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German Pages 234 Year 2017
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1361
Rechtsgut als Verfassungsbegriff? Der Rekurs auf Güter im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Von
Sebastian Löffler
Duncker & Humblot · Berlin
SEBASTIAN LÖFFLER
Rechtsgut als Verfassungsbegriff?
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1361
Rechtsgut als Verfassungsbegriff? Der Rekurs auf Güter im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Von
Sebastian Löffler
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Wissenschaft ist stets Beziehung und Austausch, und auch das Entstehen der vorliegenden Qualifikationsschrift ist nicht unwesentlich den Beiträgen anderer geschuldet. So habe ich zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Horst Dreier für die Themenidee und in jeder Hinsicht wohlwollende Begleitung samt Aufnahme an seinem Lehrstuhl zu danken, Prof. Dr. Markus Ludwigs für die Übernahme und rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Gleichfalls dankbar bin ich für die Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes. Die andauernde Konzentration auf ein Themenfeld braucht Diskussionen – inner- wie außerhalb –, Korrektur und Anregung in den verschiedenen Phasen: Dank gilt Ozeni Athanasiadou, Thomas Dulle, PD Dr. Georg Eckert, Dr. Dr. Thomas Gleinser, Stephan Gräf, Sonja Günther, Dr. Sarah Honegg, Christian Krauße, Joona Nissinen, Dr. Lutz Ohlendorf, Julia Pieper und Prof. Dr. Thomas Wischmeyer. Für produktiven Austausch in allen Stadien der Entstehung danke ich Dr. David Kuch. München im Juni 2017
Sebastian Löffler
Inhaltsübersicht Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Teil A. B. C. D.
Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff Güterbegriffe außerhalb des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Güter im positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Offenheit des Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23 31 37 87
2. Teil A. B. C. D. E. F. G. H.
Rechtsgüter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rahmen der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgut und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgüter in weiteren Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Güter als Objekt von Schutz und Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Güter in der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . .
91 91 97 101 132 158 162 170 173
3. Teil
Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
A. Das Subjekt der Zwecksetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zielsetzung und Zielerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zwecksetzung durch Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrale Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 177 179 200 204 209
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgüter im Strafrecht und im Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zur Spezifizierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 15 19 21
1. Teil
Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
23
A. Güterbegriffe außerhalb des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Philosophie: Gegenstand des Strebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Substantivische, adjektivische und adverbiale Verwendung . . . . . . . . . 2. Moralischer und außermoralischer Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dissoziation begrifflicher und normativer Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzbereich zur Ökonomie: Güterverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirtschaftswissenschaft: Mittel der Bedürfnisbefriedigung . . . . . . . . . . . 1. Inferiorität und Verwandtschaft von Gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Privatgut, Gemeinschaftsgut, Klubgut und Allmende . . . . . . . . . . . . . . 3. Verschiedenheit rechtlicher und ökonomischer Perspektive . . . . . . . . .
23 23 24 25 27 27 27 28 29 30
B. Güter im positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutz von Rechtsordnung und Rechtsgütern im Polizeirecht . . . . . . . . . II. Rechtsgüter im Bürgerlichen Gesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgüter im BGB der Schuldrechtsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die herkömmliche Terminologie zu § 823 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . 3. Kein scharf konturierter Begriff im Bürgerlichen Recht . . . . . . . . . . .
31 32 34 34 35 36
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Elemente zur Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Birnbaum: Schutz von Gütern, nicht von Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Feuerbachsche Rechtsverletzungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sprachliche, logische und dogmatische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ablehnung des individualistischen Kontraktualismus . . . . . . . . . . . 2. Verbrechen, Rechtsgut und Interesse bei Binding und von Liszt . . . . . a) Bindings kollektivistisches Rechtsgut des Gesetzgebers . . . . . . . . . b) von Liszts Akzentverschiebung zum Lebensgut . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausgangspunkt bei Interesse oder Anerkennungsakt . . . . . . . . . . .
37 37 38 38 41 43 46 47 50 52
10 Inhaltsverzeichnis 3. Rechtsgut und ratio legis: neukantianische Strafrechtslehre . . . . . . . . . a) Neukantianismus in Philosophie und Rechtswissenschaft . . . . . . . b) Rechtsgut zwischen Tatbestand und Rechtswert . . . . . . . . . . . . . . . c) Normsatz- und Weltanschauungsrelativität des Rechtsguts . . . . . . . 4. Liberalismus als Vorwurf im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . a) Widerspruch zu Weltanschauung und Methode? . . . . . . . . . . . . . . . b) Verteidigung der ideologischen Kompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inhaltliche Offenheit des Rechtsgutskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Liberalität als Vorzug bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Liberalität unter anderen Vorzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsgutslehren der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung: politischer Inhalt und wechselnder Fokus . . . . . . . a) Explizite und implizite Rezeption außerrechtlicher Wertung . . . . . b) Wertkriterium, Wertungssubjekt und Wertungsakt . . . . . . . . . . . . . II. Gegenwart: dogmatischer und strafrechtstheoretischer Aspekt . . . . . . . . . 1. Vielfalt der Definitionen und Charakterisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zwei Grundvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strafrechtsdogmatische Variante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgutsorientierte Auslegung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgüter in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Praxis ohne Definitionsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Strafrechtstheoretische Variante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgutsdiskussion als Legitimationsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beispiel personale Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 54 55 58 59 59 62 64 65 65 67 70 70 71 73 73 75 77 77 79 80 81 81 84
D. Fazit: Offenheit des Rechtsgutsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Trennung von Begriff und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgüter als rechtlich relevante Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Geltungsindifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Folgen für die weitere Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87 87 88 89 89
2. Teil
Rechtsgüter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
A. Rahmen der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswahl und Einschränkung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Drei Hauptkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 91 91 92 94
B. Rechtsgut und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Häufige Erwähnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Geringer verfassungsrechtlicher Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Inhaltsverzeichnis11 C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzpflichten: De-Relationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgüter der einzelnen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kanonisierung: allgemeines Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weiche Hierarchisierung: Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG . . . . . . . 3. Hoher Rang: Schutzgut des Art. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wertung: Schutzgüter des Art. 5 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kunst als kommunikationsbezogenes Schutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schutzgüter des Art. 6 GG: Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Schutzgut und Inhalt der Vereinigungs- und Parteienfreiheit . . . . . . . 8. Schutzgut und Inhalt des Art. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Schutzgut des Art. 13 GG: Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Schutzgüter des Art. 14 GG: vermögenswerte Güter . . . . . . . . . . . . . 11. Anspruch auf politisches Asyl: Rechtsgutsgefahr . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Strukturen grundrechtlicher Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgüter auf verschiedenen Ebenen der Begründung . . . . . . . . . . . a) Unspezifischer Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spezifischer Gebrauch: subsumtionsnähere Ebene . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall Eigentumsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzgut und grundrechtlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrecht und Grundrechtsgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesamt- und Teilschutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzbereich und Inhalt als Schutzgutskonkretisierung . . . . . . . . 3. Institutionell-kollektive Seite der Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeinheit und Singularität auf begrifflicher Ebene . . . . . . . . . b) Formales Verständnis der Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prozessuale und mediale Abbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unspezifizität des begrifflich institutionellen Aspekts . . . . . . . . . . 4. Betonung der Singularität als Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nur prozessuale Bedeutung der Singularität als solcher . . . . . . . . . b) Lebensschutz: Singularität als Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Identität mit subjektiver Berechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Institutionell-individuelle Verschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gleiche Rechtsgüter auf verschiedener Normebene? . . . . . . . . . . . . . .
101 102 104 104 105 107 107 108 108 109 110 111 111 113 113 114 114 114 116 117 118 118 120 122 123 124 125 127 127 128 128 129 129 130 131
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einschränkung von Freiheitsrechten mit Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schranken von Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschränkung der persönlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Regelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung . . . . . . . . . . . . . . 4. Schranken der Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 133 133 134 134 136
12 Inhaltsverzeichnis a) Vielfalt der Güter der allgemeinen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiheitliche demokratische Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schranken der Versammlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schranken der Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Schranken der Rechte aus Art. 10 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Einschränkungen von Art. 12 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Güter in der Drei-Stufen-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsgüter und Gemeinschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Textbezug und funktionale Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politikabhängige und absolute Gemeinschaftsgüter . . . . . . . . . . . 9. Eingriff in das Eigentum, Inhaltsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einschränkung von Freiheitsrechten ohne Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schranken der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG . . . . . . . . . 2. Schranken der Rechte aus Art. 5 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schranken der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Andere Beschränkungen in Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtfertigung von Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgüter und Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abstrakt zur Grundrechtseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Strukturen der Rechtfertigungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nähe der Güter zum Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bezug zwischen Grundrechts- und Rechtfertigungsgut . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigungsgüter als Gemeinschaftsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeinheit der Güter und Drittwirkungskonstellation . . . . . . . . b) Grundrechtsträger Träger des Rechtfertigungsguts? . . . . . . . . . . . . c) Komponenten der freiheitlichen Grundordnung . . . . . . . . . . . . . . .
136 138 138 139 140 141 142 142 144 145 146 147 147 147 148 149 150 150 150 151 152 153 153 153 155 156 156 157 157
E. Rechtsgüter in weiteren Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freiheit und Gleichheit des Mandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gefahrenabwehr und Genehmigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsgüter in Art. 72 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prozessual: Weitergeltung und einstweiliger Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158 158 159 159 160 161 161
F. Verwandte Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgut und (Verfassungs-, Rechts-)Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gemeinschaftsgüter und Erwägungen des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsgut und Gemeinwohlbelang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gemeinschaftsgut und Gemeinschaftsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis: keine erheblichen Unterschiede im Gebrauch . . . . . . . . . . . . . .
162 162 164 167 168 170
Inhaltsverzeichnis13 G. Güter als Objekt von Schutz und Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 H. Zusammenfassung: Güter in der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . 173 3. Teil
Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
177
A. Das Subjekt der Zwecksetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 B. Zielsetzung und Zielerkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gesetzeszweck als zentraler Ort der Kritik am Inzest-Beschluss . . . . . . . 1. Sondervotum: wirkliche Zwecksetzung, Zweckklarheit . . . . . . . . . . . . 2. Rekonstruktion des Standpunkts der Senatsmehrheit . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine fundamentale Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unterschiedliche Zweckermittlung durch die Senate? . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kein Vorrang normtext-externer Zweckerkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . 1. Methode der Zweckrekonstruktion als Kern des Problems . . . . . . . . . 2. Begründungspflicht und normtext-externe Erkenntnisquellen . . . . . . . 3. Untergesetzliche Akte und der Vorrang empirischer Zwecke . . . . . . . . a) Zweckkontrolle untergesetzlicher Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . b) Zweckverfolgung und Ermessensfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweckverfolgung in planerischen Abwägungsvorgängen . . . . . . . . d) Zwischenbefund: tatsächlicher Zweck als Bezugspunkt . . . . . . . . . e) Fehlende Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit: kein Vorrang des Normtext-Externen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179 179 180 184 187 187 189 189 190 194 195 196 197 197 198 200
C. Zwecksetzung durch Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 I. „Objektives“ und „subjektives“ Auslegungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 II. „Objektive“ Zweckermittlung adäquat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität . . . . . . . . . . . . . . 204 Zentrale Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff I. Rechtsgüter im Strafrecht und im Verfassungsrecht Der juristische Begriff des Rechtsguts kann als gut eingeführt angesehen werden. Müsste man ihn exklusiv einem bestimmten Rechtsgebiet zuordnen, so fiele die unbefangene Entscheidung der Mehrheit der Juristen wohl auf das Strafrecht.1 Es entspricht beinahe einhellig geteilter Auffassung, das Strafrecht diene dem Rechtsgüterschutz.2 Damit zusammenhängend ist die Argumentation mit dem jeweils geschützten Rechtsgut in der Auslegung von Strafgesetzen ein bedeutsamer methodischer Ansatz.3 Ist das geschützte Rechtsgut eines Straftatbestands erst identifiziert, kann hierauf bei Beantwortung der Frage zurückgegriffen werden, ob ein bestimmtes Verhalten tatbestandsmäßig ist oder nicht. Beeinträchtigt es das geschützte Rechtsgut, spricht dies für die Bejahung, hat es keine hingegen nachteilige Auswirkung, so ist die Frage – vorbehaltlich anderer Anhaltspunkte und Grenzlinien der 1 Wenigstens anekdotische Evidenz legt nahe, dass dies nicht nur für Berufsjuristen gilt. Robert Musil hat in einer Episode seines Hauptwerks „Der Mann ohne Eigenschaften“ den Rechtsgutsbegriff im Bericht über den Prozess gegen den Frauenmörder Moosbrugger literarisch so verewigt: „Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen. Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. Die Genauigkeit zum Beispiel, mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen frei fliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsachen, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts. […]“ (2. Teil, Kapitel 62, S. 247 f.); vgl. zu Strafrecht und Psychiatrie in Musils Werk Müller-Dietz, FS Leferenz, S. 353 ff. (zum hiesigen Zitat S. 364). 2 Statt vieler Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar, Einleitung Rn. 26; Lagodny, Strafrecht, S. 21. Zu zahlreichen entsprechenden Formulierungen in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vgl. unten 2. Teil B. I. Fn. 25 (S. 98). 3 Hassemer, Theorie, S. 57–60; vgl. die Kommentierungen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches in Fischer, Strafgesetzbuch oder Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, die bei den einzelnen Straftatbeständen regelmäßig mit der Erörterung des geschützten Rechtsguts beginnen.
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Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff
Auslegung – zu verneinen. Das Rechtsgut als Interpretationstopos steht für eine Art der teleologischen Auslegung, die nach dem (Schutz-)Zweck einer Vorschrift fragt. Man hat den Rechtsgutsbegriff insofern treffend als „Ab breviatur des Zweckgedankens“4 bezeichnet. Interpretatorisch gewonnene Rechtsgüter sind zudem Gegenstand der Güterabwägung, wie sie zur Beurteilung der strafrechtlichen Rechtfertigung aus Gründen des Notstands nach § 34 S. 1 StGB stattzufinden hat. Endlich kommt es auch in der Konkurrenzlehre in bestimmten Konstellationen darauf an, den Schutz welcher Rechtsgüter eine Strafvorschrift bezweckt. In dieser dogmatischen Verwendung5 erschöpft sich der strafrechtliche Rechtsgutsbegriff jedoch nicht. Mittels postulierter inhaltlicher Mindestanforderungen an legitimerweise zu schützende Rechtsgüter wird Strafrechtskritik unter der Flagge des Rechtsgutsbegriffs betrieben6. Beiden Varianten des Gebrauchs ist gemein, dass eine bedeutungsmäßige Beziehung zwischen dem Inhalt einer rechtlichen Vorschrift und dem im konkreten Fall als Rechtsgut gefassten Gegenstand hergestellt wird. Das strafrechtliche Verbot des Diebstahls schützt das Rechtsgut Eigentum (und nicht das Leben), das Verbot des Totschlags das Leben (und nicht das Eigentum). Das Verbot des Beischlafs unter Verwandten schützt je nach Auffassung unter anderem die familiäre Ordnung7 oder gar kein legitimes Rechtsgut8. Die rechtsgutsbasierte Strafrechtskritik kann mit verschiedenen Ansprüchen auftreten.9 Ist sie rechtspolitisch ausgerichtet, so fordert sie die Anpassung des geltenden Strafrechts in solcher Art und Weise, dass im Ergebnis das Strafrechtssystem insgesamt und in seinen Einzelheiten ihrem kritischen Maßstab genügt. Dies ist die Ausrichtung, die jedenfalls die deutsche Rechtsgutslehre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend verfolgt hat und die heute noch verfolgt wird.10 Mit einem stärkeren normativen Anspruch kann aber auch ein hierarchisch übergeordneter, seinerseits rechtlicher Maßstab angelegt werden. Dieser kann sich auf Grundlagen vielfältiger Schattierungen stützen, wie es bei der Rechtsverletzungslehre, der Vorläufe4 Grünhut,
in: FG Reinhard Frank, S. 1 (8). unten 1. Teil C. III. (S. 77 ff.). 6 Dazu unten 1. Teil C. IV. (S. 81 ff.). An zeitgenössischen Äußerungen siehe nur Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rn. 7–9; Schünemann, Rechtsgüterschutzprinzip, S. 133 (insb. 154); Hefendehl, Angelpunkt, S. 119 (132). Zu dieser so genannten systemkritischen Konzeption vgl. Hassemer, Theorie, S. 19–25. 7 BVerfGE 120, 224 (243 f.). 8 s. nur Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (258); Fischer, Strafgesetzbuch, § 173 Rn. 3 ff. m. w. N. 9 Stuckenberg, GA 158 (2011), S. 653 (657). 10 Prototypisch Jäger, Rechtsgüterschutz. 5 Dazu
Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff17
rin11 der Rechtsgutslehre, als noch explizit naturrechtlicher Position der Fall war. In einer Rechtsordnung, die den Vorrang der Verfassung und einen hierarchischen Stufenbau des positiven Rechts zu ihren Grundstrukturen zählt, liegt es jedoch auch nahe, den rechtlich-normativen Anspruch aus ranghöherem positivem Recht, dem Verfassungsrecht zu beziehen. Möchte eine Rechtsgutslehre an der normativen Kraft des Grundgesetzes teilhaben, so muss sie die Begründungsleistung erbringen können, warum ihre inhaltlichen Anforderungen solche sind, die sich der Verfassung entnehmen lassen.12 Bei allen diesen auf den Rechtsgutsbegriff zentrierten Ansätzen sind die Fragen, was ein Rechtsgut sei und welche Eigenschaften den als Rechtsgut bezeichneten Gegenständen im (straf-)rechtlichen Zusammenhang zukommen, von großer Wichtigkeit und dementsprechend zum Gegenstand intensiver Diskussion geworden. Nun ist der Begriff des Rechtsguts keineswegs eine exklusiv der strafrechtlichen Materie vorbehaltene Erscheinung. Er begegnet vielmehr in zahlreichen rechtlichen Zusammenhängen. Unter anderem erscheinen Rechtsgüter, Schutzgüter und ähnliche Wortbildungen nicht eben selten in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Im Gegensatz zum Strafrecht fand und findet im Verfassungsrecht eine nur im Ansatz vergleichbare, explizite Diskussion des Rechtsgutsbegriffs nicht statt. Dies gilt schon für die Erörterung der Grenzen der Strafgewalt des Staates als verfassungsrechtliche Frage.13 Zwar ist nicht ganz selten in verfassungsrechtlichen Zusammenhängen von „Rechtsgütern“ die Rede; was der Begriff je bedeutet, wird jedoch kaum hinterfragt. Die Vermutung liegt nahe, dass sich in der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs in verschiedenen rechtlichen Zusammenhängen ähnliche Strukturen finden. So lässt sich beispielsweise ausgehend vom strafrechtlich-dogmatischen Rückgriff auf Rechtsgüter eine strukturelle Parallele im Verfassungsrecht ziehen. Die Interpretation von Normsätzen, verstanden als die Umsetzung eines sprachlichen Ausdrucks in Bedeutung und die wiederum sprach liche Darstellung dieser Bedeutung,14 beschäftigt die Rechtswissenschaft in 11 Feuerbach, Lehrbuch, §§ 8 f.; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 19, 34 f.; Sina, Dogmengeschichte, S. 9. Dazu unten 1. Teil C. I. 1. a) (S. 38 ff.). 12 Vgl. etwa die entsprechenden Ansätze der „personalen Rechtsgutslehre“ unten 1. Teil C. IV. 2. (S. 84 ff.). 13 Vgl. zu den tendenziell differierenden Sichtweisen von Vertretern des strafrechtlichen und des verfassungsrechtlichen Faches beispielhaft die Bewertung des InzestBeschlusses des BVerfG (E 120, 224) bei Hufen/Jahn, JuS 2008, S. 550 (552). Zur intensiven strafrechtlichen Kritik an der Entscheidung vgl. Roxin, StV 2009, S. 544 (544 mit Fn. 4). 14 Zur Erschließung von Informationsgehalt als Auslegung im engeren Sinne Röhl/ Röhl, Rechtslehre, § 77 VI (S. 612). Vgl. auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 717.
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Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff
allen Teilbereichen und nicht nur in Bezug auf die Vorschriften des Strafgesetzbuchs. So kann die Frage nach dem Zweck einer Vorschrift selbstverständlich auch eine solche des Grundgesetzes betreffen und für deren Auslegung relevant sein.15 Eine vergleichsweise homogene Untermenge der Vorschriften des Grundgesetzes bilden die Grundrechtsbestimmungen. Auch dort stellt sich die Aufgabe der dogmatischen Erfassung des Inhalts positiver Normen. In der Dogmatik der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte hat sich für das jeweils Geschützte jedoch die räumliche Metapher des „Schutzbereichs“ etabliert,16 und nur in weit geringerem Maße der Rekurs auf das geschützte Rechtsgut oder das Schutzgut.17 Dies mag auch an der sprachlichen Prägnanz der dogmatischen Konstruktion von Schutzbereich und Eingriff liegen. Formulierungen, die auf Rechts- oder Schutzgüter abstellen, kommen aber in der Behandlung von anderen Grundrechtsdimensionen häufiger vor. Das ist zunächst der Fall bei aus Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten: Der Staat muss nicht nur ungerechtfertigte Eingriffe in den Schutzbereich von Grundrechten unterlassen, er muss unter bestimmten Voraussetzungen auch aktive Maßnahmen zum Schutz der in den Grundrechtsbestimmungen geschützten Rechtsgüter ergreifen.18 Gängig ist auch die Rede von Rechtsgütern, wenn allgemein die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte verhandelt wird.19 Auch die nach verbreiteter Ansicht aus diesem Aspekt der Grundrechte abzuleitende und sich häufig in Abwägungsprozessen realisierende mittelbare Drittwirkung der Grundrechte lässt sich als Abwägung von Rechtsgütern formulieren. Andererseits erscheinen aber nicht selten auch nicht-grundrechtliche Belange als Rechtsgüter, darunter gerade solche Interessen, die als Aspekt der Rechtfertigung der grundrechtlichen Freiheit entgegenwirken. Weitgehend ungeklärt ist, ob und wie diese verschiedenen Verwendungen von „Rechts-
15 Als Beispiel für ausdrücklich teleologische Erwägungen siehe BVerfGE 113, 167 (203–205) zur Auslegung der finanzverfassungsrechtlichen Vorschriften im Zusammenhang mit dem Risikostrukturausgleich der Krankenkassen (u. a. „staatliche Selbstständigkeit von Bund und Ländern“ als Zweck). 16 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 119; kritisch zum Schutzbereichsbegriff Sachs, in: Merten/Papier (Hrsg,), Grundrechte II, § 39 Rn. 15 f.; implizit distanziert Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, vor Art. 1 Rn. 77. 17 Was weder gelegentlichen Gebrauch noch in diese Richtung weisende Stimmen ausschließt, vgl. nur Ipsen, JZ 1997, S. 473 (475); Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 77 ff., 138 (und ff. bis 170); Stern, Staatsrecht III/1, S. 1575. 18 Vgl. nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 101; BVerfGE 88, 203 (253 f., 262 und häufiger). 19 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1575; Murswiek, Risiken, S. 177 f.
Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff19
gut“ im Verfassungsrecht zusammenhängen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sie aufweisen und welche Strukturen jeweils prägend sind. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, einen Beitrag zum Verständnis der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs im Verfassungsrecht, insbesondere im grundrechtlichen Bereich, zu leisten.
II. Zur Spezifizierung der Fragestellung Die Offenheit dieses Ausgangspunkts verlangt eine Eingrenzung in verschiedener Hinsicht. Zunächst ist festzuhalten, dass die Frage der Grenzen der staatlichen Strafgewalt20 hier als solche, das bedeutet insbesondere als Frage des heutigen Verfassungsrechts und der heutigen Kriminalpolitik, nicht behandelt werden soll, obwohl sie jedenfalls im Strafrecht häufig am Rechtsgutsbegriff diskutiert wird. Das würde namentlich die Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen zur Legitimation von Strafvorschriften und zur Begründung von Strafe erfordern und damit zu einem gänzlich anderen thematischen Fokus zwingen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die strafrechtsspezifische Behandlung des Rechtsgutsbegriffs und insbesondere die Begriffsgeschichte außer Betracht bleiben könnte. Um dem Rechtsgutsbegriff im Verfassungsrecht näher zu kommen, bedarf es einer Klärung der allgemeinen Bedingungen und Implikationen der im rechtlichen Kontext gebrauchten Rede von Gütern, aber auch der Vergewisserung dahingehend, wie Güter als Gegenstand außerjuristischer Disziplinen erscheinen. Im Rahmen dieser Arrondierung des Gebrauchs des Rechtsgutsbegriffs wird nicht zuletzt zu fragen sein, was sich aus der intensiven und lang andauernden Diskussion um den strafrechtlichen Rechtsgutsbegriff abseits spezifisch strafrechtlicher Problemstellungen entnehmen lässt. Die eigentliche Untersuchung des Rechtsgutsbegriffs im Verfassungsrecht kann von dort ausgehend grundsätzlich verschiedenen Ansätzen folgen. Möglich wäre einerseits ein eher deduktiver und eine ausdrückliche Außen-
20 Dazu Lagodny, Strafrecht und Appel, Verfassung – mit aus den Grundrechten des Grundgesetzes gewonnenen Maßstäben, die insbesondere zwischen Verhaltensund Sanktionsvorschrift trennen (S. 6 f. bzw. 490). Am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und einem exklusiv präventiven Strafzweck ausgerichtet Kaspar, Verhältnismäßigkeit. Thematisch auf Delikte fokussiert, die Verhaltensweisen erfassen, die „als stark anstößig und teilweise bedrohlich gelten und die bei Personen, die davon erfahren, typischerweise starke Gefühlsreaktionen […] auslösen“, Hörnle, Verhalten (zum Untersuchungsgegenstand S. 2–9). Keine der genannten Untersuchungen bildet ihren Maßstab ausgehend vom Rechtsgutsbegriff.
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Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff
perspektive einnehmender Ansatz mit einer rechtstheoretischen21 Grundlegung. Es wäre bei einer solchen Vorgehensweise zunächst ein Modell zu wählen oder zu entwickeln, das eine Abbildung der rechtlichen Vorschriften und ihrer Zusammenhänge leistete. In die Begrifflichkeit und Systematik eines solchen Modells wäre dann das Rechtsgut einzuordnen. Je nach der Beschaffenheit des Modells könnte man dabei beispielsweise auf Norm und Zweck als mehr oder weniger definierte Begriffe zurückgreifen. Für eine solche Vorgehensweise ließen sich gewichtige Erwägungen vorbringen: begriffliche Kohärenz und systematische Geschlossenheit wären wesentliche Vorzüge einer derartigen Behandlung des Rechtsgutsbegriffs. Die stärkeren Argumente sprechen jedoch dagegen: Nicht ganz fernliegend ist die Folge, dass die Anschlussfähigkeit an andere Konzeptionen verloren ginge. Unweigerlich verschiebt sich der Brennpunkt auf die abstrakt-begriffliche Ebene. Die Auseinandersetzung über den eigentlichen Gegenstand rechtlicher Regelungen, die Gestaltung der sozialen Interaktion, könnte dann in den Hintergrund geraten oder wird wenigstens maskiert werden. Zudem besteht die Gefahr, dass ein theoretisch entworfener Begriff sich zwar schlüssig in ein System einpasst, aber Schwierigkeiten in der Anknüpfung an die rechtlichen Probleme auf Anwendungsebene ausgesetzt ist. Daher soll hier ein induktiver Ansatz gewählt werden. Dabei wird von den verfassungsrechtlichen Themenfeldern auszugehen sein, in deren Umfeld der Begriff des Rechtsguts Verwendung findet. Es ist dann zu klären, welche verschiedenen Situationen systematisch unterschieden werden können, in denen auf den Rechtsgutsbegriff Bezug genommen wird, und welche Strukturen des Rechtsgutsbegriffs sich aus diesem Material herausarbeiten lassen. Im besten Falle lässt sich aus den bereichsweise gewonnenen Erkenntnissen Allgemeines abstrahieren, jedenfalls hinsichtlich der Brauchbarkeit des Rechtsgutsbegriffs für dogmatisches Argumentieren und Begründen im Verfassungsrecht. Besondere Aufmerksamkeit gilt verfassungsrechtlichen Fragen, die durch die Befassung mit den Strukturen des Rechtsgutsbegriffs gegebenenfalls freigelegt werden könnten. Das deutsche Verfassungsrecht ist geprägt durch eine spezialisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, die großen Einfluss auf die Rechtsentwicklung hat. Dieser Befund legitimiert es freilich nicht, die Beschäftigung mit dem Verfassungsrecht der Befassung mit der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gleichzusetzen – und sich damit dem Vorwurf eines methodisch einseitigen „Verfassungsgerichtspositivismus“ auszusetzen.22 Dementsprechend soll hier die Betrachtung nicht auf die bloße Nachzeichnung des Rechtsgutsbegriffs in 21 Zum Begriff der Rechtstheorie und ihrer Abgrenzung zu Rechtsphilosophie und -dogmatik Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 20 ff.; vgl. auch Hilgendorf, Renaissance, 16 f.
Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff21
der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts beschränkt werden. Die Senatsentscheidungen als Textkorpus jedoch zum maßgeblichen Ausgangspunkt des Hauptteils der Untersuchung zu machen, hat wenigstens Gründe der Zweckmäßigkeit für sich: Ein großer Teil der bedeutenden verfassungsrechtlichen Fragen hat das Gericht bereits beschäftigt, was im Bereich der Grundrechte nicht zuletzt auf die Eröffnung der Individualverfassungsbeschwerde zurückzuführen ist. Dies, zusammengenommen mit der intensiven kritischen Rezeption der Entscheidungen in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung, lässt es hinreichend aussichtsreich erscheinen, so das Feld der Begriffsverwendung wie -bedeutung angemessen zu beleuchten. Dabei zu den Grundlagen einer gesicherten Verwendung des Begriffs des Rechtsguts im Verfassungsrecht zu gelangen,23 erscheint als wünschenswert, entbehrt jedoch zugleich nicht einiger Ambition. Die Erfolglosigkeit der Versuche einer Klärung auf strafrechtlichem Terrain ist hinreichend oft konstatiert worden.24 Jedenfalls hat man sich von der Suche nach den Konturen des Rechtsgutsbegriffs im Verfassungsrecht nicht vorschnell ein Ergebnis in dem Sinne zu erhoffen, dass man eine zugleich einfache und inhaltliche Definition angeben könnte. So kann man sich entweder in schwer anknüpfungsfähige Idiosynkrasien verlaufen oder – tendenziell ähnlich – dem geltenden Verfassungsrecht nicht gerecht werden. Einen der gebotenen Vorsicht in dieser Hinsicht Rechnung tragenden Ausgangspunkt bildet der tatsächliche Gebrauch, dessen verschiedene Dimensionen es analytisch zu erfassen und insbesondere hinsichtlich ihrer Implikationen zu untersuchen gilt. Solche impliziten Annahmen lassen sich grundsätzlich anhand des geltenden Verfassungsrechts prüfen und als rechtlich haltbar oder nicht haltbar erweisen – und damit in diesem spezifischen Sinne als richtig oder falsch. So lässt sich zwar kein definitorisch fixiertes Bild des Rechtsguts im Verfassungsrecht gewinnen, jedoch können wesentliche Konturen bestimmt werden.
III. Gang der Untersuchung Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. Der erste setzt bei den Begriffen des Guts und des Rechtsguts in ihrer außerrechtlichen wie spezifisch rechtlichen Verwendung an. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive handelt es sich um einen vergleichenden Blick in andere Disziplinen. Ziel ist es hier, 22 Die Wortschöpfung geht wohl auf Schlink, Der Staat 28 (1989), S. 161 (163) zurück. 23 Vgl. Schulte, Rechtsgutsbegriff, S. 11 für das öffentliche Recht insgesamt. 24 Siehe nur Stratenwerth, in: FS Lenckner, S. 377 (378); vgl. auch Roxin, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 120 mit Fn. 169.
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Einleitung: Rechtsgut als juristischer Begriff
die Struktur und Bedeutung von Aussagen über Güter und Rechtsgüter zu ergründen. Der Weg führt dabei vom Allgemeinen zum Besonderen: namentlich von einem knappen Blick auf den Güterbegriff in der Philosophie und in den Wirtschaftswissenschaften über die Rede von Gütern in anderen Rechtsgebieten zum Rechtsgutsbegriff im Strafrecht. Der zweite und zentrale Teil verlegt den Fokus in Richtung des tatsäch lichen Gebrauchs. Die Materialgrundlage bildet hierbei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Suche gilt dabei allgemeinen Charakteristika und systematischen Strukturen des Rückgriffs auf Güter bei der Begründung der Entscheidung im verfassungsrechtlichen Verfahren. Davon ausgehend ist der jeweilige verfassungsrechtliche Hintergrund zu bestimmen. Im dritten Teil erfolgt eine ausschnittsweise Konkretisierung der Perspektive. Sie ist dort auf eine unmittelbar relevante Rechtsfrage der Verfassung gerichtet, die sich im Zusammenhang mit Gütern stellt, deren Förderung oder Schutz eine Einschränkung von Grundrechten zu rechtfertigen vermag. Dabei wird untersucht, ob sich die Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht bei der Kontrolle des Gesetzgebers in manchen Fällen auf Güter Bezug nimmt, als aus verfassungsrechtlichen Gründen defizitär erweisen lässt. Darauf folgend wird im Schlussteil eine auf den Ergebnissen der Untersuchung fußende Gesamtschau auf den Begriff des Rechtsguts im Verfassungsrecht des Grundgesetzes unternommen.
1. Teil
Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff A. Güterbegriffe außerhalb des Rechts Der Begriff des Gutes ist keine Schöpfung des Rechts und der Rechtswissenschaft. Nicht zuletzt ist das „Gut“ eines Menschen im Sinne des Inbegriffs des ihm zustehenden Eigentums in Wendungen der Alltagssprache wie „Hab und Gut“ präsent. Dieser Bedeutung ist die Verwendung in wirtschaftlichem Zusammenhang und in der Wirtschaftswissenschaft nahe, worauf sogleich im zweiten Unterabschnitt eingegangen werden soll. Gut ist aber auch ein zen traler philosophischer Begriff. Daher soll zunächst ein Überblick über einige Bedeutungsvarianten in diesem Kontext geboten werden.
I. Philosophie: Gegenstand des Strebens Der Begriff des Guts, des Guten und die Unterscheidung von gut und böse haben in der philosophischen Diskussion eine lange Geschichte. Die Güterlehre gehört zur Ethik; sie wählt eine Perspektive, die maßgeblich auf die Ziele des Handelns abstellt. Klassisch ist die Güterdefinition des Aristoteles: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht als das Gute dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.“1 Nach dieser Bestimmung lässt sich ein Gut dadurch erkennen, dass es Gegenstand des Strebens ist. Dieses Streben kann verschiedene Gebiete des Handelns betreffen und es ist jeweils ein insofern universelles Streben, als alles nach dem Guten strebt. Im Hinblick auf das Anliegen dieser Untersuchung kann sich die sogleich erfolgende Betrachtung auf einige begriffliche und strukturelle Fragen konzentrieren, die zum Bereich der Metaethik zählen2. Das weit größere Problemfeld, welche konkreten Kriterien zur Bewertung als gut bzw. Gut zu führen haben3, also Fragen der normativen und angewandten Ethik, wird 1 Aristoteles,
Nikomachische Ethik, 1094a. Abgrenzung von Metaethik, normativer und angewandter Ethik Link, Metaethik, S. 2–9. 3 Vgl. Hepfer, Ethik, S. 49. 2 Zur
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
weitgehend ausgeblendet. Zur Metaethik gehören zwei wesentliche Unterscheidungen hinsichtlich des Guten und des Gutes: die Differenzierungen zwischen substantivischem, adjektivischem und adverbialem Gebrauch sowie zwischen moralischer und außermoralischer Verwendung. 1. Substantivische, adjektivische und adverbiale Verwendung „Gut“ kann grammatikalisch als Substantiv, als Adjektiv oder als Adverb in Erscheinung treten:4 Man kann sagen, Freiheit sei ein hohes Gut bzw. gesund zu sein sei gut bzw. jemand spiele gut Tennis. Fraglich ist, ob den verschiedenen grammatikalischen Varianten jeweils ein spezifischer Bedeutungsgehalt zukommt. Zwischen adjektivischem und substantivischem Verwendungsmodus zu unterscheiden, liegt von einer sprachanalytisch orientierten Position aus nahe. Die adjektivische Verwendung ist nach der Differenzierung des in dieser Tradition zu verortenden Friedo Ricken Bestandteil eines Werturteils, das eine Relation zwischen einem bewerteten Gegenstand und einem „Fiat“ ausdrückt. Unter „Fiat“ ist ein normativer Ausdruck zu verstehen, der etwas bezeichnet, das sein soll, im Gegensatz zu einem deskriptiven Ausdruck, der bezeichnet, was ist.5 Beispiele für Fiats sind Wünsche, Bedürfnisse, Aufforderungen, Zwecke oder Befehle.6 Wird „gut“ als Attribut zu Gegenständen gesetzt, die eine spezifische Aufgabe haben (sog. funktionale Prädikatoren; z. B. Messer – schneiden), so sind die Endpunkte der Beziehung in einer damit gebildeten Wertaussage über einen Gegenstand enthalten.7 Ein Ausdruck wie „Dies ist ein gutes Messer.“ drückt aus, dass der mit dem Attribut „gut“ belegte Gegenstand („dies“) geeignet ist, das in „Messer“ enthaltene Fiat zu erfüllen, nämlich die Funktion, zu schneiden.8 Die Zwecksetzung, für die der Gegenstand funktionalisiert werden kann, muss bloß eine überhaupt mögliche, nicht eine tatsächliche desjenigen sein, der das Werturteil äußert: Mit der Aussage „Dies ist ein gutes Gift.“ ist nicht notwendigerweise der Wunsch des Sprechers verbunden, sich oder einen anderen Menschen zu töten; dieser Wunsch ist aber ein mögliches Fiat.9 Die adjektivisch-attributive Verwendung fungiert demnach zur Begründung einer Wahl unter der Bedingung bestimmter Umstände, insbesondere auch individueller Präferenzen. Die substantivische Verwendung soll dagegen der Be4 Quante, Ethik, S. 34; Ricken, Ethik, S. 81; Forschner, Art. „Das Gute“, in: Kolmer/Wildfeuer (Hrsg.), Handbuch, S. 1132 (1133). 5 Ricken, Ethik, S. 82. „Fiat“ ist offensichtlich gewählt nach lat. fiat: „Es werde!“ 6 Ricken, Ethik, S. 82 f. 7 Ricken, Ethik, S. 83. 8 Vgl. Ricken, Ethik, S. 83. 9 Ricken, Ethik, S. 85.
A. Güterbegriffe außerhalb des Rechts25
gründung einer unter bestimmten Bedingungen getroffenen Wahl als richtig dienen.10 Die Aussage, Gesundheit sei ein Gut, bedeutet demnach, dass bei sonst unveränderten Umständen die Gesundheit der Krankheit vorzuziehen und dies die richtige Wahl ist, das Gegenteil jedoch die falsche wäre.11 Eine solche Aussage wiederum kann man nach zwei verschiedenen Ansätzen begründen: Zum einen könne man sagen, es handele sich um ihrerseits nicht mehr weiter zu begründende Einsichten, die im rationalen praktischen Diskurs nicht in Frage gestellt werden könnten. Diese Ansicht bringt das Problem der Abgrenzung solcher grundlegender Werturteile gegenüber bloß konventionellen und vorurteilshaften Standpunkten mit sich.12 Zum anderen kann man aber auch Güter in Beziehung zum Gut der Möglichkeit setzen, seine Fiats zu verwirklichen. Wenn man dieses Gut als richtigerweise zu Wählendes voraussetzt, so lässt damit sich die Richtigkeit der Wahl von ihm dienenden Gegenständen als Güter rechtfertigen. Beispielsweise ließen sich Nahrung, Kleidung und Wohnung als Vorbedingung der Realisierung individueller Fiats solchermaßen als Güter rechtfertigen.13 Dieses Ergebnis der sprachlich angeleiteten Analyse ist nicht zwingend. Man wird als allgemeine Auffassung wohl eher diejenige bezeichnen können, im Gebrauch der Substantivierungen „Gut“ oder „das Gute“ liege gegenüber der adjektivischen Verwendung keine relevante semantische Differenz; einschlägige Ausdrücke lassen sich stets in die jeweils andere Form bringen.14 Ein zwingender Unterschied ist vom sprachlichen Bedeutungsgehalt her zwischen „Gesundheit ist ein Gut“ und „Es ist gut, gesund zu sein“ nicht gegeben. 2. Moralischer und außermoralischer Gebrauch „Gut“ als Adjektiv kennt eine moralische und eine außermoralische Verwendung.15 Während das Gegenteil „böse“ auf die moralische Verwendung beschränkt ist, kann das Gegenteil „schlecht“ in moralischen wie außermora10 Ricken, Ethik, S. 89; zustimmend Forschner, Art. „Das Gute“, in: Kolmer/Wildfeuer (Hrsg.), Handbuch, S. 1132 (1134); ganz ähnlich auch Quante, Ethik, S. 34 allerdings ohne Beschränkung auf den substantivischen Gebrauch. 11 Ricken, Ethik, S. 88 f. 12 Ricken, Ethik, S. 89. 13 Ricken, Ethik, S. 89 f. 14 Hepfer, Ethik, S. 47. 15 Pieper, Ethik, S. 175; Hepfer, Ethik, S. 47 f.; Quandte, Ethik, S. 33; vgl. Ricken, Ethik, S. 81. Die erste in Schrift überlieferte Differenzierung zwischen moralischem und nicht-moralisch technischem Gebrauch geht auf Platon (Der Staat, II 358 ff., 379b, 476a, 484d, 605a-e, 608e) zurück, vgl. Regenbogen, Art. „Gute, das/Güte“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie I, S. 954 (956).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
lischen Aussagen vorkommen.16 Nicht auf eine moralische Verwendung festgelegt ist auch die eben zitierte klassische Definition des Guts und des Guten von Aristoteles. Ebenso ist es, wenn man als gut (bzw. als ein Gut) für den Handelnden betrachtet, was er zum Objekt seiner zweckbestimmten Handlung macht.17 Jede zweckbestimmte Handlung beinhaltet damit ein Wertungsmoment; die Schwelle „Fakt–Wert“ wird überschritten.18 Die Kriterien dafür, etwas zum Zweck der Handlung zu machen und es damit implizit als gut (Gut) zu bewerten, können dabei von Fall zu Fall unterschiedlich sein: „sinnlich, wirtschaftlich, technisch, ästhetisch, rechtlich, moralisch und so weiter“.19 Ein Unterschied zwischen moralischem und außermoralischem Gebrauch wird teilweise darin gesehen, dass lediglich beim moralischen das Adjektiv „gut“ prädikativ verstanden werden könne.20 Das bedeutet Folgendes: Betrachtet man beispielsweise die Aussage „Dieses Haus ist weiß“, so lässt sie sich in die beiden Aussagen „Dieser Gegenstand ist ein Haus“ und „Dieser Gegenstand ist weiß“ zerlegen. „Weiß“ kann also als Prädikat eines Gegenstandes dienen. Setzt man als Adjektiv jedoch „gut“ ein, lässt sich streiten, ob die Komponente „Dieser Gegenstand ist gut“ noch einen sinnvollen Gehalt besitzt, da man behaupten kann, es fehle an Kriterien für die Anwendung des Prädikats „gut“.21 Bei der Verwendung als attributives Adjektiv lässt sich, wie oben schon am Beispiel der Rickenschen Konzeption des Unterschieds zwischen adjektivischer und substantivischer Verwendung vorgestellt, das Kriterium der Anwendung dem Gegenstand entnehmen, dem das Attribut beigefügt wird. Bei der Aussage „Ein Haus ist eine gute Unterkunft“ beispielsweise ergibt sich die Anforderung, Menschen sicher und bequem beherbergen zu können, aus dem Begriff der Unterkunft. Da ein Haus dieses Kriterium erfüllt, lässt sich das Prädikat „gute Unterkunft“ darauf anwenden. Verschiedene Gegenstände und verschiedene Klassen von Gegenständen haben jeweils verschiedene Kriterien, nach denen sie in diesem Sinne als „gut“ bestimmt werden können.22 Fordert man, ethische Grundbegriffe dürften nicht auf diese Weise vom Kontext abhängig sein, so unterscheidet sich die moralische von der außermoralischen Verwendung von „gut“ dadurch, dass im ersteren Fall die Verwendung als prädikatives Adjektiv erfolgt.23 Die moralische Verwendung von „gut“ bzw. „Gut“ ist demnach eine solche, deren 16 Pieper,
Ethik, S. 175 f. bei Gewirth, Reason, S. 49. 18 Gewirth, Reason, S. 57. 19 Gewirth, Reason, S. 56. Übers. S. L. 20 Vgl. Quante, Ethik, S. 35. 21 Dies verneint beispielsweise Ricken, Ethik, S. 81 f.; vgl. auch Quante, Ethik, S. 34 f. 22 v. Kutschera, Ethik, S. 12; Quante, Ethik, S. 35. 23 v. Kutschera, Ethik, S. 13; vgl. Quante, Ethik, S. 35. 17 So
A. Güterbegriffe außerhalb des Rechts27
Kriterien nicht nur von dem bewerteten Gegenstand abhängig sind. Hinsichtlich dieser Kriterien eröffnet sich das gesamte Spektrum der Ansätze, moralische Aussagen zu begründen.24 3. Dissoziation begrifflicher und normativer Fragen Der Blick auf den Güterbegriff aus philosophischer Perspektive zeigt vordergründig die Vielfalt der Gebrauchsvarianten des Begriffs des Guten bzw. des Guts auf, die sich schon vor der inhaltlichen Ausfüllung im Sinne spezifischer ethischer Theorien ergeben. Die Tatsache, dass mit der metaethischen Klärung von Gebrauchsvarianten noch nichts über Inhalte gesagt sein muss, verweist darauf, dass abstrakt-begriffliche Fragen nur unter Heranziehung weiterer Prämissen zu konkret-inhaltlichen Ergebnissen führen. Auf Rechtsgutsfragen übertragen erscheinen Untersuchungen zu Wesen und Ontologie der Rechtsgüter zwar nicht als wertlos; will man aber dem Anspruch genügen, rational nachvollziehbar zu Ergebnissen in juristischen Anwendungsfragen zu kommen, müssen die weiteren normativen Prämissen klar identifiziert werden. 4. Grenzbereich zur Ökonomie: Güterverteilung Ebenfalls im Bereich philosophischer Fragestellungen erscheint der Güterbegriff, wenn soziale Gerechtigkeit und insbesondere die gerechte Verteilung bestimmter Güter in Gesellschaften und gesellschaftlichen Einheiten zum Thema wissenschaftlicher Erwägung wird. Dann findet aber gegenüber dem eben skizzierten analytischen Rahmen eine erhebliche Verengung dessen statt, was als Gut eingesetzt werden kann: namentlich auf das knappe, verteilungsfähige Gut.25 Hier ist eine Parallele26 zu den im Folgenden knapp zu behandelnden ökonomischen Kategorien gegeben.
II. Wirtschaftswissenschaft: Mittel der Bedürfnisbefriedigung Der Begriff des Guts gehört zu den Grundbegriffen der Ökonomie. Im ökonomischen Sinne werden unter Gütern Mittel verstanden, die der Befriedigung von (subjektiv gegebenen) Bedürfnissen dienen.27 In der Marktwirtschaft sind Güter Objekt der Transaktionen, die am Markt stattfinden.28 Der dazu nur v. Kutschera, Ethik, S. 42 ff. Möhring-Hesse, Ordnung, S. 16 ff. (insb. 17). 26 Vgl. jedoch Möhring-Hesse, Ordnung, S. 35 ff. zu den Problemen einer Gerechtigkeit fundamental als Güterverteilung begreifenden Konzeption. 27 May/May, Lexikon, Art. „Güter“; Altmann, Volkswirtschaftslehre, S. 35. 28 Vgl. Krugman/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 35. 24 Vgl.
25 Dazu
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Gegenstandsbereich der Volkswirtschaftslehre überschneidet sich mit dem juristischen in vielfältiger Weise. So haben Rechte typischerweise Objekte zum Gegenstand, die in diesem Sinne Güter sind, andererseits können Rechte wiederum selbst Bedingung der Befriedigung von Bedürfnissen sein. In der Volkswirtschaftslehre war die Frage umstritten, ob Rechte (an Gütern) selbst als Güter zu verstehen sind, beispielsweise also die Forderung des Darlehensgebers auf Rückgabe des hingegebenen Gegenstands. Die vorbehaltlose Bejahung der Frage führt gegebenenfalls zur Verdoppelung des rechnerischen Güterbestandes einer Volkswirtschaft, verneint man sie hingegen pauschal, kann man bloß aus Forderungsrechten bestehende Vermögen nicht erfassen.29 Die Frage war naturgemäß begrifflicher Art – den Kausalgesetzlichkeiten im Bereich der Empirie ist sie vorgelagert. Mangels eigenen Erklärungswerts hat sie sich gegenüber einer an der Beschreibung der empirisch zu beobachtenden Abläufe orientierten Vorgehensweise nicht als relevant erwiesen. Die heutige Ökonomie unterscheidet zwischen Sachgütern (materiellen Gütern) einerseits, Dienstleistungen und Rechten (immateriellen Gütern) andererseits. Während erstere in der Statistik der Zahlungsbilanz in der Handels- bzw. der Warenbilanz geführt werden, fallen letztere in die Dienstleistungsbilanz.30 1. Inferiorität und Verwandtschaft von Gütern Insbesondere zur Erklärung von Gesetzlichkeiten in der Entwicklung von Angebot und Nachfrage bezüglich bestimmter Güter hat die Wirtschaftswissenschaft Begriffe entwickelt, die Verhältnisse zwischen verschiedenen Gütern beschreiben. Zu den Grundlagen gehören dabei die Begriffe normaler, inferiorer und verwandter Güter. Ein normales Gut ist ein Gut, dessen nachgefragte Menge bei einem Zuwachs an Einkommen steigt und bei einem Rückgang des Einkommens sinkt.31 Ein inferiores Gut hingegen wird bei steigendem Einkommen weniger nachgefragt.32 Dies wäre beispielsweise für Kaffeeersatz im Verhältnis zu Kaffee anzunehmen. Steigt das durchschnittliche Einkommen, werden die Konsumenten zunehmend Kaffee erwerben und die Nachfrage nach dem inferioren Gut Kaffeeersatz sinkt. Als verwandt bezeichnet man Güter, die Substitute oder Komplemente voneinander sind. Substitutiv sind Güter, bei denen ein Anstieg des Preises des einen Guts ei29 v. Böhm-Bawerk,
Rechte, S. 8 f. Volkswirtschaftslehre, S. 35. 31 Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 83; Krugman/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 76. 32 Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 83 f.; Krugman/Wells, Volkswirtschafts lehre, S. 77; Altmann, Volkswirtschaftslehre, S. 37. 30 Altmann,
A. Güterbegriffe außerhalb des Rechts29
nen Anstieg der Nachfrage nach dem anderen Gut auslöst.33 Die Konsumenten weichen also sozusagen aus. Stiege beispielsweise der Preis der Akademie-Ausgabe erheblich, mag es sein, dass ein wesentlicher Teil der an Kants Werken Interessierten zum Angebot aus dem Suhrkamp-Verlag greift. Komplementär dagegen sind Güter, wenn der Rückgang des Preises des einen Guts eine Steigerung der Nachfrage nach dem anderen Gut bewirkt.34 Dies wird man beispielsweise von Kraftfahrzeugen und dem zugehörigen Treibstoff annehmen dürfen. 2. Privatgut, Gemeinschaftsgut, Klubgut und Allmende Zwei weitere wesentliche Kategorien, die auf Güter im Sinne der Volkswirtschaftslehre angewandt werden können, haben das Interesse von Juristen angezogen: Ausschließbarkeit und Rivalität des Konsums.35 Ausschließbarkeit bedeutet, dass der Anbieter eines Gutes Nachfragern den Konsum verwehren kann, die nicht dafür bezahlen.36 Rivalität liegt vor, wenn eine Einheit eines Gutes zur selben Zeit nur von einem Nachfrager konsumiert werden kann.37 Beide Eigenschaften sind beim gewissermaßen typischen Wirtschaftsgut gegeben: Der Anbieter eines Mantels gibt diesen nur an jemanden heraus, der dafür bezahlt (Ausschließbarkeit), und wenn der eine ihn kauft, kann ihn nicht ein anderer gleichzeitig tragen (Rivalität im Konsum). Man spricht in diesem Fall in der Volkswirtschaftslehre von einem privaten Gut. Ist keine der beiden Eigenschaften gegeben, so spricht man von einem öffentlichen Gut.38 Beispiele hierfür sind die Landesverteidigung, die Grundlagenforschung39 oder die öffentliche Sicherheit. Fehlt bloß die Rivalität im Konsum, ist aber die Ausschließbarkeit gegeben, so liegt ein Klubgut vor.40 33 Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 84; Krugman/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 75; Altmann, Volkswirtschaftslehre, S. 37. 34 Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 84; Krugman/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 75 f. 35 Vgl. Anderheiden, Gemeinwohl, S. 110 ff. (insb. 116: Ausschließbarkeit vom Konsum als dogmatisch entscheidende Kategorie); Engel, Die Verwaltung 1997, S. 429; Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 31 V (S. 270 f.); Hefendehl, Angelpunkt, S. 119 (126 f.); ders., Rechtsgüter, S. 111–113. Anstatt von Rivalität im Konsum wird auch von Konkurrenz in der Güternutzung gesprochen, so Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 278. 36 Krugmann/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 623; vgl. Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 278. 37 Ebd. 38 Krugmann/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 627. 39 Vgl. Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 281 f. 40 Krugmann/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 637 f.; Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 254 sprechen von „natürlichen Monopolen“.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Zu diesen gehören unter anderem prinzipiell beliebig reproduzierbare Informationen, bezüglich derer aber durch Schutzrechte und eventuell technische Schutzmaßnahmen Ausschließbarkeit hergestellt wird, wie Computersoftware, Musikaufnahmen oder literarische Texte. Besteht Rivalität im Konsum, können Konsumenten aber nicht ausgeschlossen werden, so handelt es sich um ein so genanntes Allmendegut.41 Allmendegüter sind zum Beispiel das saubere Wasser in einem Fluss oder die Fischbestände der Weltmeere: Der Konsum des einen (beispielsweise durch Abwasserentsorgung bzw. Fischerei) beeinträchtigt die Konsummöglichkeiten des anderen, ohne dass Ausschließbarkeit besteht. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der meritorischen Güter von Bedeutung. Es handelt sich dabei um Güter, bei denen Ausschließbarkeit grundsätzlich gegeben ist, die aber aus gesellschaftlichen Erwägungen allen zur Verfügung stehen sollen. Beispiele sind Schulen, Hochschulen, Museen, Theater und öffentliche Personenverkehrsmittel. Diese werden gratis oder nicht kostendeckend angeboten, weil der Staat dadurch einen Verdienst (englisch „merit“) um gesamtgesellschaftliche Belange erwirbt42. 3. Verschiedenheit rechtlicher und ökonomischer Perspektive Allen diesen Kategorien ist gemein, dass sie zur Beschreibung von Sachverhalten dienen, die – wenigstens nach den erfolgreichen methodischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaft – kausalen Zusammenhängen unterliegen und sinnlich erfahrbar, also einer empirischen Untersuchung zugänglich sind. Dies trifft auf Rechtsgüter als Teile normativer Aussagen über rechtliche Gegebenheiten nicht ohne Weiteres zu. Zwar ist ohne Ausnahme zu fordern, dass Rechtsgüter im modernen säkularen Staat ein empirisches Substrat besitzen: Gehört Übersinnliches nicht zu Aufgaben und Wirkungskreis des Staates,43 so müssen sich rechtliche Regelungen insgesamt und damit auch Rechtsgüter auf den Bereich der Empirie beschränken. Das empirische Substrat ändert jedoch nichts daran, dass sich die rechtswissenschaftliche Perspektive nicht primär und unmittelbar auf kausalgesetzliche Zusammenhänge in diesem Bereich der Empirie richtet, sondern spezifisch normative Zusammenhänge in den Blick nimmt.44 Wirtschaftswissenschaft41 Krugmann/Wells, Volkswirtschaftslehre, S. 634; nach anderer Terminologie handelt es sich um „gesellschaftliche Ressourcen“ (so Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, S. 278). 42 Altmann, Volkswirtschaftslehre, S. 38 f. 43 Vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 73 Rn. 60. 44 Siehe etwa schon Kelsen, Rechtslehre, S. 35 ff. zum spezifisch normativen Sinn des Rechts. Zum Verhältnis zwischen Konstitutioneller Politischer Ökonomie und
B. Güter im positiven Recht31
lich mag man beispielsweise untersuchen, ob Meinungsfreiheit gegenüber Vermögen ein inferiores Gut ist: Sinkt das Bedürfnis nach freier Meinungsäußerung, wenn das allgemeine Wohlstandsniveau steigt? Über das normative Verhältnis der beiden Gegenstände kann dadurch aber unmittelbar nichts ausgesagt werden.45 Selbst wenn es aus rechtlicher Sicht abstrakte Über- und Unterordnungsbeziehungen zwischen Rechtsgütern geben sollte, ließen diese sich, als spezifisch rechtswissenschaftliche Gegenstände, nicht kausalgesetzlich beschreiben und nicht mit empirischen Methoden untersuchen. Dennoch ist der empirische Sachverhalt Grundlage der normativen Fassung. Eine zweckmäßige rechtliche Regelung muss die empirischen Strukturen wenigstens zur Kenntnis nehmen. Die Suche nach den allgemeinen Voraussetzungen für eine taugliche rechtliche Erfassung und Regelung bestimmter Bereiche der Wirklichkeit ist damit ein wichtiges Anliegen. Darauf zielt letztlich die Suche nach einem „Recht der Gemeinschaftsgüter“46 ab. Ist dort eine sorgfältige Analyse der tatsächlichen Verhältnisse unverzichtbarer Bestandteil des Projekts, so überrascht es wenig, dass ökonomische Kategorien eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Aus dieser Perspektive können die empirisch bezogenen Kategorien der Volkswirtschaftslehre partiell in Begriffen des Rechts und der Rechtswissenschaft rezipiert werden. Für die Untersuchung des Rechtsgutsbegriffs im Verfassungsrecht handelt es sich hierbei aber zunächst um nachgeordnete Fragen: Primär interessieren Rechtsgüter als normative Gegenstände in normativen Zusammenhängen.
B. Güter im positiven Recht Auch außerhalb des sogleich zu betrachtenden Bereichs der Strafrechtswissenschaft wird der Begriff des Rechtsguts in der dogmatischen Behandlung des positiven Rechts und vereinzelt auch in Rechtsvorschriften selbst gebraucht. Verfassungstheorie sowie -dogmatik Morlok, Theorie, S. 1 (27); vgl. auch Homann, Vertragstheorie, S. 279 (283 ff.) zur Beziehung zwischen der normativen Wissenschaften und der positiven Wissenschaft Ökonomie. 45 Dies schließt selbstverständlich nicht die Möglichkeit aus, mittels ökonomisch angeleiteter Analyse Erkenntnisse über die tatsächliche Wirkung des Rechts und seiner Institutionen zu gewinnen sowie daraus gegebenenfalls normative Folgen zu ziehen. Zu einer ökonomischen Theorie des öffentlichen Rechts vgl. Lindner, JZ 2008, S. 957 ff., der ersteres als positive und letzteres als normative Dimension beschreibt (960). Zu den Berührungspunkten sozialwissenschaftlicher Theorie mit originär juristischen Fragestellungen Towfigh/Petersen, in: dies., Methoden, S. 7 ff. 46 Vgl. Engel, Die Verwaltung 1997, S. 429 (429): „Zu all diesen Gegenständen gibt es natürlich bereits heute Rechtsregeln. Das Konzept der Gemeinschaftsgüter bringt aber auf den Punkt, welche normativen Entscheidungen hier zu treffen sind.“
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
I. Schutz von Rechtsordnung und Rechtsgütern im Polizeirecht Im Polizei- und Sicherheitsrecht ist die Rede von der öffentlichen Sicherheit als dem Schutzgut des Polizeirechts schlechthin geläufig.47 Ebenfalls erscheinen Güter als Bestandteil einer verbreiteten und in Polizei- und Sicherheitsgesetzen niedergelegten Definition dieser öffentlichen Sicherheit. Ihr zufolge bedeutet die öffentliche Sicherheit die „Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Träger der Hoheitsgewalt“.48 In anderen Fassungen der Definition werden die Rechtsgüter des Einzelnen als „Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen“ ausdrücklich benannt.49 Diese „Rechtsgüter des Einzelnen“ stehen in dieser Definition neben verschiedenen Begriffen, die hochgradig unbestimmt und interpretationsbedürftig sind. Die öffentliche Sicherheit beinhaltet damit neben den (pauschal benannten oder enumerierten) Individualrechtsgütern auch Gemeinschaftsgüter.50 Man kann den Begriff des Rechtsguts als Grundbegriff der Definition auffassen, indem man abstrahiert: „Sicherheit ist die Sicherheit von Rechtsgütern“.51 Dabei sei als Rechtsgut nur geschützt, was dem ausdrücklichen Schutz des Rechts untersteht. Nicht jedes Gut sei automatisch ein Rechtsgut und damit legitimes Schutzobjekt der Polizei. Rechtsgüter seien nur „rechtlich anerkannte und geschützte Belange“. Dies finde seinen Grund im Gesetzesvorbehalt, der vorgebe, dass der (sc. eingreifende) Schutz von Rechtsgütern „notwendig durch Rechtsnormen, die dann freiheitseinschränkend wirken“, erfolgen müsse. Folgt man dem, so kann als von der öffentlichen Sicherheit umfasstes Rechtsgut nur gelten, was anderweitig von der Rechtsordnung anerkannt und geschützt wird. Man gelangt folglich dazu, die „öffentliche Sicherheit“ als einen Verweisungsbegriff aufzufassen.52 Die „Si47 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8 Rn. 1 (u. ö.); Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr, S. 232 ff. 48 § 2 Nr. 2 Bremisches Polizeigesetz; § 3 Nr. 1 Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt. 49 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 53. Diese Definition geht zurück auf die amtliche Begründung zur polizeilichen Generalklausel in § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1.6.1931 (Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8 Rn. 5). 50 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 53; Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 233; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 100. 51 So Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 80. 52 Zur Bedeutung der Qualifizierung „öffentlich“ s. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 81.
B. Güter im positiven Recht33
cherheit“ selbst dagegen soll kein Rechtsgut sein,53 sondern einen Zustand der Abwesenheit von Gefahren für Rechtsgüter bezeichnen. Darin liegt keine Engführung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit. Insbesondere ergibt sich keine grundlegende Abweichung davon, dass die öffentliche Sicherheit mehr umfasst als das Ausbleiben von Verstößen gegen Rechtsvorschriften. Unbestritten ist, dass die Missachtung ausdrücklicher beispielsweise strafrechtlicher Verbote eine unmittelbare Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit darstellt.54 Eine solche Beeinträchtigung liegt aber nach verbreiteter Auffassung auch dann vor, wenn zwar eine unmittelbare Normverletzung nicht in Betracht kommt, aber ein in einer Rechtsnorm anderweitig als schutzwürdig anerkannter Belang – ein Rechtsgut – negativ beeinflusst zu werden droht.55 Die Einbeziehung auch von (bloßen) Rechtsgutsbeeinträchtigungen stellt gegenüber dem Abstellen auf die Normwidrigkeit eine Ausweitung des Tatbestands dar, der Voraussetzung für die Zulässigkeit polizeilicher Gefahrenabwehr ist. Daher macht es in der Sache keinen die Tatbestandsvoraussetzungen verengenden Unterschied, wenn man die Rechtsgutbeeinträchtigung oder -gefahr als abstrakten Grundtatbestand begreift: Wenn die Rechtsordnung im Sinne des Verstoßes gegen eine bestimmte Norm verletzt ist, kann man immer auch eine Gefahr für das mit dieser Vorschrift verfolgte Anliegen, i. e. für ein Rechtsgut, feststellen. Man kann mithin festhalten, dass der Rechtsgutsbegriff, den das Polizeirecht im Zusammenhang der „öffentlichen Sicherheit“ entwickelt hat, wie die öffentliche Sicherheit selbst ein Verweisungsbegriff ist. Damit kommt irgendwelchen weiteren abstrakt zu benennenden Merkmalen „des Rechtsguts“ kein erhebliches Gewicht zu. Wesentlich ist die (rechtliche) Anerkennung eines bestimmten Belangs durch den Gesetzgeber. Die Rechtsgüter sind, mitunter mittelbar, aus rechtlichen Regelungen zu gewinnen. Damit befindet man sich im Bereich einer auf das Telos von Vorschriften gerichteten Interpretation; es lassen sich Parallelen zur unten darzustellenden56 dogmatischinterpretatorischen Variante des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriffs ziehen, die ebenfalls nach dem Telos von Vorschriften fragt – allerdings insofern mit 53 Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 80. Ähnlich Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8 Rn. 10 in Bezug auf die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung: „Öffentliche Sicherheit ist insofern kein Recht oder Rechtsgut, sondern kennzeichnet den Soll-Zustand allen geltenden Rechts: Es soll gewahrt und nicht verletzt werden.“ 54 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 8 Rn. 12; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 101; Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 236. 55 Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 236; BVerwG NJW 1974, 815 (817). Nur für Fälle der Beeinträchtigung von staatlichen Organen und Einrichtungen behandelt die Fragestellung Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 60 f. 56 C. III. (S. 77 ff.).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
anderer Zielrichtung, als dort nach Gesichtspunkten der Interpretation der Vorschrift selbst gesucht wird, der diese Gesichtspunkte entnommen werden sollen. Hier hingegen dient die Bestimmung des mit einer Rechtsvorschrift anerkannten Rechtsguts dazu, einen von dieser verschiedenen Tatbestand auszufüllen, namentlich denjenigen einer sicherheitsrechtlich relevanten Gefahr. Soweit ersichtlich, stellen sich in der Praxis der Anwendung des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ keine spezifisch mit der Bestimmung eines „Rechtsguts“ zusammenhängenden Probleme.
II. Rechtsgüter im Bürgerlichen Gesetzbuch Das bürgerliche Recht kennt Rechtsgüter unter anderem als Schutzgegenstände des Deliktsrechts. Mit der im Jahre 2002 in Kraft getretenen Schuldrechtsreform hat auch das Wort „Rechtsgut“ Einzug in den Text des Bürgerlichen Gesetzbuchs gehalten. 1. Rechtsgüter im BGB der Schuldrechtsreform Von Rechtsgütern ist die Rede in der im neuen Schuldrecht gesetzlich niedergelegten Vorschrift zu den vertraglichen Nebenpflichten in § 241 Abs. 2 BGB und in der Vorschrift zur culpa in contrahendo in § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Die Vorschriften stehen dadurch in Zusammenhang, dass § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB einen Tatbestand normiert, bei dessen Erfüllung – abweichend von der Grundregel des § 311 Abs. 1 BGB – ein Schuldverhältnis mit dem Inhalt des § 241 Abs. 2 BGB auch ohne Vertragsschluss zustande kommt. In beiden Tatbeständen, also sowohl in demjenigen, der die Pflichten festlegt, als auch in dem, der die Entstehungsvoraussetzungen eines Schuldverhältnisses aus Vertragsanbahnung regelt, sind die Rechtsgüter in die Fügung „Rechte, Rechtsgüter und Interessen“ eingebunden. Dies wirft die Frage auf, wie sich diese drei genannten Gegenstände zueinander verhalten, wenn man nicht von vornherein annehmen möchte, es liege ein tautologischer Ausdruck vor. Die Begründung des Gesetz gewordenen Entwurfs der Neufassung des § 241 BGB spricht in den abstrakten Vorbemerkungen noch pauschal von den „Rechtsgütern des jeweils anderen“, für die sich aus schuldrechtlichen Schutzpflichten eine gegenüber dem allgemeinen Deliktsrecht gesteigerte Schutzverpflichtung ergebe.57 Eine Differenzierung nach den verschiedenen Gegenständen dieses Schutzes findet jedoch nicht statt. Anders ist dies in den konkret auf den Entwurf bezogenen Ausführungen. Dort wird zunächst gel57 BT-Drs.
14/6040, S. 125.
B. Güter im positiven Recht35
tend gemacht, indem neben den Rechten ohne Einschränkung auch die Rechtsgüter erwähnt würden, werde deutlich, dass auch das bloße Vermögen geschützt sein könne. Dies sei bei § 823 Abs. 1 BGB nicht der Fall. Die Interessen, die neben Rechte und Rechtsgüter treten, sind gegenüber dem Vorschlag der Schuldrechtskommission neu hinzugefügt. Damit solle verdeutlicht werden, dass „auch Vermögensinteressen sowie andere Interessen wie zum Beispiel die Entscheidungsfreiheit zu schützen sein können.“58 Die Begründung ist hier nicht ganz konsistent, da zunächst das bloße Vermögen bereits vom Begriff „Rechtsgut“ umfasst sein soll, das gleiche Anliegen durch die Verfasser des endgültigen Entwurfs jedoch mit der Beifügung des Wortes „Interessen“ abermals verfolgt wird. An der Nennung der Entscheidungsfreiheit als Beispiel ist erkennbar, dass beabsichtigt war, die Schutzgegenstände gegenüber dem herkömmlichen Verständnis von Rechten und Rechtsgütern zu erweitern. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Blick in die Begründung zur Änderung des § 311 BGB. Dort ist festgehalten, unter Rechten und Rechtsgütern seien „die in § 823 Abs. 1 angesprochenen“ zu verstehen.59 Interessen dagegen seien – insoweit gleichen sich die Begründungstexte – insbesondere auch Vermögensinteressen, aber beispielsweise auch die Entscheidungsfreiheit. Die vom ansonsten weitgehend homogenen Befund abweichende Aussage ist damit diejenige aus der Begründung zu § 241 BGB, Rechtsgüter seien neben Rechten erwähnt, um eine Erweiterung über die in der deliktischen Generalklausel genannten Schutzgegenstände hinaus zu normieren. Man kann vermuten, dass diese Begründung aus einer früheren Entwurfsschicht herrührt und sie versehentlich unverändert blieb. Dies ändert nichts daran, dass sie durchaus mit der Textgestaltung des BGB selbst konsistent ist, wenn man in Rechnung stellt, dass § 823 Abs. 1 neben den enumerierten Schutzobjekten nur „sonstige Rechte“ und nicht etwa „sonstige Rechte und Rechtsgüter“ nennt. Insofern kann sich die auf eine Nennung der „Interessen“ verzichtende Entwurfsfassung auf die vorbestehende Terminologie des BGB stützen. 2. Die herkömmliche Terminologie zu § 823 Abs. 1 BGB Betrachtet man hingegen die einschlägigen dogmatischen Bearbeitungen des § 823 BGB, so ergibt sich ein anderes Bild. Ganz im Sinne der eben zitierten Begründung des Regierungsentwurfs zu § 311 BGB findet sich dort häufig die Aussage, § 823 Abs. 1 BGB schütze „Rechte und Rechtsgüter“60. 58 BT-Drs.
14/6040, S. 126. 14/6040, S. 161 ff. 60 s. nur Hager, in: Staudinger, BGB, § 823 Rn. E 69, F 2, I 1; Förster, in: Bamberger/Roth (Hrsg.), BGB, § 823 (11/2016) Rn. 2. 59 BT-Drs.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Dabei werden die ersten vier im Gesetzestext genannten Schutzobjekte – Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit – gewöhnlich als „Rechtsgüter“, das Eigentum hingegen als „Recht“ verstanden, zu dem die „sonstigen Rechte“ treten.61 Diese Unterscheidung besitzt jedoch allem Anschein nach keine weitere rechtliche Relevanz, wie sich schon darin zeigt, dass mal zum einen, mal zum anderen Wort gegriffen wird, wenn man einen Oberbegriff benötigt.62 Es handelt sich allem Anschein nach um eine terminologische Differenzierung ohne nennenswerten rechtlichen Gehalt. Die Abgrenzung der von § 823 Abs. 1 BGB geschützten Belange gegenüber Forderungsrechten oder dem bloßen Vermögen als solchem erfolgt nicht darüber, dass der beeinträchtigte Gegenstand unter einen Begriff des Rechts oder Rechtsguts subsumiert würde, sondern über die Unterscheidung zwischen absoluten und bloß relativen Rechtspositionen. Dabei muss nach überwiegender Auffassung den absoluten Rechtspositionen eine (unabhängig von der deliktsrechtlichen Haftung angeordnete) Zuordnungs- und Ausschließungsfunktion zukommen.63 Das auf diesem Wege als Schutzgegenstand des § 823 Abs. 1 BGB Erkannte wird dann häufig als Rechtsgut bezeichnet. Im Rahmen der rechtlichen Prüfung wird jedoch die Frage, ob etwas ein Rechtsgut sei, nicht gestellt. 3. Kein scharf konturierter Begriff im Bürgerlichen Recht Eine vertiefte Untersuchung des Rechtsgutsbegriffs im deutschen Zivilrecht liegt außerhalb des Programms dieser Ausführungen. Für die allein betrachteten Verwendungen im reformierten BGB und im Deliktsrecht ist festzuhalten, dass der Begriff des Rechtsguts weder besonders scharf ausgeprägte Konturen besitzt noch wesentliche rechtliche Inhalte mit ihm als Rechtsbegriff verknüpft sind. Es lässt sich eine gewisse Abgrenzung zu 61 Wagner, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar, § 823 Rn. 3 benennt erstere als „physisch greifbare Persönlichkeitsgüter“, letztere als „absolut geschützte Vermögensrechte“ und fasst beides unter den Begriff der geschützten Interessen. Vgl. auch Staudinger, in: Schulze et al. (Hrsg.), BGB, § 823 Rn. 3: „Persönlichkeitsgüter“ und „absolutes Recht“. 62 Vgl. nur Wagner, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar, § 823, in dessen Kommentierung des Abs. 1 sich folgende Gliederungsabfolge findet: „D. Die absoluten Rechte des § 823 Abs. 1 – I. Die gesetzlich genannten Rechtsgüter – […] 4. Eigentum, II. Schutz sonstiger Rechte […]“. Demnach ist es grundsätzlich unbedenklich, sowohl alle Schutzgegenstände als „absolute Rechte“ zu fassen, als auch das Eigentum unter das Wort „Rechtsgut“ zu subsumieren; vgl. auch ebd. Rn. 144. Ähnlich flexibel in der Terminologie Teichmann, in: Jauernig (Hrsg.), BGB, Vorb. zu § 823 Rn. 6, § 823 Rn. 1, 12 und öfter. 63 Wagner, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar, § 823 Rn. 205 f.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht37
„Recht“ und „Interesse“ ausmachen. Dabei wird ersteres tendenziell als der engere, letzteres als der gegenüber „Rechtsgut“ weitere Begriff verstanden.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht Einen annähernd erschöpfenden Überblick über die Begriffsgeschichte, aber auch über die gegenwärtige strafrechtliche Diskussion über die Rechtsgutslehre64 zu bieten, ist im Rahmen dieser auf verfassungsrechtliche Fragen abzielenden Untersuchung nicht möglich. Es ist auch nicht nötig für die Betrachtung des Rechtsgutsbegriffs aus dieser Perspektive. Nicht verzichtbar sind jedoch die Grundlinien der Diskussion um den strafrechtlichen Rechtsgutsbegriff.
