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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Thomas Schlag
Marcell Saß
Ilona Nord
Martin Rothgangel
Britta Konz / Antje Roggenkamp
Christian Cebulj / Claude Bachmann / René Schaberger
Stefan Piasecki
Annette Haußmann
Caroline Teschmer
Tobias Faix / Leonie Preck / Marielena Berger
Gernot Meier
Jasmine Suhner
Die Autorinnen und Autoren
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""...dann nutzen wir sie auch: Digitalisierung first - Bedenken second""!?
 3766845985, 9783766845986

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»… dann nutzen wir sie auch: Digitalisierung first – Bedenken second«!? Thomas Schlag Jasmine Suhner

Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Anika Loose, Oliver Reis, Bert Roebben, Hanna Roose, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Mirjam Zimmermann

»… dann nutzen wir sie auch: Digitalisierung first – Bedenken second«!? Jugendtheologie und Digitalisierung

Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 6 Herausgegeben von Thomas Schlag und Jasmine Suhner

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Calwer Verlag Stiftung. www.calwer-stiftung.com

eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4599–3 © 2023 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, Kopieren und Bearbeiten der Datei, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.

ISBN 978–3–7668–4598–6 © 2023 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com

Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

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Inhalt

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I Grundlagenbeiträge

Thomas Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung. Überlegungen zur produktiven Ergebnisoffenheit hochdynamischer Entwicklungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Marcell Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Ilona Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert? Fachdidaktische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Martin Rothgangel Jugendheologie im Zeichen digitaler Transformation. Impulse aus der Allgemeinen Fachdidaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

II Praxisbezogene Beiträge

Britta Konz / Antje Roggenkamp »Holy Ghost 2.0« Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials zum Thema »Umgang mit dem Heiligen Geist«. . . . . . . . . 60 Christian Cebulj / Claude Bachmann / René Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion. . . . . . . . . . 70 Stefan Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen und jugendtheologische Schlussfolgerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

6 Annette Haußmann »Dem könnte ich vielleicht mal was erzählen« – Schnittstellen von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Horizont von Digitalisierung. . . . . . . . . . 97 Caroline Teschmer »Mit einem Mausklick ist man drin und genauso schnell ist man wieder raus« – Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Tobias Faix / Leonie Preck / Marielena Berger Instagram als neue Kanzel. Christliche Influencer:innen zwischen mediatisierten Lebenswelten und fluiden Identitätskonstruktionen. . . . . . . . . . . . . 118 Sabrina Müller / Nicole Bruderer-Traber / Thomas Schlag / Doreen Flick-Holtsch / Stefanie Findeisen Die Bedeutung von Handlungserfahrungen und digitalen Aktivitäten für die Theologieproduktivität junger Freiwilliger im kirchlichen Kontext. Jugendtheologische und kirchentheoretische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

III Ausblicke

Gernot Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie – Reflexionen zur Religionspädagogik und Erwachsenenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Jasmine Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?. . . . . . . 153 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

Einleitung

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Einleitung

Es war schlichtweg nicht vorauszusehen, wie unmittelbar und vehement unsere Tagungsplanung auf die Realität treffen würde. Als wir uns im Herbst 2019 intern im Netzwerk der Herausgeberinnen und Herausgeber auf die Thematik »Jugendtheologie und Digitalisierung« verständigt hatten, war von Corona längst noch keine Rede. Und doch musste die ursprünglich für den Juli 2020 geplante Tagung an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich aufgrund der pandemie-bedingten Entwicklungen verschoben werden. Der Absagetext vom 18.5.2020 – wenige Monate nach Beginn der Pandemie – erscheint fast wie aus einer anderen Welt, als wir formulierten: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben … die hiesigen Verhältnisse genau beobachtet und abgewogen. Auch wenn sich die Lage insgesamt etwas zu entspannen scheint, haben wir uns aus verschiedenen Gründen dazu entschlossen, die diesjährige Netzwerktagung abzusagen. Einige der Gründe liegen natürlich ohnehin auf der Hand. Aber nachdem uns einzelne Referierende bereits über ihre ›riskante‹ familiäre Situation und die entsprechenden Mobilitätseinschränkungen berichtet haben und wir zudem an der Fakultät aufgrund des Abstandsgebots nur mit maximal 25 Personen hätten tagen können, musste leider ein solcher negativer Entschluss gefällt werden. Wir haben uns auch dazu entschieden,

nicht auf ›digital‹ umzustellen, denn der anvisierte Charakter der Gesamttagung hätte dadurch nicht beibehalten werden können. Schließlich gibt es aus unserer Sicht auch gute inhaltliche Gründe für die Verschiebung: Angesichts der Entwicklungen in den vergangenen Monaten stellen sich auch die Herausforderungen von Jugendtheologie und Digitalisierung in verschiedener Hinsicht komplexer und dynamischer dar, als wir dies seinerzeit geahnt haben.« Die Tagung konnte dann – mit einer einjährigen Verschiebung – vom 14.–16. Juni 2021 unter dem Titel »›Net-working‹ – Jugendtheologie und Digitalisierung« durchgeführt werden. Allerdings schrieben wir dazu im Dezember 2020 ankündigend, »kaum überraschend als Online-Tagung«. Die Leitfragen für die Tagung und die einzelnen Beiträge, der Formulierung nach dieselben wie zu Beginn angedacht, hatten inzwischen an Dringlichkeit, Relevanz und auch an Erfahrungswert gewonnen: »Welche Rolle spielt die Digitalisierung als Rahmenbedingung und dynamische Kommunikationspraxis für die Jugendtheologie? Wie artikulieren und kommunizieren Jugendliche im Kontext digitaler Rahmenbedingungen und Praktiken eigene Sinn- und Lebensfragen? Welche Aufgaben der Wahrnehmung und Deutung ergeben sich daraus für Bildungsakteure? Wie können wir Formen gemeinsamer

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Einleitung

Sinnerschließung durch den kritischkreativen Gebrauch digitaler Medien kommunikativ entwickeln?« Diese etwa ausführlichere Erinnerung an die Entstehungsgeschichte der damaligen, von rund 50 Teilnehmenden digital verfolgten, Tagung samt der maßgeblichen Leitfragen ist uns als Einleitung in diesen Band aus einer Reihe von Gründen wichtig. Zum einen zeigt sie im Rückblick, vor welchen plötzlichen Herausforderungen auch die akademische Zusammenarbeit stand und wie flexibel man aufgrund der jeweiligen aktuellen Rahmenbedingungen eben auch bei Tagungsplanungen und -durchführungen – wenn man so will: beim »Erwachsenen-Theologisieren« – sein musste. Tatsächlich geht zuweilen fast schon wieder vergessen, mit wie vielen Befürchtungen und Ängsten die Einladung an Kolleginnen und Kollegen zu gemeinsamen Veranstaltungen »in Präsenz« verbunden war. Dass, wie oben zitiert, eine OnlineTagung »kaum überraschend« war, zeigt die erheblichen Veränderungsprozesse sowohl innerhalb der akademischen als auch in der alltäglichen Lebenswelt an. Zum anderen macht diese Erinnerung deutlich, wie stark das ursprünglich geplante Tagungsthema und die damit verbundenen Leitfragen von einem Tag auf den anderen in den Fokus des hautnah Erlebten rückten – und dies eben nicht nur in gesellschaftlicher, politischer und medizinischer Hinsicht, sondern auch in den Bildungskontexten von Schule und Kirche. Die Erinnerung an die äußeren Umstände der seinerzeit geplanten und dann schließlich online durchgeführten Tagung verweist darauf, dass die hier versammelten Beiträge in eine Zeit digitalkultureller Wandlungsprozesse hinein-

geschrieben sind, die für die schulische und kirchliche Bildung von einer noch nicht abschätzbaren Tragweite sind. Und natürlich wurde in den vergangenen rund drei Jahren der Pandemie eine Vielzahl von weiteren Schritten zum Ausbau und zur Verbesserung digitaler Angebotsstrukturen gegangen – kaum überraschend haben sich auch die religionspädagogischen Diskussionen zu diesem Themenkomplex seitdem stark weiterentwickelt. Gleichwohl sind wir der Überzeugung, dass die hier versammelten Beiträge, die in ihrer überarbeiteten Schlussform allesamt bereits auf die Erfahrungen mit der Pandemie zurückblicken, wesentliche Orientierung für die zukünftige jugendtheologische Konzept­ arbeit und Praxis in einer Kultur der Digitalität liefern und auch religionspädagogisch zentrale Fragen dafür aufwerfen. In guter Tradition der Jahrbücher für Kinder- und Jugendtheologie haben wir das Titel-Zitat aus einem der Beiträge des Bandes, in diesem Fall dem von Gernot Meier, ausgewählt. Dieses Zitat entstammt allerdings dieses Mal nicht dem Mund einer bzw. eines Jugend­ lichen. Sondern es nimmt den Slogan »Digitalisierung first – Bedenken second« einer Parteiwerbung auf. Indem wir dieses Zitat durch ein Ausrufungs- und ein Fragezeichen bewusst kritisch signie­ren, soll angezeigt sein, dass aus unserer Sicht sowohl das Nachdenken über wie auch das Bedenken von Prozessen der Digitalisierung allen unmittelbaren Umsetzungsschritten vorausgehen sollte. Im Sinn einer orientierenden Strukturierung haben wir die einzelnen Beiträge drei Rubriken zugeordnet, deren Überschriften »Grundlagenbeiträge«, »Praxisbezogene Beiträge« und »Ausbli-

Einleitung

cke« keineswegs Trennschärfe markieren sollen. Den Auftakt der ersten Rubrik bildet der Beitrag von Thomas Schlag, in dem mithilfe einer differenzierenden Verhältnisbestimmung von als zwei grundlegenden religionspädagogischen Bezugs­perspektiven Überlegungen zur produktiven Ergebnisoffenheit hochdynamischer Entwicklungsprozesse angestellt werden. Aufgezeigt werden gemeinsame Dimensionen bzw. Musteranalogien sowie Unterschiede von »Jugendtheologie« und »Digitalisierung«, um von dort aus beide Bezugsperspektiven in eine kritisch-konstruktive Beziehung zueinander zu setzen. Dies geschieht vor dem Horizont der Leitfrage, was es an professioneller Klärung und Selbstverständigung bedarf, um sich in einer Kultur der Digitalität auf ergebnisoffene, normativ ausgerichtete Prozesse jugendtheologischer Reflexion über Religion und Glaube wirklich einzulassen. Die Ausführungen von Marcell Saß sind in einem Spannungsfeld lokalisiert, das die Frage des Zusammenhanges von Jugend und Theologie mit Hilfe des Querschnittsthemas der Digitalität fokussiert. Vor dem Hintergrund der Analyse umfassender Transformationsprozesse weist er auf die Notwendigkeit einer neuen Deutung des Zusammenhanges von Mensch, Medien und Religion hin, weil in digitalen Welten die klassischen anthropologischen Subjektund Individuums-Konzepte unter Druck geraten. Für die Religionspädagogik als Disziplin im allgemeinen und jugendtheologische Zugänge im Speziellen bedeutet dies, sich als post-humanistisch informiert und somit post-digital achtsam zeigen zu müssen, gerade wenn noch

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stärker als bisher im Bereich religiöser Bildung intra- und interdisziplinäre Formate umgesetzt werden sollen. Ebenfalls im Sinn eines Grundlagenbeitrags entfaltet Ilona Nord die fachdidaktische Auseinandersetzung um digitales Theologisieren bzw. einer gelingenden Didaktik des Theologisierens in einer digitalen Bildungswelt. Sie geht dabei für das Theologisieren von der Voraussetzung aus, dass die dafür notwendige Basis der universitären Theologie nicht erst in einer digitalen Kultur, sondern von ihren Anfängen her medial strukturiert ist. Theologisieren kann insofern als ein Schlüssel zu einem selbstbestimmteren nicht nur Lernen, sondern Leben in, mit und über digitale Medien verstanden werden, nämlich dann, wenn die Didaktik des Theologisierens an den Autonomiebestrebungen der Bildungssubjekte ansetzt. Zugleich dürfen Kinder und Jugendliche nicht überfordert werden. Die immer wieder zu stellende Prüffrage lautet folglich: Für wen wird das Theologisieren unter welchen Bedingungen digitalen selbstregulierteren und zugleich darin auch selbstbestimmteren Lernens zu einer guten Bildungsmöglichkeit? Schließlich bearbeitet in dieser Grundlagenrubrik Martin Rothgangel die Frage, ob und in welcher Hinsicht die Allgemeine Fachdidaktik bestimmte Impulse für die »Jugendtheologie« bieten kann. So zielt sein Beitrag darauf ab, die Relevanz von anderen Fachdidaktiken beim Thema Digitalisierung für die Jugendtheologie aufzuzeigen. Neben den digitalen Medien selbst kommen dabei vor dem Hintergrund digitaler Transformation auch konkret Lehrerinnen und Lehrer und deren Ausbildung, Schüle-

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Einleitung

rinnen und Schüler und deren digitale Kompetenzen sowie generell der Fachunterricht und dessen Ziele in den Blick. Aus einer solchen Vergleichsperspektive mit anderen Fachdidaktiken ergibt sich seiner Ansicht nach unter anderem die zentrale Frage, wie sich die digitale Transformation auf den spezifischen Gegenstand jugendtheologischer Forschung (»digital religion«) sowie auf die entsprechende Bezugswissenschaft (»digital theology«) auswirkt. Zudem macht ein solcher Vergleich deutlich, dass es für die Lehrer:innenbildung dysfunktional wäre, wenn alle Fachdidaktiken völlig unabhängig voneinander diejenigen neuen fachbezogenen Kompetenzanforderungen entwickeln würden, welche aus der digitalen Transformation resultieren. Den Auftakt der Praxisbezogenen Beiträge machen Britta Konz und Antje Roggenkamp mit Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials – eigenproduzierte, kurze Filme, in denen Inhalte, Konzepte und Zusammenhänge in Ton und Bild erläutert werden – zum Thema »Umgang mit dem Heiligen Geist«. Sie argumentieren dafür, dass sich angesichts der zunehmenden Mediatisierung der Lebenswelten und der nicht zuletzt durch die Pandemie intensivierten Digitalisierung von Lernprozessen auch das Theologisieren für neue Kommunikationswege öffnen muss. Von ihren Ergebnissen aus reflektieren die Autorinnen im Horizont der Frage nach der Prozess- und Produktqualität des Theologisierens mit, inwiefern die Elementarisierung 2.0 Anregungen für Digitorials geben könnte, die imaginative Räume für eigene Adaptionsleistungen eröffnen und weiterfüh-

rende Deutungsangebote für existentielle Fragen bereitstellen. Christian Cebulj, Claude Bachmann und René Schaberger stellen unter dem Label »Digitale Takeaway-Theologie« das Blogprojekt »100 Sekunden Religion« vor. Sie beschreiben, wie ein konkretes Radio-Format durch Jugendliche und junge Erwachsene auf den Wissensbereich Religion erweitert und als digitales Format produziert wird und so ein glühender Resonanzdraht zwischen den Jugendlichen und den zu erschließenden religiösen oder theologischen Inhalten hergestellt wird. Von dort aus beleuchten die Autoren kontextuelle, konzeptionelle, kommunikative, religionsdidaktische und jugendtheologische Aspekte dieses Medienprojekts. In elementarisierungstheoretischer Perspektive wird am konkreten Beispiel deutlich, wie die Produktion eines solchen Hörlexikons die Suche Jugendlicher nach ihrer religiösen Identität und der Konstruktion ihrer individuellen theologischen Wahrheit zu unterstützen vermag. Wie sich Technologie und Spiel mit Religion und Pädagogik in Beziehung setzen und welche Bedeutung dafür Computerspielen zukommt, entfaltet Stefan Piasecki in seinem Beitrag. Er stellt dafür Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen – nicht nur Freizeiträume, sondern Orte pädagogischer Konzepte und gleichzeitig Schauplätze engagierter Lernprozesse – auf religiöse Überzeugungen an. Ausgegangen wird davon, dass diese Spiele nicht mehr nur an der Peripherie, sondern inmitten des Alltags angesiedelt sind, indem ihre Mechanismen außerhalb abgegrenzter Spielumgebungen auftauchen, dadurch Alltagsprozesse geprägt werden und ihre

Einleitung

Nutzenden sich durch soziale Netzwerke miteinander verbinden. Der Autor führt dies zur handlungsrelevanten Schlussfolgerung weiter, dass die Jugendtheologie um diese Faszination virtueller Spielwelten und die damit gegebenen technischen Möglichkeiten wissen sollte, insofern sich daraus in pädagogischer Hinsicht für die Jugendtheologie neue Schnittmengen und inhaltliche Zugänge ergeben können. Der Beitrag von Annette Haußmann bewegt sich, ebenfalls im Horizont von Digitalisierung, an der Schnittstelle von Jugendseelsorge und Jugendtheologie. Die Autorin beginnt mit der Skizzierung der Ausgangslage für den Dialog zwischen Jugendseelsorge und Jugendtheologie im digitalen Raum und verweist darauf, dass seit der Pandemie die Nutzung digitaler Medien, v.a. im Bereich sozialer Netzwerke, weiter zunimmt, wobei sich Hybridformen der Kommunikation und der Begegnung in digitalen und analogen Räumen beobachten lassen. Zugleich ergeben sich daraus spezifische Herausforderungen aus der primär als Angebotsstruktur gestalteten seelsorgerlichen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten. Anhand eines phänomenorientierten Zugangs, illustriert durch ein Praxisbeispiel digitaler Jugendseelsorge, werden von der Autorin Perspektiven auf pädagogisches und seelsorgliches Handeln in den Räumen des Digitalen anhand der Elemente von Interaktion, Themensetzung, Kommunikation sowie der Form der Beziehungsgestaltung entwickelt. Daraus ergeben sich konkrete Bildungsaufgaben etwa in der Stärkung von kommunikativen Kompetenzen im digitalen Raum, sowie ein Bewusstwerden von gegenseitigen Sorgeprozessen,

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die sich gegenläufig zu Hassbotschaften oder Mobbing verhalten. Auch Caroline Teschmer zeigt Perspek­ tiven digitaler Jugendseelsorge auf, indem sie das Projekt »Schreiben statt Schweigen« vorstellt, eine niedrigschwellig angelegte, Anonymität wahrende, Chatberatung für Jugendliche, die während des ersten Lockdowns durch das Landesjugendpfarramt der Ev.-luth. Kirche in Norddeutschland ins Leben gerufen wurde. Von einem Verständnis von Jugendseelsorge als lebensphasenspezifische Seelsorge, die von den Jugendlichen als Subjekten ausgeht, entfaltet sie ihre Überlegungen zur digitalen Jugendseelsorge als Teil der mediatisierten Lebenswelten. Digitale Seelsorge im Chat als Zwischenraum kann dann, so die Autorin, wie die Jugendtheologie religiöse Deutungen ins Spiel bringen. Jugendliche werden so als Mitkonstrukteur:innen in ihrem theologischen Denken, Fragen und Suchen berücksichtigt. Auf beiden Feldern findet dann im besten Fall ein gemeinsames lebensweltorientiertes Suchen statt. Eine weitere digitale Kommunikationsmöglichkeit entfalten Tobias Faix, Leonie Preck und Marielena Berger, indem sie sich anhand des eingängigen Bildes von »Instagram als neue Kanzel« dem Phänomen christlicher Influencer:innen zwischen mediatisierten Lebenswelten und fluiden Identitätskonstruktionen widmen. Charakterisiert werden diese als ganz eigene kontextuelle und selbstbewusste theologische Prägekraft, die abseits didaktischer Entwürfe und kirchlicher Deutungsmacht die neue Generation mit Glaubensthemen in den Dialog zieht. Die Autor:innen des Beitrags machen durch ihre Analysen

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Einleitung

konkreter Kommunikationsverläufe einzelner Influencerinnen am Beispiel von »ja und amen« und »Liebezurbibel« deutlich, dass öffentliche religiöser Kommunikation jenseits klassischer Orte wie Kirche, Jugendarbeit und Religionsunterricht stattfindet und sich fluide in das »Alltagsgeschehen« verschiebt. Von dorther identifizieren sie im informellen Lernen der mediatisierten Lebenswelten von Jugendlichen eine Vielzahl jugendtheologischer Anknüpfungspunkte und fragen, ob christliche Influencer:innen möglicherweise bald die neuen Pfarrer:innen und Religionslehrer:innen sein werden. Nochmals in einen anderen Bereich informellen Lernens ausgeweitet, analysieren Sabrina Müller, Nicole Bruderer, Thomas Schlag, Doreen Holtsch und Stefanie Findeisen die Bedeutung von Handlungserfahrungen und digitalen Aktivitäten für die Theologieproduktivität junger Freiwilliger im kirchlichen Kontext. Von den Ergebnissen einer Onlinebefragung zur Smartphonenutzung von jungen Erwachsenen im Kanton St. Gallen und im Landkreis Konstanz aus werden jugendtheologische und kirchentheoretische Reflexionen angestellt. Die Autor:innen halten fest, dass konkrete digitale, analoge und hybride Handlungserfahrungen das Fundament jugendtheologischer Reflexion und Theologieproduktivität bilden und insofern selbst theologisch bedeutsam sind: zum einen für eine Praxis der Förderung theologischer Selbstwirksamkeitserfahrungen, zum anderen als kritischer Prüfstein für solche Theoriedebatten, in denen nach wie vor alltags-, erfahrungs- und handlungsferne normative Konzeptionen festzustellen sind.

Die dritte Rubrik »Ausblicke« setzt mit zukunftsprognostischen Reflexionen von Gernot Meier ein. Er betont die komplexe Herausforderung des Steuerns von Innovationen, und verweist zugleich auf eben diese Aufgabe als eine zentrale in der Praktischen Theologie. Der Ansatz der »relationalen Positionierungen« erscheint dem Autor gerade für iterative Prozesse, die nahe an der Entwicklung und Einschätzung von gegenwärtigen technischen Entwicklungen sind, als ein geeigneter Weg für Lehr- und Lernsituationen – und dies nicht nur in der Jugendtheologie, sondern etwa auch im Feld der Erwachsenenbildung. Schlussendlich gehe es in diesen Bildungsprozessen im Sinn von »Aufschließung« (Jean-Luc Nancy) um den Raum, der sich zwischen Positionen eröffnet und offen gehalten werden soll. Den Band beschließen Überlegungen von Jasmine Suhner. Ausgehend von der Betonung, wie dynamisch und komplex sich die Bildungslandschaft und das Lernen in digitaler Kultur verändert hat und verändern wird, zeigt sie zunächst rückblickend in einer Ultrakurz-Geschichte die Entwicklung der Digitalisierung auf. Von da aus nimmt sie die Leser:innen in das gegenwärtige komplexe »Universum« von Jugendtheologie und Digitalisierung hinein. Hier stellt sie ein Schema vor, das in dieses Universum etwas Orientierung und Übersicht – für die Fachdebatte wie für die Praxis – zu bringen vermag. Ihr Beitrag und damit auch dieser Sammelband endet mit konkreten philosophischen, theologischen und religionspädagogischen Thesen und Fragen im Blick auf die Verantwortung von Theologie, Jugendtheologie, ja auch Geisteswissenschaften in der, für die und mit der digitalen Gesellschaft.

Einleitung

Für die finanzielle Unterstützung zur Vorbereitung und Durchführung der Zürcher Online-Tagung sei dem Schweizerischen Nationalfonds gedankt. Dieser Sammelband ist außerdem eingebettet in den interdisziplinären Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) »Digital Religion(s). Communication, Interaction and Transformation in the Digital Society« der Universität Zürich (www.digitalreligions.uzh.ch). Vor allem aber ist an dieser Stelle – auch namens des gesamten Kreises der Herausgeberinnen und

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Herausgeber der Reihe – dem Calwer Verlag sehr herzlich zu danken: Zuallererst namentlich Herrn Berthold Brohm für die stets verlässliche und engagierte Betreuung und Unterstützung der Jahrbücher für Kinder- und Jugendtheologie seit den Anfängen der Reihe und über so viele Jahre hinweg, und dann ebenso herzlich Herrn Hans-Jörg Gabler für die geduldige Begleitung des hier nun vorgelegten Bandes. Thomas Schlag und Jasmine Suhner

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Grundlagenbeiträge

Thomas Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung. Überlegungen zur produktiven Ergebnisoffenheit hochdynamischer Entwicklungsprozesse 1. Einleitung: »Kinder- und Jugendgeologie« [sic!]

Jugendtheologie als Forschungsfeld und Praxis stellt sich schon durch die Vielfalt ihrer theologischen, religionspädagogischen und didaktischen Bezüge als ein komplexes Unterfangen dar. Eine ganze Reihe von offenen Fragen begleitet die Entwicklung dieses Forschungsfeldes und die entsprechende Praxis von ihren Anfängen an. Die dadurch immer wieder ausgelösten Diskussionen weisen die Jugendtheologie als ein weiterhin dynamisches Feld religionspädagogischer Reflexion aus, für das sowohl die Berücksichtigung gesellschaftlicher und kirchlicher Entwicklungen wie auch aktueller Forschungserkenntnisse von zentraler Bedeutung ist. Durch die in den letzten Jahren immer stärker religionspädagogisch in den Blick genommenen digital-kulturellen Entwicklungsprozesse stellt sich diese Reflexionsaufgabe in nochmals verschärfter Weise. In welcher Hinsicht dies der Fall ist und mit welchen notwendigen Ausdifferenzierungen sich notwendige Orientierungen verbinden, soll im Folgenden – auch in Aufnahme der nach wie vor offenen Fragen an die Jugendtheologie – näher erörtert werden. Friedrich Schweitzer hat im Jahr 2016 auf der Zürcher Tagung »Kinder- und Jugendtheologie als ›Kommunikation des Evangeliums‹« zwei grundsätzliche

Anfragen an die Kinder- und Jugendtheologie aufgenommen, die seit ihren Anfängen relevant sind und in denen sich immer noch wesentliche Herausforderungen kristallisieren: Zum einen gelte es, das Verhältnis dieses Ansatzes zu Taufe und Glaube näher zu klären, zum anderen die, wie er schreibt, »zumindest angebliche – Unterstellung von Glaube im Blick auf die Schülerinnen und Schüler«1 näher zu bedenken. Mit Recht weist Schweitzer gegenüber manchen Kritikern der Kinder- und Jugendtheologie darauf hin, dass Glaube und Taufe angesichts der Pluralität am Ort des schulischen Religionsunterrichts für eine gelingende jugendtheologische Kommunikationspraxis keineswegs als notwendig vorauszusetzen sind. Wenn aber dies nicht der Fall ist, muss seiner Ansicht nach konsequenterweise weitergefragt werden: »Lässt sich dann aber keinerlei Voraussetzung mehr für den Gebrauch des Theologiebegriffs angeben?«2 Seine Antwort leuchtet unmittelbar ein, wenn er vorschlägt, in der Kinder- und Jugendtheologie nicht von »Personvoraussetzungen« auszugehen,

1 Friedrich Schweitzer, Kommunikation des Evangeliums und die Kinder- und Jugendtheologie. Religionspädagogische Perspektiven im Kontext schulischer Bildung, in: JaBuKiJu 1, Stuttgart 2008, 237. 2 Ebd., 238.

Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung

sondern »den Prozess als maßgeblich anzusehen« (Kursivierungen im Original).3 Mit anderen Worten: »Von Theologie … kann dann gesprochen werden, wenn die Beteiligten bereit sind, sich auf einen normativ ausgerichteten Prozess der Reflexion über Religion und Glaube einzulassen« bzw. »die Kinder und Jugendlichen sich … in ein dialogisches Verhältnis zur christlichen Tradition als Norm gesetzt sehen oder zu setzen bereit sind.«4 Um dies schon hier festzuhalten: Diese Grundbestimmungen stellen einen überaus sinnvollen Ausgangspunkt sowohl für das Bezugsfeld der Jugendtheologie wie auch für die Thematisierung des Verhältnisses von Jugendtheologie und Digitalisierung dar. Denn es geht um nicht weniger als nach den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen eines gelingenden Theologisierens überhaupt zu fragen – und dies unter den aktuellen Bedingungen einer sich medial stark wandelnden Lebenswelt. Zuvor aber sei hier ein charmanter Druckfehler aufgenommen, der sich in Schweitzers Beitrag eingeschlichen hat und der für einen Moment produktiv aufgenommen werden soll: Es ist nämlich in seinem Beitrag die Rede von der »Kinder- und Jugendgeologie«5 – und dies ist vielleicht doch mehr als nur ein Zufall. Denn tatsächlich verkompliziert sich durch die Thematik der Digitalisierung sozusagen das Bezugsfeld bzw. das Terrain, auf dem sich die von Schweitzer stark gemachte jugendtheologische Prozesshaftigkeit und das dialogische Grundprinzip verwurzeln, verorten und hoffentlich auch erden. Auf die hier zu behandelnde Schwerpunktthematik übertragen: Durch und inmitten der »Kultur der Digitalität«6 weitet sich das

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jugendtheologische Bezugsfeld nochmals aus und die bisher schon benannten Anfragen und Herausforderungen für Forschung und Praxis kommen noch deutlicher ans Licht. Von welchen digitalen Dynamiken ist aber nun gegenwärtig auszugehen? Mit dem Schweizer Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder kann davon gesprochen werden, dass hinter dem gegenwärtigen Medienwandel zuallererst ein fundamentaler Kulturwandel steht. Oder wie Stalder jüngst in einem Interview formuliert hat – und hier sind wir sozusagen bei der »Geologie«: Gegenwärtige »Prozesse der Orientierung finden zwar auf Basis digitaler Technologien statt, aber ihre Auswirkungen betreffen die Gesellschaft in all ihren Dimensionen, also auch den physischen Raum, auch uns als verkörperte Menschen und auch die biologischen und geophysikalischen Systeme.«7 Kurz und grundsätzlich gefasst bedeutet dies gleichsam einen Kulturwandel hin zu einem »Denken und Handeln in Multiperspektivität, durch Verhandlungen und in offenen Prozessen, statt eines Denkens in fixen und dichotomen Kategorien«.8 Deshalb ist interessanterweise seiner Ansicht nach durch die bzw. in den Religionen die Suche nach gemeinsamen Referenzpunkten für ein solches 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., 237. 6 Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 7 Felix Stalder, Zur Kultur der Digitalität. Ein Interview von Wolfgang Beck mit Felix Stalder, in: Wolfgang Beck / Ilona Nord und Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg i.Br./Basel/ Wien 2021, 27. 8 Ebd., 31.

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Grundlagenbeiträge

Denken und Handeln notwendig. Stalder benennt hier explizit interreligiöse Prozesse, durch die versucht werden kann, geteilte Werte zu artikulieren und Brücken zwischen den Traditionen zu bauen – mit anderen Worten: »Unterschiede [können] einen positiven Wert haben.«9 Soweit einmal dieser Einblick in das weite Feld der in der Kultur der Digitalität erzeugten Kulturwandlungsprozesse und der damit verbundenen Herausforderungen für die religiösen Gemeinschaften. Von dort aus legt sich auch vor dem Hintergrund der anfangs genannten religionspädagogischen Grundbestimmungen eine These unmittelbar nahe: Jugendtheologie hat ihrer Sache nach die Logik digitaler Prozessdynamiken und pluraler Dialogizität sozusagen »en passant« längst schon vor Augen. Denn selbst wenn diese nun durch die Digitalisierung verschärft ins allgemeine Bewusstsein treten, gilt grundsätzlich, dass religiöse Erkenntnis und Praxis von Anfang an und immer unter den Grundbedingungen von Medialität und ihrer vielfältigen Kommunikationsformen stand und steht.10 Und auf diese Pluralität kommunikativer Artikulations- und Deutungspraxis hat sich die Jugendtheologie von Beginn an intensiv eingelassen. Man gewinnt angesichts der von Stalder benannten Bildungsherausforderungen in der Digitalität den Eindruck, als ob die Jugendtheologie mit ihrem prinzipiellen Ansatz eines multiperspektivischen, ergebnisoffenen theologischen Denkens und Handelns – für das eine eigene Taufzugehörigkeit oder Glaubenshaltung nicht voraussetzt war – ganz elementar und vielleicht ja sogar prophetisch vorgedacht hat. Gäbe es den jugendtheologischen Ansatz nicht, müsste man diesen

wohl nun spätestens in digitalen Zeiten schleunigst und dringend erfinden. Inwiefern lässt sich aber nun die gegenwärtige, digital geprägte kulturelle, gesellschaftliche und religiöse Gesamtlage genauer mit einer jugendtheologischen Perspektive zusammendenken und gar verbinden? Natürlich sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die aktuellen Digitalisierungsdynamiken selbst überaus komplex, schillernd und kaum angemessen erfassbar sind – abgesehen davon, dass ihre Folgen auf sehr unterschiedlichen Zeitschienen bzw. Zeitachsen liegen: Erinnert sei hier an das sogenannte Amara’s Law, benannt nach dem U.S.-amerikanischen Zukunftsforscher Roy Amara (1925–2007), der konstatierte: »We tend to overestimate the effect of a technology in the short run and underestimate the effect in the long run.«11 Die digitalen, gegenwärtig hoch dynamischen Entwicklungsprozesse bringen jedenfalls eine Vielzahl von Unwägbarkeiten und auch Unverfügbarkeiten mit sich. Dies sollte allerdings Bildungsverantwortliche in Schule und Kirche nicht dazu verleiten, an diesen Komplexitäten zu verzweifeln oder sich in deren ihr Schicksal zu fügen. Denn Bildungsprozesse stellen als solche ebenfalls hochdynamische Entwicklungsprozesse dar. Insofern kommt es für die unterschiedlichen Bildungskontexte darauf an, deren prinzipielle und produktive Ergebnisoffenheit sowie Unverfügbarkeit 9 Ebd. 10 Thomas Schlag / Ilona Nord, Art. Religion, digitale (2021), in: WiReLex, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200879/. 11 Roy Amara, Oxford Essential Quotations (4 ed.), ed. by Susan Ratcliffe, Oxford University Press, published online 2016.

Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung

ernst zu nehmen und sich damit nach allen Regeln theologischer Verstehenskunst auseinanderzusetzen. Diese mögliche Analogiebildung von »Digitalisierung« und »Jugendtheologie« soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Dies erscheint selbst angesichts des Faktums möglich, dass es sich im einen Fall um die Bezeichnung eines weitreichenden technisch induzierten Transformationsprozesses, im anderen Fall um eine religionspädagogische Konzeptbildung handelt. Eine solche Verhältnisbestimmung erscheint gleichwohl legitim, insofern bestimmte jeweils beobachtbare Wahrnehmungs- und Kommunikationsmuster für beide »Bereiche« als religionspädagogisch relevant identifiziert werden können. Dazu werden im Folgenden zuerst erkennbare gemeinsame Dimensionen bzw. Musteranalogien und daran anschließend Unterschiede von »Digitalisierung« und »Jugendtheologie« als religionspädagogischen Bezugsperspektiven aufgezeigt. Dabei erfolgt der Bezug sowohl auf jüngere Forschungen im Feld der sogenannten »Digital Religion« wie auch auf Einsichten aktueller jugendtheologischer Studien – angesichts des hier zur Verfügung stehenden Raumes dabei explizit allerdings nur auf einzelne Referenzen bezugnehmend. 2. Fünf gemeinsame Dimensionen bzw. Musteranalogien von Digitalisierung und Jugendtheologie 2.1 Identitätsdimension

Ausgangs- und Bezugspunkt kommunikativer Praxis ist in beiden Bezugsperspektiven die Zielsetzung der Ent-

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wicklung von Identität, oder um diesen Großbegriff etwas zurückzunehmen, die freie Expression individueller Interessen, Präferenzen und Suchbewegungen durch die kommunizierenden KoKonstrukteure. Für das Feld digitaler Medialität sind die identitätsorientierten Eigenkonstruktionen und Selbstinszenierungen unübersehbar12. Im Blick auf digitale Welten ist in diesem Zusammenhang von »Pro-Sumern«, »Prod-Usern« oder »Dataviduen«13 die Rede. Diese tragen maßgeblich zum Inhalt der jeweiligen Plattform bei und werden durch ihre digitalen Identitätssuchbewegungen zugleich zu Produzenten. Jede Plattformaktivität, jede Influencer:innenstimme muss die Anforderung an eigene authentische Identitätspräsenz mindestens mit »auf dem Schirm haben«, wenn sie Attraktivität und Aufmerksamkeit erzeugen will. Jugendtheologisch gesprochen zeigt der vielfach stark gemachte Bezug auf die Potenziale von Jugendlichen, d.h. deren freie Expression individueller theologischer Fragen, Überzeugungen und authentischer Suchbewegungen sozusagen diese identitätsbezogene Dimension in spezifischer Weise an.14

12 Vgl. Mia Lövheim / Evelina Lundmark, Identity, in: Heidi Campbell / Ruth Tsuria (Eds.), Digital Religion. Understanding Religious Practice in Digital Media, 2nd edition, London/New York 2022, 56–70. 13 Sjoukje van der Meulen / Max Bruinsma, Man as ›aggregate of data‹. What computers shouldn’t do, in: AI & SOCIETY 34 (2019), 343–354. 14 Vgl. mit Relevanz für beide Bezugsperspektiven Tanja Gojny / Kathrin S. Kürzinger / Susanne Schwarz (Hg.), Selfie – I like it. Anthropologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung, Stuttgart 2016.

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Grundlagenbeiträge

2.2 Partizipationsdimension

2.3 Institutionelle Dimension

In beiden Bezugsperspektiven lässt sich eine Art Aufweichung bisheriger Autoritäten bzw. Autoritätsstrukturen sowie die Verflüssigung institutioneller Akteursebenen aufgrund einer gleichsam konstitutiven Partizipationslogik konstatieren. Aufgrund einfacher werdender Informations- und Teilhabezugänge werden klassische Sender-EmpfängerStrukturen durch prozessuale, fluide und sich wechselseitig bereichernde Kommunikationsformen mindestens aufgeweicht, wenn nicht sogar gänzlich unterlaufen. Dabei ist diese Partizipationsdynamik nicht in erster Linie eine Sache der technischen Möglichkeiten, sondern: »Digital participation now is best characterised through the lens of choice. These are the decisions we take about whether, when, with whom and around what, we will participate. Because participation is now much more about who we are, than what we have, or our digital skill.«15 Damit verbindet sich oftmals zudem eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber bestimmten indoktrinären oder dogmatischen Beeinflussungsformen »von oben«. Diese Partizipationsdimension selbst befördert damit einerseits die selbstbewusste und eigenständige Teilhabe und führt andererseits zugleich zu immer stärkeren kommunikativen und dynamischen Austauschprozessen untereinander. Dies lässt sich jugendtheologisch zu solchen Analysen in Analogie setzen, in denen intensive teilhabeintensive Dialogprozesse etwa über »die großen Fragen« eindrücklich dokumentiert sind.

Im Zusammenhang dieser Partizipationslogiken und -dynamiken tritt die institutionelle Dimension digital-medial Kommunikationsprozessen in der Regel deutlich zurück. Konstatiert wird beispielsweise eine »Refiguration von Religion«16 und der Zuwachs bestimmter Spielarten populärer Religion. Institutionelle Autoritäten können demzufolge diese refigurierenden Expressionsweisen weder exklusiv pflegen noch gar länger kontrollieren. Die Selbstbindung oder Selbstverpflichtung erfolgt – gemäß der oben benannten Identitätssuchbewegungen – vielmehr nach der Eigenlogik der Präferenzsetzungen ihrer Akteurinnen und Akteure und damit nicht in erster Linie in Orientierung an bestimmten institutionellen Vorgaben bzw. religiösen Ordnungslogiken. Man kann also sagen, dass sich in den digitalen und religiösen Bezugsperspektiven ein bestimmter Freiheitscharakter institutionenkritischer Kommunikation als Musteranalogie zeigt. Und wiederum jugendtheologisch gesehen wird eben von einer Orientierung an der Institution Kirche und deren Lehrinhalten so jedenfalls nicht mehr ausgegangen – was wiederum auf

15 Holly Goodier, The Participation Choice, https://www.bbc.co.uk/blogs/bbcinternet/2012/05/bbc_online_briefing_ spring_201_1.html. 16 Vgl. Hubert Knoblauch, Die Refiguration der Religion. Perspektiven der Religionssoziologie und Religionswissenschaft, Weinheim/Basel 2020, und in diesem Band religionspädagogisch weiterführend der Beitrag von Henrik Simojoki, Die Nähe des Entfernten. Zur räumlichen Mehrbezüglichkeit des Religiösen im »global age«, ebd., 113–128.

Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung

die anfangs genannte Frage nach Taufe und Glaube aufnimmt. Zugleich ist hier im Sinn einer Musteranalogie anzuführen, dass die klassisch institutionell »besetzten« kirchlichen Räume und Settings ebenfalls neuen Gestaltungsformen weichen können. Im Bereich digitaler Kultur ist hier etwa an die Kreation neuer Inszenierungsräume, man denke hier nur an die jüngsten Entwicklungen im Zusammenhang des sogenannten »Metaversums«, zu denken. Im jugendtheologischen Bereich kann hier an Kommunikationsräume gedacht werden, die sich »jenseits« eines klassischen pädagogischen Settings, etwa durch informelle, theologisierende Peergroups bilden, in denen die Verortung im »realen Raum« etwa eines Gemeindehauses oder einer Kirche nicht mehr vorausgesetzt wird. 2.4 Gemeinschaftsdimension

Eine weitere Musteranalogie liegt im Blick auf beide Bezugsperspektiven in der Entstehung neuer Netzwerkkommunikationen und Netzwerkgemeinschaften jenseits festgelegter Ordnungsformationen. Im Kontext der Forschungen zu digitaler Religion ist die Rede von alternativen »Community«-Bildungen.17 Wiederum mit der oben aufgeführten institutionellen Dimension verbunden, zeigen sich damit nicht nur bestimmte Befreiungstendenzen gegenüber institutionellen Autoritäten, sondern zugleich auch Dynamiken des Aufbaus von alternativen Gemeinschaften mit einer Vielzahl unterschiedlicher Partizipationstypen. So wird im Bereich digitaler Gemeinschaftsbildung modellhaft unterschieden zwischen »Creators« (= Users

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who create posts, blogs, and other new content), »Contributors« (= Users who reply to comment on the created content), »Consumers« (= Users who exclusively view or log in to consume the created content and its contributions – also known as ›lurkers‹) und »Inactives« (= Users who have not made any actions in the community in the last year).18 Interessanterweise kann allerdings selbst für die wenig Aktiven gelten: »Community members are sticking around, even if they appear inactive. If there is a reason for them to log in, they will. As a community leader, you can work to provide opportunities for these inactive members to re-engage, knowing they’re waiting in the wings«.19 Solche unterschiedlichen Verhaltensmuster zeigen sich im Sinn einer Musteranalogie durchaus auch in konkreten jugendtheologischen Gemeinschaftsbildungsprozessen. Dies wird etwa dann erkennbar, wenn in bestimmten dokumentierten Unterrichtsprozessen hier gleichsam kommunikative »Gemeinschaften auf Zeit« entstehen, in denen höchst unterschiedliche Formen der aktiven und inaktiven Teilhabe gepflegt werden können – und dabei zugleich neue Gemeinschaftserfahrungen jenseits kirchlicher Ordnungsformate möglich werden.

17 Vgl. Heidi Campbell / Zachary Sheldon, Community, in: Heidi Campbell / Ruth Tsuria (Eds.), Digital Religion. Understanding Religious Practice in Digital Media, 2nd edition, London/New York 2022, 71–87. 18 2020 Engagement Trends Report, https:// www.higherlogic.com/lp/2020-engagementtrends-report/], 3. Ein kostenloser Zugriff auf den Report ist über eine Registrierung auf dieser Website problemlos möglich. 19 Ebd., 12.

