin kommen würde, wohin ich gehörte, nämlich in den Zuhörerraum; denn der Richter sitzt im High Court ein ganzes Stockwerk höher als Anwälte, Prozeßparteien und Zuhörer. Wenn, wie zu erwarten, der Zuhörerraum bis auf den letzten Platz gefüllt war, würde ich dort auch kaum einen Platz bekommen, selbst wenn es mir gelingen sollte, in dem Gewirr von Gängen und Treppen den richtigen Eingang zu dem richtigen Sitzungssaal zu finden. Aber das alles löste sich auf sehr einfache Weise. Vor uns öffnete sich eine Tür, vor uns stand nicht nur der eine Sessel des Richters, sondern daneben noch ein zweiter ganz gleicher Sessel, ebenso bequem, weiß lackiert, rot gepolstert, und da wurde ich hineinkomplimentiert. Judge Lawton eröffnete die Sitzung und fügte hinzu: „Heute sitzt mit mir zu Gericht (!) ein deutscher Richter, den wir hierher eingeladen haben, um einige Auskünfte über das deutsche Recht von ihm zu bekommen. Ich muß deshalb die Herren Anwälte bitten, sich rechte Mühe zu geben, damit er einen möglichst guten Eindruck von der englischen Justiz mit nach Hause nimmt." - Darauf erhob sich der älteste anwesende Anwalt, begrüßte mich äußerst höflich und fügte dann, zu Lawton gewandt, hinzu: „Was den guten Eindruck von der englischen Justiz betrifft, so

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wünschte ich, Euer Lordschaft stünde in meinen Schuhen." Höfliches Verneigen allerseits, und dann konnte der Prozeß beginnen, oder richtiger, fortgesetzt werden; es war ja schon der dritte Verhandlungstag. Dieser kleine Auftritt machte mich nicht wenig befangen. Zu Hause war ich damals Vorsitzender eines Strafsenats beim Bundesgerichtshof, stand also wohl, soweit sich das überhaupt vergleichen läßt, dem Judge Lawton im Dienstrang nicht nach; aber wie hätte ich diese Art von Höflichkeit erwidern können, wenn er mich einmal besucht hätte? Ich konnte ihn doch nicht in eine öffentliche Sitzung meines Senats mit eingliedern! Wir deutschen Richter sind eben so viel weniger souverän als die englischen. Der Prozeß betraf eine Schadensersatzforderung eines Patienten gegen einen Psychiater. Der Kläger hatte den Beklagten in dessen Praxis aufgesucht, dieser hatte ihn aufgefordert, sich auf die Couch zu legen, und war nach kurzem Gespräch zu der Meinung gekommen, nichts sei dem Patienten fürs erste so nützlich und notwendig wie eine Tasse Tee. Deshalb ging er hinaus, um diese Tasse Tee zu besorgen; aber als er wieder zurückkam, war der Patient, unruhig geworden, von der Couch gefallen und hatte sich irgend etwas gebrochen. Ich weiß nicht, was an den ersten beiden Prozeßtagen erörtert worden war. Ich nehme an, daß der Anwalt des Klägers die Klage und der Anwalt des Beklagten die Klageerwiderung vorgetragen hatte. Jedenfalls war jetzt ein Stück der Beweisaufnahme an der Reihe. Erster Zeuge war der Sachverständige (expert witness) des Klägers. Der Unterschied zwischen einem Sachverständigen und einem Zeugen ist etwas anders als in Deutschland. In England sind sie alle Zeugen; und wen man davon als Sachverständigen (expert witness) vernommen haben will, dessen Sachkunde muß man erst einmal darlegen. Und was wir „sachverständige Zeugen" nennen, gibt es dort überhaupt nicht. Der jetzt vernommene Mann war offenbar der Psychiater, der den Kläger zu dieser Klage angeregt hatte. Erstens machte er einen befangenen Eindruck, zweitens drückte er sich nicht gemeinverständlich genug aus. Seine Darstellung strotzte von Fachausdrücken und Fremdwörtern. Dadurch versuchte er anscheinend überlegen zu wirken. Damit kommt man vor englischen Gerichten nicht an. Die englischen Richter lassen sich die Verantwortung nicht abnehmen. Sie haben es gern, wenn der Gegenanwalt einen solchen Mann in Verlegenheit bringt, und darin erwies sich der Anwalt des beklagten Psychiaters als Meister, sobald er mit dem Kreuzverhör an der Reihe war. Einen solchen Sachverständigen nennen die Engländer einen „schlechten Zeugen". Ein guter Zeuge war dagegen der Beklagte. Jawohl, Zeuge ist in England auch der Beklagte (auch der Kläger oder, in Strafprozessen, der Angeklagte), wenn sein Anwalt ihn benennt. Als Zeuge muß er jede