I. Elemente zur Begriffsgeschichte Die Diskussion um den Begriff des Rechtsguts im Strafrecht kann auf eine weit über hundertjährige Geschichte zurückblicken. Einige zentrale Stationen sind immer noch prägend für die Auseinandersetzungen der Gegenwart. Die hier vorgenommene Wahl des Ausschnitts zielt dabei vor allem auf die (rechts-)politischen Implikationen, insbesondere hinsichtlich der Priorität von Individuum und Gemeinschaft, und das Verhältnis von Rechtsgut und Gesetzgebung65. Dies führt insbesondere dazu, dass vieles, was spezifisch strafrechtlicher Gehalt der historischen Diskussionen war, keine wesentliche Beachtung finden kann. Den Rechtsgutsbegriff als einen der Kernbegriffe der Wissenschaft vom Strafrecht hat Karl Binding im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etabliert.66 64 s. dazu den Tagungsband Hefendehl/Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie, 2003 sowie Hefendehl, GA 154 (2007), S. 1 ff.; Roxin, in: FS Hassemer, S. 573 ff. 65 Eine umfassende Rekonstruktion der Begriffsgeschichte unter strafrechtlicher Perspektive müsste sich an der hervorragenden Arbeit Amelungs aus dem Jahr 1972 messen. Auf sie kann hier an zahlreichen Stellen zurückgegriffen werden. Der Ansatz liegt dort bei der Frage nach dem Zweck strafrechtlicher Verbote und nach der Bedeutung von Rechtsgüterschutz einerseits und dem Schutz der Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens andererseits (Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 1). 66 Binding, Normen I, 1. Aufl., S. 193; von Kaufmann, Normentheorie, S. 69 stammt das Diktum, Binding habe dem Begriff des Rechtsguts zum „Bürgerrecht in der Strafrechtsdogmatik“ verholfen. Eine ebenso fundierte wie kritische Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte des Rechtsgutsbegriffs nach der Begründung als dogmatische Institution durch Binding und von Liszt bietet Frommel, Präventionsmodelle, insb. S. 129 ff. Als Autor der „maßgeblichen Impulse“ für die Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs im 19. Jahrhundert sieht Binding auch Schulte, Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 25 (28).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Auf ihn geht auch die bis heute weithin anerkannte67 Gründungsgeschichte zurück, die rund 40 Jahre früher stattfindet. 1. Birnbaum: Schutz von Gütern, nicht von Rechten Johann Michael Franz Birnbaum wandte sich 1834 in einem umfangreichen Aufsatz gegen die Theorie des Verbrechens als Rechtsverletzung68 und postulierte dabei Güter, nicht Rechte als Schutzgegenstände des Strafrechts. In der deutschen Rechtswissenschaft ist mit der Rechtsverletzungslehre vor allem der Name Paul Johann Anselm Feuerbachs verbunden [a)], der ihr die maßgebliche Formulierung verliehen hatte,69 und gegen den sich Birnbaums Kritik mehrfach direkt wendet.70 Neben sprachlichen, logischen und auf die fehlende Realadäquanz gestützten Einwänden [b)] liegt in der Ausweisung des Guts als Schutzobjekt des Strafrechts vor allem eine Ablehnung des kontraktualistischen und individualistischen Fundaments der Feuerbachschen Lehre [c)]. a) Die Feuerbachsche Rechtsverletzungslehre Für Feuerbach ist der Begriff des Verbrechens im engeren Sinne nicht durch den bloßen Verstoß gegen ein Strafgesetz definiert,71 sondern er beinhaltet zusätzlich die Verletzung eines grundsätzlich unabhängig davon bestehenden (subjektiven) Rechts.72 Diese Rechte sind in einer kontraktualistischen Staatstheorie fundiert. Feuerbachs Gesellschaftsvertrag kennt hierbei Vereinigung (pactum unionis), Herrschaftsbegründung (Unterwerfung; pactum subiectionis) und Herrschaftsorganisation (Verfassung; pactum constitu67 Vgl. etwa Eser, in: FS Mestmäcker, S. 1005 (1012 f.); Rönnau, JuS 2009, S. 209 (210); Heinrich, in: FS Roxin, S. 131 (133); Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 6. 68 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149. 69 Honig, Einwilligung, S. 60 f.; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 29; Sina, Dogmengeschichte, S. 10 Fn. 31; Moos, Verbrechensbegriff, S. 213; Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (155) selbst bezeichnet Feuerbachs Lehre als sehr einflussreich. Er war weder der Einzige noch der Erste, der Kritik an ihr äußerte, s. dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 39–42; Sina, Dogmengeschichte, S. 17–19. 70 Z. B. Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (159, 166). 71 Gleichwohl ist das Vorliegen eines entsprechenden Strafgesetzes für Feuerbach nach dem Grundsatz „nulla poena sine lege“ notwendige Bedingung des Verbrechens. Dies hängt eng mit seiner Strafbegründungslehre vom psychologischen Zwang zusammen, vgl. Feuerbach, Lehrbuch, § 17; Revision I, S. 49; dazu Greco, Straftheorie, S. 51 f.; Cattaneo, Feuerbach, S. 446–477 (insb. 449 f.); Naucke, Zwangstheorie, S. 54 f.; Schmidt, Geschichte, S. 238 f. 72 Feuerbach, Revision I, S. 56; Lehrbuch, § 21.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht39
tionis) als Bestandteile.73 Namentlich im Vereinigungsvertrag sichern sich die den Zusammenschluss vollziehenden Individuen gegenseitig die Achtung ihrer Freiheitssphären zu und begründen damit gegeneinander (subjektive) Rechte. Zweck des Staates ist nach Feuerbach „die Errichtung des rechtlichen Zustandes, d. h. das Zusammenbestehen der Menschen nach dem Gesetze des Rechts.“74 Aus diesem Staatszweck folge die Berechtigung und Verpflichtung des Staates, Rechtsverletzungen zu verhüten, wozu ihm unter anderem das Strafrecht zu Gebote steht.75 Mit dem noch weitgehend auf der Carolina von 1534 basierenden zeitgenössischen Strafrecht stand eine solche Konzeption in einem spannungsvollen Verhältnis, waren in diesem Gesetzbuch doch Delikte wie die Gotteslästerung (Art. 106 CCC) oder die Zauberei (Art. 109 CCC) mit Strafe bedroht. Feuerbach erkennt das Primat des positiven Rechts gegenüber apriorischen Einsichten an und hält fest, der Rechtswissenschaftler dürfe dort, wo er Widersprüche sehe, zwar kritisieren, jedoch nicht etwa das Vorrangverhältnis umkehren.76 Wenn nun aber Erwägungen über die philosophi73 Feuerbach, Lehrbuch, § 8; Anti-Hobbes, S. 20 (Vereinigungsvertrag), 28 (Unterwerfungsvertrag), 34 (Verfassungsvertrag). Zur Entstehung des Verfassungsvertrags neben den beiden anderen Komponenten siehe Rolin, Ursprung, S. 39 f., zu dessen Etablierung vgl. ebd., S. 132 mit Fn. 145. Kersting, Philosophie, S. 236 ff., sieht innere Widersprüche in Feuerbachs Entwurf begründet, namentlich durch die Verbindung einer auf individuellem Freiheitsrecht gegründeten Konzeption mit dem Begriffsrahmen des älteren deutschen Naturrechts (240). 74 Feuerbach, Lehrbuch, § 8; zu diesem „Rechtsgesetz“ näher Feuerbach, Revision I, S. 26. Vgl. auch Feuerbach, Anti-Hobbes, S. 13 f. So sehr die Formulierung nach Kants Rechtsgesetz klingt, liegt hier in der Sache nicht ein apriorisch deduziertes Prinzip, sondern ein aus Erfahrung begründeter Satz vor (Naucke, Zwangstheorie, S. 67 f.). 75 Feuerbach, Lehrbuch, § 9 und ff. mit der auf die hier nicht weiter zu behandelnde Theorie vom psychologischen Zwang gegründeten Ableitung der Notwendigkeit des Strafrechts. Zum engen Zusammenhang zwischen den Begründungen von Staat und Strafe bei Feuerbach vgl. Naucke, Fragen, S. 41 (41): Man könne bei Feuerbach nicht von einer selbstständigen Straftheorie sprechen, sondern müsse von der Staatstheorie ausgehen, die sich in allen Einzelheiten der Konzeption von Strafe auswirke. 76 Feuerbach, Lehrbuch, § 5; Revision I, S. 249: „Als Philosophen können wir wohl gegen ein solches categorisches Strafgesetz philosophieren, als Menschen können wir um die Abschaffung desselben bitten (wenn es uns etwa dünkt, daß es unseren Theorien widerstreite); aber als positive Rechtslehrer und Pfleger der positiven Rechtswissenschaften dürfen wir uns nicht um eine Linie von den Verordnungen unseres Codex entfernen […]“; Greco, Straftheorie, S. 58 f.; Hartmann, Grundanschauungen, S. 82 f.; Cattaneo, Strafgesetzgebung, S. 280 f.; s. auch Feuerbach, Philosophie und Empirie, S. 13: positives Recht als „öffentliches Urteil“ über die geltenden Rechte. Diese selbst seien „Gesetz der Vernunft“, „ewig wie die Vernunft selbst“ und „frey vom Wechsel der Erfahrung“ (S. 8).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
schen Grundlagen des Strafens in einem Lehrbuch über positives Strafrecht stattfinden, in einem „philosophischen oder allgemeinen“ Teil (der die einzelnen Straftaten beinhaltende ist als „positiver oder besonderer“ überschrieben), so kann der Autor eine Stellungnahme zu problematischen Fällen nicht ganz vermeiden. Feuerbach lässt hierbei einen deutlichen Willen zur Harmonisierung erkennen. Die Gotteslästerung deutet er als Beleidigung der als juristische Person gefassten betroffenen Religionsgemeinschaft.77 Die Strafbarkeit des Ehebruchs soll auf die in ihm liegende Verletzung des Rechts des Ehepartners auf eheliche Treue zu stützen sein.78 Soweit sich solche (Individual-)Rechtsverletzungen nicht finden lassen, fasst er die Sittlichkeitsdelikte als Polizeiverbrechen auf.79 Diese Kategorie stützt Feuerbach darauf, dass der Staat den ihm anvertrauten Zweck des Rechtsschutzes auch mittelbar verfolgen dürfe und daher Verhalten auch dann verbieten, wenn es unmittelbar keine Rechte anderer verletze.80 Verletztes (subjektives) Recht sei bei diesen Delikten, die bloß Verbrechen im weiteren Sinne seien, das Recht des Staates auf Gehorsam. Sie bilden ein heterogenes Sammelsurium von Tatbeständen wie der Bettelei oder des Fluchens einerseits, deren Einordnung als Polizeiverstoß wegen geringer Sozialrelevanz und Strafandrohung leicht zu akzeptieren ist, aber auch von mit schwerster Strafe bedrohten Delikten andererseits, zu denen nach gemeinem Recht Sodomie und Inzest zählen (vgl. Art. 116 bzw. 117 CCC). Bei der Sodomie stellt Feuerbach beispielsweise fest, zwar sei die Strafdrohung in Relation zur Schädlichkeit der Verhaltens unmäßig, doch ermächtige das nicht dazu, die Strafbestimmung für ungültig zu erklären, spreche „hier doch ein Gesetz“.81 Es ist aufklärerisches Gedankengut, das mit der Rechtsverletzungslehre in der Dogmatik des gemeinen Rechts rezipiert wird.82 Dieses Unterfangen gelingt trotz aller Bemühung um konstruktive Harmonisierung nicht ohne Spannungen zwischen dogmatischer Treue gegenüber dem positiven Recht und sich in der theoretischen Konzeption realisierendem politischem Impe77 Feuerbach,
Lehrbuch, § 303. Lehrbuch, § 373. 79 Feuerbach, Lehrbuch, § 449 ff. 80 Feuerbach, Lehrbuch, § 22. 81 Feuerbach, Lehrbuch, § 469 Anm. a). 82 Zur Rechtsverletzungslehre als Ausdruck der „kriminalpolitischen Bewegung der Aufklärung“ Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 16 ff.; siehe auch Sina, Dogmengeschichte, S. 11: Rechtsverletzungslehre als „Erfolg der aufgeklärten Wissenschaft und des liberalen Gedankens“. Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 45 f., meint, trotz der zahlreichen Einflüsse Kants stehe Feuerbach bei Gesamtbetrachtung der Strafrechtstheorie der Aufklärung recht nahe (zu dieser dort S. 23 ff.). 78 Feuerbach,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht41
tus. An Angriffsfläche für Kritik mangelte es Feuerbachs Position83 gewiss nicht. Bei Birnbaum lassen sich vier Stoßrichtungen der Kritik unterscheiden: Er wirft der Rechtsverletzungslehre einen Widerspruch zum gewöhnlichen Sprachgebrauch, logische Inkohärenz, dogmatische Inadäquanz und politische Irrung vor. b) Sprachliche, logische und dogmatische Kritik Hinsichtlich des korrekten Sprachgebrauchs macht er geltend, von der Verletzung eines Rechts könne man sinnvollerweise nicht sprechen. Verletzbar seien Personen, Sachen oder sonstige Güter, die durch menschliches Verhalten „entzogen oder vermindert“ werden könnten.84 Ein bloß metaphorischer Gebrauch sei für eine volksnahe Gesetzgebung ungeeignet. Zudem ergäben sich bei auf den Begriff der Rechtsverletzung zurückgreifenden Vorschriften Schwierigkeiten in der Auslegung.85 Die Rede von einer „Rechtsgefahr“ erweise sich ebenso als unangemessen, wenn man die bloße Gefahr für einen Gegenstand bei der Unterscheidung von Versuch und Vollendung sowie fahrlässigem und vorsätzlichem Delikt heranziehe.86 Diese sprachliche Linie der Kritik erweist sich als nicht besonders tragfähig und eher trivial,87 gesteht doch Birnbaum selbst die Möglichkeit eines bildhaften, abstrahierten Gebrauchs ein. Ebenfalls nicht allzu schwer auszuräumen ist der Vorwurf logischer Inkohärenz. Als Verbrechen im weiteren Sinne erfordern die Polizeidelikte neben dem Vorstoß gegen ein Strafgesetz ebenfalls eine Rechtsverletzung. Feuerbach konstruierte das Gehorsamsrecht des Staates als verletztes Recht. Birnbaum deutet nun die Verbrechensdefinition im Sinne einer Erfordernis, dass „die Handlung an sich schon und ehe das Strafgesetz existierte, eine Rechtsverletzung war“.88 Mit einem solchen Verständnis wäre die Konzeption des Polizeiverbrechens tatsächlich nicht vereinbar. Dies dürfte jedoch eine Fehl83 Feuerbachs strafrechtliche Anschauungen haben im Laufe seines Lebens eine nicht unbeträchtliche Entwicklung erfahren. (Dazu Naucke, ZStW 87 (1975), S. 861 [insb. 867 ff., 882 ff.]) Hier muss, auch auf das Risiko mancher Vereinfachung hin, eine Darstellung genügen, die die Stoßrichtung der Kritik Birnbaums und damit dessen eigene Position erkennbar werden lässt. 84 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (150). 85 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (187). 86 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (170 ff., insb. 172). 87 So auch Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 52. 88 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (168). Ebenfalls für stichhaltig hält den Einwand Honig, Einwilligung, S. 40 f.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
deutung der Feuerbachschen Lehre sein. Strafgesetzverstoß und Rechtsverletzung als Elemente des Verbrechens zielen auf Unterschiedliches ab. Mit letzterer ist die Legitimation der Strafe hinsichtlich des Bezugs auf den kontraktualistisch konstituierten Staatszweck sichergestellt. Man darf dabei insbesondere nicht übersehen, dass Feuerbach den Einsatz der Strafe als staatliche Tätigkeit auch im Bereich der Polizeivergehen nur für die (mittelbare) Verfolgung des Staatszwecks zulässt.89 Das Erfordernis eines positiven Strafgesetzes gehört dagegen in den Bereich der Legitimation des Mittels Strafe und damit in den Kontext von Feuerbachs Theorie vom psychologischen Zwang.90 Das Gehorsamsrecht des Staates mag im Zusammenhang der gesellschaftsvertraglichen Staatsbegründung eine vergleichsweise komplizierte und in der Parallelisierung mit den individuellen Freiheitssphären nicht unbedingt geglückte Konstruktion sein. Anders als Birnbaum meint, wird man einen „bedeutenden logischen Fehler“ jedoch nicht feststellen können.91 Explizite Hauptstoßrichtung der Birnbaumschen Kritik ist Feuerbachs Zugrundelegung der Rechtsverletzungslehre bei der dogmatischen Bearbeitung des geltenden gemeinen Strafrechts: Er will weniger der Frage nachgehen, „ob nach der Natur der Sache nur Rechtsverletzungen als Verbrechen bestraft werden dürfen“, als „die Sache von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten […], der mehr die Rechtsanwendung als die Gesetzgebung betrifft“.92 Ein System, dass dem wirklichen Recht nicht angemessen sei, müsse entweder der praktischen Bedeutungslosigkeit anheimfallen oder aber zu Verirrungen in der Rechtsanwendung führen.93 Indem Feuerbach die Rechtsverletzungslehre seiner Dogmatik zu Grunde gelegt habe, sei er in der Erfassung des gemeinen Rechts nicht selten zu Ergebnissen gelangt, die mit dessen Vorschriften nicht zu vereinbaren seien, da das gemeine Recht eben nicht nur Rechtsverletzungen unter Strafe stelle.94 Woran Feuerbachs Lehre kranke, sei die fehlende Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem Verbre89 Feuerbach, Lehrbuch, § 22; Morstadt, Commentar, § 22 Anm. 1; so zutreffend auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 34 Fn. 52; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 51; Würtenberger, Rechtsgüterordnung, S. 221; Honig, Einwilligung, S. 40; eher im Sinne der Kritik Birnbaums findet bei Sina, Dogmengeschichte, S. 10 Fn. 32, Moos, Verbrechensbegriff, S. 211 (insb. Fn. 214) und Hassemer, Theorie, S. 36 f. die mittelbare Beziehung zum Staatszweck keine maßgebliche Erwähnung. Auch Swoboda, ZStW 122 (2010), S. 24 (27) spricht noch von einem „Kompromiss und Zugeständnis an den Zeitgeist“. 90 Vgl. dazu die Nachweise oben Fn. 71. 91 So im Ergebnis auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 34 Fn. 52. 92 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (157 f.). 93 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (158 f.), der letztere Befürchtung akzentuiert und auf Thibaut verweist, der die erste Konsequenz gezogen habe. 94 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (159).
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht43
chensbegriff.95 Tatsächlich unterscheidet Feuerbach nicht zwischen dem Begriff des Verbrechens im philosophischen Sinne und in Bezug auf das positive Recht. Als Einsicht über die Bedingungen der Möglichkeit staatlicher Strafe nimmt der im allgemeinen Teil seines Lehrbuchs dargestellte Begriff einen epistemologischen Status in Anspruch, von dem aus sich kein direkter Widerspruch zu Vorschriften des positiven Rechts ergeben kann. c) Ablehnung des individualistischen Kontraktualismus Der vierte Ansatzpunkt der Kritik, der bereits im Hintergrund der beiden zuletzt behandelten steht, ist Birnbaums Ablehnung der kontraktualistischen Staatsbegründung im Geiste der Aufklärung und ihrer Folgen. Eher Nebenschauplatz ist hierbei die Vorhaltung, die Feuerbachsche Rechtsverletzungslehre könne für die Polizeivergehen den Rechtsgrund der Bestrafung nicht angeben – mittels des staatlichen Gehorsamsrechts könne noch die „unschuldigste Handlung zur Rechtsverletzung gestempelt werden“.96 Die insgesamt strafrechtslimitierende Tendenz der Rechtsverletzungslehre stellt Birnbaum nicht ernsthaft in Frage. Zudem wäre dem Einwand entgegenzuhalten, dass auch die Polizeidelikte – wie oben dargelegt97 – mittelbar der Verhütung von Rechtsverletzungen zu dienen haben. Bedeutsamer und von umgekehrter Tendenz ist die Kritik, unter die Kategorie der Polizeivergehen fielen gleichermaßen Handlungen, die Güter eines einzelnen Menschen bedrohten, ohne sie zu schädigen, und „Beleidigungen [sc. Verletzungen] des sittlichen und religiösen Gefühls eines ganzen Volkes“98. Letztere Klasse von Straftaten seien weit schwerere Angriffe auf das Gemeinwesen als bloß individualgefährliche Akte. Daher sei es verfehlt, ihre Bestrafung unter dem gleichen systematischen Gesichtspunkt zu erklären. Hieran wird offensichtlich, was auch die logische und dogmatische Kritik implizit prägt: Birnbaum lehnt den konsequenten Individualismus ab, auf den Feuerbach Staat und Strafe gründet.99 Schon die dogmatischen Ein95 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (153, 158); mit gleicher Tendenz auch S. 162 „[…] ich rechne es zu den philosophischen Fehlgriffen Feuerbachs, daß […] weder Positives und Philosophisches, noch Gemeinrechtliches und Partikularrechtliches, noch gesetzliche Praxis und neuere Praxis gebührend geschieden worden sind.“ 96 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (169). 97 S. 41 mit Fn. 89. 98 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (167); die Formulierung findet sich auf S. 166 in einem Referat über die portugiesische Rechtswissenschaft. 99 Das Primat des Individuums als unvermeidliche Folge der gesellschaftsvertraglichen Staatsbegründung benennt bereits Gierke, Althusius, S. 105. Eine Ausnahme bildet insoweit Rousseau mit der volonté generale als maßgeblicher Instanz (ders., Contrat, Buch II Kap. 3; vgl. v. d. Pfordten, ZPhF 54 [2000], S. 491 [507]).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
wände weisen – pointiert gesagt – auf die hintergründige Überzeugung hin, die Fundamente des geltenden Strafrechts seien nicht in dieser Art individualistisch. Die im hier gebrauchten Sinne politische Kritik macht nun – im Sinne des Konservativismus100 – ausdrücklich geltend, das Strafrecht solle auch gar nicht einem durchgehend individualistischen Ansatz folgen. Birnbaums Definition des Verbrechens kommt ohne einen anspruchsvollen theoretischen Unterbau aus. Für ihn ist „[…] als Verbrechen nach der Natur der Sache oder als vernunftgemäß im Staate strafbar jede dem menschlichen Willen zuzurechnende Verletzung oder Gefährdung eines durch die Staatsgewalt Allen gleichmäßig zu garantirenden Gutes anzusehen […]“.101 Güter zu schützen sei jedenfalls wesentlicher Bestandteil der Aufgaben der Staatsgewalt – unabhängig vom präzisen staatstheoretischen Standort.102 Im Bereich der individuell zuzuordnenden Schutzgegenstände ergibt sich durch den Perspektivenwechsel keine große Änderung. Durch den Verzicht auf die gewissermaßen zwischengeschaltete Ebene der Rechte als Ort der Verbindung zwischen Verbrechenslehre und Gesellschaftsvertragslehre bleiben Leben, Eigentum, Ehre etc. unverändert in den Bereich des strafrechtlichen Schutzes einbezogen. Eine wesentliche Änderung ergibt sich jedoch bei den Delikten, die nicht individuell zugeordnete Gegenstände schützen. Streng der Vertragskonstruktion folgend waren dabei für Feuerbach stets juristische Personen als Verletzte notwendig: sei es der Staat selbst bei Hochverrat oder Polizeivergehen, sei es die Religionsgemeinschaft bei der Gotteslästerung.103 Auf derlei Konstruktionen kommt es Birnbaum nicht an. Er möchte zwar nicht ausschließen, dass juristische Personen Verletzte einer Straftat sein könnten, am Beispiel der Religionsdelikte präsentiert er jedoch einen anderen subjektiven Bezugspunkt: die „Gesamtheit“, das „Gemeinwesen“ oder das „Volk“.104 Welche Güter diesem Subjekt zustehen können, ist weit weniger bestimmt, als dies bei den Rechten des Staates bei Feuerbach der Fall ist. Diese stützen sich auf einen vorausgesetzten Staatszweck, auf den sie funktionell bezogen 100 Amelung,
Lehre, S. 349 (354 f.). AdCR NF 1834, S. 149 (178). Er fügt noch eine Art Ultima-ratioPrinzip an, indem er fordert, es dürfe zur Gewährleistung des Gutes keine anderen tauglichen Mittel als die „Androhung einer bestimmten Strafe und […] Vollstreckung der gesetzlichen Drohung gegen jeden Uebertreter“ geben. 102 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (177). Man hat daher mit Naucke, Verbrechensbegriff, S. 269 (280–283) schon bei Birnbaum die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfindende „Entlassung des materiellen Verbrechensbegriffs aus der Staats- und Rechtstheorie“ (276) angelegt zu sehen. 103 Feuerbach, Lehrbuch, § 303 (zur Gotteslästerung); zum Hochverrat § 162 ff.; zum Polizeivergehen § 22. 104 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (178). 101 Birnbaum,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht45
sind. Bei jenen ist das nicht der Fall – Birnbaum scheint dabei aber auch keine erörternswerte Problematik vorzuliegen, so dass der Rekurs auf Evidenzen zu genügen scheint: so meint er, dass eine „Summe religiöser und sittlicher Vorstellungen als ein unter die allgemeine Garantie zu stellendes Gemeingut des Volks angesehen werden können, dessen Erhaltung mit der Erhaltung der Verfassung selbst in […] innigem Verbande steht“.105 Die Ausdehnung des Schutzgegenstands vollzieht sich in mehrerlei Art und Weise. Zum einen verlieren die Begrenzungen an Schärfe: Der Ansatzpunkt liegt nicht etwa beim einzelnen Gegenstand, der einzelnen sittlichen oder religiösen Vorstellung, sondern bei ihrer Zusammenfassung als „Summe“. Zum anderen wird der Erhalt „der Verfassung selbst“ zur Begründung für die Wichtigkeit der sittlichen Anschauungen. Was unter der Verfassung zu verstehen ist, bestimmt Birnbaum nicht näher. Die rechtliche Konstitution der Staatsgewalt allein (im Sinne einer eng verstandenen normativen Verfassung), wie sie bei Feuerbach im Verfassungsvertrag als drittem Teil des Gesellschaftsvertrag anzutreffen ist, kann nicht gemeint sein. Dann wäre nämlich eine Gefährdung durch unsittliches Verhalten wenig plausibel. Nahe liegt ein erheblich weiteres Verständnis von „Verfassung“, das auch die tatsächlichen Verhältnisse in einem Gemeinwesen in weitem Umfang mit erfasst. Ganz in diesem Sinne ist die Regierungsform nur ein Gesichtspunkt unter mehreren der „Staatsverfassung“ im einschlägigen Artikel des zeitgenössischen Rotteck-Welckerschen Staatslexikons.106 Einen solch weiten Verfassungsbegriff vorausgesetzt, gehören Sitten, Religiositäts- und Sittlichkeitsvorstellungen selbstverständlich zur Verfasstheit; und diese kann mit Integrität und Verletzung jener stehen und fallen. Unter solchen Vorzeichen kann man aber vieles als essentiell für das Gemeinwesen betrachten, und es ist kaum zu einer Kritik des bestehenden Strafrechts zu gelangen, wären doch die darin ausgedrückten Wertungen des Gesetzgebers kaum von der vernünftigerweise zu schützenden Verfassung des Volkes zu trennen.107 Im Vergleich zur Lehre von der Rechtsverletzung bedeutet Birnbaums Güterschutz in dieser Hinsicht die (bewusste) Aufgabe eines eigenständig (kontraktualistisch) fundierten kritischen Standpunkts. Der Kreis der Schutzobjekte wird weiter, ihre Behandlung tendenziell affirmativ. Insbesondere den konsequenten legitimatorischen Individualismus lehnt Birnbaum als Extremposition ab. Trotz eines Bekenntnisses zur Priorität der Menschen (wohlgemerkt: nicht des In105 Birnbaum,
AdCR NF 1834, S. 149 (178). Art. „Staatsverfassung“, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, Bd. 15, S. 21 (48 ff.). 107 Als Fortführung der kritisch-aufklärerischen Tendenz im Strafrecht wird Birnbaums Position jedoch von Sina, Dogmengeschichte, S. 27 bewertet. Ähnlich Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 15 f. und Hohmann, Rechtsgut, S. 14 f. Auch Neubacher, JURA 2000, S. 514 (515) schreibt Birnbaum ein „liberale[s] Bekenntnis“ zu. 106 Welcker,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
dividuums) gegenüber dem Staate108 verschieben sich damit die Gewichte hin zu einer stärker kollektiv geprägten Auffassung des Verhältnisses von Individuum und Staat. Wenn Birnbaum mit den für die Verfassung essentiellen Sittlichkeitsvorstellungen historisch-tatsächlich Gegebenes gegenüber abstrakt-rationalistischer Konstruktion aufwertet, so deckt sich dies mit der Tendenz der Historischen Rechtsschule.109 Deren Charakterisierung als „reformkonservativ“110 passt wohl auf Birnbaums Haltung. Dafür, dass er sich selbst als Vertreter der später als Historische Schule bezeichneten Fraktion verstanden hätte, finden sich keine Belege. Im Vorwort seiner Schrift zur Rechtsnatur des Zehnten aus dem Jahr 1831 äußert er, er sei von der „Geringschätzung philosophischer Rechtswahrheiten“ genauso weit entfernt wie von der „Verachtung des positiven Rechtszustandes, oder der Ergründung seiner historischen Entwicklung“111 und erklärt sich zum Anhänger der Philosophie des juste milieu. 2. Verbrechen, Rechtsgut und Interesse bei Binding und von Liszt Als ein zentraler Gegenstand der strafrechtlichen Diskussion etabliert wird der Begriff des Rechtsguts durch die beiden Protagonisten des so genannten Schulenstreits112 um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Karl Binding und Franz von Liszt.
108 Birnbaum, AdCR NF 1834, S. 149 (180). Aus dieser Stelle eine „vertragstheoretisch abgeleitete Beschränkung der staatlichen Macht“ zu lesen, wie dies Neubacher, JURA 2000, S. 514 (515) tun will, geht zu weit und wird der generellen Tendenz von Birnbaums Stellungnahme nicht gerecht. 109 Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 54 f. 110 Rückert, JZ 2010, S. 3. 111 Birnbaum, Natur, S. V. Siehe jedoch auch die gegen Carl von Rotteck gewandte Charakterisierung des Vernunftrechts als starr und die Sympathie für eine „Ansicht, welche mit historischer Genauigkeit dem Ursprung der Rechtsinstitute nachgehend, das oft durch den Einfluß der öffentlichen Meinung nach und nach Entstandene schonend, als vernunftgemäß nur das betrachtet, was den individuellen Bedürfnissen eines jeden Volks angemessen ist, und dafür jenen historischen Weg für eine reinere Quelle der Erfahrung ansieht, als die durch große Ereignisse der Gegenwart über Gebühr aufgeregte Stimmung des jetzt lebenden Geschlechtes.“ (S. 11 f.) Zur Gegnerschaft Birnbaums und Rottecks in der Zehntfrage auch Hollerbach, in: FS Würtenberger, S. 9 (19). 112 Dazu Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 131 ff. Die straftheoretische, weit ausgreifende Kontroverse muss hier in allem unbeleuchtet bleiben, was nicht für die Skizze des Rechtsgutsbegriffs unverzichtbar ist.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht47
a) Bindings kollektivistisches Rechtsgut des Gesetzgebers Eindeutig von einer auf die Gemeinschaft bezogenen Perspektive bestimmt ist der Rechtsgutsbegriff Karl Bindings,113 den er in seinem Hauptwerk „Die Normen und ihre Übertretung“ entwirft.114 Binding setzt sich mit der Frage auseinander, ob allen Straftaten (besondere) subjektive Rechte als Angriffsobjekte zu Grunde lägen.115 Er verneint dies: Zwar gebe es zahlreiche Straftatbestände, die die Verletzung eines subjektiven Rechts sanktionierten; das gelte aber zum einen nicht für alle Tatbestände, und zudem sei es nicht der maßgebliche Gesichtspunkt für deren Konstruktion durch den Gesetzgeber.116 Wie bereits Birnbaum richtig erkannt habe, seien Rechtsgüter die Schutzobjekte des Strafrechts und die Verletzungsobjekte der Straftat. Das Rechtsgut definiert Binding als „Alles, was selbst kein Recht, doch in den Augen des Gesetzgebers als Bedingung gesunden Lebens der Rechtsgemeinschaft für diese von Wert ist, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung sie nach seiner Ansicht ein Interesse hat, und das er desshalb durch 113 Die innere Entwicklung der Positionen wird hier um den Preis der historischen Vereinfachung und Verkürzung zu Gunsten einer schärferen Abbildung der für die Rezeption bestimmend gewordenen Grundlinien und Kontraste weitgehend ausgeklammert. 114 Erste Auflage 1872. Hier liegt, soweit nicht anders angegeben, die 4. Auflage von 1922 zu Grunde, die ein Abdruck der bis auf einige Verweise gegenüber der zweiten (1890) unveränderten dritten Auflage (1916) ist. Zum Verständnis von Bindings Konzeption erscheint ein knapper Hinweis auf die Unterscheidung von Norm und den Vorschriften, wie sie sich im Strafgesetzbuch finden, erforderlich: Lautet eine Vorschrift des Strafgesetzbuches „Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“, so ist nicht etwa diese Strafvorschrift die Norm im Sinne Bindings. Die Norm ist die Verhaltensvorschrift, für deren Verletzung die Strafe angedroht ist (Binding, Normen, S. 7, 45; Handbuch, § 30 S. 156 f.). Im Beispiel wäre sie auszudrücken als „Man darf keinen anderen Menschen töten.“ Grund für diese Konstruktion ist, dass man nach Binding nicht annehmen kann, der Straftäter verstoße gegen die Strafvorschrift, da diese seine Handlung doch gerade zum Tatbestand der Bestrafung mache (Binding, Normen, S. 4). Er handle daher mit diesem Gesetz im Einklang. Zur Normentheorie auch Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 132 f.; zeitgenössische Kritik etwa Kelsen, Hauptprobleme, S. 390 ff. 115 Eine Verletzung des Rechts auf Gehorsam, das dem Normgeber zusteht, ist nach Binding, Normen, S. 98, allgemeines Wesensmerkmal aller Delikte. Daraus ergibt sich aber kein Gesichtspunkt, der eine Analyse der einzelnen Tatbestände ermöglichen würde. Zudem seien wegen unterschiedlicher Reichweite die aus dem Gehorsamsrecht erwachsende Pflicht und sich aus anderen subjektiven Rechten ergebende Pflichten streng zu unterscheiden (S. 100 f.). 116 Binding, Normen, S. 330. Binding hatte in der ersten Auflage der Normen das Verhältnis von Rechtsgut und subjektivem Recht noch anders bestimmt; vgl. dazu den ausdrücklichen Hinweis auf die Neuorientierung S. 329 und Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 75.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“117 Diese Definition kann man in drei wesentliche Elemente zergliedern. Erstens das inhaltliche Kriterium: der Wert für die Rechtsgemeinschaft und das Erhaltungsinteresse der Rechtsgemeinschaft. Zweitens das über die Rechtsgutseigenschaft entscheidende Subjekt: der Gesetzgeber. Und drittens die Form der Entscheidung: die Inkraftsetzung von Normen. Dieser Akt der Entscheidung ist nicht etwa akzessorisch zu dem inhaltlichen Kriterium des Wertes für die Rechtsgemeinschaft zu verstehen. Er ist in seinem Bestand als verbindliche Entscheidung über dieses inhaltliche Kriterium selbstständig.118 Aus der Zusammenschau der beiden letzteren Elemente wird deutlich, dass es von vornherein nicht möglich ist, Bindings Rechtsgutsbegriff gegen Inhalte einer positive Gesetzgebung auszuspielen. Erst durch einen Akt der Gesetzgebung wird das Gut zum Rechtsgut; von der Warte des Rechtsgutsbegriffs aus lässt sich die Gesetzgebung folglich inhaltlich nicht kritisieren. Wo sich bei Binding rechtsgutsorientierte Gesetzgebungskritik findet, bezieht sie sich nur auf formelle Fragen der Gesetzgebungstechnik, wenn er namentlich die öffentliche Ordnung und die Sittlichkeit, in Abschnittsüberschriften des zeitgenössischen Reichsstrafgesetzbuches zu finden, als heterogene, zu unbestimmte und damit für die Gesetzgebung unbrauchbare Rechtsgüter geißelt.119 Zum Schutz der derart zusammengefassten einzelnen Belange selbst verhält er sich nicht – jedenfalls nicht explizit ablehnend – und formuliert die Freiheit des Gesetzgebers ausdrücklich: „In der Schaffung von Rechtsgütern und in der Aufstellung von Schutznormen derselben ist die Rechtsquelle nur durch ihre eigene Erwägung und durch die Logik beschränkt.“120 Konnte man bei Birnbaum noch eine Ambiguität hinsichtlich des sich in den Rechtsgütern abbildenden Gewichts von Individuum und Gemeinschaft feststellen, die eindeutig lediglich in der Gegenposition zu Feuerbachs fundamentalem Individualismus war, so setzt Binding den Akzent ohne Zweifel bei der Gemeinschaft. Allen Rechtsgütern soll demnach ein Sozialwert eigen sein; nur wegen des Wertes für die Gemeinschaft seien sie unter deren Schutz gestellt.121 Dies habe zur Folge, dass eine strenge Unterscheidung zwischen 117 Binding,
Normen, S. 353–355. Normen, S. 345: Schutz nicht bloß, solange das Gemeinschaftsinteresse dauert, sondern so lange das Gesetz dauert. 119 Binding, Normen, S. 352 f. Vgl. dazu auch Hassemer, Theorie, S. 47 f.: Binding habe den Gutsbegriff zwar nicht zur für den jeweiligen Gesetzgeber in jeder Hinsicht verfügbaren Größe gemacht, aber wegen eines gesetzespositivistischen Ausgangspunkts keinen kritischen Standpunkt eingenommen. 120 Binding, Normen, S. 340. 121 Binding, Normen, S. 340 f. Er verweist hierbei auf v. Jhering, Zweck, S. 492, der als Angriffsobjekte der Verbrechen die „Lebensbedingen der Gesellschaft“ identi118 Binding,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht49
Rechtsgütern der Gemeinschaft und solchen des Einzelnen nicht sinnvoll sei. Da das Recht die Ordnung des Lebens der Gemeinschaft herstelle, kann Binding zufolge aus rechtlicher Perspektive der Wert einer Person, einer Sache oder eines Gegenstandes nur im jeweiligen Wert für diese Gemeinschaft liegen. Diese Ansicht kulminiert in dem Satz: „Das Rechtsgut ist stets Rechtsgut der Gesamtheit, mag es scheinbar noch so individuell sein.“122 Wegen dieser notwendigen Gemeinschaftsbezogenheit meint Binding auch, der Begriff des Rechtsguts sei ein Begriff des öffentlichen, nicht ein solcher des Privatrechts.123 Zwar könne durchaus ein Gut zum Gegenstand eines privaten Rechts werden, es könne aber selbst dann vom Gesetzgeber auch für den Inhaber dieses Rechts selbst für unverfügbar erklärt werden. Jedenfalls für die dogmatische Bearbeitung des Strafrechts wird damit ein kollektivistisch-monistisches Konzept entworfen. Ein rechtspolitisches oder sozialphilosophisches Programm ist damit nicht explizit verbunden.124 Bindings Überindividualismus ist primär ein methodisch-konstruktiver und kein normativer.125 Abgesehen von der prinzipiellen und hier nicht zu klärenden Frage nach der Trennbarkeit dogmatischer Arbeit am positiven Recht und im weitesten Sinne politischer Stellungnahme sind aber Spitzen gegen individualistische naturrechtliche Konzeptionen nicht zu übersehen.126 fiziert und benennt sie als „soziale Güter“. Zur dort auf S. 495 ff. vorgenommenen Unterscheidung zwischen Verbrechen gegen das Individuum, den Staat und die Gesellschaft verhält sich Binding allerdings eher kritisch, weist aber darauf hin, zu einer „gewissen praktikablen Gruppirung der Rechtsgüter“ könne man sie unbeschadet nutzen, wenn man nicht weitergehende wissenschaftliche Ansprüche damit verbinde. 122 Binding, Normen, S. 357 f. 123 Binding, Normen, S. 341. Es klingt die klassische, aus dem ersten Buch der Institutionen Ulpians in Justinians Digesten (1,1,1,2) übernommene Unterscheidung von privatem und öffentlichen Recht („publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem“) nach dem Singular- oder Gemeininteresse an. 124 Vgl. dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 81, der davor warnt, den nicht-individualistischen Aspekt des Rechtsgutsbegriffs Bindings überzubetonen, darin aber zugleich ein Charakteristikum sieht, das nationalsozialistischen Strafrechtskonzeptionen entgegenkam. 125 Vgl. zu diesen Qualifizierungen v. d. Pfordten, ZPhF 54 (2000), S. 491 (500 f.), der neben normativ-ethischen Bedeutung von soziologisch-deskriptiver, begrifflichinstrumenteller und tatsächlich-politischer Bedeutung spricht. In diesem Sinne kann man bei Binding jedenfalls einen begrifflich-instrumentellen Kollektivismus konstatieren, nachdem er eine exklusiv kollektivistische Deutung des Rechtsgutsbegriffs vornimmt. Ich halte für meine Ausführungen die Bezeichnung methodisch-konstruktiv als Hinweis auf die für Analyse und Begriffsbildung gewählte Perspektive für griffiger. 126 Vgl. nur Binding, Normen, S. 355 (Fn. 1, beginnend S. 353 f.): „Trotzdem tritt hier unverhüllt die rein individualistische Rechtsauffassung des alten Naturrechts samt ihrer grenzenlosen Ueberschätzung des Willens und der Wolfahrt des Einzelnen
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
b) von Liszts Akzentverschiebung zum Lebensgut Franz von Liszt hat den Rechtsgutsbegriff übernommen und zu einer tragenden Säule seines vom Zweckgedanken geprägten strafrechtlichen Systems gemacht.127 Prima vista erscheint seine schlichte Definition mit derjenigen Bindings kompatibel: „Rechtsgut ist das rechtlich geschützte Interesse.“128 Und jedenfalls in äußerem Einklang mit Binding stehen die Feststellungen, der Schutz dieser Lebensinteressen werde seitens des Rechts durch Normen geleistet; Rechtsgut und Norm seien demzufolge die beiden Grundbegriffe des Rechts. Nach von Liszts Darstellung unterscheidet sich sein Rechtsgutsbegriff von demjenigen Bindings darin, dass Rechtsgüter eben nicht „Güter des Rechts“ sondern durch das Recht anerkannte und geschützte Güter der Menschen seien.129 Das Interesse sei vom Leben erzeugt; vom Recht werde es nur anerkannt und dadurch zum Rechtsgut. Von Liszt weist dabei darauf hin, der Wandel von Rechtsnormen und damit Rechtsgütern werde durch den Wandel schutzbedürftiger Interessen induziert; in den wandelbaren Gegebenheiten von Wissen und Anschauung des Volkes eines Staats sei letztlich alles Recht fundiert. Nicht zuletzt diese Betonung der tatsächlich-sozialen Seite des Gegenstands Rechtsgut gegenüber dem Moment der Gesetzgebung hat von Liszt den Ruf eingebracht, einen gesetzgebungskritischen Rechtsgutsbegriff vertreten zu haben.130 Das lässt sich überzeugend widerlegen: Von Liszt trennt deutlich Strafrechtsdogmatik und die für eine Rechtskritik mit Vorschlägen hervor.“ Eine gleichgerichtete Tendenz ist auch aus S. 339 zu lesen, wo Binding betont, schon immer hätten sich Strafgesetzgeber nicht auf den Schutz subjektiver Recht beschränkt, sondern „ihr Ziel weit höher gesteckt und den ganz universellen Charakter ihrer Aufgabe wenn nicht verstanden so doch geahnt.“ Zur zeitgenössischen Kritik mit individualistischem Impetus s. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 108. 127 Dazu vor allem der programmatische Aufsatz v. Liszt, ZStW 3 (1882), S. 1 (insb. 18 f., 21 f.). 128 v. Liszt, Lehrbuch, § 12 S. 49. v. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (673). 129 v. Liszt, Lehrbuch, S. 49 Fn. 1. In dem als Polemik gegen Binding konzipierten Aufsatz ZStW 6 (1886), S. 663–698 bemüht sich von Liszt neben einer prinzipiellen Methodenkritik (insb. 669 ff.) darum, Inkonsistenzen in der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs bei Binding aufzuzeigen und damit dessen Konzept insgesamt zu diskreditieren. Nicht wenig davon muss sich den Vorwurf gefallen lassen, eher triviale sprachliche Mehrdeutigkeiten zu attackieren (z. B. 679). 130 Sina, Dogmengeschichte, S. 53 f. sieht bei ihm, mit gewissen Einschränkungen, einen materiellen Rechtsgutsbegriff und zudem das Bewusstsein der liberalen Tendenz trennscharfer Begriffe. Differenzierend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 82 ff., der schließlich feststellt, von Liszts Rechtsgutsbegriff komme als kriminalpolitischer Leitbegriff nicht in Frage. Im Ausgangspunkt spricht auch noch Swoboda, ZStW 122 (2010), S. 24 (31) von einem Anspruch, „der staatlichen Strafgewalt mit einem trans-
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht51
für künftige Gesetzgebung zuständige Rechtspolitik.131 In der Strafrechtsdogmatik ist die Fixierung der für schützenswert erkannten Interessen durch den Gesetzgeber allein maßgeblich.132 Der (strafrechtsdogmatische) Rechtsgutsbegriff kann damit nicht gegen eine gegebene Gesetzgebung ausgespielt werden. Wenn von Liszt den Begriff des Rechtsguts als „Grenzbegriff der abstrahierenden juristischen Logik“ bezeichnet und als angrenzend namentlich die Soziologie und (später) die Politik versteht,133 so ist damit nicht gemeint, die Rechtswissenschaft müsse an diesen Grenzen des eigenen Wirkungsbereiches etwa fremde Maßstäbe der inhaltlichen Bewertung übernehmen. Es wird damit eine Schnittstelle zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven der Befassung mit einem bestimmten Gegenstand beschrieben: Die Identifikation der Rechtsgüter ist die äußerste Abstraktion in der rechtswissenschaftlichen Befassung mit Tatbestand und Norm. Es bleibt jedoch der Wechsel des Standpunkts möglich, wenn man nämlich die als Rechtsgut geschützten Interessen beispielsweise von der Warte der Soziologie aus als Faktoren in den kausalgesetzlichen Zusammenhängen der Gesellschaft beleuchtet. In diesem Sinne kann nach von Liszt die wissenschaftliche Wahrheit der Aussage, das Wesen des Rechts liege im Schutz von Interessen, mit der juristischen Methode nicht erwiesen werden.134 Eine solche Erkenntnis ist demnach keine im engeren Sinne juristische. Sie gehört für von Liszt in den Bereich der Politik. Neben der streng juristischen Behandlung des Rechts hält er auch diese Außenperspektive, für den Fall des Strafrechts insbesondere die Kriminalpolitik, für essentiell. Er gibt zu bedenken, auch die Advokaten einer rein technisch-juristischen Methode übten schließlich Kritik an der Gesetzgebung, indem sie den Zweckgedanken als Maßstab heranzögen.135 Die Zuschreibung eines strafrechtskritischen Rechtsgutsbegriffs mag auch mit von Liszts individualistischer Grundlegung zusammenhängen. Wenn er das Rechtsgut als rechtlich geschütztes Interesse definiert, so meint er damit das konkrete Interesse. Dieses Interesse ist nicht selten ein solches des einzelnen Mitglieds der Rechtsgemeinschaft: Rechtsgut beispielsweise des Diebstahlsverbots ist das Eigentum im Sinne des Interesses des Eigentümers positiven Rechtsgutsbegriff Grenzen zu setzen“, gelangt jedoch wie Amelung zum Ergebnis, ein gesetzgebungskritischer Ertrag sei daraus nicht hervorgegangen. 131 v. Liszt, ZStW 13 (1893), S. 325 (360 und ff.); Frommel, Präventionsmodelle, S. 121; s. auch Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 133 f. 132 Frommel, Präventionsmodelle, S. 121; vgl. auch v. Liszt, Lehrbuch, § 12, S. 49: „[…] der Rechtsschutz erhebt das Lebensinteresse zum Rechtsgut.“ 133 v. Liszt, ZStW 6 (1886), S. 663 (672 f.); von Liszt verwendet dort das Wort „Gesellschaftslehre“ (673); v. Liszt, ZStW 8 (1888), S. 133 (139 f.). 134 v. Liszt, ZStW 8 (1888), S. 133 (139). 135 v. Liszt, ZStW 8 (1888), S. 133 (140).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
an der Verfügung und Nutzung über den bzw. des Gegenstandes.136 Träger des Rechtsguts in diesem Sinne ist von Liszt zufolge der Eigentümer. Das weicht erheblich von Bindings Anschauung ab, alle Rechtsgüter seien Rechtsgüter des Staates und die Unterteilung in Rechtsgüter des Individuums und der Gemeinschaft sei wenigstens irreführend.137 Binding hat in den späteren Auflagen seiner „Normen“ klargestellt, wenn man vom Rechtsgut als Interesse spreche, sei damit stets das „soziale Werturteil der Rechtsgemeinschaft“ gemeint; die Rechtsgutsverletzung sei „unabhängig davon, dass sie zugleich Interessen der Einzelnen oder des sog. Publikums“ verletze.138 Von Liszt dagegen spricht der Unterscheidung zwischen Rechtsgütern des Einzelnen und der Gemeinschaft analytischen Wert für die Dogmatik zu und legt sie der Darstellung des Strafrechts in seinem Lehrbuch zu Grunde.139 Es ist aber nicht erkennbar, dass er ausdrücklich der einen oder anderen Gattung von Interesse oder Rechtsgut einen Vorrang hinsichtlich des normativen Gewichts zuschriebe. Oberstes Rechtsgut ist bei ihm zwar das „menschliche Dasein“. Dieses beinhalte jedoch das „Dasein des als einzelnes betrachteten Individuums“ und das „Dasein des Einzelwesens in der Gesamtheit der Rechtsgenossen“.140 Es entspricht dem Charakter eines in erster Linie auf dogmatische Erfassung des bestehenden Rechts ausgerichteten Konzepts, dass zwischen diesen beiden Aspekten keine Hierarchie hergestellt wird. c) Ausgangspunkt bei Interesse oder Anerkennungsakt Die Rechtsgutslehren Bindings und von Liszts stecken den Rahmen der später in die Diskussion eingebrachten Positionen ab.141 In diesen Anfängen des Rechtsgutsbegriffs als zentralem Konzept der strafrechtlichen Dogmatik lassen sich verschiedene Dimensionen des Begriffs identifizieren: Entstehung und Erkenntnis des Rechtsguts, das Zuordnungssubjekt sowie das Verhältnis zum positiven Recht. Vergleicht man die Standpunkte von Liszts und Bin136 Dieses Beispiel gibt von Liszt (noch handgreiflich-anschaulicher mit einer Uhr als Gegenstand des Eigentums) selbst in ZStW 6 (1886), S. 663 (674). 137 Binding, Normen, S. 341. S. schon oben S. 49. 138 Binding, Normen, S. 360; zum Werturteil auf den Stufen von Rechtsgut und Norm Kaufmann, Normentheorie, S. 69 ff. 139 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch, S. XIII und XVIII (Inhaltsverzeichnis), § 79 S. 269; außerdem die entsprechenden Erwägungen in der Rezensionsabhandlung ZStW 8 (1888), S. 143 f. 140 v. Liszt, ZStW 8 (1888), S. 133 (148, s. auch schon 141 f.). Hervorhebung im Original. v. Liszt, Lehrbuch, § 79 S. 267. 141 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 94; vgl. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 29 ff. und 35 ff. zum Verhältnis von individuellen und überindividuellen Rechtsgütern.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht53
dings, so ergibt sich, dass man die genannten Dimensionen zwar analytisch trennen kann und muss, sie in dem jeweiligen Entwurf des Rechtsgutsbegriffs jedoch eng zusammenhängen. Bei Binding ist das gesetzgeberische Werturteil konstitutiv, durch diese Schwerpunktsetzung erscheint allein der Staat als Träger von Rechtsgütern; Rechtsgüter sind in der Folge aus dem positiven Recht zu erschließen und können diesem nicht als normativer Maßstab gegenübertreten. Auch bei von Liszt gibt es keine Rechtsgüter ohne rechtliche Anerkennung, der Fokus ist jedoch auf das vorrechtliche Substrat, das „Lebensgut“ verschoben. Aus dieser Perspektive liegt es nahe, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft als Träger des Guts zu unterscheiden. Ebenfalls denkbar erscheint es, die Lebensinteressen und Lebensgüter gegen die in Rechtsform getroffenen Wertungen auszuspielen. Diese kriminalpolitische, rechtskritische Tendenz lässt sich bei von Liszts Rechtsgutsbegriff jedoch nicht finden. Auch dieser ist in dem Sinne dogmatisch konzipiert, dass er für die Erfassung und Beschreibung des wirklich geltenden Rechts bestimmt ist. Die Diskussion über den Rechtsgutsbegriff entfaltet sich bald in großer Breite und Vielfalt. Nicht wenige der einzelnen Probleme sind dabei solche, die der spezifischen Struktur des Strafrechts als Rechtsgebiet allgemein und strafrechtlicher Vorschriften insbesondere geschuldet sind. Dazu zählt die Unterscheidung von Rechtsgut und Handlungsobjekt, die bereits bei von Liszt begründet wird, und später die Frage nach den Kriterien der Abgrenzung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht.142 Diese Fragen führen ins Rechtlich-Konkrete. Sie gehören damit nicht zum Kreis derjenigen Aspekte der strafrechtlichen Tradition, die von Interesse für eine abstrahierende Suche nach Parallelen zu Problemstellungen im öffentlichen Recht sind. Dazu gehören wiederum die vollständige Ausprägung eines gesetzesbezogenen Rechtsgutsbegriffs unter neukantianischem Einfluss, die Auseinandersetzung um den Rechtsgutsbegriff unter den Strafrechtslehrern des Nationalsozialismus und die Mobilisierung des Rechtsgutsbegriffs für auf Liberalisierung abzielende Reformbestrebungen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepu blik. Die erstgenannte Periode trägt zum Bild der dogmatischen, die letzten beiden tragen zum Bild der strafrechtstheoretischen (oder rechtspolitischen) Begriffstradition bei. 142 Zu Rechtsgut und Handlungsobjekt Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 102 ff., 198 ff.; Hefendehl, Rechtsgüter, S. 39 ff., Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/ Neumann/ Paeff gen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 120 f.; Otto, Strafrecht, § 1 Rn. 42; Roxin, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 65; vgl. auch die knappe exemplarische Darstellung bei Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Rn. 14. Zu Strafrecht und Ordnungswidrigkeiten ebenfalls Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 286 ff.; kritisch zur Tauglichkeit des Rechtsgüterschutzes als Abgrenzungskriterium Roxin, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 6, 14.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
3. Rechtsgut und ratio legis: neukantianische Strafrechtslehre a) Neukantianismus in Philosophie und Rechtswissenschaft Spätestens von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert bis etwa zum Ende des Ersten Weltkriegs war der Neukantianismus eine der maßgeblichen Richtungen in der deutschsprachigen Universitätsphilosophie.143 Die intensive Rezeption in der Rechtswissenschaft setzte in diesem Zeitraum ein, erstreckte sich jedoch bis wenigstens an den Beginn der dreißiger Jahre,144 als der philosophische Neukantianismus seine überragende Bedeutung bereits eingebüßt hatte. Was heute als Neukantianismus gefasst wird, ist – im juristischen nicht weniger als im philosophischen Bereich – keineswegs eine einheitliche Schule. Es handelt sich um die Sammelbezeichnung für im Einzelnen durchaus heterogene Strömungen, denen die Anknüpfung an Kants Erkenntniskritik gemeinsam ist, die jedoch unter erheblich verschiedenen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen erfolgt. Zur zusammenfassenden Charakterisierung hat man von einem „Primat der Erkenntnistheorie als methodische Form [des] Philosophierens und [einem] Primat der Kultur als Inhalt der philosophischen Kritik“ gesprochen.145 Die zwei größten durch jeweils gemeinsame Merkmale verbundenen Hauptgruppen des philosophischen Neukantianismus bilden die so genannte Marburger oder logizistische und die südwestdeutsche oder wertphilosophische Richtung.146 Hauptvertreter der letzteren sind Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert sowie Emil Lask. Bei allen auch unter den südwestdeutschen Neukantianern bestehenden Differenzen147 eint sie, dass in ihrer Philosophie dem Begriff des Wertes eine zentrale Stellung zukommt: „Philosophie als Wertlehre“ wird zum Programm.148 Die von Emil Lask entworfene Konzeption der Rechtsphilosophie als Rechtswertlehre und 143 Pascher, Neukantianismus, S. 7; Kersting, Rechtsbegründung, S. 23 (24); Ollig, Neukantianismus, S. 1; vgl. auch Köhnke, Neukantianismus, S. 433. 144 Wapler, Werte, S. 162. 145 Ollig, Neukantianismus, S. 4 ff. 146 Vgl. Pascher, Einführung, S. 50 f., der daneben noch einen realistischen Ansatz um Alois Riehl zum „Kern der neukantianischen Bewegung“ zählt. Köhnke, Neukantianismus, S. 433 nennt zudem noch die „metaphysischen Richtungen Liebmanns und Volkelts“. 147 Ziemann, Strafrechtsdenken, S. 23. 148 Rickert, Grundlegung, S. 142 ff., zum Wertbegriff dort S. 112 ff.; Pascher, Einführung, S. 60 f.; vgl. die Selbstreferenzierung des wünschenswerten rechtsphilosophischen methodischen Ansatzes bei Lask, Rechtsphilosophie, S. 275 (279 u. ö.) als „kritische Wertlehre“; siehe auch Wapler, Werte, S. 39: Rekurs auf den Wertbegriff oder ein System der Werte als taugliches Kriterium der Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht55
der Rechtswissenschaft als wert- bzw. bedeutungsbeziehende Disziplin hat Gustav Radbruch übernommen und weiter ausgeführt. b) Rechtsgut zwischen Tatbestand und Rechtswert Die profilierteste Formulierung eines neukantianisch beeinflussten Rechtsgutsbegriff stammt aus Richard Honigs Schrift zur Frage der Einwilligung im Strafrecht.149 Rezipiert ist darin maßgeblich die Konzeption der Rechtswissenschaft als wertbezogene Wissenschaft, mit Radbruch als primärem Gewährsmann.150 Honigs Rechtsgutsbegriff stellt zwei wesentliche Bezüge her: den einen gewissermaßen ins Allgemeine weisend, nämlich auf den Rechtswert an sich, den anderen ins Besondere, nämlich auf den einzelnen Tatbestand. Honig geht davon aus, das Strafrecht werde vom Gesetzgeber eingesetzt, um den Erhalt von Gemeinschaftswerten sicherzustellen, die „aus den überkommenen Volksanschauungen, aus der im Volksbewusstsein gegründeten Kultur“ zu entnehmen seien.151 Das gesellschaftliche Unwerturteil über eine Handlung sei das Motiv für die Gewährung von rechtlichem Schutz durch den Gesetzgeber. Die Strafe als schwerste Rechtsfolge knüpfe er an Handlungen, die nicht nur der „Tendenz dieser Werte“ zuwider liefen, sondern als Gefährdungen mittelbar oder als Verletzungen unmittelbar auf Vernichtung der Werte gerichtet seien. Nicht identisch mit diesen Gemeinschaftswerten sind bei Honig Rechtsgut oder Schutzobjekt.152 Als solches werde „der vom Gesetzgeber in den einzelnen Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel“ bezeichnet.153 Der wesentliche Unterschied zur Rechtsgutskonzeption etwa von Binding und Liszt liegt in der expliziten Verengung auf den einzelnen Straftatbestand. 149 Ziemann, Strafrechtsdenken, S. 104 hält eine eindeutige Zuordnung Honigs zur Südwestdeutschen oder Marburger Schule für schwierig, obwohl er häufig mit dem Neukantianismus in Verbindung gebracht werde. Amelung, Einfluß, S. 363 (363, 365) betrachtet Honig als Rezipienten der südwestdeutschen Schule. M. E. kann man angesichts der Verwendung des Wertbegriffs und des expliziten Bezugnahme auf Radbruch diese Zuordnung zur südwestdeutschen Richtung vornehmen, sofern man keine unzulässig weitgehenden Folgerungen damit verbindet. 150 Vgl. die Zitate aus dessen „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ (1914) bei Honig, Einwilligung, S. 108. 151 Honig, Einwilligung, S. 92 f. 152 Insofern ist es ungenau, wenn Amelung, Einfluß, S. 363 (366) Rechtsgut und Gemeinschaftswert gleichsetzt. Dies blendet den Bezug des Rechtsguts auf den einzelnen konkreten Straftatbestand aus. 153 Honig, Einwilligung, S. 94.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Die Schutzobjekte entstünden, indem die Gemeinschaftswerte als „Zweckobjekte der Strafrechtssätze“ betrachtet würden. Wegen der „Wesensverschiedenheit der einzelnen strafrechtlichen Tatbestände“ kann man Honig zufolge daher nur sinnvoll von einem Rechtsgut sprechen, wenn man das Rechtsgut eines bestimmten Tatbestands bezeichnet. Rechtsgut sei ein Gemeinschaftswert nur, insoweit das Recht diese Eigenschaft „bestimmten Handlungen gegenüber“ anerkenne.154 Diese Anerkennung erfolgt durch die Bedrohung mit Strafe in Straftatbeständen. Auf dieser gedanklichen Grundlage kann Honig beispielsweise feststellen, es gebe keinen Wertungswiderspruch hinsichtlich des Rechtsguts Leben, über das der Träger bei der Selbsttötung verfügen könne, ohne dass ein Verbot entgegenstehe, in dessen Beeinträchtigung durch einen anderen er aber nicht wirksam einwilligen könne. Der Gemeinschaftswert „Leben“ ist demnach nur gegenüber den Handlungen anderer Menschen ein Schutzobjekt des Rechts, ein Rechtsgut. Gegenüber den Handlungen des Trägers selbst ist dies nicht der Fall, wenn durch sie auch der Gemeinschaftswert „Leben“ beeinträchtigt wird. Wenn man von Rechtsgütern spricht, muss man sich demzufolge auf den jeweiligen besonderen gesetzlichen Tatbestand beschränken, wie Max Grünhut in Anknüpfung an Honig 1930 schreibt.155 Von mindestens gleicher Bedeutung wie die Beziehung des Rechtsgutsbegriffs auf den einzelnen Normsatz ist die Relation zwischen Schutzobjekt und Rechtswert. Als Rechtswert – es findet sich teils auch synonym der Terminus „Rechtsidee“156 – wird in der vom südwestdeutschen Neukantianismus beeinflussten Rechtsphilosophie der oberste Wert des Rechts bezeichnet. Honig spricht auch von der „rechtsphilosophischen Grundrichtung“. Auf der Ebene dieser „letzten rechtlichen Wertvorstellungen“ hält er nur noch Bekenntnis und keine Erkenntnis mehr für möglich.157 Er befindet sich damit in Einklang mit Gustav Radbruch, auf den er sich explizit bezieht.158 Durch den Rechtswert sind nach Honig die Rechtsgüter inhaltlich „präjudiziert“.159 154 Honig, Einwilligung, S. 96. Es lässt sich hier in gewisser Weise eine Parallele ziehen zur bei Rupp, Grundfragen, S. 224 ff. im Zusammenhang mit dem Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts zu findenden Kritik am Rechtsgutsbegriff als unabhängig von subjektiven Rechten und Pflichten und diesen voraus liegend gedacht: „Jedes Rechtsgut [erhält] in der sozialen Umwelt erst dann rechtliche Bedeutung, wenn sie in der rechtlichen Sozialordnung zum Gegenstand subjektiver Rechte und Pflichten gemacht werden“ (224). 155 Grünhut, in: FG Reinhard Frank, S. 1 (9). 156 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 99: Als Ideen werden im südwestdeutschen Neukantianismus nicht mehr weiter ableitbare Werte bezeichnet. 157 Honig, Einwilligung, S. 108. 158 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 10 ff. zu dem daraus folgenden rechtsphilosophischen Relativismus. 159 Honig, Einwilligung, S. 108.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht57
Alle Aussagen über Gemeinschaftswerte und Rechtsgüter seien nur unter Zugrundelegung eines bestimmten Rechtswertes möglich und erfolgten auch tatsächlich stets auf solcher Grundlage. Ausdrücklich kann man bei Honig nur von dem „vom Gesetzgeber anerkannten Rechtswert“ lesen.160 Das Bekenntnis zu einem bestimmten Inhalt des Rechtswert ist demnach ein legislativer Akt. Ihm gegenüber ist der Rechtswissenschaftler wie auch der Rechtsanwender in einer erkennenden Position. Allerdings geht auch der gesetzgeberischen Anerkennung die Geltung eines Werts als vorrechtlicher Gemeinschaftswert voraus, so dass auch die Tätigkeit des Gesetzgebers einen Erkennensaspekt hat.161 Honig gelangt zu der Feststellung, die vergangenen Schutzobjektstheorien seien in ihrer Suche nach einer Materialisierung des Verbrechensbegriffs keine bloßen systematischen Unternehmen gewesen, sondern „auch Reflexwirkungen derjenigen rechtsphilosophischen Strömungen, die sich als hinreichendes gedankliches Fundament für die dem Wandel der Zeit unterworfene strafrechtliche Rechtsgestaltung erwiesen.“162 Damit ist nicht bloß die rechtsgüterschaffende Gesetzgebung und die rechtsgüterrekonstruierende Auslegung weltanschauungsrelativ, sondern auch die abstrahierende wissenschaftliche Theorie. Honig nimmt damit jedenfalls gegenüber historischen Schutzobjektstheorien einen metatheoretischen Standpunkt ein. Seine eigene Rechtsgutskonzeption ordnet er keiner spezifischen rechtsphilosophischen Basis zu. Das verbietet nicht die Frage, ob man nicht, über die methodische Zuordnung zur gedanklichen Basis einer südwestdeutsch-neukantianischen Rechtsphilosophie hinaus, inhaltlich-weltanschauliche Fundamentalwertungen in Honigs eigener Rechtsgutslehre identifizieren kann. Es finden sich jedenfalls eindeutige Aussagen zu einer exklusiv überindividuellen, auf die Gesamtheit bezogenen Aufgabe des Strafrechts und, etwas schwächer, auch für das Recht allgemein163. Hier ist die Grenze zwischen methodischem Axiom und inhaltlich-normativem Prinzip kaum zu ziehen. Daher erscheint es gerechtfertigt, Honig inhaltlich einer grundsätzlich überindividuellen Rechtsidee zuzuordnen. Der Gesichtspunkt der Bezogenheit auf grundlegende Wertanschauungen des Gesetzgebers findet sich in dieser Deutlichkeit weder bei Grünhut noch 160 Honig,
Einwilligung, S. 109. die Parallelisierung der Problemstellung für Gesetzgeber, Rechtswissenschaftler und Rechtsanwender Honig, Einwilligung, S. 107. 162 Honig, Einwilligung, S. 114. 163 Honig, Einwilligung, S. 115 bzw. 117. Die Feststellung bei Hassemer, Theorie, S. 49, für Honigs Position seien „rechtsphilosophische und wissenschaftstheoretische Grundvoraussetzungen ohne Belang“ wird man schon angesichts dieser Andeutungen insbesondere bezüglich der Kontrastierung zu Bindings Position zum Verhältnis von Gesetzgebung und auslegender Rechtsanwendung (S. 48 f.) erheblich relativieren müssen. 161 Vgl.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
bei dessen Schüler164 Erich Schwinge, der ebenfalls rund ein Jahrzehnt später an Honigs Entwurf anknüpft.165 Schwinge bemüht sich demgegenüber um den anhand zahlreicher Beispiele geführten Nachweis der „Suprematie des Zweck- und Rechtsgutsgedankens“166 gegenüber anderen Auslegungstopoi. Dies begründet die – ungeachtet einer souveränen Unbekümmertheit beim Umgang mit zahlreichen Beispielen für rechtsgutsorientierte Auslegung167 – wohl auch selbst empfundene Pflicht, den Erkenntnisweg vom gesetzlich niedergelegten Rechtssatz zum auslegungsleitenden Rechtsgut zu erklären. Nach Schwinge erfolgt die Ermittlung des geschützten Rechtsguts aus dem positiven Recht, also der jeweiligen Rechtsvorschrift selbst, als „Schluß vom Mittel auf den Zweck“;168 es gehe darum, die „im Gesetz enthaltenen, immanenten Wertungen“ aufzudecken.169 Dies sei ein Prozess „logischer Denktätigkeit“, der in Zweifelsfällen auf die Annahmen zurückzugreifen habe, der Gesetzgeber ordne nur zweckrational Vernünftiges an und das Gesetz wolle nur sozial Förderliches und Vernünftiges.170 Schwinge wendet sich vehement gegen Stimmen, die das dezisionär-wertende Element der Auslegung betonen.171 Das in der Anerkennung als Gemeinschaftswert liegende Moment der Willensentscheidung erkennt er zwar an, setzt einem allzu großen Gewicht jedoch entgegen, die Willensentscheidung sei notwendig von einer logischen Struktur getragen.172 c) Normsatz- und Weltanschauungsrelativität des Rechtsguts Am besten werden sich die vom südwestdeutschen Neukantianismus beeinflussten Rechtsgutskonzeptionen wohl als normsatz- und weltanschauungsrelativ charakterisieren lassen. Normsatzrelativität bedeutet, dass von Rechtsgut nur in Beziehung auf einen bestimmten gesetzlichen Tatbestand gesprochen werden kann: Mehreren verschiedenen Tatbeständen kann – gerade weil sie verschiedene Tatbestände sind – nicht ein und dasselbe Rechtsgut zugeordnet werden. Eine systematisch orientierte Kritik, die beispielsweise Inkonsistenzen in einem Rechtsgut durch bestimmte Tatbestände ge164 Ziemann,
Strafrechtsdenken, S. 117. Begriffsbildung, S. 31. 166 Schwinge, Begriffsbildung, S. 52 (dort zum Vorrang gegenüber Wortlautargumenten; gegenüber systematische Erwägungen S. 54; gegenüber genetischen Argumenten S. 55). 167 Schwinge, Begriffsbildung, S. 35–47. 168 Schwinge, Begriffsbildung, S. 59 f. 169 Schwinge, Begriffsbildung, S. 67. 170 Schwinge, Begriffsbildung, S. 62 f. 171 Schwinge, Begriffsbildung, S. 64 f. 172 Schwinge, Begriffsbildung, S. 66. 165 Schwinge,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht59
währten Schutzumfang angreift, ist damit prinzipiell ausgeschlossen. Sie hätte sich auf die im Hintergrund stehenden Gemeinschaftswerte zu verlegen und würde damit allerdings den Bereich von Recht und Rechtswissenschaft verlassen. Daher verwundert es nicht, dass sich die Proponenten eines neukantianischen Rechtsgutsbegriffs, soweit ersichtlich, mit solch einem Ansatz nicht befasst haben. Die Weltanschauungsrelativität ist in aller Deutlichkeit nur bei Honig durchgeführt: Die Erkenntnis des Rechtsguts, i. e. des Gesetzeszwecks, setzt methodisch einen bestimmten Rechtswert als Bezugspunkt voraus. Wenn Honig hierbei auch den Fokus auf die rechtsgutsrekonstruierende Auslegung richtet, so gilt dies doch für jeden Umgang mit Rechtssatz und Rechtsgut: Gesetzgebung, Gesetzesanwendung und wissenschaftliche Bearbeitung. Sein eigener Standpunkt wird implizit als derjenige eines eher überindividuell konzipierten Rechtswerts deutlich. 4. Liberalismus als Vorwurf im Nationalsozialismus Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war das Strafrecht einer der Bereiche der Rechtswissenschaft, in denen es zu einer besonders eifrigen Rezeption des zur staatstragenden Doktrin gewordenen Gedankenguts kam. Zu den tonangebenden Akteuren gehörten dabei die Kieler Professoren Georg Dahm und Friedrich Schaffstein.173 Letzterer nahm vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „Rechtserneuerung“ ausgesprochen kritisch Stellung zum Rechtsgutsbegriff im Strafrecht. a) Widerspruch zu Weltanschauung und Methode? Er begründet seinen 1935 vorgetragenen Angriff auf das Dogma des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes mit dessen latent aufklärerischem, liberalem und individualistischem Gehalt.174 Nach Schaffstein findet von der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs zur Güterverletzungslehre Birnbaums kein Wechsel der weltanschaulichen Prämissen, sondern eine „rein begriffslogisch begründete Modifikation“ statt.175 Die nachfolgende Diskussion um den Rechtsgutsbegriff – Schaffstein nennt unter anderem die Namen Bindings, von Liszts, Honigs und Schwinges – sei nie bis zu der „hinter der Rechtsgutstheorie stehende[n] Denkweise und deren weltanschauliche[n] Voraussetzungen“ gelangt. Während er den früheren Positionen einen „primitiven, aber jedenfalls handfesten Materialismus“ attestiert, stellt er fest, bei Honig und Eckert, Fakultät, S. 21 (30 ff.). DStR 2 (1935), S. 97 (98 f.); Schaffstein, Pflichtverletzung, S. 112. 175 Schaffstein, DStR 2 (1935), S. 97 (99). 173 Vgl.