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Grundlagenbeiträge

2.5 Emotions- und Vertrauensdimension

Digitale Kommunikation setzt, wenn sie gelingen soll, vielleicht noch stärker als bisherige analoge Kommunikation eine hohe Emotions- und Vertrauens­ basis voraus – sei es ein Vertrauen in das kommunizierende Gegenüber selbst oder ein Vertrauen in das konkrete mediale Angebot bzw. die jeweilige Quelle. Positive »Gratifikationen« werden dann ausgesprochen und dem jeweiligen Medienanbieter wird Vertrauen als positive Emotion entgegengebracht, wenn eine solche Wahrnehmungssituation als emotional erlebt und die Rezipientinnen und Rezipienten im wahrsten Sinn das Gefühl haben »bewegt zu sein«.20 Es sind eben nicht bestimmte Inhalte allein, die hier für nachhaltigen Eindruck sorgen, sondern das damit verbundene Gesamt­ereignis aus kognitiven und emotional-affektiven Elementen. Diese Beobachtung der Wirkung von medialen Angeboten und Kommunikationsprozessen lässt sich auch in Analogie zu jugendtheologischen Grundeinsichten setzen. Auch hier zeigt sich die hohe Bedeutung sowohl kognitiver wie emotionaler und vertrauensbezogener Kommunikationsprozesse – konkret zwischen Lehrenden und Lernenden bzw. zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch zwischen den Jugendlichen selbst – als Gelingensbedingungen dafür, dass Erfahrungen des »Bewegtseins« gemacht werden können.21 Dass sich diese Emotionsdimension wiederum eng mit dem Aspekt der oben benannten Authentizitätserfahrungen verbindet, muss kaum eigens erwähnt werden. Über diese fünf gemeinsamen Aspekte hinaus sind nun aber auch eine Reihe

von wesentlichen Unterschieden zwischen beiden Bezugsperspektiven auszumachen und zu benennen, wobei im Folgenden eine Beschränkung auf drei wesentliche Unterschiedsdimensionen erfolgt. 3. Drei wesentliche Unterschiedsdimensionen von Digitalisierung und Jugendtheologie 3.1 Zeit- und Raumdimension

Die Schnelligkeit und Aktualität der sozialen Medien und deren Bilderflut, aber auch die damit verbundene Schnelllebigkeit ist kolossal. Die Kumulation von Wissen bzw. Information ist exponentiell und schon die Verwaltung und Ordnung dieser unüberschaubaren Fülle an immer weiter generierten Daten stellt längst ein Ding der Unmöglichkeit dar. Demgegenüber ist, wie viele Analysen konkreter Kommunikationsprozesse und Unterrichtssituationen deutlich machen, ein wesentlicher jugendtheologische Ausgangspunkt für gelingende Kommunikation die Ermöglichung von Erschließungssituationen, die grundsätzlich nicht

20 Vgl. Uli Gleich (ARD-Forschungsdienst), Funktionen und Motive der Mediennutzung, Media Perspektiven 11/2014, https://www. ard-media.de/fileadmin/user_upload/mediaperspektiven/pdf/2014/11-2014_Fodi.pdf, 573. 21 Vgl. etwa Nadja Boeck, »Es muss ja nicht alles Sinn machen«. Jugendliche deuten die Auferstehung, Stuttgart 2023; Sabine Hermisson, »Das ist ein schönes Gefühl, dass der, der dich erschaffen hat, dich auch dahaben will« – Emotionen von Schüler:innen am Beispiel der Schöpfungsthematik, in: Theo-Web 21 (2022), 182–203.

Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung

von quantitativer Fülle als vielmehr von qualitativer Elementarität ausgehen. Die Zeit- und Raum-Logik digitaler »Onlife« bzw. 24/7-Strukturen prallen hier deshalb unter Umständen auf ganz andere prozessuale Lehr- und Lernformate, -geschwindigkeiten und -inhalte. Digitale Omnipräsenz steht somit tendenziell gegen punktuelle jugendtheologische Kommunikationspräsenz. Und die Plausibilisierung bestimmter theologischer Inhalte auf einem Markt unbegrenzter Deutungsangebote sollte jedenfalls nicht dazu führen, hier deshalb schlicht nach Maßgabe digitaler Marktgängigkeit zu verfahren. 3.2 Privatheits- und Entzogenheitsdimension

Unverkennbar sind viele Formen von Netzkommunikation von einer Kommunikationslogik geprägt, die einerseits höchst öffentlichen Charakter hat, sich zugleich aber durch Verweis auf die eigene digitale »Privatsphäre« einem bestimmten öffentlichen Zugang und Zugriff bewusst und programmatisch entzieht. Auch wenn es paradox erscheinen mag, ist ein bestimmtes – nota bene im digitalen Öffentlichkeitsraum stattfindendes – Bewegungsverhalten in den Welten sozialer Medien gerade nicht öffentlich in dem Sinn, dass es sogleich für alle Außenstehenden erkennbar wäre bzw. sein soll. Jugendliche kreieren und codieren bestimmte Eigen-Welten häufig so, dass sie bei deren Nutzung und Entwicklung – zumindest durch die Erwachsenenwelt – ungestört bleiben. Dies bedeutet dann allerdings auch, dass sich diese Formen digitaler Sozialisation oft-

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mals einer näheren Kenntnis oder gar Beeinflussung durch klassische Sozialisationsagenturen wie das Elternhaus oder die Schule entziehen. Jugendtheologisch gesehen stellt sich damit die Herausforderung, wie sich angesichts dieses höchst legitimen jugendlichen Anspruchs auf Privatheit und der Pflege je individueller digitaler Vertrauens-Plattformen eigentlich über »große« und »letzte« Fragen offen sprechen und auch »verhandeln« lässt. 3.3 Instanz- und Inhaltsdimension

In einem durch das Kirchenamt der EKD im Jahr 2022 veröffentlichten »Orientierungsrahmen« zum Religionsunterricht in der digitalen Welt heißt es: »Eine theologische Hermeneutik kann gerade deshalb einen Beitrag zum Verständnis der digitalen Medien leisten, weil die christliche Tradition auf medienanthropologische und religionshermeneutische Grundlagen zurückgreift: Sie verweist darauf, dass der Mensch eine Kreatur ist, die sozusagen von Natur aus auf Kultur angewiesen ist, also auf medial durch Sprache, Bilder und Schrift vermittelte Symbolwelten und technische Hilfsmittel. Dies zeigt sich gerade auch in der Religionskultur, die vorwiegend durch mediale Zeichen konstruiert und tradiert ist.«22 Man kann in Weiterführung des Medienphilosophen Marshall McLuhan fragen, ob sich in der Digitalität ein neues Verhältnis zwischen Inhalt und Vermittlungsinstanz ergeben hat, insofern digi22 Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in der digitalen Welt. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2022, 25.

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Grundlagenbeiträge

tale Medien und Plattformen, aber auch eine bestimmte Influencerkultur selbst längst zum »eigentlichen« Inhalt geworden sind. Eine Unterscheidung zwischen Digitalisierung und Jugendtheologie tut sich hier insofern auf, als trotz aller Medialität von Religion die »Kommunikation des Evangeliums« nicht im Muster der Übertragungslogik eines vermeintlich eindeutigen Überlieferungsmediums gefasst werden kann. Vielmehr bedarf diese Botschaft selbst ihres eigenen Anspruchs nach der immer wieder neuen Verstehensleistung, deren Inhalt sich durch den Verweis auf ein – noch so »heiliges« – Instanzmedium jedenfalls nicht zureichend plausibilisieren lässt. So stellt sich nach den oben benannten Gemeinsamkeiten und den Unterschieden beider Bezugsperspektiven die Frage, inwiefern hier möglicherweise »am Ende« doch zwei unterschiedliche Sinnstiftungsräume und Welten aufeinandertreffen, die sich eben nicht nur im Analogiemodus als wechselseitig bereichernd ansehen lassen, sondern die in unaufhebbarer Konkurrenz zueinander stehen. Welche Perspektiven tun sich dann aber für ein konstruktiv-kritisches In-Beziehung-Setzen von Digitalisierung und Jugendtheologie auf? 4. Perspektiven

gesetzte Ausgangston lautet: »Die evangelische Kirche [hat] ihre Kapazitäten im Bereich der Kinder- und Jugendbildung sowie der Erwachsenenbildung in den Dienst von digitaler Aufklärung, Medienbildung und Digital Literacy … zu stellen.«23 Dabei ist der Anspruch an eine kirchlich verantwortete Bildung bzw. an die »kreative Verwendung digitaler Technik in unterschiedlichen Formaten der evangelischen Jugend- und Bildungsarbeit«24 denkbar hoch, wenn formuliert wird: »Bildungsprozesse in der Kinderund Jugendarbeit wie auch in der Familien- und Erwachsenenbildung können solche Resilienzerfahrungen unterstützen, indem sie aufklären: über den heimlichen Aufforderungscharakter digitaler Medien sowie über emotionalisierende Effekte in den Social Media. Hierzu gehört auch, einen souveränen, verantwortlichen Umgang mit den eigenen Daten und den daraus gewonnenen digitalen Identitäten einzuüben.«25 Wo und wenn überhaupt einmal Jugendliche ausdrücklich erwähnt werden, wird dies sogleich zeigefingerartig formuliert, etwa im Blick auf Pornographie: »All das fordert nicht nur den rechtlichen Jugendschutz heraus, sondern tangiert medienpsychologische, sexualpädagogische wie sexualethische Fragen.«26 Als Konsequenzen werden dann benannt: »Speziell Jugendliche sind dazu zu befähigen, eigenverantwortlich

4.1 Eine klassische Form kirchlicher Beschreibungs-»Leistungen«

Ein bestimmtes, immer noch institutionell verhaftetes kirchliches Mindset lässt sich am folgenden, geradezu »klassischen« Beispiel aufzeigen: Der in der jüngsten EKD-Denkschrift zur Digitalisierung

23 EKD (Hg.), Die Zehn Gebote in Zeiten des digitalen Wandels. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig 2021, 208. 24 Ebd., 120. 25 Ebd., 66. 26 Ebd., 158.

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zu handeln und den Nächsten zu achten. In diesem Sinne sind sie dazu zu ermutigen, Beziehungen in einem verantwortungsvollen Miteinander einzugehen und sich entsprechende Sozial- und Sexualkompetenzen anzueignen.«27 Daraus wird als »wichtiges Aufgabenfeld für die kirchliche Jugendarbeit« benannt, »Heranwachsende ab der Pubertät bei der pornographiespezifischen Medienkompetenzbildung zu begleiten und zu unterstützen«28, denn »insbesondere Kinder und Jugendliche dürfen mit ihren Pornographieerfahrungen nicht allein gelassen werden.«29 Ausgegangen wird in dieser Denkschrift immer noch handlungstheoretisch von einem markanten und relevanten Einfluss kirchlicher Bildungsarbeit auf die Orientierung Jugendlicher in den angenommenen digitalen Gefährdungswelten. Das Grundparadigma ist immer noch, sozusagen in diese Welten hinein ein alternatives Deutungsangebot einspielen zu können, indem ein bestimmtes Nutzungsverhalten von Beginn an gleichsam skandalisiert wird, um damit im Gegenzug – ebenso vermeintlich – digitalaufklärerisch zu wirken. Aber ist dieser Anspruch nicht sowohl medienlogisch, entwicklungspsychologisch wie eben auch jugendtheologisch völlig vermessen? Und werden dadurch nicht gerade die oben identifizierten Musteranalogien zu Unrecht ganz außer Acht gelassen? Wäre es folglich also nicht viel angemessener, sich erst einmal medienpsychologisch klarzumachen, dass bei Jugendlichen von einer Vielfalt von Rezeptionsmodalitäten bzw. individuell höchst unterschiedlichen, kognitiven und emotionalen Prozessen auszugehen ist? Die Fragen des Zusammenhangs von

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Mediennutzung und Medienwirkung, Aspekte des Einflusses auf die je individuelle Persönlichkeit, Identität und Gemeinschaftsbildung sind jedenfalls sehr viel komplexer als dies die Ansprüche der oben angeführten Denkschrift zum Ausdruck bringen. Insofern stellt sich die Frage, ob nicht vor aller Handlungsorientierung eine jugendtheologisch relevante Wahrnehmungsorientierung erheblich verstärkt und geschärft werden muss. 4.2 Herausforderungen für zukünftige Analysen des Verhältnisses von digitalem Kulturwandel und jugendtheologischer Forschung und Praxis

Jugendtheologie unterliegt einerseits den Logiken des digital induzierten gesellschaftlichen Kulturwandels. Andererseits eröffnen sich durch jugendtheologische Praxis vielfältige Möglichkeiten, sich vor dem Hintergrund der eigenen spezifischen bildungsbezogenen Voraussetzungen und Zielsetzungen zu diesen Transformationsprozessen in ein produktives Verhältnis zu setzen. Insofern lässt sich sowohl aufgrund der herausgestellten Musteranalogien wie der benannten Unterschiede das Verhältnis von Jugendtheologie und Digitalisierung als ein wechselseitig katalysatorisches beschreiben: Jugendtheologie greift zum einen auf digitale Möglichkeiten und Formate des Austauschs über theologische Fragen zurück. Zum anderen eröffnet sie in orientierendem, durchaus norma-

27 Ebd., 166. 28 Ebd., 167. 29 Ebd.

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tivem Sinn Möglichkeiten der kritischen Selbstpositionierung in unüberschaubarer werdenden Kommunikationswelten und Deutungsangeboten. Sowohl in theologischer, religionspädagogischer wie in didaktischer Hinsicht ist dabei mit guten Gründen von einer prinzipiellen und produktiven Ergebnisoffenheit gemeinsamer theologischer und damit auch jugendtheologischer Erkenntnissuche auszugehen. Folgende vier Herausforderungen sind hier aus meiner Sicht zu benennen – und dies geschieht bewusst im Sinn von Leitfragen – sowohl für die zukünftige Praxis wie die Forschung: 1) Ist Jugendtheologie wirklich kontextsensibel? Der Vorwurf an die Jugendtheologie, dass diese immer noch von einem erheblichen Sprach- und Deutungsmacht vieler Jugendlicher ausginge, ist nicht neu und bleibt doch berechtigt. Vielleicht trägt Jugendtheologie nach wie vor eine weitgehend »bürgerliche« Gestalt, was dann auf eine »Theologie von, mit und für« Privilegierte(n) schließen ließe – ganz zu schweigen vom Faktum eines immer größeren Anteils nichtreligiöser Jugendlicher.30 Dass jugendtheologische Dialoge herrschaftsfrei und seien sich tatsächlich nach Maßgabe eines symmetrischen Kommunikationsaustausches bestimmen ließen, stellt wohl mehr ein Wunschbild als die Realität dar. Dann stellt sich aber die Frage, ob nicht ein bestimmter »digitaler Divide« zwischen denen, die mit diesen Medien kreativ und produktiv umzugehen vermögen und jenen, die auf den bunten digitalen Oberflächen verbleiben, diese jugendtheologische Friktion noch weiter be-

fördert. Dies bringt folglich die Herausforderung mit sich, die gegenwärtig viel beschworene »digital literacy« möglichst kontextsensibel mit den Anforderungen an eine möglichst niederschwellige und doch sachgemäße theologische Sprachfähigkeit zusammenzudenken. 2) Ist Jugendtheologie wirklich medienpsychologisch geschult? In medienpsychologischer Hinsicht ist zu fragen,31 was eigentlich die Orientierungskraft digitaler Medien für die Jugendlichen ausmacht: Wovon werden diese angezogen, was sind die Gründe für deren oftmals medialen Dauergebrauch. Hier stellt sich die jugendtheologisch bisher weitgehend unbedachte Frage nach den (religions-)psychologischen Deutungsmöglichkeiten individueller, identitätsbildender Mediennutzung. Das »Digitale« ist eben nicht nur ein Tool, sondern dahinter steht eine eigene Kommunikations- und Nutzungslogik, hinter der wiederum tiefsitzende Motive – Sehnsüchte, Hoffnungen, Ablenkung, Information – liegen können und die wiederum mit einem ganzen Ensemble von kontextuellen Faktoren verbunden sind. Das »Digitale« ist insofern eine »eigene« Lebenswelt, die aber natürlich in engster Verbindung zu den realen Lebenswelten der Jugendlichen, deren Gebrauchspräferenzen, Aufmerksamkeitsrhythmen und Wahrnehmungsfähigkeiten steht. Insofern bedürfen jugendtheologische 30 Vgl. Saskia Eisenhardt, Als ob es Gott gäbe ... Theologisieren mit religionsfernen Jugendlichen, Stuttgart 2022. 31 Vgl. Monika Suckfüll, Rezeptionsmodalitäten. Ein integratives Konstrukt für die Medienwirkungsforschung, Baden-Baden 2004.

Schlag Jugendtheologie und Digitalisierung

Überlegungen vertiefte religionspsychologische Erkundungen dazu, was in solchen »24/7-Suchbewegungen« steckt. Zudem bedarf es der deutlicheren theologisch-anthropologischen Sondierung dessen, wie diese Such- und Sehnsuchtsbewegungen, aber auch die entsprechenden Zukunftsängste auf persönlich angemessene Weise durchbuchstabiert werden können, ohne den legitimen Anspruch auch auf »religiöse Privatheit« zu verletzen. 3) Ist Jugendtheologie wirklich bildungsgerecht? In der aktuellen Medienforschung wird vorgeschlagen, »Medientypen« nicht ausschließlich nach Alter, sondern nach Bildungsniveau und der – vorhandenen oder eben auch nicht vorhandenen! – »Souveränität« im Umgang mit den neuen Medien darzustellen.32 In Analogie dazu ließe sich Jugendtheologie im Sinn einer kritischen Sensibilisierung für die Begrenzungen konstruieren, denen Jugendliche gegenwärtig unterliegen. Jugendtheologie und das »Digitale« haben im besten Fall eine unhintergehbar partizipative und demokratische Ausrichtung. In beiden Fällen gehört aber auch ein kritisches Moment unabdingbar zur notwendigen Mitgestaltung dieser Kommunikation. In diesem Sinn ist stärker als bisher von einer gerechtigkeits- und ungerechtigkeitssensiblen Jugendtheologie auszugehen, die etwa thematisiert, welche Rolle faktische Krisenerfahrungen in der Initiierung und Durchführung jugendtheologischer Gespräche spielen. Dies umfasst zugleich eine Sensibilisierung der verantwortlichen Lehrenden für die möglichen Exklusionen sowie die Suche nach teilhabegerechten Mitwir-

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kungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Insofern dürfte es reizvoll sein, die gegenwärtig geführten Debatten um eine kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik mit Analysen des Digitalen Kapitalismus33 gerade im Blick auf die unerledigte Frage der Medien-Macht stärker miteinander zu verkoppeln. 4) Ist Jugendtheologie wirklich utopisch? Wie reagiert eine kritische Jugendtheologie auf die aktuellen Zukunftsängste, denen Jugendlichen mehr oder weniger direkt ausgesetzt sind und denen nicht wenige Jugendliche im wahrsten Sinn des Wortes krisenhaft unterliegen? Wie bezieht diese religionspädagogische Konzeptbildung eigentlich die Dimension eines Dauerleistungsdrucks und des subjektiv empfundenen Dauerungenügens unter den Bedingungen digitaler Selbstexpression und Identitätssuche mit ein? Hier sind Aspekte einer Empowerment-orientierten Bildung sowie der seelsorgerlichen Dimension aller Bildungsprozesse noch intensiver als bisher jugendtheologisch stark zu machen. Von dort aus lässt sich dann auch eine utopische Dimension religiöser Bildung neu ins Spiel bringen. Mit anderen Worten: Müsste man nicht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Digitalisierungspro32 Vgl. die Überlegungen von Sarah Genner, Medienpsychologie im digitalen Zeitalter (2019), https://hwzdigital.ch/medienpsychologie-imdigitalen-zeitalter/. 33 Vgl. insbesondere Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Der Kampf um eine menschliche Zukunft an der neuen Grenze der Macht, Frankfurt a.M./New York 2018 oder auch Philipp Staab, Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin 2019.

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zesse wieder Paulo Freire lesen und den Aspekt der Alphabetisierung unter den gegenwärtigen Voraussetzungen noch einmal ganz neu durchdenken? Zusammenfassend gefragt: Was ist unter den Bedingungen digitaler Kommunikationslogiken von Seiten derjenigen, die für Bildungsprozesse als Lehrende und Leitende verantwortlich sind, an eigener, verantworteter theologischer

Deutungsmacht denkbar und legitim? Und was braucht es an weiterer professioneller Klärung und Selbstverständigung, um sich in einer Kultur der Digitalität auf ergebnisoffene, normativ ausgerichtete Prozesse der Reflexion über Religion und Glaube wirklich einzulassen – gerade dann, wenn ihr tieferer Sinn im Letzten unverfügbar bleibt?

Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität

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Marcell Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität

1. Neuvermessungen

Gegenwärtig über den Zusammenhang von Jugend und Theologie, d.h. von Jugendtheologie als einem religionspädagogischen Paradigma,1 und Digitalität prinzipiell nachzudenken, führt mitten hinein in eine, wie es der Wissenschaftsrat 2015 formulierte,2 große gesellschaftliche Herausforderung, die in den letzten Jahren der Corona-Pandemie nochmals verstärkt als Chance und Gefahr wahrgenommen und diskutiert wurde: Das Zeitalter der Digitalisierung3 ist endgültig erreicht, wir haben das Gutenberg-Zeitalter nunmehr verlassen. Inmitten aller Videokonferenzen, Distanzlernformate in Schule und Hochschule, Kommunikation via Smartphone, Bestellungen im Internet u.v.m. wird deutlich: Wir erleben einen epochalen Umbruch, der als Prozess der Digitalisierung nicht nur mit der vor 20 Jahren noch ungeahnten Expansion kommunikativer, technischer, ökonomischer und kultureller Möglichkeiten einher geht, sondern als eine Kultur der Digitalität4 unsere Vorstellungen vom Menschen grundlegend infrage stellt und bereits jetzt erste Schritte einer Neuvermessung des Menschen5 eingeleitet hat. Das zeigt sich übrigens auch mit Nachdruck auf normativer Ebene: Als Querschnittsthema soll die »Digitalisierung« in Lehre und Forschung, in Ausbildung

und Praxis ein Schlüsselthema sein (oder werden). Die Novellen der Lehrkräftebildung in den Bundesländern greifen dies aktuell auf.6 Auch, wenn es gegenwärtig wieder verstärkt ein Nachdenken über Präsenzformate in Schule und Hochschule gibt, über die Grenzen von Online-Formaten 1 Vgl. aus der mittlerweile beachtlich gewachsenen Zahl an Publikationen zum Thema z.B. Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012 sowie Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011 und Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012. 2 Wissenschaftsrat (Hg.), Zum wissenschaftspolitischen Diskurs über Große gesellschaftliche Herausforderungen, Positionspapier 2015, https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4594-15.pdf?__blob=publicationFile&v=1, letzter Abruf: 20. Mai 2022. 3 Vgl. Gordon Mikoski, On the Mediation of the Mediation of the Mediation: The (Im)possibility of Online Communion and the Limits of Online Worship, in: Liturgie und Kultur 9 (2018) 1, 6–11, 6. 4 Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Frankfurt a.M. 2016. 5 Vgl. Marcell Saß, »Die Vermessung des Menschen« – christliche Anthropologie im Zeitalter der Digitalisierung, in: Perspektiefe 47 (2018). 6 Vgl. z.B. §1, Abs. 2 und 3 des neuen HLbG, https://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/7/06847. pdf, letzter Abruf: 20. Mai 2022.

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Grundlagenbeiträge

diskutiert oder die Notwendigkeit leiblichen Lernens betont wird, ist doch unübersehbar, dass sich Grundlegendes gewandelt hat. Mittlerweile leben wir bereits in post-digitalen Zeiten,7 die die Gegenüberstellung analoger und digitaler Welten, die zu treffende Wahl von Präsenz oder Online, von Virtualität oder Materialität, von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und digital vermittelten Artefakten als überholt ausweisen. Vielmehr ist auf die selbstverständliche Einbettung des Digitalen in die gegenständliche, alltägliche Normalität zu verweisen, denn wir realisieren Digitalität als eine alles durchdringende Kultur eben nur noch dann, wenn etwas nicht funktioniert – z.B. der Zugang zur Videokonferenz. Dass unserer Ankunft im globalen, post-digitalen Zeitalter Folgen hat für jede religionspädagogische Theoriebildung, für die Gestaltung von Aus- und Fortbildung, von Schule und Hochschule, aber auch von Kirche und Gemeinschaft,8 ist offensichtlich. Dabei geht es nicht nur um methodische Fragen, also, ob etwa Gottesdienste (gar mit Abendmahl) sinnvoll auch online gefeiert werden könnten. Es sind die fundamentalen Auswirkungen der gegenwärtigen Transformationsprozesse auf unsere Vorstellungen vom Menschen, die als Grundlage religionspädagogischen und theologischen Nachdenkens, Lehrens und Forschens in den Fokus der Debatte rücken. Diese, durch die europäische Aufklärung geprägten Grundlagen, werden nicht erst gegenwärtig vielfältig hinterfragt. Schon der französische Philosoph Michel Foucault betonte vor mehr als 50 Jahren, dass ja erst im 19. Jahrhundert epistemisch der Mensch überhaupt als Bezugspunkt

und Ordnungsinstrument allen Wissens auf die Weltbühne trat. In Bezug auf die Welt, die Arbeit und die Sprache rückt er seitdem ins Zentrum und wird zugleich zum Mittelpunkt allen Wissens, das sich als gesichertes Wissen erweisen will: »Nach Auflösung des klassischen Denkens ist die Analyse des menschlichen Wesens, das die Darstellung der Welt und die Bildung von Wissen gewährleistet, also zentral für eine Beschreibung der Möglichkeitsbedingungen von Wissen überhaupt.«9

Gegenwärtig werden grundlegende Konzepte vom Menschen und damit uns vertraute Vorstellungen von Individuum, Selbst oder Person, allerdings brüchig. Das, so könnte man mit Foucault konstatieren, ist wissenshistorisch jedoch überhaupt nicht überraschend, wie er in der berühmten letzten Passage seines Werkes »Ordnung der Dinge« schreibt. Uns vertraute Wissensordnungen könnten wieder transformiert werden – die »Episteme Mensch« mag gar verschwinden. Foucault betont (in den späten 1960er Jahren, vor aller Digitalisierung) fast schon prophetisch, dass auch der Mensch eine »Erfindung sei, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch deren baldiges Ende. 7 So mit Nicholas Negroponte, Being Digital, New York 1998. 8 Hier lässt sich viel lernen von der Contoc-Studie. Vgl. als ersten Eindruck Thomas Schlag, Kirche in Zeiten der Pandemie. Einblicke in die Studie »Churches Online in Times of Corona« (CONTOC), Folgewirkungen und praktisch-theologische Folgerungen, in: prospektiv 14 (2021), 7–8. 9 Sverre Raffnsøe (Hg.), Foucault. Studienhandbuch, München 2011, 185.

Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität

Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis […] diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.«10

Die folgenden Überlegungen sind also in einem Spannungsfeld zu lokalisieren, das die Frage des Zusammenhanges von Jugend und Theologie mit Hilfe des Querschnittsthemas der Digitalität fokussiert. Aus diesem Grund wird zunächst das Stichwort Jugend mit Blick auf empirische Einsichten zur Digitalisierung von Digital Natives erörtert, sodann das Stichwort Theologie unter medientheoretischer Perspektive, um dann Anregungen für eine post-humanistisch informierte Jugendtheologie zu geben.

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im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend einen direkten Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter – es entstand die »Jugend« als eine Übergangszeit: »Der Jugendliche wurde zur selben Zeit erfunden wie die Dampfmaschine. Der Hauptbaumeister der letzteren war Watt 1765, des ersteren Rousseau 1762«.13 Und in der Tat steht die Erfindung von »Jugend« in einem Zusammenhang sowohl mit technischen Innovationen im Zeitalter der Industrialisierung als auch pädagogischen Impulsen etwa Rousseaus – eine auch für das aktuelle Nachdenken über Jugend und Digitalität interessante Beobachtung. Jugend beginnt im 19. Jahrhundert inmitten großflächiger Umbrüche, wie der Entstehung der bürgerlichen Familie, aber auch der zunehmenden »Pädagogisierung der Kindheit und Jugendphase«,14 sichtbar in der (de iure, nicht de facto) Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen Ende des

2. Jugend

»Jung – und ansonsten ganz verschieden«, konstatierte die 12. Shell-Jugendstudie vor 25 Jahren11 und gab damit jugendsoziologisch dem Phänomen der Pluralisierung konzeptionell ein prominentes Motto. Sicher wird man auch heute Ähnliches sagen müssen, wenngleich die Folgestudien ebenso wie zahlreiche andere Vermessungen dessen, was Jugend ist und ausmacht, mittlerweile zu erheblichen Differenzierungen beitrugen.12 Dabei ist zudem zu bedenken, dass »Jugend« als ein Begriff – und als lebensweltliches Konzept – sich überhaupt als eine späte, moderne Erfindung zeigt. Die steigende Komplexität der Arbeitswelt erschwerte Ende des 18. und dann v.a.

10 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, 462. 11 Richard Münchmeier, Jung – und ansonsten ganz verscheiden, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.), Jugend ’97. Zukunftsperspektiven. Gesellschaftliches Engagement. Politische Orientierungen. 12. Shell-Jugendstudie, Opladen 1997, 277–302. 12 Gut informiert hier Albrecht Schöll, Art. Jugend, Religion, in: WiReLex 2015, http://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/100085/, letzter Abruf: 20. Mai 2022. 13 So Robert Musgrove, Youth and Social Order, New York 1964, 33, zit. bei Schöll, Jugend (Anm. 12), 1. Vgl. zudem grundlegend Peter Dudek, Geschichte der Jugend, in: HeinzHermann Krüger u.a. (Hg.), Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, 1–27, https://doi. org/10.1007/978-3-658-24801-7_17-1. 14 Schöll, Jugend (Anm. 12), 2.

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Grundlagenbeiträge

18. Jahrhunderts. Und sie ist und bleibt bis heute gleichermaßen durch die kritische Abgrenzung gegenüber der Kindheit und dem Erwachsenenalter charakterisiert. Allerdings sind in den letzten Jahren deutliche Unterschiede in der Beschreibung der eigenständigen Lebensphase Jugend beschrieben worden. Bis in die 1980er Jahre hinein galt diese noch als eine »Statuspassage« und »Entwicklungsaufgabe«, was »korrespondiert[e] mit dem … Identitätskonzept von Erik H. Erikson«.15 Milieuspezifische Differenzierungen, globaler Wandel und differenziertere jugendsoziologische Einsichten haben indes dazu beigetragen, Jugend in der »reflexiven Moderne« eher als ein »offenes Projekt« und im Modus von »Entstrukturierung« zu denken.16 Fällt es nun schwer, überhaupt von der Jugend zu reden, so deutet sich mittlerweile empirisch jedoch ein Themenbereich an, der quer zu allen Differenzierungen gleichsam ein verbindendes Element markiert: die flächendeckende und umfassende Verbreitung und Nutzung technischer Kommunikationsmedien in Gestalt etwa von Smartphones, aber ebenso auch die gestiegene Mediennutzung jenseits von Radio und Fernsehen, die beide bis vor 15 Jahren, d.h. vor der Vorstellung des ersten iPhones in Cupertino, noch als »Leitmedien« bezeichnet werden konnten. Dass dem nun so nicht mehr ist, zeigen die instruktiven Mediennutzungsstudien JIM und Media Perspektiven. Sie seien hier kurz zusammengefasst:17 Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass der Gerätebesitz der 12–19-Jährigen im Bereich von Smartphones mittlerweile an Vollausstattung heranreicht, während

Fernsehgeräte demgegenüber an Bedeutung verloren haben. Auch ist seit gut zehn Jahren eine deutliche Steigerung im Bereich des Besitzes von Tablets oder tragbaren Computern zu beobachten. Das hat Folgen auch für die Entwicklung der Medienbeschäftigung: Während die Nutzung von Büchern und Fernsehen zurück ging, wird das Internet nunmehr umfänglich, v.a. mit dem Smartphone genutzt. Insgesamt erfahren Online-Videos ebenso wie Musik hören, aber mittlerweile auch Sprachassistenten (Siri, Alexa, Google Assistent) erhöhte Aufmerksamkeit. Erste Ergebnisse eines Marburger Forschungsprojektes zu »Souveränität in Digitalisierten Lebenswelten« zeigen: die Nutzung des Smartphones ist in die alltägliche Lebensgestaltung untrennbar eingebunden, z.B. beim Musik hören, als Wecker, mit Videos und natürlich zur Kommunikation.18 Die Dauer, die Jugendliche (nach 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Die folgenden Daten verdanken sich einer Aufbereitung der Ergebnisse der JIM-Studien der letzten Jahre durch Julia Marburger, Doktorandin in einem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt »Souveränität in Digitalisierten Lebenswelten«, das an der Philipps-Universität im Rahmen des Clusters integrierte Forschung gemeinsam mit der Fachhochschule Bielefeld durchgeführt wird (https://www. intergrierte-forschung.net). Die JIM-Studien sind zugänglich via https://www.mpfs.de/ studien/?tab=tab-18-1, letzter Abruf am 20. Mai 2022. Vgl. hier aktuell Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM-Studie 2021. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zur Mediennutzung 12–19-Jähriger, Stuttgart 2021. 18 Vgl. hierzu Axel Benning / Marcell Saß, Digitale Souveränität: (k)eine Frage des Alters, in: IM+io 4/2021, https://www.im-io.de/digitalesouveraenitaet/digitale-souveraenitaet-keinefrage-des-alters/.

Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität

eigenen Angaben und per Messung) »online« sind, ist von ca. 134 Minuten am Tag im Jahr 2011 auf ca. 241 Minuten zehn Jahre später gestiegen, hat sich also fast verdoppelt. Dabei sind es vor allem Apps zur Kommunikation (WhatsApp) und zur Repräsentation (Instagram, Youtube, TikTok, Snapchat), die bedeutsam sind, weniger »alte« Plattformen wie Facebook oder auch (X) [Plattform wurde umbenannt]. Auch, wenn genderspezifische Aspekte bei der Nutzung eine Rolle spielen, so ist für Jugend im Jahr 2022 zu konstatieren, was weiter oben bereits betont wurde: Dank der in der letzten Dekade vollzogenen technischen Entwicklungen, der Reichweite und Verbreitung von Geräten, der täglichen Nutzungsdauer sowie der Verschiebung von Nutzungsverhalten und Präferenzen (Abschied vom Fernsehen) dokumentieren die sog. »Digital Natives« eindrücklich, dass überkommene Gegensätze von Online und Präsenz bzw. digital und analog aktuell kaum mehr geeignet scheinen, die Dynamiken der Mediatisierung der jungen Generation tiefenscharf zu erfassen.19 Jung – und ansonsten post-digital! Mit diesem Motto wird man soziologische und gegenwartskulturelle Einsichten bündeln können. Dies evoziert ein grundsätzliches Nachdenken über die Frage, was uns als Menschen ausmacht, ruft also im Kontext jugendtheologischer Diskurse nachdrücklich die Frage von deren anthropologischen Prämissen auf. 3. Jugend, Theologie und Digitalität

Gegenwärtige Transformationsprozesse haben unseren Alltag, die Art und Weise wie wir leben, kommunizieren, arbeiten,

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einkaufen, lieben und denken, also bereits nachhaltig verändert, gerade und vor allem bei denen, die in den 2000er Jahren erst geboren wurden. Was in den 1980er Jahren noch bizarre Zukunftsvision war, ist heute Gegenwart geworden. Ein Beispiel dafür, kaum 40 Jahre alt, ist die Fernsehserie Star Trek, The Next Generation, mit ihrem berühmten Vorspann: »Space: the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise. Its five-year mission: to explore strange new worlds, to seek out new life and new civilizations, to boldly go where no man has gone before.«20

Die Serie ist für die hier gestellte Aufgabe einer Verhältnisbestimmung von Jugend, Theologie und Digitalität erkenntnistheoretisch anregend, denn in der Folge »Die Vermessung des Menschen« (engl.: The Measure of a Man) aus dem Jahr 1989 will der Kybernetiker Bruce Maddox den Androiden Lt. Commander Data zum besseren technischen Verständnis in seine Einzelteile zerlegen. Data weigert sich beharrlich und reagiert auf seine zwangsweise Versetzung zu Maddox mit der Bitte, aus dem Dienst auszuscheiden. Dies wird verweigert, da er Eigentum der »Sternenflotte« sei. Der kommandierende Offizier der Enterprise, Captain Jean-Luc Picard, strengt da19 Auf die Problematik aufmerksam machen Marcell Saß, Digitale Dinge?, in: Martina Kumlehn / Ralph Kunz / Thomas Schlag, Dinge zum Sprechen bringen. Performanz der Materialität. Festschrift für Thomas Klie, Berlin 2022, 293–302 sowie Thomas Schlag, Das Smartphone als Spiegel des Lebens, in: a.a.O., 303–326. 20 Star Trek – The Next Generation, Regie: Gene Roddenbery / Rick Bermann, USA 1987–1994.

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Grundlagenbeiträge

raufhin eine gerichtliche Untersuchung an, in der geprüft werden soll, was Lt. Commander Data eigentlich ist: ein Mensch mit Persönlichkeitsrechten oder eine Maschine und somit Eigentum. Picard fungiert als Anwalt Datas mit einem entschiedenen Plädoyer für die Rechte des Androiden. Folgende Frage ist dabei leitend: Ist Data »sentient« (dt.: empfindsam)? Maddox nennt drei Kriterien: Ein empfindsames Wesen (sentient being) sei intelligent (intelligent), selbst-bewusst (self-aware) und habe Bewusstsein (consciousness). Data erfüllt unzweifelhaft zwei der drei Kriterien, und am Ende sogar das dritte. Das Urteil ist demzufolge eindeutig: Er darf selbst über sein Geschick entscheiden. Ende der 1980er Jahre war die Figur des Data eine unterhaltsame Erfindung, heute fordert das »Metaversum« heraus, sog. »Blockchain«-Technologien verunsichern manche, und die Diskussion um den Einfluss von großen Technikkonzernen wird hitzig geführt. Die Bewegung »Fridays for Future«21, die ohne die Digitalisierung gar nicht denkbar wäre, wird in manchen Milieus (auch von Erwachsenen) begeistert aufgenommen. Und außerdem ist nicht einmal mehr »space« eine Grenze, denn wir tragen das Universum stets in Smartphone-Format bei uns. Solche Umbrüche verunsichern und lassen zugleich die Fragen von Jugend und Digitalität theologisch bedeutsam werden. Dabei ist zu betonen, dass ja schon durch die Erfindung des Buchdrucks vor langer Zeit epochale Umbrüche in Kultur und Gesellschaft angebahnt wurden,22 sich diese gegenwärtig aber offenbar zuspitzen und beschleunigen.23

Unsere Zeit wird ambivalent wahrgenommen, lokalisiert zwischen digitalen Machbarkeitsphantasien zur Lösung aller Probleme sowie (kultur-)pessimistischen Analysen. Viele verschiedene Wissenschaftsdisziplinen haben in den letzten Jahren Deutungen dieser Umbrüche unternommen, und eigene Grenzen und Logiken damit überschritten und mithilfe integrierter Forschung24 erkenntnistheoretische Grenzen neu vermessen. Die Mission der Enterprise (»… to explore strange new worlds, to seek out new life and new civilizations, to boldly go where no man has gone before«) nutze ich als Impuls für das Nachdenken über Jugend, Theologie und Digitalität. Ganz im Sinne des Aufbruchs, der mit der Entwicklung kinder- und jugendtheologischer Forschung und Lehre einher ging, dürfte auch die Einsicht in post-digitale Kontexte Anregungspotential für neue Vergewisserungen bieten.

21 Sebastian Haunss / Moritz Sommer (Hg.), Fridays for Future. Die Jugend gegen den Klimawandel, Konturen der weltweiten Protestbewegung, Bielefeld 2020. 22 Vgl. grundlegend Werner Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike (8. Jahrhundert), Göttingen 1997; Ders., Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800–1400, Göttingen 1996; Ders., Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700), Göttingen 1998; DERS., Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830), Göttingen 2002, Ders., Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830–1900), Göttingen 2004; Ders., Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012. 23 Vgl. Eric Schmidt / Jared Cohen, The New Digital Age. Reshaping the Future of People, Nations and Business, New York 2013. 24 Vgl. https://www.integrierte-forschung.net/.

Saß »Sentient Beings«? Jugend – Theologie – Digitalität

Theologische Zurückhaltung ist hierbei gleichwohl geboten, v.a. bei einer Begegnung eines »digital immigrant« mit digitalen Welten, in denen viele Selbstverständlichkeiten wegbrechen, und Theologinnen und Theologen mit oftmals selbst eher medienkritischer eigener Sozialisation ja nur ansatzweise verstehen oder gar prognostizieren könnten, wohin die (digitale) Reise wohl gehen wird. Wer Yuval Noah Hararis »Brief History of Tomorrow« gelesen hat, ahnt in solchen Milieus auf unter Umständen beunruhigende, weil eigene Selbstverständlichkeiten hinterfragende Weise, dass unsere Vorstellungen vom Menschen keine breite Geltung mehr beanspruchen können. Die Notwendigkeit einer neuen Deutung des Zusammenhanges von Mensch, Medien und Religion ist offensichtlich, wenn anthropologische Konzepte wie Subjekt oder Individuum, die für uns seit der Aufklärung gleichsam normal geworden sind, unter Druck geraten. Immanuel Kants Fragen sind neu zu beantworten: »1. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?«.25 Dass ein Konzept Jugend-Theologie sich hierzu zu verhalten in der Lage ist, dessen kann man gewiss sein. Schließlich adressiert sie ja, inmitten des Umbruches, eine Lebenswelt, die diesen schon umfassend vollzogen hat: Jugend! Ermutigend ist dabei, dass hier einerseits beherzt darauf zurückgegriffen werden kann, was die protestantische Theologie von je her auszeichnete: sie kann Transformation, denn immerhin wurzelt sie ideengeschichtlich in der Bearbeitung epochaler Umbrüche, und zwar im Modus von Reformation. Zudem verdankt sie sich einem Medienereignis (Buch-

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druck); und schließlich führte ja gerade die europäischen Aufklärung als »Sattelzeit«26 nicht nur zur Neuvermessung des Menschen, sondern auch zur modernen Theologie überhaupt, die kunstvoll zwischen Religion und Glaube, Theologie und Kirche unterscheidet. Post-digitale Grundlagen der Jugendtheologie fortan zu nutzen, lautet die gemeinsame Aufgabe. Das ist übrigens ein durchaus theologisches Unterfangen, denn auch in post-digitalen Zeiten kann folgendes Motto gelten: »The Ultimate is infinitely apprehensible, yet never entirely comprehensible«.27 4. Posthumanistische Ausblicke

Übrigens: Neu ist die Verunsicherung angesichts von Technikentwicklungen wahrlich nicht, Ängste begleiteten wohl viele Umbrüche. Die gegenwärtigen Transformationen lassen sich als Neuvermessung lesen, die nicht verfallstheoretisch gedeutet werden muss, sondern (theologisch) produktiv sein kann. Michel Serres »Liebeserklärung«28 an die von ihm als »Däumlinge« bezeichneten jungen Menschen greift das auf, wenn er die Chancen digitaler Umbrüche her-

25 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Ingeborg Heidemann, Stuttgart 1993, 815. 26 So der Begriff für den Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert von Reinhardt Koselleck, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, 9–16. 27 So mit einem Zitat von Tillich Paul Knitter, Doing Theology Interreligiously. Union and the Legacy of Paul Tillich, in: Crosscurrents 61 (2011) 1, 117–132, 123. 28 Michel Serres, Erfindet euch neu!, Berlin 2019.