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Frage beantworten - und er muß seine ganze Aussage beschwören; wenn sein Anwalt ihn nicht benennt, hat niemand ihn etwas zu fragen, bis auf die Frage: „Sie sind schuldig oder unschuldig?" Nun, dieser Mann sagte aus, kurz, präzise und schlagfertig. Der Gegenanwalt suchte ihn in die Enge zu treiben: „Ich will von Ihnen auf die Minute genau wissen, wie lange Sie Ihren Patienten allein gelassen haben?" - „Auf die Minute genau solange wie man braucht, um eine Tasse Tee zu machen." Der Richter machte eine geräumige Mittagspause, um mich zum Mittagessen einzuladen. Unterwegs fragte er mich: „Wie würden Sie denn das nach Deutschem Recht entscheiden?" - Ich sagte: „Nach Deutschem Recht müßte der Kläger Fahrlässigkeit beweisen." — „Ja", sagte der Richter, „das ist bei uns ebenso. Was meinen Sie denn nun, hat er sie denn bewiesen?" Ich antwortete: „Nun, heute nicht." - „Nein", sagte Lawton, „heute nicht, und gestern und vorgestern auch nicht, und morgen und übermorgen auch nicht." Ein paar Jahre später habe ich noch einmal im Ausland „zu Gericht gesessen", nämlich in Listowel in Irland. Das ist ein früher berühmter Ort, durch seine „Einschienenbahn" nach Ballybunion an der irischen Atlantikküste. Als sie fertig war, stellte sich heraus, daß sie mit ihrer einen Schiene zu sehr schwankte, so daß man rechts und links von der einen Schiene noch eine zweite und dritte Schiene errichtete. Die eine Schiene war oben in der Mitte, die beiden Kessel der Lokomotive und die jeweils zwei Abteile jedes Wagens hingen rechts und links auf die beiden Seitenschienen herunter. Ich habe die Bahn nicht mehr gesehen, man zeigte nur noch Abbildungen von ihr. Nun, in Listowel und Ballybunion spricht man heute noch von diesem einmaligen Wunder der Technik. Der Richter von Listowel war der verkörperte gesunde Menschenverstand. Die erste Sache wurde aufgerufen, Mrs. X versus Mrs. Y. Die Klägerin trug mit höchster Entrüstung vor, Mrs. Y habe zu ihr gesagt, sie sei ein „blank-blank so-and-so". Alles war sich einig, daß sie sich gewiß nicht so ausgedrückt hatte, sondern ganz anders; wahrscheinlich „bloody bastard". Aber sie, Mrs. X , war viel zu fein, vornehm und wohlerzogen, um vor offenem Gericht derartige Ausdrücke zu wiederholen; und Mrs. Y wiederum hatte ein viel zu schlechtes Gewissen, um den kleinen Unterschied richtigzustellen. Sie verlegte sich aufs Bestrebten, und das war schließlich schon verdächtig genug; als Verteidiger hätte ich geltend zu machen gesucht, warum solle man eigentlich nicht „blank-blank so-and-so" zu der feinen Mrs. X sagen, so schlimm sei das doch gar nicht - und sei es bloß, um sie aus ihrer Reserve herauszulokken. Vielleicht wäre dann Mrs. X die erste gewesen, die vor Gericht „bloody bastard" gesagt hätte. Aber sie hatte ein halbes Dutzend Zeugen, die alle unter ihrem Eide die Sache mit dem „blank-blank so-