174 Schaffstein,
60
1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Schwinge sei eine „Verflüchtigung und Vergeistigung“ eingetreten.176 Diese habe aber keineswegs das Verschwinden des Gehalts an „Aufklärungsideologie“ zur Folge gehabt, vielmehr sei diese nun in subtilerer Form unverändert im Rechtsgutsbegriff enthalten.177 Das disqualifiziere den Begriff als systematisches und methodisches Element des nationalsozialistischen Strafrechts. Als zentral unter den latenten ideologischen Prämissen des Rechtsgutsbegriffs identifiziert er die „Trennung von Recht und Sittlichkeit“, von „strafrechtlicher und ethischer Wertung“. Dies bilde sich am Begriff der Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern dergestalt ab, dass es sich dabei regelmäßig um objektiv-äußerliche Vorgänge handele, was nach der Auffassung der Aufklärung kennzeichnend für den Bereich des Rechts in der Abgrenzung zur Moral sei. Das nationalsozialistische Strafrecht sei dagegen „Willenstrafrecht“; es überwinde die Trennung. Die Rechtsgütertheorie sei damit für die Systematisierung und Auslegung nationalsozialistischen Strafrechts unbrauchbar. Schaffstein kritisiert darüber hinaus die Unterscheidung von Rechtsgütern des Einzelnen und der Gemeinschaft, wie sie von Liszt vornimmt und wie sie schon bei Birnbaum durch die Scheidung von natürlichen und sozialen Gütern vorgeprägt sei.178 Er sieht darin die „Entgegensetzung von Individuum und Gemeinschaft“, die auf die Vorstellung einer „natürlichen und ursprünglichen Individualsphäre“ zurückgehe. Auch dies sei typische Aufklärungsideologie. Die übermäßige Betonung des Individuums (letzteres bei erster Verwendung des Wortes distanzierend apostrophiert) sei auch in der Genese des Rechtsgutsbegriffs bestimmend gewesen. Dieser sei als Abstraktion ausschließlich von den Delikten gegen den Einzelnen, namentlich den Vermögensdelikten, entstanden.179 Um das Ergebnis der Abstraktion auch auf die andere Gattung von Straftaten anwenden zu können, habe man sich „aufklärerischer Konstruktionsbehelfe“ wie desjenigen des Staates als juristischer Person bedienen müssen.180 Das aus der Unterscheidung von Delikten gegen das Individuum und gegen den Staat entwickelte Argument Schaffsteins lässt 176 Schaffstein,
DStR 2 (1935), S. 97 (100). DStR 2 (1935), S. 97 (101). 178 Schaffstein, DStR 2 (1935), S. 97 (102). Zur Trennung bei von Liszt s. schon oben S. 52. Die Kategorien des natürlichen und des sozialen Guts fallen jedenfalls nicht ohne weiteres mit denjenigen individueller und überindividueller Güter zusammen, da Birnbaum ausdrücklich auf die „gesellschaftliche Entwicklung“ (Herv. S. L.) abstellt, die soziale Güter hervorbringe. Vgl. auch Schaffstein, Pflichtverletzung, S. 108, der noch deutlicher von der „individualistische[n] Strafrechtszersetzung der letzten Jahrzehnte“ spricht. 179 s. dazu auch Schaffstein, Pflichtverletzung, S. 117. 180 Vgl. Schaffstein, Pflichtverletzung, S. 113. 177 Schaffstein,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht61
sich als der Vorwurf eines zumindest methodischen Individualismus beschreiben. Dieser ist gewiss überspitzt gezeichnet, insbesondere soweit er pauschal auf Birnbaum erstreckt wird. Wie oben dargestellt181 darf man bei der Betrachtung von dessen Position keineswegs die Abgrenzung gegen den ausdrücklichen Individualismus der Rechtsverletzungslehre ausblenden. Es mutet seltsam an, Birnbaum als ausgesprochenen Liberalen behandelt zu finden, wenn man sich vor Augen führt, dass er mit seiner Theorie des Güterschutzes gerade den individualistisch nicht zu legitimierenden Religionsund Sittlichkeitsdelikten eine Grundlage bereitete.182 Auch im Falle von Liszts ist die Zuschreibung einer im Naturrecht der Aufklärung fundierten Ideologie zu plakativ geraten. In der Diskussion der folgenden Jahre differenzieren sich die Positionen aus und die Polemik verliert an Schärfe. Schaffstein stellt klar, dass er weder den Begriff noch das Wort „Rechtsgut“ selbst bekämpfe.183 Vielmehr gehe es ihm um eine „Akzentverlagerung“, die sich gegen eine „Verabsolutierung“ des Rechtsgüterschutzgedankens bei der Beschreibung des Unrechtsgehalts des Verbrechens wende.184 Weder könne man bei allen Straftaten behaupten, sie schützten Rechtsgüter, noch sei mit dem Schutz von Rechtsgütern „Wesen und Unrechtsgehalt der Verbrechen“ vollständig zu erfassen (was er an zahlreichen Beispielen nachzuweisen sucht). Diese beiden Thesen fasst Schaffstein nun als irriges „Rechtsgutsverletzungsdogma“ zusammen, das ihm zufolge weder auf das geltende Strafrecht (in nationalsozialistischer Lesart) noch auf ein künftig zu schaffendes passt. Es betone die Verletzungserfolge zu stark und vernachlässige nun für höchst bedeutsam erkannte Faktoren wie das Moment der Pflichtverletzung und des Treubruchs.185 Schaffstein weist nun zudem auf den Zusammenhang mit der Straftheorie hin und kritisiert, das Rechtsgutsverletzungsdogma führe zwangsläufig zu einem Schutzstrafrecht, also einer relativen Straftheorie.186 Die gedankengeschichtlichen Vorwürfe erhält er auf der abstrakteren Ebene dahingehend aufrecht, dass es im Zuge der nationalsozialistischen Rechtserneuerung untunlich sei, sich durch Liberalismus und Aufklärung geprägter Rechtsbegriffe 181 C.
I. 1. c). auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 237. Im Übrigen kann man schon die Staatsauffassung Feuerbachs nicht ohne Weiteres als „liberal“ qualifizieren, Naucke, Fragen, S. 41 (48); ders., ZStW 87 (1975), S. 861 (874–880). 183 Schaffstein, DStR 4 (1937), S. 335 (337 f.). 184 Schaffstein, DStR 4 (1937), S. 335 (336 f.; s. auch 338 [Sperrdruck]). Sachlich die gleiche Aussage findet sich wieder bei Schaffsteins Kieler Mitstreiter Dahm, ZStW 57 (1938), S. 225 (233). Vgl. auch schon Schaffstein, in: FS Schmidt, S. 47 (68). 185 Schaffstein, DStR 4 (1937), S. 335 (341 f.). 186 Schaffstein, DStR 4 (1937), S. 335 (340 f.). 182 So
62
1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
wie des Rechtsgutsbegriffs zu bedienen.187 Schaffstein wendet sich nun aber auch ausdrücklich gegen den teleologisch-methodischen Rechtsgutsbegriff Honig-Grünhut-Schwingescher Provenienz. Dieser gebe die „eigentliche Substanz“ des Rechtsgutsbegriffs auf, nämlich das vom Täter verletzte Objekt zu beschreiben.188 Wenn man alle Zwecke, die bei der Schaffung des Tatbestandes als Faktoren wirksam gewesen seien und zu dessen Auslegung beizutragen haben, in das Rechtsgut dieses Tatbestands integriere, so sei „damit nichts weiter gewonnen als ein überflüssiges […] Wort“. Mehr als die Trivialität, dass Gesetze nach ihrem Zweck ausgelegt werden müssten, sei dann damit nicht mehr ausgedrückt. Zudem bestehe die erhebliche Gefahr von Missverständnissen, bei der nicht näher qualifizierten Rede vom Rechtsgut eines Tatbestands sei ein substantieller Rechtsgutsbegriff angesprochen.189 Ganz in diesem Sinne gelangt der Kieler Fakultätskollege Georg Dahm hinsichtlich des methodologisch-formellen Rechtsgutsbegriffs zum Verdikt: „überflüssig und schädlich“.190 b) Verteidigung der ideologischen Kompatibilität Die Auffassung, das Strafrecht habe den Schutz von Rechtsgütern zur alleinigen Aufgabe, fand jedoch auch Verteidiger. Aus deren Sicht erscheint das Moment der Pflichtverletzung als zwar durchaus relevanter, aber gegenüber der Rechtsgutsverletzung bloß sekundärer Faktor des strafrechtlichen Unrechts.191 Graf Pestalozza betont im Jahr 1938 die kollektivistische normative Grundposition einer richtig konzipierten Rechtsgutslehre.192 Mit dem „Ethos des Sozialen“ begründet er die Konzeption des Strafrechts als zweckbestimmter Rechtsgüterschutz. Den nicht fern liegenden Hinweis auf die gesamtheitsbezogene Ausgestaltung des Rechtsgutsbegriffs bei Binding hatte schon im Jahr zuvor Schwinge zusammen mit seinem Marburger Fakultätskollegen Zimmerl gegeben; eine individualistische Tendenz könne man dem Rechtsgutsbegriff allenfalls noch bei von Liszt nachsagen.193 Vor allem betonen sie in ihrer Verteidigung des Rechtsgutsbegriffs als ein zentraler Bestandteil nationalsozialistischer Strafrechtsdogmatik die Evolution der 187 Schaffstein,
DStR 4 (1937), S. 335 (339 f.). DStR 4 (1937), S. 335 (346 f.); vgl. aber auch die Bemerkung Schaffstein, in: FS Schmidt, S. 61 mit der Tendenz, die teleologische Umgestaltung des Rechtsgutsbegriffes mildere die Bedenken gegen diesen. 189 Schaffstein, DStR 4 (1937), S. 335 (347). 190 Dahm, ZStW 57 (1938), S. 225 (234). 191 Graf von Pestalozza, DStR 5 (1938), S. 107 (107 f.). 192 Graf von Pestalozza, DStR 5 (1938), S. 107 (109). 193 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 65. Ähnlich auch Klee, DStR 3 (1936), S. 1 (13 f.). 188 Schaffstein,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht63
Rechtsgutslehre seit den Anfängen bei Feuerbach und Birnbaum und sehen dabei die Wendung zur methodologischen Fassung des Begriffs als entscheidend an: Es gehe nun nicht mehr um ein Substrat des Verbrechens, sondern um einen „Hinweis auf die Methode der strafrechtlichen Auslegung und Begriffsbildung“.194 Das habe der Lehre einen „völlig neuen Sinn“ gegeben. Die Abkehr von der Suche nach einem Substrat des Verbrechens erklären Schwinge und Zimmerl in der historischen Rückschau mit der Fruchtlosigkeit aller Versuche, die „mannigfachen Schutzobjekte der Strafrechtsordnung irgendwie auf einen Nenner zu bringen“.195 Die Frage nach dem Rechtsgut bedeute nun die Frage nach dem Zweck der Strafvorschriften. Diese nur mehr methodische Prämisse braucht sich die Herkunft aus aufklärerisch-liberalem Gedankengut nicht mehr vorwerfen zu lassen. Die Marburger Strafrechtler stellen schließlich eine Behauptung mit gegenläufiger Tendenz auf: „[…] indem die moderne Rechtsgutslehre den Richter anweist, bei Auslegung und Rechtsanwendung ständig den Sinn und Zweck des einzelnen Tatbestandes, der zugehörigen Gesetze und der Rechtsordnung im allgemeinen im Auge zu behalten, dient sie der Ausrichtung des Rechts am Gemeinschaftsgedanken und der Durchdringung der Rechtsprechung mit dem Geiste des Nationalsozialismus.“196 Das Rechtsgutsdenken wird damit zum inhaltlich prinzipiell neutralen Vektor für außerrechtlich gegründete Zwecksetzungen erklärt. Angesichts des im Herrschaftssystem des Nationalsozialismus nachdrücklich in Anspruch genommenen und durchgesetzten Primats des Politischen – nicht zuletzt gegen eine rechtlicher Eigenlogik und -wertung folgende Normativität197 – erscheint auch die Behauptung nicht weit hergeholt, eine solche methodische Grundlegung sei für die nationalsozialistische Rechtswissenschaft alternativlos.198 Ob diese Behauptung in Gänze zutrifft, ist hier nicht zu klären; eine besondere Eignung für die Rezeption von ideologischen Prämissen kann der so verstandenen teleologischen Methode aber nicht abgesprochen werden.
194 Schwinge/Zimmerl,
Wesensschau, S. 63 f. Wesensschau, S. 62. 196 Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 64. 197 Vgl. hierzu die mittlerweile klassische Analyse Rüthers, Auslegung, S. 104–111 zu den Rechtsvorstellungen der in der Machthierarchie führenden Nationalsozialisten, die im Wesentlichen auf eine vollständige instrumentelle Unterordnung des Rechts hinausliefen. S. auch Fraenkel, Doppelstaat, S. 74: „[Der Rechtsstaat] ist in Übereinstimmung mit dem nationalsozialistischen Endziel zertrümmert worden, um die eigene ‚Art‘ zu erhalten und zu stärken“ (Abschnittsüberschrift: „Die Ablehnung der formalen Rationalität“). 198 So Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 72. 195 Schwinge/Zimmerl,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
c) Inhaltliche Offenheit des Rechtsgutskonzepts Die Kieler Kritik an der Rechtsgutslehre legt einerseits die Probleme von auf Begriffs- und Dogmengeschichte gestützten Argumenten offen: Sie fallen in der Mehrzahl der Fälle viel zu pauschal aus, um auch nur einer ersten Überprüfung standzuhalten. Das gilt vor allem für die summarische Zuschreibung, die Rechtsgutslehre berge einen grundsätzlich liberalen Gehalt. Zur Skepsis gegenüber dieser Annahme zwingt die Tatsache, dass es den rechtsgutsfreundlichen unter den nationalsozialistischen Strafrechtlern wenig Mühe bereitete, sich von liberalen Voraussetzungen zu distanzieren und in der Begriffstradition ideologisch passende Elemente aufzuzeigen. Ungeachtet dessen wird andererseits in mehrfacher Hinsicht das rechtspolitische Potential des Rechtsgutsbegriffs deutlich. Schon das Faktum selbst, dass es zu einer stellenweise polemisch geführten Auseinandersetzung unter den nationalsozialistischen Strafrechtlern kam, belegt die grundsätzliche Offenheit für politische Zuschreibungen,199 die ihm als hochgradig abstraktem Konzept zukommt. Wesentlich ist aber, dass die von Honig aus neukantianischen Prämissen entwickelte Abhängigkeit, die zwischen Aussagen über Rechtsgüter und dem weltanschaulich-ideologischen Standpunkt besteht, nun von den Befürwortern eines teleologischen Rechtsgutsbegriffs im Sinne einer Verwirklichung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen ausdrücklich postuliert wird. Die rechtsgutsorientierte Auslegung sichert die Verwirklichung außerrechtlich vorgegebener Inhalte im Recht. Zu diesen zählt konkret auch die Ausrichtung auf überindividuelle Zwecke als maßgebliche Rechtsgüter.200 Gegenstand des Streits um den Wert des methodisch-teleologischen Rechtsgutsbegriffs ist letztlich das (begriffliche201) Verhältnis von Rechtsgut und positiver Rechtsnorm. Des latenten Liberalismus ist diese Variante kaum 199 Hörnle,
Verhalten, S. 14. DStR 3 (1936), S. 1 (13 f.). Ganz ähnlich Schwinge/Zimmerl, Wesensschau, S. 64 f.; Siehe dort auch S. 58: „Das Deutsche Recht dient dem Deutschen Volke. Die Blutsgemeinschaft des Deutschen Volkes ist die Grundlage und zugleich der höchste und letzte Wert, von dem alles deutsche Rechtsdenken ausgehen muss.“ Klee, von dem das wörtliche Zitat im Text stammt, nimmt allerdings in der Auseinandersetzung um den Rechtsgutsbegriff eine Mittelstellung ein, da er den Individualismusvorwurf für unbegründet erachtet, andererseits aber den teleologischen Rechtsbegriff für „blutleere Abstraktion“ erklärt. 201 Das inhaltliche Verhältnis im Sinne einer in irgendeiner Weise gegenüber bestimmten Norminhalten kritischen Rechtsgutslehre wird nicht thematisiert. In diesem Sinne ist das Desinteresse Schaffsteins hinsichtlich des Verhältnisses von Schutzobjekt und positivem Recht ursächlich für seine übersteigerte Liberalitätsdiagnose. Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 237. 200 Klee,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht65
verdächtig – entsprechende Vorwürfe zielen regelmäßig auf die Kontinuitäten zur früheren Tradition der Rechtsgutslehre.202 Die vor neukantianischem Hintergrund vorgenommene so genannte Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs bedeutet eine Abkehr von der Vorstellung, es handle sich beim Rechtsgut um einen kausalgesetzlich beeinflussbaren Gegenstand, an dem durch die mit Strafe bedrohte Handlung ein Verletzungserfolg eintreten könnte: der Rechtsgutsbegriff wird „in die Welt des Normativen verlegt“.203 Als (kritischer) inhaltlicher Maßstab für das positive Recht kann die Frage nach Rechtsgütern damit schon prinzipiell nicht dienen, wenn nicht eine vom Gesetzgeber unabhängige Wertungsinstanz eingeführt wird. Die dargestellten teleologischen Rechtsgutslehren tun dies nicht. 5. Liberalität als Vorzug bis in die Gegenwart Die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zum Vorwurf gewordene liberale Tendenz wird in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Ausweis der Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs. Hier beginnt die eigentliche Dogmengeschichte des kritisch gegen die Gesetzgebung gewendeten Rechtsgutsbegriffs.204 a) Liberalität unter anderen Vorzeichen Mitunter fügt sich dabei die Darstellung der Rechtsgutskritik aus den dreißiger Jahren geradezu als Beleg für den freiheitlichen Gehalt des Begriffs in den Argumentationszusammenhang.205 So geschieht dies in der Arbeit Herbert Jägers zu den Sexualdelikten aus dem Jahr 1957.206 Dieser entwickelt seinen Rechtsgutsbegriff ausgehend von einer geschichtlichen Betrachtung, die auch im Übrigen gewisse Einseitigkeiten in Bezug auf die Liberalität des Rechtsgutsbegriffs aufweist.207 Gegenüber der Verortung der Genese des Güterschutzgedankens in der Aufklärung fehlt die Feststellung, dass Birnbaums Güterschutzlehre gegenüber der aufklärerischen Rechtsverletzungslehre eine deutliche Ausweitung der Legitimationsbreite hinsichtlich straf202 Schaffstein,
DStR 2 (1935), S. 97 (101); Dahm, ZStW 57 (1938), S. 225 (231). in: FS Schmidt, S. 61. Zur „Vergeistigung“ als Vorwurf an teleologische Rechtsgutslehren s. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 139 f. 204 Roxin, in: FS Hassemer, S. 573 (576). 205 Amelung, Lehre, S. 349 (357): „enorme[] Aufwertung der Lehre vom Rechtsgüterschutz“ nach dem Ende des Nationalsozialismus gerade wegen dessen Rechtsgutskritik. 206 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 8 f. 207 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 300. 203 Schaffstein,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
rechtlicher Verbote bewirkt.208 Binding als einen Vertreter eines ausgesprochen gesetzeskongruenten Rechtsgutsbegriffs bezieht Jäger in seine Betrachtungen überhaupt nicht ein. Er entwickelt einen Begriff, der als Rechtsgüter werthafte soziale Zustände erfasst, die verletzt und geschützt werden können.209 Der Bestand von Rechtsgütern ist für ihn damit unabhängig von Akten der Gesetzgebung. Das ermöglicht die Verwirklichung seines kritischen Anliegens: nämlich den Nachweis, die sexuelle Sittlichkeit stelle kein Rechtsgut dar. Diese sei nämlich keine empirische Realität, sondern eine Wert- und Normenordnung.210 Sie sei zudem einem zu starken Wandel unterworfen, als dass sie Rechtsgut sein könne. Damit war eine argumentative Grundlage gefunden, auf der den entsprechenden Straftatbeständen die Legitimation bestritten werden konnte. Dieses Muster fand breite Nachahmung in den Reformdebatten der 1970er Jahre.211 Mit inhaltlich ähnlicher Tendenz, wenn auch mit anderem Erkenntnisinteresse untersuchte 1962 Peter Sina die Dogmengeschichte des Rechtsgutsbegriffs. Auch bei ihm werden die historischen Entwicklungen stellenweise mit einer deutlichen Tendenz zur Verstärkung der liberalen Tradition des Rechtsgutsbegriffs evaluiert. So sei der freiheitliche Gehalt der Rechtsverletzungslehre Feuerbachs in die Güterschutzlehre Birnbaums in wesentlichen Teilen übernommen worden – trotz aller Modifikation handle es sich letztlich um eine Fortführung.212 Die liberale Tendenz zergliedert Sina in einen sachlichimmanenten liberalen Gehalt und einen systematisch-funktionalen.213 Letzterer bezeichnet die Stellung des Rechtsguts als notwendiges Merkmal des Verbrechens und damit des Rechtsgutsbegriffs als Instrument der Legitimationskontrolle von Straftatbeständen. Ersterer bezieht sich auf die Erhebung individueller Rechtssphären zum Verbrechensobjekt. Beide Aspekte sieht Sina bei Binding in Verfall; der Begriff habe sich von seiner „geschichtlichen ratio zu lösen“ begonnen.214 In der Folge habe sich in der methodisch-teleologischen Richtung Honigs, Grünhuts und Schwinges der Begriff zu etwas qualitativ anderem entwickelt, als er es ursprünglich gewesen sei.215 Inhaltlich entsubstantiiert habe er gar nicht mehr der Ausfüllung im nationalsozialistischen Sinne bedurft, um seinen liberalen Gehalt zu verlieren: Der „positivistische Formalisierungsprozess“ habe diese Transformation schon zuvor 208 Jäger,
Strafgesetzgebung, S. 6 f. Strafgesetzgebung, S. 13. 210 Jäger, Strafgesetzgebung, S. 38 f. 211 Hilgendorf, NK 2010, S. 125 (128). 212 Sina, Dogmengeschichte, S. 25 ff.; siehe schon oben S. 45. 213 Sina, Dogmengeschichte, S. 12 (zur Rechtsverletzungslehre), 25 f. (zu Birnbaum). 214 Sina, Dogmengeschichte, S. 46, 69. 215 Sina, Dogmengeschichte, S. 79. 209 Jäger,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht67
bewirkt. Die Kritik, die den Rechtsgutsbegriff im Nationalsozialismus vor allem von Seiten der Kieler Schule traf, interpretiert Sina als Beleg für den notwendig liberalen Gehalt.216 Für seine Dogmengeschichte gelangt er insgesamt zu dem Ergebnis, der liberale Gehalt des Rechtsguts sei „einer der wichtigsten Aspekte des Rechtsgutsbegriffs überhaupt“ und sieht damit einen wichtigen Grund gegeben, den Begriff „wieder angemessen zu berücksich tigen“.217 Das Rechtsgut sei „in den leitenden Wertgesichtspunkten unseres geschichtlichen Selbstverständnisses“ verwurzelt.218 Bei der Bestimmung eines Rechtsgutsbegriffs ergebe sich das Problem, dass man einerseits nach einer materiellen Definition suchen müsse, andererseits die Definition so weit sein müsse, dass sie alle möglichen Verbrechensobjekte umfasse.219 Einen eigenen Ansatz für einen Rechtsgutsbegriff stellt Sina nicht vor. Die Hinweise auf die „Beziehungsstruktur“ des Rechtsgutsbegriffs bleiben sehr knapp und durchweg eher dunkel. b) Rechtsgutslehren der 1970er Jahre Die Verwirklichung des Programms eines liberalen Rechtsgutsbegriffs, wie er von Sina postuliert wurde, unternahm Michael Marx in seiner im Jahr 1972 erschienenen Schrift zur Definition des Rechtsgutsbegriffs. Er postuliert die freie Selbstverwirklichung des Menschen als Prinzip der Materialisierung und damit als oberstes Rechtsgut.220 Er gelangt von diesem Ausgangspunkt zu recht konkreten Vorgaben für Inhalte des Strafrechts. So zieht er aus der Beziehung des Rechtsguts auf einen Menschen als Träger vergleichsweise unmittelbar den Schluss auf die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung in die Rechtsgutsverletzung.221 Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen erscheint aus dieser Perspektive als illegitim.222 Marx vertritt einen individualistischen Monismus: im Gegensatz zu Individualgütern stehende Kollektivgüter gebe es nicht, da letztere ihre Existenzberechtigung nur aus der Beziehung auf die freie Entfaltung des Menschen hätten.223 Die Frage nach der Legitimität einer Pönalisierungsentscheidung des Gesetzgebers sieht Marx als nicht in jedem Fall allein über den Rechtsgutsbegriff zu lösen an. Dies sei 216 Sina,
Dogmengeschichte, S. 84, 89. Dogmengeschichte, S. 90 f. 218 Sina, Dogmengeschichte, S. 91, ganz ähnlich auch wieder S. 103. 219 Sina, Dogmengeschichte, S. 101. 220 Marx, Definition, S. 62; siehe auch S. 89: der Mensch und seine freie Entfaltung als fundamentaler Wert. 221 Marx, Definition, S. 64. 222 Marx, Definition, S. 65 f. 223 Marx, Definition, S. 81. Zur Frage der (regelmäßig nicht möglichen) Einwilligung bei überindividuellen Rechtsgütern siehe S. 82 f. 217 Sina,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
dann möglich, wenn Verhaltensweisen eindeutig kein Rechtsgut verletzten und sich Sanktionen dadurch als illegitim darstellten.224 Auch wenn eine Rechtsgutsverletzung grundsätzlich gegeben sei, sei bei der Frage nach der Strafwürdigkeit eine Abwägung erforderlich, bei der es auf die gesellschaft lichen Verhältnisse und Anschauungen maßgeblich ankomme.225 Einen anderen Ansatz verfolgt die im Jahr 1973 erschienene Habilitationsschrift Winfried Hassemers, die dem Untertitel nach „Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre“ liefern will. Auch Hassemer verfolgt ein gegenüber dem jeweilig gegebenen Strafrecht kritisches, „systemtranszendentes“ Anliegen. Gegenüber früheren Rechtsgutslehren strebt er an, die „Beschränkung auf normativ-juristische Kategorien“226 zu überwinden. Den wesentlichen Grund für die praktische Einflusslosigkeit der wissenschaftlichen Rechtsgutslehren sei in der Ausblendung der realen sozialen Gegebenheiten und Zusammenhänge zu finden, die zu der tatsächlichen Gestaltung des Strafrechts und namentlich einer von den theoretischen Rechtsgutskonzeptionen abweichenden Kreation von Rechtsgütern führten:227 Diese Verengung diagnostiziert er als wesentliches Problem der Untersuchungen Jägers und Marx‘. Um eine wirklichkeitsadäquate und damit auch zu Wirksamkeit in Bezug auf die Praxis berufene Rechtsgutslehre zu entwickeln, müssen Hassemer zufolge die komplexen empirischen Zusammenhänge von Rechtsnorm und Lebenswirklichkeit sowie von wissenschaftlicher Reflexion und den Kriminalisierungsentscheidungen mit der geschichtlichen Situation angemessen verarbeitet werden:228 Der Versuch, in dieser Art und Weise den Wirklichkeitsbezug der Rechtsgütertheorie herzustellen, stützt sich maßgeblich auf die Rezeption soziologischer wie sozialpsychologischer Erkenntnisse229. Im Ergebnis führt die Einbeziehung von empirischen Befunden über die Gesellschaft gegenüber den gewissermaßen rein juristisch-normativen Rechtsgutslehren dazu, dass eine rationale kriminalpolitische Reflexion die tatsächlich vorhandenen gesellschaftlichen normativen Verständigungen einzubeziehen hat, beispielsweise Tabus im symbolischen oder sexuellen Bereich: „[…] Rechtsgutslehre und Rechtsgüterpolitik […] müssen rational mit dem Irrationalen rechnen – und zugleich eine Veränderung der sozialen Werterfahrung anstreben.“230 Wie 224 Marx,
Definition, S. 89. Definition, S. 87. 226 Hassemer, Theorie, S. 100; ähnlich S. 102. 227 Vgl. Hassemer, Theorie, S. 40 f. 228 Hassemer, Theorie, S. 124 bzw. 126 bzw. 130. 229 Hassemer, Theorie, S. 130 ff. („Beiträge der Soziologie: Das abweichende Verhalten“) bzw. 160 ff. („Beiträge der Völker- und Tiefenpsychologie: Das Tabu“). 230 Hassemer, Theorie, S. 244. 225 Marx,
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht69
sich aus dem letzten Satz ergibt, gilt es nach Hassemer zwar die Bindung an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu beachten, als bloß relative Bindung lässt sie aber einen erheblichen Spielraum der (wiederum Wertvorstellungen prägenden) Gestaltung:231 Für die Einbeziehung sozialer Wertungen nennt Hassemer das Beispiel der Strafbarkeit der Verleitung Minderjähriger zu homosexuellen Handlungen: Solange es eine prognostizierbare irrationale Reaktion der Gesellschaft auf Homosexualität gebe, könne man die Pönalisierung der „Verleitung“ Minderjähriger zur Homosexualität damit begründen, dass durch die im Jugendalter herbeigeführte Manifestierung der Homosexualität für den Betreffenden Nachteile im Erwachsenenalter entstünden.232 Allerdings gelte es festzustellen, wo solche erfahrungswissenschaftlichen Zusammenhänge bloß fiktiv seien. Außerdem sei der Ansatz rationaler Rechtsgüterlehre und -politik nicht auf den Bereich des Strafrechts zu beschränken, sondern müsse auch auf Bereiche wie Sozial-, Wohnungs- und Arbeitsrecht erstreckt werden.233 Das Rechtsgut wird damit in Hassemers Entwurf zum universalen Platzhalter für empirisch erfass- und damit rationalisierbare Ziele staatlichen Handelns. Gegenüber den ohne die Ebene der faktisch-gesellschaftlichen Werterfahrung auskommenden Rechtsgutslehren reduziert sich zwar nicht unbedingt die kritische Spannung zur wirklichen Gesetzgebung; das Programm der Rezeption empirischer Kenntnisse verspricht aber grundsätzlich, den Spalt zwischen wissenschaftlicher Rechtsgutslehre und der gesetzgeberischen Rechtsgüterverwirklichung jedenfalls erklären zu können und dadurch potentiell Einflussoptionen zu gewinnen. Die Rechtsgutslehre steht damit für die strafrechtliche Ausprägung einer vernunftmäßig geordneten Rechtspolitik, deren Basis in empirischen Real- und insbesondere Sozialdaten zu finden ist. Die Annahme, eine solche Grundlegung und Absicherung verbessere die Chancen auf politisch-praktische Wirksamkeit, erscheint nicht von vornherein unplausibel. Gegenüber rein normativ-juristischen Entwürfen wie demjenigen Marx‘ kann solch ein Ansatz jedoch dazu führen, dass die normativen Annahmen, die zur Begründung einer bestimmten politischen Gestaltung herangezogen werden, zu nur noch impliziten Voraussetzungen von Realanalysen werden. Ist dies nämlich der Fall, wird die Diskussion mit anderen Positionen, die insbesondere einen anderen Zugriff auf die Wirklichkeit wählen, bedeutend erschwert.234 231 Hassemer,
Theorie, S. 240. Theorie, S. 244 f. 233 Hassemer, Theorie, S. 245. 234 Die Gefahren mögen illustriert werden durch die generelle Diagnose von Stuckenberg, GA 2011, S. 653 (655): Die strafrechtskritische Rechtsgutslehre habe sich „lange in eine Art normative Parallelwelt geflüchtet“ und den Kontakt zur verfassungsrechtlichen Fundierung verloren. 232 Hassemer,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
6. Zusammenfassung: politischer Inhalt und wechselnder Fokus Als im geschichtlichen Verlauf variabel erweist sich im Ergebnis zunächst die Stellung, die Aussagen über Rechtsgüter zu im weiteren Sinne staatstheoretischen oder politischen Inhalten einnehmen. Ebenso kann die Verteilung des Gewichts zwischen den Elementen ganz unterschiedlich ausfallen, die mit der Postulation eines bestimmten Inhalts als Rechtsgut ausgesagt sind. a) Explizite und implizite Rezeption außerrechtlicher Wertung Die Geschichte des Rechtsgutsbegriffs im Strafrecht lässt von ihrem Ausgangspunkt bei Birnbaum an erkennen, wie eng die Auseinandersetzung um den Begriff des Rechtsguts zu jedem Zeitpunkt in Zusammenhang mit rechtspolitischen Anliegen und grundsätzlichen Vorannahmen über Recht und Staat stand. Bis zum Rechtsgutsstreit im nationalsozialistischen Strafrecht war der Schwerpunkt der Diskussion weitgehend im Sinne von Birnbaums Bekundung gelegt worden, mehr die Rechtsanwendung als die Gesetzgebung zur maßgeblichen Perspektive der Betrachtung zu machen. Im Mittelpunkt stand das Anliegen, das Strafrecht bei gegebener Gesetzgebung als Rechtsgüterschutz zu begreifen. Eine Bewertung der Inhalte der Gesetzgebung erfolgt damit implizit und mittelbar: Wenn Birnbaum die Einstufung der Sittlichkeitsdelikte als Polizeivergehen kritisiert und sie als Verletzung von Gemeinschaftsgütern deutet, so ist damit die Anschauung verbunden, um die Legitimation dieser Klasse von Straftaten sei es eben nicht so prekär bestellt, wie es Feuerbachs spannungsvolle Konstruktion nahe legt. Binding als eigentlicher Entdecker des Rechtsgutsbegriffs für das Strafrecht transportiert in seinem Entwurf einen theoretischen Vorrang des Kollektivs in Bezug auf die strafrechtlich geschützten Belange.235 Bei von Liszt hingegen wird mit der Verbindung von Zweckgedanken und Rechtsgüterschutz, insbesondere aber in der Beschreibung des Rechtsguts als Grenzbegriff, schon die Rezeption von Wertungen, die nicht dem im engeren Sinne rechtlichen Erkenntnisbereich entstammen, zum Gegenstand der Reflexion. Explizit wird der eminent politische Charakter der Rechtsgütererkenntnis in der Feststellung der Weltanschauungsrelativität der Rechtsgüter bei Honig: die Schaffung von Rechtsgütern durch Rechtssetzung ist ihm zufolge nur vor der Folie einer bestimmten „rechtsphilosophischen Grundrichtung“ zu verstehen. Der Beschäftigung mit dem Rechtsgutsbegriff an sich wird eine solche Grundausrichtung dann von den nationalsozialistischen Strafrechtlern um Schaffstein 235 s. dazu Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 35 f.: „etatistische Rechtsgutskonzeption“ Bindings, der jedoch nicht bestreite, „daß auch das Individuum durch das Strafrecht geschützt wird.“
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht71
zugeschrieben. Die rechtsgutsfreundlichen NS-Strafrechtslehrer dagegen betonen die Möglichkeit, den Rechtsgutsbegriff in der Gesetzesauslegung zur Eintrittspforte für die nun herrschenden politischen Inhalte werden zu lassen. Prägend für das in der jungen Bundesrepublik wirksame Bild des Rechtsgutsbegriffs ist aus der Diskussion im Nationalsozialismus jedoch die These von der immanenten liberalen Tendenz und gerade nicht das Postulat der ideologischen Formbarkeit geworden. b) Wertkriterium, Wertungssubjekt und Wertungsakt Die in Bindings Definition des Rechtsgutsbegriffs identifizierbaren Elemente eines Kriteriums der Wertung, eines Wertungssubjekts und eines spezifischen Wertungsakts können als Deutungsschema für die Analyse der Wandlungen in der Konzeption des Rechtsgutsbegriffs dienen.236 Bei Binding sind diese Elemente jeweils klar bestimmt: Wertungssubjekt ist der Gesetzgeber, dieser entscheidet nach der sozialen Nützlichkeit (Wertungskriterium), der maßgebliche Wertungsakt ist die Gesetzgebung – die Inkraftsetzung von Normen. Indem Binding die Freiheit des Gesetzgebers in der Schaffung von Rechtsgütern und die Gemeinschaftsbezogenheit von Rechtsgütern betont, legt er beim Rechtsgutsbegriff den Wertungsakt und das Wertungssubjekt in den Fokus der Betrachtung. Eine Überprüfung anhand des Wertungskriteriums selbst hat demgegenüber bei der Frage, ob ein bestimmter Belang als Rechtsgut zu gelten habe, keine wesentliche Bedeutung. Der Blick zurück auf Birnbaum zeigt, dass der Formulierung eines Wertkriteriums dort ebenfalls kein nennenswerter selbstständiger Raum gegenüber der Schutzentscheidung durch den Gesetzgeber bleibt. Damit ist auch dort der Wertungsakt und die Autorität des Wertungssubjekts in der Begründung eines Rechtsguts dominant gegenüber inhaltlichen Kriterien der Wertung. Bei von Liszt verschiebt sich das Gleichgewicht gegenüber Bindings Lehre hin zu einer stärkeren Betonung des Wertungskriteriums. Zwar ist die gesetzgeberische Anerkennung essentiell für die Transposition vom Lebens- zum Rechtsgut, sie stellt sich nun aber stärker als Rezeption einer vorrechtlichen Grundlage dar. Diese gewinnt durch die Einführung des Daseins des Menschen als höchstes Rechtsgut an Kontur. Insbesondere wird dadurch auch eine individualistische Perspektive auf das Rechtsgut möglich, ihr steht jedoch der überindividuelle Aspekt des menschlichen Daseins wenigstens gleichberechtigt zur Seite. Bei Honig und dessen methodologischem Ansatz verfeinert sich die Sichtweise. Der Wertungsakt bleibt eindeutig die Anerkennung eines Ausschnitts 236 Vgl. die Unterscheidung von Wertkriterium und Werturteil bei Koriath, GA 146 (1999), S. 561 (562) und ähnlich bei Amelung, Begriff, S. 155 (155). Dazu unten S. 83.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
eines Gemeinschaftswerts durch die Schaffung gesetzlicher Tatbestände. Damit bildet der jeweils betroffene Gemeinschaftswert das wesentliche Wertungskriterium der Entscheidung, neben den weiteren Motiven für eine bestimmte Tatbestandsfassung. Hier hat der Wertungsakt (und somit akzessorisch auch das Wertungssubjekt Gesetzgeber) wieder zweifelsfrei eine größere Bedeutung bei der Erkenntnis der Rechtsgüter als das Wertungskriterium. Dies gilt umso mehr, als der Wertungsakt nun auf den einzelnen Tatbestand zu beziehen ist und nicht mehr auf die rechtliche Anerkennung im Allgemeinen. Das wird augenfällig, wenn Schwinge als weiterer Vertreter eines methodologischen Rechtsgutsbegriffs den Prozess der Rechtsgutserkenntnis als (vom gesetzlichen Tatbestand ausgehenden) „Schluss vom Mittel auf den Zweck“ beschreibt.237 Die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgekommene Kritik am Rechtsgutsdenken dagegen macht geltend, diesem seien liberale Prämissen als Wertungskriterium immanent. Die Verteidiger der Lehre dagegen verweisen ganz im Sinne der methodologischen Auffassung darauf, dass die Rechtsgüter für den Zugriff durch Akte der Gesetzgebung verfügbar seien. Wenn die Eignung des Rechtsgutsbegriffs für eine Auslegung im Sinne der neuen ideologischen Vorgaben propagiert wird, verdeutlicht dies, dass auch die Erkenntnis des Rechtsguts aus dem Gesetz kein wertungsfreier Akt ist. Damit wird – das war bei Honig mit der hier so genannten Weltanschauungsrelativität nur angedeutet – der Interpret zum zweiten Wertungssubjekt und die Auslegung zum zweiten rechtsgutskonstituierenden Wertungsakt. Denkbar weit davon entfernt ist die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelnde ausdrücklich strafrechtskritische Konzeption des Rechtsgutsbegriffs. Sie muss sich auf die Suche nach einem greifbaren Wertungskriterium konzentrieren, zu dem nun häufig die freie Entfaltung der Person wird. Damit setzt sich eine vom Individuum ausgehende Auffassung vorerst durch, die sich in exklusiver Formulierung seit der Rechtsverletzungslehre in keiner Position von maßgeblichem Einfluss mehr fand. Wertungssubjekt ist nicht mehr der Gesetzgeber, dessen Werke gerade Gegenstand der Kritik werden sollen, sondern der kritische Strafrechtler. Er tritt jedoch völlig in den Hintergrund, ist doch gerade die intersubjektive Überzeugungskraft des Wertungskriteriums von wesentlicher Bedeutung. Gleiches gilt vom Wertungsakt, den man bei diesen Positionen nicht mehr in der gesetzgeberischen Pönalisierungsentscheidung sehen kann, sondern der in der Stellungnahme zum Bestand oder Nichtbestand eines Rechtsguts zu sehen ist. Diese muss als Akt des reinen Erkennens erscheinen, um den kritischen Standpunkt gegenüber den Produkten der Gesetzgebung zu festigen. Im Falle einer ausdrücklich kritischen, aber empirische Daten einbeziehenden Auffassung von Rechtsgü237 Dazu
oben S. 58.
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tern wird eine Ebene der Wirklichkeitsreflexion eingefügt. An der für eine kritische Rechtsgutstheorie typischen Fokussierung auf das – explizit nun teils normative, teils realwissenschaftliche – Wertungskriterium ändert sich nichts, genauso wenig wie an der relativ dazu zurücktretenden Bedeutung des Wertungsakts. Man kann im Gegenteil sagen, diese Zuweisung der relativen Gewichte werde verstärkt, da für empirische Erkenntnis gegenüber normativen Anschauungen regelmäßig eine gesteigerte intersubjektive Überzeugungskraft in Anspruch genommen wird. In der Tendenz führt eine Betonung des Wertungsakts und des zugehörigen Wertungssubjekts bei den historischen Positionen zu einer Auffassung vom Rechtsgutsbegriff, die diesen als primär überindividuell bezogen konstruiert. Knüpft man bei Gesetzgebung und Gesetzgeber an, tritt notwendigerweise das Allgemeine des Schutzes in den Vordergrund.
II. Gegenwart: dogmatischer und strafrechtstheoretischer Aspekt 1. Vielfalt der Definitionen und Charakterisierungen Die heutige Diskussionslage zum Rechtsgutsbegriff ist vor dem Hintergrund der zeitlich ausgedehnten Vorgeschichte zu sehen, in deren Verlauf der Begriff ganz unterschiedliche Ausgestaltung erfahren hatte. An Vorschlägen für Definitionen des Rechtsgutsbegriffs, deren Verhältnis zueinander isoliert betrachtet schwer zu klären ist, mangelt es nicht.238 Claus Roxin definiert Rechtsgüter als „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind.“239 Dieser Ansatz bezieht sich, wie eine ganze Zahl anderer Vorschläge auch,240 nicht primär auf das (jeweils) geltende Strafrecht und dessen Normen. Solche Definitionsansätze können grundsätzlich als in238 Vgl. nur die Zusammenstellung von „Kostproben“ bei Stratenwerth, in: FS Lenckner, S. 377 (378) und bei Koriath, GA 146 (1999), S. 561 (565) sowie Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 11 f. Zu den Schwierigkeiten von Rechtsgutsdefinitionen Romano, in: FS Roxin, S. 155 (158 f.). 239 Roxin, Strafrecht AT I, § 2 Rn. 9. 240 Vgl. nur Marx, Definition, S. 62: Objekte, die dem Menschen seine Selbstverwirklichung ermöglichen; R.-P. Calliess, Theorie, S. 143: Partizipationschancen in der Gesellschaft; Rudolphi, in: FS Honig, S. 151 (163): soziale Funktionseinheiten, die für den Bestand der Gesellschaft in ihrer konkreten Ausprägung notwendig sind; Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, vor § 1 Rn. 144: strafrechtlich schutzbedürftiges menschliches Interesse.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
haltlicher Maßstab dienen, an dem eine Strafgesetzgebung insgesamt wie auch im Einzelnen gemessen wird. Dies ermöglicht eine kritische Tendenz gegenüber dem tatsächlich geltenden Strafrecht. Es ist die Fortsetzung der Traditionslinie, die nach dem oben Festgestellten zwar in der Rechtsverletzungslehre einen Vorläufer hat, mit Rekurs auf den Rechtsgutsbegriff aber erst in der Bundesrepublik beginnt. Eine solche Rechtsgutslehre rückt das Wertungskriterium bei der Begründung von Rechtsgütern in den Vordergrund. Man hat sie als systemtranszendent bezeichnet.241 Demgegenüber kann man Positionen als systemimmanent beschreiben, die das Vorliegen eines Rechtsgutes von einem im jeweils zu betrachtenden Rechtssystem geltenden Straftatbestand abhängig machen. Sie überschreiten die Grenzen des positiven Strafrechts als Bezugssystem nicht. Als Beispiel hierfür kann die Formulierung aus dem Lehrbuch von Reinhart Maurach und Heinz Zipf dienen: „Es ist üblich geworden, diese strafrechtlich geschützten Interessen als Rechtsgüter zu bezeichnen.“242 Das solchermaßen definierte Rechtsgut entsteht durch die (Straf-)Gesetzgebung. Die Traditionslinie zu dieser Rechtsgutsauffassung führt jedenfalls über Binding und den methodischen Begriff Honigs, Grünhuts und Schwinges. Jedoch sind auch Birnbaum und von Liszt eher dieser Richtung zuzuordnen, da sie mit der Formulierung von Rechtsgütern kein explizit gesetzgebungskritisches Anliegen verfolgen. Der Schwerpunkt solcher Auffassungen liegt bei dem güterkonstituierenden Wertungsakt, der an das Wertungssubjekt Gesetzgeber gebunden ist. Andere Begriffspaare, die zur Charakterisierung der verschiedenen Auffassungen des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriffs verwendet werden, sind material vs. immaterial243, hermeneutisch vs. kriminalpolitisch244, methodisch-teleologisch vs. liberal245 und naturalistisch vs. normativ246. Letztere vom Er241 Vgl. Hassemer, Theorie, S. 19–22; Baratta, in: FS Kaufmann, S. 393 (393 f.); Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 8; Otto, JURA 2016, S. 361 (364 ff.). „System“ ist dabei richtigerweise als „Strafrechtssystem“ zu verstehen (Hefendehl, Rechtsgüter, S. 19). 242 Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 19 Rn. 4. Ähnlich, insoweit sie sich auf Vorschriften des geltenden Rechts beziehen: Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 257: rechtlich geschützter abstrakter Wert der Sozialordnung; Köhler, Strafrecht AT, S. 25: Inbegriff der auf ein besonderes Freiheitsdasein und dessen Existenzbedingungen bezogenen rechtlichen Verhaltensnormen. 243 Yang, Konzeption, S. 32 ff.; zur insofern uneinheitlichen Terminologie auch Baratta, in: FS Kaufmann, S. 393 (393 f.). 244 Roxin, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 7. 245 Rudolphi, in: FS Honig, S. 151 (158). 246 Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, Einleitung Rn. 7.
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kenntnismittel für Rechtsgüter ausgehende Dichotomie ist etwas unglücklich gewählt, evoziert sie doch die Vorstellung, der als normativ beschriebene Rechtsgutsbegriff beinhalte einen normativen Anspruch (gegenüber dem positiven Recht), indem er vorgebe, wie die Gesetzgebung ausfallen solle. Diesen normativen Anspruch hat in dem Gegensatzpaar aber gerade der andere, „naturalistische“ Begriff. Die Dimensionen, entlang derer die genannten Unterscheidungen vorgenommen werden, weisen erhebliche Parallelen auf, obwohl sie jedenfalls vom Ausgangspunkt der Begriffsbildung her nicht deckungsgleich sind. Unterscheidet man methodologisch-teleologische Positionen von liberalen, so wird auf den Gesichtspunkt des rechtspolitischen Impetus abgestellt. Noch etwas prägnanter kommt dies zum Ausdruck, wenn man von methodischer oder hermeneutischer Konzeption auf der einen und kriminalpolitischer auf der anderen Seite spricht. Die Unterscheidung nach der materialen oder immaterialen Gestaltung knüpft dagegen unmittelbar an die Inhaltlichkeit des entsprechenden Rechtsgutsbegriffs an. Ein im vorgenannten Sinne liberaler Rechtsgutsbegriff ist aber auf eine materiale Fassung angewiesen, um das kritisch-freiheitliche Anliegen gegenüber der gegebenen Gesetzgebung vertreten zu können. Ein bloß methodologisch-teleologischer hat sich hingegen grundsätzlich auf den formalen Verweis auf den Inhalt rechtlicher Normen zu beschränken. Die Charakterisierung als naturalistisch oder normativ im oben genannten Sinne verläuft ebenfalls regelmäßig parallel: Ein liberal-kritisches Interesse erfordert eine materiale Formulierung, die Inhalte „naturalistisch“ außerhalb des Positiv-Normativen sucht; für methodisch-teleologische Ausgestaltungen gilt dagegen eben dieses Positiv-Normative als Quelle der Rechtsgutsinhalte. 2. Zwei Grundvarianten Damit bleiben im Wesentlichen zwei Begriffsvarianten, die sich nach dem zu Grunde liegenden Erkenntnisinteresse unterscheiden. Beim materiellen oder systemtranszendenten oder naturalistischen Rechtsgutsbegriff, der den Schwerpunkt auf das Wertungskriterium legt, handelt es sich um Aussagen über das Wesen des Strafrechts an sich, über die Bedingungen der Möglichkeit staatlichen Strafens überhaupt. Der formelle oder systemimmanente Rechtsgutsbegriff, der auf das Wertungssubjekt und insbesondere den Wertungsakt fokussiert, findet dagegen in einem Kontext Anwendung, in dem gesicherte Aussagen über den Regelungsgehalt geltenden Rechts Ziel der Betrachtung sind, also gewissermaßen solche über die konkrete Wirklichkeit des staatlichen Strafanspruchs. Das kann man grob als Zielsetzung der Strafrechtsdogmatik beschreiben, weswegen diese Begriffsvariante hier als strafrechtsdogmatisch bezeichnet werden soll. Ersteres Erkenntnisinteresse dage-
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
gen rechtfertigt die Bezeichnung als strafrechtstheoretisch.247 Ob damit, insbesondere konkret unter dem Grundgesetz, ein Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit oder lediglich eine kriminalpolitische Stellungnahme verbunden ist, kann als Frage davon getrennt werden und muss hier zunächst nicht näher verfolgt werden.248 Schon in der Dogmengeschichte des Rechtsgutsbegriffs sind deutliche Überlagerungen zwischen den Begriffsvarianten festzustellen. So ist es bereits bei Birnbaum keineswegs eindeutig festzustellen, dass mit dem Begriff des Rechtsguts ein Maßstab aufgestellt werden sollte, an dem man ein gegebenes Strafrecht messen könnte.249 Die Rechtsverletzungslehre Feuerbachs kritisiert er maßgeblich vom Standpunkt des positiven Strafrechts aus, das sie nicht zutreffend beschreiben könne. Wenn er ihr nun seine Güterverletzungslehre entgegensetzt, so überzeugt es nicht, anzunehmen, er habe mit dem Vorschlag, das Verbrechen als Güterverletzung zu begreifen, einen (nur) natürlichen Verbrechensbegriff entwerfen wollen.250 Schlüssiger ist die Deutung, der Begriff des Verbrechens als Güterverletzung erhebe den Anspruch, sowohl das Wesen jedes Strafrechts als auch die Realität des positiven Strafrechts adäquat zu beschreiben. Mit diesem Ausgreifen sowohl nach positivem wie auch nach natürlichem Verbrechensbegriff bleibt das Rechtsgutskonzept aber in der Schwebe zwischen strafrechtsdogmatischer und strafrechtstheoretischer Variante. Vor dem Hintergrund der damit angedeuteten Probleme in den Details der Abgrenzung251 ist die Unterscheidung zwischen dogmatisch-interpretatori247 Strafrechtstheorie wird hierbei in einem weiten Sinne verstanden, der die Untersuchung der von einem gegebenen positiven Strafrecht unabhängigen Aussagen über staatliches Strafen meint. Zur Qualifikation dieser Spielart von Rechtsgutslehre als „Theorie“ auch Hassemer, Theorie, S. 24. 248 Zu dieser Differenzierung Lagodny, Strafrecht, S. 21, der freilich wegen des Zuschnitts seiner eigenen Untersuchung an Äußerungen mit Verbindlichkeitsanspruch interessiert ist. Ausgehend von einer restriktiven Auslegung der Schranke des „Sittengesetzes“ in Art. 2 Abs. 1 GG gelangt Roxin, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 34 zu einer rechtlichen Verbindlichkeit. Eine klare Unterscheidung zwischen verfassungsrechtlichem und rechtspolitischen Anspruch wird gerade bei strafrechtlichen Äußerungen zu Legitimationsfragen nicht immer durchgeführt (Appel, Verfassung, S. 309 f. vgl. auch 351 ff.). 249 Dazu schon oben S. 45 mit Fn. 107. 250 So aber Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 44; Krüger, Entmaterialisierungstendenz, S. 71. Den Begriff des natürlichen Verbrechens behandelt Birnbaum, AdCR NF 1836, S. 560 und nennt die Lehre von der Güterverletzung als eine mögliche Ausprägung eines solchen Begriffs (571). 251 Auch beispielsweise die von Hefendehl, ZIS 2012, S. 506 (507 ff.) vorgenommene Analyse der in verschiedenen Strafrechtskodifikationen geschützten Rechtsgüter nach abstrakten Kategorien verfolgt zwar letztlich ein kritisches Anliegen, beschränkt
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scher und strafrechtstheoretischer Variante als polarisierte Präsentation von Idealtypen zu verstehen. Wenn auch die zwei verschiedenen mit dem Begriff des Rechtsguts verfolgten Anliegen nicht stets explizit auseinandergehalten werden, so lässt sich die jeweilige Zielrichtung jedoch regelmäßig bestimmen. Soll eine Aussage darüber gemacht werden, wie das Strafrecht ist, so ist das Rechtsgut dogmatisch gemeint. Wird etwas darüber ausgesagt, wie das Strafrecht sein sollte, hat man es mit der strafrechtstheoretischen Variante zu tun.
III. Strafrechtsdogmatische Variante Die strafrechtsdogmatische Variante des Rechtsgutsbegriffs ist in der Strafrechtsliteratur als Element der teleologischen Argumentation in großer Breite präsent. Auch in der Rechtsprechung erscheint sie. 1. Rechtsgutsorientierte Auslegung in der Literatur Jenes belegt schon der Blick in die wichtigsten Kommentare zum Strafgesetzbuch. In ihnen finden sich meist in den ersten Absätzen der Kommentierungen – häufig sogar ganz zu Anfang – Erwägungen zum durch den jeweiligen Straftatbestand geschützten Rechtsgut.252 Dies spiegelt die Bedeutung als Ausgangspunkt der Tatbestandsinterpretation wider. Sofern sich Kommentare jedoch darüber hinausgehend auch ausdrücklich mit dem Begriff auseinandersetzen, bezieht sich dies regelmäßig nicht ausschließlich auf die mit interpretationsleitendem Anspruch auftretende dogmatische Variante.253 Solche Ausführungen gehen häufig auch auf die strafrechtstheoretische Variante ein oder behandeln die Frage im Zusammenhang mit dem Wesen der sich jedoch zunächst auf eine am Rechtsgutsbegriff orientierte Betrachtung und quantitative Auswertung des Bestehenden. 252 Vgl. nur Kühl/Heger, Strafgesetzbuch, § 80 Rn. 1, § 80a Rn. 1, § 81 Rn. 2 f., § 86a Rn. 1 etc.; Classen, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar, § 80 Rn. 1; Steinmetz, a. a. O., § 84 Rn. 1 etc.; Fischer, Strafgesetzbuch, § 86 Rn. 2, § 86a Rn. 2, § 88 Rn. 2, § 89 Rn. 2 etc.; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, § 80 Rn. 1, § 81 Rn. 5, § 83 Rn. 2, § 84 Rn. 3 etc.; Sternberg-Lieben, in: Schönke u. a. (Hrsg.), Strafgesetzbuch, § 80 Rn. 2, § 81 Rn. 2, § 82 Rn. 2, § 86a Rn. 1 (dort meist „Schutzobjekt“); Laufhütte/Kuschel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, § 80 Rn. 1, § 80a Rn. 1, § 81 Rn. 1, § 82 Rn. 1, § 83 Rn. 1 etc. (dort allerdings stets: „Zweck der Vorschrift“). 253 s. jedoch Kühl/Heger, Strafgesetzbuch, Vor § 13 Rn. 4, die zwar in Notizen zur Literatur Teile der Diskussion um den Rechtsgutsbegriff skizzieren, aber vor allem (insgesamt knapp) auf den Schutzzweck oder das geschützte Rechtsgut als maßgeb lichen Gesichtspunkt strafrechtlicher Auslegung und Begriffsbildung eingehen.
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Straftat, wenn sie nicht gleich engagiert für eine strafrechtskritische Position eintreten.254 Die strafrechtsdogmatische Begriffsvariante bildet sich auch in der Literaturgattung Lehrbuch ab. Von Hellmuth Mayer stammt die Definition des Rechtsguts als „besonderer, als werthaft vorgestellter Zustand der äußeren Lebenswirklichkeit“.255 Indem hier auf einen äußeren Zustand abgestellt wird, findet eine Stellungnahme gegen einen methodologischen Rechtsgutsbegriff im Sinne Honigs, Grünhuts und Schwinges statt. Gegenüber der Definition als bloße Kurzformel für den Gesetzeszweck wird auf einen substanziellen Gehalt, der allein das Unrechtsmoment der Straftat erklären könne, abgestellt.256 Diese substantielle Fassung zieht aber nicht die Folge nach sich, den Rechtsgutsbegriff als Medium der Kritik an einzelnen Straftatbeständen zu betrachten. Eben eine solche Verwendung lehnt der Autor ab. Im weit verbreiteten, von Johannes Wessels begründeten Lehrbuch zum Allgemeinen Teil fällt die Stellungnahme zum Rechtsgut knapp aus. Als Rechtsgüter bezeichne man „die Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannten Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Gesellschaft Rechtsschutz genießen.“257 Gegenständlich ist damit ein weites Spektrum von Gütern über Werte bis zu Interessen eröffnet, ohne dass einer der drei als Überbegriff einer abstrakteren Bestimmung zu Grunde gelegt würde. Deutlich wird die Betonung des Wertungsakts, der für die dogmatische Verwendung des Rechtsgutsbegriffs typisch ist. Die „Bedeutung für die Gesellschaft“ als Wertkriterium schließlich tritt als bloße Motivation des konstituierenden Wertungsakts des Gesetz254 Vgl. Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar, Einl. Rn. 29 ff.: in Zusammenhang mit dem materialen Verbrechensbegriff; differenzierend gehen Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9 ff. vor, widmen jedoch auch den Großteil der Ausführungen der strafrechtskritischen Tendenz. Engagiert im Sinne der systemkritischen Potenz Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg)., Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 108 ff.; Rudolphi, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar, Vor § 1 (1997) Rn. 2 ff.: im Zusammenhang mit der „Aufgabe des Strafrechts“ ebenfalls mit die Gesetzgebung bindender Tendenz; Weigend, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, Einl. Rn. 7 f.: kritisch gegenüber der Eignung als Element der „kriminalpolitischen Argumentation“, wohlwollend gegenüber der Verwendung als „Chiffre für den Zweck […] eines bestimmten (bestehenden) Straftatbestandes“. 255 Mayer, Strafrecht, S. 52, der im Weiteren feststellt, es sei nicht möglich, einem Straftatbestand das Rechtsgut und somit die Legitimität abzusprechen, wiewohl man die Entscheidung des Gesetzgebers, etwas zum Rechtsgut zu erheben, als falsch kritisieren könne. Mayer beruft sich für den Rechtsgutsbegriff auf Birnbaum und Binding. 256 Mayer, Strafrecht, S. 52 (insb. Fn. 6). 257 Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Rn. 11.
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gebers zurück. Ähnlich fallen andere knappe Erwähnungen des Rechtsgutsbegriffs in der Lehrbuchliteratur aus.258 In der Bearbeitung einzelner strafrechtsdogmatischer Probleme kommt die Argumentation über das geschützte Rechtsgut im Kontext der rechtfertigenden Wirkung der Einwilligung, der Notwehrfähigkeit eines Belangs und der Konkurrenzen259 sowie allgemein bei der teleologisch geleiteten Ermittlung der Reichweite einer Strafbestimmung. Zu den beiden letztgenannten Bereichen soll jeweils ein Beispiel aus der Rechtsprechung dargestellt werden. 2. Rechtsgüter in der Rechtsprechung Die Frage nach dem geschützten Rechtsgut einer Strafvorschrift erweist sich als unmittelbar relevant für die Rechtsanwendung in der Praxis. So hatte der BGH in einer Revisionssache Anlass, Erwägungen anzustellen, ob durch eine eventuell gegenüber mehreren Personen begangene versuchte Erpressung § 253 StGB mehrfach verwirklicht sei. Dies spielte eine Rolle für die Frage der Tateinheit oder -mehrheit bezüglich eines weiteren Tatgeschehens. Hier greift der BGH argumentativ auf das geschützte Rechtsgut des § 253 StGB zurück, der neben dem Vermögen auch die Entschließungsfreiheit schütze.260 Im konkreten Fall waren zwar mehrere Verwandte bedroht worden, der erpresste Vermögensvorteil sollte jedoch bloß aus dem Vermögen eines von ihnen stammen. Da aber auch die Entschließungsfreiheit geschützt werde, gelangte der BGH zum Ergebnis, dass mehrere versuchte Erpressungen vorlägen.261 Eine tatbestandliche Handlungseinheit, zu der man andernfalls hätte gelangen können, schied damit aus. Der Rekurs auf das von einer Vorschrift geschützte Rechtsgut ermöglicht hier die Lösung einer Konkurrenzproblematik – es verwirklicht sich die anwendungsbezogene Funktion des Rechtsgutsbegriffs.262 Dabei ist das Rechtsgut nicht nur ein abstrakt von 258 Jescheck/Weigend, Allgemeiner Teil, § 1 III (S. 7 f.): Der Bestand an strafrechtlich geschützten Rechtsgütern sei dem Wandel unterworfen. Ganz ähnlich formuliert Otto, Strafrecht, § 1 Rn. 34, der den Rechtsgutsbegriff jedoch als Argumentations topos hinsichtlich der Kriminalisierung von Verhaltensweisen anerkennt (§ 1 Rn. 40). 259 Vgl. zu den genannten Problemfeldern Hefendehl, ZIS 2012, S. 506 (507) m. w. N. 260 Der BGH befindet sich dabei im Einklang mit der ganz herrschenden Auf fassung, vgl. nur Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, § 253 Rn. 1 m. w. N. 261 BGH, Urteil vom 29.11.2011 – 1 StR 287/11 – Rn. 37 (abrufbar unter http:// juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en &sid=13a72eedfc25d8f4b7ee093ba8af2c28&nr=59088&pos=1&anz=28 [01.11.2016]). 262 Hilgendorf, NK 2010, S. 125 (129).
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einer Strafvorschrift geschützter, sondern auch der von einer konkreten strafbaren Handlung verletzte Gegenstand: es ist die Entschließungsfreiheit jeweils verschiedener Personen, die in concreto beeinträchtigt wurde. In einem weiteren Fall aus jüngerer Zeit, in dem es unter anderem um das unbefugte Führen eines akademischen Grades ging, griff der entscheidende Strafsenat des BGH auf die Figur des geschützten Rechtsguts zurück, um die Grenzen des Tatbestands des § 132a Abs. 1 Nr. 1 StGB zu ermitteln. Für dessen Erfüllung sei es notwendig, dass der Täter den Grad in einer Art und Weise führe, die das geschützte Rechtsgut gefährde. Dieses sei aber wie folgt zu bestimmen: „Geschützt wird die Allgemeinheit davor, dass einzelne im Vertrauen darauf, dass eine bestimmte Person eine bestimmte Stellung hat, Handlungen vornehmen könnten, die für sie oder andere schädlich sein können.“263 Da es im zu entscheidenden Fall keine zureichenden Feststellungen der Vorinstanz gab, hob der BGH die Verurteilung auf. Der Weg über das von einer Strafvorschrift geschützte Rechtsgut führt hier den Rechtsanwender zu einer einschränkenden Auslegung des grundsätzlich weiter reichenden Wortlauts der Strafvorschrift. Auch wird die Verletzung des Rechtsguts wieder als im konkreten Fall möglich behandelt. Eine Individualisierung des Rechtsguts wie im zuvor genannten Beispiel findet jedoch nicht statt; dies ergibt sich jedoch zwanglos aus der Bestimmung des Rechtsguts, das als ein solches der Allgemeinheit aufgefasst wird. 3. Praxis ohne Definitionsprobleme Die exemplarisch dargestellten Entscheidungen illustrieren die Selbstverständlichkeit, mit der die strafrechtliche Praxis – von subtilen Unterscheidungen theoretischer Art offensichtlich völlig unbelastet – auf den Begriff des Rechtsguts als Element der juristischen Begründung zurückgreift. Grundsätzliche und ideologisch hinterlegte Auseinandersetzungen sind heute hinsichtlich des gewissermaßen im dogmatischen Alltag gebrauchten Rechtsgutsbegriffs nicht in Sicht. Gegenstand von Diskussionen ist von dieser Warte aus regelmäßig die Frage, was als Rechtsgut einer Strafvorschrift aufzufassen ist – und nicht die Frage der richtigen Definition des Rechtsgutsbegriffs. Auf eine nähere Klärung dieser Ebene scheint es für die dogmatische Brauchbarkeit nicht anzukommen. Dies bedeutet nicht, dass sich nicht im Einzelnen gewichtige Probleme hinter dem vordergründig einleuchtenden Konzept der rechtsgutori263 BGH, Urteil vom 17.11.2011 – 3 StR 203/11 –, Rn. 12 (abrufbar unter http:// juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en &sid=b9b15b182af485c1ca2456d64a55f742&nr=59320&pos=0&anz=1 [01.11.2016]) = NStZ 2012, 700 (700). In der Sache schließt sich das Gericht damit der Entscheidung BGHSt 31, 61 an.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht81
entierten Auslegung verbergen. So lässt sich beispielsweise fragen, wie der Auslegungsprozess zu rekonstruieren ist, in dem zunächst aus der Norm deren Rechtsgut bestimmt wird und das Ergebnis dieses Schrittes wiederum zur Bestimmung des Norminhalts herangezogen wird. Die Zusammenhänge dieses Konkretisierungsvorgangs aus der Vorschrift heraus bedürften hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise näherer Erklärung.264 Dies ist aber ohne Auswirkung darauf, dass die dogmatisch-interpretatorische Variante in Strafrechtswissenschaft und -praxis ohne eine explizite Definitionsdebatte auskommt. Wenn man diese Dimension betrachtet, so lässt sich sagen, dass der Mangel an einer allgemein anerkannten Definition des Rechtsgutsbegriffs jedenfalls seiner Bedeutung als Instrument der Dogmatik keinen Abbruch getan hat.265
IV. Strafrechtstheoretische Variante Ist die Bedeutung des dogmatisch-interpretatorischen Rechtsgutsbegriffs weitgehend unangefochten, so lässt sich gleiches nicht von der Variante sagen, die implizit oder explizit auf weitergehende Aussagen über das Strafrecht zielt. 1. Rechtsgutsdiskussion als Legitimationsdiskussion Es ist bereits grundsätzlich umstritten, inwieweit sich solche Aussagen, insbesondere über Kriminalisierungsentscheidungen, am Rechtsgutsbegriff festmachen lassen. Insbesondere fragt sich, ob eine allgemeingültige Definition Grundlage einer kritischen Betrachtung einzelner geltender Straftatbestände sein kann.266 Verneint man die Relevanz des Rechtsguts als Topos der Legitimationsdiskussion, so erübrigt sich die Suche nach einer für diesen Zweck tauglichen Definition. Dies ist für eine Anzahl von Untersuchungen festzustellen, die nach verbindlichen Grenzen des staatlichen Strafrechts su264 Dies diskutiert Koriath, GA 146 (1999), S. 561 (574–576) mit dem Ergebnis erheblicher Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Rechtsgutsbegriffs für die interpretatorische Praxis. Die diesbezüglichen Überlegungen Schwinges, der prägnant vom Schluss vom Mittel auf den Zweck spricht (siehe dazu oben S. 58), bezieht er in seine Betrachtung nicht ein. Ebenfalls skeptisch Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9a. Ausdrücklich kritisch Kubiciel, Wissenschaft, S. 51 ff.: Die Aussage über das von einem Straftatbestand geschützte Rechtsgut sei u. a. zu unbestimmt, um maßgebliche Leitlinie der Interpretation zu sein (55 f.). 265 Ganz ähnlich Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 9a. Einen „Beitrag zur Verstehbarkeit eines Tatbestands“ erkennt Romano, FS Roxin, S. 155 (166) trotz der „naturgegebenen wesentlichen Unbestimmtheit“ des Begriffs an. 266 Ablehnend Hörnle, Verhalten, S. 17 f.; Stratenwerth, in: FS Lenckner, S. 377 (390; s. auch schon 379).
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
chen, ohne den Ausgangspunkt beim Rechtsgutsbegriff zu wählen.267 Diejenigen Ansichten, die bejahend antworten, unterscheiden sich wiederum danach, ob sie den Rechtsgüterschutz als exklusiven Legitimationsträger für Strafrechtsnormen betrachten oder nicht.268 Optiert man für die Ausschließlichkeit, so führt eine anspruchsvolle Rechtsgutsdefinition mitunter zu erheblichen Spannungen mit dem geltenden Strafrecht, wie sich schon im historischen Überblick zeigte. Die Frage nach dem Rechtsgutsbegriff verbindet sich dann mit derjenigen nach dem materiellen Verbrechensbegriff. Ein strafrechtstheoretischer Rechtsgutsbegriff zeigt, wie eben bereits festgestellt, eine nicht zu vernachlässigende Präsenz in Lehrbüchern und Kommentaren, also Literaturgattungen, die in erster Linie eine dogmatische Erschließung des geltenden Rechts erstreben. Dies betrifft zum einen mehr oder weniger umfangreiche generelle Ausführungen269 wie auch die konkrete Diskussion der Legitimation von Straftatbeständen anhand des Rechtsgutsbegriffs270. Auch bei den strafrechtstheoretischen Ansätzen dürfte der inhaltliche Schwerpunkt nicht bei der Definition liegen. Ein erster Befund ergibt, dass die Definitionsvorschläge mit strafrechtstheoretischem Anspruch überaus zahlreich sind. Im Folgenden nur ein paar Beispiele: Es wird vertreten, Rechtsgüter seien „verletzbare, schützbare Zustände“271, „die soziale[n] Funktionseinheiten, ohne die unsere Gesellschaft in ihrer konkreten Ausprägung nicht lebensfähig wäre“272, „Objekte, die dem Menschen seine Selbstverwirklichung 267 Neben der eben genannten Arbeit von Hörnle sind vor allem zu nennen: Lagodny, Strafrecht, S. 50, der einen grundrechtsdogmatischen Ansatz wählt und von dort aus feststellt, u. a. den strafrechtlichen Rechtsgutslehren fehle es schon prinzipiell an den grundrechtsdogmatischen Vorüberlegungen. Verfassungsrechtliche Schranken kann ein vorgelagerter Rechtsgutsbegriff nach seinem Ergebnis nicht setzen (S. 138, 140, 147, 162 f.). Appel, Verfassung, S. 381 ff. äußert sich geradezu vernichtend über die Leistungsfähigkeit der Rechtsgutslehren als Medium der Strafrechtskontrolle und diagnostiziert als zentrales Problem die Unmöglichkeit der kritischen Rechtsgutslehre, ihren Maßstab rational als rechtlich verbindlich zu konstituieren. 268 Exklusivistische Position beispielsweise Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 116 f.; zu Legitimationsansätzen bezüglich so genannter rechtsgutsloser Delikte s. Hefendehl, GA 2007, S. 1 (7 f.). Kritisch hinsichtlich des Verzichts auf die Verbindung zwischen Rechtsguts- und Verbrechensbegriff Sina, Dogmengeschichte, S. 101. 269 Eher knapp unter der Überschrift „Rechtsgut als grundlegendes Strafwürdigkeitskriterium“ Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, § 3 Rn. 10 ff.; ausführlich Rudolphi, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar, Vor § 1 (1997) Rn. 3 ff.; auf strafrechtstheoretische Rechtsgutslehren geht Stratenwerth, Allgemeiner Teil I, § 2 Rn. 4 ff. recht ausführlich ein, verwirft sie aber letztlich. Für eine personale Rechtsgutslehre treten Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 131 ff., 146 u. ö. ein. 270 Z. B. bei Fischer, Strafgesetzbuch, § 173 Rn. 3, 7. 271 Jäger, Rechtsgüterschutz, S. 13. 272 Rudolphi, in: FS Honig, S. 151 (163).
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht83
ermöglichen“273, das Rechtsgut sei ein „strafrechtlich schutzbedürftiges menschliches Interesse“274, ein „vergeistigter ideeller Wert“275. Die verschiedenen Definitionsansätze sind schwer zu systematisieren. Schon die Substantive, die in den Formeln den Gegenstand Rechtsgut bezeichnen, unterscheiden sich erheblich: Zustände, Objekte, Interessen, soziale Funktionseinheiten oder vergeistigte ideelle Werte. Darin bilden sich die seit Beginn der Begriffsgeschichte verschiedenen Grundperspektiven und insbesondere der wenigstens seit Binding und von Liszt umstrittene reale oder ideale Status des Rechtsguts ab.276 Das scheint einen Vergleich der mit den jeweiligen Definitionen verbundenen strafrechtstheoretischen Konzeptionen erheblich zu erschweren. Daher dürfte es geboten sein, dem Gegenstandselement in den Definitionen jedenfalls nicht die maßgebliche Aufmerksamkeit zu widmen: Die Auseinandersetzung über den Teil, den man bei Zuordnung zu den Elementen einer Definition nach der klassischen Definitionslehre als Gattung bezeichnen müsste,277 scheint keinen Erfolg zu versprechen. Sie erinnert an das bei Birnbaum gegen Feuerbach vorgebrachte begriffliche Argument der fehlenden Verletzbarkeit von Rechten. Man hat in diesem Sinne ausgehend von dem abstrahierten Satz „X ist ein Gut“ vorgeschlagen, zu unterscheiden zwischen der Frage, was gegenständlich für X eingesetzt werden dürfe – dem durch den Satz ausgedrückten Werturteil – und dem Wertkriterium.278 Solle es um Grundfragen des staatlichen Strafens gehen, so lohne vor allem die Auseinandersetzung über das Wertkriterium.279 Dieser Einsicht scheint die Definition, die für die Form des X „Objekte“ setzt, am besten zu genügen. Objekt 273 Marx,
Definition, S. 62. in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, vor § 1 Rn. 144. 275 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, § 3 Rn. 18. Hier muss man allerdings den Kontext beachten: dieser ist hier die Abgrenzung von Rechtsgut und Handlungsobjekt. Wenig früher (Rn. 10; 12; 14) erscheinen auch Interessen als weitgehend synonym mit Gütern. 276 Dazu Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 16 ff.; Yang, Konzeption, S. 32 ff.; ein gewisser begrifflicher Zusammenhang dieser Frage besteht mit der Unterscheidung von Rechtsgut und Rechtsgutsobjekt Rönnau, Einwilligung, S. 30 f.; davon wiederum zu treffen ist die Differenzierung von Rechtsgut und Handlungsobjekt, s. oben C. I. 2. c), insb. Fn. 142. 277 Zur traditionellen Definitionslehre s. Schneider/Schnapp, Logik, S. 46. Kritisch aus sprachanalytischer Sicht Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 4 I 1 (S. 37 f.). Der Rückgriff erfolgt zur Illustration der Problemlage; einer näheren Auseinandersetzung mit den Fragen der Definitionslehre bedarf es hier nicht. 278 Koriath, GA 146 (1999), S. 561 (562). Ähnlich Amelung, Begriff, S. 155 (155). S. auch die Scheidung von Werturteil und Kriterium der Wertentscheidung bei Langer-Stein, Legitimation, S. 11 f. 279 Koriath, GA 146 (1999), S. 561 (562); im Ergebnis ebenso Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 144. 274 Hassemer/Neumann,
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
ist jeder Gegenstand; und ein weiter Gegenstandsbegriff setzt seinem Inhalt schließlich keine formalen Grenzen.280 Dies hat den Vorzug, mit dem Wertkriterium die normativen Prämissen von Aussagen über Rechtsgüter und insbesondere von Aussagen über als rechtsgutslos bezeichnete Straftatbestände offenzulegen. Die bloße Aussage, einem Delikt fehle es an einem Rechtsgut und deswegen sei es illegitim, enthält zwar die offensichtliche Prämisse, einem legitimen Straftatbestand müsse ein Rechtsgut zu Grunde liegen. Die Feststellung der Rechtsgutslosigkeit erweckt demgegenüber den Eindruck, darüber ließe sich durch rein logische Analyse entscheiden, ohne ihrerseits der diskursiven Rechtfertigung bedürftige Wertungen einzuführen. Diesem Missverständnis wird vorgebeugt, wenn man gegenüber der Frage der gegenständlichen Struktur diejenige der Wertungskriterien in den Vordergrund stellt. Ob etwas unter bestimmten normativen Voraussetzungen ein legitimes Rechtsgut ist, ist nicht mit einem Definitions-Subsumtions-Schema, sondern nur mit einer transparenten normativen Begründung befriedigend zu beantworten.281 2. Beispiel personale Rechtsgutslehre Eine solche Begründung bietet etwa die so genannte personale Rechtsgutslehre, die auf die Relevanz der betreffenden Belange für die personale Entfaltung (des Einzelnen) abstellt.282 Während solche Belange, die sich unmittelbar individuell-personal zuordnen lassen, ohne Weiteres davon erfasst sind, werden überindividuelle Güter nur in ihrer Funktion für die individuelle personale Entfaltung erfasst und damit zu derivativen Gütern.283 Davon ausgehend gelangt man problemlos zur Rechtfertigung der gegen individuelle rechtlich anerkannte Interessen gerichteten Delikte wie Körperverletzung, Diebstahl, Betrug etc. Problemfälle sind dagegen unter anderem Delikte mit möglicherweise paternalistischer Tendenz, wie die Vorschriften des Betäubungsmittelstrafrechts, und solche Vorschriften, bei denen die Absicherung von durch einen mehrheitlichen Konsens getragenen Wertvorstellungen im 280 Zum philosophischen Gegenstandsbegriff Lorenz, Art. „Gegenstand“, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie III, S. 42 f. 281 Vgl. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 144, 146 f. Mit gleicher Tendenz gegen eine Verquickung von Rechtsgutsbegriff und Legitimationsfragen Seher, Strafnormlegitimation, S. 39 (45), der von einem „semantische[n] Dilemma der Rechtsgutsdebatte“ spricht. 282 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 131–148 (insb. 132); Hassemer, in: FS Kaufmann, S. 85 (91); vgl. auch Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 29 ff.; Yang, Konzeption, S. 94 ff. Differenziert zu den mit einer personalen Rechtsgutslehre verbundenen grundlegenden Wertungen Greco, in: FS Roxin, S. 199 (204 ff.). 283 Staechelin, Strafgesetzgebung, S. 69 f.; Woitkewitsch, Schutz, S. 128.