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Grundlagenbeiträge

vorhebt, um deren aktive Gestaltungsmöglichkeiten Serres die Jugend heute beneidet. Jugendtheologie als Paradigma der Religionspädagogik und lokalisiert in der Fachlichkeit der (evangelischen) Theologie kann empirisch und hermeneutisch die oben entfaltete, postmoderne Binsenweisheit konstruktiv aufzugreifen, nämlich aus der Einsicht mit einem epochalen Umbruch konfrontiert zu werden uns vertraute Vorstellungen vom Menschen, vom Subjekt und von der Person neu zu bestimmen. Aktuelle posthumanistische und transhumanistische Perspektiven in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen sind hierbei hilfreich, leider bislang kaum im Diskurs beachtet. Konzeptionell deuten sie die gegenwärtigen (technischen) Entwicklungen als einen Bruch mit grundlegenden Annahmen westlicher Kulturen. Ihnen geht es um ein neues Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt und Natur. Tradierte anthropozentrische Deutungen werden reformuliert, neue Sichtweisen auf die Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Technik sind so möglich.29 Post- und Transhumanismus unterscheiden sich jedoch;30 Im Transhumanismus wird ein Projekt der »Verbesserung« des Menschen offenkundig, mit bedenklichen Folgen. Der Mensch als unvollkommenes, sterbliches, leidendes Lebewesen soll optimiert werden. Anders ist es bei einem kritischen Posthumanismus, der den Platz des Menschen auf der Erde als Gefährdung und gefährdet zugleich bestimmen will. Auch eine christliche Anthropologie könnte von diesen Anregungen profitieren, wenn wir die mediale, postdigitale Konstruktion von Wirklichkeit

als Ausgangspunkt verstehen: »A way of capturing this deep, consistent and selfreinforcing role of media in the construction of the social world is to say that the social world is not just mediated but mediatized: that is, changed in its dynamics and structure by the role that media continuously (indeed recursively) play in its construction.«31 Religionspädagogik als Disziplin im allgemeinen und jugendtheologische Zugänge im Speziellen könnten sich als post-humanistisch informiert und somit post-digital achtsam zeigen, gerade wenn hier noch stärker als bisher intra- und interdisziplinäre Formate umgesetzt werden – im Dialog mit den Technik- und Kommunikationswissenschaften etwa mögen dann auch neue Chancen liegen, die Frage nach Sinn und Ziel der eigenen Wissenschaft neu zu beantworten. Dabei dürften Potenziale der Selbst-Vergewisserung aufscheinen, weil hier Relevanz begegnet, nämlich an einer gegenwärtig großen gesellschaftlichen Herausforderung nicht nur binnentheologisch und -kirchlich, sondern im Dialog zu arbeiten. Das nun aber läge, wie ich finde, ganz und gar auf der Linie der Aufbrüche von Kinder- und Jugendtheologie vor einigen Jahren.

29 David J. Bolter, Art. Posthumanism, in: The International Encyclopedia of Communication Theory and Philosophy 2016. 30 Vgl. hierzu grundlegend Oliver Krüger, Virtualität und Unsterblichkeit. Gott, Evolution und die Singularität im Post- und Transhumanismus, Freiburg i.Br. 2004. 31 Nick Couldry / Andreas Hepp, The Mediated Construction of Reality, Cambridge 2017, 15.

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

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Ilona Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert? Fachdidaktische Herausforderungen

Einleitung

In einer Zeit, in der sich die gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung der Kirchen in einer bislang wohl beispiellosen Erosion befindet, stellt sich für das Konzept des Theologisierens im konfessionellen und auch christlichen Kontext insgesamt die Frage, inwiefern und wie es auf diese Entwicklung in der Lage ist einzugehen. Kritische Fragen sind längst gestellt, wenngleich nicht immer laut ausgesprochen: Soll eine didaktische Orientierung wie die des Theologisierens nicht subkutan Jugendliche zur Kirchentreue erziehen? Das Unterrichtsfach Religion soll und darf nicht hierfür funktionalisiert werden, vermutlich war dies kaum jemals zuvor so klar wie heute. Dazu kommt, dass gerade in einer digitalen Kultur Fragen von Autorität und Autonomie permanent auch öffentlich verhandelt werden. Es leuchtet nicht ein, wenn Kirchen sich selbst religiöse Autorität zuschreiben und Theologien diese für sich in Anspruch nehmen. Beide sind darauf angewiesen, dass sie ihnen zugeschrieben wird.1 Für Religionslehrkräfte stellt sich aber zunächst die Notwendigkeit, sich über das eigene Theologie- und Kirchenverständnis klar zu werden. Im didaktischen Kontext des Theologisierens soll dies nun exemplarisch unternommen werden. (1)

Der didaktische Kontext des Theologisierens, der hier fokussiert wird, ist die schulische Bildung, einerseits im Religionsunterricht und andererseits zusätzlich in fächerübergreifenden und schulkulturellen Projekten. Zugleich vollzieht Schule selbst derzeit einen tiefgreifenden Wandel. Sie ist als Bildungsinstitution auf dem Weg in eine digitale Lehr- und Lernkultur. Der ev. Religionsunterricht hat Teil an diesem Prozess.2 Nicht alle seine Lehrkräfte sind davon überzeugt, dass der Einsatz digitaler Medien ihren Unterricht verbessert, aber viele Religionslehrkräfte sehen Potential hierfür. Zugleich positionieren sie sich kritisch, gerade was die aktuelle Ausstattung der Schulen und den Support für die Unterrichtslogistik angeht.3 Wer die 1 Hans Joachim Lauth, Politische Autorität in Zeiten von Populismus, in: Ilona Nord / Thomas Schlag (Hg.), Wer hat die Autorität? Evangelische Kirche in der Dynamik neuer Institutionalisierungsformen, VWGTh Bd. 69, Leipzig 2022, 31–47. 2 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Evangelischer Religionsunterricht in einer digitalen Welt. Ein Orientierungsrahmen (EKD Texte 141), Hannover 2021. 3 Oliver Adam / Ilona Nord / Elke Wagner, Digitalisierungsprozesse im Religionsunterricht. Das Forschungsprojekt Religious Education Laboratory digital (RELab digital). Ein soziologischer Zwischenbericht, in: Kristin Merle / Ilona Nord, Mediatisierung religiöser Kultur. Praktisch-theologische Standortbestimmungen im interdisziplinären Kontext, Leipzig 2022, 213–226.

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Grundlagenbeiträge

schulpädagogische Debatte zur Digitalisierung genauer ansieht, wird überdies einen interessanten Fokus in ihr auch wahrgenommen haben: Zukunftsfähig wird das Potential digitaler Medien darin gesehen, Schüler:innen Chancen für ein selbstbestimmteres und selbstregulierteres Lernen zu eröffnen. Wie ist diese Zukunftsperspektive im Rahmen der Religionspädagogik genauer einzuschätzen und kann sie den didaktischen Ansatz des Theologisierens fördern? (2) Die fachdidaktische Auseinandersetzung um digitales Theologisieren fördert den Blick auch für notwendige Revisionen im Bereich des Curriculums. So bringt die durch die Digitalisierungsmaßnahmen aufgekommene Orientierung am selbstbestimmten und selbstregulierten Lernen im Religionsunterricht die Frage nach dem Beitrag des Religionsunterrichts zur Autonomieförderung von Jugendlichen auf. Werden hierfür neben dem Einsatz von digitalen Medien nicht auch Änderungen an den curricularen Inhalten nötig? (3) Schließlich gilt es zu reflektieren, dass auch fachwissenschaftliche Herausforderungen zu einer gelingenden Didaktik des Theologisierens in einer digitalen Bildungswelt gehören. Vorliegende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Lehrkräfte Religion kaum als mediales Phänomen wahrnehmen.4 Welche Folgen hat dies für ein Theologisieren in einer digitalen Bildungswelt? Führt dies dazu, dass hier deshalb ›nur‹ ethische Themen behandelt werden, wie etwa die häufig bearbeiteten medienkritischen Einheiten zu Fake-News, Influencer:innen und Daten(un-)souveränität? Dass und wie christliche und andere Religion(en) Thema digitaler Kommunikationen sind bzw.

wie diese selbst medienproduktiv agieren, ist eine Weise gelebte Religion und Spiritualität mit all ihren Ambivalenzen im Religionsunterricht kennenzulernen, zu reflektieren und in der Lerngruppe diskursiv verhandelbar zu machen. (4) 1. Theologisieren, Autorität und Autonomie in einem RU in einer digitalen Kultur

Jugendtheologie, das hat sich eingeprägt, ist Theologie von, mit und für Jugend­ liche im Religionsunterricht5, sie forciert, wenn man einmal zusammenfassend formuliert, den Kompetenzerwerb aus der Perspektive der eigenen Religion und Religiosität theologische Themen zu reflektieren. Jugendtheologie findet sich dort, wo Schüler:innen explorative Lernwege hin auf eine selbstbestimmte Deutung religionsbezogener Themen des Curriculums des RUs, im bundesdeutschen Kontext häufig im Horizont eines konfessionellen Unterrichts, unternehmen. Es kann hierbei an das im englischsprachigen Kontext verbreitete »doing theology in the public area«6 angeknüpft werden, 4 Ilona Nord / Judith Petzke / Oliver Adam, Religionslehrkräfte zwischen digitalen Kompetenzerwartungen und Digital Religion. Religionspädagogische und religionsdidaktische Erträge aus dem Projekt Religious Education Laboratory digital (RELab digital), Würzburg University Press (im Erscheinen online). 5 Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vlyn 2011. 6 Thomas Schlag / Jasmine Suhner, Interreligiöses Lernen im öffentlichen Bildungskontext Schule. Eine theologisch-religionspädagogische Annäherung, Zürich 2018, 25.

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

das sich im idealen Falle von einer Ideologie unterscheide, insofern doing theology sowohl kritisch sich selbst gegenüber als auch offen gegenüber anderen Weltsichten sei. Das Theologisieren kann ferner als die Fachsprache des Religionsunterrichts bezeichnet werden. So etwa wie Schüler:innen im Englischunterricht die Bezeichnungen für die verschiedenen Zeitformen der englischen Sprache, aber eben auch Dimensionen englischer Kultur und ihr Brauchtum kennenlernen, so lernen sie im ev. Religionsunterricht Bezeichnungen für Sachverhalte wie Schöpfung, Sünde, Gnade, Kirche etc. kennen und zugleich auch die Kontexte, wenn es z.B. bei einer Einheit zu Jesus von Nazareth um die historische und gesellschaftliche ›Umwelt‹ geht, in der er verortet wird. Diese Fachtermini und ihre kontextuellen Zusammenhänge werden exemplarisch aus einer theologischen Tradition heraus eingeführt. Aber es wird in der Aneignung weiterer theologischer Traditionen auch über sie hinaus gelehrt und gelernt, einerseits um Kenntnisse und damit Sprachfähigkeit für religionsbezogene Themen zu vermitteln, andererseits um Wertorientierungen zum Zusammenleben religiöser und weltanschaulich diverser Gemeinschaften zu erarbeiten. Beide, eine Fachsprache und ihre wesentlichen Inhalte sowie ihre Einbettung in jeweils ausgewählte exemplarische Kontexte, kennenzulernen, sich anzueignen und selbst nutzen zu können, ist als eine Zielkompetenz des Theologisierens im Religionsunterricht zu benennen. Dieser Zugriff auf den Terminus des Theologisierens baut auf eine Basis auf, die die universitäre Theologie legt. 1. Es ist dabei zu verstehen, dass Theo-

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logie, nicht erst in einer digitalen Kultur, sondern von ihren mittelalterlichen Anfängen her, medial strukturiert ist. Theologie ist sozusagen eine alte Medienwissenschaft, vielleicht die älteste.7 Medien, so kann man mit einem anthropologisch weiten Verständnis sagen, bringen Menschen über Distanzen hinweg miteinander in Kommunikation. So lässt sich die Offenbarung Jesu Christi als Medienereignis par excellence verstehen, Jesus Christus wird traditionell als Mittler, als Menschmedium bezeichnet, in ihm kommt Gott mit der Welt und den Menschen in Kommunikation. Aber auch ohne einen christologischen Kontext aufzurufen, zeigt sich wie sehr Theologie Medienwissenschaft ist: Die abrahamitischen Religionen beschreiben ihr Verhältnis zu Gott via Heiliger Schriften. Für den Protestantismus ist der Bezug auf die biblischen Schriften besonders charakteristisch. Religionen sind aber generell medienproduktiv, nicht nur in der Gestaltung von heiligen Texten, auch von Katechismen, im christlichen Bereich z.B. auch von Gesangbüchern, Plakaten und Flugschriften, wie insbesondere in der Reformationsgeschichte deutlich wird.8 Daneben lassen sich ihre Rituale 7 Vgl. Klaas Huizing, Deus und homo medialis. In: Ilona Nord / Hanna Zipernovzsky (Hg.), Religionspädagogik in mediatisierter Welt. Stuttgart 2017, 119–130 und in weiteren Artikeln dieses Bandes. 8 Thomas Girmalm, Ein Medium für alle – Die Plakate zu den Gebetstagen als Spiegel der Zeit, in: Ilona Nord / Hanna Zipernovszky (Hg.), Religionspädagogik in mediatisierter Welt, Stuttgart 2017, 80–94; Johannes Burkhardt, Die Reformation – Religion als Medienereignis, in: Ilona Nord / Hanna Zipernovszky (Hg.), Religionspädagogik in mediatisierter Welt, Stuttgart 2017, 95–103.

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Grundlagenbeiträge

als Medienpraktiken verstehen: Die materialen Medien Brot und Wein ermöglichen die Vermittlung des Heils, das Medium Sprache und die Kommunikation in, mit und durch die heiligen Schriften geben dem lebendigen Wort Gottes Gestalt, das sich zugleich nie auf eine objektive mediale Gestaltung in vollkommener Realisierung festlegen lässt, sondern medientranszendierende Qualitäten hat. Das Wort Gottes und Gottes Präsenz »hat« man nicht wie einen Keks in der Schachtel, es ereignet sich in der Präsenz z.B. gemeinsam anwesender Menschen, aber es ist ihrem Besitz zugleich auch immer entzogen. Theologien und das Theologisieren ist auf die Nutzung von vielfältigen Medien angewiesen, erst in diesen werden sie greifbar. Deshalb ist die Zukunft der Theologien und des Theologisierens auch von der medialen Gestalt und Präsenz ihrer Themen und Debatten in digitalen Medien und in digitalen Kulturen abhängig. 2. Die christliche Theologie als universitäre Wissenschaft und ihre sozusagen kleine Schwester (die, wie manche kleinen Schwestern auch ihre eigenen Wege zu gehen gewöhnt sind …), das Theologisieren als religionspädagogisches didaktisches Konzept in Schulen und Kirchengemeinden, bezieht sich ferner auf die Kommunikation des Evangeliums Jesu Christi, dessen Tradierung durch die Institution Kirche verbürgt wird. Als Organisation versteht sie sich juristisch als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Dazu gehört, dass sie sich als eine öffentlich adressierbare Organisation verpflichtet, unter den Bedingungen vernünftiger Rede für eine plausible und transparente religionsbezogene Kommunikation und Reflexion des Glaubens

sorgen. Kirche und Theologien sind also reflexivem Glauben verpflichtet. Beide beziehen sich auf die Kommunikation des Evangeliums und die Personen, die an ihnen arbeiten, bringen hierzu eine persönliche Positionierung in Form einer Kirchenmitgliedschaft mit. Es wird vorausgesetzt, dass sie damit auch den Grundsätzen der Kirchen jeweils konkret zustimmen, sie sollten die Lehrtradition ihrer Kirche und die verschiedenen Bekenntnisse wie das apostolische Glaubensbekenntnis oder das Stuttgarter Glaubensbekenntnis kennen. 3. Diese Bekenntnisse haben keine Autorität über die Lehrkräfte, sondern vielmehr umgekehrt: die Lehrkräfte entscheiden, ob sie sich durchaus auch kritisch-konstruktiv in die Tradition dieser stellen. Entscheidend ist also, dass die Lehrkräfte exemplarisch gesprochen bestimmten Traditionen Autorität zusprechen. Dabei kennt die evangelische Kirche kein Lehramt, das die Wahrheitskommunikation der Kirche insgesamt auf bestimmte Aussagen festzulegen vermochte. Die kritische Auseinandersetzung mit dem apostolische Glaubensbekenntnis wird so bereits in der Konfirmationszeit gepflegt und dazu aufgefordert, eigene Worte zu finden, gemeinsam und individuell. In ihren Theologien sind die Lehrkräfte frei, kritisch konstruktiv zu der Tradition zu stehen, zu der sie einen konkreten Bezug haben, die sie in Deutschland mit einer Mitgliedschaft zu einer bürgerlich verfassten Organisation zum Ausdruck bringen. Die Kirchenmitgliedschaft ist also eine selbstgewählte Autorisierung einer Organisation als Sachwalterin, als Institution der Kommunikation des Evangeliums.

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

4. Für die Theologien wie für das Theologisieren im evangelischen Sinne verbietet es sich ferner, die eigene Konfession oder Kirche oder die eigenen Bekenntnisschriften absolut zu setzen. Konfessionen sind für sie ein Teilbereich der sichtbaren Kirche, die ein prinzipiell fehlbares Werk des Menschen ist.9 »Nach reformatorischer Sicht kann es die eine Kirche Jesu Christi als die eine, heilige katholische (= allumfassend, gr.) Kirche nicht als ein Erzeugnis aus Menschenhand geben; sie ist ein Gegenstand des Glaubens und von Menschen als geschichtliche Erscheinung nicht organisierbar.«10 Diese die Grenzen der Gestalt von Kirche thematisierenden Interpretationen fußen in der Einsicht, dass keine irdische Gestalt von Kirche sie als Institution der Kommunikation des Evangeliums vollumfänglich zur Geltung bringen kann. Die Reflexion auf das Evangelium im Theologisieren kann nicht auf kirchlich autorisierte Bekenntnisschriften oder Katechismen festgelegt werden. In den neueren Praktischen Theologien spielt demgemäß die Auslegung des Bekenntnisses »keine ausdrückliche Rolle mehr«11. In der Religionspädagogik als großem eigenen Teilbereich der Praktischen Theologie allerdings nimmt der Druck zu, den Begriff des Konfessionellen mit Sinn zu füllen. Die Organisationsform des Religionsunterrichts ist nicht in allen Bundesländern, aber in immer noch vielen für die Lehrkräfte mit einem Bekenntnis zu einer konkreten Denomination als Zugangsberechtigung verbunden. Innerhalb der Theologien insgesamt, tritt das Thema, aber wie bereits anhand der Praktischen Theologie angesprochen, kaum hervor. So entsteht eine schwierige Lage: Eine Kirche fragt

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in einem gesellschaftlichen und sogar theologischen Kontext nach konfessioneller Bindung, in dem diese nicht mehr als Kennzeichen religiöser Identität gilt bzw. gelebt wird. In der gegenwärtig als globalisiert und digitalisiert zu beschreibenden Kultur gehört die Konfessionalität zum Spezialwissen religiöser Professioneller und diese haben bereits Mühe, ihre Bedeutung im gegenwärtigen religionspolitischen Kontext plausibel zu machen. Es bleibt keine inhaltliche, sondern nur noch eine machtpolitisch geformte Begründung hierfür zurück: Die Kirchen als Sachwalterinnen der Kommunikation des Evangeliums kontrollieren den Zugang zu einem Berufsfeld. 5. Die Kompetenz der Theologien und ihrer Forschung und Lehre tritt hinter dieser Kontrollfunktion zurück. Das ist zu verändern. Die Professionalität der Theologien, die sie auf umfassend interdisziplinäre und im Fächerkanon der Universitäten Weise verankert hat, zeigt sich in allen theologischen Fächern und in ihrer interdisziplinären Arbeit: Die Exegese des ›Alten‹ und ›Neuen Testaments‹, die Kirchen- und Theologiegeschichte, die Systematische Theologie, die Religionswissenschaft sowie die Religionsphilosophie und eben

9 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule, Gütersloh 2014. 10 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religinsunterrichts in der Pluralität, Hannover 1994, 61–63. 11 Henning Schröer, Bekenntnis. V. Praktischtheologisch, in: RGG Band 1, Tübingen 1998, 1259.

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Grundlagenbeiträge

insbesondere die Praktische Theologie und Religionspädagogik. Die universitäre Theologie ist eine Verbunddisziplin mit einem enormen Schatz an interdisziplinär, international und denominational verzweigten Wissensbeständen. Ist dieser große Schatz präsent, wenn wir im Rahmen der schulischen und auch der kirchlichen Bildung vom Theologisieren sprechen? Es scheint nicht allen Akteur:innen der akademischen Theologie bewusst zu sein, dass sie diese Schätze zukunftsfähig bergen müssen. Der Religionsunterricht und das Theologisieren beziehen sich nur in Teilen auf die Kirchen und das kirchliche Leben. Er lebt von der Auseinandersetzung mit der Reflexion auf Religion(en). Deshalb ist den Theologien wie auch der Religionspädagogik im Speziellen längst ins Auftragsbuch geschrieben, dass sie sich an der bildungspolitisch hoch bedeutsamen Bewegung zur Open Educational Ressources beteiligen, um ihre Wissensbestände in einer digitalen Kultur öffentlich zugänglicher und verfügbarer zu machen. Es gibt Vieles zum Kennenlernen und Wissen, der Horizont der Religionen ist enorm. Eine Verengung des Verständnisses von Religion auf die Dimension des Glaubens an Gott und demzufolge auf die Prämisse ›etsi deus daretur‹12 oder eine Normierung im Sinne von »Von Theologisieren … kann dann gesprochen werden, wenn die Beteiligten bereit sind, sich auf einen normativ ausgerichteten Prozess der Reflexion über Religion und Glaube einzulassen«13 (238) bzw »die Kinder und Jugendlichen sich … in ein dialogisches Verhältnis zur christlichen Tradition als Norm gesetzt sehen oder zu setzen bereit sind«14 ist kontraproduktiv. Religion ist

immer mehr als Glaube und Bekenntnis, sie sind nicht deckungsgleich. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für ein Theologisieren, das in der Schule und im Religionsunterricht die Frage nach der Beziehung eines Menschen zur christlichen Tradition und zu Gott sistiert. Dies ist noch kein Plädoyer für einen religionswissenschaftlich geprägten Unterricht, sondern für einen Unterricht, der mit der Bekenntnisfrage bewusst vorsichtig und dabei kinder- und jugendtheologisch angemessen vorgeht. Denn die normative Vorgabe eröffnet den Raum für Religion und eine persönliche Gottesbeziehung nicht, sondern obturiert sie. Wie sehr der Machtverlust der großen Kirchen auch in die Frage führt, ob der Religionsunterricht ein Ort sein sollte, an dem man ihn aufhalten könnte. Die Antwort lautet, dass der Religionsunterricht dies nicht kann und dass dies weder bildungstheoretisch und schon gar nicht bildungspolitisch seine Aufgabe ist.15 Der Religionsunterricht bietet Kindern und Jugendlichen eine Gelegenheit, sich mit Religion(en) auseinanderzusetzen: frei, offen, autonom und religionskritisch bis ins Fundament der Religion. Anders geht es gar nicht, denn schon Kinder, aber insbesondere Jugendliche nehmen altersbedingt häufig Distanz zu traditionellen Autoritäten. Viele weichen solchen Instanzen 12 Vgl. insbesondere Saskia Eisenhardt, Als ob es Gott gäbe … Theologisieren mit religionsfernen Jugendlichen, Stuttgart 2022, 231ff. 13 Friedrich Schweitzer, Kommunikation des Evangeliums und die Kinder- und Jugendtheologie. Religionspädagogische Perspektiven im Kontext schulischer Bildung, in: JaBuKiJu 1, Stuttgart 2008, 238. 14 Ebd. 15 Vgl. Ilona Nord, Fußnote 1.

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

aus, wenn sie den Konflikt vermeiden können. Wie soll ein Religionsunterricht die Förderung der Persönlichkeit in freier und offener Weise ausstrahlen, wenn er als Voraussetzung des gemeinsamen Lernens ein Bekenntnis von den Schüler:innen einfordert? Freiheit in Form von Selbstbestimmung ist allerdings ein Hauptmerkmal adoleszenter Entwicklung. Wenn der Religionsunterricht und das Theologisieren subjektorientiert arbeiten, nehmen sie hier ihren didaktischen Ausgang. 2. Heißt selbstbestimmter und selbstregulierter zu lernen auch eine freiheitlichere, autonomere Lernkultur entwickeln zu können?

Es liegt im Kern der Debatte um digitales Lernen, dass mit ihr die Hoffnung auf ein einerseits selbstbestimmteres, aber andererseits auch selbstregulierteres Lernen von Schüler:innen angestoßen und etabliert wird. So visierte bereits der Text der Kultusministerkonferenz (KMK) »Bildung in der digitalen Welt«16 aus dem Jahr 2016 Kompetenzen »[…] für eine aktive, selbstbestimmte Teilhabe in einer digital geprägten Welt« an. Der EU-Kompentenzrahmen DigiComEdu17 aus dem Jahr 2017 weitete über Deutschland hinaus den Horizont, zu ihm gibt es auch Selbstlern-Moodle-Kurse18 für Lehrkräfte. Diesen Programmen fehlt allerdings zumeist ein Bezug auf die Fachwissenschaften. Interaktionen mit Schüler:innen werden außerdem kaum greifbar und es fehlen Bezüge zu gelebter Digitalität. Wie wichtig solche Schnittstellen für die Entwicklung digitaler Lehr- und Lernprozesse aber sind,

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ist in den genannten Papieren durchaus auffindbar, doch werden wenig Konsequenzen sichtbar. Zugleich sind die großen Utopien eines von Grund auf transformierten Bildungssystems durch digitale Kommunikation leiser geworden. Es sind dennoch einige Potentiale, die immer wieder genannt werden: Digitales Lernen, so lautet ein Ansatz, soll der Standardisierung von schulischen Lernprozessen bzw. dem Anpassungsdruck, das schulisches Lernen mit sich führt, das wenig diversitätsorientiert und homogenisierend vorgeht, entgegenwirken. Diversitäts- und inklusionsorientierte Pädagogiken loten demgemäß die Potentiale digital gestützten Lernens für mehr Heterogenität und individuelle Förderung im Unterricht aus. Für diese interessiert sich selbstverständlich auch die Religionspädagogik.19 Subjektorientierung wird dabei als ein wesentliches Kriterium benannt. Doch wer hier Hoffnungen hegt, dass sozusagen digitale Medien von sich aus Impulse zur Autonomieförderung oder auch genauer gesagt zur Kompetenzförderung von im religionspädagogischen Sinne verantworteter Freiheit liefert, hat auf

16 https://www.kmk.org/themen/bildung-inder-digitalen-welt/strategie-bildung-in-derdigitalen-welt.html (zuletzt aufgerufen am 15.11.22). 17 https://www.bildungsserver.de/onlineressource.html?onlineressourcen_id=60947 (zuletzt aufgerufen am 15.11.22). 18 https://www.lmz-bw.de/veranstaltungen/ veranstaltungsreihen/basisschulungen-undselbstlernkurse/selbstlernkurse/ (zuletzt aufgerufen am 15.11.22). 19 Ilona Nord / Judith Petzke (Hg.), Religionsdidaktik diversitätsorientiert und digital, Berlin 2023 (im Druck).

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Grundlagenbeiträge

Sand gebaut. Selbstreguliert und selbstbestimmt lernen zu können, ist eine sehr voraussetzungsvolle Kompetenz. Sind die Voraussetzungen dazu gelegt, kann digitales Lehren und Lernen allerdings durchaus Elemente der Effektivierung von Lernprozessen und ein höheres Maß an Selbstbestimmung enthalten. Selbstreguliertes Lernen lässt sich so durch zeitversetzte Arbeitsweisen ermöglichen. Die Arbeitsgeschwindigkeit kann selbstregulierter verlaufen, Lernfortschritte lassen sich selbstbestimmter erzielen, indem etwa Lernvideos so oft wiederholt werden können wie einzelne Schüler:innen dies möchten oder für spezifische Interessen zusätzliche Materialien bereit gestellt werden können. Schüler:innen, die aufgrund von verschiedenen Barrieren, Behinderungen oder Krankheitsphasen nicht oder kaum am Unterricht teilnehmen können, Lerngruppen, innerhalb derer sehr unterschiedliche Lernausgangslagen bestehen oder auch unterschiedliche Familiensprachen gesprochen werden u.a.m., können prinzipiell digital selbstbestimmter Lernen.20 Unverzichtbar hierfür bleibt es, dass Handlungsoptionen und Teilhabemöglichkeiten individuell angepasst werden. Wer selbstbestimmt lernen will, braucht unterstützende Strukturen sowie zeitliche und räumliche Einbettungen, damit Schüler:innen einen festen Rahmen haben, zu dem ein konkretes Feedback gehört. Nicht alle Schüler:innen bringen von sich aus die nötigen Selbststeuerungskompetenzen im Umgang mit digitalen Medien mit, diese müssen angebahnt und gefördert werden. Passende Instruktionsdesigns müssen zunächst von den Lehrkräften aufgebaut und für die Schüler:innen

die notwendigen kompetenzbezogenen Voraussetzungen geschaffen werden, so dass sie Kontaktstellen haben für technische und softwarebezogene Probleme und anderes mehr. Ein wichtiges Problemfeld selbstregulierten und darüber hinaus selbstbestimmten Lernens liegt im Bereich der kognitiven und emotionalen Überlastungen, die auftreten, wenn die Selbstregulationsanforderungen zu komplex werden. Wer selbstreguliertes und selbstbestimmtes Lernen im Religionsunterricht fördern möchte, muss die Unterrichtseinheiten daraufhin didaktisch reflektieren.21 Der Ausbau digitalen Lernens sollte nicht darauf hinauslaufen, dass Schüler:innen selbst sich zur Teilhabe befähigen müssen anstatt dass die Teilhabemöglichkeiten so erweitert werden, dass die Menschen voraussetzungsloser die Möglichkeit zur Partizipation haben. Ein inklusions- bzw. diversitätsorientiertes Theologisieren kommt so ohne folgende Prüffrage nicht aus: Für wen wird das Theologisieren unter welchen Bedingungen digitalen selbstregulierteren und zugleich darin auch selbstbestimmteren Lernens zu einer guten Bildungsmöglichkeit? Mit dieser Diskussion um digitales Lernen stellen sich für die Religions­ didaktik allerdings auch alte Fragen neu: Welche Bedeutung hat für sie die Dimension der Selbstbestimmung und Selbstregulierung? Wie nimmt der Religionsunterricht das Bedürfnis von Kindern und 20 Vgl. Gerhard Tulodziecki / Bardo Herzig / Silke Grafe (Hg.), Medienbildung in Schule und Unterricht, Bad Heilbronn 2019, 114f. 21 Vgl. Holger Horz, Medien, in: Elke Wild / Jens Möller (Hg.), Pädagogische Pyschologie, Berlin 2009, 151.

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

stärker dann noch von Jugendlichen nach Autonomie wahr? 3. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte zur Förderung von Autonomiebedürfnissen im RU

Der Begriff der Freiheit gehört zur christlichen Tradition nicht nur der Kirchen- und Theologiegeschichte, sondern auch schon der neutestamentlichen Literatur, von den Briefen des Paulus bis zu den Evangelien. Immer wurde dieser Begriff zugleich allerdings auch ideologisiert oder eben stereotypisiert, wer wollte für wen Freiheit reklamieren und sich aus welchen Verhältnissen befreien? Denn Freiheit ist ein großes individuellexistentielles und gesellschaftliches Thema, sich selbst frei zu fühlen, heißt zugleich immer auch sich aus persönlichen und bzw. oder politischen Bindungen herauszulösen. Dazu gibt es Bedingungen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens, die nicht verändert werden können, sie werden häufig im Begriff des Schicksals zum Ausdruck gebracht.22 Je älter Menschen werden, desto mehr Einschränkungen fügen sich der Bedeutung der Freiheit zu, ihre Bedeutung nimmt für viele ab, weil sie Bindungen den Vorrang geben. Doch für Kinder, aber vor allem für Jugendliche gilt, dass Freiheit für sie ebenso wie eine selbstbestimmte Lebensgestaltung sehr hohe Bedeutung hat. »Wie etwa die periodisch durchgeführten Shell-Jugendstudien zeigen, ist dieser Befund auch über die Jahre hinweg stabil (…, I.N.). Freiheit ist ein Thema, das Jugendlichen besonders am Herzen liegt.«23 Sie wollen gemeinsam mit anderen frei sein, Freiheit und Selbstbestimmung zei-

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gen sich darin, eigene Entscheidungen zu fällen: »Entwicklung im Jugendalter bedeutet in dieser Sicht, zunehmend unabhängig zu werden und sich autonome Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Sinne persönlicher Autonomie zu erschließen.«24 In diesem Prozess der Verselbstständigung zeigen sich auch Merkmale der religiösen Entwicklung. Jugendliche nehmen Distanz zu religiösen Gemeinschaften und Institutionen, sie »wollen selbst entscheiden, was sie glauben oder nicht; zum anderen wird Freiheit und Autonomie auch im Verhältnis zu Gott in Anspruch genommen: Gehen Kinder häufig davon aus, dass Gott unmittelbar in die Welt eingreift, etwa indem er Menschen lenkt und sie für ihr Verhalten belohnt oder bestraft, so nehmen Jugendliche (und Erwachsene) die Welt vor allem als einen autonomen Handlungsbereich des Menschen war«25. Die religiöse Bildung bezieht sich, wie die Curricula belegen, kaum ausdrücklich auf die Förderung von Autonomiebedürfnissen. Zwei Aspekte sind bedenkenswert: 1. Innerhalb didaktischer Vorschläge, die gerade auch die fachwissenschaftliche Seite miteinbeziehen, wird die Vermittlung des christlichen Freiheitsverständnisses im Modus »eines Lernens über« genannt. Ein Lernen »über Freiheit« ist durchaus relevant, doch »ein Lernen aus, mit und

22 Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie, Band 1, Berlin/New York 1987 (1965), 214–218. 23 Friedrich Schweitzer, Freiheit. In: Martin Rothgangel / Henrik Simojoki, Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Theologische Schlüsselbegriffe, Göttingen 2019, 6. Aufl., 96–105, hier 96. 24 Vgl. Schweitzer 2019, 97. 25 Ebd.

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durch Freiheit« ist unersetzbar. Es geht um eine Form des Theologisierens, die die Freiheitsbedürfnisse und -bestrebungen von insbesondere Jugendlichen auch im Unterricht aufgreift und fördert. Jugendliche im Religionsunterricht vorab auf eine Norm christlicher Tradition festzulegen, scheint hierzu ein Widerspruch zu sein. Aber auch ein exemplarischer Blick in den Lehrplan Plus Bayern, Mittelschule, 9. Klasse verdeutlicht, welche Probleme bei einem Umstellen des Lernens auf selbstbestimmtere und selbstreguliertere Unterrichtsprozesse aufkommen: Die Schüler:innen »interpretieren ausgewählte Texte der Bergpredigt in die Gegenwart hinein und diskutieren die Relevanz der Botschaft Jesu für ihr eigenes Leben.« (Lehrplan Plus Bayern, 9. Klasse) In anderen Kompetenzbeschreibungen heißt es, dass Impulse aus der Lektüre biblischer Texte für eigene Lebensfragen und Lebensziele abgeleitet werden sollen. Fachinhalte werden, so zeigt sich hier, zur Zeit in einem Modus verobjektivierbaren Wissens dargestellt, zu den die Schüler:innen sich selbst in Bezug setzen sollen. Sie sollen über die Relevanz der Texte für ihr Leben und ihre Haltung dazu Auskunft geben. Ist diese Positionierung zwar für sich genommen ein Ansatz, der die Meinungsbildung der Schüler:innen und damit ihre Autonomie in diesem Bereich fördern könnte, so tritt sie diesen doch zugleich zu Nahe, indem sie überfordernd eigene Postionierungen abfragt, die viele häufig wohl kaum preisgeben möchten. Einerseits sollte die Relevanz einer Botschaft für das eigene Leben nicht Gegenstand des Unterrichts sein, andererseits könnten Zweifel daran aufkommen, ob es wirk-

lich darum geht, welche Relevanz die Botschaft für die Schüler:innen hat, sondern vielmehr darum, dass die Relevanz der Botschaft bestätigt werden soll? Auch wenn die Genese dieser Arbeitsaufträge nachvollziehbar und möglicher Weise auch vertraut klingt, sind hier nicht die Maßgaben des Beutelsbacher Konsenses limitierend ins Spiel zu bringen, weil den Schüler:innen abverlangt wird, eine persönliche Beziehung zur Bergpredigt aufzubauen? Nicht wenige Jugendliche, die sich ihren altersgemäßen Autonomiebestrebungen bewusst sind, werden die Bearbeitung solcher Aufgaben verweigern oder zumindest umgehen. 4. Digitale Religion

Digitalisierungsprozesse und mit ihnen verbunden auch Globalisierungsprozesse26 dynamisieren Enttraditionalisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse, das heißt z.B. dass die Institution Kirche kaum mehr auf die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen Einfluss nimmt. Digitalisierungsprozesse, so wurde bereits vermutet, würden dazu führen, dass neben die Sozialisationsinstanzen von Familie, Kirche und Schule die Selbstsozialisation durch Mediengebrauch trete.27 Inzwischen ist 26 Henrik Simojoki, Kultur der Digitalität und digitale Jugendkulturen: Der veränderte Rahmen einer diversitätsorientierten Religionsdidaktik, in: Ilona Nord / Judith Petzke (Hg.), Religionsdidaktik diversitätsorientiert und digital, Berlin 2023 (im Druck). 27 Ilona Nord, Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt. Ausgangsfragen und Zielsetzungen, in: Wolfgang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin (Hg.), Theologie und

Nord Digitales Theologisieren: autonom, selbstbestimmt und selbstreguliert?

man, was die Bedeutung der digitalen Selbstsozialisation angeht, vorsichtiger geworden. Aber gilt nicht dennoch, dass beide, Kinder und Jugendliche durch digitale Kommunikationsmöglichkeiten in der Gestaltung ihrer Religiosität von den Kirchen und Theologien unabhängiger und autonomer werden? Freilich stellt sich als andere Seite der Medaille die Frage, von welchen Institutionen Kinder und Jugendliche nun erreicht werden? Sind es nun die Medien, wo sie ihren Bedarf an Religiosität decken? Doch Forschungen dazu zeigen, dass diese Vermutung falsch zu sein scheint. Digitalisierungsprozesse lösen keinesfalls aus sich heraus aus, dass Jugendliche sich sozusagen ersatzweise zu einer religiösen Sozialisation durch Familie, Schule und Kirche selbst digital und dabei religiös selbstsozialisieren. Vielmehr kommt dem Religionsunterricht mehr und mehr diese Aufgabe zu und er könnte ein Ort dafür sein, dass Kinder und Jugendliche neu neugierig auf das werden können, was Religionspraxen und ihre theologische Reflexion für sie bedeuten. Wenn es oben hieß, dass das Verständnis des Theologisierens, das hier angelegt wird, maßgeblich von der wissenschaftlichen Theologie angelegt ist, so soll dies didaktisch konkretisiert werden: Theologisieren in einer digitalen Kultur heißt, Religion digital zu erforschen, auszuprobieren, vielleicht sogar selbst zu ihrer Gestaltung beizutragen und sie unter verschiedenen Gesichtspunkten zu reflektieren. Es eignen sich viele verschiedene Felder, wer die von der Kultusministerkonferenz vorgegebenen Kompetenzen aufgreift, wird nicht allein Lernwege im Bereich der Recherche und Analyse anbahnen, sondern auch der

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Gestaltung und Produktion. Ebenso wie es universitär ein forschendes Lernen im Bereich der digitalen Religion anzustoßen gilt28, so ist im Religionsunterricht auch ein forschendes Lernen im Sinne des Theologisierens anzustoßen: Theologisieren heißt dann Neugierde auf Religion pflegen. Wer keine eigenen Erfahrungen mit Religion hat, wird fragen dürfen, was Religion wem und wozu nützt. Lassen sich im Theologisieren Fragen klären, die ausweisen, ob eine religiöse Praxis Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Weiterentwicklung der Persönlichkeit, nach Autonomie und Verwurzelung im eigenen Leben zu fördern in der Lage ist? Im Rahmen von RELab digital29 konnten erste Unterrichtsszenarien in diesem Sinne entwickelt und erprobt werden. Jugendliche haben so eine virtuelle Pinwand zu einem autonomiebezogenen Thema wie der Frage nach sozialen Beziehungen und dem Alleinsein gestaltet. Es ging um das biblische Wort »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.« (Gen 2,18) Die Schüler:innen erhielten die Aufgabe, diesen Satz zu kommentieren: »Wann und unter welchen Bedingungen könnte dieser Satz bejaht, wann verneint werden?« Bewusst ist der biblische Text nicht autoritativ eingesetzt worden, sondern ein Prozess der offenen Kommunikation über die Autorität von



Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg i.Br. 2021, 257–280. 28 Thomas Schlag / Ilona Nord, Religion, digitale, in: Wirelex, https://doi.org/10.23768/ wirelex.Religion_digitale.200879 (Zugriff: 22.11.22). 29 https://material.rpi-virtuell.de/ material/20183-rpi-impulse-digitale-kompetenz-vermitteln/ (Zugriff: 22.11.22).

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Grundlagenbeiträge

ihm initiiert worden, ohne dass persönliche Überzeugungen abgefragt werden. Ein weiteres Beispiel zum ethischen Lernen im Feld des curricularen Klassikers Liebe, Freundschaft und Ehe zeigt, dass eine digitale Kultur auch definitiv neue Phänomene hervorbringt, dazu gehört z.B. das Sexting.30 Auch hier gehört das Autonomiebestreben als ein wesentlicher Anteil zum Phänomen hinzu. Fazit

Es findet sich im Theologisieren ein Schlüssel zu einem selbstbestimmteren nicht nur Lernen, sondern Leben in, mit und über digitale Medien. Dies ist genau dann der Fall, wenn die Didak-

tik des Theologisierens für Kinder und insbesondere für Jugendliche an ihren Autonomiebestrebungen ansetzt. Förderlich sind daher Methoden und Medien sowie Themen, die diese in den Fokus rücken, aber zugleich sensibel dafür sind, Schüler:innen nicht mit komplexen Selbstregulierungs- und Selbstbestimmungsanforderungen zu überfordern. Damit aus Autonomiebestrebungen gelebte Autonomie auch in Sachen Religion werden kann, sind ihre religionsdidaktische und -pädagogische Anbahnungen unverzichtbar.