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and-so" bestätigten. Der Richter wird sich sein Teil gedacht haben, jedenfalls traf er eine weise Entscheidung. Er sah auf seinen Kalender und auf seine Armbanduhr, stellte fest: „Es ist jetzt Dienstag, der 9. August, genau 10.23 Uhr." Dann fuhr er fort: „Ich lade Sie auf genau 10.23 Uhr übers Jahr wieder hierher vor Gericht. Bis dahin verpflichte ich Sie, Frieden miteinander zu halten. Insbesondere darf keine von Ihnen zu der anderen sagen:,blank-blank so-and-so' - oder sonst irgend etwas in der Art." Mrs. X und Mrs. Y zogen ab, beide stark verknurrt, aber - friedlich. Die nächsten waren eine Gruppe von tinkers. Tinkers nennt man Leute, die „nach Zigeunerart durchs Land ziehen", mit einem typischen großen Planwagen, davor einem kleinen Pferd, das den Wagen zieht, und davor einem noch kleineren Mann, der das Pferd zieht. So begegnet man ihnen überall im Lande; es müssen weder Zigeuner noch richtige Kesselflicker (tinker) sein, es kann sich auch um inländische oder ausländische, ζ. B. deutsche Touristen handeln. Nun, eine Tinkergruppe stand jetzt vor meinem Dorfrichter, beschuldigt, eine Vielzahl von Diebstählen begangen zu haben. Er setzte sich in Positur und verkündete: „Ehe ich mit der Verhandlung gegen Sie beginne, muß ich Sie über Ihre Rechte belehren. Sie können verlangen, statt von mir von Angehörigen des Volkes abgeurteilt zu werden. Was wollen Sie wählen?" Nach kurzem Volksgemurmel wählten sie das Schwurgericht. Darauf wurden sie erst einmal in Untersuchungshaft gebracht. Etwas verblüfft fragte ich den Richter: „Ja, stehen sie sich denn dabei besser?" - „Nein", sagte er, „die kriegen da ungefähr das Sechsfache." - „Ja, aber w a r u m . . . ? " , fing ich an. - „Die sind eben dumm", antwortete er. „Stellen Sie sich mal vor, die kommen jetzt genau vor die Sorte Leute, die sie bestohlen haben; da haben sie doch keinen gnädigen Gott."

VI. Verzeichnis aller Veröffentlichungen zu Lebzeiten

Verzeichnis der Schriften von Werner Sarstedt 1932 Nulla poena sine lege. In: Der Referendar, Jg. 6 (1932), S. 167-170. 1948 Presse und Justiz. Schriftenreihe Recht und Zeit, Heft 8, Bleckede 1948. 1949 Sicherung der Persönlichkeit gegenüber polizeilichen Eingriffsrechten in der Demokratie. In: Die Polizei, Jg. 2 (1949), S. 161-163. 1952 Betrug durch Amtserschleichung. Juristische Rundschau 1952, S. 308-309. 1953 Die Revision in Strafsachen. - Das Recht des Revisionsverfahrens in Strafsachen für den praktischen Gebrauch, bearbeitet von Kurt Gage, Kammergerichtsrat. 2., neubearb. Aufl., Essen 1953. 1954 Die Revision in Strafsachen. - Das Recht des Revisionsverfahrens in Strafsachen für den praktischen Gebrauch, bearbeitet von Kurt Gage, Kammergerichtsrat. 3., neubearb. Aufl., Essen 1954. Anmerkung zu BayObLG vom 5.8.1953, RevReg. 1 St 63/53. Juristische Rundschau 1954, S. 114. Anmerkung zu BGH vom 13.11.1953, 5 StR 496/53 (BGHSt. Bd. 5, S. I l l = NJW 1954, S. 1127). Lindenmaier/Möhring Nr. 30 zu §154 StGB. Anmerkung zu KG vom 6.1.1954, 1 Ss 427/53. Juristische Rundschau 1954, S. 232. Anmerkung zu KG vom 20.1.1954, 1 a Vs 22/53. Juristische Rundschau 1954, S. 192. Anmerkung zu BGH vom 6.4.1954, 5 StR 89/54 (BGHSt. Bd. 6, S. 117 = NJW 1954, S. 1210). Lindenmaier/Möhring Nr.2 zu §45 GVG. Anmerkung zu BGH vom 18.5.1954, 5 StR 653/53 (BGHSt. Bd. 6, S. 141 = NJW 1954, S. 1497). Lindenmaier/Möhring Nr. 6 zu §249 StPO. Anmerkung zu KG vom 20.5.1954, (2) 1 Ss 139/54 (6/54). Juristische Rundschau 1954, S.272. Anmerkung zu KG vom 9.6.1954, (1) 1 Ss 281/54 (328/54). Juristische Rundschau 1954, S. 391. Anmerkung zu KG vom 16.6.1954, (1) 1 Ss 227/54 (203/54). Juristische Rundschau 1954, S. 431. Anmerkung zu BGH vom 29.6.1954, 5 StR 207/54 (BGHSt. Bd. 6, S. 199 = NJW 1954, S. 1415). Lindenmaier/Möhring Nr. 15 zu § 140 StPO. Anmerkung zu BGH vom 14.7.1954, 5 StR 324/54 (BGHSt. Bd. 6, S.206 = NJW 1954, S. 1377 = JZ 1954, S. 709). Lindenmaier/Möhring Nr. 1 zu §59 JGG.