C. Insbesondere: Rechtsgüter im Strafrecht85
Vordergrund zu stehen scheint, wie dem Inzestverbot in § 173 StGB. Solche Vorschriften können der Kritik anheimfallen, ihnen fehle es an einem (legitimen) Rechtsgut.284 Jedenfalls aber steigt der Begründungsaufwand für den Schutz von Universalrechtsgütern,285 da sie nur noch als derivative Belange Bestand haben und somit die Ableitungs- und Funktionsbeziehung dargelegt werden muss. Eine solche Position kann für sich eine nicht unwesentliche Kongruenz mit den Wertungen des Grundgesetzes in Anspruch nehmen,286 schützt dieses doch die freie Entfaltung der Persönlichkeit im ersten Absatz seines zweiten Artikels und räumt es der Menschenwürde sowohl äußerlich durch die Aufnahme als Art. 1 Abs. 1 als auch geltungshierarchisch durch Art. 79 Abs. 3 eine überragende Stellung ein. Die Menschenwürdegarantie ist primär als die Gewährleistung einer auf das Individuum bezogenen Würde zu verstehen.287 Jedenfalls kann also Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen werden, um die individualistische Tendenz der personalen Rechtsgutslehre zu stützen. Allerdings kennt das Grundgesetz ausweislich Art. 79 Abs. 3 GG normenhierarchisch gleichrangige Belange wie das Demokratie- oder Bundesstaatsprinzip, denen ein unmittelbarer individueller Bezug evidentermaßen fehlt. Mehr als eine gewisse Tendenz des Grundgesetzes, die Personalität besonderem Schutz zu unterstellen, lässt sich auf dieser generellen Ebene damit nicht feststellen.288 Dem entspricht auch der Befund, dass eine strafrechtskritische personale Rechtsgutslehre – soweit ersichtlich – im verfassungsrechtlichen Schrifttum als Grenze der staatlichen Befugnis, Strafvorschriften zu schaffen, keinen Anklang gefunden hat. Die bisher einzige ausdrückliche Äußerung des Bundesverfassungsgerichts ist ebenfalls rundweg ablehnend ausgefallen.289 Auch 284 Siehe beispielsweise die Kritik am Inzesttatbestand bei Fischer, Strafgesetzbuch, § 173 Rn. 3, 7. 285 Staechelin, Strafgesetzgebung, S. 79. Dies führt zu dem auf die heutige Rechtsgutslehre insgesamt generalisierbaren Befund, sie sei von einem methodologischen Individualismus geprägt: so Volk, in: FS Roxin, S. 215 (221). 286 Worms, Bekenntnisbeschimpfung, S. 57 f. Im Sinne eines auf die individuelle Freiheit abzielenden „liberalen“ Rechtsgutsverständnisses so schon – freilich ohne die Konzeption als personales Rechtsgutsverständnis zu kennzeichnen – Sina, Dogmengeschichte, S. 90. 287 Statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 I Rn. 116. 288 Weitergehend Kaspar, Verhältnismäßigkeit. Er hält eine Ableitung der personalen Rechtsgutslehre „aus den Grundlagen des Verfassungsrechts“ für möglich (S. 205 f.) und schlägt die Verortung von Aspekten des Rechtsgüterschutzgedankens auf den verschiedenen Ebenen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vor (S. 219 ff.). 289 BVerfGE 120, 224 (241 f.). Dazu kritisch mit Hinweis auf die Berührungspunkte in der Sache Schünemann, ZRP 2015, 68 (69 mit Fn. 11). In den weiteren Entscheidungen, die das materielle Strafrecht betrafen, hat sich das Gericht gar nicht ausdrücklich zur Rechtsgutsverletzung als Bedingung legitimer Pönalisierung verhal-
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
aus dem Schrifttum strafrechtlicher Provenienz gibt es kritische Stimmen. Es wird dabei geltend gemacht, die personale Perspektive stehe, soweit sie auch das geltende Strafrecht beschreiben wolle, in Widerspruch mit der gegebenen Legalordnung.290 Zudem sei die hierarchische Überordnung individueller Belange bei einer näheren Betrachtung der Zusammenhänge normativ verfehlt.291 Ein weiterer Einwand greift bei der implizierten Bestimmung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Individuum an und macht geltend, ausgehend vom Topos der personalen Entfaltungsmöglichkeiten falle es schwer, beispielsweise Partizipationschancen in komplexen sozialen Beziehungen zu beschreiben.292 Nicht zuletzt solche Kritik führt dazu, dass trotz des häufig großzügig ausgebrachten freiheitlichen Pathos die Leistungsfähigkeit eines strafrechtskritischen, personalen Ansatzes in der Rechtsgutslehre auch von deren Anhängern eher vorsichtig bewertet wird.293 Dieser Evaluation wird man sich anzuschließen haben. Es fehlt an hinreichend substantiellen Ansatzpunkten im geltenden Verfassungsrecht, um die Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz von für die personale Entfaltung wichtigen Belangen als rechtlich verbindlich zu begründen.294 Insbesondere lässt sich ein solches sektorielles Sonderregime für das Strafrecht kaum am Grundgesetz festmachen. Dieses enthält keine Vorschriften, die sich explizit dazu verhalten, welche Verhaltensweisen unter Strafe gestellt werden dürfen,295 und allzu bestimmte Vorgaben hinsichtlich der gesetzgeberischen Ziele geraten in Konflikt mit dem Demokratieprinzip.296 Als Ort rechtspolitischer Argumentation besitzt eine personale Rechtsgutslehre jedoch eine gewisse Überzeugungskraft, indem sie an den Einsatz des Strafrechts die Frage nach dem Nutzen für die Belange der Individuen stellt. Insofern besteht ein Gleichlauf mit ten, vgl. Heinrich, in: FS Roxin, S. 131 (140). Zum Desiderat einer vom Bundesverfassungsgericht am Grundgesetz zu entwickelnden Theorie des legitimen Strafens s. Scheinfeld, in: FS Roxin, S. 183 (195). 290 Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 703. 291 Kuhlen, Umweltstrafrecht, S. 704. Ähnliche Tendenz auch bei Amelung, Begriff, S. 155 (163). 292 Müssig, Rechtsgüterschutz, S. 192. Vgl. auch die Darstellung der Grenzen der personalen Rechtsgutslehre bei Yang, Konzeption, S. 106 ff. 293 Staechelin, Strafgesetzgebung, S. 79; ebenfalls vorsichtig (argumentative Verstärkung bestimmter Positionen) Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/ Neumann/ (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Vor § 1 Rn. 146. 294 So auch Hilgendorf, NK 2010, S. 125 (129); Stuckenberg, GA 158 (2011), S. 653 (659). Gegen eine strafbarkeitsbeschränkende Funktion der personalen Rechtsgutslehre auch Romano, in: FS Roxin, S. 155 (166). Ebenfalls den Rechtsgutsbegriff von der Diskussion um die Strafwürdigkeit entlasten möchte Volk, in: FS Roxin, S. 215 (224). 295 Hörnle, Verhalten, S. 22; vgl. auch Lagodny, Strafrecht, S. 3. 296 Stuckenberg, GA 158 (2011), S. 653 (658) geht so weit, den traditionellen Rechtsgutslehren eine „nachgerade verstörende Demokratieferne“ vorzuhalten.
D. Fazit: Offenheit des Rechtsgutsbegriffs87
Wertungen des Grundgesetzes, das an vielen Orten personal-individuellen Belangen besonderes und insbesondere nicht gänzlich relativierbares Gewicht zuweist. Auch unter dem Grundgesetz kann die Frage nach dem Verhältnis von individuellen und über-individuellen strafrechtlich geschützten Rechtsgütern297 jedoch nicht als geklärt angesehen werden.
D. Fazit: Offenheit des Rechtsgutsbegriffs Die Rundschau durch Philosophie, Wirtschaftswissenschaft, Zivil- und Verwaltungsrecht sowie strafrechtliche Tradition und Gegenwart legt eine nüchterne Herangehensweise an den Rechtsgutsbegriff nahe. Damit ist kein Urteil über Meriten und Aussichten von Entwürfen verbunden, die spezifische normative Ansprüche beinhalten. Der Suche nach einer begrifflichen Basis erscheinen solche Tendenzen jedoch eher abträglich.
I. Trennung von Begriff und Bewertung Es wurde deutlich, dass eine Vielzahl von Gegenständen als Gut bezeichnet werden kann und sich darin regelmäßig ein Verweis auf vorgelagerte Wertungen abbildet. Offensichtlich lässt sich in Wirtschaftswissenschaft und Philosophie mit Güterbegriffen operieren, die wenig anspruchsvolle Definitionen aufweisen und inhaltlich auf andere Gegebenheiten, namentlich das Streben bzw. die Bedürfnisbefriedigung verweisen. Auch im Bürgerlichen Recht und im Sicherheitsrecht sind die als Rechtsgut bezeichneten Inhalte vergleichsweise unbestimmt und die Frage, ob ein bestimmter Gegenstand ein Rechtsgut sein könne oder nicht, ist kein Ort wesentlicher normativer Argumentation. Im Sicherheitsrecht ist dabei der Charakter als Verweisungsbegriff deutlich ausgeprägt. Auch die dogmatisch-interpretatorische Variante des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriffs behauptet in der Behandlung von Auslegungsfragen in der Rechtsanwendung ihre zentrale Bedeutung, ohne dass dies von einer insofern vertieften Diskussion über den Begriff auch nur hintergründig begleitet würde. Die Betrachtung der strafrechtstheoretischen Ausprägung zeigt, dass die am Rechtsgutsbegriff diskutierten Fragen sich grundsätzlich auch ohne ihn formulieren lassen. Man kann den Rechtsgutsbegriff (inhaltlich) offen fassen,298 ohne damit auf Kritik von Pönalisierungsentscheidungen und prinzipielle Überlegungen zu den Grenzen des Strafrechts zu verzichten. 297 Vgl. nur Anastasopoulou, Deliktstypen, S. 29 ff.; Hefendehl, Angelpunkt, S. 119 (126 ff.); ders., Rechtsgüter, passim. 298 Vgl. Rudolphi, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar, Vor § 1 (1997) Rn. 7, der auf die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung abstellt.
88
1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
Jedenfalls für eine analytische Betrachtung erscheint es daher vorzugswürdig, beim Begriffsverständnis soweit als möglich auf normative Vorannahmen zu verzichten. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen sind es letztlich, die sich in der Vielzahl der Definitionsansätze widerspiegeln. Wenn die Suche nach Begriff und Bedeutung des Rechtsguts im Verfassungsrecht weniger eine standpunktspezifische Stellungnahme ausformen als einen distanzierten Überblick finden möchte, muss sie ihren Ausgang bei einem weiten und anspruchslosen Rechtsgutsbegriff nehmen. Nach verfassungsrechtlichen Maßstäben zu entscheidende Probleme im Zusammenhang mit dem Begriff des Rechtsguts sind der Frage nach dem Begriff selbst nachgelagert und davon grundsätzlich zu trennen.
II. Rechtsgüter als rechtlich relevante Ziele Den Güterbegriffen aus Wirtschaftswissenschaft und Philosophie ist gemein, dass sie auf ein Streben bezogen sind, das einem Subjekt zugeordnet werden kann: Das, was alle erstreben, ist das Gut nach Aristoteles; das Mittel zur Befriedigung von (in irgendeiner Form von Subjekten vertretenen) Bedürfnissen ein Gut im Sinne der Wirtschaftswissenschaften. Daran lassen sich auch die strafrechtlichen Konzepte anschließen: Rechtsgut im dogmatischen Sinne ist, was der Staat mit einer Strafvorschrift schützen will, Rechtsgut im strafrechtstheoretischen Sinne ist, was er schützen kann oder darf. Ein weiter Raum zur Kontroverse eröffnet sich erst dann, wenn man die strafrechtstheoretische Definition mit Inhalt füllen möchte und beispielsweise nach der (möglichen) Verwurzelung in individuellen Bedürfnissen sucht. Wird im rechtlichen Zusammenhang von Rechtsgütern gesprochen, so kann man demnach anspruchslos davon ausgehen, dass Rechtsgut ein rechtlich relevantes Ziel299 ist.300 Mit der Bezeichnung eines Gegenstands als Rechtsgut ist damit grundsätzlich nichts darüber ausgesagt, wer dieses Ziel verfolgt, worin sich dies manifestiert und wie das Ziel als solches begründet wird oder zu begründen ist.
299 Hier und im Folgenden gleichbedeutend gebraucht mit Zwecken. Wenn hier von letzteren gesprochen wird, ist damit ohne näheren Hinweis nicht der Staatszweck im Sinne der Staatsrechtfertigung gemeint; s. dazu Zippelius, Staatslehre, S. 146 ff. und zur in diesen Kontext gehörenden Unterscheidung zwischen Staatszweck und Staatsziel Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 73 Rn. 6 ff.; zum weitgehend synonymen Gebrauch von Zweck und Ziel beim Bundesverfassungsgericht unten 3. Teil A. Fn. 3. 300 Vgl. Wischmeyer, Zwecke, S. 214 f.: „Rechtsgut“, „Zweck“, „berechtigtes Interesse“, „Wert“ im normativen Gebrauch als „Argumentfragment“ mit der Einschränkung gleichwertig, dass „Zweck“ einen Bezug auf das Moment der Setzung herstelle.
D. Fazit: Offenheit des Rechtsgutsbegriffs89
III. Geltungsindifferenz Insbesondere ist aber auch nicht ausgesagt, ob die Ziele rechtlich anerkannt sind, also sozusagen tatsächlich verfolgt werden. Versteht man die rechtliche Relevanz im Sinne rechtlicher Anerkennung, so sind Rechtsgüter genau genommen mögliche rechtlich relevante Ziele. Das ist der Fall, weil der Rechtsgutsbegriff nicht voraussetzen soll, dass das als Rechtsgut Bezeichnete tatsächlich ein rechtlich relevantes Ziel (geworden) ist. Das ist letztlich eine andere Formulierung der Frage, ob der Begriff des Rechtsguts eine rechtliche Anerkennung voraussetzt. Dies suggerieren beispielsweise Definitionen, die von Rechtsgütern als rechtlich anerkannten Interessen sprechen. Eine solche Definition ist entweder nicht ernst gemeint oder unglücklich gewählt: Ist sie nämlich beim Wort zu nehmen, so kann sie nur in Aussagen aus der Teilnehmerperspektive des Diskurses über die Anerkennung vorkommen, nicht jedoch in Aussagen aus der Beobachterperspektive. Die Problematik hat eine Parallele beim semantischen Begriff der Norm (Norm als Bedeutung eines Normsatzes).301 Dieser kann so gefasst werden, dass er die (im Falle einer Rechtsnorm: rechtliche) Geltung voraussetzt. Das führt zu Schwierigkeiten in der korrekten Ausdrucksweise, wenn eine Kommunikation über bloß mögliche oder gerade hinsichtlich ihrer Geltung umstrittene normative Regelungsinhalte stattfinden soll. Man kann Fragen der Geltung dann nicht mehr mit dem Normbegriff diskutieren, weil Geltung erst Voraussetzung der Normqualität ist.302 Das spricht entscheidend dafür, einen geltungsindifferenten Normbegriff zu wählen. Die gleiche Erwägung der terminologischen Praktikabilität spricht dafür, den Begriff des Rechtsguts selbst nicht mit den Fragen der rechtlichen Anerkennung zu belasten. Als Rechtsgut kann damit bei einer solchen geltungsindifferenten oder „geltungsfreien“303 Verwendung auch bezeichnet werden, was erst unmittelbar rechtlich relevant werden soll. Im weiteren Sinne rechtlich relevant ist ein solcher Belang aber bereits dann, weil er nämlich in der Argumentation um rechtliche Inhalte von Bedeutung ist.
IV. Folgen für die weitere Untersuchung Hält man den Begriff des Rechtsguts in dieser Art und Weise offen, so bedeutet das nicht, dass in der Rede von Rechtsgütern völlige Beliebigkeit 301 Alexy,
hin.
302 Alexy,
Grundrechte, S. 42 f. Darauf weist auch Amelung, Begriff, S. 155 (158)
Grundrechte, S. 47. Amelung, Begriff, S. 155 (158) in ausdrücklicher Anlehnung an Alexy, Begriff, S. 44 f. 303 So
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1. Teil: Güterbegriffe und Rechtsgüterbegriff
herrschen könnte. Zwar kann man den dargelegten Überlegungen zufolge keine rechtlichen Fragen durch Subsumtion unter einen wie auch immer gearteten inhaltlichen Rechtsgutsbegriff lösen. Aussagen über Rechtsgüter, die Teil einer Begründung von Rechtsfolgen sind, müssen aber ihrerseits im Hinblick auf die rechtlichen Inhalte des betreffenden Rechtssystems begründbar sein. Im Rahmen dieser Untersuchung bedeutet dies: Eine Aussage über Rechtsgüter im Rahmen der Feststellung einer Grundrechtsverletzung steht im Kontext einer zutreffenden Begründung aus dem Verfassungsrecht des Grundgesetzes. Eine Problemstellung, die diese normativen Anforderungen an Rechtsgutsaussagen betrifft, wird im dritten Teil dieser Arbeit behandelt. Zunächst gilt es jedoch im zweiten Teil zu untersuchen, welche Bedeutung dem Begriff des Rechtsguts in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zukommt.
2. Teil
Rechtsgüter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts A. Rahmen der Analyse I. Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs als Ausgangspunkt Eine juristische Definition, was verfassungsrechtlich als Rechtsgut gelten dürfe, findet sich in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht. Nachdem der erste Teil ergeben hat, dass der Rechtsgutsbegriff in sehr unterschiedlicher Art und Weise aufgefasst und eine Vielzahl von Gegenständen als Rechtsgut gefasst werden können, nimmt die Analyse der Bedeutung des Rechtsgutsbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ihren Ausgangspunkt bei der tatsächlichen Verwendung. Die grundlegende Frage ist damit, in welchem rechtlichen Zusammenhang und in welcher Art und Weise in der verfassungsrechtlichen Argumentation Gegenstände als Rechtsgüter bezeichnet werden oder sonst von Gütern gesprochen wird. Als Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs soll entsprechend dem Ausgangspunkt bei der tatsächlichen Verwendung nur eine Verwendung des Wortes gelten, nicht die Tatsache, dass über etwas gesprochen wird, was man nach einem bestimmten oder auch nach dem oben skizzierten Rechtsgutsbegriff als Rechtsgut bezeichnen kann. Der verstehende Zugang zur inhaltlichen Ebene ist letztlich in fundierter Art und Weise nur dann möglich, wenn man zuvor die relevante Verwendung des Wortes hinreichend geklärt hat. Anschließend kann man sich der Frage zuwenden, ob es nicht andere Wörter gibt, die Gleiches bedeuten, und sich damit einer weiteren Bedeutungsklärung nähern. So soll hier die weitere Vorgehensweise sein: Zunächst wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Verwendung der Rede von „Gütern“ hin untersucht, bevor anschließend1 die Beziehung zu in ähnlichen Zusammenhängen in anscheinend ähnlicher Bedeutung erscheinenden Wörtern hergestellt wird, Wörtern also, die ebenfalls mögliche rechtlich relevante Ziele beschreiben. 1 Unten
F.
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
II. Auswahl und Einschränkung des Materials Die Darstellung greift auf die in der offiziellen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) veröffentlichten Judikate zurück2 – also die Entscheidungen der Senate. Die nach §§ 80, 81a, 93b ff. BVerfGG erfolgende Weichenstellung für die Entscheidung durch den zuständigen Senat vermag wenigstens als starkes äußeres Indiz für das verfassungsrechtliche Gewicht der Entscheidung zu dienen, ist doch eine Sachentscheidung durch eine Kammer nur bei offensichtlich begründeten Verfassungsbeschwerden ohne grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zulässig.3 Innerhalb der Entscheidungen wurden in die Betrachtung nur Verwendungen des Wortes Rechtsgut in eigenen Ausführungen des Gerichts einbezogen (gewissermaßen in den Entscheidungsgründen), nicht aber solche in Referaten von Stellungnahmen anderer Verfahrensbeteiligter, die mitunter in den Gründen wiedergegeben werden (gewissermaßen im Tatbestand). Das gebietet schon das Erkenntnisinteresse, sich der beim Bundesverfassungsgericht gepflegten Rede von Rechtsgütern im Hinblick auf das Verfassungsrecht systematisch zu nähern. Einbezogen wurden neben dem Wort Rechtsgut selbst alle mit „Gut“ gebildeten Komposita, für die man nach dem juristischen Sprachgebrauch das Wort „Rechtsgut“ einsetzen kann, ohne die Bedeutung der betreffenden Aussage zu entstellen. Dies betrifft alle Fügungen mit „Gut“ wie „Schutzgut“, „Gemeinschaftsgut“ und „Verfassungsgut“. Ohne das verbleibende dezisionäre Element zu leugnen, das dem sprachlichen Suchraster anhaftet, erschiene es doch willkürlich, von vornherein allein dem Wort „Rechtsgut“ nachzugehen. Ob sich auf der Bedeutungsebene ein spezifischer Unterschied in den jeweilig vorangestellten Wörtern erkennen lässt, kann als nachgelagerte Frage behandelt werden.4 Weil man sie nicht durch „Rechtsgut“ ersetzen kann, werden Verwendungen von „Gut“ oder seiner Komposita nicht berücksichtigt, die klar erkennbar einer nicht-rechtlichen Bedeutung zugehören, wie beispielsweise der Transport von (körperlichen) Gütern im Güterfernverkehr5 oder die Produktion von „Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs“6. Mit Blick auf die am Ende des ersten Teils vorgeschlagene Definition des Rechtsguts lässt sich zudem fest2 Bände
1–135. Graßhof, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 93c (2001) Rn. 3 zur eingeschränkten Sachentscheidungskompetenz der Kammern. 4 Zu Rechtsgütern und Gemeinschaftsgütern unten S. 112. 5 BVerfGE 6, 1. 6 BVerfGE 8, 143. 3 Vgl.
A. Rahmen der Analyse93
stellen, dass es in diesen Fällen nicht um mögliche rechtlich relevante Ziele geht. Zum nicht-rechtlichen technischen Bereich zähle ich auch die Verwendung als „Wirtschaftsgut“, die häufig in Zusammenhang mit der Erhebung von Steuern auftritt.7 Ebenso das Gut im Wort führt der (eherechtliche) Güterstand und die Gütertrennung.8 Auch sie gehören nicht zum hier interessierenden Fundstellenmaterial, genausowenig wie das „Kulturgut“.9 Bei diesen Zusammensetzungen sind zwar durchaus Gegenstände angesprochen, die rechtlicher Regelung unterliegen (wie im letzten Beispiel die der Stiftung Preussischer Kulturbesitz anvertrauten Güter). Auch hier sträubt sich jedoch die fachsprachliche Intuition dagegen, das Wort durch „Rechtsgut“ zu ersetzen. Evident ist dies beim Güterfernverkehr, der eben nicht mit „Transport von Rechtsgütern“ zutreffend beschrieben ist, gilt aber gleichermaßen in den anderen genannten Fällen. Ebenfalls nicht aufgenommen wurde der Gebrauch des Wortes „Gut“, wenn es dem Kontext nach eindeutig um nur mittelbar mit dem Verfassungsrecht zusammenhängende Fragen des Schadensersatzes für Schädigungen eines Guts geht.10 Dafür kann man sich nicht auf den juristischen Sprachgebrauch berufen, ist die Verletzung an Rechtsgütern doch Bestandteil des Tatbestands von zivilrechtlichen Schadensersatzvorschriften.11 Die Trennlinie verläuft hier zwischen einem bloß einfachrechtlichen Gebrauch und dem Fall, dass eine Bedeutung der Güter für überlagernde verfassungsrechtliche Fragen gegeben ist. Mit letzter Schärfe ist sie nicht zu ziehen. Ein weiterer Grenzbereich besteht bei der Eigentumsgarantie in Art. 14 GG. Hier ist beispielsweise nicht selten die Rede von den in den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes einbezogenen Gütern. Es besteht zwar im Vergleich zu der Frage nach dem „Schutzgut eines Grundrechts“ ein Unterschied in der Abstraktionsebene; der Gebrauch des Wortes ist in diesem Fall der Beschreibung des Inhalts einer verfassungsrechtlichen Regelung noch vergleichsweise nahe. Nicht aufgenommen wurden dagegen Stellen, an denen bloß von der Beschaffung von Gütern durch Enteignung die Rede ist.12 Außerdem nicht aufgenommen wurden Stellen, an denen „Gut“ nur mit der Abwägung zusammen erscheint. Entweder ist dort in irgendeiner Weise von der Abwägung von (Rechts-)Gütern die Rede oder wörtlich von Güter7 Z. B.
BVerfGE 13, 181 (188). BVerfGE 3, 225 (246). 9 Z. B. BVerfGE 10, 20 (36). 10 Z. B. BVerfGE 27, 326 (336). 11 Zu § 823 BGB schon oben S. 35. Zu „den gleichen Rechtsgütern“ auf verschiedenen Ebenen der Normenhierarchie unten S. 102. 12 Z. B. BVerfGE 104, 1 (10); 126, 331 (359); 134, 242 (289 Rn. 162 u. ö.). 8 Erstmals
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
abwägung.13 Diese Stellen auszuschließen, bedeutet eine nicht unerhebliche Reduzierung des Materials, die aber geboten ist. Wenn auch der Ansatz dieses Teils beim sprachlichen Befund gewählt wird, so kann auf eine Eingrenzung nach auf den Inhalt gerichteten Überlegungen nicht verzichtet werden. Schon die eben dargestellte Beschränkung auf die Verwendungen, für die man „Rechtsgut“ einsetzen könnte, ist eine solche inhaltliche Einschränkung. Diese Untersuchung interessiert sich nicht für den Vorgang der Abwägung als solchen14, sondern für das mit dem Begriff des Rechtsguts Bezeichnete. Insofern diese Gegenstände Eingang in verfassungsrechtliche Abwägungsprozesse finden, ist hier nicht dieser Prozess, sondern sind die Rechtsgüter als das gewissermaßen in diesen Vorgang eingespeiste Material zu betrachten. Daraus folgt, dass ich alle diejenigen Stellen nicht berücksichtige, an denen in der eben genannten Art lediglich von einer Abwägung von Gütern gesprochen wird, wohl dagegen solche, an denen etwas ausdrücklich als Gut bezeichnet wird, auch wenn ein inhaltlicher Bezug zu einer Abwägungsentscheidung gegeben ist.
III. Drei Hauptkonstellationen Von Rechtsgütern ist in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hauptsächlich in drei verschiedenen Kontexten die Rede: Im Zusammenhang mit dem Strafrecht, im Zusammenhang mit den Schutzobjekten von Grundrechten und im Zusammenhang mit Grundrechtseinschränkungen. Erstmalig erscheint das Rechtsgut in der KPD-Verbotsentscheidung aus dem Jahr 1956. Der erkennende Senat stellt dort eine „gewisse Spannung zwischen der Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 GG und der politischen Meinungsfreiheit, ohne Frage einem der vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie“ fest.15 Dieser Gedanke ist eingebettet in die Überlegungen zur Stellung der Vorschriften über das Parteienverbot im Gefüge des Grundgesetzes und insbesondere zur Frage, ob diese nicht wegen unauflöslichen Widerspruchs zur großen Bedeutung der politischen Meinungsfreiheit im Grundgesetz als verfassungswidrig zu betrachten seien. Das Bundesverfassungsgericht gelangt zum Ergebnis, „Art. 21 Abs. 2 GG [sei] verfassungsrechtlich unangreifbar und damit […] bindend“.16 Direkt in der Aussage über 13 Vgl. als Beispiele einerseits BVerfGE 15, 77 (79) und andererseits BVerfGE 12, 113 (125); 15, 288 (294). 14 Vgl. etwa klassisch Schlink, Abwägung, sowie aus jüngerer Zeit zur Abwägung als strukturelle Lösungsstrategie für Grundrechtskollisionen Jestaedt, in: FS Isensee, S. 253. 15 BVerfGE 5, 85 (134). 16 BVerfGE 5, 85 (137).
A. Rahmen der Analyse95
die Spannung zwischen Parteienverbot und politischer Meinungsfreiheit wird kein Bezug zwischen letzterer und einer einzelnen Vorschrift des Grund gesetzes hergestellt. Eine dem Wortlaut nach ausdrückliche Gewährleistung einer spezifisch politischen Meinungsfreiheit kennt das Grundgesetz nicht. Einige Seiten weiter setzt das Gericht jedoch diese Freiheit in Relation zu Art. 5 Abs. 1 GG,17 womit deutlich wird, dass seiner Auffassung nach die einem Parteiverbot potentiell entgegenstehende politische Meinungsfreiheit Bestandteil der in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährleisteten (allgemeinen) Freiheit der Meinungsäußerung ist. Man kann demnach rekonstruieren, dass nach der Begriffsverwendung durch das Bundesverfassungsgericht die politische Meinungsfreiheit ein Rechtsgut ist, das von einem im Grundgesetz positivierten Grundrecht gewährleistet wird. Das genannte Rechtsgut bildet eine dem hoheitlichen Handeln grundsätzlich entgegengesetzte Position, die der individuellen Freiheitsausübung vorbehalten ist. Dieses Rechtsgut „politische Meinungsfreiheit“ wird jedoch in einer den unmittelbar zu Rechtsfolgen führenden Begründungsstrang lediglich flankierenden Erwägung genannt. Die Feststellung einer „gewisse[n] Spannung“ ist keine Subsumtion unter einen konkreten Satz des Verfassungsrechts, der bestimmte Rechtsfolgen anordnet (beispielsweise die Nichtigkeit einer Vorschrift). Es handelt sich um eine Aussage auf einer vorgelagerten Begründungsstufe. In der Elfes-Entscheidung aus dem Jahre 1957, die Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit entwickelt, steht der Begriff „Rechtsgut“ im Zusammenhang mit den Ausführungen zur (fehlenden) Fundierung der Rüge, es liege eine Verletzung in Art. 5 Abs. 1 GG vor. Das Gericht stellt zunächst fest, die Meinungsfreiheit umfasse grundsätzlich die Meinungsäußerung im In- wie im Ausland. Für den zu entscheidenden Fall sei dies aber nicht von Bedeutung: „Ist jedoch das Recht zur Ausreise zum Schutze eines übergeordneten Rechtsguts – hier der Sicherheit und wesentlicher Belange des Staates – beschränkt, dann kann sich der Beschwerdeführer nicht auf Art. 5 GG berufen, nur um seine Meinung auch im Ausland kundtun zu können.“18 Die dogmatische Einordnung dieser Aussagen fällt nicht leicht, da die Begründung des Senats außerordentlich knapp ist und insbesondere nicht näher entfaltet wird, warum der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG nicht rügen könne. Es könnte sich erstens um eine Aussage zu den Grundrechtskonkurrenzen handeln, die dann bedeutete, das Verhalten „Ausreise zum Zweck der politischen Meinungsäußerung im Ausland“ sei dem Schwerpunkt nach der allgemeinen Handlungsfreiheit zuzuordnen und dagegen gerichtete staatliche Maßnahmen seien daher (ausschließlich) an
17 BVerfGE 18 BVerfGE
5, 85 (137). 6, 32 (44).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
diesem Grundrecht zu messen.19 Zweitens – und das liegt wohl am nächsten – könnte die Aussage auf der Ebene des Schutzbereichs zu verorten sein, wenn man die Modalität „Ausreise“ als nicht von der Meinungsfreiheit umfasst ansieht. Drittens könnte es sich um eine extrem verkürzte Aussage zur hinreichenden Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit aufgrund der im Sinne der Abwägungslehre20 gedeuteten Schranke der allgemeinen Gesetze handeln. Diese Einordnung muss hier nicht geleistet werden. Festzuhalten ist jedoch, dass – anders als in der KPD-Verbotsentscheidung – das Rechtsgut nicht von einer Grundrechtsbestimmung geschützt, sondern (jedenfalls in einem weiten Sinne) zur Einschränkung einer vom Grundgesetz prinzipiell gewährten grundrechtlichen Freiheit herangezogen wird. Als Rechtsgut behandelt werden die „Sicherheit und wesentliche Belange des Staates“. Die Belange des Staates sind dabei für sich betrachtet wiederum eine der inhaltlichen Ausfüllung bedürftige Formel. Konkret entstammt die Formulierung aber den Vorschriften des Passgesetzes, die es erlauben, die Ausstellung eines Passes zu versagen. Bereits in diesen Urteilen lässt sich ein erster Ansatz für eine Systematik der Verwendung des Rechtsgutsbegriff beim Bundesverfassungsgericht finden. In beiden Entscheidungen erscheint der Begriff des Rechtsguts im Zusammenhang mit grundrechtlichen Gewährleistungen: einmal mit der als politische Meinungsfreiheit akzentuierten Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, das andere Mal mit der Ausreisefreiheit (die das Bundesverfassungsgericht der allgemeinen Handlungsfreiheit zuordnet). Das Verhältnis zwischen grundrechtlicher Gewährleistung und dem als Rechtsgut bezeichneten Gegenstand ist jedoch fundamental verschieden. Im einen Fall beschreibt dieser den Inhalt einer solchen Gewährleistung, im anderen Fall handelt es sich um einen der grundrechtlichen Freiheit entgegengesetzten Belang. Rechtsgüter können einerseits Elemente des Grundrechtsschutzbereichs sein, andererseits aber Gesichtspunkte der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen oder allgemeiner: von Grundrechtseinschränkungen. Damit sind zwei der drei Hauptkonstellationen benannt, in denen das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen von Rechtsgütern spricht. 19 Zur Behandlung von Grundrechtskonkurrenzen Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 155; Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 346 ff. Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts lässt an eine normative Vorrangregel denken; dazu Spielmann, Konkurrenz, S. 166 ff. 20 s. dazu Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rn. 140. Ursprung bei Smend, in: VVDStRL 4 (1928), S. 44 (52 f.). Gegen eine solche Deutung spricht, dass das Bundesverfassungsgericht erst im ein Jahr später ergangenen Lüth-Urteil eine Auslegung der in Art. 5 Abs. 2 GG statuierten Schranke der allgemeinen Gesetze vornimmt. Es wäre also eher überraschend, wenn bereits in der Elfes-Entscheidung eine bestimmte Deutung der „allgemeinen Gesetze“ impliziert würde.
B. Rechtsgut und Strafe97
Als dritte Gruppe sind dem diejenigen Fälle hinzuzufügen, in denen das Gericht die geläufige Redeweise vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz übernimmt und den Rechtsgutsbegriff damit ähnlich gebraucht, wie es in der Strafrechtsdogmatik üblich ist. In diese Gruppe fallen von den frühen Entscheidungen je eine zu § 142 StGB21 sowie zur Untersuchungshaft22. In einem Kontext der Legitimation von Strafrechtsvorschriften, also in der strafrechtstheoretischen Variante, fällt der Begriff dagegen zunächst nicht. Bezeichnend dafür ist, dass die Rechtsausführungen im Urteil aus dem Jahre 1957 zur Strafbarkeit der männlichen Homosexualität nach § 175 StGB, der wohl für die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Strafens bedeutsamsten frühen Entscheidung, gänzlich ohne den Güterbegriff auskommen.23 Es ist nicht zu verhehlen, dass der Versuch einer Systematik des Gebrauchs des Rechtsgutsbegriffs durch das Bundesverfassungsgericht einiger Schwierigkeit ausgesetzt ist. Da Rechts-, Schutz- oder Gemeinschaftsgut als Wort nicht im Text des Grundgesetzes erscheint und häufig nicht ein unmittelbar in den rechtlichen Begründungsstrang integrierter Rechtsbegriff ist, kann man die Systematik jedenfalls nicht ohne Weiteres an eine Systematik von Rechtsnormen24 anlehnen. Die gewählte vergleichsweise grobe erste Einteilung ist so wesentlich durch die Struktur des Materials selbst vorgegeben.
B. Rechtsgut und Strafe I. Häufige Erwähnung Die Aussagen, das Strafrecht diene dem Rechtsgüterschutz oder einzelne Straftatbestände schützten Rechtsgüter, finden sich (teils nur implizit, häufig explizit) im Text zahlreicher Entscheidungen des Bundesverfassungsge21 BVerfGE
16, 191. 19, 342. 23 BVerfGE 6, 389; vgl. dazu die Kritik bei Schünemann, Rechtsgüterschutzprinzip, S. 133 (144). 24 Rechtsnorm ist hier im Sinne eines semantischen Normbegriffs gemeint, vgl. dazu Alexy, Grundrechte, S. 42–47; Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 22 IV (S. 195 f.). Ohne Problematisierung und Verwendung der Qualifizierung „semantisch“ der Sache nach ebenso Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 92. Norm ist demnach der rechtliche Inhalt, der einem Tatbestand eine Rechtsfolge zuordnet und nicht der sprachliche Ausdruck dieses Inhalts, insbesondere nicht der als autoritativer Rechtstext niedergelegte sprachliche Ausdruck. Letzteres entspricht einem häufigen Gebrauch in eher rechtspraktischem Kontext. Ist in diesem Sinne eine Gesetzesvorschrift gemeint, verwende ich dafür regelmäßig das Wort „Vorschrift“. Gelegentlich kommt es auf die exakte Unterscheidung nicht an. In diesen Fällen erlaube ich mir, mit dem Bundesverfassungsgericht von „Verfassungsnormen“ etc. zu sprechen. 22 BVerfGE
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
richts.25 Unmittelbare verfassungsrechtliche Konsequenzen werden daraus regelmäßig nicht abgeleitet. Eine ebenfalls häufig wiederkehrende Formel ist diejenige, dass es dem Gesetzgeber zugewiesen sei, über die strafrechtlich schutzwürdigen Rechtsgüter und damit über die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens zu entscheiden:26 „Der Gesetzgeber ist bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen und wie er dies gegebenenfalls tun will, grundsätzlich frei […].“ Diese Aussage entzieht die Entscheidung über das „Ob“ der Pönalisierung einer strengen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies spiegelt sich in dem Befund der generell permissiven Haltung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Strafgesetzgeber wider.27 Andererseits liegt in dem Zitat auch ein mittelbarer Verweis auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Straftatbeständen nach Art. 103 Abs. 2 GG, indem die rechtsetzende Entscheidung des Gesetzgebers gegenüber der Rechtsanwendung durch die Judikative betont wird. Gelegentlich findet sich auch die Formel vom Strafrecht als der „ultima ratio des Rechtsgüterschutzes“, aus der allerdings nur die Folge einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung gezogen wird.28 Häufig wird der Begriff des Rechtsguts zudem so gebraucht, wie es die Strafrechtsdogmatik tut, wenn er nämlich zur Behandlung strafrechtlicher Probleme oder zur Beschreibung strafrechtlicher Sachverhalte herangezogen
25 BVerfGE 19, 342 (348); 21, 378 (384); 21, 391 (403); 25, 269 (286); 29, 125 (144); 32, 40 (48); 34, 238 (249 f.); 38, 312 (321); 39, 1 (57); 54, 47 (52); 57, 250 (275); 64, 261 (271); 71, 206 (221); 73, 206 (236); 80, 315 (337 f.); 88, 203 (273); 92, 1 (13); 92, 277 (334 f.); 95, 96 (131); 96, 10 (25 f.); 96, 245 (249); 98, 265 (303); 107, 104 (119); 107, 339 (368); 110, 226 (253); 113, 154 (164); 117, 71 (109 f.); 120, 224 (239 f.); 123, 267 (408 f.); 133, 168 (199 Rn. 57); 133, 277 (339 Rn. 146); Vergeltung von Rechtsgutsverletzungen durch Kriminalstrafe in BVerfGE 128, 326 (374); geschütztes Rechtsgut als Kriterium der Schwere einer Straftat in BVerfGE 129, 208 (243 f.). 26 BVerfGE 50, 142 (162); fast gleicher Wortlaut BVerfGE 92, 1 (13); 123, 267 (408 f.); 126, 170 (197); ähnliche Formulierung bereits BVerfGE 39, 1 (46 f.); ebenfalls ähnlich 73, 206 (236 [im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG]); ebenso wieder 130, 1 (43); Formulierung ohne „Rechtsgut“ bei 90, 145 (173). 27 Vgl. Hörnle, NJW 2008, S. 2085 (2085), die darauf hinweist, dass sämtliche Verfahren, die im Kern die Überprüfung materiellen Strafrechts zum Gegenstand hatten, mit der Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschriften endeten. Zudem wurde noch keine Strafvorschrift des Strafgesetzbuches wegen eines Grundrechtsverstoßes verworfen; in den wenigen Fällen der Verwerfung nebenstrafrechtlicher Sanktionsdrohungen traf das Verdikt der Verfassungswidrigkeit stets schon die verwaltungsrechtliche Verhaltensvorschrift (dies., Verhalten, S. 22 f.). 28 BVerfGE 96, 10 (25 f.); 96, 245 (249); ähnliche Formulierung ohne „Rechtsgut“ in E 88, 203 (258).
B. Rechtsgut und Strafe99
wird.29 Während die Zuordnung der Formel vom Strafrecht als Rechtsgüterschutz nicht einfach möglich ist, ist letzteres eindeutig eine Verwendung eines strafrechtsdogmatischen Rechtsgutsbegriffs.30 So hatte sich das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1971 mit einer Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung zu befassen, der als Sachverhalt eine aus religiöser Überzeugung unterlassene medizinische Behandlung zu Grunde lag (bekannt als Gesundbeter-Entscheidung). Im Rahmen der Ausführungen zur von Art. 4 Abs. 1 GG gebotenen Auslegung des Straftatbestands der unterlassenen Hilfeleistung führt das Gericht aus: „Wer sich in einer konkreten Situation durch seine Glaubensüberzeugung zu einem Tun oder Unterlassen bestimmen läßt, kann mit den in der Gesellschaft herrschenden sittlichen Anschauungen und den auf sie begründeten Rechtspflichten in Konflikt geraten. Verwirklicht er durch dieses Verhalten nach herkömmlicher Auslegung einen Straftatbestand, so ist im Lichte des Art. 4 Abs. 1 GG zu fragen, ob unter den besonderen Umständen des Falles eine Bestrafung den Sinn staatlichen Strafens überhaupt noch erfüllen würde. Ein solcher Täter lehnt sich nicht aus mangelnder Rechtsgesinnung gegen die staatliche Rechtsordnung auf; das durch die Strafdrohung geschützte Rechtsgut will auch er wahren.“31 Diese Verwendung bleibt innerhalb des Rahmens der Auslegung und Anwendung von Strafvorschriften, wenn auch der darauf ausstrahlende Einfluss verfassungsrechtlicher Gewährleistungen verhandelt wird. Das angesprochene Verhältnis von Rechtsgut und dem auf seine Wahrung gerichteten Willen wird dadurch nicht geprägt, wohl aber die Anforderungen, die an das Handeln in der Konfliktsituation zwischen religiöser Überzeugung und gesellschaftlich verbreiteter Anschauung gestellt werden dürfen. Eine Auseinandersetzung mit dem im oben genannten Sinne strafrechtstheo retisch-kritischen Rechtsgutsbegriff findet, soweit ersichtlich, nur in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Pönalisierung des Geschwisterinzests statt.32 Dort lehnt es das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ab, besondere Schranken der Zwecke, denen die staatliche Strafgewalt diene, aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre abzuleiten. Es lehnt insbesondere jeglichen überpositiven Rechtsgutsbegriff ab, da die grundgesetzliche Ordnung die Entscheidung über die „mit Mitteln des Strafrechts zu schützenden Gü-
29 BVerfGE 16, 191 (194); 32, 98 (109); 43, 27 (33); 50, 142 (153 f., 158 f., 161); 96, 68 (98 f.); 98, 265 (312); 107, 299 (324); 109, 279 (343 f., 346); 110, 33 (75); 110, 226 (250 f.); 113, 348 (379 f.); 133, 168 (229 Rn. 109). 30 Dazu oben 1. Teil C. III. 31 BVerfGE 32, 98 (109). 32 BVerfGE 120, 224 (241 f.); vgl. Heinrich, in: FS Roxin, S. 131 (140).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
ter“ dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zuweise.33 Diese Kompetenz könne nicht durch Hinweis auf in irgendeiner Weise vorgegebene Rechtsgüter eingeengt werden. Eine strafrechtskritische Funktion misst dem Rechtsgutsbegriff dagegen das dieser Entscheidung angefügte Sondervotum des Richters Hassemer bei. In der Entscheidung zur strafrechtlichen Verfolgung des Umgangs mit kleinen Mengen von Cannabisprodukten,34 der anderen bedeutsamen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen des materiellen Strafrechts, kommt diese Ausprägung des Rechtsgutsbegriffs dagegen noch nicht vor. Das Gericht greift erkennbar die Formel vom Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts auf, wenn es erklärt, letzteres könne als Mittel des Rechtsgüterschutzes bei gegebener Eignung und Erforderlichkeit dennoch unangemessen sein.35 Damit ist jedoch nicht mehr als der anerkannte Maßstab der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne genannt. Besondere Folgen im Sinne eines für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit relevanten, materiell aufgeladenen Rechtsgutsbegriffs ergeben sich im weiteren Verlauf der Begründung der Entscheidung der Senatsmehrheit nicht. Insbesondere bildet das Bekenntnis zum Strafrecht als Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht den Ausgangspunkt einer ausdrücklichen Erörterung einer strafrechtstheoretischen Rechtsgutslehre als mögliche verfassungsrechtlich relevante Schranke der Strafgesetzgebung.
II. Geringer verfassungsrechtlicher Gehalt Man kann resümieren: In Zusammenhang mit Fragen des Strafrechts fällt das Wort „Rechtsgut“ oder „Schutzgut“ in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Im Überblick ergibt sich hierbei der Befund, dass von Rechtsgütern in den rechtlich adäquaten Zusammenhängen zwar nicht selten die Rede ist, namentlich dort, wo Inhalte des einfachen (Straf-) Rechts ausgelegt oder dargestellt werden müssen oder wenn allgemeine Aussagen über die Aufgabe des Strafrechts getätigt werden. Die verfassungsrechtliche Relevanz der betreffenden (Rechtsguts-)Aussagen ist jedoch regelmäßig eine relativ geringe, da nur mittelbar gegebene. Beispielsweise wird der Inhalt des Rechtsguts „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ als Tatbestandsmerkmal einer Verordnungsermächtigung bedeutsam, auf die sich eine Strafvorschrift als Blankett bezieht.36 Die verfassungsrechtliche Relevanz 33 BVerfGE
120, 224 (242). Vgl. oben die Fundstellen in Fn. 26. 90, 145. 35 BVerfGE 90, 145 (185); s. auch LS 2b (146). 36 BVerfGE 14, 245 (246). 34 BVerfGE
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter101
vermitteln in diesem Fall erst die Vorgaben des Grundgesetzes hinsichtlich der Bestimmtheit von Strafgesetzen. Plakativ ausgedrückt spielen die Stellen, an denen in Entscheidungsgründen in strafrechtlichem Zusammenhang von Rechtsgütern die Rede ist, im verfassungsrechtlichen Begründungszusammenhang bloße Nebenrollen.
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter Die Behandlung von grundrechtlich geschützten Gegenständen als Rechtsgüter kommt in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor. In der bereits behandelten37 Entscheidung zum KPD-Verbot erfolgt die Aussage, dass Grundrechte Rechtsgüter schützten, eher en passant: sie ist den jeweils maßgeblichen in der Entscheidung enthaltenen verfassungsrechtlichen Fragestellungen relativ fern. Es handelt sich um eine abstrakte Aussage über den Rang des betroffenen Rechtsguts politische Meinungsfreiheit innerhalb der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Konkreter werden Rechtsgüter in den Begründungszusammenhang eingestellt, wenn der Schutz von Rechtsgütern zur grundrechtlich fundierten Pflicht des Staates wird. Es geht dann um die normativen Gehalte der Grundrechte, die man dogmatisch unter dem Etikett der grundrechtlichen Schutzpflichten zusammengefasst hat.38 Die Verwendungen im Kontext von grundrechtlichen Schutzpflichten werden im Folgenden in einer gesonderten Untergruppe zusammengefasst. Dies stellt insofern eine Übernahme der etablierten grundrechtsdogmatischen Systematik dar, als man die Begründung von Schutzpflichten überwiegend als einen spezifischen Gehalt der Grundrechtsnormierungen versteht, der sich von der abwehrrechtlichen Funktion systematisch unterscheidet.39 Die Gestaltung der äußeren Systematik der Darstellung folgt auch im Übrigen den rechtlichen Strukturen, namentlich der Legalordnung des Grundgesetzes.
37 Oben
A. III. (S. 94). Offenheit der Semantik der „Schutzpflicht“ im Hinblick auf Pflichten mit nicht grundrechtlicher normativer Verankerung Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 190. Hinsichtlich der dogmatischen Begründungsansätze für grundrechtliche Schutzpflichten sei auf den rechtsvergleichend angereicherten, konzisen Überblick bei Lange, Grundrechtsbindung, S. 425–435 verwiesen. Vgl. auch Dietlein, Schutzpflichten. 39 s. nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 104: „allgemeine Grundrechtsdimension“; Hesse, Grundzüge, Rn. 350, 38 Zur
102
2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
I. Schutzpflichten: De-Relationierung Schutzpflichten werden vom Bundesverfassungsgericht häufig auf Rechtsgüter als Gegenstand bezogen,40 seitdem das Gericht Schutzpflichten als Inhalte der Grundrechtsgewährleistungen in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch anerkannt hat.41 Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet prinzipiell begrifflich zwischen Grundrechten (die auch Schutzpflichten zum Inhalt haben) und Rechtsgütern (die Objekt von Schutzpflichten sind). Das ergibt sich daraus, dass eine Verletzung des Grundrechts in seiner Schutzpflichtdimension auch schon im Vorfeld einer tatsächlichen Verletzung des Schutzguts vorliegen kann, wie es in der Mülheim-Kärlich-Entscheidung ausgesprochen wird.42 Die begriffliche Unterscheidung mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass in der Mehrzahl der Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht von einer Schutzpflicht gegenüber bestimmten Rechtsgütern spricht, die Güter des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen sind.43 Jedenfalls im Hinblick auf Leben und körperliche Unversehrtheit widerspricht es dem konventionellen Sprachgebrauch, diese Gegenstände als Rechte zu bezeichnen, wie es sich beispielsweise in der referierten Unterscheidung von Rechten und Rechtsgütern bei § 823 Abs. 1 BGB widerspiegelt.44 Das Gericht setzt voraus, dass es Rechtsgüter verschiedener Art und verschiedenen Ranges gebe.45 Dies wird nicht systematisch ausgearbeitet. Hinsichtlich des Rechtsguts „Leben“ finden sich aber in verschiedenen sich mit 40 BVerfGE 39, 1 (36, 59); 49, 24 (53); 49, 89 (142); 53, 30 (51, 58); 56, 54 (73, 81); 77, 170 (215, 224 ff.); 79, 174 (201 f.); 81, 310 (334); 88, 203 (254, 263 u. ö.); 96, 56 (64); 115, 25 (45); 115, 118 (160); 115, 320 (346); 120, 274 (319); 121, 317 (356); 125, 39 (78); 133, 59 (76 Rn. 45). 41 Schon zuvor kann man in BVerfGE 1, 97 (104) Tendenzen in Richtung von auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG gestützten Schutzpflichten sehen, vgl. Stern, DÖV 2010, S. 241 (243). 42 BVerfGE 53, 30 (51). Die Unterscheidung wird jedoch schon wieder unschärfer bei E 77, 170 (225), wenn das Gericht formuliert, es sei nicht entscheidungserheblich, ob das Restrisiko „die Schwelle eines Eingriffs in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Rechtsgüter überschreitet […]“. Hier wird die Rechtsgutsgefährdung als Eingriff nicht nur in das entsprechende Recht, sondern auch in das Rechtsgut verstanden. Eingriff kann folglich nicht mit Verletzung gleichgesetzt werden. Ebenfalls ohne Differenzierung die Formulierung in E 49, 24 (55 f.). Eine Grundrechtsverletzung durch Gefährdung wird bereits in E 49, 89 (141) als möglich erachtet. 43 Stern, in ders./Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Einl. Rn. 58: Die Schutzpflichtendimension stehe in der Praxis im Vordergrund, wenn Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG betroffen seien. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 149: „Im Zentrum der Schutzpflichten steht das Recht auf Leben“. 44 Oben 1. Teil B. II. 2. 45 BVerfGE 49, 89 (142).
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter103
Schutzpflichten auseinandersetzenden Entscheidungen Bestimmungen nach Rang und Art: Ihm wird zunächst ausdrücklich eine besonders hohe Stellung in der Rangordnung zugewiesen, wobei sich das Gericht auf unmittelbare Evidenz stützen kann.46 Die Bedeutung des Guts manifestiert sich in der Bezeichnung als „Höchstwert“, als „elementar“ und „fundamental“.47 Dennoch sei auch dieses Rechtsgut nicht „absolut“ geschützt – was sich schon am Gesetzesvorbehalt zeige, den Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthalte.48 Insoweit lässt sich aus den Nennungen im Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten keine abstrakte Rangordnung der Rechtsgüter ableiten, die sich strikt in der konkreten Vorrangentscheidung abbilden würde, und so verstanden auch kein absoluter Höchstrang des menschlichen Lebens. Nicht zu relativierende Auswirkungen auf den Inhalt der Schutzpflichten hat jedoch die Bestimmung des Lebens als höchstpersönliches Rechtsgut, die in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch erscheint.49 Mit der Qualifikation als höchstpersönliches Rechtsgut wird die Feststellung verbunden, jedes einzelne Leben sei geschützt und nicht nur das Leben als solches.50 Das Rechtsgut Leben wird dadurch als rechtlicher Gegenstand mit individueller Trägerschaft konstruiert: Dem Schutzauftrag wäre mit einem überindividuell bezogenen, individuelles Leben nur als Beitrag zur Summe behandelnden Schutz nicht genüge getan. Mit Schutzpflichten für Rechtsgüter wird ein Inhalt grundrechtlicher (Freiheits-)Gewährleistung beschrieben. Dieser steht jedoch in Spannung gerade zu anderen Freiheitsgewährleistungen, insbesondere aber zu abwehrrecht lichen Gehalten.51 Der Schutz des einen grundrechtlich gesicherten Belangs führt häufig zur Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheit bei einem anderen Grundrechtsträger.52 Aus grundrechtlichen Schutzpflichten können sich individuelle Leistungsrechte gegen den Staat ergeben; sie können aber auch bloß objektive Verpflichtungen begründen, beispielsweise zur Gestaltung gesetzlicher Regelungen in bestimmter Art und Weise anhalten, ohne dass – als we46 Vgl.
BVerfGE 39, 1 (42). 88, 203 (273, 299). 48 BVerfGE 88, 203 (253 f.). 49 BVerfGE 39, 1 (59). 50 BVerfGE 39, 1 (59); insoweit wiederholt in BVerfGE 88, 203 (252). 51 Vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 1: „gegenläufige Funktionen des Freiheitsgrundrechts“. 52 Zu den dogmatischen Implikationen der Konstellation „Schutz durch Eingriff“ mit Schwerpunkt bei den notwendigen gesetzlichen Eingriffsgrundlagen Wahl/Masing, JZ 1990, S. 553 (insb. 556 ff.). Zu den Schwierigkeiten, der grundrechtlichen Argumentation in „mehrpoligen Rechtsverhältnissen“ Di Fabio, in: FS Herzog, S. 35 (40 f.); vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (19); C. Calliess, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Grundrechte II, § 44 Rn. 18 ff. 47 BVerfGE
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
sentliche Folge der subjektiven Berechtigung – eine Leistung individuell einklagbar wäre.53 So führt die Schutzpflicht in den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch zu einer Pflicht des Gesetzgebers, ein strafrechtlich bewehrtes Verbot zu erlassen.54 Dem im dreipoligen Verhältnis geschützten Gut korrespondiert keine effektive individuelle Berechtigung. Auf das fundamentale Verhältnis Bürger–Staat heruntergebrochen, ist das Rechtsgut Leben in diesem Fall damit ein Belang, der eine Einschränkung der Handlungsfreiheit durch den Staat rechtfertigt. In die gleiche Richtung zielt die Erkenntnis, die Güter der Grundrechte würden „als Sache der Allgemeinheit, als öffentliches Interesse“ erfasst, wenn man sie von der objektiv-rechtlichen Seite der Schutzpflicht aus betrachtet.55 Die Trägerschaft der durch grundrechtliche Schutzpflichten gewährleisteten Güter weist eine grundsätzliche Ambivalenz auf, wenn man die Wirkrichtung in einem (realen oder hypothetischen) Verfahren, das zu verbindlichen Rechtswirkungen führt, als maßgeblich setzt. Der Begriff des Rechtsguts erscheint insofern in einem Kontext der Lösung aus dem gewissermaßen klassischen Grundrechtsverhältnis zwischen verpflichtetem Staat und berechtigtem Bürger.56 Die Rede von Gütern hat damit eine de-relationierende Funktion.57
II. Rechtsgüter der einzelnen Grundrechte 1. Kanonisierung: allgemeines Persönlichkeitsrecht Nur selten liest man in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit dem auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gestützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht von Gütern. Die betreffenden Entscheidungen, in denen das Recht teils abwehrrechtlich und teils in Drittwirkungskonstellationen geprüft wird, stammen aus den Jahren 1980 bis 2008. Manchmal werden „anerkannte Schutzgüter“ des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 53 Differenziert für die Schutzpflichten Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 321. Zu objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten und deren subjektiv-rechtlicher Durchsetzung Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 95; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 (2005) Rn. 28. Kritisch zur Dichotomie subjektives Recht vs. objektives Prinzip am Anwendungsfall der Schutzpflichten Isensee, a. a. O., Rn. 194. Zur staatstheoretischen und verfassungsdogmatischen Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten Dietlein, Schutzpflichten, S. 21 ff. 54 BVerfGE 39, 1 (50 f., 65 f.); 88, 203 (257 f.). 55 Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 224. 56 Vgl. Thoma, in: ders., Rechtsstaat, S. 130 (133 Fn. 4), zur grundlegenden Opposition von Privatem und Staat im Grundrecht: „Grundrechtsverbürgungen sind Stationen in dem ewig hin- und herflutenden Prozeß ‚The man versus the state‘.“ 57 Vgl. die Rede von der Gewinnung des Grundrechtsguts durch Subtraktion bzw. Abstraktion vom abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalt bei Ruffert, Vorrang, S. 169 f.
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in Kontrast zu neu zu begründenden Schutzgehalten gesetzt, wie der Schutz gegen Unterschieben tatsächlich nicht getätigter Äußerungen, die den selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen.58 Das im Volkszählungsurteil entwickelte Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird in späteren Entscheidungen als vorverlagerter Gefährdungsschutz von den besonderen Schutzgütern des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unterschieden,59 unter anderem in der Entscheidung zur so genannten Online-Durchsuchung. Dort wird die „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ zwar als neue Ausprägung der Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt,60 jedoch nicht als Schutzgut bezeichnet. Die nicht eben zahlreichen Fundstellen im Zusammenhang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht können wenigstens die Vermutung begründen, die Bezeichnung als Schutzgut signalisiere die Kanonisierung eines Schutzgehalts des Grundrechts, die eine weitere Begründung entbehrlich macht. Wenn dagegen neue Schutzgehalte erst interpretativ begründet werden müssen, werden diese nicht als Güter bezeichnet. Eine Verwendung in dem Sinne, dass das Schutzgut mit dem gesamten Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gleichgesetzt würde, findet sich nicht. 2. Weiche Hierarchisierung: Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG Von den Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 2 GG erscheint vor allem die Freiheit der Person als Rechtsgut in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Dabei sind zunächst häufig Aussagen zu finden, die den hohen Rang dieses Rechtsguts in Fügungen wie „das hohe Gut der Freiheit“61 betonen. Teilweise wird dies argumentativ auf den Wortlaut des Grundgesetzes gestützt, der von Unverletzlichkeit spricht.62 Unmittelbare rechtliche Folgen ergeben sich aus den Rangaussagen nicht, jedenfalls nicht in Gestalt einer starren Hierarchie verfassungsrechtlicher Rechtsgüter. Insbesondere gibt es keine Rechtsgüter, die im Sinne eines absoluten Nachrangs stets gegenüber den hochrangigen Gütern des Art. 2 Abs. 2 GG zurückzutreten hätten. Der hohe Rang relativiert sich stets im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprü58 BVerfGE 54, 148 (155); vgl. auch „das Recht auf Selbstbestimmung im Bereich der Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten als [anerkanntes] Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts […]“ in E 72, 155 (170) und ähnlich wieder E 88, 87 (97). 59 BVerfGE 118, 168 (184); 120, 274 (312). 60 BVerfGE 120, 274 (302 ff.). 61 BVerfGE 29, 312 (316). 62 Mit dieser Begründung BVerfGE 29, 312 (316); 90, 145 (172); weitere Hinweise auf den hohen Rang E 10, 302 (324); 22, 180 (219); 30, 47 (53); 58, 208 (224); 66, 191 (195); 105, 239 (247); 117, 71 (95).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
fung.63 Als Zeichen des hohen Rangs der persönlichen Freiheit unter den Rechtsgütern der Verfassung könnten die flankierenden formellen Gewährleistungen in Art. 104 GG betrachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht stellt diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich her.64 Für die Freiheit der Person unterscheidet das Gericht begrifflich nicht immer streng zwischen Rechtsgut und (Freiheits-)Recht, also zwischen dem Gegenstand der Berechtigung und der Berechtigung selbst.65 Das ist beispielsweise bei der Aussage der Fall, es sei „dieses Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut zu achten“, weil das Grundgesetz die Freiheit der Person als unverletzlich bezeichne.66 Solche Formulierungen sind allerdings schon im Text des Grundgesetzes angelegt, der in Art. 2 Abs. 2 S. 3 vom Eingriff in „diese Rechte“ schreibt.67 Für Leben und körperliche Unversehrtheit findet sich diese Unterscheidung zwischen Recht und Rechtsgut implizit in der Entscheidung zur Pershing-II-Stationierung, in der das Gericht eine Rechtsverletzung bei bloßer Rechtsgutsgefährdung für möglich erachtet.68 In drei Entscheidungen schließlich erscheinen die in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter als verfassungsrechtlich und einfachrechtlich geschützt. Dabei geht es jeweils um die Entschädigung für die Beeinträchtigung dieser Rechtsgüter, wenn das Bundesverfassungsgericht in einem Fall die richterrechtliche Entwicklung von Staatshaftungsansprüchen darlegt und in zwei 63 Zum prinzipiellen Gleichrang aller Grundrechtsnormen statt vieler Stern/Sachs, Staatsrecht III/2, § 82 II 2 (S. 614); vgl. auch die Ausführungen bei Schneider, Güterabwägung, S. 75 f., 77 f. (zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 bzw. 2 GG), der im Ergebnis – auf die Entscheidungen der ersten 40 Bände der Sammlung gestützt – trotz einer insgesamt größeren Betonung abstrakter Rangverhältnisse (224 ff.) feststellt: „Wie der Güterkonflikt letztlich entschieden wird, ist eine Frage der Einzelfallentscheidung nach den Gesichtspunkten des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne“ (237, Herv. entfernt). Zur prinzipiellen Gleichrangigkeit von Grundgütern in der Theorie sozialer Gerechtigkeit Somek, in: FS Winkler, S. 1051 (1075 f.). 64 In BVerfGE 10, 302 (324) besteht jedoch ein gewisser Zusammenhang zwischen der Feststellung, die Freiheit der Person sei ein hohes Gut, und der Erstreckung des Richtervorbehalts des Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG auf die in die Gestalt einer privatrechtlichen Aufenthaltsbestimmung gekleidete Freiheitsentziehung bei der Anstaltsunterbringung Entmündigter. 65 Zu dieser Unterscheidung unten S. 92. Anders die Unterscheidung von Grundrecht und Grundrechtsinteresse bei Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (122), die entlang der Grenze der Justiziabilität verläuft. 66 BVerfGE 29, 312 (316); beinahe identischer Wortlaut wieder in E 117, 71 (95). 67 Vgl. dazu Schwabe, Probleme, S. 68 f.: Fälschliche Ausweisung von Rechtsgütern als Rechte. Diese Kritik am Verfassungstext trifft aber nicht ganz, weil Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schon ausdrücklich von Rechten spricht und nicht ersichtlich ist, warum S. 3 durch die Formulierung „diese Rechte“ nicht Bezug auf S. 2 als solchen nehmen könnte, der unzweifelhaft ein Recht (der Freiheit der Person) gewährleistet. 68 BVerfGE 66, 39 (57 f.).
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Fällen die Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz durch zivilrechtliche Haftungsvorschriften anspricht.69 Auf die Frage der Identität verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Rechtsgüter wird zurückzukommen sein.70 3. Hoher Rang: Schutzgut des Art. 4 GG Im Zusammenhang mit der Gewährleistung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit erscheint der Begriff des Rechtsguts nur in der unter den Schlagworten „Aktion Rumpelkammer“ bekannten Entscheidung. Dort findet sich die ungestörte Religionsausübung als gegenüber der gewerblichen Betätigung höherwertiges Rechtsgut bezeichnet.71 Das Gericht gibt jedoch nur ein höheres Gewicht in der Abwägung vor und postuliert ebenso wenig wie bei den Gütern des Art. 2 Abs. 2 GG ein als strenge Vorrangrelation zu verstehendes Rangverhältnis. 4. Wertung: Schutzgüter des Art. 5 Abs. 1 GG Im Zusammenhang mir den Grundrechtsgewährleistungen des Art. 5 Abs. 1 GG wird der Begriff des Guts einige Male im Zusammenhang mit der Darlegung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit gebraucht. Es wird dabei jeweils ausgeführt, unrichtige Information sei kein schützenswertes Gut und das unrichtige Zitat sowie bewusst unwahre Tatsachenaussagen aus dem Schutzbereich ausgenommen.72 Unrichtige Information könne nämlich nichts zur verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung beitragen. Das Gericht argumentiert damit anhand des Telos der Gewährleistung der Meinungsfreiheit als Kommunikationsgrundrecht. In einer anderen Entscheidung wird die Äußerungsfreiheit als Schutzgut des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG genannt.73 Dies ist eine gegenüber dem Ausschluss unwahrer Tatsachenaussagen allgemeinere Aussage über den Schutzbereich, die die Freiheit, eine bestimmte Handlung auszuführen, als Gut beschreibt. In einer einzelnen Entscheidung wird das Schutzgut der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Rundfunkfreiheit als Bezugspunkt der Bestimmung der Reichweite des Grundrechtsschutzes herangezogen: Diese Reichweite soll in personeller und sachlicher Hinsicht von den dem Schutzgut – konkret: der Programmfreiheit – drohenden Gefahren abhängen.74 Damit dient die Benennung des 69 BVerfGE 61, 70 Unten
C. III. 71 BVerfGE 24, 72 BVerfGE 54, 73 BVerfGE 94, 74 BVerfGE 97,
149 (155) bzw. E 49, 304 (319 f.); 52, 131 (168 f.). 6. 236 (251 f.). 208 (219); 61, 1 (8); 90, 241 (253). 1 (9). 298 (312 f.).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Schutzguts als Grundlage einer der Sache nach teleologisch geleiteten Bestimmung der von der grundrechtlichen Gewährleistung geschützten Personen und Verhaltensweisen. 5. Kunst als kommunikationsbezogenes Schutzgut In einer einzelnen Entscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhang zwischen der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG und den Gewährleistungen des Abs. 1 dieses Artikels her, indem es feststellt, die Kunst sei wie die Schutzgüter der anderen so genannten Kommunikationsgrundrechte öffentlichkeitsbezogen.75 An der betreffenden Stelle erfolgt wieder eine teleologische Bestimmung des Schutzbereichs: Wegen des Öffentlichkeitsbezugs der Kunst sei auch die Werbung für ein Kunstwerk vom Schutzbereich umfasst. Der Kunst als grundrechtlichem Schutzgut wird damit eine mit anderen Gütern gemeinsame Eigenschaft zugeschrieben. 6. Schutzgüter des Art. 6 GG: Ehe und Familie Die von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Belange werden nur in drei Entscheidungen als Güter bezeichnet. Dabei tritt eine Entscheidung aus dem Jahr 1987 jedoch besonders hervor, weil sich in ihr soweit ersichtlich das einzige Mal in der Rechtsprechung der Senate das Wort „Grundrechtsgut“ findet. Als Grundrechtsgüter erscheinen dort Ehe und Familie, aus deren personalem Bezug und hohem Rang, der ihnen im Gefüge des Grundgesetzes zukomme, das Gericht eine gesteigerte Kontrolldichte hinsichtlich des staatlichen Schutz- und Förderungsauftrags ableitet.76 In der Entscheidung selbst wird nicht näher expliziert, worin der besondere personale Bezug von Ehe und Familie liegt. Allein die Zuweisung dieser Güter an einen bestimmten, individuellen Träger kann damit nicht gemeint sein. Diese ist unterschiedslos allen grundrechtlich geschützten Belangen eigen, wenn man sie als Gegenstände von Abwehrrechten betrachtet, die von dem einzelnen Betroffenen im Rahmen der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Gemeint wird zunächst eine gesteigerte Nähe zur Sphäre der Persönlichkeitsentfaltung sein. Ebenfalls denkbar ist, den „personalen Bezug“ so aufzufassen, dass Ehe und Familie als Rechtsgüter essentiell das Bestehen eine Relation zu weiteren Individuen (und Grundrechtsträgern) voraussetzen. Insgesamt bleibt das Argument jedoch eher dunkel. Weiterhin führt das Gericht in der früh ergangenen Entscheidung zum Ehegatten-Splitting im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 75 BVerfGE 77, 76 BVerfGE 76,
240 (251). 1 (51 f.).
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GG als wertentscheidende Grundsatznorm aus, Schutz bedeute „die Förderung des Schutzgutes, die Abwehr von Störungen oder Schädigungen und vor allem den Verzicht des Staates auf eigene störende Eingriffe“.77 Die Rede von Gütern hat hier wieder eine de-relationierende Funktion, da das Moment des Schutzes eines Schutzgutes als die verschiedenen Wirkformen des Grundrechtsschutzes übergreifend ausgedrückt wird. In einer wesentlich später ergangenen Entscheidung benennt das Gericht die eheliche Lebensgemeinschaft als Schutzgut des Art. 6 Abs. 1 GG und leitet daraus ab, auch der Bezug einer gemeinsamen Wohnung sei vom Schutz umfasst.78 Schutzgut ist hier damit ein Interpretationsergebnis des grundgesetzlichen Wortlauts „Ehe“. 7. Schutzgut und Inhalt der Vereinigungs- und Parteienfreiheit In zwei Entscheidungen wird im Kontext der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG von grundrechtlich geschützten Belangen als Gütern gesprochen. Im Mitbestimmungsurteil erscheint dabei die Aussage, das Schutzgut bestimme den Inhalt des Grundrechts79. Unmittelbar anschließend nennt das Gericht als Schutzgut die „Freiheit [des Staatsbürgers], sich mit anderen zu jedem verfassungsmäßig erlaubten Zweck zusammenzuschließen. Bedingungen dieser Freiheit, und daher von Art. 9 Abs. 1 GG umfasst, seien die Gründungs-, Beitritts- und Austrittsfreiheit sowie die Freiheit, einer Vereinigung fern zu bleiben. „Schutzgut und Inhalt des Art. 9 Abs. 1 GG“ sollen zudem Maßstab zur Beantwortung der – offen gelassenen – Frage sein, ob das Grundrecht auf größere Kapitalgesellschaften anwendbar sei.80 „Inhalt“ kann in dieser Verwendung annähernd gleichbedeutend mit „Schutzbereich“ gelesen werden, da als Inhalt die vom Grundrecht geschützten Verhaltensweisen beschrieben werden. Das Schutzgut, aus dem dieser Inhalt abgeleitet wird, ist demgegenüber abstrakter, wird allerdings vom Bundesverfassungsgericht nicht mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG gleichgesetzt, der vom „Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“ spricht. Dem Auslegungsschritt vom Schutzgut zum Inhalt liegt somit ein Schritt vom Normtext zum Schutzgut voraus. Auch über die Gründungs- und Betätigungsfreiheit politischer Parteien – als zu Art. 9 Abs. 1 spezielles Freiheitsrecht81 – spricht das Bundes77 BVerfGE 6,
55 (76). 316 (335). 79 BVerfGE 50, 290 (354). 80 BVerfGE 50, 290 (356); 124, 25 (34). 81 BVerfGE 25, 69 (78); Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 29; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 32, 99. Die Grundrechtsqualität der Betätigungsfreiheit ist nicht unumstritten. Für die Bejahung dieser hier allenfalls randständigen Frage sollte die Überlegung genügen, dass einerseits die Bedeutung der politischen Parteien in der Demokratie des Grundgesetzes einen gegenüber anderen Verei78 BVerfGE 114,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
verfassungsgericht als Gut. Die allgemeinen Strafgesetze als Schranken der Parteienbetätigung werden definiert als solche, „die sich nicht gerade gegen das in Art. 21 GG geschützte Rechtsgut als solches richten, also kein Sonderrecht gegen die Parteien enthalten.“82 Die Formulierung ist derjenigen zu den im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG allgemeinen Gesetzen sehr ähnlich, nur erscheint hier das Gut gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen.83 8. Schutzgut und Inhalt des Art. 12 GG In drei Entscheidungen zu Art. 12 GG definiert das Bundesverfassungsgericht das „Schutzgut des Art. 12 Abs. 1 GG […] bei juristischen Personen [als] die Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit, insbesondere ein Gewerbe, zu betreiben, soweit diese Erwerbstätigkeit ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann […].“84 Diese Verwendung von „Schutzgut“ unterscheidet sich von der eben bei der Vereinigungsfreiheit besprochenen insofern, als hier nicht die Betrachtung des Schutzguts eine Klärung ermöglichen soll, ob und inwieweit juristische Personen vom Schutzbereich erfasst sind, sondern der sachliche Schutzbereich für eine bestimmte Klasse von Grundrechtsberechtigten als Schutzgut bezeichnet wird. Die Einbeziehung in den persönlichen Schutzbereich steht hier nicht mehr in Frage, sondern wird vorausgesetzt. Die Aussage impliziert, dass das Schutzgut von Art. 12 Abs. 1 GG für juristische Personen sich von demjenigen für natürliche Personen unterscheidet. Die freie Wahl des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes ist für juristische Personen nicht gewährleistet, da diese einen solchen nicht haben können.85 Der Zuschnitt des Schutzguts bildet hier somit der Sache nach denjenigen Bereich der Gewährleistung ab, der dem Wesen nach gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen anwendbar ist.86 nigungen reduzierten Schutz widersinnig erscheinen lässt und sich zum anderen über das Spezialitätsverhältnis zu Art. 9 Abs. 1 GG eine subjektive Berechtigung begründen lässt (Ipsen, a. a. O., Rn. 31). 82 BVerfGE 69, 257 (268). 83 Vgl. BVerfGE 7, 198 (209 f.), dazu unten D. I. 4. In der Definition der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG erscheint das Gut auf der Seite der zur Grundrechtseinschränkung berechtigenden Belange, die Meinungsfreiheit wird hingegen ausdrücklich genannt und nicht wie hier die Parteienfreiheit als Rechtsgut in Bezug genommen. 84 BVerfGE 30, 292 (312); 50, 290 (363); 74, 129 (148 f.). 85 Vgl. Rüfner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 196 Rn. 84. 86 Dazu Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 199 Rn. 86: Berufsfreiheit nur in bestimmten Ausübungsformen anwendbar; Rüfner, a. a. O., § 196 Rn. 82; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 56. Zur wesensmäßigen Anwendbarkeit allgemein s. nur Dreier, a. a. O., Art. 19 III Rn. 35 ff.