30 Ebd.

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

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Martin Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation. Impulse aus der Allgemeinen Fachdidaktik

Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, dass Impulse der Allgemeinen Fachdidaktik für die Thematik »Jugendtheologie und Digitalisierung« bedacht werden. Allerdings befindet sich die eigentlich etablierte Allgemeine Didaktik schon seit geraumer Zeit in einer Krise. Dabei spielt zum einen die Konkurrenz empirischer Bildungsforschung und Pädagogischer Psychologie eine wichtige Rolle, zum anderen besteht aus fachdidaktischer Perspektive ein wesentliches Defizit der Allgemeinen Didaktik darin, dass ihre »allgemeinen« Theorien unzureichend die »besonderen« fachdidaktischen Theorien und Forschungsergebnisse berücksichtigen.1 Genau an diesem Punkt setzt die Allgemeine Fachdidaktik ein: Sie ist konstitutiv auf die Fachdidaktiken bezogen, indem sie das »Allgemeine«2 aus dem Vergleich der jeweils »besonderen« Fachdidaktiken gewinnt. Auf diese Weise kann die Allgemeine Fachdidaktik auch als ein Transmissionsriemen zwischen den verschiedenen Fachdidaktiken fungieren, weil sich die Fachdidaktiken anhand dieses Vergleichs untereinander mit Forschungsprojekten und -ansätzen anregen können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welcher Hinsicht die Allgemeine Fachdidaktik bestimmte Impulse für die »Jugendtheologie« bieten kann. Dementsprechend besteht das Ziel des vorliegenden Beitrags darin, die Re-

levanz von anderen Fachdidaktiken beim Thema Digitalisierung für die Jugendtheologie aufzuzeigen. Dabei bildet die Allgemeine Fachdidaktik insofern eine Brücke, als in der Publikation »Fachliche Bildung in der digitalen Welt«3 die verschiedenen Fachdidaktiken zum Thema Digitalisierung auf systematische Weise miteinander verglichen wurden (vgl. »2. Fach, Fachunterricht und Fachdidaktik im Zeichen digitaler Transformation«). Die Bedeutung dieses Projekts der Allgemeinen Fachdidaktik wird zusätzlich deutlich, wenn man dessen bildungspolitischen Hintergrund berücksichtigt (vgl. »1. Digitalisierung im bildungspolitischen Kontext«). Im abschließenden Teil »3. Resümee und Perspektive« wird zusammengefasst, welche Impulse der anderen Fachdidaktiken zur Digitalisierung auch für die weitere Entwicklung 1 Martin Rothgangel, Allgemeine Fachdidaktik im Spannungsfeld von Fachdidaktiken und Allgemeiner Fachdidaktik, in: Horst Bayrhuber u.a., Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Fachdidaktik. Allgemeine Fachdidaktik Bd. 1, Münster/New York 2016, 152f. 2 Wichtig ist, dass dieses »Allgemeine« nicht als kleinster gemeinsamer Nenner aller Fachdidaktiken verstanden wird, sondern zugleich durch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Fachdidaktiken gekennzeichnet ist. 3 Volker Frederking / Ralf Romeike (Hg.), Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Digitalisierung, Big Data und KI im Forschungsfokus von 15 Fachdidaktiken, Münster 2022.

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Grundlagenbeiträge

der Jugendtheologie von besonderem Interesse sein könnten. Last but not least sei daran erinnert, dass die Kinder- und Jugendtheologie selbst ein vortreffliches Beispiel dafür ist, welches anregende Potential andere Fachdidaktiken für die Religionspädagogik besitzen können: Die Kinder- und Jugendtheologie sowie ihre grundlegende Unterscheidung in »von«, »für« und »mit« verdanken sich Impulsen einer anderen Fachdidaktik, nämlich der Philosophiedidaktik und der Kinder- sowie Jugendphilosophie.4 Jenseits der literarischen Bezugnahmen mögen dies folgende Eckdaten unterstreichen:5 Seit Ende der 1960er Jahre wurde in den Vereinigten Staaten Kinderphilosophie beforscht und in Montclair (New Jersey) das erste Institut für Kinderphilosophie etabliert. Im Jahr 1985 wurde die »Österreichische Gesellschaft für Kinderphilosophie« gegründet, die wiederum Mitglied im »International Council for Philosophical Inquiry with Children« und Gründungsmitglied der »European Foundation for the Advancement of Doing Philosophy with Children« (SOPHIA) ist. Folglich liegt hier ein reichhaltiger Pool an Impulsen für die religionspädagogische Kinder- und Jugendtheologie vor, die sich im deutschsprachigen Kontext seit den 2000er Jahren bildete. 1. Digitalisierung im bildungspolitischen Kontext

Vertreter:innen von Fachdidaktiken können im bildungspolitischen Kontext vergleichbare Erfahrungen wie im Dialog mit Fachwissenschaftler:innen sammeln: Nicht selten besteht die Erwartung, dass bildungspolitische Empfehlungen in den

Fachdidaktiken und Fachunterrichten »top-down« angewendet und umgesetzt werden. Entsprechende bildungspolitische Verlautbarungen sind in diesen Fällen derart gestaltet, dass bei ihrer Konzeption unzureichend die bereits bestehenden fachlichen und fachdidaktischen Expertisen zu einer bestimmten Thematik berücksichtigt werden. Genau diese Problematik spiegelt sich auch in der 2017 veröffentlichten KMKPublikation »Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz«6 wider, wenn hinsichtlich des Bildungsauftrags allgemeinbildender Schulen in der digitalen Welt folgende sechs Kompetenzbereiche formuliert werden: »1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren«, »2. Kommunizieren und Kooperieren«, »3. Produzieren und Präsentieren«, »4. Schützen und sicher agieren«, »5. Problemlösen und Handeln« sowie »6. Analysieren und Reflektieren«7. Ohne hier näher auf die weitere Ausdifferenzierung dieser sechs Kompetenzbereiche eingehen zu können, lässt sich feststellen, dass diese KMK-Publikation davon gekennzeichnet 4 Friedrich Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie?, in: JaBuKi 2 (2003), 9–18. 5 Siehe zum Folgenden https://vwgoe.at/author/ vwgoe-mdsi/ (Zugriff: 26.4.2022). 6 KMK Kultusministerkonferenz, Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz, https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/ Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf (Zugriff: 25.2.2022). 7 KMK 2017, 16–19. Auch die sich als Ergänzung verstehende, jüngste KMK-Publikation von 2021 »Lehren und Lernen in der digitalen Welt« ist aus fachdidaktischer Perspektive geurteilt vergleichbar defizitär, siehe https:// www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09-Lehrenund-Lernen-Digi.pdf (Zugriff: 25.4.2022).

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

ist, dass von den Fächern eine Konkretion dieser sechs Kompetenzbereiche erwartet wird, aber umgekehrt fachliche Aspekte völlig vernachlässigt werden. Aus diesem Grund wurde von der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) im Jahr 2018 das Positionspapier »Fachliche Bildung in der digitalen Welt« veröffentlicht. Hier werden die Defizite der KMK-Stellungnahme bearbeitet, indem »vor allem die fachliche Dimension des Lehrens und Lernens unter den Bedingungen der Digitalisierung«8 thematisiert wird. Dabei werden vier Ansatzpunkte fachlicher Bildung in der digitalen Welt benannt: »1. Fachliche Kompetenzen digital fördern«, »2. Digitale Kompetenzen fachlich fördern, »3. Fachliche digitale Kompetenzen über die KMK-Standards hinaus« und »4. Digitale personale Bildung im Fachunterricht fördern«9. Dieses GFD-Positionspapier und die ihr zugrunde liegende Arbeitsgruppe stellen auch den Ausgangspunkt des einleitend genannten Projekts der Allgemeinen Fachdidaktik dar. Durch einen ersten und letzten Impuls ergänzt, wurden folgende sechs Impulse gebildet:10 »1. Fach, Fachunterricht und Fachdidaktik im Zeichen digitaler Transformation«, »2. Fachliche Kompetenzen digital fördern«, »3. Digitale Kompetenzen fachlich fördern«, 4. Fachliche digitale Kompetenzen über die KMK-Standards hinaus«, »5. Digitale personale Bildung fachlich fördern« und »6. Zukünftige Aufgaben der Fachdidaktik«. Auf der Basis dieser Impulse wurden 15 Beiträge aus verschiedenen Fachdidaktiken zur fachlichen Bildung in der digitalen Welt verfasst, wobei aus religionsdidaktischer Perspektive ein entsprechender Text von Ilona Nord und Manfred Pirner stammt. Wie schon in

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Band 2 der Allgemeinen Fachdidaktik wurde die vergleichende Analyse dieser Fächertexte mit der Grounded Theory durchgeführt.11 An dieser Stelle wird grundsätzlich eine Arbeitsweise der Allgemeinen Fachdidaktik deutlich: Auf der Basis einer gemeinsamen Diskussion werden Impulse zu einem bestimmten Themenbereich formuliert und entsprechende Texte aus verschiedenen Fachdidaktiken verfasst. In der vergleichenden Analyse werden schließlich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Texten aus den Fachdidaktiken herausgearbeitet. Im Folgenden werden exemplarisch die Ergebnisse zum ersten der sechs Impulse zur Digitalisierung vorgestellt. Anhand dieses Impulses zu »Fach, Fach8 GFD – Gesellschaft für Fachdidaktik, Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Online: https://www.fachdidaktik.org/wordpress/ wp-content/uploads/2018/07/GFD-Positionspapier-Fachliche-Bildung-in-der-digitalenWelt-2018-FINAL-HP-Version.pdf (Zugriff: 25.2.2022), 1. 9 GFD 2018, 1–3. Siehe https://www. fachdidaktik.org/wordpress/wp-content/ uploads/2018/07/GFD-PositionspapierFachliche-Bildung-in-der-digitalen-Welt2018-FINAL-HP-Version.pdf (letzter Zugriff 25.4.2022). 10 Volker Frederking / Ralf Romeike (Hg.), Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Digitalisierung, Big Data und KI im Forschungsfokus von 15 Fachdidaktiken, Münster 2022. 11 Martin Rothgangel u.a. (Hg.), Lernen im Fach und über das Fach hinaus: Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven aus 17 Fachdidaktiken im Vergleich: Allgemeine Fachdidaktik Bd. 2. (2. Aufl.) Münster/New York 2021; Martin Rothgangel, Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Eine vergleichende Analyse der Fächertexte, in: Volker Frederking / Ralf Romeike (Hg.), Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Digitalisierung, Big Data und KI im Forschungsfokus von 15 Fachdidaktiken, Münster 2022, S. 446–477.

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Grundlagenbeiträge

unterricht und Fachdidaktik im Zeichen digitaler Transformation« kommt ein breites Spektrum für die Thematik »Jugendtheologie und Digitalisierung« in den Blick. Zugleich kann auf diese Weise ein guter Einblick in die Arbeitsweise und die Relevanz der Allgemeinen Fachdidaktik für die Religionspädagogik im Allgemeinen sowie für die Jugendtheologie im Speziellen gegeben werden.12

2. Fach, Fachunterricht und Fachdidatik im Zeichen digitaler Transformation13

Bei der nachstehenden Präsentation der Ergebnisse liegt das Augenmerk zunächst darauf, wie facettenreich aus den verschiedenen Fächerperspektiven die Relevanz und Vielschichtigkeit der digitalen Transformation zum Vorschein kommt. Im zweiten Abschnitt rücken die fachdidaktischen Potenziale und Schattenseiten digitaler Medien in den Vordergrund, bevor im dritten Abschnitt fachunterrichtliche Herausforderungen thematisiert werden, die durch die digitale Transformation bedingt werden. Abschließend kommen die Fachdidaktiken an sich in den Blick, wobei hier insbesondere Entwicklungen und Desiderate fachdidaktischer Forschung zu digitaler Bildung thematisiert werden. 2.1 Digitale Transformation: Fachdidaktische Perspektiven und Herausforderungen

Aus den verschiedenen Fächerperspektiven tritt eindrucksvoll hervor, wie um-

fassend und vielschichtig sich die digitale Transformation vollzieht. Exemplarisch können dies die folgenden Beispiele veranschaulichen:  Für den Sachunterricht und seine Didaktik ist der Bezug auf die Lebenswelt von Kindern konstitutiv. Bedeutsam ist dementsprechend eine empirische Studie von 2018, welche zeigt, dass das Thema »Handy/Smartphone« nach »Freunde/Freundschaft« gleichrangig mit »Sport« den zweiten Platz bei Kindern im Alter von 6–13 Jahren einnimmt. Ebenso besitzt jedes zweite Grundschulkind schon ein eigenes Handy bzw. Smartphone, das es fast täglich nutzt. Dementsprechend wird von einer »Allgegenwärtigkeit digitaler Medien in der Lebenswelt von Schüler:innen« (SaD, 447) gesprochen.  Für die Geographiedidaktik ist u.a. relevant, dass digitale Kartenapplikationen wie Google Maps »zu einem festen Bestandteil alltagsweltlicher Infrastrukturen, gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und Handlungsroutinen« (GeoD, 447) geworden sind. 12 Zwar finden sich auch in den weiteren fünf Impulsen relevante Aspekte für die Jugendtheologie, jedoch würde eine Präsentation dieser Ergebnisse den Rahmen der vorliegenden Ausführungen sprengen. 13 Die Ausführungen dieses Abschnittes sind übernommen aus Martin Rothgangel, Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Eine vergleichende Analyse der Fächertexte, in: Volker Frederking / Ralf Romeike (Hg.), Fachliche Bildung in der digitalen Welt. Digitalisierung, Big Data und KI im Forschungsfokus von 15 Fachdidaktiken, Münster 2022, 446–480. Im folgenden werden Belege so zitiert, dass sich die Seitenzahlen auf diesen Analysebeitrag beziehen, während das voranstehende Kürzel die Fachdidaktiken benennt, auf welche die Analyse jeweils Bezug nimmt.

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

Daraus resultieren fachwissenschaftliche Herausforderungen bis hin zu einer »digitalen Geographie« und damit einhergehend auch neue Formen und Formate der Wissensgenerierung (GeoD).  Aus musikpädagogischer Sicht wird darauf hingewiesen, dass sich die Digitalisierung seit den 1980er Jahren auf die gesamte Musikkultur auswirkt: »Digitaltechnologien wie Controller, Interfaces, Computer oder Apps haben seitdem an Relevanz sowohl für die Produktion von Musik als auch für deren Distribution und Aneignung gewonnen und unterschiedlichste Reaktionen in den verschiedenen Theorie- und Praxiskontexten der Musikpädagogik hervorgerufen.« (MuD, 447)  Im Beitrag zur Politikdidaktik wird festgestellt, dass digitale Informations- und Kommunikationsmedien dazu geführt haben, dass u.a. von einer »digitalisierten Demokratie« bzw. »Digitaldemokratie« (PolD, 447) gesprochen wird. Dabei wird Digitalisierung als Zugewinn wie als Herausforderung für Demokratien verstanden, woraus spezifische Aufgaben für den Politikunterricht wie für die Politikdidaktik erwachsen.  Aus wirtschaftsdidaktischer Perspektive kommt die digitale Transformation als ein »gesamtgesellschaftliches Phänomen« mit zahllosen »interdependenten wirtschaftlichen Folgen« (WD, 447) in den Blick, wobei z.B. die Arbeits- und Wirtschaftswelt durch gravierende Veränderungen von Beschäftigungsformen und Qualifikationsanforderungen gekennzeichnet ist. Diese Palette an Beispielen könnte mit den Perspektiven von weiteren Fach-

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didaktiken (u.a. Sport- und Religionsdidaktik) auf digitale Transformation unschwer ergänzt werden. Bemerkenswert an dieser Stelle ist, wie aus den verschiedenen Fächerperspektiven ganz unterschiedliche Facetten der digitalen Transformation in den Blick kommen und daraus entsprechende Konsequenzen und Herausforderungen für das jeweilige Unterrichtsfach sowie die entsprechende fachdidaktische Forschung resultieren. Stellvertretend dafür sei die deutschdidaktische Perspektive zitiert: »Die vorangegangenen Ausführungen haben im Grundansatz verdeutlicht, wie tiefgreifend die digitale Revolution den fachlichen Kern des Deutschunterrichts erfasst und die Deutschdidaktik als Wissenschaft herausfordert.« (DD, 448; vgl. u.a. GeoD; SpoD) Dabei sind die Fachdidaktiken in einem doppelten Sinne durch digitale Transformation herausgefordert: Einerseits – wie soeben beschrieben – durch signifikante Veränderungen in ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich, andererseits durch ihre jeweiligen Fachwissenschaften, weil sich in diesen gleichfalls digitale Transformationsprozesse vollziehen. Am eingehendsten wird der letztgenannte Aspekt im geschichtsdidaktischen Beitrag hinsichtlich der Geschichtswissenschaft beschrieben, wobei gleichzeitig die Tiefe bzw. das Ausmaß der digitalen Transformation in den Blick genommen wird: »Ist Digitalisierung nur ein epochenspezifisches Phänomen, auf das die Geschichtswissenschaft mit methodischen Erweiterungen reagieren kann und muss oder ein Phänomen, das grundlegende Auswirkungen bis in die Epistemologie des Faches hinein hat? Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Diskussionen. Sie betreffen die

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Grundlagenbeiträge

Geschichtswissenschaft in allen drei Dimensionen, der Geschichtstheorie, der historischen Forschung, der Geschichtsdidaktik« (GeschD, 448). Zudem fällt auf, dass sich im fachwissenschaftlichen Kontext vergleichbare Bezeichnungen beobachten lassen, welche digitale Transformationsprozesse beschreiben: So wird in der Geschichtswissenschaft von »digital history« (GeschD) gesprochen, in der Geographie von »digital geography« (GeoD) und in der Theologie von »digital religion« (RD, 448). Obwohl ein Vergleich zwischen diesen Fächern zeigt, dass mit diesen »digital«-Etikettierungen durchaus unterschiedliches verstanden wird, ist die Verbreitung dieser Kompositionen ein deutlicher Hinweis auf die digitale Transformation von Fachwissenschaften. 2.2 Digitale Medien: Potenziale und Schattenseiten

Im Kontext der fachdidaktischen Ausführungen zur digitalen Transformation werden immer wieder digitale Medien genannt, die für fachliche Lehr- und Lernprozesse relevant sind. Beispielsweise gibt es in der Mathematik »speziell für didaktische Zwecke entwickelte mathematische Software« (MaD, 448) oder ganze Lernplattformen. Für den Musikunterricht existieren »teils kostenpflichtige, teils kostenfreie EducationProgramme, mit denen Unternehmen wie Roland, Yamaha oder Ableton im Musikunterricht in Erscheinung treten […]. Dazu zählen Programme wie z.B. Ableton Push Pedagogy oder Apple Education, die den pädagogischen Gebrauch der jeweiligen Hard- und/oder Software (z.B. der Ableton Push Controler oder der

App GarageBand) thematisieren.« (MuD, 448) Im religionsdidaktischen Beitrag wird u.a. ein E-Learning-Religionsbuch angeführt, das in Zusammenarbeit mit Film-Wissenschaft-Unterricht (FWU) entwickelt wurde. Darüber hinaus wurde »mit Smartphones und Bring your own Device (BYOD) gearbeitet, wenn es etwa um den Einsatz von Apps oder um VRInstallationen z.B. zu Heiligen Räumen wie Moscheen, Synagogen und Kirchen im Bereich außerschulischer Lernorte ging.« (RD, 449) Nicht zuletzt wird der Einsatz digitaler Medien durch die gegenwärtige Pandemie verschärft: »Quasi ‚über Nacht‘ verlieh das Corona-Virus der Digitalisierung der Lehr- und Lernmittel in Deutschland ungeahnten Nachdruck« (BioD, 449). Gleichwohl sind digitale Medien an sich komplex, was exemplarisch und schlagwortartig anhand der Besonderheiten digitaler Texte angedeutet werden soll: Diese sind aus deutschdidaktischer Perspektive durch eine »Polymodalität«, »Symmedialität«, »Synästhetik«, »Hypertextualität, Hypermedialität, Konnektivität und Interaktivität« (DD, 449) gekennzeichnet. Ohne diese Punkte im Detail zu entfalten (siehe dazu DD), verwundert es in Anbetracht dieser Komplexität kaum, dass in den Fächerbeiträgen hinsichtlich der Verwendung digitaler Medien sowohl fachdidaktische Potenziale als auch Schattenseiten hervorgehoben werden. So zeigen viele Studien, dass digitale Medien »wie Computer, Smartphones und Tablets sowie interaktive Whiteboards ein großes Potenzial bieten, um den (Biologie-)Unterricht zu bereichern.« (BioD, 449) Weitere Potenziale lassen sich unschwer aus fremdsprachendidaktischer Perspektive beschreiben: Mit

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»Facetime, ZOOM etc. kann authentische Kommunikation mit Sprechern selbst geographisch weit entfernter Sprachgemeinschaften (z.B. Chinesisch) die Lehr- und Lernbemühungen stützen.« (FD, 449) Auch werden »Lernende durch digital-partizipative Anwendungen potenziell zu Akteur:innen, wenn sie sich in der Zielsprache in Videokonferenzen, Blog- und Videobeiträgen, Kommentarfunktionen oder in sozialen Netzwerken produzieren« (FD, 449). Gleichwohl kann die zunehmende Qualität digitaler Übersetzungsprogramme wie DeepL oder Google Translate auch als eine Konkurrenz des Fremdsprachenunterrichts wahrgenommen werden, weil diese Programme inzwischen ein Niveau erreichen, »das den Abschlussprofilen für die erste Fremdsprache beim Mittleren Schulabschluss entspricht, d.h. ein Niveau, das im Vergleich zum Englischen in den morpho-syntaktisch komplexeren Sprachen Französisch, Polnisch, Russisch und Spanisch, die in der Regel noch dazu als 2. und 3. schulische Fremdsprachen unterrichtet und gelernt werden, nur selten erreicht werden kann.« (FD, 449) Gleichfalls wird aus musikdidaktischer Perspektive eine Ambivalenz digitaler Medien deutlich: Einerseits gelten mobile Smarttechnologien »aufgrund ihrer niedrigschwelligen Zugänglichkeit, sowohl was das faktische Vorhandensein anbelangt als auch hinsichtlich ihrer intuitiven Handhabbarkeit, als einfach, partizipativ und inkludierend« (MuD, 449). Andererseits werden in der seit ca. 40 Jahre währenden Auseinandersetzung mit digitalen Medien relativ konstant folgende Problempunkte angeführt: »Nachdem sich die Kritik zunächst vor allem auf sogenannte Drill-and-Practice-Programme […] rich-

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tete, war und ist ein zentraler Kritikpunkt aktuell der Verlust sozialer und sinnlichkörperlicher (Primär-)Erfahrungen beim Musiklernen […]. Des Weiteren wurde ein selbstzweckhafter Medienfetischismus […], die »Algorithmisierung des Denkens und Handelns« […] oder eine »Standardisierung des musikalischen Materials und seiner Produktion« […] angemahnt. Thematisiert werden aber auch fehlende finanzielle Ressourcen, eine mangelhafte technische Ausstattung und Infrastruktur, die Unter- bzw. Überkomplexität digitaler Lernmaterialien, technische Probleme in Verbindung mit einer sehr heterogenen Medienkompetenz auf Seiten von Schüler:innen und Lehrer:innen, ideologiebildende Eigenschaften digitaler Technologien angesichts einer (neoliberalen) Förderung wirtschaftlicher Interessen […] sowie genderbezogene Diskriminierungen […], etwa wenn das technologiebezogene Erstellen musikalischer Produkte bei Jungen als Indiz natürlicher Fähigkeiten gewertet wird« (MuD, 449f). 2.3 Fachunterrichtliche Herausforderungen digitaler Transformation

Neben den digitalen Medien kommen vor dem Hintergrund digitaler Transformation auch konkret Lehrer:innen und ihre Ausbildung, Schüler:innen und digitale Kompetenzen sowie generell der Fachunterricht und dessen Ziele in den Blick. Folgende Beispiele mögen die Herausforderungen für den Fachunterricht veranschaulichen:  Im Beitrag zur Didaktik der Arbeitslehre wird skizziert, wie die digitale Transformation einen inhaltlichen

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Grundlagenbeiträge

wie methodischen Fachwandel nach sich zieht. Beispielsweise wird in den vier Studienbereichen »Arbeit und Beruf«, »Haushalt und Ernährung«, »Technik« und »Wirtschaft« ausdrücklich auf die Digitalisierung Bezug genommen (AD, 450).  Aus religionspädagogischer Perspektive wird darauf hingewiesen, dass die in populären Kulturen stattfindende Transformation und Funktionalisierung religiöser Tradition oftmals nicht erkannt werden. Daraus resultiert für den Religionsunterricht die Aufgabe, »die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler in dieser Hinsicht zu schärfen und ihre Kompetenzen für das Verstehen und kritische Beurteilen solcher Phänomene zu fördern.« (RelD, 450)  Generell führt die digitale Transformation dazu, dass nach seinen Anfängen in den 1970er Jahren nun der Informatikunterricht national wie international zunehmend als Pflichtfach an Schulen eingeführt wird. »Überdies werden erste Anstrengungen unternommen, informatische Bildung bereits in der Primarstufe zu berücksichtigen« (ID, 450).  Interessant sind internationale Unterschiede, die beim Musikunterricht beobachtet werden: »Während z.B. in Großbritannien, Skandinavien oder Singapur schon früh musikbezogene Technologien und darauf abstellende Kurse Eingang in die Schul- und Ausbildungscurricula gefunden haben […], wird in den USA eine nach wie vor spärliche Integration beklagt« (MuD, 450).  Internationale Vergleiche sind schließlich für diverse Unterrichtsfächer in

Deutschland ernüchternd: »Allerdings steht das Fach Deutsch mit der Letztplatzierung nicht allein da. Alle in ICILS separat erhobenen Unterrichtsfächer in Deutschland belegen bei der Nutzung digitaler Medien im internationalen Vergleich den letzten Platz – mit Ausnahme der Informatik, die in Deutschland mit 60.3% auf den vorletzten Platz kommt, allerdings nur unwesentlich besser abschneidet als Frankreich mit 59.3%.« (DD, 451; vgl. BioD) Hinsichtlich der Lehrer:innen von Fremdsprachen wurde oben bereits angemerkt, dass digitale Medien als Alternative bzw. Konkurrenz verstanden werden können, weil Übersetzungsprogramme die Bedeutung von Sprachlehrer:innen relativieren (FD). Darüber hinaus sind auch empirische Ergebnisse von Grundschullehrer:innen des Sachunterrichts ernüchternd: Viele zeigen »eine eher ablehnende Haltung gegenüber informatorischen Themenbereichen« (451), ein geringes Interesse am Themenbereich Informatik und beachtliche Defizite im Professionswissen bezüglich digitalisierungsbezogener Inhalte (z.B. Gleichsetzung von »digital« und »Internet«, verengtes Verständnis von »Informatik«) (SaD, 451). Am Beispiel der Politikdidaktik kann hervorgehoben werden, dass aus der digitalen Transformation neue Kompetenzanforderungen für Lehrkräfte resultieren: »Sie bedürfen einerseits entsprechender Fachkenntnisse über den digitalisierungsgetriebenen Wandel von Politik und Gesellschaft, andererseits politikdidaktischer Fähigkeiten für die Förderung der (instrumentellen und kritisch-reflexiven) politischen

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

Medienkompetenz der Lernenden sowie den angemessenen Einsatz digitaler Medien in den fachlichen Lehr-Lern-Prozessen des Politikunterrichts.« (PolD, 451) Dementsprechend kommen ungeachtet aller Umstrittenheit (SD) immer wieder auch notwendige Konsequenzen für die Lehrer:innenbildung in den Blick (GeoD, AD, NwD), Beispiele für Lernen mit und über digitales Lernen in universitären Lehrveranstaltungen (SD) sowie entsprechende Fähigkeiten von Studierenden: Sie »sollen u.a. in der Lage sein, nicht nur Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung zu reflektieren, sondern diese auch fachdidaktisch umzusetzen« (AD, 451). Ungeachtet solcher wünschenswerten Fähigkeiten wird aus sportdidaktischer Perspektive ein digitales Ausbildungsdefizit im »Lehramt Sport« festgehalten (SpoD, 451) und wird aus deutschdidaktischer Perspektive ein »immense[r] Fortbildungsbedarf« (DD, 451) konstatiert. Ermutigend ist allerdings, dass empirische Studien während der Corona-Pandemie »eine erstaunlich große Fortbildungsbereitschaft« (DD, 451) gezeigt haben. Auch für Schüler:innen besitzt die digitale Transformation wesentliche Implikationen für fachliche Bildungsaspekte (GeoD). Diese ist zum einen durch potentiell ambivalente Effekte und zum anderen durch eine Vielzahl fachlicher Ziel- und Kompetenzbestimmungen gekennzeichnet. Als ein kritischer Punkt lässt sich stellvertretend mit der Didaktik des Sachunterrichts festhalten, dass einerseits »Funktions- und Arbeitsweisen der (von den Kindern) genutzten digitalen Technik […] für die jungen Nutzer:innen in der alltäglichen Anwendung meist intransparent und unver-

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ständlich« (SD, 451) sind. Andererseits können digitale Medien für Lernende auch insofern ein Bildungspotential besitzen, als sie »Verantwortung für ihr Lernen im Sinne von Ownership und Lernerautonomie« (FD, 451) übernehmen können, was etwa einem Ziel der Fremdsprachendidaktik entspricht. Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Wirkungen für fachliche Lehr- und Lernprozesse lassen sich in den Fächertexten im Detail diverse fachspezifische Ziele und Kompetenzanforderungen beobachten. Eine sehr detaillierte fachliche Entfaltung leistet diesbezüglich der Beitrag aus der Politikdidaktik: »Zum anderen sind Lernende dazu zu befähigen, das spannungsreiche Verhältnis von Politik und Medien in der ›Mediendemokratie‹ kritisch zu analysieren, wozu auch Kenntnisse über die besondere Selektions- und Darstellungslogik des Mediensystems sowie Sensibilität für die Problematiken des ›Politainments‹ […] und die Gefahren einer ›Kolonisierung der Politik‹ durch die Medien […] erforderlich sind. Schülerinnen und Schüler sollen überdies dazu befähigt werden, Medien zur eigenen Informationsgewinnung und politischen Urteilsbildung rezeptiv zu nutzen. Dazu gehören einerseits instrumentelle Fähigkeiten der Recherche, andererseits die Fähigkeit der (insbesondere auch quellen-)kritischen Reflexion angebotener Informationen und Bewertungen. Außerdem sollen Schülerinnen und Schüler lernen, Medien für die Mitwirkung an der öffentlichen politischen Meinungs- und Willensbildung aktiv zu gestalten und damit für ihre politische Partizipation einzusetzen. Auch diese Teilkompetenz hat grundsätzlich eine instrumentell-technische und eine

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Grundlagenbeiträge

kritisch-reflexive Seite. Schließlich gilt es, die Lernenden dazu zu befähigen, die Rahmenbedingungen des Mediensystems im Sinne ihrer eigenen Interessen und Werte politisch zu beeinflussen – Medien werden hier also als Policyfeld fokussiert. Diese Fähigkeit setzt die zuvor genannten Teilkompetenzen voraus, geht jedoch über sie hinaus und bedarf umfassenderer politischer Kenntnisse, Urteilsund Handlungsfähigkeiten« (PolD, 452). Beispielhaft wird hier deutlich, welche Konsequenzen im Detail aus der digitalen Transformation für fachliche Lehrund Lernprozesse resultieren können. Weitere fachliche Ziel- und Kompetenzbestimmungen beziehen sich auf Fragen der Bildungsgerechtigkeit (GeoD) bzw. generell auf die ethische Herausforderung, »dass und wie Digitalität immer schon gegeben ist, Strukturen generiert und Personen, Themen und Zugänge bzw. Methoden in- oder exkludiert« (RD, 452; vgl. GeoD). Last but not least wird ein grundlegender fachlicher Bildungsanspruch aus informatikdidaktischer Perspektive deutlich: »Durch ihren Fokus auf die zeitbeständigen fundamentalen Ideen der Informatik schafft informatische Bildung die Basis für ein Leben in der digitalen Welt.« (ID, 452) Ein vergleichbarer Anspruch wird bezüglich digitaler Texte aus deutschdidaktischer Perspektive geäußert: »Der kompetente Umgang mit dieser Doppelkodierung bzw. Hybridität digitaler Texte ist eine, vielleicht sogar die Schlüsselkompetenz in der digital geprägten Welt des 21. Jahrhunderts. Die Ebene des Quellcodes steht primär im Forschungsfokus der Informatikdidaktik (1), die Ebene digital codierter Textualität vor allem in dem der Deutschdidak-

tik (2). Informatik- und Deutschdidaktik sind mithin die beiden zentralen Textdidaktiken des Digitalzeitalters.« (DD, 452) Letztgenannter Punkt leitet unmittelbar über zum folgenden Abschnitt. 2.4 Fachdidaktische Forschung: Entwicklungen und Desiderate

In den verschiedenen Fächertexten wird in den Ausführungen zur digitalen Transformation immer wieder ein Rückblick auf diejenigen Anfänge fachdidaktischer Forschung genommen, welche sich auf relevante Bereiche digitaler Transformation beziehen. Dabei geht es keineswegs nur darum, dass sich die fachdidaktische Thematisierung digitaler Bildung schon vor der KMK-Veröffentlichung feststellen lässt (GeoD), vielmehr wird immer wieder auf längerfristige Entwicklungen hingewiesen (z.B. FD; MaD; NwD; RD; WD). Beispielsweise wurde bereits 1978 in der Gesellschaft für Mathematikdidaktik ein Arbeitskreis »Mathematikunterricht und Informatik« (453) gegründet, der jetzt »Mathematik und digitale Werkzeuge« (453) heißt. Bemerkenswert erscheint schließlich auch, dass bedingt durch Konzepte einer »Religionspädagogik der populären Kultur« (453), einer »medienweltorientierten Religionspädagogik« (453) und einer »Religionspädagogik in einer mediatisierten Welt« (453) zumindest seit den 1970er Jahren eine zunehmende Bedeutung dieser Thematik für religionspädagogische Reflexion und Forschung festzustellen ist. Neben diesem Rückblick auf einschlägige fachdidaktische Forschungen werden gleichermaßen auch Desiderate fachdidaktischer Forschung genannt. So wird

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

aus geographiedidaktischer Perspektive ein Spannungsverhältnis zwischen der Bildungsrelevanz digitaler Geomedien und dem entsprechenden Forschungsstand geographiedidaktischer Forschung festgestellt (GeoD). Hinzu kommt, dass die geographiedidaktische Forschung »überwiegend theoretisch-konzeptionell und exemplarisch-anwendungsbezogen und bislang noch weniger empirisch« (GeoD, 453) ausgerichtet ist. Ein anders gelagertes Spannungsverhältnis kommt im Beitrag zur Sachunterrichtsdidaktik zum Ausdruck: »So zeigen verschiedene Meta-Studien, dass der Einsatz digitaler Technologie generell einen kleinen positiven Effekt (d = 0.30–0.35) auf das Lernen von Schüler:innen haben sollte […], welcher jedoch im Rahmen von sachunterrichtsdidaktischen Studien bisher kaum reproduziert wurde.« (SaD, 453). Ohnehin scheint gegenwärtig wenig bewusst zu sein, »dass es bisher nur eine geringe wissenschaftliche Evidenz dafür gibt, wie Bildung im Zeitalter einer digitalisierten Welt in Schule und (Fach-)Unterricht gestaltet werden soll.« (BioD, 453) Vor dem Hintergrund dieses ersten Impulses zur digitalen Transformation lässt sich allerdings auch beobachten, dass zumindest einzelne Fachdidaktiken anscheinend einen durchaus beachtlichen Forschungsstand vorzuweisen haben: »Die mathematikdidaktische Forschung hat den Einsatz digitaler Medien aus verschiedenen Perspektiven begleitet, etwa durch Untersuchungen bzgl. der Wirkung digitaler Lernangebote auf die Leistungsentwicklung […] das Denken und Sprechen über Mathematik […], oder Vergleiche zwischen traditionellen und digitalen Lernangeboten […]. Überdies wurden ‚digitale‘ Kompetenz-

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modelle für Lehrende und Lernende entwickelt […] und Rahmentheorien für die Beforschung des Einsatzes digitaler Medien« (MaD, 453) gebildet. 3. Resümee und Perspektive

Blickt man auf die Ergebnisse der vergleichenden Analyse zurück, dann ist einschränkend festzustellen, dass hier nicht einfach ein »definitiver«14 Befund vorliegt. Vielmehr kann eher im Sinne einer Delphi-Studie von Zwischenergebnissen einer ersten explorativen Erhebungsrunde gesprochen werden, die zu vertiefenden Nacherhebungen motivieren können: Beispielsweise könnte im Blick auf die fachdidaktische Forschung (vgl. 2.4) anhand einer weiteren Erhebung detaillierter der Frage nachgegangen werden, welcher Forschungsstand in den einzelnen Fachdidaktiken bezogen auf welche konkreten Aspekte digitaler Bildung besteht. Eine systematische Erfassung fachdidaktischer Forschung über Digitalisierung würde ein hohes wechselseitiges Anregungspotenzial für Fachdidaktiken besitzen, wobei selbstredend stets die Fachspezifität zu berücksichtigen ist (vgl. 2.4). Ungeachtet dessen finden sich bereits bei den obigen Ergebnissen interessante Punkte, die sich auch für religionspädagogische und jugendtheologische Forschung als weiterführend erweisen können: Zwar gibt es z.B. Meta-Studien empirischer Bildungsforschung, die einen kleinen positiven Lerneffekt beim 14 Die Anführungszeichen sind im Sinne Poppers gesetzt: Empirische Forschungsergebnisse sind im Grunde genommen stets vorläufig.

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Grundlagenbeiträge

Einsatz digitaler Technologien aufzeigen, jedoch bestätigt sich dieser Effekt keineswegs zwingend im Kontext fachdidaktischer Untersuchungen. Würde man in der Jugendtheologie entsprechende empirische Studien anstreben, dann könnte sich für das Design der Blick auf andere Fachdidaktiken wie der Sachunterrichts- und Mathematikdidaktik als hilfreich erweisen (vgl. 2.4). Gleichwohl erfordert die digitale Transformation weitaus mehr als empirische Studien zur Optimierung fachlichen Lehrens und Lernens anhand digitaler Medien. Vielmehr wird in verschiedenen fachdidaktischen Beiträgen deutlich, dass auch ein (ideologie-)kritischer Blick auf die digitale Transformation notwendig ist. Der in dieser Hinsicht durchaus elaborierte religionspädagogische Diskurs hinsichtlich der Potenziale und Schattenseiten digitaler Medien (vgl. 2.2) kann durch den konsequenten Dialog mit anderen Fachdidaktiken einerseits weitere Argumente gewinnen bzw. eine Bestätigung kritischer Einsichten erfahren: Hervorgehoben seien die ambivalente Beurteilung digitaler Medien in der Musikdidaktik (vgl. 2.2) sowie in der Sachunterrichts- und Politikdidaktik (vgl. 2.3). Andererseits erhöht sich durch diesen Dialog mit anderen Fachdidaktiken auch die Wahrscheinlichkeit, dass kritische Erkenntnisse aus religionspädagogischer bzw. jugendtheologischer Forschung ebenso in anderen Fachdidaktiken Beachtung finden. Generell zeigen die fachdidaktischen Perspektiven zur digitalen Transformation (vgl. 2.1) wie sich diese auch für eine Theologie von, für und mit Jugendlichen als aufschlussreich erweisen können. Je nach thematischer Ausrichtung einer ju-

gendtheologischen Studie können sich hierbei einschlägige Punkte aus den obigen sachunterrichts-, musik-, politik- und wirtschaftsdidaktischen Texten als weiterführend herausstellen (vgl. 2.1). Spannend ist nicht zuletzt die Frage, wie sich im Vergleich zu anderen Fachdidaktiken die digitale Transformation auf den Gegenstand jugendtheologischer Forschung (»digital religion«) sowie auf die Bezugswissenschaft (»digital theology«) auswirkt. Führt man sich die fachunterrichtlichen Herausforderungen digitaler Transformation vor Augen (vgl. 2.3), dann seien aus dem fachdidaktischen Diskurs folgende zwei Punkte exemplarisch hervorgehoben, welche sich für die Religionspädagogik allgemein und die Jugendtheologie speziell als impulsgebend erweisen könnten: Ausgehend von dem Befund in der Musikdidaktik, dass im europäischen Kontext Großbritannien und Skandinavien bei der Implementation musikbezogener Technologie im Musikunterricht führend sind, stellt sich erstens die Frage, ob eine international-vergleichende Studie zum Einsatz digitaler Medien im Kontext religiöser Bildung bzw. Jugendtheologie zu einem vergleichbaren Befund gelangen würde. Zweitens ist es für Lehrer:innenbildung dysfunktional, wenn alle Fachdidaktiken völlig unabhängig voneinander diejenigen neuen fachbezogenen Kompetenzanforderungen für Lehrer:innen und Schüler:innen entwickeln würden, welche aus der digitalen Transformation resultieren. Unschwer zeigt z.B. der Blick auf die entsprechenden politikdidaktischen Ausführungen, dass diese ein Anregungspotential für religionsbezogene Kompetenzanforderungen für Religonslehrer:innen und Schüler:innen

Rothgangel Jugendtheologie im Zeichen digitaler Transformation

im Kontext religiöser Bildung besitzen (vgl. 2.3). Insgesamt betrachtet zeigt diese vergleichende Analyse der Fachdidaktiken, dass die Allgemeine Fachdidaktik für die Jugendtheologie (bzw. generell Religionspädagogik) aufschlussreiche Impulse besitzt, die anders beschaffen sind als bisherige Impulse aus der Allgemeinen Didaktik. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Fach- bzw. Domänenspezifität

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weist die Forschung in den verschiedenen Fachdidaktiken eine »Familienähnlichkeit« (Wittgenstein) auf, so dass die fachdidaktischen Forschungsarbeiten wechselseitig voneinander profitieren können. Von daher lohnt sich in Zukunft nicht nur der jugendtheologische Blick in die Religionspädagogik und (Praktische) Theologie, sondern gleichfalls in andere Fachdidaktiken und Allgemeine Fachdidaktik.

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Praxisbezogene Beiträge

Britta Konz / Antje Roggenkamp »Holy Ghost 2.0« Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials zum Thema »Umgang mit dem Heiligen Geist« 1. Perspektiven auf die Didaktik des Theologisierens 1.1 Theologisieren mit Digitorials

Der Ausdruck Theologisieren ist in der schon etwas längeren Geschichte der Kinder- und Jugendtheologie nicht immer unumstritten gewesen.1 Einzelne Elemente – wie etwa der Theologiebegriff – wurden präzisiert und perspektivisch qualifiziert, gelegentlich auf eine Alltagsdogmatik bezogen.2 In jüngster Zeit hat sich der Ausdruck fast überall durchgesetzt, insbesondere dort, wo es um ein Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen geht. So sensibilisiert er für die Fähigkeit von Kindern, »Fragen und Deutungen, die eine transzendente Ebene betreffen, zu formulieren, zu gewichten und zu vertiefen.«3 Mit Blick auf Jugendliche unterstützt er ein Inbeziehungsetzen von existentiellen (großen) Fragen und theologischen Deutungen.4 Angesichts der zunehmenden Mediatisierung der Lebenswelten und der nicht zuletzt durch die Pandemie intensivierten Digitalisierung von Lernprozessen muss sich auch das Theologisieren für neue Kommunikationswege öffnen. In unserem Beitrag möchten wir Wege des Theologisieren mit Digitorials vorstellen und dabei den Wechsel des grammatikalischen Objekts grundlegend religionspädagogisch und mediendidak-

tisch reflektieren: Geht dieser Wechsel mit einem Ersatz der Akteure durch die Dinge einher? Geben die Akteur:innen ihren Subjektstatus auf? Wie müssen Digitorials gestaltet werden, dass sie Schülerinnen und Schüler (SuS) informieren und zum Nach- und Weiterdenken inspirieren? Im Folgenden gehen wir zunächst einleitend auf Digitorials im Kontext von mediatisierten Lernformaten ein und werten Erfahrungen aus der Arbeit mit Digitorials in der Hochschuldidaktik aus. Hiervon ausgehend reflektieren wir, inwiefern die Elementarisierung 2.0 Anregungen für Digitorials geben können, die adaptive Lernprozesse im Sinne des Theologisierens ermöglichen.