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Verzeichnis aller Veröffentlichungen zu Lebzeiten

Anmerkung zu KG vom 6.10.1954, 1 Ss 318/53 (B) 400/53. Juristische Rundschau 1954, S.471. 1955 Bindung des Vorderrichters (§ 358 Abs. 1 StPO) trotz Verletzung der Vorlagepflicht (§ 121 Abs. 2 GVG) durch das Revisionsgericht. Neue Juristische Wochenschrift 1955, S. 1629-1630. Anmerkung zu BayObLG vom 21.12.1954, 2 St 711/1954. Juristische Rundschau 1955, S. 152. Anmerkung zu O L G Hamburg vom 23.3.1955, Ss 2/55. Juristische Rundschau 1955, S. 233. Anmerkung zu BGH vom 6.4.1955, 5 StR 471/54 (BGHSt. Bd. 7, S.314 = N J W 1955, S. 997). Lindenmaier/Möhring Nr. 10 zu § 121 GVG. Anmerkung zu KG vom 23.5.1955, 1 Ord AR 30/55, 2 Ws 43/55. Juristische Rundschau 1955, S. 351. Anmerkung zu KG vom 26.5.1955, 2 Vs 10/55. Juristische Rundschau 1955, S.311. Anmerkung zu O L G Hamburg vom 15.6.1955, Ss 53/55. Juristische Rundschau 1955, S. 433. Anmerkung zu B G H vom 8.2.1955, 5 StR 561/54 (BGHSt. Bd. 7, S.250 = N J W 1955, S. 680). Lindenmaier/Möhring zu § 338 Nr. 1 StPO. Anmerkung zu B G H vom 2.11.1954, 5 StR 492/54 (BGHSt. Bd. 7, S.26 = N J W 1955, S.273 = J R 1955, S. 104 = J Z 1955, S.219 = MDR 1955, S. 180). Lindenmaier/Möhring Nr. 2 zu §338 Nr. 4 StPO. Anmerkung zu B G H vom 23.11.1954, 5 StR 301/54 (NJW 1955, S. 191). Lindenmaier/ Möhring Nr. 7 zu §254 StPO. Anmerkung zu B G H vom 30.11.1954, 5 StR 280/54 (BGHSt. Bd. 7, S. 75 = N J W 1955, S.510). Lindenmaier/Möhring Nr. 17 zu §267 Abs. 1 StPO. Anmerkung zu BayObLG vom 3.9.1954, RReg. 2 St 668/54. Juristische Rundschau 1955, S. 29. 1956 In welcher Weise empfiehlt es sich, die Grenzen des strafrichterlichen Ermessens im künftigen Strafgesetzbuch zu regeln (Ermessensfreiheit oder gesetzliche Bindung des Richters bei der Verhängung der Strafe und sonstiger Unrechtsfolgen)? - Referat Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentages, Band II/D: Zweite Abteilung, S . D 2 9 - D 5 3 , Berlin 1956. Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal. Juristische Rundschau 1956, S. 121. Vorwort zu Blaese: Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 1956. Anmerkung zu K G vom 5.12.1955, 2 Ws 257/55 (1 Ss 516/55). Juristische Rundschau 1956, S. 112. Anmerkung zu K G vom 23.2.1956, (2) 1 Ss 352/55 (223/55). Juristische Rundschau 1956, S. 310. Anmerkung zu Hans. O L G Hamburg vom 29.2.1956, Ss 6/56. Juristische Rundschau 1956, S. 274. 1957 Rundfunkaufnahmen im Gerichtssaal - Referat - Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat. Bericht über eine Arbeitstagung am 16./ 17.11.1956 in Weinheim a. d. B., Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten. Mannheim 1957. Die Überlastung des Richters. Deutsche Richterzeitung 1957, S. 60-61.