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9. Schutzgut des Art. 13 GG: Wohnung Das Schutzgut des Art. 13 GG ist dem Bundesverfassungsgericht zufolge die „räumliche Sphäre, in der sich Privatheit entfaltet“. Die beiden Senatsentscheidungen, die sich dieser Formel bedienen, stützen auf diese Umschreibung des Schutzbereichs jeweils die Feststellung, dass er von der zur Überprüfung stehenden staatlichen Maßnahme nicht betroffen sei: Ein Räumungsurteil wegen Eigenbedarfskündigung betrifft die Privatheit nicht; der Zugriff auf ein informationstechnisches System bezieht sich nicht (notwendigerweise) auf die räumliche Sphäre.87 Im Kontext der Statistik zur akustischen Wohn raumüberwachung ist in einer anderen Entscheidung von „Personen […], die Inhaber des Schutzguts Wohnung sind“ die Rede.88 Angesprochen ist an der betreffenden Stelle die Abgrenzung der als Wohnungsinhaber von Überwachungsmaßnahmen Betroffenen zu denjenigen, die sich als Nichtinhaber in überwachten Räumen aufhalten. Die Inhaberschaft des Schutzguts bedeutet im Hinblick auf die Gewährleistung des Art. 13 GG die Erfassung im persönlichen Schutzbereich. Bei den Erwähnungen von Gütern im Zusammenhang mit der Unverletzlichkeit der Wohnung wird deutlich, dass auch das Gut Wohnung nicht als körperlicher Gegenstand verstanden werden kann. Es handelt sich zwar um einen individuell attribuierbaren Gegenstand, der einem Inhaber zuzuordnen ist. Die von der Wohnung als Sache bereitgestellte räumliche Sphäre ist jedoch nicht als solche, also schlechthin, sondern nur unter dem Aspekt geschützt, dass sie die Grundlage für die Entfaltung der Privatheit bildet. 10. Schutzgüter des Art. 14 GG: vermögenswerte Güter Der Güterbegriff wird im Kontext des Art. 14 GG zunächst häufig zusammenhängend mit der Feststellung gebraucht, dass der Vertrauensschutz für die unter den Eigentumsbegriff fallenden Güter in dieser Grundgesetzvorschrift gewährleistet sei.89 Der Sache nach geht es um die Zuordnung staatlichen Eingriffshandelns zu einem Grundrechtsschutzbereich. Der Güterbegriff 87 BVerfGE 89,
1 (12) bzw. 120, 274 (309–311). 279 (354). 89 BVerfGE 45, 142 (168); 53, 257 (309); 58, 81 (120 f.); 70, 101 (114); 75, 78 (105); 76, 220 (244 f.); 95, 64 (82). Exkursiv sei eine dazu exakt parallele Verwendung in E 131, 20 (40) hinsichtlich des Vertrauensschutzes im Bereich der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG genannt. Diese Vorschrift verbürgt auch bestimmte grundrechtsgleiche Rechte für Beamten: E 8, 1 (17, „grundrechtsähnlich“); 107, 218 (236 f.); 117, 330 (344); Badura, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 33 (2014) Rn. 53; Battis, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 33 Rn. 65; kritisch Masing, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Art. 33 Rn. 71. 88 BVerfGE 109,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
erscheint hier regelmäßig im Plural, da eine Mehrzahl rechtlich anerkannter Positionen als Eigentum im Sinne der grundrechtlichen Gewährleistung erfasst sind.90 Das Eigentum selbst definiert das Bundesverfassungsgericht mehrfach als Zuordnung eines Rechtsguts zu einem Rechtsträger.91 Ein Gut in diesem Sinne ist also ein durch individuelle Zuordnung konkretisierter Gegenstand. Mit der Definition von Inhalts- und Schrankenbestimmungen als „generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum im Sinne der Verfassung zu verstehen sind“ beschreibt es einen generell-abstrakten staatlichen Zugriff auf diese grundsätzlich konkret-individuellen Rechtsgüter.92 Andererseits stellt das Gericht 1981 fest, nicht jedes Rechtsgut müsse privatrechtlicher Herrschaft unterliegen.93 Damit bringt es zum Ausdruck, dass dem Gesetzgeber grundsätzlich die Gestaltungsmacht hinsichtlich der Kreation von Rechtsgütern zusteht, an denen private Rechte bestehen können. Andere Erwähnungen stammen aus dem weiteren Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Herausarbeitung des Schutzbereichs der Eigentums garantie. Dazu zählt die Aussage, nur der konkrete Bestand an Gütern sei geschützt, nicht dagegen Vorteile aus dem Fortbestand einer günstigen Gesetzeslage oder durch Informationshandeln beeinträchtigte Absatzmöglichkeiten.94 Die Formulierung, dass „die Beeinträchtigungen [von] Absatzmöglich keiten infolge der Listenveröffentlichung kein Schutzgut des Art. 14 Abs. 1 GG betreffen“ lässt die semantische Vielfalt des Güterbegriffs erkennen, wenn man ihr die in vergleichbarem Kontext erscheinende Formulierung gegenüberstellt, „Hoheitlich bewirkte Minderungen des Tausch- oder Marktwertes eines Eigentumsgutes berühren daher in der Regel nicht das Eigentumsgrundrecht […].“95 Während mit der Bezeichnung als Schutzgut eine Aussage über den Schutzbereich verbunden ist, liegt das „Eigentumsgut“ begrifflich jedenfalls einer abschließenden Aussage über die Inklusion in den Schutz des Eigentumsgrundrechts voraus: Es dürfte ein Verständnis zu Grunde liegen, dem zufolge ein „Eigentumsgut“ von Art. 14 Abs. 1 GG zwar grundsätzlich geschützt ist, jedoch nicht in jeglicher Hinsicht, insbesondere nicht gegen jegliche Art von Beeinträchtigung. Schließlich überrascht es nicht, dass im Zusammenhang mit Art. 14 Abs. 1 GG ökonomische Anklänge zu finden sind, da Eigentum häufig Grundlage 90 Das gilt ebenfalls für die Formulierung in BVerfGE 46, 268 (287), die den Zugriff auf Eigentum durch Enteignung betrifft. 91 BVerfGE 53, 257 (290); 58, 300 (339); 79, 29 (40). 92 BVerfGE 72, 66 (76); ähnlich 110, 1 (24). 93 BVerfGE 58, 300 (339). 94 BVerfGE 77, 370 (377) bzw. 105, 252 (277). 95 BVerfGE 105, 252 (277) bzw. 105, 12 (30).
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter113
wirtschaftlicher Tätigkeit oder jedenfalls wirtschaftlich relevanter Nachfrage ist. So werden Wohnungen in einer Entscheidung aus dem Jahr 1996 als „knappes Gut“ bezeichnet.96 Auch bei Art. 14 Abs. 1 GG findet sich an zwei Fundstellen eine implizite Unterscheidung zwischen Rechten und Gütern als potentiell vom Schutzbereich umfasste Gegenstände.97 Dies evoziert den Gedanken an die im Deliktsrecht geläufige Unterscheidung zwischen Rechten und Rechtsgütern.98 Näher dürfte jedoch liegen, dass mit „Gütern“ in diesem Zusammenhang absolute und mit „Rechten“ relative Rechte gemeint sind.99 11. Anspruch auf politisches Asyl: Rechtsgutsgefahr Auch im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte erscheint in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Wort „Rechtsgut“. Die Bedrohung von Rechtsgütern des Asylsuchenden ist dabei Voraussetzung seines Asylanspruchs aus Art. 16a Abs. 1 GG.100 Dabei soll eine prinzipielle Einschränkung dieser bedrohten und mittelbar vom Asylgrundrecht geschützten Rechtsgüter nicht statthaft sein: „[Eine] Beschränkung auf bestimmte ‚asylwürdige‘ Rechtsgüter [ist nicht] gerechtfertigt. […] Zu dem asylrechtlich geschützten Bereich der persönlichen Freiheit gehören grundsätzlich auch die Rechte auf freie Religionsausübung und ungehinderte berufliche und wirtschaftliche Betätigung […].“101 12. Zusammenfassung Grundrechtliche Gehalte werden in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen häufig als Rechts- oder Schutzgüter bezeichnet. Dies geschieht in Zusammenhang mit der Schutzpflichtendimension der Grundrechte, wenn auf das geschützte Gut abgestellt wird, aber auch in anderen dogmatischen Konstellationen. Fehlanzeige ist dabei lediglich in Bezug auf die Gleichheitsrechte des Art. 3 GG, die Rechte aus Art. 7 GG, Art. 10 GG, Art. 11 GG und 96 BVerfGE 95, 64 (85); dort erscheinen etwas weiter oben (82) auch die dem Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG unterliegenden Güter. 97 BVerfGE 77, 370 (370); 115, 97 (112). 98 Oben 1. Teil B. II. 2. 99 Namentlich legt BVerfGE 115, 97 (112) durch die Bezeichnung von zivilrechtlichen Lohnansprüchen als vermögenswerte Rechte ein solches Verständnis nahe, und es können die Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit (vgl. oben 1. Teil B. II. 2.) nicht gemeint sein. 100 Vgl. BVerfGE 54, 341 (356 f.); 80, 315 (343 f.); 81, 58 (56 f.); 83, 216 (231 f.). 101 BVerfGE 54, 341 (356 f.).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
das Petitionsrecht zu machen. Es lassen sich nicht unwesentliche Unterschiede in der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs ausmachen, jedenfalls teilweise entlang den unterschiedlichen Grundrechtsvorschriften. Im Folgenden werden die wesentlichen strukturellen Linien nachzuzeichnen sein.
III. Strukturen grundrechtlicher Rechtsgüter Die Feststellung Carl Schmitts, Grundrechte seien „ihrer Substanz nach keine Rechtsgüter“102 findet jedenfalls im Begriffsgebrauch durch das Bundesverfassungsgericht keinen Niederschlag. Die Verbindung von Grundrechten und Gütern als Gegenstand ihres Schutzes wird sprachlich am engsten im Begriff „Grundrechtsgut“ abgebildet, der sich in einer einzelnen Senatsentscheidung aus den späten 1980er Jahren findet.103 1. Rechtsgüter auf verschiedenen Ebenen der Begründung Der Rechtsgutsbegriff erscheint zur Beschreibung von Grundrechtsinhalten in verschiedenen argumentativen Schichten der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in unterschiedlicher Art und Weise. a) Unspezifischer Gebrauch Unspezifisch wird der Rechtsgutsbegriff gebraucht, wenn Rechtsgüter nur als solche genannt, nicht jedoch bestimmte Gegenstände als Rechtsgüter bezeichnet werden. Bei den untersuchten Verwendungen von Rechtsgütern als Inhalt grundrechtlicher Gewährleistung findet sich ein solcher bloß unspezifischer Gebrauch beispielsweise in der Entscheidung zum Kontaktsperregesetz, in der das Bundesverfassungsgericht es für zulässig hält, „verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter auf Kosten anderer Güter, deren Bestand ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgt ist, zu bewahren, mag es sich bei solchen Rechtsgütern um Grundrechte oder andere, verfassungsrechtlichen Schutz genießende Belange handeln.“104 Das Bundesverfassungsgericht spricht damit die grundsätzliche Abwägungsfähigkeit der Mehrzahl der ver102 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 163: Grundrechte seien vielmehr „Sphären der Freiheit“, und nicht vom Staat verliehen sondern als vorstaatlich anerkannt (Herv. im Orig.). Die Negation bezieht sich somit auf die rechtliche Schaffung und nicht auf den Status als Güter. Zum grundrechtstheoretischen Hintergrund einer liberalen Grundrechtstheorie s. nur Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1530 ff.). 103 BVerfGE 76, 1 (51 f.). s. schon oben C. II. 6. 104 BVerfGE 49, 24 (55 f.). s. schon oben C. I.
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter115
fassungsrechtlich gewährleisteten, aber auch gerade der grundrechtlich gewährleisteten Positionen an. Die zitierte Aussage gehört zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe, nicht zur Anwendung der letztlich entscheidenden Normen selbst.105 Diese Begründungsebene ist gerade in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vergleichsweise häufig anzutreffen, da es an einem engen Korsett textlich fixierter normativer Vorgaben fehlt, wie sie beispielsweise im bürgerlichen Recht in weit größerem Maße zur Lösung der tatsächlich auftretenden Problemkonstellationen zur Verfügung stehen.106 Ebenfalls nur unspezifisch von Rechtsgütern spricht das Bundesverfassungsgericht, wenn es formuliert, die sich aus einer Schutzpflicht ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen hingen „von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen“107 ab. Bei dieser Aussage108 handelt es sich um eine streng genommen gegenüber der Formulierung der verfassungsrechtlich entscheidenden Normen wiederum auf der Metaebene anzusiedelnde Feststellung. Der Satz, die Ausgestaltung einer Schutzpflicht hänge von bestimmten Faktoren ab, ist gegenüber der konkreten Formulierung der Schutzpflicht und der sich aus ihr ergebenden Anforderungen abstrakter. Gegenüber der Schutzpflichtformulierung ist wiederum die Anwendungsebene konkreter, wenn nämlich im Wege der Subsumtion zu klären ist, ob bei bestimmten Gegebenheiten eine bestimmte Handlung des zuständigen staatlichen Organs einer Schutzpflicht genügt hat oder nicht. 105 Auf einer Begründungsebene vor der konkreten Anwendung auf den zu entscheidenden Fall sind typischerweise auch die argumentativ-derivativ gewonnenen Normen anzusiedeln, die Alexy, Theorie, S. 57 ff. „zugeordnete Grundrechtsnormen“ nennt. 106 Vgl. nur das Diktum von der „lapidaren Kürze“ der Grundrechtsbestimmungen: Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 119 (ausdrücklich auf die Tatbestandsmerkmale der Freiheitsrechte bezogen); ebenso Stern, in: ders./Becker, GrundrechteKommentar, Einl. Rn. 86. Ähnlich Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1529): „Lapidarformeln und Grundsatzbestimmungen, die aus sich selbst inhaltlicher Eindeutigkeit weitgehend entbehren“; vgl. auch BVerfGE 79, 127 (143): „lapidare Sprachgestalt“. Zu den besonderen Schwierigkeiten der Auslegung von Grundrechtsbestimmungen auch Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch IX, § 191 Rn. 54; distanziert zur Auffassung von der Unbestimmtheit der Grundrechte Starck, Verfassungsauslegung, S. 22 f. Relativierend und differenzierend zur geläufigen Ansicht, die Grundgesetzbestimmungen seien allgemein durch besondere Offenheit geprägt Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 47 f. 107 BVerfGE 49, 89 (142). 108 Sie ähnelt der Aussage zum Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei Eignung und Erforderlichkeit einer grundrechtsbeschränkenden Maßnahme; vgl. z. B. BVerfGE 120, 224 (240).
116
2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
b) Spezifischer Gebrauch: subsumtionsnähere Ebene Spezifisch wird dagegen von Rechtsgütern gesprochen, wenn ein für die Entscheidung der je vorliegenden verfassungsrechtlichen Fragestellung relevanter Belang als Rechtsgut in den Argumentationszusammenhang eingestellt wird. Das ist beispielsweise der Fall, wenn das Bundesverfassungsgericht in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ausspricht, der hohe Wert des Rechtsguts Leben bilde sich darin ab, dass der Gesetzgeber zu dessen Schutz auch zum Einsatz des Strafrechts verpflichtet sei.109 Das Leben wird hier konkret als Rechtsgut benannt. Oft geschieht dies auch durch Inbezugnahme der Verfassungsbestimmungen, die den Schutz bestimmter Rechtsgüter anordnen. So formuliert das Gericht, es gebe eine „objektiv-rechtliche Pflicht des Staates […], sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen“.110 Nahezu immer wird spezifisch auf Rechtsgüter Bezug genommen, wenn solche im Zusammenhang mit Überlegungen zum Schutzbereich grundrechtlicher Gewährleistungen erscheinen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Schutz des Privatlebens vor ungewollter Exponierung als ein anerkanntes Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts genannt wird,111 die Religionsausübung als gegenüber bloß wirtschaftlichen Interessen höherwertiges Rechtsgut bezeichnet112 oder „die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet“ als Schutzgut von Art. 13 Abs. 1 GG herausgearbeitet wird.113 Die Verwendung des Wortes „Gut“ mit einer spezifischen Rechtsgutsbezeichnung steht regelmäßig in einem gegenüber der unspezifischen Verwendung auf einer konkreteren Ebene angesiedelten Argumentations- und Begründungszusammenhang. Es handelt sich häufig um Aussagen, die verfassungsrechtliche Anforderungen an staatliches Handeln auf einer mittleren Abstraktionsebene betreffen: Es ist nicht das Niveau der unmittelbar subsumtionsfähigen Konkretisierung erreicht, es handelt sich aber um die gewissermaßen unmittelbar angrenzende Schicht. In den eben genannten Beispielen buchstabiert sich das wie folgt aus: Weil der Schutz der Privatsphäre vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst ist, ist jedenfalls die Veröffentlichung erfundener Interviews, die Details aus dem Privatleben behandeln, eine Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Diese Aussage würde nun eine Subsumtion im Einzelfall ermöglichen. Weil die Religionsausübung gegenüber rein wirtschaftlichen Interessen höherwertig ist, muss sie bei der 109 BVerfGE 39,
1 (47 f.). 25 (45). 111 BVerfGE 54, 148 (155). 112 BVerfGE 24, 236 (251 f.). 113 BVerfGE 89, 1 (12). 110 BVerfGE 115,
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter117
Abwägung im Rahmen der wettbewerbsrechtlichen Generalklausel grundsätzlich Vorrang genießen. Trotz der relativen Unbestimmtheit dieser Anforderung handelt es sich wieder um eine Stufe fortgeschrittener Konkretisierung, die es möglich macht, die so formulierte Norm einer gerichtlichen Entscheidung des Einzelfalls zu Grunde zu legen. Und schließlich im dritten Beispiel: Weil die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet, Schutzgut der Unverletzlichkeit der Wohnung ist, muss man den bloßen Besitz an der Wohnung als nicht vom Schutzbereich erfasst ansehen und Art. 13 Abs. 1 GG nicht als rechtlichen Maßstab der Kündigung eines Mietverhältnisses heranziehen. Die spezifische und die unspezifische Erwähnung von Gütern kann somit verschiedenen Stufen der juristischen Begründung einer Entscheidung zugeordnet werden. Während es sich bei der spezifischen Verwendung des Güterbegriffs typischerweise um die der subsumtionsfähigen Regel114 direkt vorgelagerte Ebene handelt, findet der hier sogenannte unspezifische Gebrauch typischerweise auf einer demgegenüber noch abstrakteren Ebene statt. Dies ist kein überraschender Befund, da es nahe liegt, dass beim spezifischen Gebrauch gegenüber dem unspezifischen eine Anreicherung an rechtlichem Inhalt stattfindet – indem der als Gut rechtlich relevante Belang konkret bezeichnet wird – und somit konkretere rechtliche Anforderungen formuliert werden. Solche Anforderungen sind der Ebene näher, auf der sie sich subsumtionsfähig verdichtet haben. c) Sonderfall Eigentumsgüter Nach dem bisher Gesagten erscheint es, als ob Güter als Inhalte grundrechtlicher Gewährleistung auf der subsumtionsfähigen Ebene der Formulierung (verfassungs-)rechtlicher Anforderungen nicht vorkämen. Dies anzunehmen, würde aber die Verwendung des Begriffs des (vermögenswerten) Guts durch das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG übersehen. So formuliert das Gericht, Ansprüche und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung „tragen als vermögenswerte Güter die wesentlichen Merkmale des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums“.115 Die Eigenschaft, ein vermögenswertes Gut zu sein, ist hier unmittelbar Tatbestandsvoraussetzung für die Erfassung durch den Schutzbereich. Hier bringt eine Einstufung als im obigen Sinne spezifische oder unspezifische Verwendung keinen Ertrag im Hinblick auf eine Korrelation mit den Begründungsebenen. Dies zeigt sich, wenn man Passagen betrachtet wie diejenige, die das Eigentum als „Zuord114 Zum Subsumtionsschluss als Ziel der juristischen Begründung vgl. Röhl/Röhl, Rechtslehre § 18 I 2 (S. 152 f.). 115 BVerfGE 53, 257 (290).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
nung eines Rechtsguts zu einem Rechtsträger“ definiert.116 Für sich gesehen handelt es sich um eine Stellungnahme, die zwar von Gütern spricht, aber keinen Gegenstand konkret als Gut bezeichnet. Nach dem oben Festgestellten wäre damit typischerweise verbunden, dass die betreffende Aussage eine solche ist, die zwei Ebenen über der subsumtionsfähigen Formulierung von Normen des Verfassungsrechts angesiedelt ist. Nach dem Kontext ist das im Beispiel insofern der Fall, als das Bundesverfassungsgericht dort Ausführungen zu den verschiedenen Arten eigentumsrelevanter Gesetzgebung macht und zu den Inhalts- und Schrankenbestimmungen darauf hinweist, Eigentum als Zuordnung eines Rechtsguts zu einem Rechtsträger bedürfe der gesetzlichen Ausformung. Spezifisch ist die Inbezugnahme von Rechtsgütern jedoch im Hinblick auf deren rechtliche Verwurzelung. In den Fällen, die eben als unspezifischer Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs identifiziert wurden, ist unbestimmt, auf welche rechtliche Grundlage (im Grundgesetz) sich das als Gut Bezeichnete stützen kann; die rechtliche Radizierung des Guts als eines Elements der verfassungsrechtlichen Argumentation wird gewissermaßen als Leerstelle offen gelassen und damit abstrakt behandelt. Sie ist bei der Behandlung von unter den Eigentumsbegriff fallenden Gütern aber eindeutig bestimmt. 2. Schutzgut und grundrechtlicher Schutzbereich Wenn Rechtsgüter Inhalte von Grundrechten beschreiben, so muss ein bestimmtes Verhältnis zwischen diesen Rechtsgütern und den im Grundgesetz enthaltenen geschriebenen Grundrechtsvorschriften bestehen. a) Grundrecht und Grundrechtsgut In diesen Kontext gehört zunächst der begriffliche Zusammenhang zwischen Grundrecht und dem von einem Grundrecht geschützten Rechtsgut oder den geschützten Rechtsgütern. Die Begriffe Grundrecht und Rechtsgut werden jedenfalls dort teilweise verschieden gebraucht, wo eine mögliche Grundrechtsverletzung durch Rechtsgutsgefährdung zu verhandeln ist.117 Das begriffliche Argument, Gefährdungen bezögen sich nicht auf Rechte, sondern auf Güter, hatte bereits Birnbaum gegen die Feuerbachsche Konzeption der Straftat als Rechtsverletzung vorgebracht.118 Eine strenge Unterscheidung 116 BVerfGE 58, 117 s. oben
300 (330). C. I. für die Schutzpflichtdimension und C. II. 2. für die Freiheit der
Person. 118 s. dazu oben 1. Teil C. I. 1. b) mit Fn. 86.
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter119
wird im Übrigen in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht durchgehalten.119 Wenn ein „Freiheitsrecht“ dabei implizit als „Rechtsgut“ bezeichnet wird, dürfte dies sich mit der sogleich noch zu behandelnden institutionellen Seite des Rechtsgutsbegriffs erklären lassen. Aus einer auf die Einschränkung von Grundrechten gerichteten Perspektive ist argumentiert worden, Grundrecht und Grundrechtsgut seien notwendigerweise zu trennen: Grundrechte als „subjektive Nichtstörungsrechte“ könnten nicht Objekt einer Einschränkung sein, da sie gerade keinen Anspruch des Grundrechtsträgers verbürgen, soweit der Staat eingreifen darf.120 Diesem Argument liegt eine Vorstellung zu Grunde, die nur den definitiven Abwehranspruch als Grundrecht, als Inhalt von Grundrechtsvorschriften anerkennt.121 Nimmt man jedoch an, dass es nicht nur definitive Positionen als Konsequenz rechtlicher Regeln, sondern auch eine Ebene der aus Prinzipien erwachsenden Prima-facie-Positionen gibt, bereitet es keine Schwierigkeiten, von einer Einschränkung solcher Prima-facie-Rechte zu sprechen.122 Dies ändert nichts daran, dass es der Klarheit dient, Grundrechte und die von ihnen anerkannten und geschützten Rechtsgüter zu unterscheiden.123 Wird vom geschützten Rechtsgut oder Schutzgut gesprochen, so bedeutet dies, dass von Schutzrichtung und -modalitäten abgesehen wird,124 es ist also insbesondere nicht gesagt, wer von wem aufgrund der Grundrechtsvorschrift ein bestimmtes Verhalten verlangen kann.125
119 Vgl.
oben C. II. 2. Probleme, S. 71 f.; Brinkmann, Rechtsphilosophie, S. 150 f.; mit ähnlicher Tendenz Ipsen, JZ 1997, S. 473 (475). 121 Dies dürfte sich bei Ipsen, JZ 1997, S. 473 (473) in folgender Formulierung über Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte widerspiegeln: „Der Begriff des ‚Rechts‘ bezeichnet wie beim objektiven Recht die strikte Verbindlichkeit und schließt aus, daß Grundrechte zu Zielbestimmungen oder Programmsätzen denaturiert werden“ (Herv. im Orig.). 122 Alexy, Theorie, S. 253. 123 Amelung, Einwilligung, S. 13 f.; Ipsen, JZ 1997, S. 473 (475 f.); Ipsen, in: FS Stern, S. 369 (373); Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 77 ff.; Ruffert, Vorrang, S. 168 f.; Schwabe, Probleme, S. 68 ff.; Wehr, in: GS Blumenwitz, S. 73 (78 f.). 124 Ruffert, Vorrang, S. 169; vgl. oben S. 78 ff. zur De-Relationierung. 125 Vgl. Nawiasky, Rechtslehre, S. 154 ff.: Gut als Belang, dem eine Verhaltenspflicht dient, ohne notwendigerweise mit einer subjektiven Berechtigung verbunden zu sein. Ähnlich Jellinek, Recht, S. 45: „Gut oder Interesse“ als materiales Element des subjektiven Rechts im Gegensatz zum formalen Element Willensmacht. Sauer, Methodenlehre, S. 444 ff.: Rechtsgut als dritte Abstraktionsstufe der juristischen Dogmatik über subjektivem Recht (1. Stufe) und Rechtsinstitut (2. Stufe). 120 Schwabe,
120
2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
b) Gesamt- und Teilschutzgut Das Schutzgut erscheint manchmal als einheitliches Schutzgut für das gesamte Grundrecht, in anderen Fällen bezeichnet es nur besondere Schutzbereichsausprägungen. Betrachtet man insoweit den Sprachgebrauch des Bundesverfassungsgerichts, so lässt sich zunächst sagen, dass in einer ganzen Reihe von Fällen vom Schutzgut eines Grundrechts nahezu gleichbedeutend mit dem Schutzbereich eines Grundrechts die Rede ist. Synonym mit dem für eine bestimmte Klasse von Grundrechtsträgern spezifizierten sachlichen Schutzbereich einer Grundrechtsbestimmung gebraucht das Bundesverfassungsgericht das Schutzgut des Art. 12 GG für juristische Personen als Grundrechtsberechtigte.126 Auch bei Leben, körperlicher Unversehrtheit und Freiheit der Person gibt es jeweils ein bestimmtes Schutzgut, das auf jeweils einen bestimmten Vorschriftentext gestützt werden kann. Gleiches gilt für das Schutzgut Wohnung.127 Bei der Rundfunkfreiheit soll durch das Schutzgut „Programmfreiheit“ ebenfalls nicht ein Teilaspekt, sondern der „Kern“ beschrieben werden.128 Als umfassendes Schutzgut des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG wird die „Äußerungsfreiheit“ erwähnt.129 Auch im Zusammenhang mit anderen Vorschriften ist ein Nebeneinander verschiedener Schutzgüter in den Entscheidungen nicht festzustellen. Zur Bezeichnung verschiedener Varianten des Schutzbereichs dient die Rede von Schutzgütern dagegen beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wenn beispielsweise die Selbstbestimmung über die Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten als Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts genannt wird.130 Der Unterschied zwischen den beiden Arten der Verwendung betrifft dabei nicht den als Gut bezeichneten Gegenstand, sondern die Beziehung dieses Gegenstandes zum Normtext der Verfassung. In beiden Fällen handelt es sich um die Beschreibung von Elementen des Schutzbereichs, wobei im ersten Fall ein größerer Teil desselben erfasst wird, im zweiten Fall ein kleinerer. Diese Unterschiede sind durch die Struktur der normativen Gehalte der Grundrechtsbestimmungen vorgegeben. So ist das von Art. 12 GG gewährleistete spezielle Freiheitsrecht nach überwiegender Auffassung ein einheitliches Grundrecht.131 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist seinerseits schon eine Gewährleistung, die sich als Element der im 126 BVerfGE 30,
292 (312), s. oben C. II. 8. oben C. II. 9. 128 BVerfGE 97, 298 (310); vgl. oben C. II. 4. 129 Vgl. ebenfalls oben C. II. 4. 130 BVerfGE 72, 155 (170). 131 Vgl. BVerfGE 7, 377 (400 ff.) und dazu statt vieler Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 (2006) Rn. 25. 127 Vgl.
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter121
Vergleich zu anderen Freiheitsrechten überaus offenen Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 GG konkretisierend ausgeprägt hat.132 Die Rede von verschiedenen Schutzgütern im Plural deckt sich mit dem verfassungsrechtlichen Befund, dass das Bundesverfassungsgericht eine abschließende Definition des Schutzbereichs nicht unternommen hat.133 Im Gegenteil: Es hat die Offenheit des Schutzbereichs mehrfach betont134 und durch die Entwicklung neuer verfestigter Gewährleistungsgehalte – neuer Schutzgüter wie der informationellen Selbstbestimmung oder der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme – selbst eingelöst.135 Strukturell nicht unähnlich ist der Zusammenhang zwischen Grundgesetz und Grundrechtsgütern bei den von der Eigentumsgarantie geschützten Rechtsgütern. Hier suggeriert zwar der Text des Art. 14 Abs. 1 GG mit dem einheitlichen Begriff des Eigentums, dass man auch von einem einheitlichen Schutzbereich sprechen müsse. Jedoch sollte bedacht werden, dass die abstrakte Definition des Eigentums im Bereich des Privatrechts als „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf“136 nur das Privatrecht und somit eben nur einen Sektor des Schutzbereichs abdeckt. Es spricht zudem begrifflich nichts dagegen, den Schutz der einzelnen Eigentumspositionen jeweils als besondere – freilich im Wesentlichen durch das einfache Recht geschaffene137 – Ausprägungen des Schutzbereichs anzusehen. Etwas anders ist die Verwendung im Zusammenhang mit dem staatlichen Informationshandeln, das „kein Schutzgut des Art. 14 Abs. 1 GG betreffen“ soll,138 wenn nur der Tausch- oder Marktwert beeinflusst werde. Hier ist nicht die Frage betroffen, welche Gegenstände in den Schutzbereich fallen, sondern es wird eine generalisierte Aussage zur den Schutzbereich beschränkenden Schutzrichtung gemacht. Der erstgenannten Verwendung im Zusammenhang mit der Eigentums garantie wohl am ähnlichsten ist diejenige beim Asylgrundrecht: Nicht der Asylanspruch oder „das Asyl“ wird hier als Rechtsgut bezeichnet, sondern 132 Dazu Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 (2001) Rn. 19; vgl. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 I Rn. 69: „Produkt richterlicher Rechtsfortbildung“. 133 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 (2001) Rn. 147; Kube, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch VII, 3. Aufl., § 148 Rn. 37. 134 BVerfGE 54, 148 (153 f.); 72, 155 (170); 79, 256 (268). 135 BVerfGE 65, 1 bzw. 120, 274. 136 BVerfGE 83, 201 (Ls. 1, 208). 137 s. nur Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rn. 48: „Der Schutzbereich der Eigentumsgewährleistung wird durch die Gesetze bestimmt“; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 (2010) Rn. 35 ff. 138 BVerfGE 105, 252 (277).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
die Rechtsgüter des Asylsuchenden, deren Gefährdung Grundlage seiner Flucht ist.139 Ein negatives Vorzeichen trägt schließlich die Relation zwischen dem Schutzbereich der freien Meinungsäußerung und der unrichtigen Informa tion,140 die „kein schützenswertes Gut“ ist, also gerade kein Schutzgut, sondern sozusagen ein Nichtschutzgut. Im Ergebnis dürfte es sowohl dem Begriffsgebrauch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechen als auch die grundrechtlichen Strukturen adäquat abbilden, wenn man den Schutzbereich als die „Summe der Schutzgüter“ bezeichnet.141 Dies bedeutet, auch den Grenzfall, in dem sich ein einheitliches Schutzgut formulieren lässt, unter den Begriff „Summe“ zu fassen. c) Schutzbereich und Inhalt als Schutzgutskonkretisierung Der Schutzgutbegriff wird in einigen Fällen im Zusammenhang mit der den Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung konkretisierenden Auslegung gebraucht. Allgemein wird dies mit der Feststellung zur Vereinigungsfreiheit zum Ausdruck gebracht, das Schutzgut bestimme den Inhalt des Grundrechts.142 Ähnliche Formulierungen finden sich bei der Rundfunkfreiheit, der Ehe und der Wohnung.143 In allen Fällen erfolgt zunächst die Bestimmung des Schutzguts, bevor aus diesem Schlüsse auf den Gewährleistungsinhalt gezogen werden. Dieses Schutzgut stellt dabei jeweils schon eine Interpretation des Verfassungstextes dar; es wird nicht schlicht wiedergegeben: Weder die „Programmfreiheit“, noch die „eheliche Lebensgemeinschaft“ oder die „räumliche Sphäre, in der sich Privatheit entfaltet“, noch schließlich die „Freiheit […], sich mit anderen zu jedem verfassungsmäßig erlaubten Zweck zusammenzuschließen“ wird im Grundgesetz wörtlich erwähnt. Das anschließend vom Schutzgut aus zu begründende Ergebnis ist jeweils eine Bestimmung des Schutzbereichs, des konkret geschützten Verhaltens in sachlicher (z. B. der Bezug einer gemeinsamen Ehewohnung) oder persönlicher Hinsicht (Schutz der Vereinigungsfreiheit für größere Kapitalgesellschaften). Unter dieses regelförmige Ergebnis kann zum Zwecke der Prüfung des grundrecht139 Oben
C. II. 11. C. II. 4. 141 Borowski, Grundrechte, S. 236. Dort als „Schutzbereich im engeren Sinne“ gefasst, der nur das „was“ und nicht das klassischerweise unter dem Eingriffsbegriff verhandelte „wogegen“ des Schutzes aussagt. Dies ist nicht zu verwechseln mit einem „weiten“ oder „engen“ Schutzbereich (ebd., Fn. 32). 142 BVerfGE 50, 290 (354), oben C. II. 7. 143 Oben C. II. 4. bzw. C. II. 6. bzw. C. II. 9. 140 Oben
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter123
lichen Schutzes subsumiert werden, wogegen im Schutzgut ein Prinzip zum Ausdruck kommt.144 In gewisser Art und Weise entspricht diese teleologische Vorgehensweise der Rechtsgutsermittlung in der Strafrechtsdogmatik,145 wenn auch die Struktur der jeweils zugrunde liegenden Vorschriften erheblich verschieden ist. Dieser Unterschied hat zur Folge, dass der Abstraktionsschritt von den Grundrechtsvorschriften zum Schutzgut erheblich kürzer ist. Die rechtsgutsorientierte Auslegung im Strafrecht greift zur Ermittlung des Rechtsguts hinter den eine Sanktion an ein Verhalten knüpfenden Tatbestand zurück. Die Grundrechtsbestimmungen können dagegen strukturell selbst schon als Unterschutzstellung eines Gutes aufgefasst werden. Typischerweise größer ist hier jedoch die geforderte Konkretisierungsleistung: Ziel der Auslegung ist es, überhaupt zu einer Beschreibung geschützter Verhaltensweisen oder Zustände zu gelangen, wogegen eine rechtsgutsorientierte Auslegung im Strafrecht regelmäßig einen ein bestimmtes Verhalten formulierenden Tatbestand vorfindet, dessen Reichweite ermittelt werden muss. Die Bezugnahme auf die als „kein schützenswertes Gut“ bezeichnete unrichtige Information im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit ist ebenfalls Bestandteil einer teleologischen Erwägung im Rahmen der Bestimmung des Schutzbereichs. Das Bundesverfassungsgericht fügt hier jedoch einen weiteren Abstraktionsschritt ein, der im eben genannten Sinne hinter die in der Grundrechtsvorschrift mit der Gewährleistung selbst zum Ausdruck gekommene Zwecksetzung zurückgreift. Den Unwert unrichtiger Information begründet es damit, dass diese zur verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen könne. Damit wird der Grundrechtsbestimmung ein Zweck unterlegt, der ihren Schutzbereich einschränkt.146 3. Institutionell-kollektive Seite der Rechtsgüter An der Verwendung des Rechtsgutsbegriffs im grundrechtlichen Kontext zeigt sich zunächst die Mehrdeutigkeit des Rechtsgutsbegriffs dahingehend, dass auch individuelle Rechtsgüter stets einen institutionellen und damit überindividuellen Aspekt haben. Die Aussage, etwas sei ein Gut, provoziert die Frage, für wen es ein Gut sei: „Gut“ ist, wie „Interesse“ und „Zweck“ 144 Vgl. zum Schutzgut als „Prinzip“ und zum Schutzbereich als „Regel“ Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 57 in terminologischer Anlehnung an Alexy, Theorie, S. 71 ff. 145 s. oben 1. Teil C. III. 1. 146 Vgl. zur Schutzbereichsausnahme für unwahre Tatsachenaussagen SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rn. 64 f. (ablehnend) und Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 28 (grds. zustimmend).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
auch, ein relationaler Begriff, der eine Beziehung ausdrückt.147 Es kann mit der Frage nach dem Subjekt, oder, wie es gebräuchlicher ist, nach dem Träger eines Guts Verschiedenes gemeint sein. So kann sie auf den über den Status als Gut Entscheidenden abzielen oder aber den meinen, dem die als Gut bezeichneten – nach einem wie auch immer gearteten Maßstab zu bestimmenden – Vorteile zukommen. Häufig mag beides zusammenfallen, notwendig ist dies aber nicht. Im grundrechtlichen Kontext ist meist die letztgenannte Bedeutung gemeint. Die Grundrechte des Grundgesetzes sind im Ausgangspunkt Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat.148 Das verwirklicht sich gewissermaßen in Reinform in der Dimension als Abwehrrecht, der „traditionell am stärksten betonten Wirkweise“.149 Der Grundrechtsträger hat einen Anspruch auf Unterlassung150 einer staatlichen Handlung, wenn und soweit sie in den grundrechtlich verbürgten Freiheitsbereich eingreift, ohne hinreichend verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein. Im Grundrechtsschutzsystem des Grundgesetzes kann der Betroffene dieses Recht im Wege der Verfassungsbeschwerde auch prozessual zur verbindlichen Durchsetzung bringen. a) Allgemeinheit und Singularität auf begrifflicher Ebene Jedoch ergibt sich ein gewisser genereller, nicht-individueller Aspekt daraus, dass Güter als Allgemeinbegriffe151 formuliert werden. Diese basale Tatsache überträgt sich zunächst auf rein begrifflicher Ebene notwendigerweise auf die rechtliche Rezeption: Wenn von der persönlichen Freiheit des einen und der persönlichen Freiheit eines anderen die Rede ist, wird damit 147 Wimmer,
(246).
Art. „Güterethik“, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie III, S. 246
148 Vgl. BVerfGE 50, 290 (337): „Nach ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind sie in erster Linie individuelle Rechte, Menschenrechte und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben“; vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 164 f., der den Begriff des Grundrechts im eigentlichen Sinne gerade auf diese „Rechte des freien Einzelmenschen“ (Herv. entfernt) beschränkt. 149 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 82. Dies bedeutet nicht historische Vorzeitigkeit der abwehrrechtlichen Dimension, Rn. 85. Dazu auch ders., Dimensionen, S. 27 ff.; Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 11 ff., 17 ff. 150 Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 84, 101; Schwabe, Probleme, S. 19 ff.; Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 ff.; Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch IX, § 191 Rn. 53. 151 Zum Begriff der Allgemeinheit vgl. etwa Nortmann, in: Kolmer/Wildfeuer (Hrsg.), Grundbegriffe, Art. „Allgemeinheit“, S. 75 ff. Hier genügt ein völlig anspruchsloser Begriff der Allgemeinheit als Gegenteil der singulären Gegebenheit.
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter125
(auch) ausgesagt, dass es neben dem jeweiligen individuellen Bezug etwas nicht Individuelles, etwas Allgemeines gibt, das in beiden Gegenständen enthalten ist. Dabei kann als Rechtsgut erstens die Singularität als solche bezeichnet werden, beispielsweise „die persönliche Freiheit der Frau X“. Zweitens kann die Singularität in ihrer Allgemeinheit gemeint sein, beispielsweise „die persönliche Freiheit jedes Einzelnen“. Und schließlich kann der allgemeine Gehalt als solcher gemeint sein, beispielsweise die „persönliche Freiheit allgemein“. Die zwei letztgenannten Verwendungen weisen gegenüber der singulären Verwendung einen abgestuften Grad der Allgemeinheit auf. Nur die letztere Verwendung soll im Folgenden als die begrifflich allgemeine verstanden werden. b) Formales Verständnis der Institutionalisierung Von dieser begrifflichen Grundlage ist ein damit nicht notwendigerweise verbundenes Moment der normativen Begründung und Bedingung zu trennen. Versteht man das Interesse formal, so sind auch individuelle Güter in einem rechtlichen Zusammenhang von einem (auch) überindividuellen Inte resse getragen.152 Das solchermaßen verstandene Interesse liefert keine Begründung für die rechtliche Anerkennung der Institutionalisierung, sondern erschöpft sich in dieser und spiegelt die Allgemeinheit des Interesses wider. In diesem Sinne sind auch die grundrechtlichen Rechtsgüter auf das in den Formen des Rechts anerkannte Gemeinwohl bezogen.153 Ein inhaltlicher Zusammenhang individueller Berechtigung mit überindividuellen Belangen tritt im positiven Recht ausdrücklich zu Tage, wenn individuelle Berechtigungen oder die individuelle Rechtsdurchsetzung wegen des 152 Jellinek, System, S. 53. Vgl. auch Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 31 V (S. 271): Als Rechtsgut erscheine die institutionelle Seite der Rechte an Individualgütern. S. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 110 zur historischen Kontroverse über die Trägerschaft der strafrechtlichen Rechtsgüter. 153 Vgl. zu Grundrechten als Quelle von Staatszielen s. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 73 Rn. 40. Dort sind zunächst die Situationen gemeint, in denen es staatlicher Tätigkeit zur Realisierung grundrechtlicher Inhalte Bedarf. Aber auch als negatorische Freiheitsrechte schaffen Grundrechte einen Raum zur Gemeinwohlverwirklichung (a. a. O., § 71 Rn. 114 ff.). Es erscheint daher gerechtfertigt, auch die Wahrung der abwehrrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen im weiteren Sinne als Ziel des Staates zu bezeichnen. Zum hier nicht weiter zu thematisierenden Unterschied von Staatszielen und konkreteren, auf Tätigkeitsbereiche bezogenen Staatsaufgaben a. a. O., § 73 Rn. 16. Hinsichtlich des Gemeinwohlbezugs differenziert Anderheiden, Gemeinwohl, S. 68 ff., zwischen „interaktiven“ und „autarken“ Grundrechten. Kritisch zum Verständnis von (meist konservativen) grundrechtlichen Schutzpflichten als (meist dynamische) Staatszielbestimmungen Hahn, Staatszielbestimmungen, S. 70.
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Widerspruchs zu Wertungen der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Invalidierung vertraglicher Verbindlichkeiten wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB oder beim Vorbehalt des ordre public bei Anwendung ausländischen Rechts bzw. der Vollstreckung ausländischer Entscheidungen.154 Über den begrifflichen Zusammenhang und Fälle der ausdrücklichen positivrechtlichen Bezugnahme hinaus ist es durchaus möglich, einen Zusammenhang der normativen Begründung zu behaupten. Die Aussage, das Recht erkenne nur solche Belange an und unterstelle sie seinem Schutz, an denen ein über das Individuum, das einzelne Rechtssubjekt hinausgehendes Interesse bestehe, impliziert dann eine Begründung dahingehend, dass die rechtliche Anerkennung mit einem sich in dieser nicht erschöpfenden Interesse oder Ziel des Gemeinwesens in Zusammenhang steht. Eine solche Tendenz wird wohl auf strafrechtlichem Feld in der Rechtsgutslehre Bindings155 auszumachen sein. Sie liegt auch der Betonung einer „sozialen Funktion“ der Grundrechte zu Grunde.156 Die theoretische Begründung des Werts für den Staat führt in das weite Feld der von Staatstheorie und -philosophie gesuchten Begründungen der staatlichen Gemeinschaft, das hier nicht zu bearbeiten ist.157 Ebenfalls über die begriffliche Allgemeinheit hinaus geht das so genannte institutionelle Grundrechtsverständnis. Dieses fasst Grundrechte als „verfassungsrechtliche Gewährleistung freiheitlich geordneter und ausgestalteter Lebensbereiche“158 auf. Die (einfache) Gesetzgebung als ordnende Kraft gewinnt dadurch an Bedeutung für die Realisierung der grundrechtlichen Gewährleistung. Die Regelung im grundrechtlichen Schutzbereich stellt sich aus dieser Perspektive in erster Linie nicht als der grundrechtlichen Freiheit entgegenstehend dar, sondern sie ist Voraussetzung ihrer Entfaltung.159 Schließlich kennt die Grundrechtsdogmatik Instituts- und institutionelle Garantien als Inhalt von Grundrechtsbestimmungen.160 Mit diesen wird ein 154 Art. 6 EGBGB zum kollisionsrechtlichen und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO zum vollstreckungsrechtlichen ordre public. 155 Vgl. oben 1. Teil C. I. 2. a). 156 Vgl. etwa Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 8 ff. 157 Überblick zur Staatsrechtfertigung bei Zippelius, Staatslehre, § 17 (S. 128 ff.). 158 Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 70; schon ähnlich Hamel, Bedeutung, S. 18 ff.; zur Kritik s. nur Schwabe, Probleme, S. 133 ff. 159 Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1532); vgl. Hamel, Bedeutung, S. 45; Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 126 ff. und dazu Steinbeiß-Winkelmann, Freiheit, S. 359 ff. 160 Vgl. dazu nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 107; Mager, Einrichtungsgarantien, S. 173 ff., 328 ff.; zur Entwicklung der Lehre unter der Weimarer Verfassung Huber, Verfassungsgeschichte VI, S. 94 ff., 101 ff.; kritisch zur Fortfüh-
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter127
spezifischer Gewährleistungsgehalt beschrieben, dessen Voraussetzung zwar die begriffliche Allgemeinheit ist, der aber nicht notwendig aus ihr folgt, sondern weiterer rechtlicher Begründung bedarf. Im Gegensatz zu solchen inhaltlichen Konzeptionen soll hier der allein formal verstandene institutionelle Aspekt der grundrechtlichen Rechtsgüter als begrifflich institutioneller Aspekt bezeichnet werden. c) Prozessuale und mediale Abbildung Der begrifflich institutionelle Aspekt ist Voraussetzung für die überindividuelle Seite grundrechtlich geschützter Rechtsgüter, die sich in den rechtlichen Strukturen darin abbildet, dass die solchermaßen individualgrundrechtlich geschützten Belange prozessual nicht nur als Individual-, sondern auch als Allgemeininteresse geltend gemacht werden können. Dies liegt im Wesen der nicht dem individuellen Rechtsschutz dienenden161 Normenkontrollverfahren. Eine solche Konstellation liegt jeweils in den materiell auf die Schutzpflichtdimension gestützten Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch vor.162 Gleiches gilt schon aus systematischem Grunde in vielen Fällen für die Schutzpflichtdimension der Grundrechte, namentlich wenn der insofern von Verfassung wegen gebotene Rechtsgüterschutz durch den Staat durch Gesetzgebung zu gewähren ist.163 Dann gibt schon das Schutzmittel abstrakt-generelle Norm vor, dass das Rechtsgut (auch) als generell gewährleistetes betroffen ist. d) Unspezifizität des begrifflich institutionellen Aspekts Die begrifflich institutionelle Seite der Rechtsgüter ist allen und damit auch den grundrechtlichen Rechtsgütern gemein. Regelmäßig werden sie auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in ihrer allgemeinen Dimension angesprochen. Dies liegt grundlegend daran, dass die rung der dogmatischen Figur unter dem Grundgesetz Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 ff.; s. aber dort auch die im hiesigen Zusammenhang relevante Feststellung, alle Grundrechte könnten institutionell aufgefasst werden und die Verfassung wolle „die Existenz von Staatseinrichtungen gerade garantieren“ (S. 60 Fn. 50). 161 Statt aller Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, Vorbemerkung (2014) Rn. 123. 162 BVerfGE 39, 1; 88, 203. 163 Statt vieler Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 102 m. w. N.; Isensee, in: ders./Kirchhof, Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 281. Zum problematischen formellen Begriffs der sachlichen Allgemeinheit Hofmann, Postulat, S. 9 (39 f.).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Rekonstruktion eines grundrechtlichen Schutzbereichs oder die Bestimmung des Schutzgegenstands einer Schutzpflicht Auslegung des Grundgesetzes als abstrakt-generelle Norm ist. Das ändert nicht den individualschützenden Charakter der Grundrechte. Untersucht man jedoch wie hier den Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs, so ist festzustellen, dass der begrifflich institutionelle Aspekt insoweit nicht bemerkenswert ist. Dogmatische Folgen sind im besonders ausgeprägten singulären Aspekt zu finden. 4. Betonung der Singularität als Sonderfall a) Nur prozessuale Bedeutung der Singularität als solcher Die prozessuale Form spiegelt die Relevanz eines Rechtsguts in seiner Singularität wider, wenn ein Grundrechtsträger mit der Verfassungsbeschwerde die Durchsetzung eines solchen Belangs anstrebt. Dann sind die Rechtsgüter eines Beschwerdeführers maßgeblich von ihrer individuellen Seite betroffen. Die Selbstbetroffenheit des Beschwerdeführers ist als Teil der Beschwerdebefugnis Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde.164 In dieser Verfahrensart muss ein Grundrechtsberechtigter die Verletzung eines ihm individuell zugewiesenen und damit eines singulären grundrechtlichen Belangs geltend machen. Dies hat jedoch bloß prozessuale Bedeutung, da grundrechtliche Rechtsgüter typischerweise und in verfas sungsrechtlich bedeutsamer Art und Weise bei der Entwicklung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe erscheinen,165 die wiederum allgemeingültig formuliert sind und nicht die Singularität als solche betreffen. Es führt daher nicht weiter, beispielsweise die Religionsfreiheit im Urteil zum Berliner Ladenschlussgesetz166 als singuläres Rechtsgut zu begreifen: Wohl handelte es sich um ein Verfassungsbeschwerdeverfahren, das auf diesen Belang gestützt wurde. Über das Verständnis des Sonntagsschutzes als Konkretisierung der Religionsausübungsfreiheit wird auch dieser zu einem prozessual individuell durchsetzbaren Rechtsgut. In der verfassungsrechlich-dogmatischen Begründung anhand von Art. 139 WRV ist dies jedoch unwesentlich. Dem entspricht, dass kein markanter Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs in diesem Zusammenhang erfolgt.
näher Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 550 ff. C. III. 1. und 2. 166 Vgl. BVerfGE 125, 39 (77 f.). Anders aus dogmatischer Perspektive Isensee, in. der./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 205, der den grundsätzlichen Unterschied zwischen Einrichtungsgarantien wie dem Sonntagsschutz und der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte als Grundlage der Schutzpflichten betont. 164 Dazu
165 s. oben
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter129
b) Lebensschutz: Singularität als Allgemeines Von rechtlich maßstabsbildender Bedeutung ist jedoch die Singularität des Rechtsguts Leben, und zwar in ihrem allgemeinen Aspekt. Das Bundesverfassungsgericht formuliert in der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch, das Grundgesetz verpflichte „zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens.“167 Es versieht dieses Rechtsgut darüber hinaus mit dem Attribut „höchstpersönlich“.168 In der zweiten Entscheidung zu § 218 StGB aus dem Jahr 1993 findet sich diese Aussage noch einmal mit der Kontrastierung, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schütze nicht nur „menschliches Leben allgemein“.169 Spricht man vom „Leben allgemein“ so handelt es sich nicht um einen einem einzelnen Rechtsträger zugewiesenen Belang – betroffen ist dann der begrifflich institutionelle Aspekt. Sich auf diesen beziehende Schutzmaßnahmen können sich unter anderem an einer Singularitäten verrechnenden Statistik messen lassen. Verlust und Gewinn an diesem bestimmten Gut eines bestimmten Trägers sind durch entsprechende gegenläufige Vorgänge in Bezug auf das generisch gleiche Gut bei einem anderen Träger kompensierbar.170 Wird hingegen auf die Singularität abgestellt, ist eben dies nicht der Fall. c) Keine Identität mit subjektiver Berechtigung Die Frage, ob es auf die Singularität (als Allgemeines) ankommt, fällt nicht mit derjenigen nach einer subjektiven Berechtigung zusammen. Das Recht kann durchaus ein Gut individualisiert ausgestalten171 und damit für die rechtliche Beurteilung eine Vertretbarkeit über das einzelne Subjekt hinaus ausschließen, das Gut also in seiner Singularität rechtlich anerkennen, ohne gleichzeitig eine subjektive Berechtigung einzuräumen. So hat das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch die Frage nach dem subjektiven Lebensrecht des Nasciturus offen ge-
167 BVerfGE 39, 1 (58 f.); ähnlich wieder 88, 203 (252); s. schon oben C. I., insb. S. 103. 168 BVerfGE 39, 1 (58 f.). 169 BVerfGE 88, 203 (252). 170 Dies steht im Zusammenhang mit der Zulässigkeit, einen interpersonellen Nutzenvergleich durchzuführen, die sich im Rahmen der Argumentation um Geeignetheit und Notwendigkeit eines Grundrechtseingriffs stellen kann; dazu Schlink, Abwägung, S. 210–212. 171 Vgl. Jellinek, System, S. 44: „Aller Schutz des Gemeininteresses schützt notwendig eine ungezählte Summe von Einzelinteressen, ohne subjektive Rechte zu schaffen.“
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
lassen.172 Damit können auch in der dogmatischen Wirkung in ihrer Singularität zu beachtende Rechtsgüter als Inhalt objektiver Grundrechtsgehalte, die nicht primär subjektive Rechte garantieren,173 erscheinen. 5. Institutionell-individuelle Verschränkungen In einzelnen Fällen erscheinen Güter in Verschränkungen zwischen der individuellen und einer überindividuellen Dimension, die über die begrifflich institutionelle hinausgeht. Dies kann man zunächst beim Ausschluss unwahrer Tatsachenaussagen174 aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit feststellen. Dieser Schutzbereichsausschluss wird mit der Aussage gestützt, unrichtige Information sei kein schützenswertes Gut.175 Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, es handle sich im Rahmen der Meinungsfreiheit nicht um ein schützenswertes Gut, weil kein Beitrag zur „verfassungsrechtlich vorausgesetzten Aufgabe zutreffender Meinungsbildung“ zu erwarten sei. Dies ist aber ein nicht auf den Einzelnen, der sich in grundrechtlich geschützter Weise verhält, bezogener Gesichtspunkt. Die Meinungsfreiheit wird damit keineswegs insgesamt zur bloß noch objektiven Gewährleistung im Interesse der staatlichen Gemeinschaft. Das findet auch im Kontext der referierten Textstelle keine Begründung, geht es dort doch gerade um den (individualschützenden) Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Es wird aber der institutionelle Aspekt des geschützten Gutes deutlich, indem von nicht individuell bezogenen Erwägungen getragene tatbestandliche Ausklammerungen vorgenommen werden. Strukturell wird mittels eines funktionalen Verständnisses grundrechtlicher Garantien argumentiert, das grundsätzliche verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, denen hier jedoch nicht weiter nachzugehen ist.176 Noch deutlicher materialisiert wird die institutionelle Dimension mit der Annahme einer auf den Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und 172 BVerfGE 39,
1 (41); keine Problematisierung der Frage in BVerfGE 88, 203. Begriff der objektiven Grundrechtsgehalte s. hier nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 94; vgl. auch ders., Dimensionen, S. 41: nicht unter Abwehrrecht und demokratische Teilhabe fassbare Gehalte. Vgl. auch Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (1 ff.); Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (53). Kritisch gegenüber dem „Nebelbegriff“ des Objektiven Schwabe, Probleme, S. 286. 174 Es kommt insoweit auf die bewusste oder die erwiesene Unwahrheit an; vgl. dazu statt aller, mit ablehnender Stellungnahme Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rn. 64 f. 175 Erstmals BVerfGE 54, 208 (219); vgl. auch oben C. II. 4. 176 Dazu pointiert und kritisch Möllers, NJW 2005, S. 1973 (insb. 1976 ff.). Insbesondere zur (abzulehnenden) Gemeinwohlbindung grundrechtlicher Freiheit Dreier, Rechtswissenschaft 2010, S. 1 (21 f.). 173 Zum
C. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter131
Menschenwürde gestützten Schutzpflicht für die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung. Im Beschluss zur Online-Durchsuchung begründet das Bundesverfassungsgericht mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG eine Schutzpflicht für die „Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit“.177 Diese als Verfassungswerte und hochwertige Güter bezeichneten Belange sind nun aber offensichtlich keine, die einem Individuum zugeordnet werden könnten, sondern sie berechtigen den Staat gerade zum Eingriff in individuelle Rechtspositionen. Dennoch sollen sie ihre Grundlage in Vorschriften des Grundgesetzes haben, die – jedenfalls im Fall des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eindeutig178 – in erster Linie individuelle Rechtspositionen einräumen, da der Staat als Garant dieser Positionen aufgefasst wird. 6. Gleiche Rechtsgüter auf verschiedener Normebene? In der Literatur findet sich verschiedentlich die Aussage, bei grundrechtlich geschützten Rechtsgütern, die auch im einfachen Recht anerkannt seien, handle es sich um „dieselben“.179 Anlass zur Überprüfung dieser These können auch Stellen in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen geben, an denen von den Anforderungen an den einfachrechtlichen Schutz grundrechtlich gewährleisteter Güter die Rede ist.180 Es fragt sich, was mit der genannten Aussage überhaupt gemeint ist. So richtig wie wenig ertragreich ist zunächst die Feststellung, dass es in vielen Fällen eine Identität des sprachlichen Ausdrucks gibt: Sowohl Art. 14 Abs. 1 GG als auch § 1004 Abs. 1 BGB treffen Regelungen über „das Eigentum“. Geht man über diese Ebene hinaus und fragt nach Gleichheit des Begriffs im Sinne einer juristischen Definition, gibt es Beispiele wie das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, bei denen eine unterschiedliche Bedeutung in Verfassungsrecht und einfachem Recht eher fern liegt – anderseits aber auch evidente Fälle wie den verfassungsrechtlichen und den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff, bei denen die Sachlage anders ist. Letztlich dürfte aber zweifelhaft sein, ob eine generalisierte Aussage, verfassungs- und einfachrechtliche Rechtsgüter seien gleich, mit einem über die 177 BVerfGE 120,
274 (319). Grundrechtsstatus der Menschenwürdegarantie Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 124 ff. (im Ergebnis ablehnend: „Grundsatz, nicht Grundrecht“, 128). 179 So Schneider, Güterabwägung, S. 129; differenzierend Ruffert, Vorrang, S. 168 ff., s. dort S. 193 zu möglichen Inkongruenzen im Schutz; Identität wird z. B. bei den Gütern des Art. 2 Abs. 2 GG angenommen (S. 170). 180 Vgl. oben C. II. 2., insb. bei Fn. 69. 178 Zum
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
sprachliche Trivialität hinausgehenden Inhalt sinnvoll ist. Spezifisch als Aussage über das Recht ist das wohl eher nicht der Fall. Nicht zu bestreiten dürfte nämlich sein, dass selbstverständlich das Verfassungsrecht im Kontext einer jeweils spezifischen grundrechtlichen Regelung unter „Wohnung“, „Meinungsfreiheit“ oder aber gar „Leben“, etwas anderes verstehen kann als das einfache Recht in einem anderen Regelungskontext. Strukturell ist eine inhaltliche Identität also keineswegs notwendig, sondern lediglich möglich. Wenn von einer Identität der grundrechtlichen mit den einfachrechtlichen Rechtsgütern die Rede ist, dann kann damit gemeint sein, dass der der rechtlichen Erfassung jeweils vorausliegende Sachverhalt unabhängig von deren Ausgestaltung identisch ist.181 Dies ist dann aber keine Aussage, die der Ebene der Formulierung rechtlicher Berechtigungen und Verpflichtungen in Rechtsbegriffen zugehört.182 Dabei dürfte die Vorstellung der auf verschiedenen Normebenen geschützten gleichen Rechtsgüter eine gedankengeschichtliche Parallele dort finden, wo das Rechtsgut als etwas Vorgefundenes, der Wirklichkeit Entstammendes und nicht seinerseits erst durch das Recht Konstituiertes verstanden wird. Dem ließe sich – mit der gebotenen Vorsicht – von Liszt mit der Vorstellung des vorgelagerten „Lebensguts“ zuordnen;183 dezidiert anders ist die Honigsche Konzeption, die Rechtsgüter als auf einzelne Tatbestände bezogen versteht.184
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung Rechtsgüter als der Reichweite grundrechtlicher Freiheit entgegenstehende Gesichtspunkte sind in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vertreten. Dies ist die mit Abstand häufigste Konstellation der Verwendung. Die im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte sind in unterschiedlichem Maße einschränkbar. Ich unterscheide dementsprechend in der Darstellung nach Grundrechtsbestimmungen mit und ohne Gesetzesvorbehalt. Dabei werden zu den mit Einschränkungsvorbehalt versehenen Bestimmungen auch diejenigen geschlagen, die einen Regelungs- oder Ausgestaltungsvorbehalt tragen. In eine dritte Gruppe fasse ich Verwendungen, die nicht in Zusammenhang mit der Beschränkung bestimmter Freiheitsrechte stehen. Schneider, Güterabwägung, S. 129. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IX, 3. Aufl., § 191 Rn. 60 für die deskriptive Komponente des grundrechtlichen Schutzbereichs: „[…] nicht Teil dieser Wirklichkeit, sondern ihr rechtsbegriffliches Abbild mit Normqualität.“ 183 Zur Akzentverschiebung hin zum Lebensgut oben 1. Teil C. I. 2. b). 184 Dazu oben 1. Teil C. I. 3. b). 181 Vgl. 182 Vgl.
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung133
I. Einschränkung von Freiheitsrechten mit Vorbehalt 1. Schranken von Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG Bei den Einschränkungen von allgemeinem Persönlichkeitsrecht, allgemeiner Handlungsfreiheit, informationeller Selbstbestimmung und der erst jüngst entwickelten Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme finden sich zunächst vertraute Aussagen zum Rang bestimmter Rechtsgüter. Namentlich die Entscheidungen zu Rasterfahndung und Online-Durchsuchung benennen die in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten Güter als besonders hochrangig.185 Die Rangaussage zielt jedenfalls auch auf die Begründung der Gleichrangigkeit anderer, lediglich gemeinschaftsbezogener Güter. Dies ist in beiden Fällen die Sicherheit des Bestands des Staates, der als Friedens- und Ordnungsmacht in seiner Funktion für das Wohlergehen des Einzelnen vorgestellt wird. In der Entscheidung zur Online-Durchsuchung finden sich zusätzlich noch die „Grundlagen der Existenz der Menschen“ und als Beispiel für solch ein Fundament die „Funktionsfähigkeit wesentlicher Teile existenzsichernder öffentlicher Versorgungseinrichtungen“.186 Weitere rechtfertigende Güter, die in Entscheidungen mit Art. 2 Abs. 1 GG als Maßstab genannt werden, sind die Rechtssicherheit, die Funktionsfähigkeit der Krankenversicherung und die steuerliche Belastungsgleichheit.187 Das Verhältnis der Rechtfertigungsgüter zum Text des Grundgesetzes ist uneinheitlich. Nicht weniger als Leib, Leben und Freiheit der Person in Art. 2 Abs. 2 GG findet die steuerliche Belastungsgleichheit in Art. 3 Abs. 1 GG eine direkte Verankerung; Gleiches gilt für das Gebot der Transparenz und Publizität der Parteienfinanzen hinsichtlich Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG.188 Über die Funktionsfähigkeit der Krankenversicherung kann dies nicht gesagt werden – das Bundesverfassungsgericht nennt keinen textlichen Bezugspunkt im Grundgesetz. Die Rechtssicherheit ließe sich als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und damit als u. a. in Art. 28 Abs. 1 S. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verortet ausweisen;189 dies geschieht an der einschlägigen Stelle jedoch nicht ausdrücklich.190 Auf ihre evidente Bedeutung haben sich Güter wie die 185 BVerfGE 115, 320 (346); 120, 274 (328); mit Erweiterung um Sachen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen E 133, 277 (365 Rn. 203). 186 BVerfGE 120, 274 (328); in der Sache ähnlich E 115, 320 (346): „Sicherheit der Bevölkerung“. 187 BVerfGE 90, 264 (271); 102, 68 (98); 111, 54 (82 f.); 118, 168 (196). 188 BVerfGE 118, 168 (196) bzw. 111, 54 (82 f.). 189 Zur verfassungstextlichen Radizierung des Rechtsstaatsprinzips s. nur SchmidtAßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg), Handbuch II, 3. Aufl., § 26 Rn. 3 m. w. N. 190 Vgl. BVerfGE 90, 263 (271).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Funktionsfähigkeit wesentlicher Teile existenzsichernder Versorgungseinrichtungen zu stützen. 2. Einschränkung der persönlichen Freiheit Auch als Gesichtspunkte der Einschränkung der in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten persönlichen Freiheit erscheinen Rechtsgüter in einigen Entscheidungen. Dabei ist durchgehend die Konstellation einschlägig, dass der Staat einem Individuum wegen dessen Gefährlichkeit die Freiheit entzieht. Soweit dabei konkrete Rechtsgüter genannt werden, die diesen Eingriff tragen, handelt es sich mit Leben, körperlicher Unversehrtheit und persönlicher Freiheit191 ebenfalls um Güter, die in Art. 2 Abs. 2 GG ihre Verankerung im Grundgesetz haben. Das Gericht nennt diese Grundgesetzbestimmung aber jeweils nicht ausdrücklich in diesem Zusammenhang. Der hohe Rang192 der zu schützenden Güter wird mehrmals insofern thematisiert, als eine präventive Freiheitsentziehung voraussetzt, dass sie zum Schutz „hochwertiger Rechtsgüter“ erforderlich ist.193 Die Formulierungen bezüglich der Anforderungen an eine nachträgliche Anordnung verlangen gar die Erforderlichkeit zum Schutz „höchstwertiger Rechtsgüter“ bzw. „höchster Verfassungsgüter“.194 Als solche kommen die in Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter der Person in Betracht, wenn nämlich die „Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten“ vorausgesetzt wird.195 3. Regelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung Das Nebeneinander der individuellen und der institutionellen Seite von Rechtsgütern tritt im Zusammenhang mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des in Art. 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Rechts zu Tage, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Das Gericht prüft zunächst die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Zu der Frage, ob ein Verstoß gegen die Menschenwürde oder sonstige Grundlagen des Wertsystems der Verfassung vorliege, führt es aus, das Grundgesetz sei eine „wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt […]. Es kann nicht 191 BVerfGE 109,
133 (156 f.); 109, 190 (236); vgl. auch E 128, 326 (406). bereits oben C. II. 3. 193 BVerfGE 128, 326 (372); 131, 268 (291); vgl. auch E 134, 33 (57 Rn. 61 f., 79 f. Rn. 108). 194 BVerfGE 128, 326 (389); 129, 37 (46); 133, 40 (51 Rn. 27, 58 Rn. 44). 195 BVerfGE 128, 326 (406); 129, 37 (46); vgl. dazu Ullenbruch/Drenkhahn, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar, § 66b Rn. 78. 192 Vgl.