1 Ekkehard Martens, Kinderphilosophie und Kindertheologie – Familienähnlichkeiten, in: JaBuKi 4/2005, 12–28, 13; Alfred Habichler, Philosophieren oder Theologisieren mit Kindern?, in: JaBuKi 11/2012, 122–132, 122f. 2 Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen 2011, 62, 179. 3 Katharina Kammeyer, Theologisieren mit Kindern, in: Saskia Eisenhardt / Katrin S. Kürzinger / Elisabeth Naurath / Uta Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt. konfessionell – religiös – weltanschaulich: ein Handbuch, Göttingen 2019, 127–136, 127. 4 Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München 2012, 12.

Konz / Roggenkamp Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials

1.2 Digitorials als Gegenstände von Mediatisierungsforschung und Medienpädagogik

Digitorials sind eigenproduzierte, kurze Filme, in denen Inhalte, Konzepte und Zusammenhänge in Ton und Bild erläutert werden. Sie können als Erklärvideos im engeren Sinne oder als Tutorials erscheinen. Während Tutorials ausführlich kommentierte Tätigkeiten und Prozesse zeigen, betreffen Erklärvideos im engeren Sinne domänenspezifische Konzepte. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern dienen sie u.a. der Erläuterung eines Dreisatzes. Digitorials werden mit der Absicht produziert, bei den Betrachtenden ein Verständnis zu erreichen.5 Für das Fach Religion eröffnen sie zugleich einen Prozess des Um- und Neudenkens, den sich das Theologisieren nicht nur zu eigen machen, sondern den es auch aktiv gestalten kann, sofern bestimmte Bedingungen beachtet sind: Der Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen, existentielle Fragen auf einer transzendenten Ebene oder in Form theologischer Deutungen zu formulieren, ist bei der Anlage von Digitorials Raum zu geben.6 Die Gattung der Digitorials ist nicht nur im Bereich des Theologisierens, sondern auch in den medienpädagogischen Konzepten bislang kaum berücksichtigt. In schulischen Zusammenhängen ersetzen Digitorials vornehmlich analoge Medien (substitution) oder sie verbessern den Unterricht funktional (augmentation).7 Non-formale Bildung wird in weiteren Kontexten der Mediatisierungsforschung diskutiert. Sie bedenkt die Wirkungen auf einzelne Personen und Gruppen, zählt aber

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auch »Massenmedien, Medien der interpersonalen Kommunikation und interaktive Computermedien«8 unter ihren Medienbegriff. Digitorials nehmen informelle, non-formale und formale Dimensionen der Bildungsprozesse auf. Zu überlegen ist, ob der Umgang mit Digitorials auch ein Potential erkennen lässt, das neue Aufgaben zu modellieren erlaubt. Dies dürfte allerdings weniger in der Konzeption innovativer Aufgabenformate (modification) bestehen oder der (Neu-) Formulierung von Aufgabenstellungen (redefinition) als vielmehr in einer anderen Herangehensweise: Digitorials greifen über ihre Funktion als Objekte des Lernprozesses hinaus. Sie verfügen über eine gestaltete, ihnen möglicherweise unbewusste Tiefenschicht, die – so unsere These – sich didaktisch fassen lassen sollte. Eine In-Beziehungsetzung von elementarisierender Didaktik und Digitorials, die zugleich den Akteur:innen wie der Sache gegenüber verpflichtet sind, scheint auch aus medienpädagogischer Per­ spektive sinnvoll.

5 Stefanie Findeisen / Sebastian Horn / Jürgen Seifried, Lernen durch Videos – Empirische Befunde zur Gestaltung von Erklärvideos, in: MedienPädagogik 33/2019, 16–36. 6 Antje Roggenkamp, Theologisieren mit Digitorials – Beobachtungen am Beispiel digitalen Konfirmandenunterrichts, in: Theoweb 19/2020, 63–82. 7 Ilona Nord / Jens Palkowitsch-Kühl, RELab digital: Ein Projekt zu religiöser Bildung in einer mediatisierten Welt, in: ZPT, 69/2017, 270–283. 8 Susanne Kinnebrock / Christian Schwarzenegger / Thomas Birkner (Hg.), Theorien des Medienwandels, Köln 2015, 11–28, 21.

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Praxisbezogene Beiträge

1.3 Digitorials als Gegenstände einer elementarisierenden Didaktik

Die Suche nach einem Modell, das nicht nur die Prozess-, sondern auch die Produktqualität sichert, führt zunächst zum neuen Elementarisierungsansatz, der auf eigene Weise traditionelle Elemente und aktuelle Erfordernisse miteinander verschränkt. Ziel der Elementarisierung ist es, das Anliegen von Lernmaterial mit Blick auf eine spezifische Lerngruppe möglichst konkret und in eigenen Worten zu erfassen. Nehmen die elementaren Strukturen die »bewährtesten Erkenntnisse« der Fachwissenschaft auf, so regen sie auch die Lehrkräfte an, »am eigenen Erkenntnisgewinn«9 zu arbeiten. Die elementaren Wahrheiten werden u.a. als Wahrheitserfahrungen biblischer Texte erschlossen, sie klären aber auch das persönliche Verhältnis der Lehrkraft zum Gegenstand des Unterrichts. Zentral wird die gemeinsame Identifizierung eigener Wahrheitsfragen sowie die Ermutigung von SuS, existentielle Fragen zu formulieren. Die elementaren Zugänge beschäftigen sich mit dem Alters- und Entwicklungsbezug. In der Regel geht es um deren Rahmung durch markante religionspsychologische Entwicklungsmodelle, die ermöglichen, eigene Deutungsweisen von Kindern und Jugendlichen auf eine Weise ernst zu nehmen, dass deren Entwicklung gefördert wird. Die elementaren Erfahrungen stellen den Erfahrungsbezug ins Zentrum, der in spezifischer Weise lebensweltbezogene Gefühle wie etwa Angst, Hoffnung, Verlassensein und Geborgenheit anspricht, indem er Inklusion und divergierende Heterogenität ebenso thematisiert, wie die Rückfrage nach

Erfahrungen, die u.a. in den biblischen Traditionen aufbewahrt sind. Elementare Lernformen verdeutlichen die wechselseitige Beziehung von Didaktik und Methodik, nehmen aber auch die Frage der Präsentation von Lernmaterialien in den Blick. Lernen erfolgt nicht nur kognitiv, sondern schließt »emotionale und körperliche Dimensionen« ein.10 Insofern Elementarisierung beabsichtigt, eine »Brücke zwischen Inhalten und Lernenden« zu errichten,11 ist das Modell als Rahmen für eine Didaktik des Theologisierens mit Digitorials geeignet: Die fünf elementaren Dimensionen nehmen Anliegen der Kinder und Jugendlichen wie auch der von Digitorials repräsentierten Sache auf. 2. Zum elementarisierenden Umgang mit Digitorials 2.1 Hochschuldidaktische Beobachtungen und dokumentarische Zugänge

Im Hintergrund der folgenden Überlegungen steht eine Beobachtung aus unserer Hochschuldidaktik: Bei der Anfertigung von Digitorials stellen Studierende an entscheidender Stelle keine Bezüge zwischen elementarer Wahrheit und Erfahrung her, sondern tragen dies den Zuschauenden an. Die Herstellung lebensweltlicher Bezüge wird im Video – und damit durch die Lehrenden – nicht

9 Friedrich Schweitzer / Evelyn Krimmer / Sara Haen, Elementarisierung 2.0, Göttingen 2019, 13. 10 A.a.O., 18. 11 A.a.O., 12.

Konz / Roggenkamp Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials

vorgenommen, sondern an die SuS delegiert. Vielfach enden die Digitorials nach einer Darlegung theologischer Vorstellungen und Inhalte mit der Frage: »Und was ist mit Euch?« oder »Und was glaubst du?« Uns scheint, dass dieses Vorgehen auf eine spezifische Problematik aufmerksam macht. Dem beschriebenen Phänomen spüren wir mit einer exemplarischen Analyse nach, bei der das Textbuch eines Digitorials mit der Dokumentarischen Methode der Textinterpretation analysiert wird. Das Vorgehen legt sich aus zwei Gründen nahe. Zum einen befassen sich die Digitorials auf der kommunikativen (Inhalts-) Ebene – im Rahmen der formulierenden Interpretation geht es um die verdichtete Reformulierung inhaltlicher Aspekte12 – mit der Frage nach dem Heiligen Geist. Die Frage war den Studierenden vorgegeben und verdankt sich der Beobachtung, dass der Heilige Geist – obschon für die christliche Religion zentral – ein Gegenstand ist, der sich explizit in keinem der aktuellen bundesrepublikanischen Lehr-, Bildungs- oder Kernlehrpläne findet. Zum anderen wird die Analyse auf der konjunktiven Ebene durch die Frage gerahmt, ob und in welcher Hinsicht Aspekte des elementarisierenden Ansatzes Eingang finden. Die Analyse fokussiert im Rahmen der reflektierenden Interpretation den Orientierungsrahmen. Der Orientierungsrahmen wird auf Dimensionen der Elementarisierung bezogen: »Man fragt, auf welches Ideal eine Sinneinheit hinstrebt (positiver Horizont), wodurch diese Ausrichtung beschränkt wird oder von welchem (negativen) Ideal die Sinneinheit wegstrebt (negativer Horizont).«13

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2.2 Analyse von Digitorial Nr. 6

Das folgende Digitorial adressiert Jugendliche des siebten bzw. achten Jahrgangs, die den Religionsunterricht besuchen. Es handelt sich um das 6. Digitorial aus einem Cluster von 14, verschiedene Jahrgangsstufen adressierenden Videos, die im Wintersemester 2019/20 entstanden sind.14 Heute soll es um den Heiligen Geist gehen. (Schild HG15) Am Anfang steht die Absicht, ein nicht näher spezifiziertes Auditorium in etwas Spezifisches mit hineinzunehmen. Das Adverb »heute« stellt eine Aktualität her, die sich auf den Moment des Hörens und Sehens des Digitorials bezieht. Ein Vorher und ein Nachher des »Heute« sind angedeutet. Aber auch eine modale Dimension schwingt mit. Das Hören und Sehen kann im Rahmen einer analogen Religionsstunde erfolgen, es besteht aber auch die Möglichkeit, das Digitorial selbständig – etwa im Homeschooling – anzuschauen. Die Befassung mit dem Digitorial eröffnet ein spezifisches Lernen. Aus elementarisierender Perspektive wird etwas angekündigt, das sich auf eine elementare Erfahrung bezieht. Allerdings wird das Thema nicht tiefergehend in die Erfahrungswelt von SuS eingebettet, und damit keine aktuelle Bedeutung für die SuS hergestellt. 12 Die Ergebnisse der formulierenden Interpretation kommen dort im Text zur Sprache, wo sie für das Verständnis der reflektierenden Interpretation unerlässlich sind. 13 Aglaja Przyborski / Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung, Berlin/New York 5. Aufl. 2021, 302. 14 Das Digitorial ist abrufbar unter: https://www. youtube.com/watch?v=aKFoxU4EJCc 15 Die Schilder markieren eine Regieanweisung.

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Praxisbezogene Beiträge

Wir haben uns die Frage (Schild Fragezeichen) gestellt, was der Heilige Geist überhaupt ist. Der Heilige Geist erscheint nicht als eine Person, sondern als ein Ding (»was«). Der Orientierungsrahmen (»wir«) legt einen gemeinschaftlichen Zugang nahe. Stellvertretend für das Auditorium begeben sich die Produzierenden in die Rolle von Fragenden. Sie setzen voraus, dass das eigene Ringen um Antworten auch ein Anliegen der Zuschauenden ist, ohne gleichzeitig eine existentielle Bedeutung der Frage deutlich zu machen. Der Orientierungsrahmen der Proposition verweist auf einen elementaren Zugang, es wird jedoch vorausgesetzt, dass die eigene Haltung auch Dritten einen Zugang öffnet. Schaut man sich die Bibelstellen (Schild Bibel) an, in denen der Heilige Geist auftaucht, kann man erkennen, dass dieser immer wieder unterschiedlich dargestellt wird. Deshalb ist es unmöglich ein einheitliches Verständnis oder Bild des Heiligen Geistes zu haben. Da der Heilige Geist eine unsichtbare Wirklichkeit (Schild unsichtbare Wirklichkeit) ist, kann man ihn nur symbolisch (Schild Symbol) darstellen. Eine erste Antwortmöglichkeit besteht im Verweis auf den Gebrauch, den »Bibelstellen« vom Heiligen Geist machen. Der gemeinsame Orientierungsrahmen wird aufgebrochen, eine spezifische Instanz (»man«) wird mit einbezogen. Aus welchem Grund sich die Produzierenden auf die Bibel beziehen, wird nicht erläutert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Die spezifische Instanz gibt einen neutralen Orientierungsrahmen auch im weiteren Verlauf vor (»man«). Sie scheint mit einer Autorität ausgestattet, die es zulässt, eine

eindeutige Antwort (»unterschiedlich«) auf die ursprüngliche Frage zu vermeiden (»unmöglich«). Gleichwohl wird zunächst keine Vielfalt an (Darstellungs-) Möglichkeiten beschrieben. Die Natur des Dings ist vielmehr in einer Art Umkehrschluss gesetzt: Kennzeichnend für den Heiligen Geist ist »eine unsichtbare Wirklichkeit«. In Bezug auf den Heiligen Geist gibt es kein »richtig« oder »falsch«, sondern eine spezifische Form der (symbolischen) Annäherung. Der vom gemeinschaftlichen »wir« zum autoritativen »man« wechselnde Orientierungsrahmen gibt ein Ringen um die Frage nach elementarer Wahrheit zu erkennen, ohne diese jedoch auf die elementaren Erfahrungen zu beziehen. Diese Symbole wollen wir euch jetzt vorstellen: Der Heilige Geist ist ein unsichtbarer Gegenstand, der sich in verschiedenen Formen und Gebrauchsweisen symbolisch darstellen lässt. Dieser Aufgabe widmen sich die Produzierenden, die wiederum einen anderen Orientierungsrahmen wählen: das symbolisch präsentierende »wir« ist vom rezipierenden »euch« klar geschieden. Im Digitorial folgt hieran anschließend eine kurze inhaltliche Beschäftigung mit dem Heiligen Geist als Wind und Atem, als Wasser, Feuer, Taube, Siegel, Anzahlung/Unterpfand sowie als Ölsalbung. Die Symbole sind jeweils mit einer Ordnungszahl eingeführt. Nicht das Sein oder eine Eigenschaft steht im Fokus der Darlegungen. Sein Wesen ist metaphorisch zu erschließen. Der Umgang mit dem Heiligen Geist verlagert sich auf je spezifische Funktionen innerhalb eines eigenen (theologischen) Sprachspiels. Ein Bezug auf die Erfahrungswelt der SuS

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wird nicht vorgenommen, eine existentielle Bedeutung des Gesagten ist nicht herausgearbeitet. Abgeschlossen werden die einzelnen Sequenzen durch einen autoritativen Verweis auf ein Bibelzitat. Der Orientierungsrahmen haftet an einem additiven Spektrum einzelner Elemente, die auf der konjunktiven Ebene als elementare Strukturen identifizierbar sind. Auch wenn insbesondere zu Beginn des Digitorials eine emotionale Zugänglichkeit (»wir«) intendiert ist und sich in der Mitte die Ankündigung der Weitergabe elementarer Erfahrung (»wir« zu »euch«) befindet, so wird der Heilige Geist überwiegend unter sprachlichkognitiven Aspekten aufgerufen. Die Perspektive der ersten Person tritt hinter einem neutralen »man« zurück und eröffnet den Raum für Beschreibungen, die einer autoritativen Haltung (»unmöglich«, »unsichtbar«) entspringen. Der Wechsel des Orientierungsrahmens vom »wir« zum »man« leitet die Befassung mit elementarer Wahrheit ein, zeigt aber zugleich, dass die Produzierenden eine formale Befassung mit biblischen Stellen für ausreichend halten: Die elementaren Strukturen treten hinter einem autoritativem Sprachspiel zurück, dessen Zugang nur denjenigen offen steht, die über einen gemeinsamen Orientierungsrahmen mit dem oder den Menschen der Bibel verfügen. Die elementare Wahrheit erscheint als theologische Richtigkeit, nicht aber als persönliche Bedeutsamkeit.

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im Rahmen von Seminaren an der TU Dortmund und der Universität Münster erstellt wurden, bestätigt. Die in den meisten Digitorials gewählte irritierende Abschlussfrage (»Und was ist mit Euch?«), die die SuS einbinden soll, entbirgt einen doppelten Mangel an spezifischer Elementarisierungskompetenz. Im Sinne vermeintlicher Subjektorientierung wird einerseits an die potentiellen Rezipient:innen der Digitorials die Aufgabe delegiert, Lerninhalte für sich selbst bedeutsam zu machen und in die eigene Lebenswelt zu transferieren. Kompetenzorientierte Lernprozesse setzen demgegenüber »bei einer herausfordernden, hinreichend komplexen Problemlage an, die möglichst auf die Erfahrungs- und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen bezogen ist«.16 Für Studierende – und mutmaßlich auch für Lehrende – erweist es sich andererseits als Herausforderung, elementare Wahrheit nicht als theologische Richtigkeit misszuverstehen. Zwar geben die Studierenden theologische Inhalte korrekt wieder, sie unterziehen sie aber meist nicht selbst einem tiefergehenden Reflexionsprozess in Hinsicht auf lebensweltliche Relevanz: Wo und wie trifft Theologie und die Botschaft biblischer Geschichten auf Erfahrungen in der Lebenswelt der Menschen? Wie können die biblischen Geschichten und theologischer Themen aktualisiert werden, so dass man herausgefordert und zum Weiterdenken angeregt, mit den Denkbewegungen aber nicht alleine gelassen wird?

2.3 Summa Summarum

Die Analyse des Digitorials zeigt exemplarisch ein Vorgehen, das sich durch die Analyse weiterer Digitorials, die

16 Gabriele Obst, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 4. Aufl. 2015, 229.

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Praxisbezogene Beiträge

Auch wenn versichert wird, dass der Heilige Geist in vielfachen Formen erscheint, dass er also nicht festgelegt werden könne, so liegt am Ende die Schwierigkeit darin, dass diese elementare Wahrheit nicht als existentielle Frage angesprochen wird. Ihre Beantwortung erfolgt autoritativ und ohne erkennbare existentielle Beteiligung der Produzierenden. Im Sinne eines Ringens um elementare Wahrheiten wären die emotionalen Einsichten der Digitorials religiös und nicht autoritativ zu begründen. Durch mündiges Hinterfragen werden autoritative Strukturen auch emotional beschreibbar. Eine Möglichkeit könnte in einer Schärfung des Bewusstwerdens bestehen: der Umgang mit der Bibel ist im Letzten nicht autoritativ zu regeln, sondern auf Widersprüche ggf. Brüche in der eigenen Argumentation zu befragen. Da sich das Problem in den meisten von Studierenden produzierten Digitorials zeigte, verweist der Umgang mit den Digitorials auf Aspekte, die einer didaktischen Reflexion bedürfen. Für eine Überprüfung von Produkt- und Prozessqualität binden wir im Folgenden die Elementarisierung an Kompetenzen aus der Perspektive der Elementarisierung 2.0 zurück. 3. Theologisieren mit Digitorials. Weiterführende Hinweise aus der Perspektive der Elementarisierung 3.1 Hinweise aus den Kernlehrplänen (NRW)

Aus der Perspektive einer Weiterentwicklung des Elementarisierungsansatzes lassen sich für die Arbeit mit Digitorials nicht zuletzt aus den Kernlehrplänen17

wichtige Hinweise entnehmen, die die Produktqualität der Digitorials unter dem Aspekt der Förderung eines Theologisieren bestimmen. Zugleich scheinen die Inhaltsfelder in der Lage, katalytische Hilfestellungen zu leisten, indem sie mögliche Lösungen anbieten und sprachlich verdichten. Der Heilige Geist kommt zwar in den Inhaltsfeldern nicht explizit vor. Er könnte sich aber als eine Deutungsgestalt erweisen, die im Rahmen der elementarisierenden Aneignung von sich transformierenden Traditionen zwischen den Inhalten und den lernenden Konstrukteur:innen insofern Brücken errichtet, als unter Rückgriff auf ihn als Deutungsoption mögliche Leerstellen ausgewiesen werden: Das Digitorial als Erzähltext kann etwa den Menschen als »Mitgestalter des Schöpfungshandelns Gottes«18 ins Gespräch bringen. In reformatorischer Perspektive können Digitorials Momente im Leben eines Menschen – oder spezifisch im Leben der SuS – identifizieren, die das befreiende Handeln Gottes am Menschen auf eine Weise in Szene setzen, dass zugleich dessen Nichtverfügbarkeit deutlich wird.19 Unter dem Aspekt elementarisierender Zugänge kann das Digitorial dem sich orientierenden Menschen Perspektiven

17 Die Inhaltsfelder – etwa der nordrhein-westfälische Kernlehrplan für die Unter- und Mittelstufe – enthalten eine Reihe von Formulierungen, die auf das Wirken des Heiligen Geistes implizit aufmerksam machen. Vgl. etwa Ministerium für Schule und Weiterbildung (Hg.), Kernlehrplan für die Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Evangelische Religionslehre, Düsseldorf 2013. 18 A.a.O., 15. 19 A.a.O., 14.

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für eine tragfähige Begründung seiner Identitätsbildung anbieten.20 Die Einsicht, dass Religion nicht Privatsache ist, sondern sich in der Gemeinschaft der Glaubenden erschließt,21 wäre eine elementare Struktur, die der Erzähltext eines Digitorials zum Ausdruck bringen könnte. Ein Digitorial kann biblische Orientierungsmöglichkeiten auf eine Weise eröffnen, dass sich Glaubenserfahrungen als elementare Erfahrungen auf heutige Situationen spiegeln lassen.22 Chancen einer respektvollen Auseinandersetzung werden im Spiegel von religiösen Prägekräften aus durchaus verschiedenen religiösen Traditionen formuliert.23 Religiöse Phänomene werden durch Aufzeigen von kulturellen Elementen in der Alltagswelt erkennbar.24 3.2 Weiterführende narratologische Überlegungen

Hinsichtlich der Prozessqualität des Theologisierens mit Digitorials stellen die Kompetenzen der Kernlehrpläne eine Reihe von Dimensionen zur Verfügung. Dies betrifft insbesondere Informationen, die es als elementare Strukturen dem Autor:innenteam, aber auch den Zuschauenden ermöglichen, sich des Umgangs mit spezifischen Inhalten zu vergewissern und entsprechende Adaptationsleistungen25 zu erbringen. Voraussetzung dafür ist, dass insbesondere die Wahrnehmungskompetenz in den Blick genommen wird: Die SuS identifizieren und beschreiben religiöse Phänomene und Handlungen anhand von grundlegenden Merkmalen, sie beschreiben Grunderfahrungen des Menschen, die Ausgangspunkte religiösen Fragens sein

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können, sie identifizieren in eigenen Erfahrungen und Überzeugungen religiöse Bezüge und Fragen. Sie überlegen, ob und inwiefern sich ihre Wahrnehmungen auch durch die Brille des Heiligen Geistes erklären lassen. Dies setzt ein digital in Szene gesetztes Lernarrangement voraus, das an einer hinreichend komplexen Lernsituation aus der Lebenswelt der SuS orientiert ist. Allein das Medienformat kann diese lebensweltlichen Anknüpfungspunkte nicht schaffen. Eine stoffliche Adaption ist gelungen, wenn »Elemente von Wirklichkeit zum Ausgangspunkt literarischer Gestaltung werden, die die Erfahrungswelt von Kindern betreffen und ein Stoff zum Gegenstand einer Geschichte wird, der für die kindlichen Rezipienten von aktueller Bedeutung ist«.26 Es geht also um die Anpassung des Inhalts an typische Kinderthemen bzw. Themen von Jugendlichen. Das »Grundproblem«, die »Botschaft« des Textes, d.h. der Bedeutungsgehalt, der ihm zugrunde liegt, muss ansprechend sein und der »Aussagegehalt, der Sinn, die Problematik, der gedankliche Hintergrund« der Story »in Beziehung zu den Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen stehen«27 (1).

20 A.a.O., 14f. 21 A.a.O., 15. 22 A.a.O., 26, 28. 23 A.a.O., 34. 24 A.a.O., 34f. 25 Carsten Gansel / Peter Braun (Hg.), Dokumentarisches Erzählen – Erzählen mit Dokumenten in Literatur, Journalismus und Film, Berlin 2021. 26 Carsten Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht, 7. Aufl., Berlin 2016, 24. 27 Ebd.

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Praxisbezogene Beiträge

Die Adaptionsleistungen der Hörenden / Lesenden / Sehenden der Videos ge­­raten mit Blick auf die Methodenkompetenz ins Visier. Mit Blick auf den Heiligen Geist erscheinen drei von sechs (Teil-) Kompetenzen geeignet, den Prozess näher zu analysieren: Die SuS identifizieren und erschließen unterschiedliche grundlegende Formen religiöser Sprache (u.a. biblische Erzählung, Psalm, Gebet, Lied), sie geben Inhalte religiös relevanter Medien mündlich und schriftlich wieder, sie recherchieren angeleitet, auch in webbasierten Medien, Informationen und Daten zu religiös relevanten Themen und geben sie adressatenbezogen weiter (2). Digitorials stoßen Erinnerungen an eigene (Lebens-)Situationen an. Sie fokussieren unter Rückgriff auf Dinge oder sprachliche Impulse den Blick auf die eigene Situation auf eine Weise, dass er ein anderer wird und ermöglichen elementare Erfahrungen. Mit Blick auf die Adaptationsleistungen des Storytellings betrifft dies etwa die Deutungskompetenz: Die SuS entfalten ihre Fragen nach Grund, Sinn und Ziel der Welt sowie der eigenen Existenz und formulieren mögliche Antworten, sie beschreiben auf einem grundlegenden Niveau religiöse Sprach-, Symbol- und Ausdrucksformen und setzen diese in Beziehung zu ihrer eigenen Biografie sowie zu Lebensgeschichten anderer Menschen, sie untersuchen die Bedeutung zentraler biblischer Aussagen und Einsichten für das heutige Leben und stellen ihre Ergebnisse dar, sie erklären an Beispielen die sozialisierende und kulturprägende Bedeutung religiös begründeter Lebensweisen (3). Digitorials regen im Idealfall zur Auseinandersetzung im Umgang mit religiösen Praktiken auf eine Weise an, dass

elementare Zugänge statt autoritativer Bibelbezüge möglich werden: Die Adaptionsleistungen der Hörenden/ Lesenden/ Sehenden der Videos werden in der Urteilskompetenz angesprochen. So vergleichen die SuS eigene mit fremden Erfahrungen in Bezug auf religiöse und ethische Fragen und bewerten die Antworten, die die Digitorials auf sie geben (4). Digitorials überführen – unter kreativer Bezugnahme auf biblische Aspekte und Figuren – traditionelle theologische Vorstellungen in existentielle Gedanken. Sie entwickeln auf diese Weise ihren eigenen Umgang mit und Zugang zu elementaren Wahrheiten: Das Storytelling mit Digitorials arbeitet der Dialogkompetenz zu: Die SuS beschreiben eigene religiöse bzw. nichtreligiöse Erfahrungen, Vorstellungen und Überzeugungen und stellen diese dar, sie nehmen ansatzweise die Perspektive von Menschen in anderen Lebenssituationen und anderen religiösen Kontexten ein. Mit Blick auf die Gestaltungskompetenz gilt Entsprechendes: Die SuS entwickeln aus dem impulsgebenden Charakter biblischer Texte Entwürfe zur Bewältigung gegenwärtiger Lebenswirklichkeit, sie planen, gestalten und präsentieren fachbezogene Medienprodukte adressatengerecht und nutzen Möglichkeiten des digitalen Veröffentlichens und Teilens (5). 4. Fazit

Die Analyse der Textbücher macht nicht nur auf die Bedeutung der empirischen Methoden für ein Theologisieren im Sinne der Elementarisierung aufmerksam, sie hilft auch, ein Grundproblem der

Konz / Roggenkamp Reflexionen über eine Didaktik des Theologisierens am Beispiel von Digitorials

Digitorials zu identifizieren: Die Frage nach dem jeweiligen Orientierungsrahmen lässt erkennen, dass die lebensweltliche Aktualisierung biblischer Bezüge in der Regel vernachlässigt wird bzw. dass vielfach eine Neigung besteht, biblische Geschichten auf eine Weise in die Gegenwart zu übertragen, dass zwar deren Strukturen, nicht aber ihr elementarisierender Gehalt erkennbar wird. Insbesondere die elementare Wahrheit wird beim Anfertigen von Digitorials zum Theologisieren – nicht nur mit Blick auf den Heiligen Geist – durch autoritative Setzungen sistiert. Die Elementarisierung 2.0 macht darauf aufmerksam, dass entsprechende Probleme auch empirisch zu erheben sind. Digitorials müssen so gestaltet werden, dass die Story zum »Resonanzraum«28 für die SuS wird, indem »gleichzeitig Nähe und Distanz«, »Identifikation und Alterität« sowie eine »fruchtbare Dissonanz« hergestellt wird »zwischen den soziokulturellen Mustern, die den Rezipienten vertraut sind, und dem Text.«29 Die Digital-Stories sind mithilfe der Elementarisierung 2.0 und im Blick auf die domänenspezifischen Kompetenzen bewusst zu konzipieren sowie inhaltlich in der Lebenswelt der SuS zu verankern. Sie müssen imaginative Räume für eigene Adaptionsleistungen eröffnen und weiterführende Deutungsangebote für existentielle Fragen bereitstellen. Die Rückbindung an die Kernlehrpläne lässt erkennbar werden, dass hier eine Fülle an elementaren Dimensionen bzw. Strukturen angeboten wird, mit denen sich nicht zuletzt ein Theologisieren mit dem Heiligen Geist anregen lässt. Der Abgleich mit den Dimensionen eröffnet zudem die Möglichkeit, mit Blick auf ein

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Theologisieren mit Digitorials zu prüfen, ob und inwiefern auch die Prozessqualität eingehalten ist: Die Wahrnehmungskompetenzen leiten zu einer Überprüfung der elementaren Strukturen ebenso an, wie die Deutungskompetenzen die elementaren Erfahrungen avisieren. Während die Urteilskompetenz hilft, die elementaren Zugänge in den Blick zu nehmen, wirken die Methodenkompetenzen auf die elementaren Lernformen. Die elementaren Wahrheiten werden durch die Orientierungs- bzw. Dialogund Gestaltungskompetenz überprüfbar. Die Einübung in elementare Dimensionen profitiert von der Befassung mit übergegensätzlichen Perspektiven sowie dem Nachdenken über Brüche. Elementarisierung im digitalen Raum ist auf kritische Reflexionen sowie auf kommunikative Gesten angewiesen. Die unter dem Namen Elementarisierung 2.0 diskutierten Aspekte zeigen die Bedeutung empirischer (Unterrichts-) Forschung und greifen nicht nur konstruktivistische Lerntheorien auf. Sie verweisen auch auf die Verknüpfung von Digitorials mit Kompetenzmodellen. Religionsdidaktisch-konstruktivistische Ansätze wie etwa das Theologisieren zeichnen sich in ihren Ansatz ein, um spezifische Formen der Digitalisierung zu erproben. Dieser erweiterte Gebrauch der Elementarisierung legt Stärken und Schwächen offen: Es ist zu überlegen, ob der Ausdruck elementare Wahrheiten durch elementare Bedeutsamkeit zu ersetzen ist. 28 Franz W. Niehl, Bibel verstehen. Zugänge und Auslegungswege. Impulse für die Praxis der Bibelarbeit, München 2006, 71. 29 Ebd.

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Praxisbezogene Beiträge

Christian Cebulj / Claude Bachmann / René Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

1. Vom Stichwort zur Erkenntnis

»Digitale narrative Kurzformate«: So lautet ein Interdisziplinäres Medienprojekt, das seit dem Frühjahrssemester 2014 regelmäßig als Kooperation zwischen der Theologischen Hochschule Chur (TH Chur) und dem Institut für Multimedia Production der Fachhochschule Graubünden (FHGR) stattfindet. Unter der Anleitung des Journalisten, Multimedia-Produzenten und Dozenten Thomas Weibel sowie des Religionspädagogen Christian Cebulj eigneten sich anfangs vor allem Studierende der TH Chur, später auch 16–17jährige Schülerinnen und Schüler aus Gymnasialklassen vor der Matura Grundkenntnisse im Schreiben, Sprechen, Bearbeiten und Publizieren kurzer digitaler FeuilletonTexte an, wie sie an Werktagen täglich um 7.00 Uhr, am Samstag um 8.00 Uhr im Format »100 Sekunden Wissen« im Schweizer Radio SRF 2 Kultur gesendet werden. Die Beiträge richten sich an interessierte Laien ebenso wie an Fachleute, die sich ob der schieren Alltäglichkeit mancher Begriffe nie Gedanken über deren Hintergrund, Herkunft und Geschichte gemacht haben. Einmal nachdenklich-ernst, das andere Mal humorig-heiter ist es das Ziel des RadioFormats »100 Sekunden Wissen«, kleine, aber hochkonzentrierte Wissensrationen für den Alltag zu liefern, an deren An-

fang immer ein Stichwort, am Ende eine Erkenntnis steht.1 Der Schweizer Schriftsteller Iso Camartin nannte die 100 Sekunden-Sendung einmal sein morgendliches Aha-Erlebnis, das so gut wie immer den Charme der Zufalls-Information habe und das er aus seinem Alltag nicht wegdenken möchte: »Ein Wort, eine Abkürzung, ein Begriff, eine Sache, eine Mode, ein Spiel, eine Haltung, eine Erwartung: Alles kann Anlass zu einer Klärung, einer Reflexion, im besten Fall zum Erlebnisglück einer knapp erzählten Geschichte werden. Das Resultat ist ein gesundes Staunen, ein Aha-Erlebnis, im Grunde das Eingeständnis: Jetzt lebst Du schon so lange, und erst heute erfährst du’s! Und manchmal, wenn es einen Kernbereich der eigenen Neugierde trifft, sagt man sich schon früh am Morgen, sehr frei nach Erasmus: Wie herrlich zu leben in diesen Zeiten – und nicht ganz ahnungslos zu sterben!«2 Der vorliegende Praxisbeitrag zeigt auf, wie das Radio-Format »100 Sekunden Wissen« durch Jugendliche und junge Erwachsene auf den Wissensbe1 Vgl. Thomas Weibel, Takeaway. 100x100 Sekunden Wissen. Mit einem Vorwort von Iso Camartin und Zeichnungen von Lopez, Basel 2012. 2 Iso Camartin, Das morgendliche Aha-Erlebnis. Über den Charme der Zufalls-Information, in: Weibel, Takeaway, 9.

Cebulj / Bachmann / Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

reich Religion erweitert und als digitales Format mit dem Titel »100 Sekunden Religion« produziert wird (wp.thchur. ch). Dabei werden kontextuelle, konzeptionelle, kommunikative, religionsdidaktische und jugendtheologische Aspekte des Medienprojekts beleuchtet. 2. Ich blogge, also bin ich: Kontextuelle Aspekte

Das Format »100 Sekunden Religion« lässt sich am besten als Blog bezeichnen. Die Beiträge dieser als digitales Hörlexikon konzipierten Sammlung berücksichtigen die Tatsache, dass sich in unserer digitalisierten Gegenwart die Kommunikationsbedingungen von Religion nachhaltig verändert haben.3 Am Anfang stand dabei die Wahrnehmung, dass Jugendliche oder Erwachsene, die sich zu Fragen der Religion und Kultur informieren wollen, nicht mehr einen Artikel in Meyers Konversationslexikon aufschlagen, sondern ihre Infos googlen. Sie suchen in Online-Datenbanken nach dem gewünschten Stichwort und finden schnell die entsprechenden Wissensbausteine. Der Zusammenhang von Religion und Kommunikation ist dabei durch eine signifikante gegenseitige Bedingtheit geprägt, für die aus der Sicht des Religionssoziologen Michael Ebertz zwei Dimensionen kennzeichnend sind: Erstens kann Religion in einer Gesellschaft nur durch Kommunikation existieren, zweitens ist religiöse Kommunikation durch ein besonderes Verhältnis zur Wahrnehmung geprägt, da es in der Sprache der Religion oft um Mitteilungen geht, die Transzendentes thematisieren und damit die alltägliche Wahrnehmung übersteigen.4

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Unter vielen anderen Formaten ist das Bloggen in den letzten Jahren eine wichtiges Gefäß der digitalen religiösen Kommunikation geworden, zu der umfangreiche Forschungen vorliegen. Für den religionsbezogenen Bereich hat Anna Leonie Heiliger in einem Forschungsprojekt des Zentrums für Angewandte Pastoralforschung (ZAP) an der Universität Bochum die deutschsprachige katholische Bloggerszene untersucht.5 Sie hat interessante Ergebnisse erzielt, die auch für den Kontext des Blogprojekts ›100 Sekunden Religion‹ von Bedeutung sind. Zentrales Forschungsanliegen von Heiligers Projekt war die Frage, ob von einem missionarischen Potenzial der deutschsprachigen katholischen Blogger:innen gesprochen werden kann. Dazu wurde eine qualitative Onlinebefragung unter den 355 deutschsprachigen Blogs mit katholischem Profil durchgeführt, an der 59 Blogger:innen teilnahmen. Die überwiegend formal hochgebildeten Blogger:innen beurteilten das missionarische Wirken zwar positiv, so ein Ergebnis der Studie. Vorrangig sei für die Befragten jedoch die Freude am Medienformat für die Glaubensverkündigung.6 Weitere Beweggründe bei den Befragten zielen auf die potentielle Leserschaft ab. Circa der Hälfte ist es wichtig, andere Menschen zu inspirieren und zu kritischem 3 Vgl. Michael Ebertz, Religion, Kommunikation und Medien, in: Gebhard Fürst (Hg.), Katholisches Medienhandbuch. Fakten, Praxis, Perspektiven, Kevelar 2013, 40. 4 Vgl. Ebertz, Religion, 35. 5 Vgl. Anna Leonie Heiliger, Die deutschsprachige katholische Bloggerszene. Vielfalt und Potenzial religiöser Kommunikation im Internet, in: Communicatio Socialis 49 (2016) 79–93. 6 Vgl. Heiliger, Bloggerszene, 73.

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Praxisbezogene Beiträge

Denken anzuregen. Auch das Motiv, das eigene Wissen zur Verfügung zu stellen und mit anderen zu teilen, kristallisiert sich als wichtig heraus. Nur eine Minderheit der befragten Personen gibt an, mit dem Weblog eine Mission zu verfolgen.7 So ähnlich liegen die Motivationen auch bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich am Blogprojekt »100 Sekunden Religion« der Theologischen Hochschule Chur beteiligen. Wichtige Voraussetzung bei der Erarbeitung der Begriffe sind dabei flache Hierarchien zwischen Jugendlichen und Expert:innen, so wie sie im digitalen Raum üblich sind. Die Teilnehmenden suchen ihre Stichwörter eigenständig aus und können so selbstermächtigt theologisch produktiv werden. Die Qualitätskontrolle wird durch das Feedback der Gruppe und das Coaching durch die Dozierenden hergestellt. 3. Zwischen Anekdoten und Grotesken: Konzeptionelle Aspekte

Warum gerade ein 100-Sekunden-Format? Claude Bachmann, einer der studentischen Teilnehmer, stellt fest, dass Menschen fast täglich über Begriffe stolpern bzw. beim Lesen oder Hören an ihnen hängen bleiben. Oft sind es Fremdwörter oder vergessen gegangene Wörter aus längst vergangenen Tagen, deren Bedeutungen dann mithilfe vom Duden oder von Google eruiert werden können. Und manchmal sind es vermeintlich alltägliche Wörter, über die man zwar nicht stolpert, aber dessen Wurzeln und Ursprünge den Begriff in ein völlig neues Licht rücken. Oft verbirgt sich hinter einem Wort eine ganz spezielle, bisweilen

skurrile oder gar witzige Geschichte und nicht selten gibt es einen direkten oder indirekten Bezug zum Religiösen. Oder wussten Sie, dass sogenannte »Fresszettel«, die heute auf jedem Büro- oder Küchentisch wie selbstverständlich herumliegen, früher wirklich einmal in Form von Marienbildchen oder in Form von kleinen, mit Bibelversen oder einem Gebet beschriebenen Zettelchen vor allem von Pilger:innen, in der Hoffnung auf himmlischen Segen und heilende Kräfte, geschluckt wurden? Diesen Brauch kannten gläubige Menschen zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert und sprachen dabei den sogenannten »Schluckbildern« oder »Esszetteln« besondere Kräfte zu.8 Genau dies macht den Reiz und die Faszination des Formats »100 Sekunden Religion« aus: Hinter die Buchstaben zu schauen, nach dem Sinn oder Unsinn, nach dem Skurrilen oder der Pointe von Wörtern oder Begriffen zu suchen und anschließend das erworbene Wissen kompakt in 100 Sekunden wiederzugeben. Das Entdecken von Geschichten, Anekdoten oder Grotesken, die unserer geschriebenen und gesprochenen Sprache zu Grunde liegen, können den Entdecker:innen völlig neue Zugänge zu vermeintlich langweiligen Themen wie Sprache, Religion oder Theologie eröffnen. So lässt sich nicht nur die Sprache (neu) entdecken. Vielmehr kann das Format »100 Sekunden« helfen, neuen Themenkomplexen auf die Spur zu kommen und Wissen zu erschließen. 7 Vgl. Heiliger, Bloggerszene, 86. 8 Vgl. dazu den Begriff »Fresszettel« im Hörlexikon »100 Sekunden Religion«: https:// wp.thchur.ch/?p=375, 2016 (Zugriff: 25. März 2022).

Cebulj / Bachmann / Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

Gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind kreative und innovative Wege gefragt, um (religiöse) Bildung, oder in unserem Fall Phänomene aus Religion und Theologie so erleb- und erfahrbar werden zu lassen, dass sie sich davon angesprochen fühlen und durch den Inhalt berühren lassen können. Es geht also darum, einen glühenden Resonanzdraht zwischen den Jugendlichen und den zu erschließenden religiösen oder theologischen Inhalten herzustellen. Das Format »100 Sekunden Religion« bietet dabei in doppelter Weise Chancen und Möglichkeiten. Einerseits durch eine kurzweilige und inhaltlich klar abgesteckte Recherche: Ob es darum geht, detektivisch dem »Totentanz« nachzugehen, zu recherchieren woher eigentlich der Begriff »koscher« stammt oder was sich genau hinter der alltäglich verwendeten Begrifflichkeit »verdammt« versteckt: Die Herausforderung ist, einen zu behandelnden Themenbereich so in einzelne Wörter oder Begriffe aufzuschlüsseln und zu elementarisieren, dass diese die Neugierde der Schüler:innen, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen weckt. Dabei lohnt es sich, »out of the box« zu denken und Jugendliche auch einmal Aspekte eines Themas erschließen zu lassen, die im Fall des Religionsunterrichts nicht an oberster Stelle des Lernplans stehen. Der Zugang zu religiösen oder theologischen Inhalten erfolgt so über das Andere, das Skurrile, das Groteske oder über eine spezielle Anekdote, wovon die Welten der Religion und der Theologie reichlich bestückt sind. Zum Glück. Andererseits trägt auch eine adäquate Wissenswiedergabe dazu bei, den Resonanzdraht zwischen dem jungen

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Menschen und dem konkret religiösen oder theologischen Aspekt eines Themenkreises zum Glühen zu bringen; erst recht, wenn die Form der Wiedergabe jungen Menschen bestens vertraut ist: In einer Sprachnachricht, welche aber nicht länger als 100 Sekunden sein darf. Der Zugang über die Sprache bzw. über Sinnkonstrukte von konkreten Wörtern oder Begriffen entspricht durchaus der Lebenswelt junger Menschen. Die Jugendsprache zeigt deutlich, wie kreativ junge Menschen inhaltlich und klangästhetisch mit Sprache umgehen können. Englische Wörter werden mit ihren Bedeutungen und ihrem Sound akrobatisch in den Kontext der deutschen Sprache transferiert und adaptiert, sodass völlig neue literarische Sinnwelten entstehen. Gesprochen mit Freund:innen oder geschrieben bzw. als Sprachnotiz auf WhatsApp, Instagram oder Snapchat, wissen junge Menschen heute kreativ mit Wörtern und Begriffen zu jonglieren. Und so müsste es vielleicht für die Erwachsenenwelt bald ein »100 Sekunden Jugendsprache« geben. Oder wissen sie, was »Cringe«, das Jugendwort des Jahres 2021, bedeutet? Das Format »100 Sekunden« stellt auf verschiedenen Ebenen und für unterschiedliche Zielgruppen eine interessante und spannende sowie kreative und innovative Möglichkeit dar, Neues zu lernen oder sich auf eine neue Lebenswelt einzulassen. Und wenn dabei auf der entsprechenden Plattform oder sozialen Netzwerken ein Hörlexikon entsteht, dann werden die Geschichten, Anekdoten oder Grotesken hinter den Wörtern und Begriffen für ein breites Publikum zugänglich.