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Anmerkung zu KG vom 27.9.1956, (27) 1 Ss 164/56 (106/56). Juristische Rundschau 1957, S. 272. Die Kontrolle der Ermessensfreiheit des Richters bei der Festsetzung von Strafen und sichernden Maßregeln. Deutsche Beiträge zum VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen vom 26. September bis 2. Oktober 1957, S. 133-147.

1958 Anmerkung zu KG vom 15.8.1957, (2) 1 Ss 185/57 (141/57). Juristische Rundschau 1958, S.270. Anmerkung zu OLG Köln vom 3.1.1958, Ss 434/57. Juristische Rundschau 1958, S.351. Anmerkung zu O L G Neustadt a.d.W. vom 26.1.1958, Ss 2/58. Juristische Rundschau 1958, S. 352. Anmerkung zu BGH, 5 StR 219/58 vom 20.6.1958 (BGHSt. Bd. 11, S.361 = NJW 1958, S. 1309 = MDR 1958, S.785). Lindenmaier/Möhring Nr. 1 zu §359 StPO. Anmerkung zu BGH vom 5.8.1958, 5 StR 160/58 (NJW 1958, S. 1692). Lindenmaier/ Möhring Nr. 12 zu §63 GVG. Von der Höflichkeit des Richters. Die Ehrerbietung des Bürgers gilt seinem Amt. In: Der Tagesspiegel (Berlin) vom l.Juni 1958, S. 12. Kommentierung zu §§374—406d StPO. In: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 20. Auflage, Berlin 1958.

1959 Anmerkung zu BayObLG vom 2.10.1958, RReg. 1 St 455a-b/1958. Juristische Rundschau 1959, S. 69. Anmerkung zu KG vom 15.1.1958, (1) 1 Ss 386/57 (208/57). Juristische Rundschau 1959, S. 106. Anmerkung zu BGH vom 28.10.1958, 5 StR 419/58 (BGHSt. Bd. 12, S. 94 = NJW 1959, S. 56 = MDR 1959, S.139). Lindenmaier/Möhring Nr. 24 zu §358 StPO. Anmerkung zu O L G Neustadt a.d.W. vom 29.10.1958, Ss 119/58. Juristische Rundschau 1959, S. 72. Besprechung zu Karl Heinrich Bode: Die Entscheidung des Revisionsgerichts in der Sache selbst, Berlin 1958. Juristische Rundschau 1959, S. 119. Urteilsschelte de lege lata und de lege ferenda. In: Mitteilungsblatt des Vereins der Richter und Staatsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen e. V., Jg. 1959, Nr. 3 (Dezember), S. 8-13. Revisionsstatistik und Richterbeurteilung. In: Deutsche Richterzeitung 1959, S. 138-139.

1960 Uber offensichtlich unbegründete Revisionen. Juristische Rundschau 1960, S. 1. Anmerkung zu BayObLG vom 18.9.1959, RReg. 1 St 503/59. Juristische Rundschau 1960, S. 146. Strafverfahren. Deutsche Richterzeitung 1960, S. 349-352. Urteilsschelte liegt im Interesse der Rechtsprechung. Über das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen unabhängiger Justiz und unabhängiger Presse. In: Der Journalist, Jg. I960, S. 2-9. Der Staatsanwalt - nicht allmächtig. Auch der Beschuldigte hat Rechte - Berliner Juristen über die Änderung der Strafprozeßordnung. In: Berliner Morgenpost vom 26.Juni 1960, S.10.