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung135
grundgesetzwidrig sein, die Bürger zu Schutz und Verteidigung dieser obersten Rechtsgüter der Gemeinschaft, deren personale Träger sie selbst sind, heranzuziehen.“196 Das ist eine in mehrerlei Hinsicht anspruchsvolle Aussage. Im Ausgangspunkt sind Rechtsgüter hier Grund für staatlicherseits festgelegte Pflichten des Einzelnen, also Gesichtspunkte, unter denen die Einschränkung individueller Freiheit rechtlich möglich ist. Diese Rechtsgüter werden bemerkenswerter Weise einerseits solchermaßen der Gemeinschaft zugeordnet, andererseits aber sollen die einzelnen Individuen ihre „personale[n] Träger“ sein. Im Sinne wohlwollender Rekonstruktion wird man davon ausgehen können, damit sei darauf Bezug genommen, dass auch individuelle Rechtsgüter einen gemeinschaftsbezogenen Aspekt haben, dass also die Gewährleistung individueller Güter eine institutionelle (und damit überindividuelle) Seite besitzt.197 Allerdings kann es hier nicht die individuelle Seite der Güter sein, zu deren Verteidigung die Bürger legitimerweise herangezogen werden sollen. Eine zwangsweise Verpflichtung zur Verteidigung der individuell-eigenen Freiheit und Menschenwürde ist widersinnig. Vielmehr sind es Freiheit und Menschenwürde der Gemeinschaft als ganzer, die zu bewahren sind, also die ins titutionelle Seite. Nun aber den derart in Anspruch Genommenen als personalen Träger dieser Güter zu bezeichnen, verschleiert etwas die Grenzen zwischen überindividuellen Belangen und solchen, die unmittelbar dem Individuum zuzuordnen sind. Als Mitglied der als Staat verfassten Gemeinschaft ist der einzelne Staatsangehörige mittelbar in irgendeiner Form auch Träger der staatlichen Belange, jedenfalls als unverzichtbares außenweltliches Substrat – ohne dass es dazu auf normative Vorannahmen hinsichtlich des normativen Vorrangs von Individuum oder Kollektiv ankommt.198 Diese fundamentale Beziehung unterscheidet sich aber wesentlich von den rechtlich individuell und regelmäßig auch wehrfähig zugeordneten Gütern. Die zu verteidigenden Rechtsgüter werden vom Bundesverfassungsgericht als oberste Zwecke des Rechts beschrieben, zu deren Schutz auch die äußerste Inpflichtnahme unter Lebensrisiko nicht grundsätzlich zulässig ist. Die darin liegende absolute Rangaussage kann als impliziter Bezug auf die durch die besondere verfassungsrechtliche Stabilisierung in Art. 79 Abs. 3 GG hervorgehobene Bestimmung Art. 1 Abs. 1 GG gedeutet werden; diese Relation wird jedoch nicht ausdrücklich hergestellt. Indem die Formulierung von einem Satz zum nächsten ohne erkennbare Sinndifferenz den Begriff wechselt, werden hier zudem Rechtsgüter und Zwecke als jedenfalls im gegebenen 196 BVerfGE 12,
45 (51). bereits oben C. III. 3. b). 198 Dies ist gewissermaßen die nüchterne Gegenperspektive zum etatistischen Monismus Bindings [dazu oben 1. Teil C. I. 2. a)]. 197 Dazu
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Kontext begrifflich nahestehend behandelt.199 Der Schutz von bestimmten Gütern ist ein bestimmter Zweck. 4. Schranken der Rechte aus Art. 5 Abs. 1 GG a) Vielfalt der Güter der allgemeinen Gesetze Das Wort „Rechtsgut“ erscheint in der Formel, die das Bundesverfassungsgericht (in Anknüpfung an die Diskussion der parallelen Vorschrift aus der Weimarer Reichsverfassung200) zur in Art. 5 Abs. 2 GG normierten Schranke der „allgemeinen Gesetze“ geprägt hat: Allgemeine Gesetze sind nur solche, „die ‚nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten‘, die vielmehr ‚dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen‘, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“.201 In der Folge ist in Entscheidungen, die sich mit der Einschränkung von Meinungsäußerungs-, Informations-, Presse- und Rundfunkfreiheit zu befassen haben, häufig von Gütern die Rede;202 die konkret benannten Güter bilden entsprechend der Unterschiedlichkeit der Schrankengesetze eine überaus heterogene Menge, die so Verschiedenes wie die Menschenwürde203, die Startchancen privater Rundfunkanbieter204, den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz205 und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland206 umfassen. Weitere eher individuelle Güter sind die in „Lüth“ benannten beruflichen und wirtschaftlichen Interessen sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht.207 Die Sicherheit des Staates erscheint in verschiedenen Formulierungen208 und der Schutz von Dienstgeheimnissen und besonderer Geheimhaltungspflichten gehört thematisch in diesen Zusammenhang.209 199 Zur weitgehend gleichbedeutenden Verwendung der Begriffe Zweck und Ziel s. unten 3. Teil A. Fn. 3. Zu Rechtsgütern als Zielen unten G. 200 Zur Geschichte der Diskussion s. Stern/Sachs/Dietlein, Staatsrecht IV/1, S. 1444 ff.; grundlegend (jeweils zu Art. 118 I WRV) Häntzschel, AöR N.F. 10 (1926), S. 228 (232) und Smend, in: VVDStRL 4 (1928), S. 44 (52). 201 BVerfGE 7, 198 (209 f.) m. w. N. 202 Wiedergabe des eben zitierten Maßstabs etwa in BVerfGE 59, 231 (263 f.); 62, 230 (243 f., 71, 206 (214 f.); 111, 147 (155); 120, 180 (200). 203 BVerfGE 102, 347 (366 f.). 204 BVerfGE 74, 297 (337). 205 BVerfGE 59, 231 (263 f.). 206 BVerfGE 21, 239 (243). 207 BVerfGE 7, 198 (218 f.) bzw. 97, 125 (146). 208 BVerfGE 21, 239 (243); 28, 175 (185 f.). 209 BVerfGE 117, 244 (260 f.).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung137
Von nicht wenigen Güter kann plausibel gesagt werden, dass mit ihrer Beeinträchtigung die Funktionsfähigkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen tangiert wird: Die Grundregeln der Kameradschaft und der gegenseitigen Achtung und der Gemeinsamkeit des Dienstes210 betreffen die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. Die „geordnete Durchführung einer Gerichtsverhandlung“ und die „Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten“211 sind der auch mehrfach direkt als Gut benannten funktionierenden Rechtspflege212 zuzuordnen. Werden die einem Amtsträger anvertrauten öffentlichen Interessen als Gut bezeichnet, so ist jedenfalls auch die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes angesprochen;213 das zu schützende „Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz“ staatlicher Einrichtungen bezieht das Gericht ausdrücklich auf deren Funktionsfähigkeit.214 Ähnliche Rückführungen auf die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen lassen sich für den Betriebsfrieden (gesellschaftliche Arbeitsteilung) und die Lauterkeit des Wettbewerbs (Effizienz des Wettbewerbs) vornehmen.215 „Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Flugbetriebs“ wiederum werden ausdrücklich als „wichtiges Gemeingut“ benannt.216 Ebenfalls als Güter anerkannt werden der Gedanke der Völkerverständigung, der Schutz Kranker vor der öffentlichen Anpreisung ärztlicher Leistungen und der öffentliche Friede im Sinne der „Aufrecht erhaltung des friedlichen Miteinander“.217 In zwei neueren Entscheidungen finden sich die negativen Aussagen, dass weder der Schutz vor Beunruhigung noch ein unbeschwertes Gemüt taugliche Rechtfertigungsgüter sind.218 Strukturell lässt sich feststellen, dass eine ausdrückliche Gründung der eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit rechtfertigenden Güter auf Vorschriften des Grundgesetzes eher selten ist. Es stellt eine Ausnahme dar, dass in der 1982 ergangenen Entscheidung zu den freien Mitarbeitern im Rundfunk der Bestandschutz für Arbeitsverhältnisse ausdrücklich auf das Sozialstaatsprinzip und die in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsfreiheit bezogen wird.219 Als in einem etwas weiteren Sinne direkt grundgesetzlich gewährleistet kann man das allgemeine Persönlichkeitsrecht betrachten. 210 BVerfGE 44,
197 (204 f.). 234 (241); 71, 206 (216 f.). 212 BVerfGE 64, 108 (116); 77, 65 (76); 91, 125 (136 f.); 107, 299 (332 f.). 213 BVerfGE 28, 191 (202). 214 BVerfGE 93, 266 (291). 215 BVerfGE 42, 133 (140 f.); 62, 230 (245). 216 BVerfGE 128, 226 (266 f.). 217 BVerfGE 33, 52 (68 f.) bzw. 71, 162 (175 f.; im Rahmen der Prüfung von Art. 12 GG beschrieben als „Vertrauen auf nicht vom Gewinnstreben geleitete Ausübung der ärztlichen Tätigkeit“, 173 f.) bzw. 124, 300 (335). 218 BVerfGE 124, 300 (335); 128, 226 (266 f.). 219 BVerfGE 59, 231 (263 f.; 266). 211 BVerfGE 50,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Bei der Unschuldsvermutung im Strafprozess kann ein direkter Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip gesehen werden.220 b) Freiheitliche demokratische Grundordnung Die freiheitliche demokratische Grundordnung erscheint an mehreren Stellen als möglicher Gesichtspunkt der Einschränkung von in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Kommunikationsfreiheiten. Das Bundesverfassungsgericht stellt jedoch bereits 1966 und noch einige Male später fest, es liege ein besonderes Verhältnis vor, das von der Grundsituation des güterschützenden Eingriffs abweiche.221 Freiheit von Meinungsäußerung, Presse und Information sind nämlich ihrerseits wesentliche Komponenten einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Wird eine Beschränkung dieser Freiheiten zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorgenommen, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass eine Rücknahme dieser Freiheiten grundsätzlich auch die nämliche Grundordnung beeinträchtigt. Daraus leitet das Bundesverfassungsgericht ab, dass die Notwendigkeit entsprechender Beschränkungen einer Prüfung von gesteigerter Intensität zu unterziehen ist. In den genannten Fällen können sowohl die Kommunikationsfreiheiten als auch die ihre Einschränkung gebietenden Güter als Aspekte des abstrakteren Guts freiheitliche demokratische Grundordnung aufgefasst werden, die gegeneinander stehen.222 5. Schranken der Versammlungsfreiheit Beobachtungen speziell zur Qualifikation von Rechtsgütern lassen sich an den Entscheidungen zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit machen. In der maßstabsbildenden Brokdorf-Entscheidung werden im Rahmen der Entwicklung der Voraussetzungen für Versammlungsverbote die Begriffe der „elementaren“ und „wichtigen“ Rechtsgüter, aber auch der „zentralen“ Rechtsgüter verwandt.223 Noch mehr als das Attribut „wichtig“ lässt „ele220 BVerfGE 71, 206 (216 f.). Zur Unschuldsvermutung als Element von Rechtsstaatlichkeit zusammenfassend Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 219; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 103 Rn. 46. Vgl. auch BVerfGE 74, 358 (370 f.) und 82, 106 (114 ff.). 221 BVerfGE 20, 162 (177); 25, 44 (55 f.); 27, 71 (86); 33, 52 (68 f.); 113, 63 (79, 82). 222 Zu diesem Verhältnis nochmals unten A. IV. 3. c). 223 BVerfGE 69, 315 (352 f.). Nicht näher qualifizierte Erwähnung von Rechtsgütern als Gesichtspunkte der Beschränkung der Versammlungsfreiheit in BVerfGE 87, 399 (409).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung139
mentar“ ein größeres verfassungsrechtliches Gewicht erwarten, was sich als Erschwerung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs auswirken würde. Auch die Titulierung als „zentral“ tendiert in diese Richtung. Hier scheint aber schon die Definition der öffentlichen Sicherheit darauf hinzuweisen, dass nahezu alles, was man gemeinhin als Rechtsgut bezeichnet, auch als zentrales Rechtsgut verstanden werden kann. Mit dem Eigentum akzeptiert das Bundesverfassungsgericht ein Rechtsgut als den Rechtfertigungsanforderungen genügend,224 das jedenfalls unter den grundrechtlich gewährleisteten keine gesteigerte verfassungsrechtliche Dignität besitzt, wie beispielsweise das auf die Menschenwürde bezogene allgemeine Persönlichkeitsrecht, und auch nicht zu den in zahlreichen anderen Entscheidungen als besonders hochrangig qualifizierten Gütern des Art. 2 Abs. 2 GG zählt. Auch in der Fraport-Entscheidung wird der Begriff der elementaren Rechtsgüter erwähnt. Solche könnten von einem von Störungen freien Flugbetrieb abhängen, der daher ein „öffentlicher Zweck des gemeinen Wohls“ sei.225 In einer weiteren Entscheidung nennt das Gericht die Fortbewegungsfreiheit der Straßenbenutzer und die Berufsausübungsfreiheit derjenigen, die eine Arbeitsstelle aufgrund einer Straßenblockade nicht erreichen können als Rechtsgüter, die eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertigen können.226 Diese lassen sich in einen vergleichsweise engen Ableitungszusammenhang zu Vorschriften des Grundgesetzes bringen, namentlich Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG. 6. Schranken der Vereinigungsfreiheit Auch als Gesichtspunkte, die Schranken der Vereinigungsfreiheit tragen, erscheinen Rechtsgüter in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Dabei sind mehrfach Konstellationen betroffen, in denen Schranken außerhalb des Vorbehalts in Art. 9 Abs. 2 GG zu begründen waren.227 Hier ist der Rekurs auf entgegenstehende Rechtsgüter Element der Begründung einer grundsätzlichen Einschränkbarkeit der garantierten Freiheit, wie es auch bei den sogleich zu behandelnden Grundrechten ohne Vorbehalt der Fall ist. Die grundrechtliche Freiheit wird im Hinblick auf andere Belange relativiert. Diese Belange werden nur in der neueren Entscheidung ausdrücklich mit einer einschlägigen Verfassungsbestimmung hinterlegt – das Sozialstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 1 GG für das Ziel eines ausreichenden und bezahlbaren 224 BVerfGE 69, 315 (365 f.): Die Gefahr von Gewalt gegen Baustelleneinrichtungen kann ein Versammlungsverbot tragen. 225 BVerfGE 128, 226 (259). 226 BVerfGE 104, 92 (108). 227 BVerfGE 30, 227 (243); 84, 372 (379); 124, 25 (36, 42).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Krankenversicherungsschutzes –,228 während sowohl die Chancengleichheit bei Wahlen zu Selbstverwaltungsorganen und die Sicherung der Sachlichkeit von deren Arbeit als auch die Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen auf dem Dienstleistungsmarkt ohne eine solche Rückbindung auskommen.229 Das Gericht bezeichnet auch die in Art. 9 Abs. 2 GG benannten Belange, denen ein Vereinsverbot dienen kann, als Rechtsgüter – also die allgemeinen Strafgesetze, die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung.230 7. Schranken der Rechte aus Art. 10 GG Auch in einigen Entscheidungen, die Einschränkungen des Brief- und Fernmeldegeheimnisses betreffen, erscheint das Wort „Rechtsgut“ bei der Benennung der Gesichtspunkte der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit solcher Einschränkungen.231 Dabei erscheint wiederholt das Gut „Bestan[d] des Staates und seiner Verfassungsordnung“.232 Diese Rechtsgüter können sich auf die Formulierung des Schrankenvorbehalts in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG stützen, der eine Beschränkung ohne Benachrichtigung des Betroffenen zulässt, wenn sie „dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“ dient. Damit nennt der Text des Grundgesetzes implizit Belange, die eine Beschränkung tragen können. An der Entscheidung zur strategischen Überwachung des Brief- und Fernmeldeverkehrs aus dem Jahr 1984 wird deutlich, dass Beziehungen zu abstrakteren Rechtsgüter gerade dann nicht explizit hergestellt werden müssen, wenn sich diese Beziehungen im Bereich des Evidenten bewegen: Hier wird vor dem Hintergrund der eben genannten Regelung im Grundgesetz das „rechtzeitig[e] Erkennen und Begegnen der Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik Deutschland“233 als Rechtsgut genannt. Dass die Gefahr eines bewaffneten Angriffs die Infragestellung der territorialen und staatlichen Integrität bedeutet, bedarf eben nicht der ausdrücklichen Feststellung. Als Element der Vorgaben zur Gesetzgebungstechnik im Sicherheitsbereich, die das Bundesverfassungsgericht dem Grundrecht des Art. 10 GG 228 BVerfGE 124, 229 BVerfGE 30, 230 BVerfGE 80, 231 BVerfGE 30, 232 BVerfGE 30, 233 BVerfGE 67,
25 (36, 42). 227 (244 ff.) bzw. 84, 372 (380). 244 (253). 1 (18); 67, 157 (173); 100, 313 (373, 392); 125, 260 (327 ff.). 1 (20, ähnlich schon 17 f.); 125, 260 (330). 157 (173).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung141
entnimmt, erscheint der Begriff des Rechtsguts in der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahr 2010. Im Bereich der Gefahrenabwehr soll die Benennung der Rechtsgüter, zu deren Schutz ein Datenabruf in Frage kommt, die naheliegende Regelungstechnik sein.234 Damit werden Güter, die von Grundgesetzes wegen zulässige Rechtfertigungsgründe abgeben, Tatbestandselement des einfachen Rechts. Güter werden hier in einem Sinne gebraucht, der es ermöglicht, unabhängig von der Stellung der auf sie Bezug nehmenden Vorschriften in der Normenhierarchie von den „gleichen“ Rechtsgütern zu sprechen.235 Das Gericht nennt als mögliche Anknüpfungspunkte für eine Eingriffsermächtigung einen engen Kreis von Rechtsgütern: neben Bestand und Sicherheit des Bundes und der Länder sowie der Abwehr von „gemeinen Gefahren“ namentlich die Individualgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 GG. Diesen Gütern weist es damit – jedenfalls im Zusammenhang mit dem Zugriff auf Kommunikationsdaten – ein besonderes Gewicht zu, das nicht nur rhetorisch hervorgehoben, sondern auch in rechtliche Folgen umgesetzt wird.236 8. Einschränkungen von Art. 12 GG Von Gütern, genauer: Gemeinschaftsgütern, ist in einer Vielzahl von Entscheidungen die Rede, die sich mit den Schranken der in Art. 12 GG gewährleisteten Berufsfreiheit befassen.237
234 BVerfGE 125, 260 (329 f.); vgl. bereits E 110, 33 (55): Klarheit über gefährdetes Rechtsgut und gefährdende Handlung notwendig. Abstrakte Nennung von Anforderungen hinsichtlich der bedrohten und geschützten Rechtsgüter bei der Schaffung von Eingriffsgrundlagen in E 133, 277 (373 f. Rn. 226, 374 f. Rn. 228). 235 Vgl. oben S. 102 f. 236 Zu Rangaussagen bezüglich der persönlichen Freiheit s. oben S. 81 f. 237 BVerfGE 7, 377 (405 ff.); 9, 39 (52); 11, 168 (186 f.); 13, 97 (107); 17, 269 (276); 19, 330 (337); 20, 283 (295); 21, 245 (251); 22, 114 (123); 25, 1 (16 f.); 28, 364 (375); 30, 292 (323 f.); 31, 8 (29); 33, 303 (337 f.); 34, 71 (77 f.); 36, 212 (223); 39, 210 (226); 40, 196 (218); 43, 34 (45); 44, 105 (117 f.); 45, 422 (428 f.); 47, 109 (117); 48, 292 (296); 54, 173 (191); 54, 301 (314 f.); 55, 28 (31); 55, 185 (196); 59, 302 (316 f.); 59, 172 (211); 63, 266 (286); 66, 337 (354); 68, 272 (284 f.); 69, 209 (218); 72, 51 (63); 73, 301 (316 f.); 75, 246 (267 f.); 75, 284 (296); 77, 84 (107); 78, 179 (192); 80, 1 (24); 80, 269 (279); 82, 209 (230); 84, 133 (148); 85, 36 (54); 85, 226 (234); 85, 238 (247); 85, 248 (259 f.); 87, 287 (316); 91, 148 (164); 93, 213 (235 f.); 95, 193 (216); 96, 205 (210); 97, 12 (26 f.); 98, 49 (60 f.); 102, 197 (214 f.); 103, 172 (184 f.); 106, 181 (193 f.); 107, 186 (196); 110, 141 (163); 110, 304 (324); 114, 196 (248); 115, 276 (309); 116, 202 (225); 117, 126 (138); 119, 59 (83); 121, 317 (349); 126, 112 (137 f.); 128, 1 (37); 135, 90 (115 f. Rn. 67).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
a) Güter in der Drei-Stufen-Lehre Im maßstabsbildenden Apotheken-Urteil aus dem Jahr 1958 entwickelt das Bundesverfassungsgericht die Lehre von den drei Stufen der Beschränkung der Berufsfreiheit. Für Beschränkungen der Berufsausübungsfreiheit soll es genügen, wenn die Zweckmäßigkeit aufgrund vernünftiger Erwägungen des Gemeinwohls gegeben ist.238 Beschränkungen der Berufswahl sollen dagegen nur zulässig sein, „soweit der Schutz besonders wichtiger (‚überragender‘) Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert […]“.239 Die besonders eingriffsintensive Festlegung objektiver Bedingungen für die Berufszulassung, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat, soll nur zulässig sein, wenn sie zur „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ erforderlich ist.240 Wie sich die Erwägungen des Gemeinwohls begrifflich zu Gütern verhalten, wird unten zu untersuchen sein, wenn die Perspektive erweitert wird.241 b) Rechtsgüter und Gemeinschaftsgüter Im Zusammenhang mit der Einschränkung der Berufsfreiheit wird nahezu stets wie im Apotheken-Urteil das Wort „Gemeinschaftsgut“ gebraucht. Der damit sprachlich zum Ausdruck gebrachten Gemeinschaftsbezogenheit entspricht der Befund, dass es meist um Güter geht, deren Träger notwendigerweise die Gemeinschaft insgesamt ist und nicht Individuen. Gesundheit und Leben in Entscheidungen aus den Jahren 2004 und 2008242 sind – soweit ersichtlich – die einzigen der genannten Güter, die auch einem Einzelnen zustehen können. Anders ist dies beispielsweise bei der nicht zuletzt wegen des unklaren normativen Gehalts geradezu berüchtigten Volksgesundheit,243 die angefangen mit dem Apotheken-Urteil zunächst häufig auftritt und gegen Ende der 1980er Jahre durch die Gesundheit der Bevölkerung244 und spezifischere Formulierungen wie die „zuverlässige ärztliche Versorgung der Be völkerung“245 oder die „leistungsfähige und bedarfsgerechte Krankenhaus pflege“246 abgelöst wird. 238 BVerfGE 7,
377 (405 f.), auch LS 6. 377 (405, 407), auch LS 6. 240 BVerfGE 7, 377 (408), auch LS 6. 241 F. II. 242 BVerfGE 110, 141 (163); 126, 112 (140); 128, 1 (37). 243 Vgl. Frenzel, DÖV 2007, S. 243 (243 f.). 244 BVerfGE 78, 179 (192); 85, 248 (259 f.); 107, 186 (196); 121, 317 (349). 245 BVerfGE 66, 337 (360 f.). 246 BVerfGE 82, 209 (230). 239 BVerfGE 7,
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung143
Es liegt nahe, dass der Begriff des Gemeinschaftsguts enger als derjenige des Rechtsguts ist. Der Bezug auf die Gemeinschaft kommt als Spezifikum zum Rechtsgut hinzu. Dies ist unabhängig davon, dass man grundsätzlich einen Gemeinwohlbezug aller als Rechtsgüter erfasster Gegenstände diskutieren kann, wenn man auch individuelle Rechtspositionen als jedenfalls auch im Interesse der Gemeinschaft eingeräumt betrachtet.247 Man kann hier eine negative Abgrenzung vermuten: Gemeinschaftsgüter seien solche Rechtsgüter, die nicht einem einzelnen Träger zugeordnet werden können. Körperliche Unversehrtheit als Rechtsgut kann als Singularität einzelnen Individuen zugeordnet werden, ebenso das Eigentum. Gerade an letzterem zeigt sich, dass dieser Individualbezug die institutionelle Seite – Eigentum als Institution248 – nicht ausschließt. Die Beschränkung der Formel des Bundesverfassungsgerichts auf „Gemeinschaftsgüter“ dürfte nicht rein zufällig sein. Dafür spricht der Vergleich mit der im Lüth-Urteil aus dem gleichen Jahr behandelten Konstellation zur Meinungsäußerungsfreiheit. Dort ist von „Rechtsgütern“ die Rede, die mit grundrechtlichen Positionen zum Ausgleich gebracht werden müssen.249 Die vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfende grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahme war bei „Lüth“ ein Akt der Judikative, der auf private Initiative ergangen war, und der individuell-privaten Interessen zur Durchsetzung verhalf. Im dem Apotheken-Urteil zu Grunde liegenden Fall jedoch wandte sich der Beschwerdeführer gegen eine auf gesetzgeberisches Handeln zurückgehende Beeinträchtigung. Diese hat sich auf eine spezifisch an den Gesetzgeber adressierte Regelungsermächtigung in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG zu stützen. In der Gesetzgebung werden aber regelmäßig nicht konkretisierte und individualisierte Sachverhalte geregelt – für Gesetze mit grundrechtseinschränkender Wirkung verbietet dies Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG250. Die von der abstrakt-generellen Einschränkung der Berufsfreiheit in Gesetzesform verfolgten Zwecke müssen aus diesen Gründen notwendigerweise überindividuell bezogene sein. Dies schließt die Möglichkeit einer Individualisierung nicht aus. So lässt sich der Schutz der Gesundheit der Milchverbraucher251 wohl individualisieren auf den Schutz der Gesundheit des einzelnen Menschen, der Milch erwirbt und konsumiert. Die Gegenüberstellung der grund247 Siehe dazu die Ausführungen zu Binding oben 1. Teil, C. I. 2. a) und zur institutionellen Seite individueller Güter oben C. III. 3. 248 Zum institutionellen Garantiegehalt vgl. Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 14 Rn. 10 ff.; Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch, § 10 Rn. 33; BVerfGE 24, 367 (389); 58, 300 (339). 249 BVerfGE 7, 198 (210). 250 Zur Reichweite dieser Vorschrift und dem Begriff des (zulässigen) Maßnahmegesetzes Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 10 f., 13. 251 BVerfGE 9, 39 (52).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
sätzlich gewährleisteten Berufs(ausübungs)freiheit und der entgegenstehenden Belange in der Situation der Schrankensetzung erfolgt aber auf abstrakterer, begrifflich institutioneller Ebene. Letztere erscheinen aus dieser Per spektive notwendigerweise als Gemeinschaftsgüter. Der systematische Ort in der Lüth-Entscheidung, an dem es auf den Schutz eines Rechtsguts ankommt, ist zwar die Schranke des „allgemeinen Gesetzes“ in Art. 5 Abs. 2 GG und damit im ersten Zugriff auch die Situation einer Konfliktlösung in Gesetzesform. In der zu Grunde liegenden Fallkonstellation war jedoch, wie bereits erwähnt, ein zivilgerichtliches Urteil Gegenstand der Verfassungsbeschwerde. Ursprüngliche Parteien des Rechtsstreits waren zwei Private, es stellte sich die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte252. Diese realisiert sich erst in der konkreten, einzelfallbezogenen Abwägung der Meinungsfreiheit mit den entgegenstehenden Rechtsgütern, die sich in der Auslegung des die Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetzes zu vollziehen hat. Diese konkrete Abwägungssituation hat individualisierte Belange zum Gegenstand – „Rechtsgüter“ der Betroffenen253. Insofern ist es sachlich erklärbar, dass in der Formel zu den Schranken der Berufsfreiheit von „Gemeinschaftsgut“, in derjenigen zu den allgemeinen Gesetzen als Schranken der Meinungsfreiheit mit „Lüth“ als prägende Leitentscheidung dagegen von „Rechtsgut“ die Rede ist. c) Textbezug und funktionale Begründung Die Güter, die als Gesichtspunkte der Beschränkung der Berufsfreiheit in Betracht kommen, werden nur in seltenen Fällen mit einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes in Verbindung gebracht. Eine solche Fundierung erfolgt in der Entscheidung zur Tariftreueregelung in Berlin im Jahr 2005 besonders gründlich für das Gut „Verringerung der Arbeitslosigkeit“, das vermittelt durch den Gedanken des Erwerbs von (Selbst-)Achtung durch Arbeit sogar auf Art. 1 Abs. 1 GG bezogen wird.254 Vergleichsweise naheliegend ist die in 252 s. dazu
nochmals unten A. IV. 3. a). Erklärung der Wortwahl findet eine weitere Stütze in einer neueren Entscheidung, die gesetzliche Vorschriften, die eine gerichtliche Vergütungskontrolle erlauben, als Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG prüft. Dort wird ausdrücklich festgehalten: „Insoweit handelt es sich nicht um einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater, sondern um einen Ausgleich, bei der die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Ausgleich zu bringen ist“ (BVerfGE 134, 204 [223 Rn. 68]). Konsequenterweise ist im Folgenden dann von einer „der Verfassung entsprechenden Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter“ (223 Rn. 69) und nicht von Gemeinschaftsgütern die Rede. 254 BVerfGE 116, 202 (223 f.). 253 Diese
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung145
den Entscheidungen zum Hufbeschlaggesetz 2006 bzw. 2007 erfolgte Stützung des Tierschutzes auf Art. 20a GG.255 Nicht selten werden finanzielle Erwägungen zu Gütern erklärt, wie die „Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung“, „sozial tragbare Kosten der Gesundheitsversorgung“ oder die „sinnvolle und sparsame Verwendung öffentlicher Mittel“.256 Abstrakter gegenüber der Finanzierbarkeit bestimmter staatlicher oder nichtstaatlicher Einrichtungen ist die Funktionsfähigkeit solcher Einrichtungen überhaupt. Auf die Funktionsfähigkeit abstellende Erwägungen erscheinen häufiger für die (Steuer-)Rechtspflege257 und für die Hochschulen258, außerdem für den Taxiverkehr259 und die Bundesbahn260. Durch die Nennung der Funktionsfähigkeit der Universität als Vo raussetzung des Studienbetriebs261 wird die gegenüber dem Individuum als Grundrechtsbeschränkung erscheinende Maßnahme auf der überindividuellen Ebene argumentativ zum Sachzwang zwecks Ermöglichung des grundrechtlich geschützten Verhaltens selbst. Diese institutionell vermittelte Relation besteht für den Taxiverkehr und Rechtspflege in prinzipiell gleicher Art und Weise. Im Falle der Bundesbahn fehlt sie: Die Tätigkeit des straßengebundenen Güterkraftführers hängt nicht von der Funktionsfähigkeit des Bahnverkehrs ab. d) Politikabhängige und absolute Gemeinschaftsgüter Es finden sich im Zusammenhang mit Art. 12 GG auch ausdrückliche Aussagen zum Verhältnis der gesetzgeberischen Tätigkeit zu Rechtsgütern. So unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen absoluten Gemeinschaftsgütern (Volksgesundheit, Sicherung der Energieversorgung) und solchen Gemeinschaftsgütern, die nur auf der Grundlage einer bestimmten politischen Ausrichtung Bestand haben – Gemeinschaftsgütern, die wegen bestimmter Akte der Gesetzgebung bestehen. In der Entscheidung zur Handwerksordnung aus dem Jahr 1961 findet sich für subjektive Berufszulassungsvoraussetzungen die Aussage, dass nicht nur absolute „Gemeinschaftswerte“ (das Gericht verwendet den Güterbegriff hier nur in der Formulierung des Maßstabes aus Art. 12 Abs. 1 GG) schutzwürdig seien, sondern auch auf politisch umstrittene 255 BVerfGE 117,
126 (138); 119, 59 (83). 196 (248) bzw. 126, 112 (143) bzw. 28, 364 (375 f.). 257 BVerfGE 66, 337 (354); 69, 209 (218). 258 BVerfGE 33, 303 (339); 43, 34 (45); 59, 172 (211); 85, 36 (54, 56); 95, 193 (216); 96, 205 (210). 259 BVerfGE 11, 168 (186 f.); 85, 238 (247). 260 BVerfGE 40, 196 (219). 261 BVerfGE 43, 34 (45). 256 BVerfGE 114,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Anschauungen zurückgehende Belange262. Das Bundesverfassungsgericht habe lediglich zu überprüfen, ob diese ausreichend gewichtige Gemeinschaftsgüter „sein können“. Ähnliche Ausführungen finden sich in der 1987 ergangenen Entscheidung zur Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe, dort allerdings in negativer Wendung. Der Möglichkeit eines flexiblen Rückgriffs auf den Arbeitsmarkt spricht das Gericht dort den Rang eines gesetzgeberischen Wertungen entzogenen absoluten Gemeinschaftsguts ab und akzeptiert damit die vom Gesetzgeber mit der Regulierung der Arbeitnehmerüberlassung geförderten Belange als wichtige Gemeinschaftsgüter.263 Für objektive Zulassungsschranken ist der Rechtfertigungsmaßstab strenger, und zwar nach der Formulierung aus dem Apotheken-Urteil schon hinsichtlich der Rechtsgüter, zu deren Schutz ein entsprechender Eingriff in Frage kommt. Das Gericht legt sich in einer anderen Entscheidung aus dem Jahre 1987 nicht fest, ob die „Abgrenzung der Tätigkeitsbereiche von Rechtsanwalt und Rechtsbeistand“ und die „Vermeidung von Konkurrenz von Berufen mit verschiedenen Zielsetzungen“ als überragend wichtige Gemeinschaftsgüter eine solche Berufswahlbeschränkung tragen können, sondern entscheidet auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.264 Es qualifiziert die genannten Belange als „mehr ordnungspolitische Gesichtspunkte“ und lässt damit eine Tendenz zu der Vorstellung erkennen, der Gesetzgeber habe jedenfalls nicht vollständig freie Hand bei der Festlegung der eine Einschränkung von Art. 12 GG tragenden Gemeinschaftsgüter. 9. Eingriff in das Eigentum, Inhaltsregelung Im Rahmen der Abgrenzung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen gegenüber der Enteignung findet sich eine Aussage über die Träger von Gemeinschaftsgütern, die derjenigen aus dem Kontext des Rechts zur Kriegsdienstverweigerung ähnlich ist.265 Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass der Staat (zum Zwecke des Schutzes der öffentlichen Gesundheit) „gegen das Eigentum nur [vorgehe], um Rechtsgüter der Gemeinschaft – und damit letztlich auch des Eigentümers selbst – vor Gefahren zu schützen, die vom Eigentum ausgehen.“266 Wie im oben genannten Fall kann damit nicht der Träger im Sinne eines tatsächlich Wahrnehmungsbefugten gemeint sein. 262 BVerfGE 13, 97 (107). Dazu bereits Schneider, Güterabwägung, S. 126 f. Vgl. auch die Unterscheidung von zur Grundrechtseinschränkung tauglichen Prinzipien mit Verfassungsrang ersten und zweiten Grades bei Alexy, Theorie, S. 118 f. 263 BVerfGE 77, 84 (115). 264 BVerfGE 75, 284 (297). 265 Oben D. I. 3. 266 BVerfGE 20, 351 (359).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung147
Dieser müsste auch zur Disposition über das Gut befugt sein und könnte dann beispielsweise im entschiedenen Fall zu Gunsten seines Eigentums auf die ihm zugeordnete „öffentliche Gesundheit“ verzichten. Dann wäre aber die Rede von der „öffentlichen“ Gesundheit weitgehend sinnentleert. In einer bedeutend jüngeren Entscheidung erscheinen Rechtsgüter nochmals als den Interessen des Eigentümers entgegenstehende Belange, ohne dass eine entsprechende Formulierung zur Trägerschaft der Gemeinschaftsgüter beigefügt ist267. 10. Zusammenfassung Rechtsgüter erscheinen in zahlreichen Fällen als Gesichtspunkte der Einschränkung von Grundrechten mit Beschränkungs- oder Regelungsvorbehalt. Soweit ersichtlich, kommen sie in dieser Funktion nicht im Zusammenhang mit Art. 11 und Art. 13 GG sowie mit Leben und körperlicher Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vor. Es gibt erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Nähe der als Güter benannten Gegenstände zum Verfassungstext. Manche Güter entstammen diesem unmittelbar, andere können ohne Weiteres auf ihn bezogen werden, wieder andere bedürfen einer aufwändigeren Ableitung oder sind explizit für die politische Gestaltung freigestellt.
II. Einschränkung von Freiheitsrechten ohne Vorbehalt 1. Schranken der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG Die Entscheidungen zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lassen gesteigerte Anforderungen an die Darlegung der eine Rechtfertigung tragenden Güter erkennen. Dies kann mit der vorbehaltlosen Gewährleistung des Grundrechts erklärt werden. Das Bundesverfassungsgericht lässt den allgemeinen Verweis auf „für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendige Güter“ im Jahr 1971 nicht genügen und stellt fest, eine Lösung sei nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung zu finden.268 Nach diesen Vorgaben judiziert das Gericht 2003 im Kopftuch-Urteil insofern geradezu mustergültig und bezieht die der Religionsausübung entgegenstehenden Belange allesamt auf be267 BVerfGE 128, 1 (81): „Eigentum und Berufsfreiheit, menschliches Leben, Gesundheit und Umwelt.“ 268 BVerfGE 32, 98 (108). Ähnlich wird das wiederholt in BVerfGE 33, 23 (229) hinsichtlich der Verweigerung der Eidesleistung aus religiösen Gründen; dort ist von einer „unbestimmte[n] Güterabwägungsklausel“ die Rede.
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
stimmte Vorschriften des Grundgesetzes.269 Im Urteil zum Berliner Ladenschlussgesetz ist dieser Zusammenhang wiederum gelockert. Zwar werden die Rechtsgüter, mit deren Schutz Ausnahmen von der Feiertagsruhe begründet werden können, im Einzelnen ausgeführt; eine ausdrückliche Anknüpfung an Vorschriften des Grundgesetzes erfolgt jedoch nicht.270 Auch hier kann wohl die Normstruktur als Erklärung dienen. Zwar bildet die Gewährleistung der Religionsfreiheit den subjektiv-rechtlichen Rahmen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Sachlich kommt es aber auf die insoweit als Konkretisierung verstandenen, über Art. 140 GG rezipierten Artikel des Weimarer Religionsverfassungsrechts an, insbesondere auf Art. 139 WRV. Auf die umstrittene, vom Bundesverfassungsgericht positiv entschiedene Frage, nach der sich aus diesem Artikel ergebenden subjektiven Berechtigung (jedenfalls der korporierten Religionsgemeinschaften271) kommt es hierbei nicht wesentlich an,272 weil das Bundesverfassungsgericht diese auf Art. 4 Abs. 1 GG stützt. Eindeutig ist aber Art. 139 WRV für sich keine Grundrechtsgewährleistung ohne Gesetzesvorbehalt. Die Vorschrift steht in Zusammenhang mit den anderen aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Normen und beinhaltet einen Schutzauftrag an den Gesetzgeber.273 Dies impliziert einen gewissen Gestaltungsspielraum. Es bedarf damit hier keines gesonderten (textlichen) verfassungsrechtlichen Ansatzpunktes. 2. Schranken der Rechte aus Art. 5 Abs. 3 GG Auch als Gesichtspunkte der Einschränkung der Kunst- und der Wissenschaftsfreiheit erscheinen Rechtsgüter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.274 Dieses stellt hier vergleichsweise strenge Anforderungen an die Beziehung zwischen den zur Schrankenbegründung herangezogenen Gütern und dem Text der Verfassung, indem es namentlich eine Feststellung der „konkret verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter“ anhand einzel269 BVerfGE 108, 282 (299); die Anknüpfung an einzelne Grundgesetzbestimmungen fordert ausdrücklich E 77, 240 (250); dort war die ebenfalls vorbehaltlos gewährleistete Freiheit der Kunst betroffen. 270 BVerfGE 125, 39 (86 f.). 271 Vgl. die Formulierung in BVerfGE 125, 39 (80). 272 Mit unterschiedlicher dogmatischer Fundierung für eine subjektive Berechtigung etwa Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 139 WRV Rn. 18 ff. (subjektiv-rechtlicher Gehalt der Einrichtungsgarantie und subjektiv-rechtlicher Charakter der ga rantierten Institution selbst); v. Campenhausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 139 WRV Rn. 15 f. (Schutzpflichtendimension) – dagegen Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 139 WRV (2003) Rn. 42. 273 BVerfGE 125, 39 (85). 274 Kunst: BVerfGE 67, 213 (228); 77, 240 (255); 81, 278 (292 ff.); 83, 130 (142); 119, 1 (23); Wissenschaft: BVerfGE 90, 1 (12 f.); 128, 1 (40, 57 f.).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung149
ner Grundgesetzbestimmungen für erforderlich erachtet.275 Im Ergebnis bedeutet dies, dass auch eine sorgfältigere Begründung der Notwendigkeit eines Eingriffs erforderlich wird. Wenn fundamentale Güter wie der Bestand oder die „für den inneren Frieden notwendige Autorität“ des Staates in die Begründung eingeführt werden, findet ein Beleg am Verfassungstext nicht immer statt, so in der Entscheidung zum Schutz der Bundesflagge als Symbol aus dem Jahr 1990.276 In der Entscheidung zum Herrnburger Bericht aus dem Jahr 1987 ist umgekehrt nicht der Schutz staatlicher Symbole, sondern der Schutz vor verfassungswidrigen Symbolen Thema. Hier greift das Gericht zur Begründung der entsprechenden Verfassungsgüter auf die Vorschriften Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs. 2 und 18 GG zurück.277 Allerdings ist der Begründungsweg bis zur Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen von den verschiedenen auf diesem Gedanken aufbauenden Normen kürzer als derjenige zur positiven Integrationswirkung von Symbolen im Sinne der Verfassung. In den Entscheidungen zur Indizierung des Mutzenbacher-Romans und zum Esra-Roman erscheint jeweils das Rechtsgut „allgemeines Persönlichkeitsrecht“. Dabei wird besonders der Menschenwürdegehalt dieses Guts als für den hohen Rang maßgeblicher Faktor betont.278 Allerdings ist bei „Mutzenbacher“ das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein den Jugendschutz tragender Belang und insofern überindividuell bezogen. In der Esra-Entscheidung dagegen geht es um das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer bestimmten Person, die gestützt auf dieses Rechtsgut zivilrechtliche Unterlassungsansprüche durchgesetzt hatte. 3. Schranken der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG Auch bei der Koalitionsfreiheit erscheinen Rechtsgüter in einem Zusammenhang, in dem Beschränkungen zu begründen sind, ohne dass ein geschriebener Schrankenvorbehalt vorliegt. Das Bundesverfassungsgericht entwickelt hier die Formel vom Kernbereichsschutz. Der gewährleistete Kernbereich koalitionärer Betätigung sei nicht betroffen, wenn eine Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit in Form von Einschränkungen zum Schutze anderer Rechtsgüter vorliege, die von der Sache her geboten seien.279 Es erkennt 275 BVerfGE 77,
240 (255). 278 (292 ff.). Art. 22 GG wird als Anknüpfungspunkt des Flaggenschutzes verworfen. 277 BVerfGE 77, 240 (255). 278 BVerfGE 83, 130 (142); 119, 1 (23 f.). 279 BVerfGE 28, 295 (303, 306); 50, 290 (369); 57, 220 (245 f.); 58, 233 (247); 77, 1 (63). 276 BVerfGE 81,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
ausdrücklich den Frieden in der Dienststelle und die Neutralität des Personalrats als solche Güter an.280 Als Beispiel genannt findet sich zudem andernorts der ungestörte Arbeitsgang.281 In späteren Entscheidungen verschiebt sich die Formulierung dahingehend, dass von „verfassungsrechtlich geschützten“ Gütern die Rede ist, um deren willen die Koalitionsfreiheit eingeschränkt werden könne.282 Damit einher geht eine tendenziell aufwändigere Begründung der verfassungsrechtlichen Bedeutung dieser Belange. Das Bundes verfassungsgericht begründet beispielsweise das Gewicht des Bestands der deutschen Handelsflotte in großer Ausführlichkeit und unter Rückführung auf Belange unter anderem der Sicherheit, des Umweltschutzes und des sozialversicherungsrechtlichen Status der Arbeitnehmer.283 Die „Leistungs- und Funktionsfähigkeit von Hochschulen und Forschungseinrichtungen“ wird auf Art. 5 Abs. 3 GG als objektive Wertentscheidung gestützt.284 4. Zusammenfassung Auch als Gesichtspunkte der Einschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte kommen Rechtsgüter in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht selten vor. Dabei werden an die Begründung der betreffenden Güter anhand verfassungsrechtlicher Wertungen tendenziell gesteigerte Anforderungen gestellt und es erfolgt häufig eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Verfassungstext.
III. Andere Beschränkungen in Grundrechten 1. Rechtfertigung von Ungleichbehandlung Nachdem mit der sogenannten „neuen Formel“ zur Prüfung des Gleichheitssatzes wenigstens gewisse strukturelle Parallelen zur Prüfung des Übermaßverbots bei den Freiheitsgrundrechten bestehen,285 überrascht es nicht, 280 BVerfGE 28,
295 (307) bzw. 57, 220 (245 f.). 220 (246). 282 BVerfGE 92, 26 (41); 92, 365 (403); 93, 352 (359); 94, 268 (284). Einordnung der Kernbereichsformel in die neue – für kontinuierlich erklärte – Terminologie bei BVerfGE 93, 353 (358 f.). 283 BVerfGE 92, 26 (42 f.). 284 BVerfGE 94, 268 (284). 285 Gemeinsam ist den Konstellationen jedenfalls, dass eine Abwägung stattzufinden hat. Im Einzelne ist das Verhältnis umstritten. Vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 26 ff.; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 813 ff.; zur im Jahr 1980 geprägten „neuen Formel“ s. nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3 (1994) Rn. 6 und ff. und Heun, a. a. O. Rn. 21 f. 281 BVerfGE 57,
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung151
dass auch in jenen Konstellationen gelegentlich von Rechtsgütern als Gesichtspunkten der Rechtfertigung die Rede ist. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG ist von wichtigen Gemeinschaftsgütern oder wichtigen Rechtsgütern zu lesen,286 wogegen Ausnahmen vom kategorischen Differenzierungsverbot287 des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zum Schutz von Gütern von Verfassungsrang in Frage kommen sollen.288 Letztere Formulierung steht in Zusammenhang damit, dass eine solche Ausnahme eines Anknüpfungspunkts im Grundgesetz bedarf.289 In einer der Entscheidungen zum allgemeinen Gleichheitssatz erfolgt eine vergleichsweise ausführliche, auf Grundgesetznormen zurückführende Gründung der Einrichtung von Kindergärten auf die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), die Förderungspflicht für die Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und die Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG).290 2. Rechtsgüter und Verfahrensgrundrechte Vereinzelt stehen Rechtsgüter in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen auch verfahrensrechtlichen Gewährleistungen entgegen. Im Zusammenhang mit dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch führt das Gericht aus, vom rechtsstaatlichen Grundsatz der gerichtlichen Durchsetzbarkeit grundrechtlicher Garantien könne die Verfassung „nur im Interesse des Schutzes besonders hochrangiger Rechtsgüter“ Ausnahmen vorsehen, wie dies in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG geschehen sei291. Diese Verwirklichung von Rechts286 BVerfGE 97, 332 (348); 129, 208 (266). In der letztgenannten Entscheidung wird bei der Prüfung der Privilegierung bestimmter Berufsgruppen durch Zeugnisverweigerungsrechte das Gut der Wahrheitserforschung im Strafprozess genau genommen nur als Gegengrund genannt, weil der Gesetzgeber es namentlich gegenüber der Presse- und Rundfunkfreiheit nicht generell zurücktreten lassen muss und darf. Damit rechtfertigt Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG die Einräumung eines absoluten Zeugnisverweigerungsrechts nicht gleichermaßen, wie dies beispielsweise für Geistliche hinsichtlich Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und des Menschenwürdebezugs des Seelsorgeverhältnisses der Fall ist (263 ff.). 287 Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3 (1996) Rn. 1; vgl. Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 107: „absolutes Differenzierungsverbot“; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 3 Abs. 3: „strenge Differenzierungsverbote“. Zur Diskussion um ein Verständnis als Anknüpfungs- oder Begründungsverbot Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 125–131 und Huster, Rechte, S. 313 ff. 288 BVerfGE 121, 241 (257). 289 Vgl. BVerfGE 92, 91 (109); 114, 357 (364); Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 132. 290 BVerfGE 97, 332 (347 f.). 291 BVerfGE 107, 395 (407).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
gütern erfolgte hier durch verfassungsändernde Gesetzgebung. Eine Konstellation der Berücksichtigung und Verwirklichung verschiedener Rechtsgüter im konkreten Einzelfall betrifft dagegen das Auswahlermessen des Insolvenz richters bei der Bestellung eines Insolvenzverwalters im konkreten Einzelfall.292 Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolle sieht das Gericht in dieser „multipolaren Konfliktlage“ insbesondere als durch Beschleunigungsinteressen gerechtfertigt an. 3. Abstrakt zur Grundrechtseinschränkung Einige Aussagen, die den Rechtsgutsbegriff beinhalten, betreffen auf abstrakter Ebene das, was sich bei der Prüfung der Rechtfertigung der Einschränkung von Grundrechten in concreto vollzieht: Grundrechtliche Gewährleistungen werden in Bezug auf andere Normen der Verfassung relativiert. So formuliert das Gericht im Beschluss zum Kontaktsperregesetz aus dem Jahr 1978: „Das Grundgesetz verwehrt dem Staat nicht schlechthin, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter auf Kosten anderer Güter, deren Bestand ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgt ist, zu bewahren, mag es sich bei solchen Rechtsgütern um Grundrechte oder andere, verfassungsrechtlichen Schutz genießende Belange handeln.“293 Während der dogmatische Rahmen dort die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen nach Maßgabe der jeweils einschlägigen Schrankenvorhalte unter Rückgriff auf die der grundrechtlichen Gewährleistung entgegenstehenden Rechtsgüter ist, betreffen ähnliche Formulierungen im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung die Ermittlung des Schutzgehalts der Menschenwürdegarantie.294 Technisch-dogmatisch kann wegen der nach herrschender Auffassung absoluten Garantie der Menschenwürde eine Rechtfertigung einer Einschränkung derselben nicht verhandelt werden.295 Nochmals anders ist der Zusammenhang einer vergleichbaren Aussage in „Solange II“, die geltend macht, auch die Grundrechtsbestimmungen stünden im Gefüge der Verfassung als normativer Sinneinheit und seien „im Einklang und in Abstimmung mit anderen von der Verfassung normierten oder von ihr anerkannten Rechtsgütern auszulegen und anzuwenden.“296 Als solche Güter werden sogleich „das Bekenntnis des 292 BVerfGE 116,
1 (16). 24 (55 f.); s. schon oben C. III. 1. a). 294 BVerfGE 109, 133 (151); 131, 268 (288). 295 Zur dieser ganz herrschende Auffassung s. nur Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 46, 130 m. w. N.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 16; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 11; für grundsätzliche Abwägungsoffenheit s. etwa Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 55 Rn. 75 ff. 296 BVerfGE 73, 339 (386). 293 BVerfGE 49,
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung153
Grundgesetzes zu einem vereinten Europa und zu den über Art. 24 Abs. 1 GG ermöglichten besonderen Formen supranationaler Zusammenarbeit“ benannt. Eingebettet ist dies in die rechtliche Fragestellung des nationalen Grundrechtsschutzes gegen supranationale Hoheitsakte. 4. Zusammenfassung Auch als Belange, die eine Rechtfertigung im Bereich des Art. 3 Abs. 1 und 2 GG stützen können, die Einschränkungen von justiziellen Gewährleistungen erlauben und allgemein als Gesichtspunkte der Freiheitseinschränkung werden Rechtsgüter in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts gebraucht. Strukturelle Besonderheiten ergeben sich dabei nicht. Insbesondere erfolgt die Verwendung im Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und den Differenzierungsverboten des Art. 3 Abs. 2 GG prinzipiell analog zur Verwendung im freiheitsrechtlichen Zusammenhang.
IV. Strukturen der Rechtfertigungsgüter Werden Güter in den Entscheidungen des Verfassungsgerichts als Gesichtspunkte der Einschränkung von grundrechtlicher Freiheit gebraucht, so verweist diese Opposition darauf, dass grundrechtliche Freiheit keine absolute Freiheit, sondern Freiheit prima facie ist.297 Beschränkungen durch staatliche Maßnahmen können unter bestimmten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gerechtfertigt werden. 1. Nähe der Güter zum Verfassungstext Die Möglichkeit, der grundrechtlichen Freiheit Schranken zu setzen, ist verfassungsrechtlich von verschiedenen Voraussetzungen abhängig, je nachdem, ob der Grundrechtsbestimmung ein Schrankenvorbehalt beigegeben ist und dieser gegebenenfalls tatbestandlich auf die beabsichtigte Beschränkung passt, oder ob dies nicht der Fall ist. Ist ein Schrankenvorbehalt einschlägig, vollzieht sich die Beurteilung der Zulässigkeit der Beschränkung zu einem wesentlichen Teil in der Auslegung des Schrankenvorbehalts und damit, weil er deren Teil ist, in der Auslegung der die grundrechtliche Gewährleistung enthaltenden Vorschrift selbst. Wenn also bei Schranken der mit Gesetzesvorbehalt versehenen Grundrechte die Rechtfertigungsgüter in der Mehrzahl der Fälle nicht ausdrücklich auf andere Bestimmungen der Verfassung gestützt werden, hat dies einen im Verfassungsrecht des Grundgesetzes selbst liegen297 Alexy,
Theorie, S. 118, 253.
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
den Grund: es bedarf dann schlicht keines weiteren Anhaltspunktes im Normtext.298 Anders ist das grundsätzlich bei der Einschränkung von ohne Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Grundrechten. Ist die Einschränkung gerade nicht ausdrücklich vorgesehen, benötigt sie eine Begründung, die sich auf gleichrangigen Normtext stützen kann. Als Gesichtspunkte der Rechtfertigung gebrauchte Rechtsgüter müssen dann in Bezug zu bestimmten Vorschriften des Grundgesetzes gesetzt werden.299 Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht dies in der 1971 ergangenen Entscheidung zur Religionsfreiheit und der Auslegung des Straftatbestands der unterlassenen Hilfeleistung eingefordert.300 Meist hat es diesen Anspruch auch eingelöst, wenn Schranken vorbehaltloser Grundrechte zu prüfen waren, oder solche Schranken, die außerhalb eines qualifizierten Vorbehalts zu setzen waren.301 Eine im Zeitverlauf deutliche Zunahme an Präzision dieser Ableitung lässt sich bei den Einschränkungen der Koalitionsfreiheit feststellen.302 Gleichfalls eine unterschiedliche Beziehung zu den im Verfassungstext fixierten Vorgaben erscheint im Bereich von Art. 12 GG. Dort unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen „absoluten“ Rechtsgütern und solchen, die von rechtlich jedenfalls in einem bestimmten Bereich nicht determinierten politischen Entscheidungen abhängig sind.303 Zumindest für die Rechtfertigung von Berufsausübungsregelungen und subjektiven Zulassungshürden sollen diese Güter ausreichen, die man als „politische“ bezeichnen kann. Die Unterscheidung lässt sich auch aus der Perspektive des oben304 298 Dennoch sind die als legitime Gesichtspunkte der Einschränkung gefundenen Güter gerade wegen des tatbestandlichen Bezugs zur Schrankenvorschrift keineswegs „verfassungsmäßig nicht geschützt[e]“ Güter. Die Bemerkung bei Hesse, Grundzüge, Rn. 72 Fn. 31, man dürfe diesen Belangen nicht unter Überspielung der Verfassung Vorrang vor grundrechtlicher Freiheit einräumen, bleibt daher etwas dunkel. 299 Vgl. den Entwurf eines allgemeinen Verfassungsgütervorbehalts für vorbehaltlose Gewährleistungen bei Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 171 ff. (zur Verankerung im Verfassungstext 176). Kritisch in dem Sinne, dass sich in der Ableitung von Rechtfertigungsgütern aus dem Verfassungstext „bisweilen nicht ohne interpretatorische Gewaltsamkeit“ letztlich doch ein latent vorhandenes Verständnis des Gemeinwohls als Grundrechtsschranke verwirkliche, Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 71 Rn. 62. Kritisch zur allzu leichtfüßigen Hochstufung von Wertungen auf Verfassungsebene Uerpmann, Interesse, S. 297. 300 Oben D. II. 1. 301 Zum Vorbehalt zugunsten eines Verfassungsguts bei Grundrechten mit qualifiziertem Vorbehalt mit beschränktem Anwendungsbereich vgl. Bumke, Grundrechtsvorbehalt, S. 175. 302 Oben D. II. 3. 303 Oben D. I. 8. d). 304 s. 1. Teil C. I. 6. b).
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung155
angewandten Schemas von Wertungsakt, Wertungssubjekt und Wertkriterium betrachten: Bei den „absoluten“ Gütern überwiegt das Wertungskriterium, das originärer gerichtlicher Kognition unterliegt. Bei den „politischen“ Gütern kommt dagegen dem vom Wertungssubjekt Gesetzgeber vorgenommenen Wertungsakt eine gegenüber dem Wertkriterium, das nur noch als gelockerter Kontrollmaßstab herangezogen wird, gesteigerte Bedeutung zu. 2. Bezug zwischen Grundrechts- und Rechtfertigungsgut Unterschiedlich verhält sich in verschiedenen Fällen des Gebrauchs auch die spezifische inhaltliche Beziehung des zur Schrankenbegründung dienenden Guts zu dem beschränkten Grundrecht. In der Formel zur Allgemeinheit des Gesetzes im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG wird auf ein „schlechthin“ geschütztes Rechtsgut abgestellt.305 Es muss sich demnach um ein Rechtsgut handeln, das gegen jegliche Art negativer Einwirkung gesichert ist und nicht nur gegen Beeinträchtigungen, die aus Handlungen erwachsen, die dem Schutzbereich eines der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG unterfallen. Das Gut ist hier ausdrücklich aus dem spezifischen normativen Kontext der Grundrechtsbestimmung herausgelöst. Andererseits finden sich namentlich bei den Schranken der Berufsfreiheit Güter wie die „Funktionsfähigkeit der Hochschulen“, die „leistungsfähige medizinische Versorgung“ oder die „Funktionsfähigkeit des Taxigewerbes“.306 Diese Güter sind in der Sache spezifisch auf die Berufsfreiheit gemünzt. Wenn man die Berufsfreiheit in ihrem begrifflich institutionellen Aspekt betrachtet, so ließe sich sagen, dass sie durch die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit von Einrichtungen der Berufsausübung oder zur Berufsausbildung berührt wird. Durch die Argumentation über die Funktionsfähigkeit wird die institutionelle Seite des Rechtsguts Berufsfreiheit materialisiert. Dem entspricht, dass sich gerade im Bereich der Berufsausbildung aus den Grundrechten derivative Teilhaberechte an staatlichen Leistungen ergeben, die neben die abwehrrechtliche Dimension treten.307 Die inhaltlich angereicherte institutionelle Seite des Rechtsguts bildet die Grundlage der Einschränkung bezogen auf das individuelle Grundrechtsgut.
305 Vgl.
oben D. I. 4. a). oben D. I. 8. c). 307 Vgl. nur Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 162 ff.; Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 160. 306 s.
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
3. Rechtfertigungsgüter als Gemeinschaftsgüter a) Allgemeinheit der Güter und Drittwirkungskonstellation Werden mit Gütern Grundrechtsbeschränkungen durch Träger hoheitlicher Gewalt begründet, so treten in ihnen grundsätzlich Belange der Gemeinschaft denjenigen des Grundrechtsträgers gegenüber. Dem entspricht, dass die Güter im begrifflich institutionellen Aspekt erscheinen.308 Dies ist zudem in den Fällen ganz eindeutig, in denen von „Gemeinschaftsgütern“ die Rede ist, wie typischerweise bei Art. 12 GG.309 Die Funktionsfähigkeit der Universität und des Taxigewerbes oder die Volksgesundheit sind ebenso wenig singulär und unvertretbar einem Individuum zugeordnet, wie sie in der prozessualen Situation von einem einzelnen Grundrechtsträger geltend gemacht werden. Anders ist dies in der Konstellation, die der Lüth-Entscheidung zu Grunde liegt, und die in den Entscheidungen zu Art. 5 Abs. 1 GG häufig wiederkehrt, wenn grundrechtsdogmatisch ein Fall der Drittwirkung vorliegt. Unabhängig von der immer noch umstrittenen Frage, wie die korrekte dogmatische Konstruktion zur Lösung der Drittwirkungsfälle zu wählen ist,310 lässt sich Folgendes sagen: Hier stehen sich nicht bipolar Staat und Grundrechtsträger gegenüber. In einem tripolaren Verhältnis stehen sich zwar zunächst zwei Rechtssubjekte gegenüber, die beide Grundrechtsträger sind. Zusätzlich steht sie aber außerdem jeweils in einem Verhältnis zum grundrechtsverpflichteten und kraft seines Justizsystems und Gewaltmonopols als Medium der Austragung des originären Konflikts fungierenden Staat. Also können nun Rechtsgüter, die die Freiheit des einen individuellen Beteiligten einschränken, Rechtsgüter sein, die dem anderen individuell zustehen. So ist es ganz offensichtlich bei „Lüth“, wenn das Bundesverfassungsgericht formuliert, der Zivilrichter habe „die Bedeutung des Grundrechts gegenüber dem Wert des im ‚allgemeinen Gesetz‘ geschützten Rechtsguts für den durch die Äußerung angeblich Verletzten abzuwägen.“311 Das im allgemeinen Gesetz von der begrifflich institutionellen Seite geschützte Rechtsgut wird als singuläres Gut zum Gegenstand der Abwägung. Es geht um einen Belang, der rechtlich einem Einzelnen zugewiesen ist, und der hinsichtlich Wohl und Wehe nicht mit 308 Vgl.
oben C. III. 3. oben D. I. 8. b). 310 s. nur Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 (2005) Rn. 59 ff. – mittelbare Drittwirkung als Schutzpflichtproblematik (Rn. 64 f.); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 303 ff. – grds. objektiv-rechtliche Wirkung über das in den Grundrechten zum Ausdruck gekommene Menschenbild (Rn. 314 ff.); vgl. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 98 ff.; v. Münch/Kunig, in: dies. (Hrsg.), GG, Vorb Art. 1–19 Rn. 17. 311 BVerfGE 7, 198 (212). 309 Vgl.
D. Rechtsgüter und Grundrechtseinschränkung157
anderen Belangen „verrechnet“ werden kann, die nicht diesem Einzelnen zugewiesen sind. b) Grundrechtsträger Träger des Rechtfertigungsguts? Der Zusammenhang zwischen begrifflich institutionellem und singulärem Aspekt wird argumentativ materialisiert, wenn das Bundesverfassungsgericht in bemerkenswerter Weise die zur Grundrechtseinschränkung herangezogenen Güter als solche des von dieser Beschränkung Betroffenen selbst qualifiziert. Dies geschieht beim Recht der Kriegsdienstverweigerung und der Eigentumsgarantie.312 Weder die durch Wehrdienst verteidigte Freiheit und Menschenwürde noch der allgemeine Schutz vor Gesundheitsgefahren durch die Tötung eines tollwutverdächtigen Hundes lassen sich als individuelle Güter beschreiben. Wollte man die zu Grunde liegenden Güter in der Singularität begreifen, müsste man deren staatliche Wahrnehmung durch Grundrechtseinschränkung wohl als Paternalismus betrachten. Dies begegnet jedoch in beiden Fällen gewissen Schwierigkeiten. Es setzt unter anderem voraus, dass die individuell-persönliche Freiheit und Menschenwürde durch die Verpflichtung zum Kriegsdienst besser zu schützen ist, als durch die Freiheit davon. Für den Schutz der individuellen Gesundheit des Hundeeigentümers wird es mildere und wenigstens gleich wirksame Mittel geben, die man bei konsequent paternalistischer Argumentation zumindest hätte diskutieren müssen. Es liegt daher wohl näher, die Aussagen als Verweis auf die grundlegende Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums zu verstehen, aus der sich eine wie auch immer zu verstehende Partizipation an den allgemein gewährleisteten Gütern ergibt. Aus der Aussage dürfte ein materiell institutionelles Grundrechtsverständnis sprechen.313 Soweit ersichtlich finden sich vergleichbare Formulierungen in neueren Entscheidungen nicht mehr.314 c) Komponenten der freiheitlichen Grundordnung Die besondere Beziehung zwischen den einzuschränkenden Grundrechtsgütern Meinungsäußerungs-, Presse- und Informationsfreiheit sowie dem Recht312 Vgl.
oben D. I. 3. bzw. D. I. 9. Ausführungen zur Rechtfertigung der Grundrechtsbeschränkung im Interesse des Grundrechtsberechtigten selbst bei Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 24 ff. und vgl. allgemein nur Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 (1532): „Das Gesetz wie jede rechtsnormative Prägung erscheint nicht primär als Beschränkung und Eingriff in die grundrechtliche Freiheit, sondern eher als Ermöglichung und Verwirklichung dieser Freiheit.“ 314 Vgl. BVerfGE 128, 1 (81) zu Art. 14 Abs. 1 GG. 313 s. die
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
fertigungsgut freiheitliche demokratische Grundordnung315 ist nicht unwesentlich vom begrifflich institutionellen Aspekt dieser Güter bestimmt. Auf der Seite des einzuschränkenden Grundrechts erscheinen sie jeweils in ihrem individuellen Aspekt, als singuläre Freiheit des Grundrechtsträgers. Als begrifflich institutionelle Güter sind sie jedoch eine der Komponenten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung,316 die die Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkung erlauben soll. Die individuell hinzunehmende Freiheitsminderung beeinträchtigt schon wegen der erforderlichen gesetzlichen Ermächtigung notwendigerweise auch die institutionelle Dimension des Guts und damit das Rechtfertigungsgut selbst.317 Es besteht damit ein Konflikt nicht allein zwischen dem singulären und dem institutionellen Aspekt des Schutzguts,318 sondern auch zwischen verschiedenen institutionellen Gehalten.
E. Rechtsgüter in weiteren Konstellationen I. Freiheit und Gleichheit des Mandats Die in Art. 38 Abs. 1 GG den Mitgliedern des Bundestags gewährleistete Freiheit und Gleichheit des Mandats wird in einer Reihe von Entscheidungen strukturanalog zu den Grundrechtsgewährleistungen als zum Schutz anderer Rechtsgüter von Verfassungsrang einschränkbar behandelt.319 Dabei wird als solches Gut in der Mehrzahl der Fälle die Repräsentations- und Funktionsfähigkeit des Bundestags genannt.320 Konkretisierte Belange werden dann auf 315 Vgl.
oben D. I. 4. b). Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung s. BVerfGE 2, 1 (12 f.), Gusy, AöR 105 (1980), S. 279 ff.; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 44 f. Zur zentralen Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte für den Prozess der demokratischen Gemeinwohlkonstruktion vgl. Hofmann, Annäherungen, S. 25 (30 f.). 317 Siehe dazu die abstrahierter Fassung dieser Konstellation bei Isensee, in: ders./ Kirchhof, Handbuch IV, 3. Aufl., § 71 Rn. 61: Da das Individualgrundrecht „integrales Element des Gemeinwohls“ sei, werde das „überindividuelle Rechtsgut, das die Grundrechtsbeschränkung rechtfertigen kann, […] durch das zu beschränkende Grundrecht mitgeprägt“. Zur Problematik der Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung durch Beeinträchtigung der Freiheitlichkeit Gusy, AöR 105 (1980), S. 279 (280) m. w. N. 318 Vgl. Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), Grundrechte IV, § 102 Rn. 15: „sich in der Schutzgewährung auswirkender Zielkonflikt zweier Schutzgüter von Art. 5 Abs. 1 GG“. Ähnlich Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rn. 40. 319 Freiheit des Mandats: BVerfGE 99, 19 (32); 118, 277 (324); 134, 141 (179 Rn. 111); Gleichheit des Mandats: E 130, 318 (359); 131, 230 (235 f.). 320 BVerfGE 99, 19 (32); 118, 277 (324); 130, 318 (359, nur „Funktionsfähigkeit“); 131, 230 (235 f., nur „Funktionsfähigkeit“); 134, 141 (179 Rn. 111). 316 Zum
E. Rechtsgüter in weiteren Konstellationen159
dieses Gut bezogen, wie die „Integrität und politische Vertrauenswürdigkeit des Bundestages“321 oder Gesichtspunkte der Vertraulichkeit und Eilbedürftigkeit.322 Die Funktionsfähigkeit des Bundestags erscheint andererseits auch als durch den Bundestag im Organstreit rügefähiges Rechtsgut von Verfassungsrang.323 Das Gericht nimmt dabei einen Zusammenhang zwischen dem Status des einzelnen Abgeordneten und der Funktionsfähigkeit des Gesamtorgans an.324
II. Gefahrenabwehr und Genehmigungsrecht Die staatliche Tätigkeit zur Gefahrenabwehr wird auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einige Male als (präventiver) Rechtsgüterschutz aufgefasst.325 Der Sache nach liegen dabei Konstellationen vor, in denen die Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter Grund für Grundrechtseingriffe sein kann. Die Benennung von Rechtsgütern soll zur näheren Bestimmung einer Gefahr dienen, wenn hinsichtlich der Darlegungslast für im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren zu erhebende Einwendungen in einem Beschluss aus dem Jahr 1982 zu lesen ist, es müsse von Verfassung wegen genügen, wenn diese „in groben Zügen erkennen lassen, welche Rechtsgüter als gefährdet angesehen und welche Beeinträchtigungen befürchtet werden.“326 Anders als in der jüngeren Rechtsprechung zu den Anforderungen an sicherheitsrechtliche Eingriffsgrundlagen327 ist es hier nicht der Gesetzgeber, der eine Gefahr durch Benennung von Rechtsgütern formuliert, sondern derjenige, der durch Einwendungen im Genehmigungsverfahren Rechtsgüterschutz erlangen möchte.
III. Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum Von Rechtsgütern liest man auch in einer von vielen Entscheidungen verwendeten Formel des Bundesverfassungsgerichts zum Einschätzungs- und 321 BVerfGE 99,
19 (32). 318 (359). 323 BVerfGE 134, 11 (199 Rn. 178). 324 BVerfGE 134, 11 (199 f. Rn. 178). 325 BVerfGE 14, 245 (253); 92, 191 (200); 110, 33 (56); 122, 120 (141). Zum Begriff des Rechtsguts im Gefahrenabwehrrecht s. bereits oben 1. Teil B. I. 326 BVerfGE 61, 82 (117). 327 Zu den Anforderungen der jüngeren Rechtsprechung an die sicherheitsrechtliche Gesetzgebung s. insoweit oben D. I. 7. Fn. 234. 322 BVerfGE 130,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Entscheidungsspielraum, der dem Gesetzgeber zustehe.328 Im 1979 ergangenen Mitbestimmungsurteil lautet sie wie folgt: „Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter.“329 Die Einschätzungsprärogative bezieht sich dabei in der Mehrzahl der Fälle auf die Ziele, die Geeignetheit und Erforderlichkeit eines grundrechtseinschränkenden Gesetzes, kann aber auch die Art und Weise der Erfüllung eines grundrechtlichen Schutzauftrags330 betreffen. Es handelt sich nicht um eine unmittelbar zur Subsumtion bestimmte oder auch nur geeignete Formulierung, sondern um eine eher abstrakte Aussage zum Prüfungsmaßstab.
IV. Rechtsgüter in Art. 72 Abs. 2 GG Auch die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Voraussetzungen für eine Regelung durch Bundesgesetz,331 die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ und die „Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“, bezeichnet das Bundesverfassungsgericht als Rechtsgüter.332 Diese Rechtsgüter sind abstrakte Ziele, an denen die Bundeskompetenz zur konkurrierenden Gesetzgebung zu messen ist. Die Rechtsgüter „gleichwertige Lebensverhältnisse“ und „Rechts- und Wirtschaftseinheit“ sind für die entsprechenden Entscheidungen unmittelbar relevante Rechtsbegriffe, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Konkretisierung erfahren haben.333 328 Umfangreiche Bestandsaufnahme der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 17 ff. 329 BVerfGE 50, 290 (332 f.); identisch in E 73, 40 (92); ganz ähnlich E 76, 1 (51); 77, 170 (215); 88, 87 (97); 88, 203 (262); 90, 145 (173); 99, 367 (389 f.); 103, 44 (75 – Sondervotum Kühling/Hohmann-Dennhardt/Hoffmann-Riem); 106, 1 (16 f.); 109, 133 (157); 109, 279 (336); 110, 141 (157); 117, 163 (189); 119, 59 (85 f.); 120, 224 (240); 121, 317 (350); Anwendung der Formel in E 83, 130 (141 f.). 330 So in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch BVerfGE 88, 203 (262 f.). 331 Zu dieser zuletzt im Zuge der Föderalismusreform umgestalteten Vorschrift mit Hinweisen zur Genese Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 72 Rn. 4 f.; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 72 Rn. 51, 96 ff. 332 BVerfGE 106, 62 (144 f., 150, 160); 111, 226 (253 f.); 112, 226 (244 f.); 113, 167 (197 f.); 125, 141 (154). 333 Zu den Maßstäben s. in erster Linie BVerfGE 106, 62 (144 f.). Vgl. auch Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 72 Rn. 11 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 72 Rn. 20 ff.
E. Rechtsgüter in weiteren Konstellationen161
V. Prozessual: Weitergeltung und einstweiliger Rechtsschutz Auch bei prozessrechtlichen Fragestellungen erfolgt ein argumentativer Rückgriff auf Rechtsgüter. Zunächst können sie im Rahmen einer Folgenabwägung die Entscheidung tragen, dass die befristete Weitergeltung verfassungswidrigen Rechts angeordnet wird, anstatt es für sofort nichtig zu erklären.334 Während in den Fällen sicherheitsrechtlicher Vorschriften implizit oder explizit auf die in der materiellen Grundrechtsprüfung herausgearbeiten Güter zurückgegriffen werden kann,335 benennt das Gericht in einem anderen Fall ausdrücklich die Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG als durch befristete Weitergeltung zu schützendes Rechtsgut.336 Die befristete Weitergeltung stellt, soweit Grundrechtsverstöße betroffen sind, die vorübergehende Hinnahme eines an sich nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriffs zur Wahrung anderer Belange dar. Insofern ist sie strukturell der Grundrechtseinschränkung vergleichbar. Außerdem haben die betroffenen Rechtsgüter nach der Entscheidung zum Fiskalpakt Einfluss auf das Prüfungsprogramm eines Antragsverfahrens nach § 32 BVerfGG. Keine bloße Folgenabwägung nach der Doppelhypothese, sondern eine summarische inhaltliche Prüfung soll insbesondere dann geboten sein, „wenn eine Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG in Rede steht.“337 Das „durch Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherte Schutzgut der Demokratie“ sei einer Abwägung mit wirtschaftlichen und politischen Nachteilen nicht zugänglich, die sich aus einer Verzögerung des Inkrafttretens der angegriffenen Regelungen ergeben könnten.338
VI. Zusammenfassung Das Bundesverfassungsgericht gebraucht den Güterbegriff in einigen Fällen auch in einem Zusammenhang, der weder strafrechtlich ist noch grundrechtliche Inhalte oder deren Einschränkung betrifft. Die Verwendung bei den Rechten aus Art. 38 Abs. 1 GG ist weitgehend analog derjenigen im grundrechtlichen Bereich. Bei den Einschätzungs- und Entscheidungsspielräumen sowie der Frage des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsausspruches soll die Berücksichtigung betroffener Rechtsgüter eine Maßstabsbildung im Einzelfall ermöglichen. Ebenfalls als Rechtsgüter tituliert werden die in 334 BVerfGE 122, 120 (142 f.); 130, 151 (210); 132, 372 (394 Rn. 62); 133, 277 (376 Rn. 230). 335 BVerfGE 122, 120 (142 f.); 130, 151 (210); 133, 277 (376 Rn. 230). 336 BVerfGE 132, 372 (394 Rn. 62). 337 BVerfGE 132, 195 (232 Rn. 88). 338 BVerfGE 132, 195 (234 Rn. 90).
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Art. 72 Abs. 2 GG genannten Ziele. Außerdem beschreibt das Gericht die Gefahrenabwehr als Rechtsgüterschutz und statuiert die Darlegung eines gefährdeten Rechtsguts als Element des substantiierten Gefahrenvortrags.
F. Verwandte Begriffe I. Rechtsgut und (Verfassungs-, Rechts-)Wert Der Begriff des Rechtsguts hat im Gebrauch durch das Bundesverfassungsgericht an manchen Stellen den Begriff des Rechts- oder Verfassungswerts verdrängt. Im 28. Band der Entscheidungssammlung ist zu lesen: „Nur kollidierende Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die in ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch dem Verfassungstext nach uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen.“339 In ganz ähnlicher Formulierung findet sich diese Aussage in einigen weiteren Entscheidungen.340 Hierbei überrascht etwas, dass sich die Rede von Verfassungswerten bis in jüngste Zeit, namentlich in das Kopftuch-Urteil, fortgesetzt hat. Die Formel von der im Grundrechtsteil des Grundgesetzes aufgerichteten Wertordnung ist nämlich außer Gebrauch gekommen und durch die weniger voraussetzungsvolle Redeweise von objektiven Grundrechtsgehalten verdrängt worden.341 In einer der eben zitierten ganz ähnlichen Formulierung ist im Esra-Beschluss zu lesen, „[die Kunstfreiheit sei] nicht schrankenlos gewährleistet, sondern [finde] ihre Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen […].“342 Die Aussage bezieht sich beide Male auf die Einschränkung von im Verfassungstext nicht mit einem Vorbehalt versehenen Grundrechten. Auch werden in der Sache keine verschiedenen Voraussetzungen für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen in die jeweiligen Grundrechte benannt. Im Falle der Verwendung des Wortes „Verfassungswert“ handelt es sich um Entscheidungen zur Glaubens- und 339 BVerfGE 28,
243 (261). 1 (54 f.); 107, 104 (118); 108, 282 (297). 341 Vgl. statt vieler Dreier, Dimensionen, S. 23 f.; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rn. 94. Zur ‚klassischen‘ Kritik am Wertbegriff im Zusammenhang mit den Grundrechten s. Schmitt, in: FS Forsthoff, S. 37 ff.; Forsthoff, in: FG Schmitt, S. 185 (190). 342 BVerfGE 67, 213 (228); ganz ähnliche Formulierungen bei E 81, 278 (278, LS. 1); 83, 130 (139); 119, 1 (23); ganz ähnlich formuliert E 99, 19 (32) für die Freiheit des Abgeordnetenmandats. 340 BVerfGE 69,
F. Verwandte Begriffe163
Gewissensfreiheit. Diese Entscheidungen bemühen in Zitaten regelmäßig die oben zitierte Stelle der Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung aus dem 28. Band, die aus dem Jahr 1970 stammt, als die Wertordnungsrhetorik noch gängig war. Die genannten mit der Vokabel „Rechtsgut“ operierenden Entscheidungen dagegen beziehen sich überwiegend auf die Einschränkung der Kunstfreiheit. Zu deren Einschränkbarkeit aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts werden die Mephisto-Entscheidung aus dem 30. und der unter dem Namen „Anachronistischer Zug“ bekannte Beschluss aus dem 67. Band zitiert.343 In der ersten findet sich eine strukturell analoge Formulierung aber nicht. Das Bundesverfassungsgericht gelangt dort zum Ergebnis, die Kunstfreiheit als „nicht schrankenlos gewährt[es] Freiheitsrecht“ finde ihre Schranken in den nach der grundgesetzlichen Wertordnung relevanten Werten; Konflikte seien durch Verfassungsauslegung zu lösen.344 Die Ausführungen atmen erkennbar den Geist des in der Lüth-Entscheidung345 eingeführten Wertordnungs-Motivs. Hätte das Bundesverfassungsgericht in der im Jahre 1971 ergangenen Mephisto-Entscheidung eine Formel zu den Schranken der Kunstfreiheit geprägt, so ist zu vermuten, dass die für die Einschränkung maßgeblichen Gesichtspunkte als Verfassungswerte oder Rechtswerte gefasst worden wären. Die oben wiedergegebene Formel erscheint allerdings erst in der Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ aus dem Jahr 1984, als das Gericht bereits große Zurückhaltung hinsichtlich der Bemühung der Wertordnung walten ließ.346 Damit drängt sich der Befund auf, dass mit den Ausdrücken „Rechtswert“ oder „Verfassungswert“ einerseits und „Rechtsgut“ andererseits jedenfalls im Gebrauch durch das Bundesverfassungsgericht keine jeweils spezifische Bedeutung verbunden ist. Es sind auch keine erkennbar verschiedenen Anforderungen an die Rechtfertigungen von Eingriffen in die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 GG damit gemeint. Gleiches gilt für die noch jüngst zu findende Formulierung „Werte von Verfassungsrang“.347 Der Terminus Rechtsgut vermeidet die problematischen Konnotationen des Wertbegriffs und entspricht damit der heute vorherrschenden Ausdrucksweise.348 Das Weiterleben der „Rechtswerte“ in den Entscheidungen zu Art. 4 Abs. 1 GG dürfte letztlich bloß dem Rückgriff auf die Formulierung aus der früheren Entscheidung geschuldet sein.
343 Vgl.
BVerfGE 119, 1 (23). 173 (193). 345 BVerfGE 7, 198. 346 Vgl. zu den terminologischen Verschiebungen Dreier, Dimensionen, S. 23. 347 BVerfGE 128, 1 (38). 348 Vgl. Stern/Sachs, Staatsrecht III/1, S. 1575. 344 BVerfGE 30,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
II. Gemeinschaftsgüter und Erwägungen des Gemeinwohls Die im Apothekenurteil geprägten Formeln zu den Voraussetzungen der unterschiedlich intensiven Eingriffe in die Berufsfreiheit werfen die Frage auf, wie sich Gemeinschaftsgüter von Erwägungen des Gemeinwohls abgrenzen lassen. Regelungen, die die Berufsausübung betreffen, sollen zulässig sein, wenn vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls sie zweckmäßig erscheinen lassen. Beschränkungen der Freiheit der Berufswahl dagegen setzen voraus, dass sie zum Schutz von besonders wichtigen Gemeinschaftsgütern zwingend erforderlich sind.349 Die Verschiedenheit der Maßstäbe ergibt sich zunächst aus der näheren Qualifikation der jeweils bezeichneten Gegenstände Gemeinschaftsgut350 bzw. Erwägung des Gemeinwohls: Die Gemeinschaftsgüter müssen „besonders wichtig“, die Erwägungen des Gemeinwohls bloß „vernünftig“ sein. Zudem ist der Bezug zwischen Mittel und Zweck bzw. Maßnahme und Ziel unterschiedlich ausgestaltet: Bei den Berufszugangsregelungen muss die Maßnahme notwendige Bedingung der Zweckerreichung sein, für Berufsausübungsregeln wird dagegen nur Zweckmäßigkeit gefordert, was man im Sinne einer Förderung des angestrebten Zwecks verstehen kann. Von Interesse ist hier jedoch, ob neben dieser gewissermaßen graduellen Differenz ein Unterschied darin besteht, was unter den Begriff des Gemeinschaftsguts einerseits und denjenigen der Erwägung des Gemeinwohls andererseits gefasst werden kann. Eine erhebliche inhaltliche Differenz bestünde, wenn die vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls auf das Gemeinwohl bezogen wären, dies bei Gemeinschaftsgütern jedoch nicht notwendigerweise der Fall wäre. Diese Vorstellung ist offensichtlich falsch. Die Verfolgung von Zielen, die nicht wenigstens mittelbar dem Gemeinwohl dienen, ist den Trägern von hoheitlicher Gewalt nicht gestattet.351 Insbesondere sind Grundrechtseingriffe nicht zulässig, wenn sie nicht im öffentlichen Interesse stattfinden.352 Eine – zu349 BVerfGE 7, 350 Zu
377 (406). den Maßstäben der Einschränkung von Art. 12 GG insoweit schon oben D.