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Praxisbezogene Beiträge

4. Achtung Aufnahme: Kommunikative Aspekte

Manche Workshops zu Beginn des Blogprojekts fanden in den professionellen Produktionsräumen des Studiengangs Multimedia Productions der FH Graubünden in Chur statt. Das war eine interessante und lehrreiche Erfahrung, nicht zuletzt immer dann, die rote Lampe an der Studiotür aufleuchtete und wenn es hieß: »Achtung Aufnahme!«. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatten dabei der Kompetenz des Medienfachmanns Thomas Weibel viel zu verdanken. Da er einer der Entwickler des Radioformats »100 Sekunden Wissen« ist, waren sie bei ihm in besten Händen. René Schaberger, ein weiterer studentischer Teilnehmer, erinnert sich, wie das Hörlexikon als Blog mit einer Tonspur, aber auch mit dem dazugehörigen Text zum Nachlesen konzipiert wurde. Als solches wurde das Format auch in diversen Formen für theologische Lehr- und Lernfelder adaptiert und durchgeführt: Als Medienseminar auf Hochschulebene oder als Projekttag mit Schüler:innen von Schweizer Gymnasien. Blogs erfreuen sich großer Beliebtheit, weil deren Inhalte sich leicht in den sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter teilen lassen und so eine große Reichweite möglich ist. Da die jüngere Generation vor allem auf Kanälen wie Instagram, Tiktok und YouTube unterwegs ist, verlieren herkömmliche Blogs zwar zunehmend an Bedeutung. Nichtsdestotrotz hat die Idee eines Hörlexikons noch immer ein großes Potential für die religionspädagogische Praxis – auch weil es sich für unterschiedlichste Zielplattformen einfach anpassen lässt.

Die Erarbeitung der Beiträge erfordert und fördert das Zusammenspiel unterschiedlichster Talente: Zu einem Thema muss recherchiert werden; Inhalte müssen in einer leichten Sprache zusammengefasst werden; die Inhalte müssen in ein öffentlich wirksames Format gebracht werden (Ton, Film, Bild, Text); es bedarf des nötigen technischen Knowhows, um aus den rohen Ton- oder Filmformaten mithilfe von Schneideprogrammen wie audacity ein öffentlich wirksames Endprodukt zu gestalten. Und schließlich müssen die Endergebnisse im Netz auf den einschlägigen Plattformen geteilt werden. Jeder einzelne Arbeitsschritt erfordert die Auseinandersetzung mit und die Elementarisierung von Inhalten. Damit wäre auch schon angesprochen, dass das Format eines Hörlexikons »100 Sekunden Wissen« in der Form seines Endprodukts flexibel bleiben muss. So lassen sich 100 Sekunden schlecht auf Instagram teilen – hier wäre es in Zukunft klüger, von einem Endprodukt auszugehen, das weniger als 60 Sekunden dauert. Der Ton wäre durch Fotografie, noch besser durch bewegtes Bild zu ergänzen. Damit bleibt möglicherweise von der ursprünglichen technischen Grundidee eines 100 Sekunden-Hörlexikons nicht viel übrig, aber das muss es auch nicht. Unabhängig vom Endprodukt bleibt es das Ziel, theologische Inhalte dicht, aktuell und relevant zu erfahren. War es in der Anfangsphase 2014 noch notwendig, für die Durchführung eines Medienseminars ein Tonstudio zu mieten bzw. dann ein teures Mikrofon anzuschaffen, sind die heute herkömmlichen Smartphones so ausgereift, dass damit ausreichend gute Ton- und Bildmedien hergestellt werden können.

Cebulj / Bachmann / Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

5. Kurzformeln des Glaubens: Jugendtheologische Aspekte

Das Blogprojekt wirft auf bildungstheoretischer Ebene weiterführende Fragen nach der Funktion digitaler religionsbezogener Bildungsprozesse auf. Wer gerade in Zeiten von Fundamentalismus und Populismus für religiöse Bildung in Religionsunterricht, Katechese und Gemeindepädagogik Verantwortung trägt, steht immer wieder vor der Herausforderung, zentrale Glaubensinhalte in eine verständliche Sprache übersetzen zu müssen.9 Nach dem Prinzip »Was wahr ist, muss auch leicht zu sagen sein« wurde bei der Erarbeitung der 100-SekundenTexte u.a. das religionspädagogische Elementarisierungs-Modell zur Strukturierung der Stichwörter herangezogen. Das Modell war sehr hilfreich, wenn es darum ging, Glaubensinhalte auf ihre Kernbedeutung zu reduzieren, ohne sie aber zu banalisieren. Die Elementarisierung ist in ihrer Intention auf Wolfgang Klafki zurückführbar, der, ohne den Begriff zu gebrauchen, darunter die Reflexion auf elementare Bildungsinhalte verstand.10 Als Elementarisierung biblischer Stoffe taucht der Begriff später bei Ingo Baldermann auf, bevor er von Karl Ernst Nipkow als didaktisches Konzept der Religionspädagogik profiliert wurde. Für Nipkow ist wesentlich, dass »Sache und Schüler aufeinandertreffen«11, also ein Verstehensprozess in Gang kommt, der klassischerweise als Korrelationsdidaktik bezeichnet wird. Der Begriff der Elementarisierung steht bei Nipkow für ein komplexes Ganzes, bei dem vier Elementarisierungsaufgaben einander zugeordnet sind: elementare Strukturen (Sachebene), elementare Erfahrungen

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(anthropologische Ebene), elementare Zugänge (entwicklungspsychologische Ebene) und elementare Wahrheiten (theologische Ebene). Im Anschluss an Nipkow machte Friedrich Schweitzer darauf aufmerksam, dass als fünfte Aufgabe die elementaren Lernwege (didaktische Ebene) hinzukommen, welche eine wechselseitige Erschließung von Person und Sache ermöglichen helfen.12 Die Frage nach einem fundamentalen, aber eben nicht fundamentalistischen Lernen des Glaubens berührt vor allem die theologische Frage nach den elementaren Wahrheiten. Was Nipkow/ Schweitzer aus religionspädagogischer Perspektive postulieren, kann gerade in postfaktischen Zeiten als Anspruch an eine gegenwartsbezogene und verstehbare theologische Sprache gelten: Nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene ist der existenzielle Bezug theologischer Aussagen der wichtigste Faktor für deren Überzeugungskraft: Wahrheit steht demnach didaktisch nicht quasi ex cathedra als ›Wahrheit an sich‹ von vorne herein fest, sondern ergibt sich prozessual als ›Wahr9 Vgl. Christian Cebulj, Glaube zwischen Fakten und Fakes. Religiöse Bildung in einer Welt des Fundamentalismus und Populismus, in: M. Durst / M. Wasmaier-Sailer (Hg.), Christsein in der Welt (Theologische Berichte Bd. 40), Freiburg i.Br. 2020, 64–89. 10 Vgl. Wolfgang Klafki, Die didaktischen Prinzipien des Elementaren, Fundamentalen und Exemplarischen, in: Blumenthal, A. u.a. (Hg.), Handbuch für Lehrer, Bd. 2, Gütersloh 1961, 120–139. 11 Karl Ernst Nipkow, Entwicklungspsychologie und Religionsdidaktik, in: Zeitschrift für Pädagogik 33 (1987) 156f. 12 Vgl. Friedrich Schweitzer, Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie, Gütersloh 1995, 165.

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Praxisbezogene Beiträge

heit für mich‹. Ein statisches und satzhaftes Wahrheitsverständnis wird in einem solchen Verständnis relativiert und als individuell gewissmachende Wahrheit verstanden.13 Wahrheiten werden in diesem Verstehenszugang weniger gelehrt oder vermittelt, sondern erschließen sich vielmehr den am Lernprozess Beteiligten durch den existenziellen Bezug.14 Gerade sperrige und schwierige Fragen des Glaubens erweisen sich durch gelungene Elementarisierung als tragfähig und glaubhaft kommunikabel. Viera Pirker hat im Zusammenhang der Frage nach Repräsentanz und Konstruktion von ›Wahrheit‹ auf Social Media betont, dass aus religionspädagogischer Sicht zwei Perspektiven auf den Wahrheitsbegriff bedeutsam sind. Es gehe nicht nur um das ›Was‹, sondern auch um das ›Wer‹ des Glaubens.15 So verstanden sei Wahrheit keine Eigenschaft, sondern die Bestimmung des Gehalts von interaktioneller und rezeptioneller Erfahrung. Daher ist das Moment der existenziellen Wahrheit-für-mich hier unverzichtbar16 und damit »die Perspektive des Subjekts, in welcher deutlich wird, dass jede Wahrheit die performative Rezeption eines Individuums, ein Wahrheitsempfinden, benötigt. Wahrheit bedarf einer Verankerung im Beziehungsgefüge«.17 Diese ›Wer‹-Perspektive auf die hinter den 100-Stichwörtern stehenden theologischen oder religionsbezogenen Wahrheiten ist im redaktionellen Entstehungsprozess des Blogs sehr wichtig. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen schreiben selbst ihre Texte, bekommen stilistische Hinweise für die journalistische Qualität und bei Rückfragen inhaltliche Tipps im Sinne einer theologischen Qualitätskontrolle. Im Wesentlichen sind

die Texte aber das Produkt des kollegialen Coachings der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, was den Audios am Ende auch anzumerken ist. Während des Medienprojekts bestand die zentrale Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler in den vergangenen Jahren meistens darin, schwierige theologische Vokabeln wie »Apologet« oder »Tohuwabohu« in der Kurzform von max. 220 Wörtern so zu elementarisieren, dass sie einerseits für die Hörerinnen und Hörer verständlich sind, andererseits sachlich treffend formuliert und eben nicht banalisiert werden. Insgesamt wurden diese 25 Stichwörter produziert (Online als Text und mp3-Audiodatei verfügbar unter: https://wp.thchur.ch): Amen

Klausur

Sieben Siegel

Antisemitismus

Koscher

Totentanz

Brezel

Lectio Divina

Tradition

Brockenhaus

Mutter Teresa

Tretbilder

Fresszettel

Nonne

Trinität

Gnade

Ostern

Vaticanum I

Gottesbeziehung

Psalm 23

Verdammt

Ikone

Reliquie

Jubiläum

Sabbat

13 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Elementarisierung als Kern der Unterrichtsvorbereitung, in: Katechetische Blätter 111 (1986) 602. 14 Vgl. Friedrich Schweitzer/Sara Haen/Evelyn Krimmer, Elementarisierung 2.0. Religionsunterricht vorbereiten nach dem Elementarisierungsmodell, Göttingen 2019, 17. 15 Vgl. Viera Pirker, Repräsentanz und Konstruktion von ›Wahrheit‹ auf Social Media, in: Religionspädagogische Beiträge 81 (2019) 31. 16 Vgl. Günther Heimbrock, Art. Wahrheit, in: WireLEx (2018). 17 So Pirker, Repräsentanz, 32.

Cebulj / Bachmann / Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

Dabei zeigte sich, dass das Blogprojekt zum einen der Jugendtheologie, zum anderen dem Elementarisierungsmodell wesentliche konzeptionelle Impulse verdankt. Es war vor allem Friedrich Schweitzer, der immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die Elementarisierungsmöglichkeiten verdeutlichen helfen sollen, was die Jugendtheologie für Lernen und Bildung leisten kann.18 Der besondere Beitrag der Jugendtheologie für den Elementarisierungsansatz lässt sich auf zwei Aspekte focussieren. Einerseits muss er die Aufgabe bewusst halten, religiöse Lernprozesse subjektorientiert zu unterstützen. Andererseits führt die jugendtheologische Perspektive die mit dem Elementarisierungsansatz verbundenen Kompetenzen in inhaltlicher Hinsicht weiter und präzisiert sie.19 In diesem Zusammenhang sei nochmals die Frage nach dem spezifischen jugendtheologischen Beitrag des Blogprojekts »100 Sekunden Religion« gestellt.20 Um den kontrovers diskutierten Begriff der ›Jugendtheologie‹ weiter zu schärfen, haben Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer vorgeschlagen, fünf Dimensionen von Theologien Jugendlicher zu unterscheiden.21 Im ersten Fall einer ›impliziten‹ Theologie denken Jugendliche über ihr Leben nach, ohne theologische Codes zu verwenden oder explizite Bezüge zu theologischen Positionen herzustellen. Da diese Bezüge meist durch die verantwortlichen Lehrpersonen im Religionsunterricht aufgrund ihrer theologischen Expertise hergestellt werden, spielt diese Dimension im Kontext des 100-Sekunden-Projekts kaum eine bis keine Rolle. Die zweite Dimension einer ›persönlichen‹ Theologie liegt dann vor, wenn Jugendliche Schwerpunkte ihres

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individuellen Glaubens vertreten. Eine persönliche Theologie setzt somit einen Glauben voraus, innerhalb dessen individuelle Akzentsetzungen für die theologische Argumentation wichtig sind. Diese Ebene ist in vielen 100-SekundenStichwörtern vertreten. Auf einer dritten Ebene sprechen Schlag/Schweitzer von einer ›expliziten‹ Theologie, wenn sich Jugendliche ausdrücklich auf einen theologischen Sachverhalt beziehen und mit theologischen Codes argumentieren. In diesem Fall werden die Bezüge einer Äußerung zu einem theologischen Sachverhalt von den Jugendlichen selbst hergestellt. Im Unterschied zur persönlichen Theologie muss eine explizite Theologie nicht durch den individuellen Glauben des Sprechenden gedeckt sein. Auch nicht-religiöse Jugendliche, die sich in einer Diskussion zu einem theologischen Thema äußern, fallen damit unter die Kategorie der expliziten Theologie. Diese Dimension ist mehrfach in 100-Sekunden-Begriffen zu finden. Eine ›theologische Deutung mit Hilfe theologischer Dogmatik‹ liegt im vierten Fall dann vor, wenn sich Jugendliche in ihren Äußerungen nicht nur explizit auf theologische 18 Vgl. Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 96f. 19 Vgl. Schweitzer, Kindertheologie, 98–106. 20 Vgl. Christian Cebulj, Kirche im Labor. Jugendtheologie als religionspädagogischer Impulsgeber für eine erneuerte Kirche, in: M. Durst / B. Jeggle-Merz (Hg.), Jugend in Kirche und Theologie (Theologische Berichte Bd. 39), Freiburg i.Br. 2019, 99–119. 21 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Jugendtheologie: Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 15–17.

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Praxisbezogene Beiträge

Sachverhalte beziehen, sondern in diesen Äußerungen systematisch-theologische Konzepte verwenden. In diesem Fall sind die Äußerungen der Jugendlichen nahe an einer Expertentheologie, denn die verwenden ebenfalls theologisch anerkannte Konzepte. Eine letzte Dimension markiert die ›theologische Argumentation durch Jugendliche‹. Hier werden nicht nur einzelne theologische Konzepte verwendet, sondern es wird auch im Sinn dieser Konzepte argumentiert. Auf dieser Ebene haben Jugendliche den Sinn der verwendeten Konzepte verstanden und können sie situativ und stimmig anwenden. Dieser Dimensionierung auf fünf Ebenen liegt ein weiter Theologiebegriff zugrunde, den Schlag / Schweitzer pädagogisch begründen.22 Vor allem die Kategorie der impliziten Theologie trägt dieser Offenheit von Jugendlichen gegenüber einer Vielzahl wählbarer Lebensentwürfe Rechnung. Zahlreiche der 100-Sekunden-Stichwörter, die eine oder mehrere der genannten Dimensionen enthalten, stellen das jugendtheologische Potenzial dieses digitalen Formats eindrucksvoll unter Beweis. 6. Muster-Analogie Identität: Experimentieren mit individuellen Ausdrucksformen

Zum Abschluss seien der Frage nach der Identität als einer Musteranalogie zwischen Jugendtheologie und Digitalisierung noch einige Beobachtungen gewidmet. Das Blog-Projekt »100 Sekunden Religion« gibt Jugendlichen maximale Freiheiten im individuellen Experimentieren mit sprachlichen Bildern. Das entspricht insofern dem aktuellen human-

wissenschaftlichen Identitätsdiskurs, als jeder Prozess der Identitätskonstruktion von außen als hochgradig individuell und subjektiv, von innen als vollkommen wahrheitshaltig angesehen wird.23 Meist wird Religion als eine Teilidentität wahrgenommen, ähnlich wie der Familienstatus oder eine politische Meinung.24 Diese hat nicht notwendig dauerhaft prägenden Charakter, vielmehr ist die Verbindung von Religion und Alltag eher lose. Der Identitätsbegriff bietet eine sichtbare Analogie zwischen Jugendtheologie und Digitalisierung. Ursprünglich ist Identität keine religiöse Kategorie. Der Begriff kommt weder in der Bibel noch im Inventar der jüdisch-christlichen Theologie vor. Da die anthropologische Grundfrage: Wer bin ich? aber zu jenen Schlüsselfragen menschlichen Lebens gehört, die immer wieder den Bereich des Religiösen berühren, liegt die religiöse Dimension des Identitätsthemas auf der Hand: Theologisch gesprochen geschieht Identitätsbildung durch die Beziehung zu Gott. Theologie reflektiert insofern nicht nur über Identität, sondern denkt gleichzeitig über den Ermöglichungsgrund von Identitätsbildung nach.25 Wenn sich in diesem Rahmen bei Jugendlichen und jungen Erwachse-

22 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer: Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 49. 23 Vgl. Pirker, Repräsentanz, 34. 24 Vgl. Heiner Keupp u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg 1999. 25 Vgl. Christian Cebulj, Der Glaube befreit von Zwängen. Identitätsbildendes Lernen mit der Bibel, in: SKZ 189 (2021) 182.

Cebulj / Bachmann / Schaberger Digitale Takeaway-Theologie: Das Blogprojekt 100 Sekunden Religion

nen Identität bildet, hat das mit dem persönlich als relevant empfundenen Wahrheitsgehalt von Religion zu tun. Die jugendtheologische Grundfrage im 100-Sekunden-Blogprojekt lautet daher an dieser Stelle nicht primär »Wo kommt Wahrheit ins Spiel?«, sondern »Wer bringt Wahrheit ins Spiel?«.26 Quer durch die im Hörlexikon abrufbaren Stichwörter rücken Begegnungen, Menschen und Orte in den Mittelpunkt, die Religion thematisieren, wahrnehmen und entdecken helfen. Ilona Nord hat das als Chance der persönlichen Kontextualisierung beschrieben: »Religiöse Bildungsprozesse sollten gegen eine sich verbreitende Haltung der Relativierung der Wahrheitsfrage Kompetenzen fördern, die dazu befähigen, eine Wahrheitsgewissheit zu kommunizieren, die die Einbettung ihrer Bekenntnishaftigkeit in den

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jeweiligen persönlichen Kontext herausarbeitet«.27 Viele der im Blogprojekt »100 Sekunden Religion« publizierten Stichwörter entsprechen diesem Kriterium. Daher ist zu hoffen, dass das Projekt eines digitalen theologischen Hörlexikons im 100-Sekunden-Format weiterhin eine intensive Rezeption erfährt und Jugendliche auf ihrem Weg der Suche nach ihrer religiösen Identität und der Konstruktion ihrer individuellen theologischen Wahrheit unterstützt. 26 Vgl. Pirker, Repräsentanz, 42. 27 Ilona Nord, Die Wahrheit hat einen einzigen Namen: ›Jesus Christus‹. Zum religionspädagogischen Umgang mit religiöser Wahrheit in einer mediatisierten Welt, in: Dies. / Thomas Schlag (Hg.), Renaissance religiöser Wahrheit. Thematisierungen und Deutungen in praktisch-theologischer Perspektive, Leipzig 2017, 222.

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Praxisbezogene Beiträge

Stefan Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen und jugendtheologische Schlussfolgerungen 1. Einleitung: Was sind ludische VRUmgebungen und was haben sie mit Weltanschauung zu tun?

Dass Glaube und religiöses Empfinden nicht von der Umwelt und ihren vielfältigen Einflüssen zu trennen sind, durch diese sogar erzeugt, verstärkt und anderweitig beeinflusst werden, wissen alle, die Menschen religiös anleiten oder für sie lehren: Prediger, Vorbeter und Theologen aller Religionen. In zunehmendem Maße rücken Computerspiele in die theologische und religionspädagogische Perspektive. Überraschend daran ist vor allem, wie lange es gedauert hat, bis Kirchen und ihre Organisationen sich nicht alleine auf Warnungen beschränkten, sondern das Medium ernsthaft betrachteten und es in den Kontext anderer Formen der Vermittlung von Wissen, aber auch von Unterhaltung stellten – wie Bücher, Traktate, Flugschriften, Groschenhefte und ähnliches. Bevor ich mit meinen Ausführungen beginne, möchte ich kurz umreißen, was ich unter »ludischen VR-Umgebungen« verstehe: Unter Virtual Reality, das ist nichts Neues, erkennt man digitaltechnische Anwendungen und Verfahren, die visuelle, auditive und haptische Erfahrungen bündeln, sodass ein möglichst realistischer Eindruck entsteht von Landschaften, Werkzeugen etc., die

durch Computer erzeugt werden und vermittels desselben beeinflusst werden können, indem Anwenderinnen und Anwender Handlungen mit Joysticks ausführen oder, mit einer VR-Brille auf dem Kopf, durch 360 Grad-Umgebungen wandern. »Ludus« bzw. »Ludologie« meint die akademische Beschäftigung mit Unterhaltungsprozessen, vulgo dem Spielen. 2. Beziehungen zwischen technischem Medium und persönlicher Weltanschauung

Ich möchte im Folgenden erläutern, wie Technologie und Spiel sich mit Religion und Pädagogik in Beziehung setzen und warum Computerspiele, berechnete und berechenbare motivationsbasierte Realhandlungen und die daraus resultierenden Erlebnisse, keineswegs Gegensätze darstellen. Zu den ältesten Spielwerkzeugen der Menschheit gehören Würfel. Ihre Gestaltung und ihre Funktion sind bis heute gleichgeblieben, wenn auch die Form sich verändert hat. Die Würfel der Steinzeit hatten manchmal nur zwei Seiten, bestanden aus unterschiedlich rußgeschwärzten oder mit Erden kolorierten Wirbelknochen, waren pyramidenförmig mit vier Seiten im alten Ägypten oder verfügen

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

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Abb.: Historische Würfelvarianten (Piasecki)

heute über bis zu zwanzig Seiten für komplexere Rollenspiele. Das steinzeitliche Spiel mit rußgeschwärzten Knochen oder Rindenstücken erlaubte vielleicht nur begrenzte Spielmöglichkeiten und Mitspieler. Aber es enthob den Menschen für einen Moment seiner Lebenswirklichkeit und ihren Herausforderungen und Gefahren. Etwas anderes ergab sich ebenfalls: Der Zufall als Element der Überraschung und der Unterhaltung trat an das Lagerfeuer. Nicht die Art von Zufall, die lebensbedrohlich war wie der plötzliche Blitzschlag oder der hinter dem Busch hervorspringende Säbelzahntiger. Aber die Möglichkeit, durch das Spiel ein unvorhergesehenes Ereignis zu trennen von der Angst als Emotion und diese zu transformieren in Überraschung und Neugierde. Der Zufall war zwar nicht beherrschbar zu machen, aber ließ sich zähmen und dem eigenen Willen unter-

werfen. Alles, was in den Regelsystemen menschlicher Existenz risikofrei wiederholt werden kann, mindert Angst, macht Zukunft planbarer und erlaubt und ermöglicht überhaupt erst die Wissenschaft. Mit der Entdeckung des Zufalls und dem Wunsch seiner Zähmung verbunden war daher die Notwendigkeit von Erklärung und Überprüfung zur Sicherstellung von Wiederholbarkeit, die Struktur, auch die Spielanleitung. Der Tierknochen der Steinzeit (oben links) war also nichts anderes als ein gegenständlicher Zufallsgenerator, noch kein elektronischer (oben rechts). Ab diesem Punkt führten die Wege von Mechanismen des unterhaltsamen Zeitvertreibs sowohl in die Wissenschaft, wie auch in die Transzendenz.

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Praxisbezogene Beiträge

Abb.: Die kontrollierte Generierung von Zufallsereignissen ist die Grundlage von Ludus, Transcedentia und Scientia (Piasecki)

Der Zufall, erzeugt und gerahmt durch Hilfswerkzeuge wie Würfel oder Knochen, war auch Kernelement frühen Schamanentums oder der Orakel. Ganz gleich, ob die Wahrsagerei aus Fischgedärmen, dem Wurf von Knochen oder aus dem Kaffeesatz erfolgte: Wahrsagerei ist bis heute an geregelten Rahmen und physische Objekte wie Kristallkugeln oder Lebenslinien gebunden, wenn sie nicht ihre behauptete Relevanz verlieren will. Diese Einführung war notwendig, um zu verdeutlichen, wie nahe Zufall, Spiel, Kultur und Religion beieinander liegen. 3. Neugierde, Zufall, Unterhaltung, Regelwerke und gesellschaftliche Entwicklung

Mit dem Spiel als Unterhaltungsbestandteil des Lebens und Gegenstand sozialer Prozesse zwischen mitspielenden Einzel-

personen oder Gruppen wurden diese ebenfalls zum Gegenstand von Spielen oder boten Anlässe oder lieferten Anknüpfungspunkte. Das Spiel zum Zeitvertreib wurde ergänzt durch das Spiel um Gegenstände und auch das Nachspielen von Heldensagen, fiktionalen wie auch non-fiktionalen Stoffen. Marilyn Yalom1 fiel auf, dass bis zum 10. Jh. im Schach keine weibliche Figur vorhanden war. Dann hatte sie zunächst kaum Kraft, konnte nur ein Feld weit gehen. Erst später stieg sie auf zur Hauptfigur des Spiels, zeitgleich mit einer Reihe mächtiger Königinnen der Realwelt, die in Europa Regentschaften übernahmen.2 Hatte das vielleicht auch damit zu tun, dass Frauen ebenfalls sehr erfolgreich Klöster gründeten und betrieben als frü1 Yalom 2004 in: Mary Flanagan, Critical Play. Radical Game Design, Cambridge 2009. 2 A.a.O., 108.

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

he Form der Emanzipation und sie damit im weltlichen und geistlichen Machtgefüge vernehmbar wurden? Jahrhunderte später, längst prägten starke, kreative und bewundernswerte Frauenfiguren Romane, Bühnenstücke, frühe Tonaufnahmen und den Film, machte der Erfolg des Spiels »Tomb Raider« Frauen wie Lara Croft zu selbstverständlichen Figuren in Spielen mit Heldencharakter.

Abb.: Tomb Raider (Eidos 1996). Eine Heldin für eine vornehmlich männliche Zielgruppe (Piasecki)

Hübsche Frauen als Staffage gab es auch vorher, doch hier ist auch der männliche Spieler Lara, er begleitet sie nicht nur. Er führt und steuert und beschützt sie, denn sie ist sein Alter Ego im Raum der Virtualität, verlängert dessen reale Existenz in den Bereich der virtuellen Fiktion. Veränderungen in Spielen zeigen also noch immer auch Entwicklungen der kulturellen Werte einer Gesellschaft. Neugierde und Entdeckungsdrang, der Wille zu beherrschen und zu unterwerfen – aber auch zu formen und zu gestalten, Herkunft zu verstehen und

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Zukunft zu gestalten, Träume zu realisieren, sind feste Bestandteile menschlichen Wirkens und nicht immer logisch zu erklären, sondern manchmal nur emotional, psychisch oder theologisch zu ergründen. Hier findet sich der Schnittpunkt zwischen Theologie, Natur- und Unterhaltungswissenschaften wie der Game Studies. Die erste populärwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verfahren der Virtual Reality findet sich in einer Kurzgeschichte von Stanley Weinbaum aus dem Jahr 1935.3 Frühe technische Versuche, künstliche Welten tatsächlich sichtbar und begehbar zu machen, gehen bis in die 1960er Jahre zurück.4 Meist erschöpften sich die Versuche darin, Attraktionsgeräte wie Morton Heiligs »Sensorama« (1962) aufzustellen, die gegen Geld ein kurzweiliges Eintauchen in die angepriesene »Virtualität« erlaubten. Dieser Befund ist keineswegs despektierlich gemeint, denn auch das Mutoskop von Coleman Sellers (1861) ging dem Bewegtfilm ebenfalls nur fünfunddreißig Jahre voraus und an der kulturell, identitär und ökonomisch prägenden Kraft der Filmindustrie besteht heute kein Zweifel mehr. VR verließ den Bereich der Groschenunterhaltung und wurde zum Mainstreamthema mit dem Film »Tron« aus dem Jahr 1982, der die Reise in einen Computer abbildete. Seitdem existiert eine plastische und »normierte« Vorstellung von dem, was mit »VR« gemeint ist. 3 Vgl. Stefan Piasecki, Open minds and virtual worlds: VR mediated content and its influence on religious beliefs, in: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet, Vol. 13 (2018). 4 Vgl. Howard Rheingold, Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace, Reinbek 1992, 69ff.

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Praxisbezogene Beiträge

Abb.: von links nach rechts: Mutoskop 1861, Sensorama 1962, Tron (Film, 1982), Nintendo Power Glove 1989.

Wir erkennen hier eine Beeinflussung von Realität durch Fiktion und deren Rückwirkung auf die Realität, gleichzeitig aber auch die Prägung von Weltbildern. Während dieser Vorgang in der Geschichte vielfach zu beobachten war, muss heute jedoch eine zunehmende Geschwindigkeit mit teilweiser Ver-

schmelzung der Prozesse konstatiert werden. Zu dieser Verschmelzung gehören nicht nur Technologien der Visualisierung und Information auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen, sondern auch des Wissens und damit die Anreicherung faktischen Wissens mit fiktionalen Elementen.

Abb.: Vom Mutoskop über Sensorama bis zu Virtual und Augmented Reality. Technologie und Fiktionalität inspirierten und bedingten immer wieder einander bis zum heutigen Zustand der nahenden Verschmelzung (Piasecki).

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

Solche Weltbilder, Weltanschauungen, Weltbewusstsein eines jeweiligen Zeitalters, die sich in Spielen manifestieren, spiegeln auch die Fragen und Themen ihrer Zeit in die Zukunft. Aktuell sind dies globale Überwachung, Identität, Cyberbetrug etc., wie sie in der Spielserie Watch Dogs (Ubisoft, seit 2014) als spielerische Gegenstände und Sujets erörtert werden. Spielen ist auch Zukunftsbewältigung und damit der individuellen Entwicklung zuträglich. Geocaching als moderne Schnitzeljagd oder Pokemon Gó (Nintendo 2016) als AR-Anwendung lehren nicht zuletzt spielerisch die Anwendung neuer Technologien und adaptieren sie für die Gestaltung von Gesellschaft. Der Mensch wird zur Schnittstelle, zum Prozessor mit angeschlossenem Speichersystem, von dem persönliche Daten jederzeit abgerufen werden können. Menschen haben sich längst daran gewöhnt, dass virtuelle Inhalte zusätzlich zu ihrer Realwahrnehmung eingeblendet werden. Die Smartwatch berichtet über den Gesundheitszustand, der Blick auf ein Display ergänzt oder ersetzt das Hineinhorchen in Geist und Fleisch. Im Spiel und per Google Maps AR (2019) wartet jederzeit die Hilfe bei der Wegesuche, Onlinekonten und Geldautomaten ermöglichen den situativen Kauf jeder Ware.5 Die Bitte um Beistand an unsichtbare Mächte hat daher auf der Plattform einen Adressaten bekommen. Ist das noch oder schon Transzendenz? Das biologische Individuum indes bleibt verwundbar, ist nach wie vor endlich und deshalb ängstlich. In dieser multioptionalen Welt finden sich neue Möglichkeiten des Umgangs mit Kontingenz in der Virtualität, wo sich soziale emergente Netzwerke eröffnen.

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4. Sehen – Fühlen – Machen: Erfahren als pädagogisches Konzept

Die Aneignung und Transformation von Welt durch Ritual und Rollenspiel fand sich schon vor Jahrzehnten in den Gedanken von Huizinga oder Caillois.6 In der Soziologie werden auch die Raumkonzepte von Leontjew7 oder Löw8 diskutiert: Der Mensch eignet sich die Welt an durch Veränderung und Symbolkonstruktion. Beides bedingt einander. Die Veränderung von Verhalten und Raum (z.B. einen Bereich abgrenzen) sichert den Lebensraum, Symbole (z.B. Warnzeichen) transportieren die Ansprüche gegenüber anderen Menschen. Rituale bekräftigen sie, ihre Wiederholung tradiert sie an nachfolgende Generationen (z.B. Fahnenappelle). Auch Spiele tragen dazu bei, wie bereits erkannt. Roman Winter 9 versteht auch die Digitalisierung als einen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozess, dem eine ganz neue kulturelle Dynamik entspringe. Und so bilanziert er ein »Durchweben« des lebensweltlichen Denkens, Fühlens und Wahrnehmens von Wirklichkeit und auch des christlichen Glaubens durch das Internet und seine Technologien.10 Dieses 5 Timothy J. Welsch, Mixed Realism: Videogames and the Violence of Fiction, Minneapolis 2016, 8. 6 Vgl. Stefan Piasecki, Credere et Ludere, Baden-Baden 2017, 141–150. 7 Alexejew Nikolajew Leontjew, Probleme der Entwicklung des Psychischen, Frankfurt a.M. 1973, 281. 8 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2009, 100f. 9 Roman Winter, Cybertheologie. Theologische Positionierungen angesichts digitaler Herausforderungen, in: NZSTh 2020; 62(4): 466–483. 10 A.a.O., 469.

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Praxisbezogene Beiträge

stelle neue Anfragen an die Theologie. Das ist zwar korrekt, aber es fordert sie vor allem heraus. Und diese Herausforderung ist nicht vergleichbar mit jener vergangener Jahrhunderte, als es um den Stummfilm oder Schundliteratur ging. Diese waren neben existierende Sozialisationsagenten und gesellschaftliche Großerzählungen getreten und griffen publikumswirksam zunächst deren Motive auf (siehe die Themenbreite der frühen Stummfilme), die weithin bekannt waren und damit nicht umständlich erklärt werden mussten (»Der Golem«, »Die Nibelungen« etc.). Mit dem Fortschreiten von Globalisierung, Digitalisierung, Multikulturalisierung und dem Füllen letzter Leerstellen des Wissens mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen haben sich Bedingungen und Bedürfnisse für Erzählungen verändert. Religion als ausschmückendes, erklärendes, verbindendes und bisweilen versöhnendes Element gesellschaftlicher Entwicklung wird nicht mehr benötigt, auch nicht mehr gewollt.11 Längst geht es um die Frage, ob man Religion überhaupt noch braucht und wer den Raum der virtuellen Transzendenz beherrscht. Denn mittlerweile haben fiktionale Großerzählungen der Postmoderne frühere Prägemuster überlagert und werden absichtlich zur gesellschaftlichen Steuerung eingesetzt. Neu ist dabei aber vor allem die Vielfalt der Einwirkungsmöglichkeiten von Inhalten auf Wissen und Verstand, nicht das Faktum an sich. Ludische VR-Umgebungen sind, wie wir sehen werden, Orte pädagogischer Konzepte und gleichzeitig Schauplätze engagierter Lernprozesse. Wie könnten sie es nicht sein? Gee schreibt, dass Men-

schen grundsätzlich neue Situationen auf der Basis zuvor erlebter und bewältigter Erfahrungen bewerten und verarbeiten. Bisweilen könnten Erfahrungen wiederholt angewandt werden, viel öfter seien sie aber auf die neue Lage zu adaptieren und werden so im Erfolgsfalle Strategien für die Zukunft.12 Arena13 verwendete Spiele zur Wissensvermittlung und teilte College-Studenten in Gruppen ein, um Wissen zum Zweiten Weltkrieg zu vermitteln. Eine Gruppe spielte Civilization IV, eine Call of Duty 2, eine dritte gar kein Spiel. Die Abfrage des Vorwissens zum Thema zeigte vor der nachfolgenden Vorlesung keine Unterschiede beider Gruppen.

11 Hier sei eine Anmerkung gestattet, für die ausführlich zu diskutieren jedoch nicht ausreichend Raum zur Verfügung steht. Gemeint ist, dass noch vor wenigen Jahrzehnten gesamtgesellschaftlich Großnarrative intakt waren und somit Andeutungen oder symbolhafte Bilder in allen gesellschaftlichen Milieus verstanden wurden. Dies ist nicht länger der Fall und wird von maßgeblichen Wortführern in Politik, Kirchen oder Medien nicht mehr verlangt oder vorausgesetzt und auch nicht propagiert. Auf gesellschaftlicher Ebene jedoch definieren sich kulturelle, soziale oder identitäre Gruppen nach wie vor auch religiös und diese Weltanschauung leben sie natürlich in und mit Medien aus, legen Spuren, suchen welche, finden sie. Religiöse Motive als bekannt vorausgesetzte Symbolträger zu verwenden ist heute jedoch seltener festzustellen, wie ein Blick auf die religiöse Symbolsprache des Films »Flatliners« (1990) und der gleichnamigen Neuverfilmung von 2017 zeigt. 12 James Paul Gee, What Video Games have to teach us about Learning and Literacy, New York 2007, 72. 13 Dylan Arena, Commercial Video Games as Preparation for Future Learning. Dissertation. School of Education, Stanford University 2012.

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

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Abb.: Geschichtliches Wissen analog und digital / ludisch erworben (Lehrbuch – Civilization 4 – Piasecki)

Die Spiele alleine haben den Spielern also zunächst nichts beigebracht. Erst danach folgten die inhaltlichen Vorlesungen und ein zweiter Test. Hierbei wurde deutlich, dass Spielergruppen signifikant bessere Ergebnisse auswiesen als die Nichtspielergruppe. Die Spiele hatten demnach die Teilnehmenden offenkundig für die Vorlesung vorbereitet bzw. ihre Aufmerksamkeit stärker fokussiert, als wenn es keine solche Vorbereitung gegeben hätte.14 Spiele können demnach nicht notwendig das Wissen schaffen, aber sehr wohl die Wissensaufnahme steuern und flankieren. Sie bereiten Wahrnehmung vor und ermöglichen eine nachträgliche Einordnung von Wissen durch aktive Adaption. Allerdings muss auch kritisch gefragt werden: Wenn man bedenkt, wieviel Zeit das Erlernen und Erspielen eines Spiels verlangt, wäre es dann zur Erzielung des gleichen Ergebnisses nicht ökonomischer, wenn eine Gruppe eine Dokumentation und die andere einen Spielfilm gesehen hätte? Denn beides wäre gleichzeitig in einer Doppelstunde zu erledigen gewesen.15 Andererseits lässt das Ergebnis auf die vielfach unkontrolliert und unkom-

mentiert ablaufenden Lernprozesse durch Games abseits jeglicher Bildungssettings schließen, wenn Spielende sich eben Wochen und Monaten ludischen Inhalten aussetzen. Gleichwohl sind Spiele immer reduziert gegenüber der Fülle von realen Faktoren – aber das sind Lehrbücher auch. 14 Vgl. a.a.O., 73. 15 Auch hier sei angemerkt, dass Filme und Spiele selbstverständlich unterschiedliche didaktische Qualitäten aufweisen, ihre eigenen Vor- und Nachteile haben. Die Erfahrung des Selbsterlebens durch ein Spiel ist durch einen Film nicht zu erzeugen. Selbstgespieltes bleibt anders im Gedächtnis, Spiele sind zielgruppenaffiner als Filme. Nachteile sind aber der mögliche Zeitaufwand und, aufgrund der längeren Beschäftigung mit ihnen, die Gefahr, sich nachhaltig falsches Wissen anzueignen, bspw. die komplexen Hintergründe eines Konfliktes nicht zu verstehen oder selbst simplifizierende Lösungsstrategien zu entwickeln. Außerdem altern Spiele deutlich schneller als Filme, sind möglicherweise schon mit der nächsten Betriebssystemversion nicht mehr kompatibel. Eine denkbare Annäherung könnte jedoch durch den Einsatz von Let’sPlay-Videos erfolgen, die eine Lehrkraft zuvor sichtet und bewertet und zielgerichtet in den Unterricht integriert.

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Diese sind in ihren Informationen jedoch überprüfbar und die Faktenvermittlung ist replizierbar. Ein Kapitel kann erneut aufgeschlagen werden. Eine Spielsituation jedoch ist nicht einfach wiederherstellbar, der emotionale Kontext nicht erneut durchlebbar. 5. Virtualisierte Pädagogik – Orientierungen und Verirrungen

VR und AR bieten in der Religionsvermittlung eine Reihe von Vorteilen. Entweder mit regelrechten VR-Brillen oder den eigenen Smartphones können Orte aufgesucht und kann religiösen Praktiken beigewohnt werden, einerlei, ob sie einmal bestanden haben oder gar noch existieren. Ich führe bei allen meinen Reisen stets eine 360-Grad-Kamera mit mir und beginne meine Seminare gerne mit einer Einführung in VR-Spiele und VR-Videos, bei denen wir mit einer VRBrille zum Beispiel eine Himalaya-Expedition unternehmen, ein Flüchtlingslager im Gaza-Streifen besuchen, an einem Voodoo-Ritual teilnehmen oder vor den Pyramiden von Gizeh herumspazieren. Die Verwendung von VR-Bildern oder auch die Erzeugung durch Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende im Religionsunterricht ist es, die sehr häufig empfohlen wird. Wer sich hier auf die Suche macht, entdeckt aber schnell, dass praktische evaluierte Erfahrungen oder Hintergrundwissen kaum vorhanden sind. So geht ein Podcast zum Thema »VR und Religion« der HSB Akademie in Leipzig16 nicht über Allgemeinplätze hinaus und zeigt nicht einmal Links oder nennt Namen von Apps. Ein Artikel auf evangelisch.de verharrt bei der Emp-

fehlung des Einsatzes von 360-GradBildern. Die Webseite leaschulz.de (Autorin: »anonyme Studentin der Europa-Universität Flensburg«) schlagzeilt »Virtual Reality im Religionsunterricht« mit VÖ-Datum 17.9.2020. Sie erklärt die Technologie, warnt vor dem Phänomen der Motion Sickness und kommt dann in einem kleinen Absatz zum Schluss auf das eigentliche Thema (Rechtschreibfehler im Original): »Auch können die Schüler*innen mithilfe der VR-Technologie die fernen Wüsten des Abendlandes besuchen, in Darstellungen biblischer Geschichten abtauchen und audiovisuelle Rundgänge durch virtuelle Museen erleben. Die Software »Religiopolis – Weltreligionen erleben« eignet sich, um einen solchen performativen Religionsunterricht mit VR-Brillen zu gestalten. Die Einsatzmöglichkeiten von VR können eine bereichernde Wirkung auf den Religionsunterricht haben, da die Technologie das verstaubte Image der Glaubenslehre ins 21. Jahrhundert holt.«17

Die fernen Wüsten des Abendlandes sind … man weiß es nicht genau. Meint sie die einzige europäische Wüste im andalusischen Tabernas? Oder ist das Morgenland gemeint? Welches? Die Levante? Nordafrika? Persien? Und kann das Programm »Religiopolis« aus dem Jahr 2004 ernsthaft ein »verstaubtes Image« aufpolieren? Andere Webseiten empfehlen unter dem Suchbegriff »Religion und 16 HSB 2021: https://www.ar-vr-manager.de/ augmented-virtual-reality-religion/ [Zugriff: 8.6.2021]. 17 Schulz 2021: https://leaschulz.com/wikidiklusion/virtual-reality-religion/ [Zugriff: 8.6.2021].