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1961 Besprechung zu Joachim Ganske: Der Begriff des Nachteils bei den strafprozessualen Verschärfungsverboten, Berlin 1961. In: Juristenzeitung 1961, S. 103. Anmerkung zu BayObLG vom 23.2.1960, RevReg. 2 St 763/1959. Juristische Rundschau 1961, S.225. Anmerkung zu KG vom 12.12.1960, 3 Vs 3/60. Juristische Rundschau 1961, S. 106. 1962 Die Revision in Strafsachen. 4., verbesserte und wesentlich erweiterte Auflage des von Kammergerichtsrat Kurt Gage begonnenen Werkes. Essen 1962. Der Strafrechtler und der psychiatrische Sachverständige. Die Justiz 1962, S. 110-119. §398 I StPO in der Praxis. Juristenzeitung 1962, S. 775. Gegen Hilfsbeweisanträge. In: Berliner Anwaltsblatt, Jg. 11 (1962), S. 90f. 1963 Besprechung zu Hans-Jürgen Bruns: Teilrechtskraft und innerprozessuale Bindungswirkung des Strafurteils, Köln 1961. Neue Juristische Wochenschrift 1963, S. 753. Reform der Untersuchungshaft. Die Justiz 1963, S. 184. Gegen die Todesstrafe. In: Dokumentation über die Todesstrafe (Hrsg. Armand Mergen), S. 541-542. Darmstadt 1963. Die Revision in Strafsachen. - Eine Erwiderung auf Frank (Anwaltsblatt 1963, S. 163), Anwaltsblatt 1963, S.327. Kommentierung zu §§72-93 StPO. In: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 21. Auflage, l.Band, Berlin 1963. Der Ubersendungsbericht zur Revision in Strafsachen. In: RpflBl. 1963, H . 6 , S. 81-84. 1964 Gebundene Staatsanwaltschaft? Neue Juristische Wochenschrift 1964, S. 1752-1758. Besprechung zu Ursula Panhuysen: Die Untersuchung des Zeugen auf seine Glaubwürdigkeit, Berlin 1964. In: Juristische Rundschau 1964, S.276. Besprechung zu Schwarz!Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 24. Aufl. 1963. In: Neue Juristische Wochenschrift 1964, S. 1664. Der Beweisantrag im Strafprozeß. Deutsches Autorecht 1964, S. 307-314. Der Richter und die Presse. In: DRiZ 1964, 43. 1965 Richterliche Aufklärungspflicht und die Rüge ihrer Verletzung. Kraftfahrt- und Verkehrsrecht 1965, S. 50-69. Verspätete Absetzung von Strafurteilen. Juristenzeitung 1965, S. 238-242. Anmerkung zu BayObLG vom 17.11.1964, RReg. 2 a 638/63. Juristenzeitung 1965, S.292. Anmerkung zu BayObLG vom 15.12.1964, RReg. 2 a 496/64. Juristenzeitung 1965, S. 372. Zeugnisverweigerungsrecht nicht Sache der Länder. Zeitschriftenverlag und Zeitungsverlag. Ein Organ für Presserecht, 1965, S. 1170. Kommentierung zu §§374—406d StPO. In: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 21. Auflage, 2. Band, Berlin 1965.

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1966 Anmerkung zu BVerfG vom 3.3.1966, 2 BvE 2/64. Juristenzeitung 1966, S. 314-316. Geleitwort zu Harold Percy Romberg: Die Richter Ihrer Majestät. 2. Aufl., Stuttgart 1966. Beweisverbote im Strafprozeß - Referat - Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band II Teil F, S . F 8 - F 2 9 . Essen 1966. Konkurrenz von Revisionsrügen. In: Festschrift für Hellmuth Mayer, S. 529-542. Berlin 1966. Im Paragraphenturm. Rezension zu Xaver Berra: Streitschrift zur Entideologisierung der Justiz. Deutsche Richterzeitung 1966, S. 337-339. 1967 Besprechung zu Eb. Schmidt: Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Nachträge und Ergänzungen zu Teil II, 1. Lieferung. Juristenzeitung 1967, S.229. Der Vorsitzende des Kollegialgerichts. Juristen-Jahrbuch Bd. 8, 1967-1968, S. 104-119. 1968 Beweisregeln im Strafprozeß. In: Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, S. 171-186. Berlin 1968. Wandlungen des Strafrechts. In: Ehrengabe für Bruno Heusinger, S. 342-354, 1968. Auswahl und Leitung des Sachverständigen im Strafprozeß (§§73, 78 StPO). Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 177-182. Nochmals: Die verspätete Verfahrensrüge. Neue Juristische Wochenschrift 1968, S. 925-927. Was erwartet die Praxis von einem neuen Strafrecht? In: Justiz im Wandel der Gesellschaft (Heft 36, Schriftenreihe Kirche und Gesellschaft - Beiträge zur Sozialethik). Stuttgart 1968. Werner Sarstedt über Hermann Weinkauff: „Deutsche Justiz und Nationalsozialismus". Warum wir versagt haben. In: Der Spiegel 1968, Nr. 52, S. 134—136. 1969 Der forensische Beweiswert ärztlicher Befunde und naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden - Referat - In: Beiträge zur gerichtlichen Medizin Band XXV, S. 14-28, Wien 1969. Postglosse (zu der Glosse „Beratungsgeheimnis und Richterbildung", Juristenzeitung 1969, S. 33). Juristenzeitung 1969, S. 116. Anmerkung zu O L G Nürnberg vom 27.8.1968, Ws 366/68 und 367/68. Juristenzeitung 1969, S. 152. Vom Handwerk des Strafverteidigers (Rezension von Dahs, Handbuch des Strafverteidigers). In: Die Welt der Literatur, 13.2.1969. 1970 Die Angst und das Recht, Vortrag. In: Evangelische Zeitstimmen, S. 19-32, Hamburg 1970. Prozeß-Beobachter waren in Athen schon am zweiten Tag unerwünscht. Das Verfahren vor dem Militärgericht. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 7.4.1970, S. 3. 1971 Paulheinz Baldus f- Juristenzeitung 1971, S.287. Steht der Richter unter dem Druck der öffentlichen Meinung? Archiv für Presserecht 1971, S. 146-150.