I. 8. a). 351 Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 71 Rn. 2: Gemeinwohl als „Inbegriff aller legitimen Staatsziele“; Link, in: VVDStRL 48 (1990), S. 7 (51, LS. 6.): „Allgemeinstes Telos der Staatlichkeit“; Schuppert, Staatswissenschaft, S. 215. Zur Gemeinwohlorientierung als Bestandteil des republikanischen Prinzips Anderheiden, Gemeinwohl, S. 225 ff.; Isensee, a. a. O., Rn. 124; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 14; skeptisch gegenüber der Tauglichkeit des Begriffs „Gemeinwohl“ zur Einschränkung staatlichen Handelns Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 (Republik) Rn. 21 f. 352 Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 19; Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 71 Rn. 61.
F. Verwandte Begriffe165
dem schon sprachlich eher fern liegende – Deutung, nach der die Gemeinschaftsgüter durch eine fehlende oder wenigstens gelockerte Bindung an das Gemeinwohl gekennzeichnet werden, scheidet damit aus. Auch Gemeinschaftsgüter sind Aspekte des Gemeinwohls. Demnach ist der Unterschied zwischen den vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls und einem Gemeinschaftsgut eher als von rhetorischen Motiven getragen anzusehen. Beide Begriffe sind im Kontext der jeweiligen Formeln zu betrachten. Nähert man sich diesen aus der Ergebnisperspektive, so ist festzustellen, dass die Beschränkung des Zugangs zu einem Beruf strengeren Regeln unterliegt als die Regelung der Berufsausübung. Dies ist eine sehr basale Erkenntnis. Die strengeren verfassungsrechtlichen Voraussetzungen übersetzen sich jedoch wesentlich in gesteigerte Anforderungen hinsichtlich der Begründung des Nutzens, den ein entsprechender Eingriff für das Gemeinwohl mit sich bringt. Während im einen Falle bloß vernünftige Erwägungen zum Ergebnis der Zweckmäßigkeit gelangen müssen, bedarf es im anderen Fall der Notwendigkeit, das verfolgte Ziel muss zudem „besonders wichtig“ oder sogar – bei objektiven Zulassungsbeschränkungen – „überragend wichtig“ sein. Die Fassung des Zwecks der Maßnahme erscheint aus dieser Sicht strukturell zusammen mit der besonderen Wichtigkeit als Steigerung der Anforderung der bloßen Vernünftigkeit, die für die weniger intensiv eingreifende Maßnahme zu fordern ist. Vernünftig ist in diesem Zusammenhang dann, was intersubjektiv nachvollziehbar als Belangen der Gemeinschaft förderlich angesehen werden kann. Dagegen kann man als besonders wichtiges Gut nur das ansehen, was hinsichtlich seiner Bedeutung für die Gemeinschaft intersubjektiv nachvollziehbar nicht in Frage gestellt werden kann. Diese Deutung lehnt sich an die oben dargestellte Unterscheidung zwischen adjektivischem und substantivischem Gebrauch des Wortes „gut“ (bzw. „Gut“) an.353 Der substantivische Gebrauch zeichnet sich demnach dadurch aus, dass eine Präferenzentscheidung zwischen zwei Alternativen als evident richtig und damit weiterer Begründung nicht mehr bedürftig gesetzt wird. Das lässt sich an Beispielen für Gemeinschaftsgüter exemplifizieren: Die Förderung der Volksgesundheit354 ist eindeutig ihrer Beeinträchtigung vorzuziehen. Wer das Gegenteil behauptet, wird nach dem Urteil seiner Diskus sionspartner nicht ein Vertreter einer anderen (hier: juristischen) Auffassung sein, sondern jemand, der sich außerhalb des Rahmens einer rationalen Dis353 1. Teil
A. I. 1. näher behandelt werden soll der durchaus problematische Inhalt dieses Begriffs, insbesondere die Frage nach der über die Zusammenfassung des Gesundheitszustandes von Individuen hinausgehenden Bedeutung. Vgl. zur historisch wohl prioritären überindividuellen Konzeption Frenzel, DÖV 2007, S. 243 (246). 354 Nicht
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
kussion bewegt; eine derart begründete Ansicht hat als nicht mehr juristisch vertretbar zu gelten. Diese für das Apothekenurteil plausible Deutung, „Erwägungen des Gemeinwohls“ könnten nicht vollständig mit „Gemeinschaftsgütern“ gleichgesetzt werden und unterschieden sich durch ein geringeres Begründungsgewicht, ist mit der Entscheidung zur Handwerksordnung aus dem Jahre 1961 kaum vereinbar. Dort präzisiert das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen, die an ein „wichtiges Gemeinschaftsgut“ zu stellen sind, das Voraussetzung einer subjektiven Berufszulassungsschranke ist. Es betont in diesem Zusammenhang, hierbei müsse es sich nicht um „allgemein anerkannte und von der jeweiligen Politik des Gemeinwesens unabhängige Gemeinschaftswerte (wie z. B. die Volksgesundheit)“ handeln.355 Es sei für den Gesetzgeber auch zulässig, „Gemeinschaftsinteressen zum Anlaß von Berufsregelungen zu nehmen, die ihm nicht in diesem Sinne ‚vorgegeben‘ sind, die sich vielmehr erst aus seinen besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Zielen ergeben, die er also erst selbst in den Rang wichtiger Gemeinschaftsinteressen erhebt.“ Das Bundesverfassungsgericht könne nur überprüfen, ob diese Interessen den Rang besitzen könnten, der notwendig sei, um eine Einschränkung der freien Berufswahl zu rechtfertigen. Die diesbezüglichen Ansichten des Gesetzgebers könnten nur beanstandet werden, wenn sie offensichtlich fehlerhaft seien oder mit der „Wertordnung des Grundgesetzes“ nicht in Einklang stünden. Inhaltlich betont das Bundesverfassungsgericht mit dieser Aussage den Gestaltungsspielraum des demokratisch legitimierten Gesetzgebers gegenüber den Kontrollbefugnissen der Verfassungsgerichtsbarkeit: Der Gesetzgeber hat demnach grundsätzlich die Definitionshoheit über die von ihm verfolgten Ziele, soweit er sich im durch das Grundgesetz gezogenen Rahmen hält. Die verfolgten Ziele müssen nicht über jeden – namentlich durch differierende politische Anschauung begründeten – Zweifel erhaben sein. Sie können sich durchaus auf (lediglich) politische Voraussetzungen beziehen, die nicht von jedem geteilt werden. In der Entscheidung ist das betreffende Ziel „Erhaltung und Förderung des Handwerks“.356 Auf der begrifflichen Ebene lässt sich damit die oben erwogene These nicht halten, im Rahmen der Drei-Stufen-Theorie setze das „wichtige Gemeinschaftsgut“ eine bei „vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls“ nicht geforderte Evidenz der Bedeutung für die Gemeinschaft voraus. Jedenfalls lässt sich bei der gemeinsamen Betrachtung von Apotheken- und Handwerksordnungsentscheidung keine konsistent verfassungsrechtliche Anforderungen widerspiegelnde 355 BVerfGE 13, 356 BVerfGE 13,
97 (107). 97 (110).
F. Verwandte Begriffe167
Terminologie identifizieren. Auf die Entwicklung der so genannten DreiStufen-Theorie im Apothekenurteil beschränkt braucht die These deswegen nicht aufgegeben werden. Es ist aber geboten, sie dahin gehend abzuschwächen, dass der Gebrauch von „Gemeinschaftsgut“ im Gegensatz zu „Erwägung des Gemeinwohls“ rhetorisch höhere Begründungsanforderungen signalisiert. Eine in der Rechtsprechung konsistente Beschränkung von „Gemeinschaftsgütern“ auf evident dem Gemeinwohl Förderliches ist aber nicht zu erkennen.
III. Rechtsgut und Gemeinwohlbelang Ebenfalls semantisch ähnlich zum Rechtsgut ist der Begriff des Gemeinwohlbelangs. Von Gemeinwohlbelangen bzw. Belangen des Gemeinwohls ist beim Bundesverfassungsgericht ebenfalls im Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Beschränkungen der Berufsfreiheit die Rede. Im Urteil zum Verbot des Aufsuchens von Bestellungen durch Tierarzneimittelvertreter bezeichnet es die für eine Berufsausübungsregelung gesteigerter Intensität notwendigen „wichtige[n] Gründe des gemeinen Wohls“ auch als „wichtig[e] Belange des Gemeinwohls“357. Als solcher wichtiger Belang des Gemeinwohls wird wenig später „der Schutz der menschlichen Gesundheit als eines besonders hohen Gutes“ genannt.358 Das impliziert, dass man als Gemeinwohlbelang jedenfalls auch bezeichnen kann, was ein Gut ist. Im weiteren Verlauf der Entscheidungsbegründung werden andere für die angegriffene Regelung streitende Belange behandelt, ohne als Güter bezeichnet zu werden.359 Es ist jedoch nicht zu erkennen, dass hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Konsequenzen ein Unterschied gemacht würde. Nicht ausgeschlossen ist es anzunehmen, der Begriff des Gemeinwohlbelangs sei hinsichtlich des Umfangs weiter: es gebe also Gemeinwohlbelange, die Gemeinschaftsgüter seien, und solche, auf die das nicht zutreffe. Ein solcher Unterschied müsste sich in den verfassungsrechtlichen Rechtsfolgen abbilden, um hier von Interesse zu sein. Es lässt sich aber nicht feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht eine solche Unterscheidung zu Grunde legt. Der Begriff des Gemeinwohlbelangs ist damit als semantisch dem Begriff des Gemeinschaftsguts jedenfalls sehr ähnlich anzusehen. Der Güterbegriff ist in vielen Situationen durch denjenigen des Belangs ersetzbar. Ein verfassungsrechtlich relevanter Bedeutungsunterschied kann im Gebrauch durch das Bundesverfassungsgericht nicht festgestellt werden. 357 BVerfGE 17,
269 (276). der menschlichen Gesundheit etwa auch bei BVerfGE 128, 1 (81). 359 BVerfGE 17, 269 (277–279). 358 Hochrang
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
IV. Gemeinschaftsgut und Gemeinschaftsinteresse Zahlreiche Definitionen des Rechtsguts verwenden als zentrales Element den Begriff des Interesses. Man kann sogar sagen, die Definition als „rechtlich geschütztes Interesse“ sei diejenige, die noch die breiteste Zustimmung für sich in Anspruch nehmen könne.360 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint der Begriff des Gemeinschaftsinteresses häufig an Orten, an denen in anderen Fällen „Gemeinschaftsgut“ steht. In diesem Zusammenhang bezeichnet das Gemeinschaftsinteresse nicht einen Bezug zu einem empirisch feststellbaren individuellen Wunsch oder Willen, kein Begehren.361 Es ist als „objektives“ Interesse zu verstehen, als etwas, das „objektiv nützlich, sachlich vorteilhaft“ ist.362 Das Urteil, etwas sei objektiv sinnvoll, impliziert die Vorstellung, jeder vernünftig Handelnde würde dies vorziehen. Dies nähert die Bedeutung des Gemeinschaftsinteresse derjenigen des Gemeinschaftsguts an, wenn man davon ausgeht, dass die Verwendung des Güterbegriffs ein Moment der Letztbegründung mittels Evidenz beinhaltet, wie es eben der Kontrastierung gegen die vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls bei der Berufsfreiheit zu Grunde gelegt wurde. Im Apothekenurteil ist von Gemeinschaftsinteressen zunächst in einem vergleichsweise abstrakten Zusammenhang die Rede, wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, während das Grundrecht die Freiheit des Individuums schütze, solle der Regelungsvorbehalt (sc. der Berufsfreiheit) den ausreichenden Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellen.363 Der betreffenden Stelle folgen Ausführungen, dass diesen „im sozialen Rechtsstaat gleichermaßen legitimen Forderungen“ durch eine Abwägung der Interessen im Einzelfall gerecht zu werden sei. Dabei seien Freiheitseinschränkungen auf das unerlässliche Maß zu reduzieren, da das Grundgesetz seiner Gesamtkonzeption nach einen Vorrang der individuellen Freiheit statuiere. Der Begriff des Gemeinschaftsinteresses muss hier nach dem sachlichen Zusammenhang als auf einer abstrakten Ebene alle Gesichtspunkte umfassend verstanden werden, die die Einschränkung von in Grundrechten gewährleisteter individueller Freiheit zu begründen vermögen. Dies entspricht auch der systematischen Stellung in den Urteilsgründen. Die Erwägungen sind nament360 Zu entsprechenden Definitionsansätzen im Strafrecht vgl. oben 1. Teil, C. I. 2. b) und C. II. 1. 361 Vgl. Uerpmann, Interesse, S. 23 f. zur subjektiven Deutung des Interessenbegriffs: „Begehren“ im Gegensatz zum objektiven „Wohl“. 362 Vgl. zum Interessenbegriff des Rechts der Geschäftsführung ohne Auftrag Seiler, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), BGB, 6. Aufl., § 683 Rn. 4 ff.; Bergmann, in: Staudinger, BGB, § 683 Rn. 30 f. Zum Verständnis des Interesses in der Definition des strafrechtlichen Rechtsgutsbegriff Stratenwerth, in: FS Lenckner, S. 377 (379). 363 BVerfGE 7, 377 (404); ähnlich BVerfGE 13, 97 (104).
F. Verwandte Begriffe169
lich der konkretisierten dogmatischen Entwicklung des Schrankensystems der Berufsfreiheit vorangestellt. Sie umfassen demnach grundsätzlich alles, was sich innerhalb dieser Konkretisierung ausdifferenzieren lässt, also sowohl „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ als auch „wichtige Gemeinschaftsgüter“. Dies bestätigt sich auch durch eine im Zusammenhang mit objektiven Beschränkungen des Zugangs zu einem Beruf stehende Formulierung: diese sollen regelmäßig nur zur „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrschein licher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut“ zulässig sein, nicht aber zur „Förderung sonstiger Gemeinschaftsinteressen“.364 Dem sprachlichen Ausdruck nach sind hier die wichtigen Gemeinschaftsgüter ausdrücklich als besondere Gemeinschaftsinteressen behandelt, und zwar als solche von erhöhtem verfassungsrechtlichem Gewicht. Diese Gemeinschaftsinteressen finden sich in anderen Entscheidungen jedoch auch als solche – und eben nicht exklusiv als Gemeinschaftsgüter – bezeichnet. So ist an einer Stelle in der Taxi-Entscheidung von dem Schutz wichtiger Gemeinschaftsinteressen als Voraussetzung objektiver Berufszulassungsschranken zu lesen.365 In der Entscheidung zur Handwerksordnung verwendet das Gericht in einem Satz Gemeinschaftsgut und Gemeinschaftsinteresse offensichtlich gleichbedeutend und durch ein Demonstrativpronomen aufeinander bezogen: „Konnte der Gesetzgeber so mit Grund in der Erhaltung und Pflege eines hohen Leistungsstandes des Handwerks ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut erblicken, so behält doch die Frage ihr volles Gewicht, ob dieses Gemeinschaftsinteresse gegenüber dem Freiheitsrecht des Einzelnen den Vorrang beanspruchen kann […].“366 Die Möglichkeit, dass der Begriff des Gemeinschaftsinteresses weiter ist als derjenige des Gemeinschaftsguts, ist damit nicht ausgeschlossen. In jedem Fall aber ist nach dem Gebrauch des Gerichts auch Gemeinschaftsinte resse, was Gemeinschaftsgut ist. Ganz ähnlich ist der Gebrauch in der Entscheidung zum Werkfernverkehr, in deren Begründung das Vorliegen wichtiger Gemeinschaftsinteressen als Voraussetzung für die Rechtfertigung jeglicher an Art. 12 Abs. 1 GG zu messender Regelung genannt wird.367 An einer anderen Stelle werden den vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls besonders schwerwiegende „Interessen der Gemeinschaft“ gegenübergestellt.368 Dass dort nicht auf Gemeinschaftsgüter abgestellt wird, mag daran liegen, dass vermieden werden sollte, die im Apothekenurteil für die Berufszugangs364 BVerfGE 7,
377 (407 f.). 168 (191). 366 BVerfGE 13, 97 (113). Herv. S. L. 367 BVerfGE 16, 147 (162). 368 BVerfGE 16, 147 (167). 365 BVerfGE 11,
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
beschränkungen geprägte Ausdrucksweise zu gebrauchen, wenn nur eine besondere, strengeren Rechtfertigungsanforderungen unterliegende Kategorie von Ausübungsregelungen dargestellt werden sollte. Es bleibt festzuhalten, dass nach dem Wortgebrauch durch das Bundesverfassungsgericht kein systematisch nachweisbarer Unterschied nach dem rechtlichen Inhalt zwischen Gemeinschaftsinteresse und Gemeinschaftsgut besteht.
V. Ergebnis: keine erheblichen Unterschiede im Gebrauch Ein erheblicher Bedeutungsunterschied ist zwischen dem Begriff des Guts, wie ihn das Bundesverfassungsgericht gebraucht, und den in gleicher oder ähnlicher Funktion erscheinenden Begriffen nicht auszumachen. In manchen Fällen sind die Unterschiede insofern historisch bedingt, als die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschende Terminologie sich über eine Leitent scheidung reproduziert hat. In anderen Fällen kann man rhetorische Gründe für den unterschiedlichen Sprachgebrauch annehmen. Teilweise sind terminologische Unterschiede wegen Synonymität schlicht als kontingent oder im Sinne stilistischer Varianz ohne rechtliches Motiv vorkommend zu beurteilen.
G. Güter als Objekt von Schutz und Streben Im ersten Teil dieser Arbeit war die klassische Definition des Guts als Strebensziel vorgestellt und schließlich ein vorläufiges Verständnis von Gütern im rechtlichen Kontext als rechtlich relevante Ziele festgehalten worden. Als Definition ist dies so weit, dass mühelos die festgestellten Fälle der Verwendung durch das Bundesverfassungsgericht darunter gefasst werden können – bis hin zum vermögenswerten Eigentumsgut, das sich auch als rechtlich anerkanntes Ziel des Eigentümers formulieren lässt, bestimmte Gegebenheiten in bestimmter Art und Weise nutzen und zur Verfügung haben zu können. Nicht selten wird das Verhalten zu Gütern nicht als Streben nach ihnen, sondern als Schutz von Gütern beschrieben: Auf grundrechtliche Rechtsgüter beziehen sich beispielsweise Schutzpflichten des Staates, Straf- und Sicherheitsrecht dient dem Rechtsgüterschutz und Einschränkungen der Berufswahl dem Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. Gegenstände des Schutzes erscheinen weniger als Ziele denn als Handlungen oder Zustände. Dies lässt sich beispielsweise von den grundrechtlichen Schutzgütern sagen, die als „Handlungen, Eigenschaften oder Zustände und einfachrechtliche Positionen,
G. Güter als Objekt von Schutz und Streben171
die nicht gehindert, beeinträchtigt oder beseitigt werden dürfen“ definiert worden sind369. Wenn Güter als Gegenstand des Schutzes bezeichnet werden, erscheinen sie in einem stärkeren Maße als vorgegeben, als dies der Fall ist, wenn Güter „angestrebt“ werden. Plastisch lässt sich dieser Unterschied an den Gütern „Leben“ aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ aus Art. 72 Abs. 2 GG demonstrieren. Das „Leben“ als Ziel würde man als „Schutz“ des Lebens formulieren, die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ wird dagegen (nur) „angestrebt“. Im einen Fall ist das Verhalten defensiv auf die Bewahrung von etwas Vorbestehendem gerichtet, im anderen Falle wird – gewissermaßen: kreativ – eine Veränderung angestrebt. Die bewahrende, defensive Haltung ist insofern ein Spezialfall des Strebens allgemein, als sich ohne Weiteres formulieren lässt, der Schutz eines bestimmten Gegenstands werde „angestrebt“. Wenn Güter als Objekte des Schutzes bezeichnet werden, so werden sie demnach als in irgend einer Weise tatsächlich vorgegeben im Sinne von vorbestehend behandelt. Darauf dürfte sich der Unterschied jedoch auch schon beschränken. Die nicht ganz fern liegende Intuition, dass damit auch ein gesteigertes rechtliches Gewicht und damit eine Vorgegebenheit auch im normativen Sinne verbunden ist, trifft wohl nicht zu. Solch eine normative Vorgegebenheit müsste für verfassungsrechtliche Rechtsgüter ein Fundament im Verfassungsrecht haben. Es käme beispielsweise ein besonderer Rang von solchen Gütern in Betracht, die sich unmittelbar auf den Verfassungstext stützen können, wie der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter. Jedenfalls ohne Einschränkungen ließe sich dieser Gedanke jedoch nicht durchführen, da sich aus dem Verfassungstext unmittelbar Güter ableiten lassen, die auf eine Veränderung zielen und nicht geschützt werden, wie die oben genannte Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Es müssten daher vergleichsweise weiche Kriterien wie ein Evidenzmoment oder der argumentativ herzustellende Bezug zu den über Art. 79 Abs. 3 GG besonders hervorgehobenen Verfassungsvorschriften hinzutreten. Auf Evidenz ließe sich etwa die „Funktionsfähigkeit wesentlicher Teile existenzsichernder öffentlicher Versorgungseinrichtungen“370 wegen ihrer Unverzichtbarkeit für die menschliche Lebensführung stützen. In einer Rhetorik des Schutzes, der Verletzung, der Gefährdung371 erscheinen auch die in manchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 369 Alexy, Theorie, S. 274: Schutzgut des Abwehrrechts; vgl. auch Ipsen, in: FS Stern, S. 369 (372); Cremer, Freiheitsrechte, S. 78: „Natürliches Können und Sein“. 370 Vgl. oben D. I. 1. mit Fn. 186. 371 Allgemein erscheinen die in den Grundrechtsbestimmungen genannten und deswegen normativ vorgegebenen Güter beinahe stets eingebettet in eine Rhetorik des
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2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
besonders als „elementar“ oder „überragend wichtig“ ausgewiesenen Rechtsgüter, die ein hinreichendes Gewicht besitzen, auch weitgehende Grundrechtsbeschränkungen rechtfertigen zu können. Diese Qualifizierungen als elementar oder überragend wichtig finden sich bei den Voraussetzungen von Versammlungsverboten, bei Überwachung und Aufzeichnung des Telekommunikationsverkehrs sowie beim Zugriff auf informationstechnische Systeme372. Die Aufzählung der „überragend wichtigen“ Rechtsgüter in letzterem Fall umfasst Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person aber auch Bestand des Staates und existenzsichernder öffentlicher Versorgungseinrichtungen373 – also Belange die als Gegenstand grundrechtlicher Gewährleistung vorgegeben sind, aber auch solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Ein grundrechtlich geschützter Belang ist das in der zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ebenfalls als elementares Rechtsgut genannte Leben.374 Ebenfalls in erster Linie Leben, körperliche Unversehrtheit und persönliche Freiheit sind mit den „höchstwertige[n] Rechtsgüter[n]“ bzw. den „höchste[n] Verfassungsgüter[n]“ bezeichnet, die im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung erscheinen.375 Man könnte nun meinen, mit diesen elementaren oder überragend wichtigen Gütern eine Klasse von Gütern gefunden zu haben, die (auch) dadurch hervorgehoben ist, dass sie stets in einer Rhetorik des Schutzes erscheint. Jedoch ist zwar letzteres für sich betrachtet zutreffend; allerdings begründet die Einbettung in diese Rede von Schutz, Gefährdung und Verletzung keine Sonderstellung. Es könnte vermutet werden, elementare Rechtsgüter unterschieden sich darin von solchen Gütern, die aus Sicht der Verfassung erst durch prinzipiell wandelbare politische Entscheidung zu Zielen staatlichen Handelns werden. Güter dieser Art, „politische“ Rechtsgüter, genügen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Einschränkung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG, wie oben dargestellt wurde.376 Die „politischen“ Rechtsgüter entstammen einem anderen rechtlichen Kontext, als die „elementaren Rechtsgüter“. Sie werden in keiner der Entscheidungen in Kontrast zu solchen elementaren Rechtsgütern gesetzt, sondern allein zu den „absoluten“ Rechtsgütern. Inhaltlich erscheinen letztere den elementaren Rechtsgütern sehr ähnlich. Dies zeigt sich, wenn positiv „absolute Rechtsgüter“ bei einer EinschränSchutzes. Insbesondere Grundrechtsgüter können als elementare Rechtsgüter verstanden werden; vgl. nur BVerfGE 56, 54 (73; 81 – „höchste Rechtsgüter“); 76, 1 (51 f.). 372 BVerfGE 69, 315 (581); 128, 226 (259, 263 f.) – oben bei Fn. 225 –, E 100, 313 (373) – oben bei Fn. 231 – und E 120, 274 (328) – oben bei Fn. 185. 373 BVerfGE 120, 274 (328). 374 BVerfGE 88, 203 (273) – oben 2. Teil C. I. 375 BVerfGE 128, 326 (389); 129, 37 (46); 133, 40 (51 Rn. 27, 58 Rn. 44). 376 D. I. 8. d).
H. Zusammenfassung: Güter in der Verfassungsrechtsprechung 173
kung der Berufsfreiheit benannt werden – wie die „Volksgesundheit“377 und die „Sicherung der Energieversorgung“378. Bei letzterem Gut entstammt die „Sicherung“ offensichtlich der Schutz-Rhetorik. Die Volksgesundheit kann sich auf die evidente Vorzugswürdigkeit der Gesundheit gegenüber der NichtGesundheit stützen379 und wird typischerweise auch „geschützt“. In beiden Entscheidungen lässt sich das absolute Rechtsgut daher ebenfalls als ein Gegenstand deuten, auf den schützend Bezug genommen wird. Jedoch gelingt die Kontrastierung nicht: Auch die explizit nicht-absoluten, „politischen“, erst kraft gesetzgeberischer Entscheidung relevanten Rechtsgüter werden als Gegenstand des Schutzes behandelt. Namentlich erscheint die „Erhaltung und Förderung des Handwerks“380 in der entsprechenden Entscheidung ganz selbstverständlich als „schutzwürdig“ und mehrfach als Gegenstand des Schutzes. Einen besonderen Rang signalisiert die Bezugnahme auf ein Gut als geschütztes oder zu schützendes im Gegensatz zum zu erstrebenden demnach in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht. Die Differenz liegt allein darin, ob der betreffende Gegenstand als tatsächlich bereits bestehend (und damit schutzfähig) oder erst zu schaffen vorgestellt wird.
H. Zusammenfassung: Güter in der Verfassungsrechtsprechung Der Rückgriff auf als Rechtsgüter behandelte Gegenstände geschieht in der verfassungsrechtlichen Argumentation beim Bundesverfassungsgerichts in äußerst vielfältiger Art und Weise. Zunächst unterscheiden sich die rechtlichen Kontexte erheblich, in denen von Rechtsgütern die Rede ist. Erwägungen, die den Schutz von Rechtsgütern zum Thema haben, erscheinen in solch verschiedenen Zusammenhängen wie der Frage der Auslegung von Strafrechtsnormen und der Abgrenzung der Verbandskompetenz zwischen Bund und Ländern. Der Rechtsgutsbegriff ist dabei in keinem der Zusammenhänge, in denen er verwendet wird, mit einer Definition verbunden, die ihm unmittelbare Relevanz in der Rechtsanwendung als Tatbestandsmerkmal verschaffen würde, unter das zu subsumieren ist. Er ist gewissermaßen nicht selbst inhaltlich, sondern weitgehend offen für die Rezeption von Inhalten. 377 BVerfGE 25,
236 (247). 292 (323 f.). 379 Vgl. die Erwägungen zum substantivischen Gebrauch des Güterbegriffs bei Ricken, Ethik, S. 89 ff. und dazu schon oben 1. Teil A. I. 1. 380 Vgl. oben F. II. bei Fn. 356. Ausdrücklich zur (normativen) Vorgegebenheit in der betreffenden Entscheidung BVerfGE 13, 97 (107). 378 BVerfGE 30,
174
2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Im strafrechtlichen Zusammenhang wird auch in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts häufig von Rechtsgütern gesprochen; die meisten der betreffenden Stellen weisen jedoch keinen besonderen mit der Verwendung des Güterbegriffs verbundenen verfassungsrechtlichen Gehalt auf.381 Werden grundrechtlich geschützte Belange als Rechtsgüter betrachtet, so geschieht dies zunächst zusammen mit ihrer Lösung aus der spezifischen abwehrrechtlichen Relation zwischen Grundrechtsberechtigtem und Staat:382 Von letzterem gehen aus der solchermaßen erweiterten Perspektive nicht nur potentielle Beeinträchtigungen des geschützten Guts aus, die zu unterlassen sind. Auch im Übrigen erscheint der Rechtsgutsbegriff im Kontext des grundrechtlichen Schutzes von Gütern meist auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene der Begründung, nämlich im Zusammenhang mit der Entwicklung der jeweils einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe.383 Nur in der Formel zum Eigentumsbegriff des Art. 14 Abs. 1 GG kommt das „vermögenswerte Gut“ in einer Art und Weise vor, dass man von einer Verwendung in der Begründungsschicht sprechen kann, die Rechtssätze aufweist, die hinreichend konkretisiert sind, um eine Subsumtion im Einzelfall zu erlauben. Als Begriff für das von einer Grundrechtsbestimmung Geschützte konkurriert das Rechtsgut mit dem Schutzbereichsbegriff. Im Gebrauch durch das Bundesverfassungsgericht kommen dabei sowohl das mit dem Schutzbereich weitgehend synonyme Schutzgut als auch das Schutzgut vor, das lediglich eines unter mehreren vom jeweiligen Grundrecht geschützten einzelnen Belangen ist.384 Letzteres ist insbesondere bei der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunehmend ausgestalteten und differenzierten, offenen Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Fall. In den Kanon ihrer Schutzgüter wurden in den letzten Jahrzehnten beispielsweise die informationelle Selbstbestimmung und die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme aufgenommen. Auch wenn es grundrechtlich geschützte Belange sind, die als Güter bezeichnet werden, ist in den betreffenden Aussagen meist etwas Allgemeines angesprochen: Es geht um ein bestimmtes Gut als solches, das „Gut an sich“ und nicht um das bestimmte Gut eines bestimmten Subjekts. Mit anderen Worten: Es zeigt sich der begrifflich institutionelle Aspekt.385 Dem entsprechend wird eigens hervorgehoben, wenn es auf den singulären Aspekt ankommt, wie beim Lebensschutz. Es kann aber auch der institutionelle Gesichtspunkt eine inhaltliche Komponente erhalten, wenn nämlich grundrechtlichem Verhalten eine be381 Oben
B. C. 383 Oben C. 384 Oben C. 385 Oben C. 382 Oben
I. III. 1. III. 2. b). III. 3.
H. Zusammenfassung: Güter in der Verfassungsrechtsprechung 175
stimmte soziale Funktion zugeschrieben wird und daraus Schlüsse darauf gezogen werden, welches Verhalten vom grundrechtlichen Schutz erfasst ist.386 In der Mehrzahl der Fälle stehen Rechtsgüter in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für Belange, die Grund für die Beschränkung grundrechtlicher Freiheit sein können. Dabei lassen sich gewisse Unterschiede im Hinblick auf die Ableitung dieser Rechtfertigungsgüter aus dem Text des Grundgesetzes ausmachen.387 Sie erfolgt regelmäßig ausdrücklich und tendenziell ausführlicher, wenn Einschränkungen unabhängig von geschriebenen Einschränkungs- oder Regelungsvorbehalten zu verhandeln sind. Im Rechtfertigungsgut tritt der grundrechtlichen Freiheit typischerweise ein Belang der Gemeinschaft gegenüber. Daher werden grundrechtseinschränkende Rechtsgüter häufig als Gemeinschaftsgüter bezeichnet. Dieser Begriff erscheint jedoch nicht in der Drittwirkungskonstellation.388 Dann ist nämlich ein Gut eben nicht allein im begrifflich institutionellen Aspekt, sondern auch die Singularität angesprochen. In manchen Fällen dient wiederum der materialisierte institutionelle Aspekt eines grundrechtlichen Guts selbst dessen Einschränkung.389 Im Ergebnis, einer Reduzierung des effektiv grundrechtlich geschützten Bereichs, gleicht diese Argumentationslinie derjenigen der Schutzbereichseinschränkung über materialisierte institutionelle Erwägungen. Der singuläre und der institutionelle Aspekt von Rechtsgütern stehen sich schließlich unmittelbar gegenüber, wenn der von einem Grundrechtseingriff Betroffene als Träger des Rechtfertigungsguts bezeichnet wird.390 Das gleiche Spannungsfeld ist betroffen, wenn beim Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gegen individuelles Verhalten eben dessen Bedeutung für das geschützte Gut beachtet werden muss. Der Rechtsgutsbegriff erscheint auch außerhalb eines strafrechtlichen oder grundrechtlichen Kontextes einige Male in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Verwendung lässt sich dabei teilweise mit der Konstellation der Grundrechtseinschränkung parallelisieren.391 Gerade in seiner Funktion als Grundlage einer Grundrechtseinschränkung treten neben den Güterbegriff Ausdrücke wie Gemeinschafts- und Rechtswert, Gemeinwohlbelang, Gemeinschaftsinteresse und Erwägung des Gemeinwohls. Im Wesentlichen sind die genannten Begriffe mit demjenigen des 386 Oben 387 Oben 388 Oben 389 Oben 390 Oben 391 Oben
C. III. D. IV. D. IV. D. IV. D. IV. E. VI.
5. 1. 3. a). 2. 3. b).
176
2. Teil: Rechtsgüter in der Rechtsprechung des BVerfG
Gemeinschaftsguts ersetzbar und ohne relevant abweichenden semantischen Gehalt.392 Die Wertbegriffe stammen aus der Zeit, als das Grundgesetz in Entscheidungen des Gerichts als Quelle einer „Wertordnung“ bezeichnet wurde und haben sich mit den Maßstäben aus den zeitgenössischen Leitentscheidungen perpetuiert.393 Nicht selten werden Güter als geschützt oder als zu schützen bezeichnet. Dies ist lediglich die Folge davon, dass die betreffenden Gegenstände als schon bestehend vorausgesetzt werden.394 Die Zuschreibung einer gesteigerten normativen Relevanz ist damit nicht verbunden.
392 Oben
F. V. F. I. 394 Soeben G. 393 Oben
3. Teil
Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem? Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriff und mit Rechtsgütern, die auch als solche bezeichnet werden, findet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht statt: Die Frage, ob etwas in einem speziellen Fall ein Gut sei und wann dies im Allgemeinen angenommen werden könne, spielt in den Entscheidungen praktisch nie eine Rolle. Die jeweils entscheidenden verfassungsrechtlichen Probleme löst das Verfassungsgericht, ohne mit oder an dem Rechtsgutsbegriff zu argumentieren. Einige Fälle zu Art. 12 GG, in denen es auf das Vorliegen eines wichtigen Gemeinschaftsgutes oder auf die Frage ankommt, ob ein bestimmter Belang ein wichtiges Gemeinschaftsgut sein könne, scheinen anders zu beurteilen zu sein.1 Jedoch bleibt der Maßstab an den betreffenden Stellen vergleichsweise unbestimmt. Die explizite Formulierung eines solchen unterbleibt, Begründungen für die Gemeinschaftsgutsqualität fallen, wenn sie überhaupt geleistet werden, stets knapp aus. Durch die geringe Bedeutung der expliziten Auseinandersetzung mit Rechtsgütern in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wird jedoch die Frage nicht ihrer Berechtigung beraubt, ob es nicht in bestimmten Zusammenhängen geboten ist, bestimmten mit Rechtsgütern verbundenen Problemen größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, und ob im Besonderen bestimmte verfassungsrechtliche Maßstäbe anders zu fassen sind. Mit dieser Fragestellung ist die Perspektive nicht mehr auf den tatsächlichen Gebrauch und dessen Strukturen ausgerichtet, sondern auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Rechtsgüter in der verfassungsrechtlichen Argumentation.
A. Das Subjekt der Zwecksetzung Rechtsgüter erscheinen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vielfältiger Art und Weise als Ziele, um deren Willen eine Grund rechtseinschränkung zulässig sein kann. Dogmatisch entspricht dem die Voraussetzung des legitimen Zwecks (oder der legitimen Zwecke) eines grundrechts einschränkenden Hoheitsakts, also der erste und richtungswei1 Siehe
schon 2. Teil D. I. 8. d).
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
sende2 Schritt der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Schranken-Schranke, an dem sich die Prüfung von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu orientieren hat.3 Um die Rekonstruktion von legitimen Zielen in diesem Sinne geht es in der Mehrzahl der Fälle, in denen der Begriff des Rechtsguts in Zusammenhang mit Grundrechtseinschränkungen erscheint. Auf der Stufe der legitimen gesetzgeberischen Zielsetzung ergaben sich wesentliche Probleme in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008 zur Bestrafung des Beischlafs unter leiblichen Geschwistern.4 Das Verfahren wurde von erheblichem Interesse nicht nur der Fachöffentlichkeit begleitet, und die zur Überprüfung stehende Strafvorschrift war selbst Gegenstand intensiver nicht nur rechtlicher, sondern auch gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung gewesen. Für die hiesige Betrachtung ist wesentlich, dass ein wesentliches Problem der Rechtfertigung des in der Strafvorschrift liegenden Grundrechtseingriffes auf der ersten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung angesiedelt ist. Der Inzest-Beschluss erging auf eine Verfassungsbeschwerde, die gegen eine strafgerichtliche Verurteilung gerichtet war. Diese erfolgte aufgrund § 173 Abs. 2 S. 2 StGB, der den Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern unter Strafe stellt. Das Bundesverfassungsgericht entschied – jedenfalls in der strafrechtlichen Literatur dafür viel kritisiert5 –, die in Frage gestellte Strafnorm entspreche den verfassungsrechtlichen Anforderungen.6 Dabei bestand ein wesentlicher Problemkomplex ebenfalls in der verfassungsrechtlichen Beurteilung der mit der Vorschrift verfolgten Zwecke, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu behandeln waren. Im Folgenden soll die genannte Entscheidung als Ausgangspunkt der Überprüfung dienen, ob sich Einwände verfassungsrechtlich fundieren las2 Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 140: „Bezugspunkt der Kontrolle“; ganz ähnlich Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 149; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 181. Zur Verwerfung von Vorschriften wegen fehlenden legitimen Zwecks s. Petersen, Rationalitätskontrolle, S. 167 ff. Vgl. auch Engel, Ziel, S. 103 (103): Freiheit des Gesetzgebers bei der Wahl von Regelungszielen bestimmt die Schärfe des Maßstabs der Kontrolle von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. 3 Vgl. nur BVerfGE 80, 137 (159 f.) für die ständige Rspr.; dort wird in aufeinander folgenden Absätzen sowohl von „Zweck“ als auch von „Ziel“ gesprochen; gleichbedeutender Gebrauch auch in E 93, 121 (147 f.); 99, 280 (296 f.); vgl. jedoch auch oben 1. Teil D. II. Fn. 299 zur vorpositiven Bedeutung von „Staatszweck“. 4 BVerfGE 90, 145 bzw. 120, 224 (vgl. oben 2. Teil I. bei Fn. 32). 5 Vgl. die Übersicht der innerhalb kurzer Zeit veröffentlichten ablehnenden Stellungnahmen bei Roxin, StV 2009, S. 544 (544 Fn. 4). Dennoch gab es auch im Strafrechtlichen Schrifttum tendenziell wohlwollende Äußerungen, s. etwa Otto, JURA 2016, S. 361 (369 ff.). 6 BVerfGE 120, 224 (238).
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis179
sen, die an die Frage anknüpfen, wie die der verfassungsrechtlichen Prüfung zu Grunde zu legenden Zwecke, also die rechtfertigenden Rechtsgüter, zu bestimmen sind. Dies betrifft die Vorgehensweise der Ermittlung des Prüfungsgegenstands und ist damit gegenüber dem anzulegenden Prüfungsmaßstab vorgelagert. Dieser Aspekt von Zielen lässt sich als subjektiver Bezug deuten: Weil Zwecke auf Handlungen bezogen sind,7 gehört zu jedem Zweck ein Subjekt, das ihn verfolgt. In diesem Sinne ist geltend gemacht worden, es werde nicht hinreichend berücksichtigt, dass allein der Gesetzgeber maßgeblicher Zwecksetzer sei.8
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis I. Gesetzeszweck als zentraler Ort der Kritik am Inzest-Beschluss Im Inzest-Beschluss legen schon die Relationen hinsichtlich des vom Bundesverfassungsgericht betriebenen Begründungsaufwandes nahe, dass die zentrale Problematik des Entscheidungsgegenstandes bei der Beurteilung der Zwecke zu verorten ist, die als mit § 173 Abs. 2 S. 2 StGB verfolgt betrachtet werden können. Dieser äußerliche Befund erhärtet sich, wenn man den Umfang des der Auseinandersetzung mit diesem Komplex gewidmeten Teils des Sondervotums und die kritischen Stellungnahmen in der Literatur betrachtet. Die strafrechtliche Rechtsgutslehre wird weder von der Senatsmehrheit noch vom Autor des Sondervotums ausführlich behandelt.9 Die Begründung der Mehrheit fasst sie, wie der Verfasser der abweichenden Meinung formuliert, „nur mit spitzen Fingern“ an10 – und lässt erkennen, in Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik möge sie vielleicht ihre Qualitäten in anderer Hinsicht haben, für das Verfassungsrecht sei sie jedoch nicht maßstäblich.11 Formen des Wortes „Rechtsgut“ erscheinen verschiedentlich an weiteren Stellen in der Begründung des Mehrheitsbeschlusses: Beim Referat über die Situation in fremden Rechtsordnungen12, im Referat über abgegebene Stellungnahmen13, in der Formulierung vom Strafrecht als „ ‚ultima ratio‘ des 7 Wernsmann, NVwZ 2000, S. 1360 (1362 f.); Koch/Rüßmann, Begründungslehre, S. 169 f. 8 Vgl. sogleich unten B. I. 1. 9 s. schon oben 2. Teil I. bei Fn. 32. 10 Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (257). 11 BVerfGE 120, 224 (242). 12 BVerfGE 120, 224 (232). 13 BVerfGE 120, 224 (237).
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Rechtsgüterschutzes“14, in der Formel vom je nach auf dem Spiel stehenden Rechtsgütern engeren oder weiteren Beurteilungsspielraum bei Eignung und Erforderlichkeit15 sowie bei der Stellungnahme zur Unterscheidung von Moralverteidigung und Rechtsgüterschutz16. Lediglich letztere Verwendung fällt in den Teil des Beschlusses, der die konkrete verfassungsrechtliche Prüfung von § 173 Abs. 2 S. 2 StGB beinhaltet. Es scheint, als werde das Wort „Rechtsgut“ oder „Schutzgut“ dort im Übrigen vermieden. Namentlich die Ausführungen zum Schutz von Ehe und Familie, der sexuellen Selbstbestimmung bzw. zur Eugenik hätten gerade im strafrechtlichen Kontext wenigstens beiläufige Verwendungen erwarten lassen:17 Die Rede von Ehe und Familie bzw. der sexuellen Selbstbestimmung als Rechtsgut ist geläufig, der Verhinderung von Erbschäden lässt sich die Volksgesundheit als Rechtsgut unterlegen. Es kann nur spekuliert werden, ob dem Verzicht bewusstes Kalkül zu Grunde liegt. Im Folgenden soll zunächst nachvollzogen werden, wie sich das Problem der Ermittlung des gesetzgeberischen Ziels in dem Beschluss manifestiert. 1. Sondervotum: wirkliche Zwecksetzung, Zweckklarheit Dazu ist von der gegenüber der mehrheitlich getragenen Entscheidung kritischen Position auszugehen. Diese findet sich bereits im von Winfried Hassemer zu der Entscheidung abgegebenen Sondervotum. Man kann von den präg nanten Aussagen ausgehen, die Klarheit über die Regelungsziele gehöre unverzichtbar zur Entscheidung des Strafgesetzgebers und „die nachträgliche Unterlegung eines Normzwecks“ verändere „die Koordinaten der Verhältnismäßigkeit, ihre Konturen und Inhalte“.18 Der Gesetzgeber dürfe die Bestimmung des Normzwecks nicht auf die Instanzen Rechtspraxis und Rechtswissenschaft verlagern.19 Dem Wortlaut nach ist dies als Kritik an ei14 BVerfGE 120,
224 (240). 224 (240). 16 BVerfGE 120, 224 (248). 17 Das zeigt sich beispielsweise bei Thurn, KritJ 42 (2009), S. 74 (76 ff.), der die vom BVerfG rekonstruierten Zwecke als Rechtsgüter bezeichnet, ohne dass sich bereits darin eine besondere sachliche Differenz zeigte. Allgemein bestätigt wird es durch den Befund im 2. Teil, dass das Bundesverfassungsgericht häufig die auf der ersten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellenden legitimen Zweck als Rechts- oder Gemeinschaftsgut bezeichnet. 18 Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (257). Der Beschränkung auf den Gegenstand der Entscheidung angemessen bezieht sich Hassemer auf die verfassungsrechtlichen Grenzen der Strafgesetzgebung. 19 Dieser Vorwurf bezieht sich insbesondere auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (259 f.). 15 BVerfGE 120,
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis181
ner Verschiebung hinsichtlich des für die Schaffung eines Rechtsguts verantwortlichen Subjekts zu verstehen. Fraglich ist jedoch, ob man das Sondervotum dahingehend deuten kann, es sei erforderlich, dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich zum verfolgten Zweck äußere. Das würde in diesem Zusammenhang gleichzeitig bedeuten, es sei auf den subjektiven Zweck des Gesetzgebers abzustellen, der sich primär aus den Materialien des Gesetzgebungsverfahrens zu bestimmen hätte, soweit er nicht in den Normformulierungen selbst unmittelbaren Ausdruck gefunden hätte. Die Erkenntnis des Zwecks wäre damit regelmäßig auf Quellen außerhalb des Normtextes selbst fokussiert. In der Tat lässt sich die Vorgehensweise bei der Untersuchung der einzelnen von der Senatsmehrheit herangezogenen Zwecke als Indiz für einen solchen Standpunkt lesen: Dort wird bei der Behandlung der eugenischen Gesichtspunkte, der sexuellen Selbstbestimmung und des Schutzes von Ehe und Familie jeweils zunächst Bezug auf die Gesetzes(entwurfs)begründung genommen.20 Für die eugenischen Belange – sie werden aus inhaltlichen Gründen als illegitim verworfen – bleibt es auch bei dieser Bezugnahme auf die geäußerte Motivation des Gesetzgebers. Bei der sexuellen Selbstbestimmung ist dieser Bezug jedoch ein nur negativer: „nicht einmal der Gesetzgeber“ habe sich auf dieses Schutzgut berufen. Die weitere Argumentation gegen die Vorstellung, die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB schütze die sexuelle Selbstbestimmung, beruft sich jedoch auf den Wortlaut der Vorschrift und die Gesetzessystematik. Hassemer macht geltend, es fehlten spezifisch auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gemünzte Tatbestandsmerkmale.21 Außerdem spreche die Beschränkung der Strafbarkeit auf volljährige Geschwister gegen eine entsprechende Zweckbestimmung; der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ende typischerweise an der Grenze der Volljährigkeit, wenn nicht besondere Momente wie Zwang oder Widerstandsunfähigkeit die Selbstbestimmungsfähigkeit ausschlössen. Was die sexuelle Selbstbestimmung als Schutzgut betrifft, bedient sich die Argumentation damit allein der Vorschrift selbst als Grundlage der Zweckermittlung. Als gewissermaßen äußerlich-systematischen Anhaltspunkt nennt das Sondervotum, der Gesetzgeber habe die Vorschrift eben nicht in demjenigen Abschnitt des Strafgesetzbuches platziert, der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung enthalte. Auch dieses Argument kommt mit dem Produkt der Gesetzgebung selbst als Grundlage aus und greift nicht auf gegenüber dem Normtext externe Fakten zurück, wie sie Materialien und insbesondere Entwurfsbegründungen darstellen. Hassemer, BVerfGE 120, 224 (258 bzw. 259 bzw. 261). Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (259 f.).
20 Sondervotum 21 Vgl.
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
In diesem Sinne außerhalb des Normtext zu suchende Gesichtspunkte und aus diesem entwickelte Überlegungen stehen schließlich beim Schutz von Ehe und Familie als möglichem Rechtsgut der Vorschrift gegeneinander. Der Autor des Sondervotums nimmt zunächst zur Kenntnis, der Gesetzgeber habe zwar primär auf mögliche ehe- und familienzerstörende Wirkungen abgestellt. Anschließend argumentiert er jedoch aus der Vorschrift heraus dagegen, dies als (einen) Zweck derselben anzunehmen. Die auf den Beischlaf beschränkte und nicht auf jegliche sexuelle Betätigung erstreckte Strafdrohung spreche gegen eine Schutztendenz gegenüber allen familienstörenden Handlungen.22 Außerdem widerlege die Strafbarkeit erst ab der Volljährigkeit tendenziell solch eine Zielrichtung. Rollenüberschneidungen bei Kindern aus Inzestbeziehungen, die dem in Art. 6 Abs. 1 GG niedergelegten Bild der Familie widersprächen, setzten die angesichts der heutigen Möglichkeiten sicherer Empfängnisverhütung nicht hinreichend große Wahrscheinlichkeit voraus,23 aus inzestuösen Sexualkontakten müssten Kinder hervorgehen. Diese hier vorgebrachten Gründe sind zwar zu einem wesentlichen Teil auf tatsächliche Erwägungen gestützt. Deren Ausgangspunkt liegt jedoch allein in der im Rechtstext fixierten Regelung und nicht etwa bei anderem zur Zweckermittlung tauglichen Tatsachenmaterial wie der Gesetzesbegründung. Die Erwägungen des Gesetzgebers selbst sollen gegenüber der Plausibilitätsprüfung der Zwecke an der Vorschrift selbst gar zurückzutreten haben, da sie sich in dieser Regelung nicht hinreichend manifestiert hätten.24 Der Autor des Sondervotums bezieht somit zwar eindeutig Stellung für den Gesetzgeber als maßgeblichen Rechtsgutsschöpfer. Gleichzeitig ist das primäre Mittel zur Erkenntnis der einer bestimmten Vorschrift zu Grunde liegenden Rechtsgüter die Vorschrift selbst unter Anwendung der anerkannten Canones der Auslegung. Ein Vorrang von ausdrücklichen normtext-externen Äußerungen des Gesetzgebers wird nicht geltend gemacht. Hassemer, BVerfGE 120, 224 (262 f.). die entsprechenden Erwägungen zur Entwicklung von Erbkrankheiten bei Kaspar, Verhältnismäßigkeit, S. 451. 24 Vgl. Sondervotum Hassemer, BVerfGE 120, 224 (262): „Jedenfalls zielt die Strafnorm in ihrer konkreten Fassung tatsächlich nicht auf den Schutz der Familie vor sexuellen Handlungen unter Geschwistern.“ Grundsätzlich ließe sich dem Gesetzgeber, der das Sexualstrafrecht mit dem Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23.11.1973 (BGBl. I, S. 1725 ff.) neu fasste und der § 173 StGB in den Abschnitt der Delikte gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie einordnete, noch wenigstens der Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 zur Seite stellen. Das würde allerdings eher historischem Interesse dienen. Im Rahmen der Reform hatte eine erneute Auseinandersetzung mit dem Straftatbestand stattgefunden und man hatte sich für dessen (geringfügig modifizierte) Beibehaltung entschieden. Dies rechtfertigt es, sich auf die Erwägungen des Reformgesetzgebers zu beschränken. 22 Sondervotum 23 Vgl.
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis183
Diese Deutung im Sinne einer Orientierung am objektiv manifestierten Gesetzeszweck findet Unterstützung durch einen Blick auf den bei anderer Gelegenheit geäußerten Standpunkt des Dissenters zur Frage der „objektiven Auslegung“. Hassemer steht diesem Ansatz zwar vorsichtig, nicht aber ablehnend gegenüber. Zwar litten am objektiven Gesetzeszweck ansetzende Auslegungsbemühungen an der fehlenden Falsifizierbarkeit, da sie letztlich auf dem forum internum des zur Rechtsfindung Berufenen abliefen; dies führe aber nicht zur Elimination der Auslegungsmethode, sondern zu einem vorsichtigen und kritischen Umgang mit ihr.25 Der „objektive Zweck“ des Gesetzes sei in einer weltlichen Rechtsordnung als Kriterium des Auslegungsvorgangs unverzichtbar. Der (tatsächlich-historische) Wille des Gesetzgebers kann dem „heutigen Zweck der Norm“ dieser Auffassung nach durchaus widersprechen.26 Zur Forderung nach von Seiten des Gesetzgebers herzustellender Klarheit über die mit einer Strafnorm verfolgten Zwecke scheint diese Annahme, es könne sich eine Zweckverschiebung im Zeitverlauf ergeben, in einem gewissen Spannungsverhältnis zu stehen. Das ist jedoch bei näherer Betrachtung nicht zwingend, wenn man diesen Anspruch dahingehend versteht, dass sich mit Hilfe der gängigen Auslegungsmethoden Klarheit über die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele herstellen lassen müsse. So aufgefasst bedeutet es keine Stellungnahme gegen einen objektiv-teleologischen Auslegungsansatz, wenn man Zweckklarheit fordert. Diese Lesart findet insbesondere in der oben dargestellten Vorgehensweise Hassemers bei der Prüfung von Ehe und Familie als Schutzgut des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB eine Stütze. Primär kommt es damit auf das im autoritativen Rechtstext Manifestierte an. Auf ihm hat demnach das erste Augenmerk für die Zweck ermittlung zu liegen – und nicht auf normtext-externen Gesichtspunkten. Die primär aus dem Normtext selbst heraus zu bestimmende Zwecksetzung ist jedoch etwas anderes als die bloße Bestimmbarkeit eines möglichen legitimen Zwecks (oder möglicher legitimer Zwecke). Sonst würde für den Inzest-Beschluss nämlich kein sinnvoller Inhalt der kritisch gegen die Vorgehensweise der Senatsmehrheit gerichteten Anforderung zurückbleiben. Der Bezug auf den Gesetzgeber als Rechtsgutsschöpfer führt bei Hassemer zu an der betroffenen Vorschrift selbst ansetzenden, Rationalitätsanspruch erhebenden Zwecküberlegungen, die eine engere Beziehung zwischen Vorschrift und Rechtsgut herstellen.27 Stellte man dagegen bloß auf einen möglichen Zweck einer Vorschrift ab, ist die Beziehung zwischen Zweck und gesetzgeberischer 25 Hassemer,
Rechtstheorie 39 (2008), S. 1 (10 f.). Rechtstheorie 39 (2008), S. 1 (12). Für Rüthers, NJW 2009, S. 1461 (1461) ist dies eine Stellungnahme zu Gunsten eines „modernen Freirechts der Justiz“. 27 Hier löst das Sondervotum in gewisser Weise, wenn auch nicht in explizit rechtspolitischem Kontext, das Jahrzehnte früher in „Theorie und Soziologie des Ver26 Hassemer,
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Fassung der Vorschrift gelockert. Als einen in diesem Sinne bloß möglichen Zweck könnte man beispielsweise den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung bei § 173 Abs. 2 S. 2 StGB betrachten. Schließlich wird eine Verhaltensweise pönalisiert, die unter Umständen ihrerseits die sexuelle Selbstbestimmung zu beeinträchtigen geeignet ist. Aus der Perspektive des Sondervotums ist die Zugrundelegung dieses Zwecks jedoch nicht tragfähig, da es sich um eine Zwecksetzung des Gesetzgebers handeln muss und dazu die bloße potentielle Zweckdienlichkeit der Vorschrift, der reine Schutzreflex nicht genügt. Es wird der Sache nach gefordert, dass ein vernünftiger Gesetzgeber, der das entsprechende Rechtsgut zu Grunde legte, der Vorschrift die konkrete Gestalt gegeben hätte. Diese argumentative Position ist damit aber gegenüber einer allzu freien Zweckerkenntnis insoweit nicht besonders stark, als sie auf die intersubjektive Überzeugungskraft ihrer eigenen Rationalitätsanforderungen angewiesen ist. 2. Rekonstruktion des Standpunkts der Senatsmehrheit Der von der Senatsmehrheit getragene Entscheidungstext verhält sich zur methodischen Frage der Bestimmung des Gesetzeszwecks im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausdrücklich. Zur Rekonstruktion des Standpunkts ist auf die Rechtsprechung zur Auslegung von Gesetzen im Allgemeinen zurückzugreifen, mit der die Zweckbestimmung zusammenhängt.28 Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, das Grundgesetz mache keine verbindlichen Vorgaben hinsichtlich der Methodik der Gesetzesauslegung.29 Der Auslegungsansatz des Gerichts ist in der folgenden Formulierung zum Ausdruck gekommen: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entbrechens“ aufgestellte Programm einer rationalen rechtsgutsorientierten Kriminalpolitik ein. Vgl. dazu oben 1. Teil C. I. 5. b). 28 Vgl. zu diesem Zusammenhang Wernsmann, NVwZ 2000, S. 1360 (1362). 29 BVerfGE 88, 145 (167). Im Sondervotum der Richter Voßkuhle, Di Fabio und Osterloh in BVerfGE 122, 248 (282–301) kommt eine andere Auffassung zum Ausdruck: Die dissentierenden Richter betonen die verfassungsmäßigen Grenzen der Rechtsfortbildung (286). Dies bedeutet wenigstens implizit, dass die Methodenfragen, wie weit die Rechtsanwendung reicht und wo Rechtssetzung beginnt, nicht im verfassungsrechtlich indeterminierten Raum anzusiedeln sind. Rüthers, NJW 2009, S. 1461 f. meint daher, das Sondervotum folge dem Grundsatz „Methodenfragen sind Verfassungsfragen“. Die im Sondervotum erkennbaren Bestrebungen, einen verfassungsrechtlichen Maßstab für die Grenzen der Rechtsfortbildung zu entwickeln, begrüßt auch Möllers, JZ 2009, S. 668 (671 f.), der selbst eine „grundrechtsdogmatische Materialisierung des Gesetzesvorbehalts“ vorschlägt (672).
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis185
scheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung.“30 Das muss als eindeutige Stellungnahme für ein objektives Auslegungsziel verstanden werden. Wille des Gesetzgebers ist demnach nicht ein historisch feststellbarer Wille, sondern „der im Gesetz objektivierte Wille“.31 Bei näherer Betrachtung des Umgangs mit Auslegungsfragen in der Rechtsprechung des Gerichts zeigt sich hinsichtlich der diesem Auslegungsziel dienenden Auslegungsmethoden jedoch, dass der Betrachtung der Entstehungsgeschichte in Problemfällen oftmals große Bedeutung zukommt.32 Das Gericht formuliert ausdrücklich: „Zumal bei neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen. Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung in solcher Lage nicht hinweggehen.“33 Dieses Zugeständnis ändert jedoch nichts an der Grundentscheidung für ein objektives Auslegungsziel und damit gegen die Genese als vorrangiges Auslegungskriterium. Abstrakt betrachtet unterscheidet sich diese methodische Grundentscheidung nicht wesentlich von der eben dargestellen, die dem Hassemerschen Sondervotum zu Grunde liegt. Die Auslegung von gesetzlichen Vorschriften folgt einer Zielvorstellung des „objektiven Normzwecks“, ohne den tatsächlich im Gesetzgebungsverfahren vertretenen Zwecksetzungen eine systematisch vorrangige Rolle zuzuweisen. Es erscheint dann konsequent, für die Prüfungsstation des legitimen Zwecks im Rahmen der Verhältnismäßigkeit entsprechend vorzugehen. Worin liegt nun der Unterschied in der Vorgehensweise, der die Senatsmehrheit der Kritik des Sondervotums aussetzt? Es lassen sich zwei wesentlich differierende Gesichtspunkte benennen. Erstens ist die Zweckrekonstruktion der Mehrheit gewissermaßen großflächiger angelegt: „Jedenfalls in ihrer Gesamtheit“ sollen die Rechtsgüter familiäre Ordnung, sexuelle Selbstbestim30 BVerfGE 1,
299 (312); ähnlich E 10, 234 (244) und 11, 126 (130). 126 (131). 32 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 800; Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 II (S. 630); Müller/Christensen, Methodik I, Rn. 67d (S. 96 f.) sehen eine besondere Bedeutung historischer und genetischer Gesichtspunkte vor allem, wenn das BVerfG Neuregelungen wie Art. 72 Abs. 2 GG auslege. Vgl. zur argumentativen Verwertung der Entstehungsgeschichte bzw. von Gesetzgebungsmaterialien nur BVerfGE 6, 32 (34); 80, 1 (23); 80, 137 (157 f.); 88, 40 (56 f.); 119, 247 (273); 120, 378 (424 f.); 128, 193 (211 f., 214). Spezifisch zur argumentativen Verwertung von Gesetzgebungsmaterialien in jüngeren Entscheidungen des Gerichts Wischmeyer, Zwecke, S. 394 ff. 33 BVerfGE 54, 277 (297 f.). Vgl. auch E 34, 269 (288): Die Rechtsfortbildungsfreiheit des Richters wird größer, wenn ein Gesetz „älter“ wird. 31 BVerfGE 11,
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
mung und Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen die strafrechtliche Durchsetzung des Inzesttabus tragen können. Die eu genischen Gesichtspunkte werden dabei als „ergänzend“34 qualifiziert, die gesellschaftliche Verankerung des Inzesttabus betont. Über die Auseinandersetzung mit den einzelnen Rechtsgütern ist damit sozusagen ein Schleier gelegt – durch die Zusammenfassung zu einer „Gesamtheit“ und den Bezug auf die verbreiteten Moralauffassungen. Die verfassungsrechtliche Relevanz dieser beiden Gedanken wird nicht klar. Zweitens geht die Senatsmehrheit davon aus, man könne auch das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung als von dem Straftatbestand geschützt betrachten. Anders als bei den übrigen legitimierenden Zwecken kann hierfür die Gesetzesbegründung nicht als Beleg herangezogen werden und das Gericht zitiert lediglich eine entsprechende Stimme aus der Literatur. Die Begründung für diesen Schutzzweck ist primär an der Fallkonstellation ausgerichtet, dass sich eine zunächst als Missbrauchstat strafbare inzestuöse Geschwisterbeziehung wegen fortbestehender Abhängigkeit in die Volljährigkeit des Opfers fortsetzt und das Zwangsmoment nicht für eine Strafbarkeit wegen sexueller Nötigung genüge.35 Mit solcherlei Überlegungen, die in der Fassung des Tatbestandes keinen Anhalt finden, gelangt man in einen Bereich, in dem es schwierig wird, noch von einer Zwecksetzung des Gesetzgebers zu sprechen. Es ist nicht zu bestreiten, dass im Fall der Fortsetzung einer nicht freiwilligen inzestuösen Beziehung eine Strafbarkeit nach § 173 Abs. 2 S. 2 StGB gegeben wäre und zugleich eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung vorläge. Diese Schutzrichtung hat sich jedoch in der vom Gesetzgeber gewählten Formulierung der Strafvorschrift nicht manifestiert. Die Senatsmehrheit mag sich hier darauf berufen, ein objektiv von der Vorschrift geschütztes Rechtsgut zu benennen. Der Sache nach wird lediglich ein weiterer (Schutz-)Effekt der Vorschrift benannt, ein bloßer Schutzreflex, der sich jedoch nach Wortlaut und Systematik nicht als mit der Vorschrift intendiert verstehen lässt. Hier legt das Gericht einen bloß möglichen und nicht einen wirklichen, manifestierten Zweck der Strafbestimmung zu Grunde. Dies bedeutet zugleich, dass man die sexuelle Selbstbestimmung nicht mehr als vom Gesetzgeber kreiertes Rechtsgut des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB betrachten kann; diese Zwecksetzung kann man ihm als maßgeblichem Subjekt nicht mehr zurechnen. Man wird wohl sagen können, das Bundesverfassungsgericht betreibe insoweit eher Zweckkonstruktion als Zweckrekonstruktion.
34 BVerfGE 120, 35 BVerfGE 120,
224 (243). 224 (246).
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis187
3. Keine fundamentale Differenz Fundamental unterscheiden sich nach dem eben Ausgeführten die Positionen der Senatsmehrheit und des Sondervotanten nicht. Insbesondere ist letztere keine in dem Sinne stark subjektivistische, dass es auf einen – wie auch immer – unabhängig von der Vorschrift als Produkt der Gesetzgebung selbst zu bestimmenden Zweck ankommen solle. Bei der konkreten Behandlung der im zu entscheidenden Fall relevanten Zwecke ergibt sich die einzige grundsätzlich bedingte Differenz bei der sexuellen Selbstbestimmung. Hier dürfte sich sagen lassen, der argumentative Umgang der Senatsmehrheit mit diesem Rechtsgut verliere den Gesetzgeber als Zwecksetzer aus dem Auge. Im Übrigen ist der Unterschied jedoch weniger scharf ausgeprägt. Nimmt man die von Hassemer ausgesprochene Forderung nach Zweckbestimmung durch den Gesetzgeber und nach Zweckklarheit in der (Straf-)Gesetzgebung ernst, so besteht inhaltlich ein bloß gradueller Unterschied zur für diese Belange nicht explizit engagierten Mehrheitsposition. Lediglich die pointierte rhetorische Präsentation kann zur Annahme verleiten, es gehe hier um eine grundsätzliche Differenz. Jedenfalls bezüglich der Frage, ob ein Zweck dem Gesetzgeber als Zwecksetzer zuzurechnen sein müsse, besteht jedoch der Sache nach keine Uneinigkeit.
II. Unterschiedliche Zweckermittlung durch die Senate? Ausdrücklich wird die Frage, wie der Gesetzeszweck für die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bestimmen sei, auch in keiner weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts thematisiert. Es sind jedoch einige Stellen als implizite Positionierung interpretiert worden. Wernsmann formuliert dabei lediglich eine ausdrücklich auf das zwecksetzende Subjekt bezogene Frage, nämlich, ob das Bundesverfassungsgericht oder der Gesetzgeber den Zweck einer grundrechtseinschränkenden Norm bestimme; Cremer wählt den Gegensatz zwischen subjektiven und objektiven Zwecken als Perspektive.36 Hinsichtlich der jeweiligen Antwort soll ein Unterschied zwischen der Rechtsprechung des Ersten und derjenigen des Zweiten Senats bestanden haben. Letzterer gilt dabei als Vertreter des Abstellens auf vom Gesetzgeber subjektiv vertretene Zwecke, der Erste Senat dagegen soll regelmäßig auch rein „objektive“ Zwecke zur Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen akzeptiert haben.37 Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Gegenüberstellung in dieser Schärfe nicht haltbar ist. Es hat sich bereits bei der Betrachtung des Inzest-Beschlusses gezeigt, dass der Gesetzgeber als Quelle 36 Wernsmann, 37 Wernsmann,
NVwZ 2000, S. 1360 ff.; Cremer, NVwZ 2004, S. 668 ff. NVwZ 2000, S. 1360 (1361); Cremer, NVwZ 2004, S. 668 (670).
188
3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
der Ziele des Gesetzes nicht in Frage gestellt wird und die Problematik richtigerweise unter den Titel des korrekten methodischen Ansatzes zur Ermittlung dieser Zwecksetzung und dessen Umsetzung im Einzelnen zu fassen ist.38 Für eine Ausrichtung ausschließlich an den „subjektiven“ Zielen des Gesetzgebers sind Entscheidungen des Zweiten Senats zum Abgabenrecht in Anspruch genommen worden.39 In diesen waren jeweils solche über die Einnahmeerzielung hinausgehenden Ziele unberücksichtigt geblieben, die potentiell zur Verfassungsmäßigkeit von im Ergebnis verworfenen Abgabentatbeständen hätten führen können.40 Das Gericht stellte dabei aber jeweils darauf ab, dass diese Zwecke nicht ausreichend in den jeweiligen Tatbeständen Niederschlag gefunden hätten.41 Damit wird zwar an einen tatsächlichen gesetzgeberischen Akt angeknüpft, jedoch eben nicht ein Vorrang normtextexterner Erkenntnisquellen postuliert. Dazu ergeben die für die Anerkennung objektiver Zwecke herangezogenen Entscheidungen des Ersten Senats keinen Kontrast. Es wird in einer frühen Entscheidung zum Rabattgesetz ein Prinzip der genetischen Kontamination abgelehnt.42 Die dem historischen Gesetzgeber unterstellte Hintergrundmotivation (Antisemitismus) für einen vordergründigen Zweck (Mittelstandsschutz) schlägt nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift durch, da sich aus dem objektiven Gehalt des Gesetzes ein legitimes Ziel ergebe.43 In die gleiche Linie fügen sich spätere Entscheidungen, in denen tatsächliche Belege für eine unzulässige Motivation für unerheblich erklärt44 oder das Fehlen solcher Belege für bestimmte gesetzgeberische Zielsetzungen als unschädlich erachtet wird45. Stets soll es – obwohl in den letzteren Fällen ausdrücklich auf einen „objektiven“ Maßstab abgestellt wird – jedoch auf die „gesetzliche Maßnahme“ selbst ankommen.46 Der Unterschied zwischen den 38 s. oben
B. III. 1. NVwZ 2004, S. 668 (669 f.). 40 Insbesondere zu Lenkungssteuern Weber-Grellet, NJW 1991, S. 3657 (3660 ff.); zur Zulässigkeit jüngst wieder BVerfG, 1 BvF 3/11 vom 5.11.2014, Rn. 44 m. w. N. 41 BVerfGE 93, 121 (147 f.); 99, 280 (296 f.); 108, 1 (20). 42 Ähnlich Wernsmann, NVwZ 2000, S. 1360 (1361): Ausblendung vermutlich mitverfolgter illegitimer Zwecke. 43 BVerfGE 21, 292 (299). Für die geringe Schlagkraft des Arguments einer (ursprünglich) antisemitischen Motivation dürfte weiterhin von Bedeutung gewesen sein, dass das Gesetz nachkonstitutionell novelliert worden war (295). 44 BVerfGE 33, 171 (186) – zur problematischen Zielsetzung, die Einkommensverteilung zu steuern, s. die Entwurfsbegründung BT-Drs. 12-3608, S. 93; BVerfG, 1 BvR 2167/93 vom 31.3.1998, Abs. 29 = NJW 1998, 1776 (1777). 45 BVerfGE 48, 227 (237); 75, 246 (268). 46 Ausdrücklich BVerfGE 48, 227 (237). 39 Cremer,
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis189
vom Ersten und Zweiten Senat entschiedenen Konstellationen scheint demnach nicht in einem verschiedenen Standpunkt zur „subjektiven“ Zweckermittlung zu liegen. Zur Annahme dieser Verschiedenheit verleitet die abgabenrechtliche Situation, dass mit der Erzielung von Einnahmen gewissermaßen ein Reservezweck ohne weiteren Begründungsaufwand bereitsteht und dies die Anforderungen an eine weitergehende Zielsetzung besonders „subjektiv“ orientiert erscheinen lässt. Eine sachliche Uneinheitlichkeit ist damit in den untersuchten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Grundlagen der Zweckermittlung nicht festzustellen.47 Die eingangs der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bestimmenden Zwecke sind stets solche des Gesetzgebers und sie sind aus dem Gesetz zu ermitteln.
III. Kein Vorrang normtext-externer Zweckerkenntnisquellen 1. Methode der Zweckrekonstruktion als Kern des Problems Eine Auffassung, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblichen Zwecksetzungen müssten nicht solche des Gesetzgebers sein, lässt sich nach dem bisher Erörterten dem Bundesverfassungsgericht nicht zuschreiben – auch nicht einem seiner Senate. Es liegt daher nahe, das in der Kritik des Inzest-Beschlusses aufgeworfene Problem jedenfalls nicht primär als ein solches des Zwecksetzers zu begreifen. In der Sache umstritten ist vielmehr die methodisch richtige Rekonstruktion des Zweckes, der den Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bilden hat. Wenn gesagt wird, der Zweck sei „subjektiv nach der Motivation des Gesetzgebers [zu ermitteln], soweit diese Ausdruck im Gesetz selbst oder in den Gesetzgebungsmaterialien gefunden hat“,48 so wird erkennbar, dass zwischen dem Gesetz selbst und den Gesetzgebungsmaterialien als Zweck erkenntnisquellen unterschieden werden kann. Das Gesetz als taugliche Quelle kann dabei nicht in Frage gestellt werden.49 Soweit ein Zweck im 47 Anders Wernsmann, NVwZ 2000, S. 1360 (1361) und wohl auch Cremer, NVwZ 2004, S. 668 (670) sowie tendenziell Lange, Grundrechtsbindung, S. 271 f. 48 Lange, Grundrechtsbindung, S. 271. 49 Der von Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 140 f. gewählte prozessuale Standpunkt, der erwägt, den staatlichen Akteur zur „Nennung der einschlägigen Zweckvorgaben und eventuell ergänzend selbst gesetzten Zwecke“ zu verpflichten, ist für die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzgebung nicht angemessen. Bei den dafür im Wesentlichen in Betracht kommenden Verfahrensarten konkrete und abstrakte Normenkontrolle sowie Verfassungsbeschwerde handelt es sich nicht um kontradiktorische Verfahren (zur Verfassungsbeschwerde: Magen, in: Umbach/Clemens/Dollinger [Hrsg.], BVerfGG, § 92 Rn. 1 Fn. 1; Bethge, in: Maunz/Schmidt-
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Gesetz zum Ausdruck kommt, ist er von der normativen Geltung umfasst und damit in jedem Fall zu berücksichtigen. Die Rekonstruktion ist in diesem Fall Gesetzesauslegung. Darauf wird noch einzugehen sein. Fraglich ist aber, ob den Gesetzesmaterialien und anderen Indizien außerhalb des Normtextes bei der Zweckermittlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine besondere Bedeutung zuzukommen hat. Das könnte zunächst in Form eines Vorrangs derart der Fall sein, dass bei hinreichender außer-normtextlicher Grundlage für eine Ermittlung der Zwecksetzung exklusiv die solchermaßen bestimmten Zwecke der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Grunde zu legen wären. Dies ließe sich zur generellen Exklusivität steigern, namentlich in dem Sinne, dass ein Gesetz bei Fehlen einer solchen Grundlage mangels legitimen Zwecks als verfassungswidrig zu gelten hätte. Es wird aber zu zeigen sein, dass schon ein Vorrang nicht begründbar ist. Dagegen steht bereits das sogleich unter 2. zu behandelnde Fehlen einer Pflicht, Gesetze zu begründen. Sie steht in praktischem Zusammenhang mit der „subjektiven“ Zweckermittlung.50 Auch mit der Parallele zur Zweckkontrolle bei Entscheidung und Abwägung durch die Exekutive sowie bei der untergesetzlichen Normsetzung kann eine Sonderrolle der Erkenntnismittel außerhalb des Normtextes nicht fundiert werden (unten 3.). 2. Begründungspflicht und normtext-externe Erkenntnisquellen Unter der Voraussetzung, dass die Zwecke einer Vorschrift nur oder vorrangig aus vom Text der Vorschrift selbst verschiedenen (entstehungszeitlichen) Quellen zu ermitteln sind, gewinnt die Existenz dieser Quellen wesentliche Bedeutung. Sucht man nach Erkenntnisquellen für die bestimmten gesetzlichen Vorschriften zu Grunde liegenden Zwecke neben dem Text dieser Vorschriften selbst, so müssen diese einen hinreichenden Bezug zu dem Normsetzer als deren Autor aufweisen. Den engsten derartigen Bezug haben Texte, die – gleich der Gegenstand der Zweckermittlung bildenden Vorschrift – einen förmlichen Erlassprozess Bleibtreu, BVerfGG, § 90 [2013] Rn. 175c; zu den Normenkontrollverfahren: vgl. ders., a. a. O., Vorbemerkung [2011] Rn. 123). Eine Art Beibringungsgrundsatz wäre damit systematisch schwer vereinbar. 50 Lange, Grundrechtsbindung, S. 270: Fehlende Begründungspflicht erschwert Motivationsermittlung. Ähnlich für prozedurale Gesetzgebungskontrolle im Allgemeinen Groß, KritJ 35 (2002), S. 1 (14). Den Zusammenhang zwischen Anknüpfung am „subjektiven“ Zweck und den Begründungspflichten stellt auch Cremer, NVwZ 2004, S. 668 (671) her. S. auch die Bemerkung zur Begründung von Rechtsakten der Europäischen Union bei Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 I (S. 627).