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

VR« Bibelquizzes und weiteres. Der Informationsgehalt des Textes ist dürftig, er verdeutlicht eher die riesige Lücke im Angebot und das fehlende Verständnis vieler, die darüber schreiben, die zwar allzu häufig Religion und VR irgendwie wichtig finden, aber keine Ahnung haben. Wer das Desideratum beheben will, müsste sich mit Spieleherstellern in Verbindung setzen. Vielleicht mit Ubisoft, denn der französische Hersteller bewirbt die Spiele seiner ›Assassin’s Creed‹-Reihe mit dem Slogan »History is our Playground«. Deren Schauplätze wurden seit dem Beginn der Serie zunehmend komplexer und realistischer ausgestaltet. Auch Historiker gestehen heute zu18, dass hierbei ein Realismuslevel erreicht wur-

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de, der in der Tat Bewegungen und ein Eintauchen in real erscheinende historische Landschaften erlaubt.19 Die seriöse Archäologie verwendet ebenfalls schon lange VR-Technologien.20 Nach Angaben der Firma wurde festgestellt, dass das im alten Ägypten spielende »Assassins Creed: Origins« in Lehrkontexten eingesetzt wird. Deshalb wurde eine Sonderversion »Discovery Tour« verfügbar gemacht, eine Art virtuelles Museum, durch das man laufen und wo man sich ohne Bedrohung alles ansehen kann.21 Es gibt geführte Touren nach Themenschwerpunkten. Historiker kritisieren allerdings, dass es sich lediglich um einen virtuellen Schaukasten, ein Diorama handele.22

Abb.: Der Spielehersteller Ubisoft erstellt spielerische Settings nach historischen Vorgaben

18 Archäoinformatik Köln 2019: https://www. youtube.com/watch?v=hKmY_TKALZ0 [Zugriff: 9.6.2021]. 19 Aris Politopoulos / Angus A.A. Mol / H.J. Boom Krijn / Csilla E. Ariese, »History is our Playground«: Action and Authenticity in Assassin’s Creed: Odyssey. In: Advances in Archaeological Practice. 7(3), 2019, 320.

20 Stefan Piasecki, Open minds and virtual worlds: VR mediated content and its influence on religious beliefs, in: Online – Heidelberg Journal of Religions on the Internet, Vol. 13 (2018). 21 Ubisoft 2021: https://www.ubisoft.com/de-de/ game/assassins-creed/discovery-tour [Zugriff: 5.6.2021]. 22 Wie Anm. 19, 319.

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Praxisbezogene Beiträge

Hinzu kommt, dass Ubisoft keine Daten vorlegt hinsichtlich der Nutzungsfrequenzen und des Spielerverhaltens in dieser Museumsversion. Lernt man überhaupt etwas? Dass Spielehersteller und insbesondere Ubisoft diese erheben, ist bekannt.23 Bei aller Kritik weisen Discovery Tours aber in eine richtige Richtung. Sie bieten Realismus, sie akzeptieren ihre Kundenzielgruppen als lernende Individuen und die Firma betont eine eigene Form gesellschaftlicher Verantwortung, indem sie auch Lehrmaterial bereitstellt.24 Dennoch, und das ist bedeutend: Die Spiele versprechen Faktizität, wirken aber quasi kontrafaktisch, wenn sie Fiktion

mit Fakten vermischen und zu Spekulationen führen. In verschiedenen studentischen Referaten über historische Attentate und Formen von religiösem Extremismus ließ sich durch den Autoren Material identifizieren, das aus diesen Assassin’s Creed Spielen stammt. Kein einziger Student hatte sich bei der Ausführung der historischen Hintergründe mit den etymologischen Grundlagen des Begriffes Assassine auseinandergesetzt, der sich auf das arabische Hasisiyyun zurückführen lässt. Alle sprachen es Englisch aus, kaum jemand konnte Angaben über den kulturhistorischen Hintergrund machen. Diese Beobachtung führt zum nächsten Schritt.

Abb.: Durch spielerische Aneignung erscheinen auch fiktionale Elemente glaubwürdig (Piasecki)

23 Mona Erfani Joorabchi / Magy Seif El-Nasr, Measuring the Impact of Knowledge Gained from Playing FPS and RPG Games on Gameplay Performance, in: Junia Anacleto / Sidney Fels / Nicholas Graham / Bill Kapralos / Magy Seif El-Nasr / Kevin Stanley (Hg.), Entertainment Computing – ICEC 2011. 10th International Conference, ICEC 2011, Vancouver, Canada, October 2011, Proceedings, Heidelberg/

Dordrecht/London/New York 2011, 300ff; Tobias Mahlmann, Modelling and Generation Strategy Games Mechanics. Dissertation. Kopenhagen 2013, 142; vgl. auch Stefan Piasecki, Credere et Ludere, Baden-Baden 2017, 404–420. 24 Ubisoft 2021: https://www.ubisoft.com/de-de/ game/assassins-creed/discovery-tour [Zugriff: 27.5.2021].

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

6. Games als Mittel zur Weltbilderzeugung

Das Spiel überwältigt die Sinne durch Immersion (oder »spatial presence«), unter der man räumliches und mentales wie emotionales Eintauchen versteht, das den realen Raum zurückweichen lässt. Es suspendiert den Zweifel (»suspending disbelief«).25 Die inner- und außerspielerischen Ereignisse amalgamieren im Bewusstsein zu realen Erlebnissen – und das sind sie ja auch. Spielerleben ist keine Illusion. Einige Forschungsprojekte der letzten Jahre haben ermittelt, wie leicht sich sogar persönlichste Erinnerungen erzeugen oder verändern lassen. Die US-Armee therapiert traumabelastete Kriegsheimkehrer mit VR-Simulationen ihrer Erlebnisse.26 Eine Studie der City University in London von 201827 befragte 6641 Personen über ihre frühesten Lebenserinnerungen. 40% nannten Begebenheiten aus den ersten beiden Lebensjahren, 14% sogar aus dem ersten Jahr. Bemerkenswert: der Hippocampus ist bis zum Alter von 3 Jahren noch gar nicht fähig, dauerhaft Erinnerungen zu speichern. Eine Erklärung dafür ist, dass sich bei den Befragten Fragmente tatsächlicher, aber späterer, Ereignisse mit Erzählungen, Bildern oder Familienfilmen verbinden. Das Gedächtnis lässt sich bewusst verändern, durch Individuen selbst und auch durch Fremde. Was in der Psychotherapie gerade erwünscht ist, kann an anderer Stelle erhebliche Folgen haben. Durch Suggestivfragen beeinflusste Zeugen können sich an Straftaten erinnern, die es gar nicht gab. Hellmann hat vor einigen Jahren ein Experiment durchgeführt.28 208 Teilnehmer sahen eine ton-

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lose Filmsequenz, in der eine Frau vier Männer tötet. Ein Teil der Probanden bekam die Information, dass diese Morde kaltblütig aus Hass begangen wurden, die anderen erfuhren, dass sie aus Notwehr gehandelt habe. Je nach Vorinformationen erinnerten sich die Teilnehmer an unterschiedliche Details und fügten bisweilen erfundene hinzu. Jene, die die Morde für eine Verzweiflungstat hielten, nannten gar entlastende Motive, die aus den Filmen nicht hervorgingen. Nur der Vollständigkeit halber sei auf den ersten islamistischen Attentäter in Deutschland Arid Uka verwiesen29, der, eigenradikalisiert, 2011 zwei Menschen aufgrund der Eindrücke aus einem Spielfilmausschnitt umgebracht hatte. Eine aktuelle Studie der Uni Hagen und der Uni Mainz29 ging ähnlich vor wie die Londoner. Sie hatten für 52 Versuchspersonen fiktive, aber plausible Geschichten aus der Kindheit erfunden und mit tatsächlichen Ereignissen aus deren Leben verbunden. Durch die Einbindung der Eltern, die die erfundenen Fak26 Quelle: ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/ PMC4601548, Abruf 10.6.2021. Luther Elliott / Andrew Golub / Matthew Price / Alexander Bennett, More than Just a Game? Combat-Themed Gaming Among Recent Veterans with Posttraumatic Stress Disorder. Games for Health Journal, 2015, 4 (4), 271–277. 27 Shazia Akhtar Akhtar / Lucy V. Justice / Catriona M. Morrison, Fictional First Memories. Psychological Science, in: Volume: 29, 2018, issue: 10: 1612–1619. 28 Deborah F. Hellmann / Amina Memon, Attribution of crime motives biases eyewitnesses’ memory and sentencing decisions, in: Psychology, Crime & Law, Volume 22, 2016 – Issue 10. 29 Aileen Oeberst / Merle Madita Wachendörfer / Roland Imhoff / Hartmut Blank, Rich false memories of autobiographical events can be reversed, in: PNAS March 30, 2021 118 (13).

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Praxisbezogene Beiträge

ten bestätigten, konnten sie erzielen, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer sich an Dinge erinnerte, die nie stattgefunden hatten. Diese fiktiven Erinnerungen wurden nachher wieder gelöscht, wobei sich herausstellte, dass dieser Vorgang deutlich schwieriger und langwieriger war als die Erzeugung selbst. Ein Jahr später hatten 74% die falschen Erinnerungen vergessen oder dauerhaft als fiktiv gespeichert. 26% indes nicht! 7. Jugendtheologische und pädagogische Schlussfolgerungen

Das traditionelle Verständnis von »Lernen« entspringt noch einem kategorisierten Denksystem, das auf Grundlagen von Bildungsprozessen geschärft wurde, die Jahrzehnte alt sind und deren Wurzeln Jahrhunderte zurück reichen. Sie basieren vor allem auf linear verstandenen Lernvorgängen.30 Hier finden sich die Grenzen traditioneller begrifflicher Festlegungen und die Wurzeln von »Angstblockaden« in Bezug auf Veränderungen und den Einsatz von Technologien, die es aufzubrechen gilt. Auf Basis tradierter und meistens nicht länger hinterfragter Wissensbestände wurden bislang Fachund Themenstrukturen vermittelt: Lernende lernten das zu Lernende weil sie dies zu lernen hatten. Es gab in Lehrkontexten relativ fest definierte Anfangspunkte und Zielerreichungsvorgaben, die dann vermittels Prüfungen gesichert festgestellt wurden und werden. Diese geläufige Art kanonisierter Bildung unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des handlungs- und erprobungsorientierten Lernens, wie es in vielen praktischen Bereichen wie etwa der

Landwirtschaft oder auch in ruraleren Gesellschaften üblich war und ist. Dort findet sich auch die »Erzählung« als Narration von Tradition und Wertesystem. Geschichten im Kreis der Familie oder des Stammes bildeten und schärften das Bewusstsein für spezifische Werte und die sozialen »Do’s and Don’t’s«. Die Vermittlung im Gruppenverbund von Stammesgesellschaften war bereits interaktiv und gestaltete die gemeinsame Fortschreibung wie auch die Adaption und Inklusion neuer Inhalte – die allen Mitgliedern bereits bekannte Grundgeschichte wurde in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Beteiligten und vor allem der Autoritäten verändert und zukunftsfähig gemacht. Die zunehmende Größe von sozialen Gruppen bedingte eine höhere Verbindlichkeit von Regeln und ihren historischen Begründungen – wie auch religiöser und kultureller Untermauerung. Gleichzeitig wurden Schriften notwendig, die diese, wie auch wirtschaftliche Umstände und Daten, fixierten und damit einer verschriftlichten Narration eine bis heute andauernde und dominierende Relevanz zumaßen. Große Gesellschaften waren nicht mehr allein durch reines Hörensagen zu verwalten, zu beherrschen und zu kontrollieren – aber auch nicht mehr zu entertainen. Aus der gemeinsam vereinbarten Bildung am Lagerfeuer31 und am »Bild30 Clark Aldrich, The Complete Guide to Simulations and Serious Games. How the Most Valuable Content Will Be Created in the Age Beyong Gutenberg to Google, San Francisco 2009, 243f. 31 Gabe Zichermann / Christopher Cunningham, Gamification by Design. Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps., Sebastopol 2011, xxix.

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

schirm« der Höhlenwände erwuchsen ebenso kodifizierte Rechtsvorschriften wie auch Inszenierungen klassischer antiker Dramen. Wenn heute Verfahren wie »Gamification« individualisierte, unterhaltsame, wenngleich auch technisch unterstützte, Lernumgebungen gestalten und die Lernenden zum »Mitmachen« und »selbst erproben« einladen, wenn Agieren und Probieren wieder Spaß machen dürfen, kehrt Bildung lediglich zurück zu den traditionellen Formen von Wissensvermittlung. Dass Lernsoftware lange den Pädagogen gefallen musste (und daher optisch wie inhaltlich langweilig war), nicht aber den Zielgruppen, die sie eigentlich nutzen sollten, erscheint so als Übergangsphase.32 Gesellschaftlich kehren Spiele zurück von der Peripherie des Lebens als Freizeitbeschäftigung neben oder nach den wichtigen Tätigkeiten33 in das Zentrum des Alltags. Ihre Mechanismen tauchen heute außerhalb abgegrenzter Spielumgebungen auf, sie prägen Alltagsprozesse und verbinden ihre Nutzenden durch soziale Netzwerke miteinander. Bezugnehmend auf die zu Beginn ausgeführten historischen und ruralen Lebensbedingungen könnte anerkannt werden, dass selbst das Spiel in seiner modernen technischen Form abermals die traditionelle Rolle des anschaulichen und kommunikativen Wissensvermittlers einnimmt – wie es sie in der Stammesgesellschaft innehatte; nun eben erweitert auf die digitale Stammesgesellschaft, wie sie sich u.a. in sozialen Netzwerken organisiert. Spiele, Inhalte und Motivations- sowie Gratifikationsmechanismen sind nicht mehr separierbar vom Ernst des Lebens und sie sind auch nicht

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mehr begrenzt auf nur wenige, um ein tatsächliches Spielbrett versammelte Mitspielende. Lerneffekte ereignen sich immer stärker in enger Verbindung auch mit Spannungs- und Spaßmomenten.34 E-Learning, Gamification oder vernetzte Lernumgebungen sind technische Ergänzungen klassischer Pädagogik. Es obliegt der Medienpädagogik, sie zu erläutern und zu erklären, die Nutzenden zu eigenbestimmtem Handeln zu ermächtigen und der Mediendidaktik, sie zielgerichtet in Lehrräumen nutz- und dienstbar anzubieten. Mediennutzende sind keineswegs den Medien und ihren vermittelten Inhalten ausgeliefert, vielmehr handelt es sich bei ihnen um »aktiv realitätsverarbeitende Subjekte«, die Medieninhalte sowohl als »Spiegel« zur Selbstvergewisserung wie auch als »Spielmaterial« für ihren individuellen Identitätsbaukasten nutzen. Hier bietet sich ein modernes Feld für die Religionspädagogik. Barthelmes spricht berechtigt von »Spiegel-Identitäten (lookingglass-selves)«.35 Die Frage ist also nicht etwa, was haben Religionspädagogen mit dem Medium zu tun, sondern was sollten sie mit diesem Medium zu tun haben? Schröder, der von vielschichtigen Wechselbeziehun32 Siehe Michael Waltemathe, Computer-Welten und Religion: Aspekte angemessenen Computergebrauchs in religiösen Lernprozessen, Hamburg 2011, 210ff. 33 Gabe Zichermann / Christopher Cunningham, Gamification by Design. Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps., Sebastopol 2011, iii. 34 A.a.O., 16f. 35 Jürgen Barthelmes / Ekkehard Sander, Medien in Familie und Peergroup. Vom Nutzen der Medien für 13- und 14jährige, München 1997, 318f; hierzu auch 1. Kor 13,12.

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Praxisbezogene Beiträge

gen zwischen Multimedia und Religion spricht, beklagt grundsätzlich das Fehlen von Meta-Theorien zur Medienreligion: »Sei es bedingt durch die relativ kleinteiligen, gegenstandsorientierten Themenstellungen, sei es bedingt durch die hermeneutische Brille der beteiligten Autoren«.36 Medienaneignungsprozesse und vor allem Mediendiskurse sind als soziales, gesellschaftliches Handeln zu verstehen, welches von strukturellen Bedingungen und Zusammenhängen nicht getrennt werden könne37; Medieninhalte und -figuren erhielten durch sie einen »subjektiven Sinn«.38 Auch religiöse Riten sind nicht zuletzt gesellschaftlich tradierte und geteilte Handlungsübereinkünfte (sie müssen befolgt und an sie muss geglaubt werden), wenn zumindest auch im Rahmen einer Konfession – sie haben daher einen sozialen Sinn und spiegeln sich im medialen Bild der Gesellschaft, wie sie von diesem auch beeinflusst werden. Individuen können heute eigenständig zwischen verschiedenen Weltentwürfen auswählen, diese anonym (Internet) ausprobieren, sie sogar wechseln39 und gemäß der eigenen Wünsche ihre Umwelt gestalten.40 Gleichzeitig dienen Medien als Gesprächsstoff und erlauben eine Abgrenzung von und gegenüber anderen durch eine aktive oder passive Wahrnehmung von Distanz.41 Die früher oft politisierten Subkulturen (Punks, Skins, Popper, Teds) finden ihre Entsprechung heute vielfach innerhalb gemeinsam geteilter oder abgelehnter Medienwelten (und Technologien).42 Diese Wechselwirkung verweist sowohl auf die Beeinflussung der Sozialisation durch Mediennutzung wie auch den umgekehrten Weg, die Medienwahl aufgrund von Sozialisationser-

fahrungen.43 Die Feststellung, dass Mediennutzung und Inhaltsinterpretation ein »interaktiver, konstruktiver und sozialer Prozess« sei44 weist die ältere Vermutung 36 Bernd Schröder, Multimedia und Religion, in: Rudolf Englert / Helga Kohler-Spiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer (Hg.), »Gott googeln? Multimedia und Religion«, Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) – Band 28 (2012), Neukirchen-Vluyn 2012, 227. 37 Christine Wijnen, Sinn, Unsinn und subjektiver Sinn der Mediennutzung. Zur Bedeutung von Medien für die Sozialisation Heranwachsender, in: Rudolf Englert / Helga KohlerSpiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer (Hg.), »Gott googeln? Multimedia und Religion«, Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) – Band 28 (2012), Neukirchen-Vluyn 2012, 55. 38 Ebd. 39 A.a.O., 52. 40 Bernd Schorb, Identität und Medien, in: Angela Tillmann / Sandra Fleischer / Kai-Uwe Hugger (Hg.), Handbuch Kinder und Medien, Wiesbaden 2014, 171. 41 Manfred Pirner, Grundzüge einer medienweltorientierten Religionsdidaktik, in: Württemberg e.V. / Fachverband evangelischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer in Baden e.V. / Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung bei Friedrich in Velber (Hg.): entwurf – Religionspädagogische Mitteilungen, Heft 1-2005, 4. 42 Christine Wijnen, Sinn, Unsinn und subjektiver Sinn der Mediennutzung. Zur Bedeutung von Medien für die Sozialisation Heranwachsender, in: Rudolf Englert / Helga KohlerSpiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer (Hg.), »Gott googeln? Multimedia und Religion«, Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) – Band 28 (2012), Neukirchen-Vluyn 2012, 54. 43 Hans-Dieter Kübler, Medienwirkungen versus Mediensozialisation, in: Ralf Vollbrecht / Claudia Wegener (Hrsg.), Handbuch Mediensozialisation, Wiesbaden 2010, 19. 44 Manfred Pirner, Religiöse Mediensozialisation, in: Rudolf Englert / Helga Kohler-Spiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer (Hg.), »Gott googeln? Multimedia und Religion«, Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) – Band 28 (2012), Neukirchen-Vluyn 2012, 68.

Piasecki Einflussvermutungen hinsichtlich ludischer VR-Umgebungen auf religiöse Überzeugungen …

der linear verlaufenden Medienwirkung zurück45; ausgewählt und interpretiert wird von den Rezipienten vielmehr, was individuell anschlussfähig ist und Verbindung zu den Peer-Kulturen schafft bzw. stärkt.46 Wenn im Religionsunterricht der Mensch im Mittelpunkt steht, seine Hoffnungen und Ängste, stehen so immer auch Medien im Zentrum des Interesses, denn viele der Hoffnungen und Befürchtungen von Menschen sind von Medien erzeugt oder zumindest stark beeinflusst. Genau diese Faktoren und Beobachtungen sind für die Religionspädagogik (und die Pädagogik allgemein) interessant, spannend und relevant. Im Rahmen dieses Beitrags konnte das weite Thema Virtualität im Kontext religiöser Überzeugungen nur angerissen und mit einigen Markierungen versehen werden. Simulationsspiele und VR-Filme können anschaulich machen, was ein unbewegtes Lehrbuch oder ein zweidimensionaler Film nicht vermögen. Sie können Vorstellung vermitteln, Verstehen fördern, Inspirationen bereiten. Als technisches Medium kann Virtualität als allgegenwärtig hingenommen und muss nicht geglaubt werden, um von ihr zu wissen. Der technische Rahmen verschleiert seine Präsenz nicht aktiv, doch er tritt in den Hintergrund, während das Erleben dominiert und die Sinne mit der Lösung einer Aufgabe beschäftigt werden. Was Spiele grundsätzlich können und bewirken, ist hinreichend durch die Forschung reflektiert worden. Jedes Spiel und jedes VR-Erlebnis, auch jenes ohne dezidierten Lernauftrag, lehrt. Spiele können ergänzen oder verfremden, sie erlauben das Betrachten historischer

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Situationen, das Verstehen sozialer Prozesse, das Einfühlen in reale und fiktive Personen; sie können die Wahrnehmung vorbereiten und persönliche Fähigkeiten schulen. Menschen konfrontieren sich darin permanent mit theologischen Themen, auch wenn sie vielleicht noch nie eine Kirche von innen gesehen haben. Das Aktivitätsuniversum Game absorbiert im Moment des Spielens derart viel Aufmerksamkeit, dass eine Beschäftigung und Bewältigung vermutlich in den meisten Fällen ausbleiben muss. VR und Spiele werden im Unterricht eingesetzt, aber so vereinzelt, wenig vernetzt, teilweise entfernt von der technischen Kompetenz der Zielgruppen, dass ihre Potenziale nicht ausgenutzt werden. Es fehlt ein zentrales überkonfessionelles Konzept. Es ist richtig, was Roman Winter sagt: Die meisten Forschungen zu cybertheologischen Fragen werden an der Peripherie betrieben. Das mache Theologie sprachunfähig, sagt Winter.47 Man kann einen Schritt weiter gehen. Diese Sprachunfähigkeit macht sie zunehmend sogar überflüssig, wie ihre Absenz bei 45 Uwe Sander / Friederike von Gross / Kai-Uwe Hugger (Hg.), Handbuch Medienpädagogik, Wiesbaden 2008, 316ff. 46 Jörg Herrmann / Kristin Merle / Jörg Metelmann, Popularreligion – Selbstauslegung im Prozess visueller Kommunikation. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse, in: Wilhelm Gräb / Jörg Herrmann / Kristin Merle / Jörg Metelmann / Christian Nottmeier (Hg.), »Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!« – Eine empirische Studie zum Phänomen der Medienreligion, Frankfurt a.M. 2006, 293. 47 Roman Winter, Cybertheologie. Theologische Positionierungen angesichts digitaler Herausforderungen, in: NZSTh 2020; 62(4), 470.

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den großen Debatten unserer Zeit und auf den Digitalkonferenzen zeigt. Jugendtheologie ist heute nicht allein konfrontiert mit konfessionellen Traditionsabbrüchen und popkulturellen Einflüssen. Im Lichte des Gesehenen spielen auch fremdinduzierte Erinnerungen und verfälschtes Wissen eine Rolle, welches sehr viel haltbarer und langlebiger ist,

weil es eben selbst erlebt wurde. Für die Jugendtheologie ergibt sich daraus die Handlungsaufforderung, die technischen Möglichkeiten wenigstens zu kennen. Dann erschließen sich automatisch Schnittmengen und inhaltliche Zugänge. Ich danke Johanna Daher für konstruktives Feedback und wertvolle Anregungen.

Haußmann Schnittstellen von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Horizont von Digitalisierung

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Annette Haußmann »Dem könnte ich vielleicht mal was erzählen« – Schnittstellen von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Horizont von Digitalisierung Es bedarf glaubwürdiger Ansprech­ partner:innen, einer vertrauensvollen Atmosphäre und angemessener Kommunikationsräume, um miteinander über Lebens- und Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen. Die Digitalisierung bietet mittels medialer Angebote der Vernetzung solche Möglichkeiten auf niederschwelliger Ebene an. Zugleich werden auch theologische und religiöse Themen in digitalen Räumen verhandelt. Doch wie kann eine Wahrnehmung von Jugendlichen in ihren Themen und Suchbewegungen in spirituell-religiöser Hinsicht so gelingen, dass Vertrauen aufgebaut werden kann und es zur Seelsorge von, für und mit Jugendlichen kommen kann? Jugendseelsorge und Jugendtheologie sind in dieser Hinsicht zwei Gesprächspartnerinnen, die bislang allzu selten miteinander ins Gespräch treten. Dieser Beitrag betrachtet Verbindungslinien anhand eines Praxisbeispiels und reflektiert, welche Chancen und Herausforderungen sich daraus für die Praxis und die praktisch-theologische Theoriebildung ergeben. Zunächst soll jedoch die Ausgangslage für einen Dialog zwischen Jugendseelsorge und Jugendtheologie im digitalen Raum skizziert werden. 1. Bislang wird Jugendseelsorge nur als Randbereich der Poimenik thematisiert. Wenn auch die Lebensalter mittlerweile sehr differenziert in der

Poimenik und darüber hinaus bedacht werden1, und sich Jugendseelsorge in vielfältigen Räumen ereignet, wird dennoch kaum systematisch und feldübergreifend über Jugendseelsorge nachgedacht.2 Dies liegt vorwiegend an der Spezialisierung der Seelsorge, die an den verschiedenen poimenischen und pastoralen Handlungsfeldern orientiert ist. Überlegungen zur Jugendseelsorge finden sich in der Jugendarbeit3, in der Konfirmandenarbeit4 sowie in der Schulseelsorge.5

1 Vgl. Christian Grethlein, Lebensalter. Eine theologische Theorie, Leipzig 2019. 2 Ausnahmen bilden die Publikationen von Matthias Günther, Jugendseelsorge. Grundlagen und Impulse für die Praxis, Göttingen 2018 und Matthias Günther, Der Tod ist eine Tür. Seelsorge mit trauernden jungen Menschen, Göttingen 2013. 3 Vgl. Annette Haußmann / Dorin Dömland (Hg.), Warum wohin? Mit Jugendlichen auf Sinnsuche gehen – 6 Lebensthemen methodisch ausgearbeitet: Tage der Orientierung, Stuttgart/München 2017. 4 Vgl. Thomas Schlag, Seelsorge in der Konfirmationsarbeit, in: Nachdenkliche Seelsorge – seelsorgliches Nachdenken. Festschrift für Christoph Morgenthaler zum 65. Geburtstag, hg. von Ralph Kunz und Isabelle Noth, Göttingen 2012, 278–295. 5 Vgl. Hans-Martin Gutmann / Birgit Kuhlmann / Katrin Meuche, Praxisbuch Schulseelsorge, Göttingen u.a. 2014; Gerhard Büttner, Schulseelsorge, in: Wilfried Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, 3. Aufl., Leipzig 2016, 627–641.

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Praxisbezogene Beiträge

2. Jugendseelsorge und -theologie ist mit professionalisierungsfokussierten Ansätzen nur unzureichend zu greifen. Die Spezialisierung der Seelsorge hat zu einer weitreichenden Professionalisierung geführt, die eine Vielzahl an Curricula und Ausbildungskonzepten hervorgebracht haben. Jugendseel­ sorge und -theologie vollziehen sich gerade im Digitalen auch unter Jugendlichen, ohne die Beteiligung von Jugendreferent:innen, Pfarrer:innen, Lehrer:innen und den Jugendlichen. Dementsprechend ist die in der Seelsorgetheorie häufig vorausgesetzte Initiative von Pfarrer:innen oder anderen Hauptamtlichen grundsätzlich in Frage gestellt.6 3. Die Kommunikation Jugendlicher vollzieht sich ganz selbstverständlich im digitalen Raum. Seit der Pandemie nimmt die Nutzung digitaler Medien, v.a. im Bereich sozialer Netzwerke, weiter zu.7 Dabei lassen sich Hybridformen der Kommunikation und der Begegnung in digitalen und analogen Räumen beobachten. Jugendseelsorgliche und jugendtheologische Kommunikation findet im digitalen Raum bereits auf vielfältige Weise statt. Daher muss einer Jugendseelsorge im Digitalen zunächst die Wahrnehmung spezifischer Phänomene und Themen als deduktives Vorgehen vorausgehen, mit denen sich Jugendliche befassen. Die Frage stellt sich also, wie und an welchen Stellen sich Jugendseelsorge und -theologie bereits ereignen, und mit welchen Mitteln und in welchen Formen neue Wege der Kommunikation gesucht und genutzt werden können. Zugleich ergeben sich daraus spezifische Herausforderungen aus den primär als Angebotsstruktur

gestalteten digitalen Kommunikationsmöglichkeiten. 4. Bislang ist Jugendseelsorge vor allem auf Problem- und Krisenbearbeitung konzentriert. Das zeigt sich an Konzepten der Schulseelsorge, die zwar das Alltagsgeschehen und den Bezug zum Unterricht herstellen, aber dennoch wenig Fokus auf Alltägliches legen. Umgekehrt ist Jugendtheologie häufig auf Bildungsaufgaben, die Aneignung von Wissen oder den Kompetenzerwerb hinsichtlich der Argumentationsfähigkeit angelegt. Andererseits kommen im Theologisieren auch Bezüge zur Lebenswelt, Sinnfragen oder existenzielle Themen vor. 5. Pandemiebedingt lässt sich ein Einbruch der seelsorglichen Kontakte in Schule, Jugendarbeit und Gemeinde feststellen. Nach einer Untersuchung, die im Rahmen der COVID-19-Pandemie durchgeführt wurde, haben besonders die Felder der Seelsorge von Gemeindearbeit, Schule und Jugendarbeit, die Jugendliche betreffen, unter den sozialen Einschränkungen gelitten.8 Gerade 6 Darüber hinaus kommt die Mitarbeit und Mitwirkung ehrenamtlicher Mitarbeitender – bis auf die Jugendarbeit, wo dies eine große Rolle spielt – nur unzureichend in den Blick. 7 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.), JIM 2020 Jugend, Information, Medien Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland 2021. 8 Annette Haußmann / Birthe Fritz, Was stärkt Seelsorge in Krisenzeiten?, in: PTh 110 (2021), 397–415; Annette Haußmann / Birthe Fritz, Challenges for Pastoral Care in times of COVID-19: Encounters, media use, contexts, topics, and professional needs. A cross-sectional study in Germany, in HSCC (Journal for Health and Social Care Chaplaincy) 10 (2022), Heft 2, 141–164.

Haußmann Schnittstellen von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Horizont von Digitalisierung

dort vollzieht sich Seelsorge im Modus der Gelegenheitsbegegnung und war durch die Einschränkungen nicht mehr möglich, wie gewohnt. Zugleich waren Jugendliche in hohem Maße auch psychischen Belastungen durch die Folgen der Pandemie ausgesetzt.9 Das zeigt einerseits, wie stark diese Bereiche der Arbeit mit Jugendlichen auf Gelegenheitsinteraktion angewiesen sind, aber verweist andererseits auch auf den Bedarf für Kommunikation im digitalen Raum. Denn gerade dort war die Zunahme digitaler Interaktion besonders groß und hielt auch über den ersten Lockdown hinaus an.10 Aufgabe der Seelsorge ist es, dort präsent zu sein, wo sich Kommunikation natürlicherweise ereignet – und so eben auch im Digitalen. Durch den Beginn der Pandemie wurde auch der Diskurs über digitale Formen der Seelsorge angeregt.11 Die Eigenart sozialer Medien liegt in deren Alltagsaffinität. Dort vollzieht sich eine ständige Abbildung des Alltags und alltäglicher Kommunikation. Weil die großen Fragen von Sinn und Sein eng eingewoben sind in den Alltag bzw. dort immer wieder aufbrechen, kommt dort auch das Existenzielle und Spirituelle vor. Gleichzeitig sind die großen Fragen auch theologische Fragen, die sich aus der Perspektive der Jugendtheologie stellen. Sie sind eingewoben in den Alltag und die Lebenswelt der Jugendlichen. Daraus kann ein Ausprobieren religiös-spiritueller Formen, Denkweisen und Gefühle resultieren, die wiederum nicht abgeschlossen sind, sondern sich im Modus der Suche vollziehen. Im Kontext von sozialen Netz-

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werken begegnen Jugendliche auch fremden Sinnkonzeptionen und anderen Formen von Spiritualität/Religiosität, wodurch eine Auseinandersetzung mit eigenen Lebens- und Glaubensthemen angeregt wird.12 Der folgende Beitrag will im Anschluss an diese ersten Beobachtungen einige Verbindungslinien von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im digitalen Raum darstellen und deren Herausforderungen und Chancen ergründen. Anhand eines phänomenorientierten Zugangs, das mit einem Praxisbeispiel digitaler Jugendseelsorge illustriert ist, soll eine neue Perspektive auf pädagogisches und seelsorgliches Handeln in den Räumen des Digitalen gewonnen werden, die in weiteren Fragen und Reflexionsperspektiven vertieft wird. 1. »Ich kenn den schon« – Ein Praxisbeispiel

Das Praxisbeispiel entstammt einem explorativen narrativen Interview, das mit einem Pfarrer mittleren Alters geführt

9 Ulrike Ravens-Sieberer u.a., Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany, in: Eur Child Adolesc Psychiatry (2021). 10 Annette Haußmann, Präsent bleiben. Mediennutzung in der Seelsorge während der COVID-19-Pandemie, in: Spiritual Case 12 (2023), aop. 11 Annette Haußmann / Caroline Teschmer / Christoph Wiesinger / Golde Wissner, Seelsorge und digitale Kommunikation. Dynamiken sozialer Interaktion und ihre Auswirkungen auf Poimenik, in: WzM 73 (2021), 5–18. 12 Kristin Merle, Vernetzt. Sinnwelten und soziale Kontexte moderner Subjekte, in: WzM 66 (2014), 452–463.

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Praxisbezogene Beiträge

wurde, der regelmäßig mit Jugendlichen über soziale Netzwerke und verschiedene Plattformen interagiert. Das Interview wurde aufgezeichnet, transkribiert und pseudonymisiert.13 1.1 Verhältnis von Komm- und Geh-Strukturen

Im Digitalen sind die Hemmschwellen niedriger, jemanden zu kontaktieren. Allerdings geht dem ein abwartendes Beobachten voraus. Man kann zunächst unverbindlich schauen, Kommunikation austesten und dann auch unkompliziert wieder gehen. Ein Phänomen, das aus der Online-Seelsorge bekannt ist, und auch Krisenkommunikation, etwa bei Suizidalität, wesentlich erleichtert.14 »Seelsorge passiert dann ja eher an anderen Stellen, wo Leute das manchmal vielleicht auch bewusst suchen, dass sie sagen: Ich komm mal zum Abendgebet, in der Hoffnung, (lachend) da kommt niemand anders und wir sitzen da vielleicht zu zweit. Und dann kann ich noch ein bisschen erzählen oder so. Ne? Das wäre vielleicht auch noch ein bewusster Weg, das aufzusuchen. Aber da ergeben sich digital ja viel mehr Möglichkeiten. Auch in der Hinsicht, wie du das benennst, dass ähm, dass ich erst mal gucken kann. So, ne. Oder: ich kenn den schon« (I02, 25–30)

Vertrauen wird durch die fortlaufende Beobachtung des anderen erst nach und nach aufgebaut. Das gilt sicherlich für jegliche Kontakte, besonders im Seelsorgekontext, wird aber im Digitalen durch die Möglichkeit der alltäglichen Kommunikation noch unterstrichen. Durch das Wahrnehmen von dem, was jemand bzw. eine potenzielle Seelsorgeperson postet, teilt,

wie er oder sie mit anderen Menschen interagiert und kommuniziert, entsteht eine bestimmte Form sozialer Bindung. Deutliche Stärken sieht der Befragte in der Breitenwirkung gegenüber der leiblich-persönlichen Begegnung, wie hier anschaulich am Beispiel des Abendgebets geschildert wird. Zufallsgelegenheiten bewusst herzustellen ist gerade für Jugendliche schwierig und das Zustandekommen eher unwahrscheinlich. Hier liegen Vorteile in der digitalen Begegnung. 1.2 Rollenverständnis und Professionalität

Damit eng verbunden ist die Frage nach der Rolle und Professionalität, v.a. bei hauptamtlich Agierenden. Augenscheinlich wird durch das im Digitalen gebräuchliche Du sowie die Alltagsnähe eine Kommunikation geschaffen, die viel weniger stark auf Asymmetrie als auf Interaktion setzt: »Also ganz viele kennen mich einfach als Simon halt schon, ne? Aus den unterschiedlichen Kontexten.« (I02, 30)

Das niederschwellige Du und die Bekanntheit in unterschiedlichen digitalen und analogen Kontexten prägt das Miteinander. Dennoch ist erkennbar, dass die Asymmetrie in der Kommunikation sich zunächst darin niederschlägt, dass – anders als in aufsuchenden Kontexten – die Initiative und Aktivität zuerst vom Hauptamtlichen ausgeht, der mit seiner 13 Angaben in Klammern geben Pausenzeiten und nonverbale Inhalte an, kurze Pausen sind durch .. gekennzeichnet. 14 Norbert Ellinger, Die Zukunft der Seelsorge in einer digitalen Welt, in: Leidfaden 9 (2020), 39–43.

Haußmann Schnittstellen von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Horizont von Digitalisierung

Themensetzung, der Auswahl an Aktionen und Reaktionen auf Beiträge die Möglichkeiten für weitere Interaktion erst schafft: »Und da ist es dann vielleicht [2] auch von Vorteil, dass sie sozusagen die Chance haben zu beobachten, wie spricht der denn also im Sinne von Kommentare oder Beiträge oder so mit anderen Menschen? Was für ein Menschenbild hat er? Äh. [2] Und gucken sich das erst mal eine Weile an, so, ne, bevor sie sagen dem könnte ich vielleicht mal was erzählen von mir oder der hat sich vielleicht aber auch mit Themen beschäftigt, die mich beschäftigen und den Blick auf mein Leben oder auf Nöte, die ich habe.« (I02, 31–37)

Beziehung schaffen durch die eigene Person und sich als echtes Gegenüber mit eigener Meinung und Position zeigen. Dazu gehört eben auch gerade die inhaltliche Ebene, die durch digitale Interaktion gut sichtbar wird in Beiträgen und Kommentaren und indizieren, wie mit anderen Menschen umgegangen wird. Darin erfahren die Jugendlichen etwas über Selbst-, Welt- und Menschenbild ihres Gegenübers, sie können sich selbst ein Bild machen und entscheiden, ob sie mit ihren seelsorglichen Anliegen in Kontakt treten wollen. Glaubwürdigkeit und die Voraussetzung für Seelsorge wird also erst hergestellt durch lebensweltliche und theologische Themensetzung, die zugleich eine Erfahrung des Pfarrers nach außen für die Jugendlichen sichtbar macht. Jugendtheologie und Seelsorge sind hier aufs Engste verknüpft, da der Vorgang der Interaktion, die Themen, die Art und Weise der Kommunikation und die Form der Beziehungsgestaltung einen Rahmen für mögliche seelsorgliche Begegnung bil-

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det.15 Für die Jugendseelsorge ist diese vertrauenschaffende Atmosphäre und Glaubwürdigkeit des Gegenübers, die auf Anerkennung und Zuschreibung von Authentizität zielt, unabdingbar: »Jugendliche brauchen ein Gegenüber, das mit eigener Stimme spricht. Das sie berühren können und von dem sie berührt werden, das aber zugleich auch ein Stück weit fremd und unverfügbar bleibt. Nur von einem solchen Gegenüber Anerkennung zu bekommen zählt. Eine Anerkennung, die nur ›Echo‹ ist, hat dagegen keine Bedeutung.«16 Das gilt im digitalen Setting noch mehr durch die dort entstehende distante Nähe und die Schnelllebigkeit des Mediums.17 1.3 Perspektivwechsel durch Theologisieren mit Jugendlichen

Welche Themen interessieren Jugendliche und sind relevant in ihrem Leben? Paradox ist zunächst trotz der partizipativ ausgerichteten Strukturen sozialer Netzwerke, dass die meisten aktuellen Kommunikationsmechanismen auf social Media sich zunächst am Subjekt ausrichten, das den jeweiligen Account bespielt und dadurch zunächst die Themen selbst gesetzt werden müssen. Wie diese von den Adressat:innen rezipiert werden, stellt sich erst im Verlauf der Interaktionsmechanismen heraus. An die für Jugendliche brennenden Themen zu 15 Vgl. für den Kontext der professionellen Jugendseelsorgeangebote auch den Beitrag von Caroline Teschmer in diesem Band. 16 Anja Goral, Seelsorge als Resonanz. Am Beispiel der Seelsorge mit Jugendlichen, in: WzM 73 (2021), 231–244. 17 Vgl. Annette Haußmann u.a. (wie Anm. 10).