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Geständnisse wurden durch Folter erzwungen. Amnesty-International-Beobachter berichten vom Prozeß der 161 in Marrakesch. In: Frankfurter Rundschau v. 25. August 1971, S. 14. Kommentierung zu §§72-93 StPO. In: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 22. Auflage, l.Band, Berlin/New York 1971. 1972 Fragen zur Rechtsbeugung. In: Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag, S. 427-444, Berlin 1972. 1973 Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts aus der Sicht der Strafrechtsprechung. In: Horstkotte/Kaiser/Sarstedt: Tendenzen in der Entwicklung des heutigen Strafrechts, Schriften der Evangelischen Akademie in Hessen und Nassau, Heft 103, S. 51-65. Frankfurt 1973. Prozeßbeobachter an Marokkos Militärtribunal. Nach Kenitra kam der deutsche Richter nicht. Die Behörden lassen sich nicht in die Karten sehen. Abgeschoben mit aller Höflichkeit. In: Frankfurter Rundschau v. 1. August 1973, S.8. 1974 Die Entscheidungsbegründung im deutschen strafgerichtlichen Verfahren. In: Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten und im Verfahren vor internationalen Gerichten, S. 83-99, Wien/New York 1974. 1977 Zur Reform der Revision in Strafsachen. In: Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag, S. 681-696, Berlin 1977. Mehr Mühe mit dem Rechtsstaat - Spiegel Essay - Der Spiegel 1977, Nr. 22, S. 54 und 55. Fragen des Sachverständigenbeweises zur Zurechnungsfähigkeit. In: Festschrift für Erich Schmidt-Leichner zum 65. Geburtstag, S. 171-183, München 1977. 1978 Empfiehlt es sich, das Rechtsmittelsystem in Strafsachen, insbesondere durch Einführung eines Einheitsrechtsmittels, grundlegend zu ändern? Sitzungsbericht L zum 52. Deutschen Juristentag, S. L 3 5 - L 4 9 , Wiesbaden 1978. Max Alsberg, ein deutscher Strafverteidiger. Anwaltsblatt 1978, S. 7-14. Die Situation des Strafprozesses: Richter, Strafverteidiger, Staatsanwalt. In: RichterRechtsanwalt-Staatsanwalt. Selbstverständnis und gegenseitiges Verständnis, Tagung vom 6. bis 8. Oktober 1978 in Bad Boll, Bad Boll 1978. 1979 Vorwort zu Barbara Just-Dahlmann:

Tagebuch einer Staatsanwältin. Stuttgart 1979. 1980

Nachwort zu Rudolf Gerhardt: Von Fall zu Fall - Notizen aus der Residenz des Rechts. Baden-Baden 1980.

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1981 Vom Richter zum Anwalt. In: Strafverteidiger, Jahrgang 1, Heft 1, Seite 42—46, Februar 1981. 1983 Die Revision in Strafsachen. 5. Auflage, neubearbeitet von Werner Sarstedt und Rainer Hamm, Berlin/New York 1983.