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis191
durchlaufen haben. Jedenfalls in den Zweckvorschriften, wie sie in einigen neueren Gesetzgebungswerken verstärkt zu finden sind,51 kann jedoch gerade kein normtext-externes Datum gesehen werden, sind sie doch Teil des anordnenden Textes. Auf der Ebene der Europäischen Union sichert eine Begründungspflicht die Verfügbarkeit von Erkenntnismaterial außerhalb des verfügenden Normtexts selbst ab. Im Recht der Europäischen Union müssen nach Art. 286 Abs. 2 AEUV Rechtsakte regelmäßig begründet werden.52 Diese Begründungspflicht kann jedoch nicht getrennt von der Struktur der Europäischen Union als Rechtssubjekt eigenen Charakters betrachtet werden, das die für den modernen Staat wesentliche Kompetenz-Kompetenz nicht besitzt: Die Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ergeben das Bild eines Normsetzers, der nicht innerhalb eines verfassungsrechtlichen Rahmens frei Zwecke und Mittel setzt, sondern der auf eine Ableitung aus dem und Rückführung auf das Primärrecht angewiesen ist.53 Dazu fügt sich systematisch die Verpflichtung, diese Handlungsvoraussetzungen durch eine (formelle) Begründung nach außen treten zu lassen. Daher verbietet sich die Parallele zum Recht der Europäischen
51 s. nur § 1 Erneuerbare-Energien-Gesetz (2000); § 1 Abs. 1 Bundesdatenschutzgesetz (Neufassung 2003); § 1 Meeresbodenbergbaugesetz (1995); § 1 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (2005); § 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz (Neufassung 2002). Pointierte Polemik gegen die Konjunktur der Zweckartikel bei Volkmann, Demokratisches Schamanentum, FAZ Nr. 64 vom 16.3.2007, S. 9. Zahlreiche weitere Beispiele aus der Gesetzgebung bis Mitte der 1970er Jahre bei Höger, Bedeutung, S. 13 ff. zeigen, dass Zweckbestimmungen kein besonderes Phänomen jüngerer Gesetzgebungswerke sind; Systematisierung nach Typus des beinhaltenden Gesetzes ebd., S. 69 ff. 52 Vgl. den Gemeinsamen Leitfaden des Europäischen Parlamentes, des Rates, der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken, 2014, Nr. 10 (S. 22 ff.), insb. Nr. 10.3 (S. 22): „Die Begründung der Rechtsakte enthält im Idealfall: – eine kurze Darstellung des Sachverhalts und der darauf anwendbaren Rechtsvorschriften; – die Schlussfolgerung, dass es notwendig oder zweckmäßig ist, die im verfügenden Teil angeführten Maßnahmen zu erlassen“, http://eur-lex.europa.eu/content/techleg/KB0213228DEN.pdf [abgerufen am 10.2.2017]. Zur unionsrechtlichen Begründungspflicht s. auch Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2829 ff.), die allerdings bei grundsätzlicher Befürwortung von Begründungspflichten auch erkennen, dass sich in der Praxis gerade durch die mitunter schwer berechenbare Handhabung der Erwägungsgründe durch Gerichte neue Probleme ergeben (2830 f.). Dies geht aber nicht allein auf Besonderheiten des Unionsrechts zurück, sondern ist ein grundsätzliches Problem, wenn man neben dem eigentlich anordnenden Text weiteren Texten (wenigstens de facto) besondere Auslegungsrelevanz zuspricht. 53 Waldhoff, in: FS Isensee, S. 325 (339 f.); Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim (Hrsg.), Recht der EU, Art. 296 AEUV (2011) Rn. 13.
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Union als Argument für Begründungspflichten der parlamentarischen Gesetzgebung unter dem Grundgesetz.54 Das Grundgesetz kennt keine ausdrückliche Pflicht zur Begründung von Gesetzen. Es ist weder üblich noch vorgeschrieben, neben dem anordnenden Text (Erwägungs-)Gründe in den Gesetzesbeschluss selbst aufzunehmen oder in einer Präambel Gründe darzulegen. Eine Pflicht zur Begründung durch den Normsetzer selbst lässt sich auch aus Verfassungsprinzipien nicht ableiten.55 Angesichts des Widerspruchs zur dauernden Staatspraxis unter dem Grundgesetz wäre die Begründungslast erheblich. Ist die Verfügbarkeit von unmittelbar auf das Gesetzgebungsorgan Bundestag zurückzuführenden Begründungen demnach nicht sichergestellt, kommt doch der Rückgriff auf die Begründungen der den Gesetzgebungsvorhaben zu Grunde liegenden Initiativen in Betracht. Zwar wird man trotz der gewissen Plausibilität dieses Zusammenhangs nicht ohne Weiteres annehmen dürfen, das Parlament mache sich mit dem Gesetzesbeschluss auch die Begründung einer Vorlage zu eigen.56 Dies hat aber nicht zur Folge, dass solche Begründungen nicht dennoch taugliches Material zur Ermittlung des hinter einer Vorschrift stehenden gesetzgeberischen Willens wären.57 Auch die 54 Mit genannter Tendenz jedoch Lücke, Begründungszwang, S. 217 f. und Redeker/Karpenstein, NJW 2001, S. 2825 (2831). 55 Waldhoff, in: FS Isensee, S. 325 (329 ff.); Hebeler, DÖV 2010, S. 754 (762), s. auch dort S. 756 ff. zu in einzelnen Fallgruppen vom Bundesverfassungsgericht angenommenen Pflichten des Gesetzgebers, die der Angabe von Gründen der Sache nach gleich kommen. Dies ist jedoch nicht generalisierbar und betrifft den Prozess der Entscheidungsfindung. 56 So genannte „Paktentheorie“, vgl. Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 I (S. 628); Bydlinski, Methodenlehre, S. 432. Kritisch gegenüber der Annahme, die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft akzeptierten regelmäßig den von den konkreten Textverfassern, d. h. regelmäßig den Ministerialbeamten, zugrunde gelegten und in der Begründung festgehaltenen Sinn, Larenz, Methodenlehre, S. 329 f. Ebenfalls ablehnend zur Paktentheorie Meyer, Der Staat 48 (2009), S. 278 (285) mit dem Argument, die nachträgliche Motivationszuschreibung stehe in Widerspruch mit der Weisungsfreiheit und Gewissensunterworfenheit der Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 GG. Instruktive Aufarbeitung der Kontroverse um den Willen des Normsetzers bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 349 ff.; vgl. auch v. Landenberg-Roberg/Sehl, Rechtswissenschaft 2015, S. 135 (140 ff.). 57 So im Ergebnis auch Larenz, Methodenlehre, S. 330: Entwurfsbegründungen seien, neben Beratungsprotokollen und Entwürfen selbst, eine wesentliche Erkenntnisquelle für die Regelungsabsicht und Zwecke des Gesetzgebers. Ebenso trotz Ablehnung der „Paktentheorie“ Waldhoff, in: FS Isensee, S. 325 (329 f.). Auf dem Verständnis von „Gesetzgebung als kollektiv intentionales Handeln“ fußende Begründung der Berücksichtigungsfähigkeit von Materialien als Dokumente des Willensbildungsprozesses bei Wischmeyer, Zwecke, S. 382 ff.; s. auch v. Landenberg-Roberg/Sehl, Rechtswissenschaft 2015, S. 135 (147): nur eingeschränkte Reichweite des genetischen Arguments (Intention der entscheidungstragenden Mehrheit).
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Existenz von Entwurfsbegründungen ist jedoch verfassungsrechtlich nicht gewährleistet. Zwar sind Entwürfe im Gesetzgebungsverfahren des Grundgesetzes nach den Geschäftsordnungen von Bundestag, Bundesrat und nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien hinreichend zu begründen.58 Nach überwiegender Auffassung korrespondiert diesen geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht.59 Dies macht die Geschäftsordnungsregelungen nicht verfassungswidrig; sie sind aber kein zwingendes Recht.60 Fest steht damit, dass das deutsche Verfassungsrecht keine Vorkehrungen für die Generierung von mit größtmöglicher Authentizität versehenen Begründungstexten zu Gesetzgebungsakten getroffen hat. Dies spricht mittelbar auch gegen generalisierende Ansätze, die bestimmte Vorgaben hinsichtlich des (zu dokumentierenden) Entscheidungsprozesses postulieren.61 Und es spricht jedenfalls systematisch gegen die These des Vorrangs normtext-extern ermittelter Zweckbestimmungen, wenn nicht einmal sichergestellt ist, dass auch nur für neu erlassene Gesetze ein ausreichendes Substrat für eine Zweckermittlung auf diesem Wege zur Verfügung steht.
58 § 76
Abs. 2 GOBT; § 24, § 26 Abs. 3 S. 2 GOBR; § 42 Abs. 1, § 43 GGO. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 76 (2011) Rn. 22; Masing, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 76 Rn. 62; Rubel, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 76 Rn. 18; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl., Art. 76 Rn. 16; a. A. Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 76 Rn. 7: formelle Begründungspflicht aus Art. 20 Abs. 3 GG zur Ablegung von Rechenschaft über die Verfassungsmäßigkeit; tendenziell ebenso Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl., Art. 76 Rn. 31 ff. Begründungen als rechtspolitisches Desiderat bei Redeker/Karpenstein, NJW 2001, S. 2825 (2831); kritisch Hebeler, DÖV 2010, S. 754 (762) und Schwarz/Bravidor, JZ 2011, S. 653 (659). Eine Kontrolle des Abwägungsvorgangs wie im Planungsrecht möchte Erbguth, JZ 2008, S. 1038 (1042) aufgrund der Bindungen des Verfassungsrecht auch auf die Gesetzgebung erstrecken. Dies bedeutet mittelbar auch einen Zwang zur (dokumentierten) Abarbeitung von Begründungslasten außerhalb des Normtexts selbst. 60 Kersten, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 76 (2011) Rn. 22; Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 76 Rn. 3. 61 s. etwa das von Haverkate, Rechtsfragen, S. 290, postulierte „Zweckverdeutlichungsgebot“. Allgemein zu Ansätzen, dem „Gesetzgeber eine nachprüfbare Rationalität des Prozesses seiner Entscheidungsfindung [aufzuerlegen]“ mit kritischer Stellungnahme Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 541 f.; ähnlich bereits Gusy, ZRP 1985, S. 291 (292 ff.) zu Versuchen, weitgehende über den Verfassungstext hinausgehende qualitative Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren aus dem Grundgesetz abzuleiten. Petersen, Rationalitätskontrolle, S. 273 ff. rekonstruiert die u. a. vom Bundesverfassungsgericht durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wesentlichen als Rationalitätskontrolle. 59 Kersten,
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
3. Untergesetzliche Akte und der Vorrang empirischer Zwecke In gewisser Weise parallel zur Zweckbestimmung bei Gesetzgebungsakten liegt die Kontrolle von exekutivem Handeln anhand der verfolgten Zwecke. Auf diese Parallele ist das Postulat gestützt worden, wenn es bei der Kontrolle von exekutivem Handeln auf einen tatsächlich verfolgten, gegenüber anordnenden Texten externen Zweck ankomme, müsse bei Gesetzen das Gleiche gelten.62 Dieser Gedanke erweist sich im Ergebnis jedoch als nicht tragfähig. Um dies zu zeigen, sollen die Unterschiede zwischen beiden Konstellationen herausgearbeitet werden. Dies wiederum erfordert zunächst eine Rekonstruktion der Bedeutung von Zwecken und Zweckverfolgung in der rechtlichen Kontrolle von Entscheidungen der ausführenden Gewalt. Grundsätzlich ist die Verwaltung wie auch die untergesetzliche Rechtssetzung an die vom Gesetzgeber vorgegebenen Zwecke gebunden.63 Die Bindung wenigstens an vorgegebene Zwecke, wenn nicht eine Bindung an Konditionalprogramme vorliegt,64 ist für die Verwaltung essentiell.65 Im Bereich der gebundenen Verwaltung hat der Gesetzgeber die von ihm gesetzten Zwecke bereits in konkrete Handlungsanweisungen umgesetzt, die das Verhalten der Verwaltung bei Erfüllung gewisser tatbestandlicher Bedingungen determinieren. Eine Überprüfung des Verwaltungshandelns auf die Übereinstimmung mit den legislativ vorgegebenen Zwecken findet hier grundsätzlich mittelbar statt: die Kontrolle bezieht sich auf die Einhaltung des Konditionalprogramms anhand der einschlägigen Normierungen.66 Eine eigentliche 62 Wernsmann,
NVwZ 2000, S. 1360 (1363 f.). in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII (2006) Rn. 111; Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 290; zur im Einzelnen jedenfalls praktisch durchaus komplexer liegenden Problematik vgl. Weitzel, Justiziabilität, S. 53 ff.; vgl. auch Pfefferl, Dichotomie, S. 155 ff. zur „Verhaltensdetermination durch abstrakte Ziele“. 64 Nach Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 195 sind Entscheidungsprogramme des Rechtssystems immer Konditionalprogramme (vgl. dazu Wischmeyer, Zwecke, S. 285 ff.). Zweckprogramme im Recht sind demnach stets bloßer Leitfaden für die Ermittlung des Konditionalprogramms für die konkret anstehende Entscheidung (S. 202). Diese hier nicht weiter zu diskutierende Einsicht, die einen spezifisch geschärften Begriff von Konditional- und Zweckprogramm zu Grunde legt, widerlegt jedoch nicht die Zweckmäßigkeit einer dogmatischen Differenzierung zwischen konditionalen und zweckgebundenen Verwaltungsentscheidungen. Sie findet ihre Begründung in der unterschiedlichen Struktur des Entscheidungsprozesses desjenigen, der zu einer Entscheidung berufen ist. Pfefferl, Dichotomie, 148 ff. gelangt zu einer kritischen Beurteilung der normstrukturellen Dichotomie und unternimmt den Entwurf eines „materiellen Modells rechtlicher Determination“. 65 Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 3 Rn. 17. 66 Dies ist die idealtypische Sachlage. Komplizierter wird die Situation, sofern der Verwaltung ein der Kontrolle entzogener Beurteilungsspielraum eingeräumt wird und damit jedenfalls auf der Kontrollebene eine Lockerung der konditionalen Bindung 63 Grzeszick,
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Zweckkontrolle findet statt, wenn untergesetzliche Normsetzungsakte, Ermessens- oder Abwägungssentscheidungen zur Überprüfung stehen.67 a) Zweckkontrolle untergesetzlicher Rechtssetzung Die Exekutive ist an die verfassungsrechtlichen Vorgaben und damit an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden, jedenfalls soweit der Bürger in grundrechtlich oder anderweitig verbürgten Positionen beeinträchtigt wird.68 Somit stellt sich auch für die untergesetzliche Rechtsetzung durch die ausführende Gewalt die Frage, welche Zwecke zum Ausgangs- und Referenzpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu machen sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 für untergesetzliche Rechtssetzungsakte geurteilt, maßgeblich sei der tatsächlich verfolgte Zweck, und formulierte: „Die Eignung der Maßnahme, irgendeinen im öffentlichen Interesse liegenden Zweck zu fördern, genügt nicht.“69 Das soll selbst dann gelten, wenn der Zweck verfassungsrechtlich anerkannt ist wie der Umweltschutz in Art. 20a GG. Das Gericht lehnt es also ab, mit der durch die verfassungsrechtliche Verankerung verstärkten Legitimität einer Zwecksetzung die fehlende tatsächliche Äußerung zu kompensieren, also gewissermaßen ein fehlendes formelles durch ein materielles Element auszugleichen. Die Aussage, es komme auf die Eignung des Mittels zur Erreichung des tatsächlich verfolgten Zwecks an, wird nicht auf die im entschiedenen vorliegt. Zu Beurteilungsspielräumen der Verwaltung siehe nur Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 520–522, 526–529; Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 28–33; zur Abgrenzung von Ermessenseinräumung und unbestimmtem Rechtsbegriff vgl. Forsthoff, Lehrbuch, S. 89 ff. 67 Zur „strukturelle[n] Verwandtschaft“ zwischen Ermessensfehlern, Fehlern bei der Ausfüllung von Beurteilungsspielräumen und Fehlern bei planerischen Abwägungsvorgängen siehe nur Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 540. Deutliche Parallelen gibt es auch zwischen Ermessenskontrolle und Kontrolle von Entscheidungen im Fall von Beurteilungsspielräumen; siehe nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 (2014) Rn. 192; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, § 40 Rn. 221; Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 79; Weitzel, Justiziabilität, S. 92 ff. Auf die allgemeine Möglichkeit, jeden Fehler eines Staatsakts „ebenso als Fehler des Ermessens wie als Verfehlung der rechtlichen Bindung [zu] denken“ weist bereits Merkl, Verwaltungsrecht, S. 156 hin; s. auch die Annahme einer bloß relativen Unterscheidung zwischen Akten des freien Ermessens und der recht lichen Bindung ebd., S. 143. Bereits Kelsen, Hauptprobleme, S. 655 f. nimmt einen bloß graduellen Unterschied der Staatsakte in Hinsicht des freien Ermessens an. Zum Ermessensbegriff der Reinen Rechtslehre Elsner, Ermessen, S. 111 ff. 68 Vgl. nur Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII (2006) Rn. 108, 111; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 187; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Abs. 113. 69 BVerwG NVwZ 2004, 1131 f.
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Fall vorliegende Konstellation der untergesetzlichen Rechtssetzung beschränkt. Dazu besteht auch kein Anlass, insofern Maßnahmen der Exekutive betroffen sind, wie die Betrachtung der Rechtslage bei Ermessens- und Ab wägungsfehlern zeigt. b) Zweckverfolgung und Ermessensfehler Der Fall eines untergesetzlichen Normsetzungsaktes unterscheidet sich insofern von einer typischen Ermessensentscheidung, dass mit der Zwecksetzung zusammenhängende Rechtmäßigkeitsprobleme bei letzterer gewöhn licherweise im Rahmen der Ermessensfehler thematisiert werden und nicht unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit. Der Verwaltung eingeräumtes Ermessen muss von dieser im Rahmen des Zwecks der Einräumung ausgeübt werden. § 114 S. 1 VwGO, § 40 VwVfG, § 5 AO, § 39 Abs. 1 SGB I bestimmen mit nur minimalen Abweichungen im Wortlaut, dass das Ermessen entsprechend dem „Zweck der Ermächtigung“ auszuüben ist. Der Verstoß dagegen macht die betreffende Entscheidung rechtswidrig, wie § 114 S. 1 VwGO ausdrücklich feststellt. Die Systematik der Ermessensfehler ist im Einzelnen umstritten,70 teils hat man gar die Erfolgsaussichten des Bemühens um eine Systematik grundsätzlich bezweifelt.71 In der verwaltungsrechtlichen Dogmatik hat sich für den Verstoß gegen das Gebot der zweckentsprechenden Ermessensausübung die Bezeichnung Ermessensfehlgebrauch weitgehend durchgesetzt.72 Legt die Verwaltung Zwecke zu Grunde, die von der gesetzlichen Ermächtigung nicht gedeckt sind, so macht dies die Entscheidung auch dann rechtswidrig, wenn das Ergebnis bei Verfolgung anderer Zwecke rechtmäßig hätte herbeigeführt werden können.73 Es kommt auch hier für die Rechtmäßigkeit nicht darauf an, dass ein möglicher legitimer Zweck gegeben ist, sondern dass die tatsächlichen Zweckerwägungen den rechtlichen Vorgaben entsprechen. Es handelt sich nicht um einen Fehler im Ergebnis der Verwaltungsentscheidung, son70 Übersichtliche und ausführliche Darstellung bei Alexy, JZ 1986, S. 701 (701– 705) mit überzeugender Systematisierung. 71 Forsthoff, Lehrbuch, S. 99 (mit Verweis auf ältere gleichlautende Stellungnahmen). 72 Jestaedt, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 61; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 82; Zweckverfehlung als Unterfall des Ermessensfehlgebrauchs bei Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, § 40 Rn. 85; Ermessensfehlgebrauch gleichbedeutend mit Ermessensmissbrauch bei Kopp/Schenke, VwGO, § 114 Rn. 8; ebenso Maurer, Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 22 und Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, § 40 Rn. 62; Einbeziehung sachfremder Erwägungen als Ermessensmissbrauch bei Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 746. 73 Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, § 40 Rn. 86, 90.
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dern um einen Fehler im zu dieser führenden Vorgang.74 Der Mangel betrifft nicht die Begründbarkeit sondern, die Begründung der Entscheidung.75 c) Zweckverfolgung in planerischen Abwägungsvorgängen Nichts anderes als bei Ermessensentscheidungen im engeren Sinne gilt bei Abwägungsentscheidungen, in denen ein Planungsermessen auszuüben ist, wie beispielsweise bei der Abwägung der bei der Aufstellung eines Bauleitplanes zu berücksichtigenden Belange nach § 1 Abs. 7 BauGB. Es macht die besondere Struktur von Planungsentscheidungen aus, dass eine Vielzahl verschiedener Zwecksetzungen zu verarbeiten ist, die sich zueinander in unterschiedlicher Art und Weise verhalten können. Das lässt sich mit § 1 Abs. 6 BauGB und den dort (nicht exklusiv) genannten abwägungsrelevanten Belangen illustrieren. Es finden sich Gesichtspunkte, die sich überschneiden, wie z. B. in Nr. 1 die „Sicherheit der Wohn- und Arbeitsbevölkerung“ mit den „Wohnbedürfnissen der Bevölkerung“ in Nr. 2,76 aber auch solche, die gegeneinander stehen können, wie die „Erhaltung, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen“ in Nr. 8c und der Umweltschutz in Nr. 7. Zum fehlerfreien Abwägungsvorgang gehört nach § 2 Abs. 3 BauGB wesentlich die Ermittlung und Bewertung der abwägungsrelevanten Belange.77 Eine Ersetzung fehlerhafter oder fehlender Einbeziehung solcher Gesichtspunkte durch eigene Erwägungen eines zur Kontrolle berufenen Gerichts ist damit ausgeschlossen – maßgeblich sind die tatsächlich zur Grundlage der Abwägung gewordenen Belange. d) Zwischenbefund: tatsächlicher Zweck als Bezugspunkt Hinsichtlich der Rolle, die Zweckbestimmungen und -verfehlungen in der rechtlichen Beurteilung und Kontrolle von Maßnahmen der Verwaltung spielen, lässt sich festhalten, dass hierbei durchweg der von der handelnden Behörde tatsächlich bei Erlass des Rechtsakts verfolgte Zweck als Bezugspunkt dient. Dieser tatsächliche Zweck wird dabei regelmäßig anhand von Quellen bestimmt, die außerhalb des anordnenden Textes der Maßnahme selbst liegen. Das gilt jedenfalls dann, wenn ein solcher Zweck in irgendeiner Weise ermittelbar zu Tage getreten ist. Wenn formelle Begründungspflichten wie Alexy, JZ 1986, S. 701 (702) mit Hinweis auf BVerwGE 42, 133 (140). JZ 1986, S. 701 (709). 76 Söfker, in: Ernst/Zinkahn, BauGB, § 1 (2015) Rn. 114. 77 Söfker, in: Ernst/Zinkahn, BauGB, § 1 (2015) Rn. 185. Zur Kasuistik der Bewertung s. etwa Battis, in: ders./Krautzberger/Löhr, BauGB, § 1 Rn. 103 ff. 74 Vgl.
75 Alexy,
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
diejenigen nach § 39 VwVfG oder § 10 Abs. 4 BauGB bestehen,78 ist dies ganz regelmäßig der Fall. e) Fehlende Vergleichbarkeit Der Bezugspunkt der Zweckkontrolle von exekutivem Handeln und von Legislativakten ist demnach ein verschiedener, wenn man bezüglich der förmlichen Gesetzgebung die oben dargestellte Position des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde legt. Dies lässt sich zunächst mit dem wesentlichen Unterschied zwischen der Zweckverfolgung durch den Gesetzgeber einerseits und durch die Verwaltung andererseits erklären, der darin besteht, dass die Verwaltung vorgegebene Zwecke verwirklicht, der Gesetzgeber dagegen solche Zwecke vorgibt.79 Fraglich ist jedoch, ob das für eine andere Behandlung der Zwecke beim Gesetzgeber spricht. Die Heranziehung des tatsächlichen Zwecks bei der Kontrolle des Handelns der Verwaltung lässt sich auf die Gesetzesbindung der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG stützen. Die Bindung an das Gesetz erstreckt sich gerade auch auf die Zweckvorgaben; sie wäre erheblich gelockert, fände eine Kontrolle nicht anhand des tatsächlich verfolgten Zwecks statt. Auch der Gesetzgeber als Zwecksetzer ist nach Artt. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG gebunden, und zwar an die Grundrechte und die verfassungsmäßige Ordnung.80 Daraus ergeben sich jedoch nur in seltenen Fällen positive Vorgaben, welche Zwecke mit einer bestimmten Maßnahme der Gesetzgebung zu verfolgen sind. Ein solcher Fall ist Art. 72 Abs. 2 GG – eine Regelung in den dort aufgezählten Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung muss zur Förderung der dort genannten Rechtsgüter erforderlich sein, das heißt sie muss ihnen (wenigstens auch) dienen.81 Abgesehen von solchen Ausnahmen besitzt der Gesetzgeber einen weiten Spielraum, innerhalb dessen er Zwecke bestimmt.82 Dieser Spielraum relativiert das Gebot der Ver78 Zu Begründungspflichten bei untergesetzlicher Normsetzung s. Steiner, Gesundheitsrecht 2013, S. 193 (195 ff.); Waldhoff, Gesundheitsrecht 2013, S. 197 (203 ff.). 79 s. nur Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII (2006) Rn. 111; SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 181; Uerpmann, Interesse, S. 182 f.; Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 290. 80 Zur Auslegung der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Art. 20 Abs. 3 GG vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 83; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 101; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI (2007) Rn. 30 ff. 81 Vgl. dazu oben E. IV. 82 Stärkere Betonung der Bindung des Gesetzgebers bei Erbguth, JZ 2008, S. 1038 (1041). Dem Schluss, es könne kein freies legislatives Ermessen geben, ist in dieser
B. Zielsetzung und Zielerkenntnis199
hältnismäßigkeit im Ergebnis erheblich.83 Er ist verfassungsrechtlich vor allem begrenzt durch Verbote, bestimmte Ziele zu verfolgen.84 Solche Verbote gehen häufig von grundrechtlichen Gewährleistungen aus: Dem Ziel, Frauen generell auf die Hausfrauenrolle zu beschränken, stünde Art. 3 Abs. 2 GG entgegen, ebenso rassendiskriminatorischen Zwecksetzungen Abs. 3 desselben Artikels und Art. 14 Abs. 1 GG verbietet im Zusammenspiel mit Art. 19 Abs. 2 GG die Zielsetzung einer ausnahmslosen gesamtgesellschaftlichen Gütergemeinschaft ohne individuelle Eigentumsrechte. Diese Negativkontrolle ist charakteristisch für die Kontrolle der Zwecke des Gesetzgebers, wogegen die Exekutive typischerweise einer Positivkontrolle unterliegt. Gesetzgebung ist auch im Verfassungsstaat nicht bloßer Verfassungsvollzug ohne Freiraum für politisches Handeln und Entscheiden.85 Die Stellung des Gesetzgebers im vom Grundgesetz verfassten Staat ist von derjenigen der Verwaltung grundlegend verschieden. Das demokratische Legitimationsniveau des parlamentarischen Gesetzgebers ist ungleich höher: Die Abgeordneten des Bundestages sind unmittelbar vom Volk als Souveränitätsträger gewählt (Artt. 38 Abs. 1, 20 Abs. 2 GG).86 Dies geht damit einher, dass der Gesetzgeber ein politisches Gestaltungsmandat in Bezug auf alle Gemeinschaftsangelegenheiten besitzt.87 Das ist bei den verschiedenen Instanzen der Verwaltung grundsätzlich gerade nicht der Fall. Der Exekutive insgesamt steht im Gegenteil nicht einmal ein sachlicher Kompetenzbereich zu, der gegenüber dem Zugriff des Gesetzgebers normativ abgeschirmt wäre.88 Dieser Unterschied korreliert mit den in Art. 20 Abs. 3 GG ausgesprochenen Bindungen. Allgemeinheit nur im Hinblick auf äußere Grenzen, nicht jedoch im Sinne einer Zweckbindung zuzustimmen. 83 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI (2007) Rn. 12. 84 s. nur Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 149; Pieroth et al., Grundrechte, Rn. 290. Zur Begrenzung auf säkulare Ziele vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 73 Rn. 60. Vgl. auch Grimm, Gemeinwohl, S. 125 (128): Bestimmten Belangen werde das „Gemeinwohl-Siegel“ abgesprochen. 85 Hesse, Grundzüge, Rn. 30; vgl. Kischel, Begründung, S. 4 f.; Waldhoff, in: FS Isensee, S. 325 (331 ff.); ders., Gesundheitsrecht 2013, S. 197 (201 f.). Das gilt, soweit die Perspektive auf die rechtlichen Inhalte und ihre Generierung zielt. Anderes kann sich ergeben, wenn man die Zusammenhänge der Ableitung juristischer Geltung betrachtet, vgl. Kelsen, Rechtslehre, S. 82 f. 86 Zur daraus folgenden „besonderen Rolle“ bei der „Bestimmung des öffentlichen Interesses“ Uerpmann, Interesse, S. 177 ff. 87 v. Arnauld, Freiheitsrechte, S. 231 f.; Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, 3. Aufl., § 73 Rn. 45. 88 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 65 (2008) Rn. 32 ff., Art. 20 V (1980) Rn. 108; mit gleicher Tendenz Baer, Der Staat 40 (2001), S. 525 (insb. Ergebnisse 541, 551); Schröder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch III, 3. Aufl., § 64 Rn. 12;
200
3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Daher kann die Parallele zur Zweckkontrolle des Verwaltungshandelns nicht als Argument dafür dienen, dass auch die Zwecke des Gesetzgebers extern gegenüber dem anordnenden Text selbst zu bestimmen seien.89 Die jeweils den Rahmen der Kontrolle bildenden rechtlichen Bindungen sind wesentlich verschieden. Wenn nur eine Negativkontrolle auf unzulässige Zwecksetzungen durchzuführen ist und der Gesetzgeber im Grundsatz in seinen Zwecksetzungen frei ist, dann lassen sich keine überzeugenden verfassungsrechtlichen Argumente dafür finden, die tatsächlich-außernormtextliche Zwecksetzung ermitteln zu müssen. Es gibt hier keine Bindung, die durch eine solche Herstellung des Prüfungsgegenstandes erst effektiv werden könnte. 4. Fazit: kein Vorrang des Normtext-Externen Ein Vorrang von Zwecksetzungen, die sich außerhalb des Normtextes manifestiert haben, lässt sich demnach nicht begründen.
C. Zwecksetzung durch Rechtssetzung Sind Zwecke im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung demnach aber in erster Linie aus dem Gesetzestext selbst zu ermitteln, so ist die Zweckre konstruktion auch in dieser Hinsicht ein Fall der Auslegung. Als solche liegt sie parallel zur Ermittlung des Zwecks als Teil der teleologischen Interpretation von Gesetzen.90 Hier ist die methodische Ausrichtung maßgeblich vom vorausgesetzten Auslegungsziel abhängig.
I. „Objektives“ und „subjektives“ Auslegungsziel Verfolgt man im Ansatz eine so genannte objektive teleologische Auslegung, dann kommt es gar nicht auf die tatsächlich normtext-extern erfassbare („subjektive“) Zwecksetzung des Gesetzgebers an, sondern auf die „objekfür die Verwaltung ebenso Dreier, Der Staat 25 (1992), S. 137 (insb. 152 ff.). Zur Unmöglichkeit, einen sachlichen Exekutivvorbehalt aus Art. 86 Abs. 2 GG abzuleiten siehe Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 86 Rn. 40; Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 86 Rn. 62. 89 Ebenso Groß, KritJ 35 (2002), S. 1 (15); Schlink, Abwägung, S. 250 f. Anders wohl Wernsmann, NVwZ 2000, S. 1360 (1363 f.). 90 Vgl. auch schon oben B. I. 1. Zur Problematik der Ermittlung des subjektivhistorischen Willens des Gesetzgebers Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 790 f.; Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 I (S. 627 f.).
C. Zwecksetzung durch Rechtssetzung201
tiv“ im anordnenden Rechtstext zum Ausdruck gekommene91. Demnach ist nicht der Wille des entstehungszeitlichen Gesetzgebers zu erforschen, sondern die geltungszeitliche normative Bedeutung einer Vorschrift.92 Der Fokus der Betrachtung liegt, wenn man einem solchen Ansatz folgt, auch bei der Bestimmung des Gesetzeszwecks im Rahmen der Eingangsstation der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der zu überprüfenden Vorschrift selbst. Andere Erkenntnismittel haben allenfalls unterstützend Bedeutung, insofern sie zur Deutung des im Normtext zum Ausdruck Gekommenen herangezogen werden können. In früheren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach zum Ausdruck gebracht, gegenüber einer aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten gewonnenen, mit dem Wortlaut vereinbaren Auslegung eines Gesetzes könne der Hinweis auf ihren mangelnden Niederschlag in der Entstehungsgeschichte nicht verfangen: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“93 Danach sind aus der Entstehungsgeschichte gewonnene Argumente für die Auslegung geradezu nachrangig. Dies hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht daran, sich in zahlreichen 91 Die Bezeichnung als objektiv bzw. subjektiv entspricht der herrschenden Auffassung. Es ist Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 796 zuzugestehen, dass es nicht ganz fernliegend ist, diese Bezeichnungen als „erstaunlich falsch [gewählt] und [irreführend]“ anzusehen. Es erscheint jedoch tragbar, die Selbstbezeichnung „objektiv“ und ihr Gegenteil zu verwenden, wenn man sich der Problematik bewusst ist. Es erleichtert die Darstellung und vermeidet die mit der Einfügung einer weiteren, gewissermaßen richtigstellenden begrifflichen Ebene verbundenen Komplizierungen. Pointiert die potentiell irreführende Terminologie treffend schreiben Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 II (S. 631): „[…] ‚subjektive‘ Auslegung ist objektiv. ‚Objektive‘ Auslegung ist subjektiv.“ Rekonstruktion der „paradigmatischen Differenzen“ hinter den mit den Chiffren „objektiv“ und „subjektiv“ bezeichneten Positionen bei Wischmeyer, Zwecke, S. 340 ff. 92 Vgl. Bydlinski, Methodenlehre, S. 428 f. Auf die zeitliche Dimension der Problematik soll hier nicht näher eingegangen werden; vgl. etwa nur BVerfG (K), NJW 2006, S. 3409 (3410) zum „zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung“ und den Voraussetzungen richterlicher Rechtsfortbildung. 93 BVerfGE 1, 299 (299 f.); inhaltlich ähnliche Aussagen finden sich unter anderem in BVerfGE 6, 389 (431); 34, 269 (288); 111, 54 (91).
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3. Teil: Güterrekonstruktion als Verfassungsproblem?
Fällen mit der Entstehungsgeschichte ausführlich auseinanderzusetzen.94 Die Entstehungsgeschichte nicht für vorrangig berücksichtigungswürdig zu halten, ermöglicht im Ergebnis einen freieren Umgang mit Normtexten,95 weil ein determinierender Faktor ausgeschaltet wird. Der Auslegungsansatz des Bundesverfassungsgerichts fügt sich harmonisch zu der oben erörterten Bestimmung der Zwecke im Rahmen der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung.96 Wenn einer Gesetzesvorschrift auch ein durch Auslegung ermittelter Inhalt gegeben werden kann, der in der Entstehungsgeschichte keine Grundlage findet, dann können auch Zwecke zu Grunde gelegt werden, deren Nachweis aus der Entstehungsgeschichte nicht gelingt. Umgekehrt führt eine Auslegungstheorie, die als „subjektive“ der Entstehungsgeschichte Vorrecht einräumt, auch dazu, ein größeres Gewicht normtextexterner Informationen zur Zweckbestimmung anzunehmen. Exklusiv sind die auf diesem Weg zu rekonstruierenden Zwecke aber nicht zu setzen, wie auch der Vorrang der genetischen Auslegung nicht eine Beschränkung auf den engen Wortlaut bedeuten muss, wenn die Entstehungsgeschichte unergiebig ist.97
II. „Objektive“ Zweckermittlung adäquat Jedenfalls für die Zweckrekonstruktion im Zusammenhang der Verhältnismäßigkeitsprüfung können die Argumente gegen ein objektives Auslegungsziel und die methodischen Folgen nicht überzeugen. Die Feststellung, dass ein „objektives“ Auslegungsziel bei der Rechtsanwendung durch Gerichte im Normalfall eine Lockerung der Gesetzesbindung mit Folgen für das funktionale Verhältnis von Judikative und Legislative bedeutet, kann auf die Situation der Zweckrekonstruktion bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht übertragen werden. Nimmt man die Konstellation einer ungenügenden oder unzulässigen historisch-real geäußerten Motivation, so unterbleibt ein Eingriff in den Bereich der Legislative gerade, wenn eine „objektiv“ aus dem Normtext zu gewinnende Motivation zur Verfassungsmäßigkeit führt.98 Damit geht jedenfalls in diesem Falle das Ar94 Noch – entsprechend der Formel von 1952 – bloß als Bestätigung eines anders begründeten Ergebnisses herangezogen in BVerfGE 3, 407 (414 f.) und 6, 32 (38–40). Schon in E 12, 205 (244–246) ist nach dem Umfang und Gewicht der Darstellung die Argumentation aus der Entstehungsgeschichte tragend. Ähnlich in E 25, 352 (358 ff.); 65, 182 (190). Vgl. dazu auch Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 II (S. 630). 95 Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 II (S. 630). 96 s. oben B. I. 2. 97 Vgl. Röhl/Röhl, Rechtslehre, § 79 III (S. 632). 98 Daher trifft es grundsätzlich zu, wenn Dechsling, Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 144 feststellt: „Eine Verhältnismäßigkeitskontrolle, die sich ausschließlich auf die
C. Zwecksetzung durch Rechtssetzung203
gument fehl, es entspreche der verfassungsrechtlich vorgegebenen Gewaltenteilung nicht, wenn man die Bestimmung des Zwecks als Prüfungsgegenstand dem Bundesverfassungsgericht überlasse. Mehr als das generalisierbare Problem, inwieweit Auslegung noch Nachvollzug und Rekonstruktion und inwieweit sie schon kreative Tätigkeit ist, wird damit nicht angesprochen. Im Ergebnis verringert sich die Intensität des kontrollierenden Eingriffs in die Sphäre der Gesetzgebung, wenn der Prüfungsgegenstand auf eine Art und Weise bestimmt wird, die tendenziell eher dem Prüfungsmaßstab genügende Ergebnisse erwarten lässt.99 Dem Grundgesetz ist jedenfalls keine Vorgabe dahingehend zu entnehmen, im Rahmen der Überprüfung von Akten der Gesetzgebung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müsse man außerhalb des anordnenden Textes liegende Informationen zu den Motiven der Gesetzgebung vorrangige oder gar exklusive Bedeutung einräumen. Pointiert kann man sagen: Der Gesetzgeber setzt und verwirklicht Zwecke (nur) durch das Gesetz.100 Daher sind sie auch im Wege der Auslegung aus diesem zu ermitteln. Auf einem gänzlich anderen Blatt steht, ob es verfassungspolitisch wünschenswert erschiene, den Gesetzgeber darauf zu verpflichten, selbst die Rechtsgüter zu formulieren, die hinter einer bestimmten Sachregelung stehen. Im Sinne der Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungen mag das in gewisser Art und Weise wünschenswert erscheinen. Ob es aber der Realität demokratisch-mehrheitlicher Entscheidungsverfahren gerecht würde, ist angesichts des notwendig kompromisshaften Charakters vieler Resultate mehr als ungewiss. Das grundsätzliche Problem, dass jeder Text der Interpretation zugänglich und bedürftig ist, lässt sich so kaum aus der Welt schaffen. vom Erstentscheider benannten Zwecke bezieht, ist tendenziell strenger als eine solche, bei der das Gericht selbst die (vom Parlament vorgegebenen und/oder vom Akteur zu ergänzenden) Zwecke ermittelt […].“ 99 Ohne wie hier die Ebene der Zweckermittlung getrennt zu problematisieren, argumentiert Schlink, Abwägung, S. 206 ebenso für die „Zulassung des Nachschiebens von Zwecken [sc. im Prozess vor dem BVerfG] und der Zwecksuche durch das BVerfG als eine die weitgehende bundesverfassungsgerichtliche Prüfung und Kontrolle balancierende Respektierung der gesetzgeberischen Entscheidung“; ähnlich Engel, Ziel, S. 103 (162). Möllers, NJW 2005, S. 1973 (1977 f.) sieht in einer freieren verfassungsunmittelbaren Bestimmung der Zwecke durch das Bundesverfassungsgericht eine Tendenz zu einer stärkeren Bindung des Gesetzgebers angelegt, namentlich weil dadurch Erwägungen zur Systemgerechtigkeit an Gewicht gewännen. Eine normtext-externe, gewissermaßen tatsächliche Zweckermittlung verlangt er aber ebenfalls nicht. 100 s. auch Meyer, Der Staat 48 (2009), S. 278 (301): Als einem „normative[n] Konstrukt des Grundgesetzes“ könne dem „Gesetzgeber“ kein vom objektiven Gesetzeszweck zu trennender Wille zugeschrieben werden. Vgl. auch ebd., 289 sowie Schlaich, in: VVDStRL 39, S. 99 (108 f.): Gesetz als Kontrollgegenstand und nicht der „Prozess der parlamentarischen Entscheidungsfindung“.
Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität Man kann mit verschiedenem wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse von gänzlich verschiedenen Gegenständen als Gut sprechen. Das gilt gerade in der Rechtswissenschaft, im Speziellen im Strafrecht – aber auch nicht weniger im Verfassungsrecht. Dafür ist es von wesentlicher Bedeutung, dass Aussagen über Rechtsgüter in vielen Fällen ein Moment der wenigstens impliziten Anerkennung gewisser Vorannahmen beinhalten, die selbst nicht immer zum Gegenstand der rechtlichen Argumentation werden. Etwas als rechtliches Gut zu behaupten bedeutet – nicht selten auf nichts weiter als Evidenz gestützt – einen Belang als zugleich wünschenswert und rechtlich bedeutsam zu postulieren. Die Einführung des Guts als Schutzobjekt in die strafrechtliche Diskussion durch Birnbaum ist inhaltlich mit einer dezidierten Stellungnahme gegen den staatsphilosophischen Individualismus und Kontraktualismus verbunden, auf die die Rechtsverletzungslehre festgelegt ist.1 Von Gütern zu sprechen ermöglicht es in diesem Zusammenhang, Gewichte neu zu verteilen und neuen Spielraum für die rechtliche Anerkennung von politisch Gewünschtem zu schaffen. Die Frage, inwieweit Rechtsgüter dem Einzelnen, dem Staat oder allgemein überindividuellen Einheiten zuzuordnen sind, findet sich hier bereits angedeutet. Explizit zur Schnittstelle zwischen politischer Gestaltung und den Normen des Rechts wird der Rechtsgutsbegriff dann bei Binding und in der Folge bei vielen, die sich als Theoretiker des Strafrechts mit dem Begriff befassen. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass einzelne Autoren ihn auch zu einem Vehikel für die unter den nationalsozialistischen Machthabern propagierte völkische Rechtserneuerung machten. Dass andererseits der Rückgriff auf den Rechtsgutsbegriff unter der gleichen ideologischen Fahne auch scharf bekämpft wurde, kann als Beitrag zu seiner Renaissance ab den späten 1950er Jahren kaum überschätzt werden.2 Nun war es wieder ausdrücklich ein liberales, Individualismus und Selbstbestimmung auf dem Schilde führendes Anliegen, das mit dem Rechtsgutsbegriff als rationalem Prüfstein für die staatliche Strafgewalt verbunden wurde. Diese Tradition setzt sich bis heute in der Rechtsgutslehre fort, wohingegen die Strafrechts1 Vgl. 2 Vgl.
oben 1. Teil C. I. 1. c). oben 1. Teil C. I. 5. a).
Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität205
dogmatik Rechtsgüter ohne besondere theoretische Unterlegung als Bezugspunkt der Interpretation von Strafvorschriften heranzieht.3 Wenn etwas als Gut bezeichnet wird, so beinhaltet dies immer eine Wertung. Zur Klärung der Wertungszusammenhänge bewährt sich schon bei der Betrachtung der Rechtsgüter im Strafrecht die Trennung von Wertungsakt, Wertungssubjekt und Wertkriterium.4 Kritische Rechtsgutslehren mit wenigstens implizitem politischem Anspruch legen für ihre Entwürfe, was ein Rechtsgut sei, den Schwerpunkt auf das Wertkriterium. Die Zuordnung zu einem bestimmten Subjekt der Wertung verliert damit jedenfalls prinzipiell an Bedeutung, ebenso der Wertungsakt. Der Rechtsgutsbegriff im rein dogmatischen Zusammenhang begnügt sich dagegen wesentlich mit dem autoritativen Wertungsakt des Gesetzgebers. Das Rechtsgut ist aus dieser Perspektive primär Dezision der berufenen Autorität – aus kritischer Sicht ist es hingegen Ergebnis der richtigen Anwendung des Wertkriteriums und damit in gewisser Weise eines Erkennens. Um etwas in irgendeiner Weise durch einen Setzungsakt im positiven Recht Manifestiertes geht es, wenn im Ordnungsrecht und im Zivilrecht von Rechtsgütern die Rede ist. Das politisch-dezisionäre Element im Verhalten des Gesetzgebers zu Rechtsgütern erkennt das Bundesverfassungsgericht an, wenn es als Voraussetzung für bestimmte Grundrechtseinschränkungen ausdrücklich auch von der Politik des Gemeinwesens abhängige Rechtsgüter zulässt.5 Die Realisierung der Güter im Recht kann nur geschehen, wenn an dem einen oder anderen Punkt eine Hoheitsgewalt ausübende Stelle sie sich zu eigen macht. Das kann unter anderem durch einen Akt der Gesetzgebung oder durch Rechtsprechung geschehen. Insofern ist die Wertung in gewisser Weise immer auch „dem Staat“ zuzurechnen. Im Gebrauch durch das Bundesverfassungsgericht erscheinen Rechtsgüter in der Mehrzahl der Fälle als etwas, das der Gesetzgeber in bestimmter Weise anerkannt hat. Das trifft bei den Rechtsgütern zu, die Gesichtspunkte der Einschränkung von Grundrechten sind und die in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Tragen kommen. Es gilt aber genauso für die Rechtsgüter, die Grundrechtsinhalte beschreiben, da auch die Setzung von Verfassungsrecht im weiteren Sinne Rechtssetzung ist. Ob das Bundesverfassungsgericht (wenigstens implizit) eine besondere Grundlage im Text des Grundgesetzes voraussetzt, damit ein Belang als Rechtsgut anerkannt wird, hängt vom jeweiligen verfassungsrechtlichen Kontext.6 Von Interesse ist diese Frage insbesondere bei Rechtsgütern als 3 Vgl.
oben oben 5 Vgl. oben 6 Vgl. oben 4 Vgl.
1. Teil 1. Teil 2. Teil 2. Teil
C. III. C. I. 6. b). D. I. 8. d). D. IV. 1.
206
Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität
Gesichtspunkt von Grundrechtseinschränkungen. Bei den in diesen Konstellationen gegen grundrechtliche Freiheit stehenden Gütern korrelieren die Anforderungen an ihren Bezug zum Text des Grundgesetzes damit, ob sich die Einschränkung auf einen Schrankenvorbehalt stützen kann und damit bereits einen normtextlichen Verankerungspunkt besitzt. Eine strikte, abstrakt formulierbare Rangordnung leitet sich aber weder aus diesem Kriterium ab noch aus der Tatsache, dass bestimmte Güter meist in einer Rhetorik des Schutzes eingebettet erscheinen oder als besonders hochwertig qualifiziert werden.7 Ebenso wenig existiert eine allgemein fassbare Korrelation zwischen dem verfassungsrechtlichen Gewicht von Gütern und der Frage, ob sie lediglich im begrifflich institutionellen Aspekt oder aber als Bezeichnung von Singularitäten angesprochen sind. Der Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Bedeutungsaspekten bedarf es jedoch, um manche Aussagen über die Rechtsgüter des Einzelnen, der Allgemeinheit und deren Verschränkung zu verstehen.8 Das Fehlen einer absoluten Rangordnung bestätigt den Befund, dass die Vorstellung von unabhängig von einem jeweiligen Kontext von Rechten und Pflichten bestehenden Rechtsgütern nicht haltbar sein dürfte.9 Wenn von Rechtsgütern gesprochen wird, so geht es um Ziele oder Zwecke, denen rechtliche Relevanz zugesprochen wird.10 Als solche sind sie notwendiger Weise mehr oder weniger direkt auf das Gemeinwohl bezogen.11 Entzieht sich das Gemeinwohl aber im freiheitlichen Verfassungsstaat einem abschließenden substanziellen Verständnis und muss die Perspektive auf das Gemeinwohl notwendigerweise wesentlich offen bleiben,12 so erscheinen die als Rechtsgüter anerkannten Belange im „typisch rechtsstaat lichen Kontext offener Pluralisierung und differenzierter Prozeduralisierung des Gemeinwohlbegriffs“13 als die je nach betroffenem Sektor oder Teilbereich eher dicht ausgeprägte oder aber lückenhaft-fragmentarische Ausfüllung des bonum commune. Der Begriff des Rechtsguts im Verfassungsrecht teilt die einer offenen Gemeinwohlkonzeption innewohnende Dynamik: Von vornherein auszuscheiden hat die Vorstellung, alle rechtlich denkbaren 7 Vgl. oben 2. Teil G. bzw. 2. Teil C. II. 3. Zu verschiedenen Ansätzen einer rangmäßigen Ordnung vgl. nur Murswiek, Risiken, S. 167–181. 8 Vgl. oben 2. Teil C. III. 5. und D. IV. 3. b). 9 s. schon oben 1. Teil C. III. 6. zu „den gleichen“ Rechtsgütern im einfachen und im Verfassungsrecht. 10 Vgl. oben 1. Teil D. II. 11 Vgl. oben 2. Teil F. II. 12 Vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch IV, § 71 Rn. 155 f.; Häberle, Gemeinwohl, S. 99 (102): „Das – republikanische – Gemeinwohl ist im Rahmen des GG weniger vorgegeben als je konkret aufgegeben.“ 13 Hofmann, Annäherungen, S. 25 (26).
Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität207
Rechtsgüter ließen sich in irgend einer Art und Weise abschließend sammeln oder aber in einer abstrakten Definition einfangen, die mehr als eine sub stanzarme äußere Form bereitstellte. Wird kritisch geltend gemacht, in manchen Fällen trete das Bundesverfassungsgericht selbst als Schöpfer von Rechtsgütern, als Zweckautor an die Stelle des Gesetzgebers, so kann das in den hier betrachteten Fällen nicht als Kritik an der gestaltenden Einflussnahme des Gerichts verstanden werden.14 Eine solche kann gerade in der unterlassenen Verwerfung eines Gesetzes als verfassungswidrig nicht gesehen werden. Schließlich gerät auch nie in Zweifel, dass der Gesetzgeber das maßgeblich zwecksetzende Subjekt ist. Zentrale Bedeutung hat für die Rechtsgüter des positiven Rechts – und zwar grundsätzlich auf verfassungsrechtlicher wie einfachrechtlicher Ebene – der Wertungsakt. Dieser liegt im verfassungsstaatlich formalisierten Akt der Rechtssetzung: Grundsätzlich schafft der Gesetzgeber Rechtsgüter durch Gesetzgebung. An der Aktualisierung, der Umsetzung des so geschaffenen geschriebenen Rechts ist regelmäßig die Rechtsprechung durch Auslegung beteiligt. Auch darin liegt notwendig ein kreatives Moment,15 was sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass auch dort Güter (neu) formuliert werden, wo sich in der Verfassungsrechtsprechung Auslegungsergebnisse zu kanonisierten Inhalten verdichten.16 Damit wird die diesbezügliche Frage der angemessenen Abgrenzung der Gewalten aber zu einem Anwendungsfall der allgemeinen Problematik der Auslegung von Gesetzen. Der Begriff des Rechtsguts ist kein gewissermaßen technischer, in der Rechtsanwendung unmittelbar operationalisierbarer Begriff des Verfassungsrechts, schon gar nicht im Wege eines Schemas von Definition und Subsumtion.17 Die Rede von Gütern führt in den Grenzbereich zwischen sozialer Wirklichkeit und rechtlicher Erfassung, zwischen rechtlicher Regelung und politischer Dezision. Man kann in dem Sinne von einem Grenzbegriff der juristischen abstrahierenden Begriffsbildung sprechen,18 wie von Liszt dies andeutet. 14 Vgl.
oben 3. Teil B. III. 1. Isensee, in: FS Winkler, S. 361 (378): „Interpretation erweist sich als schöpferischer Vorgang der Vergegenwärtigung und Entfaltung des Gesetzessinns.“ Speziell für die Verfassungsrechtsprechung im Gemeinwohlkontext Grimm, Gemeinwohl, S. 125 (131): „je nach Dichte des Normtextes mehr oder weniger große Optionsspanne“. 16 s. oben 2. Teil C. II. 1. zu den Schutzgütern des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 17 Vgl. oben 2. Teil C. III. 1. zur Begriffsempirie. 18 Zu von Liszt vgl. oben 1. Teil C. I. 2. b) sowie zu seiner Deutung des „Grenzbegriffs“ Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 133 f. Zum „Grenzbegriff“ der theoretischen Philosophie etwa Kant, KrV, AA IV, 255 f. 15 Vgl.
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Schluss: Das Gut im Grenzbereich rechtlicher Normativität
Stehen Rechtsgüter, gerade wenn sie Gesichtspunkte der Grundrechts einschränkung sind, an der Grenze von politischer Gestaltung und rechtlicher Geltung, so ist es kein Zufall, dass verfassungsgerichtliche Entscheidungen, die zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsgutsbegriff anregen, rechtspolitisch höchst umstrittene Fragen zum Gegenstand haben – wie die Strafbarkeit inzestuöser Sexualkontakte oder die Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs.19 Nach dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Volkssouveränität sind die mit staatlicher Autorität durchzusetzenden Entscheidungen für das Gemeinwesen von demokratisch legitimierten Akteuren zu treffen. Verbindliche politische Gestaltung ist – im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben – dabei dem nach dem Grundgesetz mit dem höchsten Legitimationsniveau versehenen Gesetzgeber zugewiesen. Ein gegen den demokratischen Gesetzgeber gewandter, materiell definierter Rechtsgutsbegriff mit rechtlich-normativem Anspruch stünde dazu in Widerspruch. Die beschränkte Zielkontrolle entspricht dem Charakter moderner Herrschaftsverfasstheit: „Der moderne Staat wird mehr durch seine Mittel konstituiert als durch seine Ziele, mehr durch seine Befugnisse als durch seine Aufgaben.“20 Ob dies für die supranationale Ebene der Ausübung von Hoheitsgewalt im Rahmen der Europäischen Union gleichermaßen zutrifft und wie, wenn überhaupt in nennenswertem Umfang, dort Rechtsgüter zu Elementen rechtlicher Argumentation werden,21 bedürfte einer eigenen Untersuchung. Hier müsste im Vergleich zum souveränen Nationalstaat jedenfalls im Ausgangspunkt der grundsätzliche Unterschied Beachtung finden, dass der Union rechtlich trotz effektiv weitreichender Sachkompetenzen prinzipiell keine unbeschränkte Erweiterung der eigenen Zielsetzungen kraft eigenen Entschlusses möglich ist22 und die Unionsorgane positiv auf die Verfolgung der in den Verträgen niedergelegten Ziele verwiesen sind.23
19 Vgl.
insbesondere oben 2. Teil B. I. bzw. C. I. in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch III, 2. Aufl., § 57 Rn. 41. 21 Erwähnungen des Begriffs Rechtsguts durch den EuGH etwa in NVwZ 2012, 1095 (1096 Rz. 17); NJW 2011, 2779 (2780 f. Rz. 46, 50, 51 u. ö.). 22 Dazu statt aller Krajewski/Rösslein, Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Recht der EU, Art. 296 AEUV (2011) Rn. 13; s. auch schon oben 3. Teil B. III. 2. mit Fn. 53. 23 In diesem Zusammenhang ist jedoch der „Vorgang der intensiven Anreicherung, ja Überfrachtung von Tatbeständen mit Gemeinwohlzielen“ (vgl. Häberle, Gemeinwohl, S. 99 [114; s. auch 112 f.]) in den Vertragstexten nicht aus den Augen zu verlieren. Zu „Querschnittsklauseln“ wie Art. 9 AEUV als Normierung von Aspekten des Gemeinwohls und damit als „zielverpflichtende Gemeinwohlklauseln“ Andrée, Gemeinwohlklauseln, S. 296 ff., 310 ff.; vgl. auch Wischmeyer, Zwecke, S. 406 f. 20 Isensee,
Zentrale Thesen 1. In der Philosophie werden Gegenstände als Güter bezeichnet, die Ziel eines Strebens sind. Der Begriff des Guts steht in Zusammenhang mit dem Begriff des Guten und dem Prädikat „gut“. Man kann in der sub stantivischen Verwendung im Sinne der Rede von „Gütern“ einen Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit des damit verbundenen Werturteils sehen. 2. Für die Wirtschaftswissenschaften ist das Gut als Mittel der Bedürfnisbefriedigung ein Grundbegriff. Unter den verschiedenen auf Güter anzuwendenden ökonomischen Kategorien ist die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Gütern juristisch von besonderem Interesse. Ökonomisch betrachtet sind Güter empirische Gegenstände; das kann für die juristisch-normative Betrachtung keine unmittelbare Gültigkeit beanspruchen. 3. Die Geschichte des Rechtsgutsbegriffs im Strafrecht lässt stets einen Bezug zwischen den Auffassungen des Begriffs und den jeweiligen zeitgebundenen staatstheoretischen und politischen Anschauungen erkennen. Dieser wird jedoch in ganz unterschiedlichem Maße zum Inhalt expliziter Stellungnahme. 4. Hinsichtlich der verschiedenen historischen Güterbegriffe im Strafrecht kann man jeweils Wertungssubjekt, Kriterium der Wertung und Wertungsakt isolieren. Es sind Verschiebungen in Gewicht und Verhältnis der drei Komponenten festzustellen, die mit einer eher individualistischen oder überindividualistischen Grundlegung tendenziell korrelieren. 5. Der in der Strafrechtsdogmatik gebrauchte Rechtsgutsbegriff ist in der Praxisliteratur wie auch in Urteilen im Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung von Strafgesetzen sehr präsent. Seine praktische Wirksamkeit entfaltet sich weitgehend ohne offene Diskussion seines Inhalts. 6. Der strafrechtstheoretische Rechtsgutsbegriff ist außerordentlich vielgestaltig. Zentrales Problem ist hier die rationale normative Begründung dafür, bestimmten Gegenständen zu- oder abzusprechen, ein Rechtsgut zu sein. Ein zentrales Problem sind dabei Status und Begründung nichtindividueller Rechtsgüter. Die sogenannte personale Rechtsgutslehre lässt sich nicht als verfassungsrechtlich verbindlich begründen.
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Zentrale Thesen
7. In den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist häufig im strafrechtlichen Kontext von Rechtsgütern die Rede. Der verfassungsrechtliche Gehalt der entsprechenden Stellen ist im Allgemeinen jedoch gering. 8. Der Gebrauch des Rechtsgutsbegriffs kann mit einer De-Relationierung einhergehen. Das bedeutet, dass bestimmte Ziele aus einer im positiven Recht fixierten Beziehung zwischen Berechtigten und Verpflichteten gelöst werden. So geschieht es, wenn Schutzpflichten des Staates für bestimmte grundrechtlich geschützte Rechtsgüter begründet werden. 9. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter kommen nur im Zusammenhang mit den von Art. 14 GG geschützten Gütern auf der Begründungsebene der Subsumtion vor. Im Übrigen sind die Aussagen abstrakter und entstammen dem Kontext, in dem die subsumtionsfähige Norm ihrerseits erst begründet wird. 10. Grundrechtlich geschützte Rechtsgüter unterscheiden sich hinsichtlich ihres Bezugs zum Schutzbereich der jeweiligen Grundrechtsbestimmung. Teilweise erfolgt eine weitgehende Gleichsetzung mit dem Schutzbereich, teilweise wird das Verhältnis so aufgefasst, dass der Schutzbereich mehrere Schutzgüter umfasst. In einigen Fällen dient eine teleologische Schutzgut-Argumentation der Konkretisierung des Schutzbereichs. 11. Der allen Rechtsgütern gemeinsame begrifflich institutionelle Aspekt zeigt sich auch in verschiedener Art und Weise bei den grundrechtlich geschützten Rechtsgütern. Es ist die Ausnahme, dass es in der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich auf den singulären Aspekt ankommt. 12. Der Ausschluss unrichtiger Tatsachenaussagen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfolgt mit einer Begründung, die den institutionellen Aspekt des Rechtsguts Meinungsfreiheit mit einem teleologischen Bezug auf die Meinungsbildung materialisiert. 13. Ob Rechtsgüter, die Gesichtspunkte der Einschränkung in grundrechtlich gewährleisteter Freiheit sind, ausdrücklich auf Bestimmungen des Grundgesetzes bezogen werden, ist maßgeblich von den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorgaben determiniert. Das Bundesverfassungsgericht stellt den Bezug regelmäßig dann her, wenn sich eine Einschränkung nicht auf einen geschriebenen Vorbehalt stützen kann. 14. Sein materialisierter institutioneller Aspekt steht dem grundrechtlichen Gut gegenüber, wenn im Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 1 GG die Funktionsfähigkeit von Berufsstand oder Ausbildungsinstitutionen zur Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung dient.
Zentrale Thesen211
15. Während als Rechtsgut individuelle wie überindividuelle Belange bezeichnet werden, signalisiert die Verwendung des Begriffs Gemeinschaftsgut (wie typischerweise bei Einschränkungen der Berufsfreiheit), dass jedenfalls für den konkreten Fall der Verwendung die institutionelle Seite angesprochen ist. Dem entspricht, dass in Drittwirkungskonstellationen von Rechtsgütern gesprochen wird. 16. In einigen früheren Entscheidungen wird der Dualismus von singulärem und institutionellem Aspekt darin deutlich, dass der von einer Grundrechtseinschränkung Betroffene selbst als Träger der Rechtfertigungsgüter bezeichnet wird. 17. Der Begriff des Verfassungs- oder Rechtswerts kommt beim Bundesverfassungsgericht in gleicher Funktion wie der des Gemeinschafts- oder Rechtsguts vor. Dabei hat dieser jenen in den Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zunehmend ersetzt. Von Werten liest man noch in jüngster Zeit in Zusammenhang mit der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, was auf die Übernahme der Formulierung aus einer Zeit zurückgeht, als das Gericht noch die Wertordnungsrhetorik pflegte. 18. Von vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls spricht das Bundesverfassungsgericht mit einem im Vergleich zu Gemeinschaftsgütern der Tendenz nach reduzierten Anspruch im Hinblick auf ihr rechtliches Gewicht. 19. Die Begriffe Gemeinschaftsinteresse und Gemeinwohlbelange sind nach der Verwendung durch das Bundesverfassungsgericht durch den Begriff Gemeinschaftsgut ersetzbar. 20. Ist von Gütern im Rahmen einer Rhetorik des (staatlichen) Schutzes die Rede, so erscheinen sie weniger als Ziele denn als Zustände oder Verhaltensweisen. Ihnen wird durch diese Bezeichnung gegenüber Gütern, die bloß angestrebt werden, kein höheres normatives Gewicht zugeschrieben. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass sie tatsächlich bereits bestehen. 21. Wird die Frage nach dem Zwecksetzer kritisch gegen den Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit Zwecksetzungen gewendet, so verbirgt sich dahinter eine abweichende Auffassung darüber, wie der Zweck einer Vorschrift des geschriebenen Rechts zu bestimmen ist. 22. Es lässt sich rechtlich nicht begründen, dass es bei der Bestimmung des bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegenständlichen Zwecks vorrangig oder gar allein auf Zwecke ankomme, die aus anderen manifesten Quellen als dem Normtext zu ermitteln sind. 23. Die Bestimmung des Ziels einer gesetzlichen Vorschrift im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bildet einen Fall der Auslegung von Geset-
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zen. Jedenfalls für die Zweckrekonstruktion ist ein so genanntes objektives Auslegungsziel vorzuziehen. 24. Der Begriff des Rechtsguts spricht in einem verfassungsrechtlichen Kontext häufig die mitunter fluide und nicht exakt zu fassende Grenze zwischen rechtlicher Normativität und vorrechtlicher Dezision an. 25. Rechtsgüter sind Partikel des Gemeinwohls. Der Begriff des Guts teilt die Vielschichtigkeit und inhaltliche Offenheit des Gemeinwohlbegriffs unter dem Grundgesetz.
Literaturverzeichnis Selbstständige Werke und Beiträge aus Sammelbänden werden in den Anmerkungen regelmäßig nach dem ersten Nomen des Titels zitiert. Wo es geboten erscheint, werden vorangestellte Adjektive ebenfalls genannt. Werden in den Anmerkungen abweichende Kurzzitate verwendet, sind diese hier durch Kursivdruck oder eckige Klammern kenntlich gemacht. In den Anmerkungen wird bei mehrbändigen Werken der zitierte Band mit römischen Ziffern bezeichnet. Alexy, Robert: Ermessensfehler, JZ 1986, S. 701–716. – Theorie der Grundrechte, Frankfurt/Main 1986. – Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat 29 (1990), S. 49–68. – Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl., Freiburg u. a. 2005. Altmann, Jörn: Volkswirtschaftslehre, 7. Aufl., Stuttgart 2009. Amelung, Knut: Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft. Untersuchungen zum Inhalt und zur Anwendungsbereich eines Strafrechtsprinzips auf dogmengeschichtlicher Grundlage. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der „Sozialschädlichkeit“ des Verbrechens, Frankfurt/Main 1972. – Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes. Eine Untersuchung im Grenzbereich von Grundrechts- und Strafrechtsdogmatik, Berlin 1981. – J. M. F. Birnbaums Lehre vom strafrechtlichen „Güter“-Schutz als Übergang vom naturrechtlichen zum positivistischen Rechtsdenken, in: Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung, Goldbach 1997, S. 349–358. – Der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus auf die Lehre vom Rechtsgüterschutz im deutschen Strafrecht, in: Robert Alexy/Lukas H. Meyer/Stanley. L. Paulson/Gerhard Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, Baden-Baden 2002, S. 363–372. – Der Begriff des Rechtsguts in der Lehre vom strafrechtlichen Rechtsgüterschutz, in: Roland Hefendehl/Andrew von Hirsch/Wolfgang Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie. Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, Baden-Baden 2003, S. 155–182. Anastasopoulou, Ioanna: Deliktstypen zum Schutz kollektiver Rechtsgüter, München 2005. Anderheiden, Michael: Gemeinwohl in Republik und Union, Tübingen 2006. Andrée, Christine: Zielverpflichtende Gemeinwohlklauseln im AEU-Vertrag. Merkmale, Rechtswirkungen und kompetenzielle Bedeutung der sogenannten „Querschnittsklauseln“ in der Europäischen Wertegemeinschaft, Berlin 2014.
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Personen- und Sachverzeichnis Allgemeinbegriff 124 f. Allgemeine Handlungsfreiheit 95 Allgemeinheit 124 ff. –– des Gesetzes 136 f. Allmendegut 30 Apotheken-Urteil 142 f., 146, 164, 166 ff. Aristoteles 23 Auslegung 58, 72, 77 ff., 184 ff., 200 ff. –– objektive 183, 185, 201 –– subjektive 201 –– teleologische 200 f. Ausschließbarkeit 29 Begründungspflicht 190 ff. Binding, Karl 47 ff., 83, 205 Birnbaum, Johann Michael Franz 38 ff., 83, 204 Constitutio Criminalis Carolina 39 Culpa in contrahendo 34 Dahm, Georg 59, 62 Definition 73 f., 82 ff. Deliktsrecht 34 ff. Demokratie 199 Demokratieprinzip 86, 208 Dezision 205 Dynamik 206 Eigentumsgut 112, 117 f. Einschätzungsprärogative 159 f. Einwilligung 79 Entstehungsgeschichte 185, 201 f. Entwurfsbegründung 181, 192 Ermessensfehler 196 f. Erwägungen des Gemeinwohls 142
Europäische Union 191, 208 Evidenz 103, 166 f., 171 Exekutivvorbehalt 200 Feuerbach, Paul Johann Anselm 38 ff., 83 Fiat 24 f. Funktionsfähigkeit 133 f., 137, 145, 155, 158 f. Gebrauch –– adjektivischer 24, 165 f. –– moralischer 25 –– spezifischer 116 –– substantivischer 24, 165 f. –– unspezifischer 114 f. Gefahrenabwehr 159 Geltungsindifferenz 89 Gemeinschaftsgut 31 f., 92, 141 f., 144 –– absolutes und politisches 145 f., 155 Gemeinschaftsinteresse 168 Gemeinschaftswert 55, 57 Gemeinwohl 125, 164 ff., 206 Gemeinwohlbelang 167 Geschäftsordnung 193 Gesellschaftsvertrag 38 f. Gesetzesbindung 198 Gesetzesmaterialien 181, 182 Gesetzesvorbehalt 132, 153 f. Gesetzgeber 33, 48 ff., 55, 69, 71 ff., 98, 155, 178 ff., 198, 203 Gestaltungsspielraum 166, 198 f., 205 Gewaltenteilung 202 f. Grenzbegriff 51, 207 Grundrechtsgut 108, 119 Grundrechtsinhalt 122 f. Grundrechtskonkurrenzen 95 f.
232
Personen- und Sachverzeichnis
Grundrechtsträger 146 f. Grundrechtsverständnis, funktionales 130 Grünhut, Max 56 Gut, meritorisches 30 Güterabwägung 93 f. Güterverteilung 27
Marx, Michael 67 f. Maurach, Reinhart 74 Mayer, Hellmuth 78 Meinungsfreiheit 94 f. Menschenwürde 85, 149 Metaethik 23 Mittel 58, 208
Handlungsobjekt 53 Hassemer, Winfried 68, 100, 180 ff. Honig, Richard 55, 132
Nationalsozialismus 59 f. Neue Formel 150 f. Neukantianismus 54 ff. Norm 47, 50, 89, 117 Normenhierarchie 141 Normentheorie 47 Normsatzrelativität 58 f. Normtext 120, 182 f., 206 Normzweck 180 f. Notwehr 79 Notwendigkeit 164 f.
Individualisierung 85 Individualismus 43, 60 f., 67 Inferiorität 28 Informationshandeln 121 Inhalt eines Grundrechts 109 institutioneller Aspekt 123 ff., 134 f., 206 institutionelles Grundrechtsverständnis 126, 157 Institutsgarantien 126 f. Interesse 48, 50 –– objektives und subjektives 168 Inzest-Beschluss 99 f., 178 ff. Jäger, Herbert 65 f. Klubgut 29 Kollektivismus 49, 62 Kompetenz-Kompetenz 191, 208 Komplement 28 Konkurrenzen 79 Kontamination, genetische 188 Kulturgut 93 Lask, Emil 54 Lebensgut 53, 78, 132 Lebensinteresse 50, 53 Legitimationsdiskussion 81 ff. Legitimationsniveau 199, 208 Liszt, Franz von 50 ff., 83, 132 Lüth-Urteil 136, 143 f., 156, 163
Öffentliche Sicherheit 32 f. Paktentheorie 192 Parteienverbot 95 Person, juristische 40, 110 personaler Bezug 108 Pestalozza, Baldur Graf von 62 Pflichtverletzung 61 Polizeiverbrechen 40 Primat des Politischen 63 Privatgut 29 Radbruch, Gustav 55 Rang 133 f., 149 Rangordnung 103, 206 Rechtsetzung, untergesetzliche 195 f. Rechtsgut –– absolutes 172 f. –– elementares 138 f., 172 –– politisches 166, 172 –– überragend wichtiges 172 –– zentrales 138 f. Rechtsgüterschutz 59, 97 f., 100, 127
Personen- und Sachverzeichnis233
Rechtsgutsgefährdung 41, 106 Rechtsgutslehre, personale 84 f. Rechtsgutsträger 104, 124, 135, 157 Rechtsgutsverletzungsdogma 61 Rechtsidee 56 Rechtsverletzungslehre 38 ff. Rechtswert 54 f., 163 Regelungstechnik 141 Reichweite des Grundrechtsschutzes 107 Reservezweck 189 Rickert, Heinrich 54 Rivalität 29 Roxin, Claus 73
Überindividualismus 49, 57 ultima ratio 98, 179 Unverletzlichkeit 105
Schaffstein, Friedrich 59 ff. Schmitt, Carl 114 Schuldrechtsreform 34 Schutz 170 ff. Schutzgut 92, 120 Schutzpflichten 102 ff., 170 f. Schutzreflex 184, 186 Schwinge, Erich 58 Selbstverwirklichung 67 Sicherheit des Staates 131 Sina, Peter 66 f. Singularität 124 ff. Singularität, prozessuale 128 Sozialwert 78 Staatszweck 39, 42, 88 Strafrechtsdogmatik 98 f. Streben 23, 88 Subjekt der Zwecksetzung 177 ff., 207 Substitut 28 Systemimmanenz 74 Systemtranszendenz 68, 74
Weitergeltung 161 Weltanschauung 57 Weltanschauungsrelativität 58 f. Wert 54 ff., 162 f. Wertkriterium 83 f., 205 Wertordnung 147, 162 f. Wertung 23, 26, 71 ff., 205 Wertungsakt 71 ff., 155 Wertungskriterium 71 ff., 155 Wertungssubjekt 71 ff., 155 Wessels, Johannes 78 Wille des Gesetzgebers 183 f. Willensstrafrecht 60 Windelband, Wilhelm 54 Wirtschaftsgut 93
Tatbestand 56 Textbezug 144 f., 153 ff., 205 f.
Verbandskompetenz 160 Verbrechensbegriff, natürlicher 43 Verfassungsbegriff 45 Verfassungsgut 92 Verfassungsvollzug 199 Verfassungswert 162 f. Verhältnismäßigkeit 178, 185, 189, 195 f., 203 Volksgesundheit 142 Vorgegebenheit 171
Ziel 69, 88 f., 170, 206 Zipf, Heinz 74 Zweck 58, 135 f. –– legitimer 185, 188, 195 f. Zweckbindung 194, 198 Zweckerkenntnisquelle 189 ff. Zweckklarheit 183 Zweckmäßigkeit 164 ff.