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Praxisbezogene Beiträge

kommen, gestaltet sich demnach nicht einfach. Viele Formate sind auf Interaktion ausgerichtet, aber auch auf deren Rezeption angewiesen. So beschreibt der befragte Pfarrer ein Beispiel aus seiner digitalen pastoralen Praxis, in der Jugendliche theologische Fragen stellen, die in 10 Sekunden beantwortet werden: »Aber da gab es dieses Format mit ›Frag den Pastor‹. Hab gedacht, das wär ne coole Übung für mich. Zu dem Zeitpunkt konnte man nicht mehr als 10 Sekunden Videos machen auf Snapchat und ich dachte, wenn ich jetzt Fragen gestellt bekomme und das, also die Fragen waren einfach schon genial. Ich habe da glaube ich 60 Folgen oder so gemacht. Also von äh Fragen: ›Gibt es böse und gute Menschen?‹. Ja, sag da mal was in 10 Sekunden zu [lacht]« (I02, 38–42)

Im Vordergrund steht zunächst das eigene Interesse des Pfarrers, die Fragen der Jugendlichen als theologische Übung zu betrachten. Dies erfordert, offen zu sein für neue Fragen und theologisches Nachdenken, wie sie gerade im Theologisieren mit Jugendlichen auftreten. Die Bereitschaft und Lust, sich irritieren zu lassen, sich dem Unerwarteten zu öffnen und neue Fragestellungen als Herausforderung zu sehen, ist hier zentral und zeigt sich auch an der Intensität, die das digitale Format mit 60 Folgen erreicht. Die gestellten Fragen bieten zugleich einen Einblick in Relevanzen und Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen, an die sich wiederum Sinnfragen oder seelsorgliche Anliegen anschließen können.18 Gebunden ist dies allerdings an die Form der Interaktion, die das Medium selbst bietet. In diesem Fall kann man leichter von einer Theologie für Jugendliche sprechen, während ein Theologisieren

mit Jugendlichen erst zustande kommt, wenn die gestellten Fragen und Antworten diskutiert oder kommentiert werden. Problemlos könnten solche Frageformate aber auch so genutzt werden, dass die Jugendlichen selbst Antworten auf ihnen gestellte Fragen formulieren. Digitales Theologisieren und Seelsorge mit und von Jugendlichen kann in beiden Fällen einen Resonanzraum für die Themen Jugendlicher bilden. 1.4 Spiritualität, Liturgie, religiöse Praxis

Aus einer weiteren Frage im Format »Frag den Pastor« resultierte die folgend geschilderte Begebenheit. Eine Jugendliche hatte gefragt: »Was ist dein Lieblingsgegenstand in der Kirche?« Verblüfft über die Frage, die er sich selbst noch nie gestellt hatte, machte sich der Befragte auf den Weg: »Und dann ähm bin ich einfach losgegangen hier, ähm rüber in die Kirche und hatte aber auf dem Weg schon eine Idee und äh hab unseren Fürbittenleuchter genommen, wo man so Kerzen anzünden kann. Und dann habe ich in dem Moment, als ich dann da war, habe ich gedacht, ach jetzt.. ähm, also ich sehe immer wer wie schnell das anguckt. Und meistens ist schon nach einer halben Minute haben das schon 50 Leute gesehen oder so, ne? Und ähm viele sind dann da einfach, äh, [lachend] die gucken dann die ganze Zeit stories und so. Und dann habe ich halt

18 Vgl. Thomas Schlag / Hanna Roose / Gerhard Büttner (Hg.), »Was ist für dich der Sinn?«. Kommunikation des Evangeliums mit Kindern und Jugendlichen (JaBuKiJu 1), Stuttgart 2018.

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geschrieben, ich sitze jetzt einfach noch ein paar Minuten hier. Und wenn ihr mir – äh Namen schreiben wollt, für den ich eine Kerze anzünden, dann könnte ich das einfach machen. Ja und dann kamen sofort welche. Teilweise ganz lustige Sachen irgendwie. Dann war die ’deutsche Nationalmannschaft’ an dem Tag, aber teilweise eben auch sehr, sehr ähm, ja ’für die Oma’, die gestorben war und so, ne? Und dann habe ich denen in dem Moment Snaps zurückgeschickt und einige auch in die Story gestellt. Und dann saß ich da, ne Dreiviertelstunde ununterbrochen quasi. Und da kamen natürlich auch später dann noch Sachen von Leuten, die das- Und es war wie so ein heiliger Moment in dem Moment, ne? Also das ist dann sozusagen so ein Schnittfeld von Liturgie und Seelsorge eigentlich. Und da schließen sich dann natürlich schon Sachen an, dass ich dann auch noch mal nachgefragt habe: ›Wie geht es denn deiner Oma inzwischen?‹ oder Leute nochmal geschrieben haben oder sich später darauf bezogen haben.« (I02, 44–61)

Hier zeigt sich eine niederschwellige Interaktionsfläche für seelsorgliche Anliegen, die sich an eine liturgisch-spirituelle Aktion anknüpfen, die ihrerseits aber auch einem Bildungsinteresse folgt und den Kirchenraum als Ort des gelebten Glaubens darstellt. Interessant ist hierbei, dass der Befragte wieder gezielt den Kontakt herstellt zu denjenigen Jugendlichen, die ein seelsorgliches Thema formuliert haben. Alles vollzieht sich in diesem Beispiel im digitalen Raum, aber teilweise auch hybrid, denn der Pfarrer ist in diesem Fall persönlich in der Kirche, im sakralen Raum, der dann digital übertragen wird. Die Verschränkung der seelsorglichen, jugendtheologischen, pädagogischen, liturgischen und spirituellen Ebenen ist in jedem Fall gewinnbringend, denn sie er-

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möglicht nahtlose Übergänge im Bereich der gelebten Religion und bietet ebenso Reflexionsmöglichkeiten für die Jugendlichen an, zu welchen sie sich frei und spielerisch verhalten können. Auch Platz für Humor kann, wie das Beispiel zeigt, in spielerischer Weise einen Platz in digitaler Kommunikation finden, da gerade dort viele Formen und Ausdrucksweisen nebeneinanderstehen können. Möglichkeiten bieten sich durch die sowohl textlichen wie bildlichen Gestaltungselemente an, wie sie auf sozialen Medien üblich sind. So kann auch nonverbal oder in der Interaktion von Text und Bild auf besondere Weise spirituell-religiöse Praxis gelebt und geteilt werden.19 Ob hier Seelsorge in Verbindung mit dem Diskurs über Glaubensthemen eingespielt werden kann, ist abhängig von der Kreativität der Agierenden und ihrer Fähigkeit, auf die Themen und Belange auch spontan mit Wort und Bild zu reagieren. Auch Zeit spielt eine wichtige Rolle und die Priorisierung der Seelsorge gegenüber anderen pfarramtlichen Tätigkeiten. Das zeigt sich im Beispiel auch daran, dass der Interviewte bereit ist, die Ebenen miteinander zu vernetzen, von seiner Haltung her in der Lage ist, sowohl kurzfristig und spontan seelsorglich zu agieren als auch langfristig seelsorgliche Anliegen im Kopf zu behalten und ggfs. wieder Kontakt aufzunehmen, was 19 Annette Haußmann, Die Kraft der Bilder. Visuelle Kommunikation in sozialen Medien und ihre Potenziale für Spiritual Care und Seelsorge, in: Spiritual Care 10 (2021), 198–207; Viera Pirker, Zur Macht der Bilder. Theologische Anthropologie im Kontext digitaler Bildkulturen, in: Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, hg. von Wolfgang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin, Freiburg i.Br. 2021, 155–179.

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Praxisbezogene Beiträge

etwa in seiner Reaktion auf die Erkrankung der Großmutter sichtbar wird. 2. Fragen und Reflexionsperspektiven

Im Anschluss an die Beobachtungen aus dem Praxisbeispiel schließen sich einige Reflexionen des Zusammenhangs von Jugendseelsorge und Jugendtheologie im Digitalen an, die vorwiegend Fragestellungen formulieren, die der Bearbeitung bedürfen und für die Weiterentwicklung von digitaler seelsorglicher und theologischer Praxis bedeutsam sind. 2.1 Von, mit und für Jugendliche?

Wie Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer es für die Ebenen von Jugendtheologie formuliert haben,20 ist auch für Jugendseelsorge zu überlegen, wie mit dieser Differenzierung produktiv im digitalen Setting umgegangen werden kann. Zugegeben: Durch das Praxisbeispiel ist eine bestimmte Sicht auf Jugendseelsorge und -theologie bereits vorgegeben, hier nämlich als Perspektive des Hauptamtlichen. Es wurde deutlich, dass die gegenwärtigen Möglichkeiten sozialen Austausches im Digitalen von der contentgebenden Person ausgehen, womit »für Jugendliche« zunächst keine Probleme bereitet. Sobald es zu interaktiven Prozessen des Austausches kommt, was sowohl für gemeinsam gestaltete Jugendtheologie als auch für das Seelsorgegeschehen unabdingbar ist, ist auch das »mit Jugendlichen« im Sinne eines Dialogs gewährleistet. Voraussetzung dafür scheint eine bewusste Beziehungsgestaltung und eine aktive

Reflexion dessen, wie Inhalte und Kommunikation sowohl im theologischen wie auch im seelsorglichen Rahmen gestaltet werden, da dies weitreichende Folgen für die Vertrauensbildung hat. Letztlich ist dies entscheidend dafür, ob es zu seelsorglichen Begegnungen, aber auch zum Prozess des gemeinsamen Theologisierens kommen kann. Schwieriger wird es, soll die Ebene »von Jugendlichen« explizit einfließen. Weitgehend bleibt dies bislang unberücksichtigt, kann aber sowohl durch den Forschungsansatz der »Digital Religion« in Zukunft besser sichtbar werden, als auch durch neue Partizipationslogiken und Kommunikationsformen im digitalen Raum künftig praktisch noch mehr ausgebaut werden. Die auf Gemeinschaft angelegten digitalen Netzwerke und Communities sind auf solchen Austausch geradezu angelegt. Positiv könnte so eine einseitig asymmetrische Kommunikationsstruktur unterlaufen oder zumindest ergänzt werden. Anregungen aus dem analogen Bereich sind denkbar für Verschränkungsformen zwischen Jugendtheologie und – seelsorge, etwa aus der Partnerarbeit im Unterricht.21 In der Seelsorge liegt ein denkbarer Anknüpfungspunkt in der Online-Peer-Beratung, mit der z.B. positive Erfahrungen auch im Bereich 20 Die Rede ist von einer dreifachen Entfaltung im Sinne einer »Theologie der Jugendlichen, Theologie mit Jugendlichen und Theologie für Jugendliche«, Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, darin: Teil 1: Jugendtheologie in der Praxi von Schule und Gemeinde: Religionsunterricht, Konfirmandenarbeit und Jugendarbeit, 9–34: hier 9. 21 Hanna Roose, Jugendtheologie in Partnerarbeit?, in: Theo-Web. ZRelPäd 17 (2018), 146–163.

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von Suizidprävention gemacht werden.22 Eine professionelle Begleitung solcher Angebote ist mitzubedenken, besonders wenn es nicht nur um niederschwellige Alltagsseelsorge, sondern um lebensweltliche und glaubensbezogene Krisenberatung oder Konfliktsituationen geht.23 Dennoch: Es sind gerade auch die digitalen Kommunikationsräume, in denen Jugendliche unter sich frei von erwachsener Einflussnahme und hegemonialen Kontrollideen von Theologie und Seelsorge agieren und sich austauschen können. Was Jugendliche dort über Glauben und Leben thematisieren und diskutieren, kann aber wieder Eingang in pädagogische oder seelsorgliche Kontexte finden. In diesem Sinne bestehen auch Bildungsaufgaben in der Stärkung von kommunikativen Kompetenzen im digitalen Raum sowie ein Bewusstwerden der gegenseitigen Sorgeprozesse, die einen Gegenpol zu Hassbotschaften oder Mobbing bilden. 2.2 Digital Religion, Gelebte Theologie, Spiritual Care

Um mehr über die religiös-spirituellen Lebenswirklichkeiten und die theologischen und existenziellen Fragestellungen der Jugendlichen zu erfahren, bietet der Ansatz der Digital Religion neue Optionen. Erforscht werden dort Formen gelebter Religion im Digitalen und so rücken Reflexions- und Kommunikationsformen der Jugendlichen ins Zentrum.24 Aufgabe zwischen Seelsorge und Jugendtheologie ist demnach eine fundierte Forschung, die wahrnehmbar werden lässt, was Jugendliche religiös und spirituell beschäftigt und

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wie dies mit ihren Lebensthemen verbunden ist. Im digitalen Raum gibt es eine spezifische Jugendkultur, die nach Eigenlogiken und spezifischen Kommunikationsformen funktioniert und auch in anderen Wissenschaften zum Thema gemacht wird.25 Die Praktische Theologie ist hier in ihrer interdisziplinären Vernetzung gefordert und kann darüber hinaus in der Forschung die aktuellen methodischen Weiterentwicklungen in den Digital Humanities methodenplural einsetzen. Gelebte Theologie und gelebte Religion haben in der Verbindung von Jugendseelsorge und -theologie ihren Ort. Für die gelebte Religion ginge es im Digitalen darum, die Perspektive der Jugendlichen zunächst erst einmal wahrzunehmen, aber auch Impulse zum Erproben, Vertiefen oder Hinterfragen der eigenen Religiosität und Spiritualität zu bieten. Für die gelebte Theologie ist das Ziel, Jugendliche ins Nachdenken über ihre religiösen Glaubensformen und -praktiken zu bringen. Zugleich werden existenziell relevante Fragestellungen zwischen Liebe, Familie, Gerechtigkeit, Zukunft und

22 Anja Hildebrand / Maren Weiss / Mark Stemmler, Online-Peer-Suizidpräventionsprogramme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Eine systematische Übersichtsarbeit, in: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 67 (2019), 221–229. 23 Vgl. das Praxisbeispiel im Beitrag von Caroline Teschmer in diesem Band. 24 Ilona Nord, Religiöse von Jugendlichen in mediatisierter Welt. Ausgangsfragen und Zielsetzungen, in: Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, hg. von Wolfgang Beck, Ilona Nord und Joachim Valentin, Freiburg i.Br. 2021, 257–280. 25 Kai-Uwe Hugger (Hg.), Digitale Jugendkulturen, 2. Aufl., Wiesbaden 2014.

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ökologische Krise oder Genderthemen26, mit und von den Jugendlichen bearbeitet, die gerade im Digitalen mit einer Vielzahl an Perspektiven konfrontiert sind. Im Rahmen von Seelsorge und Jugendtheologie können sie einen Raum bekommen, in dem diese Themen nicht nur in den Feeds an ihnen vorbeirauschen, sondern die Gelegenheit besteht, sich intensiver und tiefer damit zu befassen. In der Seelsorge und in der Jugendtheologie stehen Lebens- und Glaubensthemen ausgehend vom Subjekt und seinen Bedürfnissen im Zentrum. Während im präsentischen Kontakt solche Themen direkt angesprochen werden können, eröffnen sich im digitalen Raum neue Gestaltungsmöglichkeiten. In den letzten Jahren hat die intensive Auseinandersetzung um Seelsorge und Spiritual Care zugenommen. Versteht man Spiritual Care als eine umfassende Sorge um die spirituelle Dimension des Menschseins, so ist die Verbindung zwischen Theologisieren als einer Form der Reflexion der persönlichen Spiritualität, aber auch darüber hinaus als ein Kennenlernen anderer spirituell-religiöser Überzeugungen und Lebensweisen denkbar. Jugendseelsorge im Digitalen nimmt die subjektiven Deutungen ernst, durch die Glauben und Leben aufeinander bezogen sind27 und bietet ebenso eine Reflexionsfläche für religiöse Deutungen an.28 2.3 Empowerment: Mündigkeit im Umgang mit Glaubens- und Lebensthemen stärken

Für die seelsorgliche und jugendtheologische Praxis könnte es Ziel sein, die Mündigkeit und Selbstständigkeit in

spiritueller bzw. religiöser Praxis und in grundlegenden Gedanken zur Religion zu stärken – gerade auch im Umgang mit Inhalten sozialer Medien und digitaler Kommunikation. Soziale Netzwerke bieten eine schier endlose Möglichkeit des Suchens an, die neben Zerstreuung auch positive Effekte der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben bietet. Konstitutiv ist eine hohe inhaltliche Pluralität und während des Prozesses von Konsum und Partizipation kaum mögliche professionelle Begleitung in diesen Räumen. Eine konstruktive Aufnahme dessen, was Jugendliche dort erleben, ist aber sowohl im religionspädagogischen Rahmen des Unterrichts als auch in seelsorglichen Settings, Jugendarbeit oder Konfirmandenarbeit sehr gut möglich. Empowerment kann hier als Ansatzpunkt dienen. Hervorzuheben ist die Theorie von Michael Domsgen, der dies umfassend auf Selbstbestimmung im Leben bezieht und dazu Impulse aus Sozialer Arbeit und Beratung einbezieht, was einer seelsorglichen Perspektive nahesteht.29 Praktisch können diese Verbindungslinien zwischen Jugendseelsorge und -theologie beispielsweise bedeuten, eine Mündigkeit in der Aneignung und Ausübung des Glaubens anzuregen.30 Etwa, indem auch spirituelle Konflikte, Zweifel oder Ohn-

26 Anna-Katharina Lienau, Kommunikation des Evangeliums in social media, in: ZThK 117 (2020), 489–521. 27 Vgl. Thomas Schlag (wie Anm. 4). 28 Vgl. auch den Beitrag von Caroline Teschmer in diesem Band. 29 Michael Domsgen, Religionspädagogik, Leipzig 2019, 343–377. 30 Vgl. Sabrina Müller, Gelebte Theologie. Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments, Zürich 2019.

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machtserfahrungen im Rahmen digitaler Netzwerke thematisiert werden. Es ginge dann eher darum, eine Orientierung in der Vielfalt der Möglichkeiten, eine Stärkung der medialen und religiösen Kompetenz, etwa auch im Umgang mit anderen Religionen und Kulturen, zu fördern und Diskussionsräume anzubieten bzw. aufzugreifen. Eine Aufgabe von Seelsorgelehre und Religionspädagogik kann dann sein, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass eine mündige Glaubenspraxis gestärkt wird, durch die Jugendliche in der Lage sind, ihren Glauben zu erproben, verschiedene Formen gelebter Spiritualität auszuprobieren, aber auch zu beobachten, welche anderen Arten von Leben und Glauben in großer Vielfalt nebeneinander existieren. Im Hinblick auf Religion, Spiritualität, Sinn und Theologisieren könnte die Ausbildung von Ambiguitätstoleranz sowohl betreffend anderer Lebens- und Glaubensformen und der Beschäftigung mit christlicher Tradition und Kirche als auch betreffend der eigenen Glaubenswelt, des Gottesbildes sowie religiöser Gefühle, Überzeugungen und existenzieller Fragen und Erfahrungen eine zu stärkende Kompetenz sein.31 2.4 Notwendigkeit des fachübergreifenden praktisch-theologischen Diskurses

Das spricht auch für die weitere Notwendigkeit, die praktisch-theologischen Disziplinen miteinander zu verbinden und die stellenweise Trennung zwischen Religionspädagogik und Praktischer Theologie zu überwinden.32 Gerade am insgesamt wenig bespielten Feld der Jugendseelsorge wird dies sehr deutlich. Praktisch-theologisch ist

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eine intensive Wahrnehmung notwendig, um wirklich eine Perspektive der Jugendlichen kennenzulernen. Was brauchen Jugendliche an seelsorglicher Unterstützung im digitalen Raum? Welche spirituell-religiösen Interessen und Bedürfnisse formulieren sie darüber hinaus? Auch hier im Beitrag wird offenkundig, dass es einfach ist, die Seelsorgendenperspektive einzunehmen und empirisch zu ergründen – der Zugang zur jugendlichen Lebenswelt demgegenüber muss jedoch künftig noch besser gestärkt werden. Ansatzpunkte wie aus der Forschung zu Digital Religion sind hier hilfreich, darüber hinaus benötigt es einen intensiven Dialog mit den haupt- oder ehrenamtlich Seelsorgenden, Jugendmitarbeitenden und Lehrkräften sowie mit den Jugendlichen selbst. Erste Ansätze von Praxismodulen zu Schulung in Jugendseelsorge, die auch digitale Kommunikationsformen einbezieht, werden bereits erprobt.33 3. Räume öffnen

Im Digitalen eröffnen sich neue Räume, wo Seelsorge, Jugendtheologie und Spiri-

31 Vgl. Michael Klessmann, Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart 2018. 32 Vgl. Bernd Schröder / Thomas Schlag (Hg.), Praktische Theologie und Religionspädagogik. Systematische, empirische und thematische Verhältnisbestimmungen, Leipzig 2020. 33 In der Evangelischen Landeskirche in Baden wurde ausgehend vom Zentrum für Seelsorge (ZfS) im Jahr 2021 erstmals ein Kurs für Jugendseelsorge angeboten, der auch digitale Kommunikation einbezog. https://www. ekiba.de/media/download/variant/150605/ zfs_jahresprogramm_2021.pdf, 18, [Zugriff: 24.1.2022].

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Praxisbezogene Beiträge

tualität in enger Weise miteinander verschränkt sind: »Also wenn man es jetzt.. noch mal anders beschreiben will, äh, hat sich da ja eigentlich ein kleiner Raum eröffnet, […] den ich sozusagen durch mein Profil da geöffnet habe und.. in denen es halt relativ leicht ist, einzutreten.« (I02, 61–64)

Seelsorge und Gespräche über Sinn, Leben und Glauben ereignen sich oftmals bei Gelegenheit im Zwischenraum. Wo Seelsorge ansonsten präsentisch häufig

nur in den Zwischenzeiten und am Rand von Veranstaltungen stattfinden kann, ergo auf Gelegenheitsbegegnungen angewiesen ist, haben digitale Angebote den Vorteil, zeitunabhängige Erreichbarkeit und Möglichkeit zur Kommunikation anzubieten. Synchron oder asynchron besteht hier viel eher die Option, dass Seelsorgegelegenheiten überhaupt entstehen. Ob sich Räume öffnen, hängt in erster Linie an denjenigen, die im digitalen Raum agieren, ihrer Kommunikation und ihrer Art, in Beziehung zu treten.

Teschmer Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze

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Caroline Teschmer »Mit einem Mausklick ist man drin und genauso schnell ist man wieder raus« – Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze »Niemand da, mit dem du reden kannst?«; »Wenn du jemanden zum reden brauchst, egal bei welchem Problem, du kannst dich an uns bei der Chatberatung wenden.«; »Wir sind für dich da, mit uns kannst du reden, denken und weinen. Wir können mit Dir überlegen, wie es weitergehen kann. Schreib uns, was dich bedrückt.«1

Bei Kummer und Sorgen Jugendlicher helfen Seelsorger:innen der Chatberatung. In den Vordergrund rückt die komplexe und zugleich flexible Lebenswelt von Jugendlichen. Das Angebot der Chatberatung nimmt die Sorgen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ernst. Heranwachsenden wird explizit eine Stimme gegeben, die gehört wird. Die Pubertät ist zweifellos eine Phase deutlicher biologischer und psychologischer Veränderungen mit besonderer und spezifischer Plastizität und Vulnerabilität. Unterschiedliche Fragen und Themen (Identität, Geschlecht, Sexualität, Ausgrenzung, Entscheidungen im Blick auf den Lebensweg, Gewalt, Schulversagen, Verhältnis zum Elternhaus u.a.) nehmen bei Jugendlichen in der Zeit des Suchens einen großen Stellenwert ein und zeigen zugleich eine objektive wie auch eine subjektive Perspektive auf. Es bedarf vertrauensvoller Ansprechpartner:innen und Kommunikationsräume (analoge wie digitale), um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Die Mitarbeiter:innen des Landesjugendpfarramts der Ev.-luth. Kirche in Norddeutschland bieten seit 2020 das Projekt »Schreiben statt Schweigen – eine Chatberatung für junge Menschen« an. Dabei handelt es sich um eine niedrigschwellig angelegte Chatberatung für Jugendliche, die während des ersten Lockdowns ins Leben gerufen wurde. »Ziel war es, […] Jugendlichen ein Angebot zu machen, um ihnen mit ihren Sorgen und Nöten altersgerecht begegnen zu können. Wir wollen ihnen in dem Chat Aufmerksamkeit schenken […]. Gemeinsam mit ihnen ihre jeweilige Situation anschauen, ihnen Resonanz geben und dann, wenn’s möglich ist, auch auf diesem Weg Anregungen geben, um, ich sag jetzt mal, so was wie einen eigenen Lösungsweg […] finden zu können. Also Begleitung im Gespräch, Auffangen, Resonanz und – wo es geht – […] ihnen zu helfen, eine eigene Lösung zu finden.«

Jugendliche können unter Wahrung der Anonymität mit einem Usernamen das digitale Seelsorgeangebot in Anspruch nehmen. Jeder Chat wird im Anschluss an die Beratung gelöscht. Die Chatberatung ist anonym, vertraulich und kostenfrei. Sie findet an drei Wochentagen für jeweils zwei Stunden statt. Wenn der Chat aktiv ist, erscheint eine blaue Sprechblase. Mit 1 https://www.schreibenstattschweigen.de/ (16.02.2022).

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einem Nickname können die Jugendlichen auf die blaue Blase klicken und den Chat beginnen. Die Corona-Pandemie hat dem Projekt einen enormen Schub gegeben. Die Idee war nicht neu, doch hat die Krise deutlich gemacht, wie wichtig die zwischenmenschliche Kommunikation ist, sodass das niedrigschwellige Beratungsangebot implementiert wurde. Der erste Lockdown stellte für viele Jugendlichen einen harten Einschnitt ins Leben dar. Die Schulen, Sport- und Freizeiteinrichtungen wurden geschlossen und auch mit der Peergroup konnten sich die Heranwachsenden nicht mehr treffen. Die Chatberatung fungiert als ein Angebot innerhalb der mediatisierten Lebenswelt der Jugendlichen. Die beratenden ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen haben langjährige Erfahrungen in der Seelsorge und zum Teil eine beraterische Zusatzqualifikation. Anknüpfend an den Beitrag von Annette Haußmann wird im Folgenden das aufblühende Feld der digitalen Jugendseelsorge am Beispiel des Projekts »Schreiben statt Schweigen« vorgestellt. Der folgende Beitrag skizziert anhand von Beispielen der Referentin für Ev. Schüler:innenarbeit und für Schul- und Jugendseelsorge im Jugendpfarramt der Nordkirche Perspektiven einer digitalen Jugendseelsorge und zeigt Schnittstellen zur Jugendtheologie auf. Jugendseelsorge wird im Folgenden als eine lebensphasenspezifische Seelsorge verstanden, die von den Jugendlichen als Subjekten ausgeht. 1. Jugend als Lebensphase

Die Lebensphase Jugend2 ist durch eine dichte Staffelung von Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet. Die Pubertät

markiert einen neuen Lebensabschnitt, der sich gegenüber der Kindheit in einer andersartig gestalteten Form der Verarbeitung von physiologischen und psychologischen Anforderungen zeigt.3 Jean-Jacques Rousseau geht von einer tiefgreifenden seelischen Erschütterung und Umgestaltung aus, indem er von einer »zweiten Geburt«4 spricht. Die von Rousseau gewählte Metapher beinhaltet jugendtypische und naturgegebene Erscheinungen als Ausdruck biologischer Gegebenheiten von hormonellen Einflüssen und neuronalen Umbauprozessen. Es wäre wohl nicht falsch zu sagen: Jugend ist ein Ausnahmezustand – ein Abschnitt im Leben des Menschen, der ebenso schöpferisches wie zerstörerisches Potenzial in sich birgt. Jugendliche sind unermüdliche Motoren für Kreativität, bringen Expressionsexplosionen an ästhetischen Idealen hervor und sind kraftstrotzende Energiequellen. Sie engagieren sich in verschiedener Weise so-

2 Hurrelmann u.a. untergliedert die Lebensphase ›Jugend‹ in drei Abschnitte: 1. Frühe Jugendphase (12- bis 17-Jährige), wobei er anmerkt, dass das Eintrittsalter sich immer weiter nach vorn verlagert; 2. Mittlere Jugendphase (18- bis 21-Jährige); 3. Späte Jugendphase (22- bis max. 30-Jährige), Hurrelmann beobachtet hier eine Tendenz der Verschiebung nach hinten. Vgl. Klaus Hurrelmann / Gudrun Quenzel, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, 13. Aufl., Weinheim u.a. 2016, 45. 3 Vgl. ebd., 31. 4 »Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal, um zu existieren, das zweite Mal, um zu leben; einmal für die Gattung und einmal für das Geschlecht.« Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 13. Aufl., Paderborn 1998, 210.

Teschmer Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze

zial, politisch und gesellschaftlich (z.B. Fridays for Future) – wobei die Stimmung stets schwankt von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt innerhalb kürzester Zeit. Es ist eine Lebensphase des Umbruchs und des Aufbruchs. Jugend wird als ein Teilsegment der Gesellschaft gesehen, in dem sich gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen des Zeitgeistes verdichten, sodass es nicht mehr nur um das Biologische, Naturgegebene und Entwicklungsbedingte der Lebensphase geht, sondern auch um die historischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen. Diese ermöglichen es zuallererst, dass sich eine Jugendphase als Spielraum der Identitätsentwicklung herausbildet.5 1.1 Die Konstruktion von Identität(en) »Sie können sich selbst eigentlich eine andere Identität geben, sie könnten spielen mit der Identität.«

Rolf Göppel spricht treffend von ›provisorischen Identitätshüllen‹, in die Jugendliche temporär hineinschlüpfen und die sie gestalten können.6 Durch Interaktionen und Veränderungen ist Identität somit nie in sich abgeschlossen beschreibbar. Dabei ist Identität nicht willkürlich, zufällig, jederzeit ersetzbar oder ohne einen biografischen Längsschnitt zu verstehen.7 Nach Silke Leonhard kann Identität aufgrund des Komplexitätszuwachses und der zunehmenden Unübersichtlichkeit nicht mehr einseitig als Herausbildung eines inneren Kerns betrachtet werden, sondern vielmehr als prozessualer »Projektentwurf des eigenen Lebens«8. Dieser individuelle ›Projektentwurf des eigenen Lebens‹

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ist keineswegs linear, er weist vielmehr im Heranwachsen brüchige und kurvige Abschnitte auf. Identitätsbildung bezieht sich immer auf die konkrete Lebensgeschichte und vollzieht sich in ihr. Dabei ist die Lebensgeschichte im Gegenüber zum chronologisch strukturierten Lebenslauf ein Konstrukt und stellt sich insbesondere im Medium der Selbsterzählung dar, sodass von einer narrativen Identität gesprochen werden kann. Das Individuum rekonstruiert in der Erzählung zugleich als Autor:in und Interpret:in das eigene Leben und stiftet so aufgrund der individuellen Verbindung der Elemente eine sinnhafte Struktur, die nach Situation und Hörerschaft variieren kann und somit die dynamische Seite der Identität sichtbar macht. Vor allem Jugendliche verarbeiten über die Erzählung Erfahrungen von Diskontinuität und Brüchen. Des Weiteren entwickeln sie eine Strategie individueller Kontingenzbewältigung, die kein Abbild der Realität bietet, sondern eine Spannung von Distanz und Nähe zum gelebten Leben aufzeigt. Die eigene Lebensgeschichte wird durch fiktionale Entwürfe neu darstellbar.9

5 Vgl. Rolf Göppel, Das Jugendalter. Theorien, Perspektiven, Deutungsmuster, Stuttgart 2019, 196. 6 Vgl. ebd., S. 231. 7 Vgl. Hans-Georg Ziebertz, Religion, Christentum und Moderne. Veränderte Religionspräsenz als Herausforderung, Stuttgart 1999, 81. 8 Silke Leonhard, Religionspädagogische Professionalität. Eine empirisch-theologische Studie im Horizont des Pathischen, Göttingen 2018, 378. 9 Vgl. Marina Kumlehn: Religion und Individuum, in: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch, hg. u.a. von Kristian Fechtner, Stuttgart 2017, 46–54, hier 51f.

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Praxisbezogene Beiträge

Identität ist demnach das Ergebnis eines komplexen Dialogs zwischen der bewussten und unbewussten menschlichen Innen- und Außenwelt. Dabei scheint die formende Wirkung auf das Individuum nicht immer klar zu sein. Besonders Jugendliche stehen in der Pubertät vor der Aufgabe, ihre Identität zu gestalten. Die Frage nach der eigenen Identität sucht die »[…] bestätigte Gewissheit, der zu sein, für den ich mich halte«10, und umfasst alles, was für die Existenz wesentlich ist. Identität entsteht im Chat in der Selbstbeschreibung, indem Jugendliche mit ihrer Identität spielen können. Durch den selbstgewählten Usernamen kann sogar von einer Fake-Identität gesprochen werden. Facetten der eigenen Identität können im Schutz der Anonymität durch den Usernamen kommuniziert werden. Die Anonymität wird auf beiden Seiten gewahrt. Nicht nur die Ratsuchenden, auch die Seelsorger:innen agieren anonym. Diese Anonymität eröffnet eine seelsorgliche Chance, da die Selbstmitteilung wesentlich leichter fällt als in einer face-to-face-Situation. Indem eine niedrigschwellige Kontaktfläche geschaffen wird, können persönliche Schamgrenzen gewahrt werden.11 Das Spiel mit Identitäten stellt in gewisser Weise die Basis der digitalen Kommunikation dar. Seelsorger:innen sind somit herausgefordert, zwischen den Zeilen zu lesen und die eigene Wahrnehmung mit direkten Fragen an die Jugendlichen zu überprüfen.12 Die Mitarbeiter:innen können für die eigene Seelenhygiene vor und nach jedem Chatangebot auf ein Team zurückreifen. Zusätzlich werden regelmäßig Gruppensupervisionen angeboten.

1.2 Sinn- und Lebensfragen in Freiheit

In keiner anderen Lebensphase denken Menschen über so grundsätzliche Fragen des Lebens nach wie in der Pubertät. Jugendliche suchen nach Sinn. Dabei handelt es sich um eine besondere Form des ›In-der-Welt-Seins‹, das durch ein besonderes Lebensgefühl sowie durch besondere Chancen und Herausforderungen gekennzeichnet ist. Der Chat kann ein Ort sein, an dem verschiedenste Sinnoptionen besprochen, erprobt und in Ansätzen reflektiert werden. Seelsorger:innen können Deutungsangebote machen und Jugendlichen unterstützend zur Seite stehen, ihr Leben selbst zu deuten und neu zu orientierten. Beratung wird vor allem dann gesucht, wenn Jugendliche mit Ereignissen konfrontiert werden, die es nicht mehr erlauben, die Welt und vor allem das eigene Leben so zu betrachten, wie es bisher der Fall war. Hier setzt die Seelsorge an, nämlich dort, wo die Routinen der Alltagssorge an ihre Grenzen kommen.13 Seelsorge findet ihren Ort im Alltag und ermutigt zum Perspektivwechsel bezüglich der großen Fragen des Lebens: 10 Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre, 4. Aufl., Göttingen 2015, 236. 11 Vgl. Annette Haußmann / Caroline Teschmer / Christoph Wiesinger / Golde Wissner, Seelsorge und digitale Kommunikation. Dynamiken sozialer Interaktion und ihre Auswirkungen auf Poimenik, in: WzM 73 (2021), 5–18, hier 12. 12 Vgl. Gunhild Vestner, Gunhild; Werner Greulich, Chancen und Herausforderungen der Seelsorge und Beratung im Chat, in: WzM 63 (2011), 438–451, hier 447f. 13 Vgl. Hans-Martin Gutmann / Birgit Kuhlmann / Katrin Meuche, Praxisbuch Schulseelsorge, Göttingen 2014, 14f.

Teschmer Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze

»[…][D]ie mal ausloten wollen, etwas mal in die eine Richtung zu denken oder auch Raum zu haben in die andere Richtung denken zu dürfen, […], das ist, glaub ich, in diesem Format […] schon besonders und zieht Menschen an, die gerne mal […] das Leben in Frage stellen. Oder die nur mit ganz vielen Fragen von allen Seiten auf das Leben gucken möchten.«

Es geht um die Erkundung der persönlichen Sinn- und Lebensfragen sowie um das Streben nach Freiheit als Autonomiegewinn. Dieses stellt vor allem in der Adoleszenz ein generatives Thema dar. Was sich zeigt, ist ein »Index meines eigenen Jetzt und So«14, also das, was Jugendliche von sich aufdecken. Das Deuten und Verstehen durch die beratende Person stellt dabei einen hochkomplexen Prozess dar. Ein Verstehen kann immer nur in Fragilität stattfinden.15 Kommunikations-, Verstehens- und Deutungsprozesse verändern sich im Kontext der Chatberatung. So lassen sich Inhalt und Form, Kommunikationsgehalt und Medium nicht voneinander trennen, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig.16 Während der Chatberatung werden die Rat suchenden Menschen im Gegensatz zur klassischen Seelsorge nicht gesehen und nicht gehört. Im Fokus steht allein das geschriebene Wort. Der Chat ist auf einen temporären interaktiven Dialog ausgerichtet und verbindet Elemente der Mündlichkeit mit Elementen der Schriftsprache. Es ist eine Sprache der Nähe, die Rechtschreibfehler sowie den Verzicht auf Interpunktion ignoriert und den punktuell informierenden Charakter der Begegnung im Blick hat. Die mündliche Konzipierung in Form einer Umgangssprache zeichnet einen Chatverlauf aus. Emojis erweitern dabei die Ausdrucksmöglichkeiten.17

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2. Digitale Jugendseelsorge als Teil der mediatisierten Lebenswelt

»Das Entscheidenste ist ja wirklich die Kanalreduktion – […].« Jugendliche können sich schnell einloggen und ebenso schnell ausloggen. Das niedrigschwellig angelegte Format der Chatberatung erreicht so auch Heranwachsende, die einen direkten Seelsorgekontakt nicht aufnehmen wollen oder können. Der Chat definiert sich per se durch eine Kanalreduktion: keine Mimik und Gestik, keine Stimme, nur das geschriebene Wort. »[…] [E]ntscheidend ist tatsächlich […] das »nicht gesehen werden«, das »nicht gehört werden«; – Also man teil sich ja mit und wir lesen ja auch, wir hören ja nicht mit der Stimme. Wir arbeiten ja mit dem sprachlichen Ausdruck […]. Das bietet viel Freiheit, viel Offenheit, also und […] man kann […], auch eine gewisse Emotionalität, die wir jetzt natürlich auch nur reduziert erleben, aber man kann eben halt – von dort äh wo man schreibt und nicht gesehen wird naja, man kann seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Man kann weinen, ohne das Gesicht zu verlieren […]. Das ist schon […] ein großes Angebot an Freiheit und an […] Selbstbestimmung[.]«

14 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Konstanz 2004, 228. 15 Vgl. Kristin Merle, Sinnwelten und soziale Kontexte moderner Subjekte, in: WzM 66 (2014), 452–463, hier 457. 16 Vgl. Ilona Nord, Seelsorge in sozialen Medien, in: Seelsorge. Grundlagen – Handlungsfelder – Dimensionen, hg. von Ralph Kunz, Göttingen 2016, 159–173, hier 159. 17 Vgl. Gunhild Vestner / Werner Greulich (wie Anm. 12), 446.

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Praxisbezogene Beiträge

Die Jugendlichen melden sich mit einem Usernamen an. Die Seelsorger:in ist herausgefordert den Kontakt zu gestalten, Vertrauen zu entwickeln, sodass der Ratsuchenden ein Resonanzraum eröffnet wird. Ein Bedürfnis Heranwachsender als »Digital natives« ist es, Resonanz zu erhalten. Martin Altmeyer spricht von einem narzisstischen Bedürfnis des mediatisierten Menschen nach Anerkennung. Jugendliche stellen sich in der Chatberatung ihrem Problem, ihren Anliegen, ihren Fragen und erwarten Resonanz. Seelsorger:innen können ermutigen, sodass das eigene Selbstbild durch »virtuelle« Selbsterfahrungen gestärkt wird. Gesehen-Werden kann mit Scham verbunden sein. Scham ist ein emotionales Gefühl, das den Menschen ohne jegliche Vorankündigung überkommt.18 Wie Scham erlebt wird, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, die sowohl in der Person selbst als auch in ihrer Umwelt zu verorten sind.19 Im Chat tritt Scham verdeckt für das Gegenüber nicht sichtbar auf. Der scheinbar kontrollierbare Umgang mit Scham in einem gesicherten Raum kann ein mögliches Motiv für das Annehmen des digitalen Beratungsangebots sein. Der Chat kann ein Ort sein, an dem Jugendliche Scham eher zulassen und schamvolle Erlebnisse oder Erfahrungen als solche identifizieren und versuchen auszudrücken, ohne Gefahr zu laufen, erneut durch den Blick des Gegenübers beschämt zu werden. Das Spiel mit der Anonymität im Chat scheint diese Sorge zu mindern. Sollte es doch zu unangenehmen Situationen kommen, haben die Jugendlichen jederzeit die Möglichkeit, den Chat zu beenden: »Mit einem Mausklick ist man drin und

genauso schnell ist man auch wieder raus.« Gefühle werden häufig schneller und direkter ausgedrückt, da der Schreibvorgang bewusster gestaltet wird als in der face-to-face-Kommunikation. »Manche kommen direkt mit einer Frage, sehr direkt dann auch rein. Wollen eine Antwort oder eine Meinung […]. Wir haben lange Gespräche, 45 Minuten und länger, aber einen großen Anteil an kurzen. […] Die so über das Leben philosophieren, über das Leben nachdenken. Was hat mir das Leben überhaupt noch zu bieten? Dann kommen wir so manches Mal so in Richtung Suizidalität, ohne dass die jungen Menschen akut gefährdet sind […].«

Im Chat kann es zu einer emotionalen Selbstöffnung kommen, indem Akzente der individuellen Lebensgeschichte skizziert werden. Den Jugendlichen wird im Chat ein Gefühl des ›verstanden- und aufgefangen- Werdens‹ entgegengebracht.20 Mitgefühl wird in diesem Zusammenhang dynamisch und zu keinem Zeitpunkt statisch verstanden. Jugendseelsorge basiert auf Vertrauen, Authentizität, Akzeptanz und Anerkennung.21

18 Vgl. Christoph Demmerling / Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 220. 19 Vgl. Daniela Haas, Das Phänomen Scham. Impulse für einen lebensförderlichen Umgang mit Scham im Kontext von Schule und Unterricht, Stuttgart 2013, 162. 20 Vgl. Annette Haußmann / Caroline Teschmer / Christoph Wiesinger / Golde Wissner (wie Anm. 11), 13. 21 Vgl. den Beitrag von Annette Haußmann in diesem Band.

Teschmer Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze

3. Jugendspezifische Themen im Kontext von Jugendseelsorge und Jugendtheologie

Jugendliche stellen substanzielle Fragen, die sich durch ihre eigene Aneignung an den großen Fragen des Lebens und durch Suchbewegungen (z.B. ›Wer bin ich?‹ als Frage nach der Identität des Menschen, die Entdeckung des Selbst oder in Sinn- und Lebensfragen) charakterisieren, sodass in einem weiten Horizont von einer theologischen Praxis im Sinn der Beschäftigung mit Lebens-, Glaubens- und Sinnfragen gesprochen werden kann.22 Es sind die großen Fragen von Sinn und Sein und somit auch theologische Fragen.23 Die Themen der Chatberatung unterscheiden sich nicht von anderen Beratungsangeboten. Der Unterschied zeigt sich darin, dass die Jugendlichen sehr schnell und direkt in ein Thema einsteigen: »[…] [D]iejenigen, die auch mal […] sehr kurz auf den Punkt bringen wollen, was ihnen gerade am Leben wichtig erscheint […].« Jugendseelsorge wie auch Jugendtheologie beginnt nicht im luftleeren Raum. Jugendliche bringen ihre Fragen und Geschichten mit. Jugendseelsorge und Jugendtheologie ist deutlich mehr als ein spontanes Gespräch. Es geht um eine genaue Wahrnehmung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Themen und Fragen sind die klassischen seelsorglichen wie auch theologischen Themen der Altersgruppe. »[…] [G]anz viel dreht sich um […] Ängste, […] Einsamkeitsgefühle, […] Alltagsprobleme, aber auch alles rund um Liebeskummer, Beziehungsstress, Sexualität, wann ist der richtige Augenblick für […]

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»das erste Mal« […]. Eher wirklich Fragen des Jugendalters […], sodass es vielleicht manchmal leichter ist in diesem Format auszusprechen […] als mit einer Person in einer »face to face« Begegnung. Oder ja na Liebeskummer, wenn jemand Schluss gemacht hat. Das kommt bei den Jüngeren als auch bei den 18-22jährigen regelmäßig vor. […] [A]ber da geht es auch viel um äh Probleme mit den Eltern, Probleme mit schulischen Anforderungen […] Mobbing […] [.] So und diese Jugendthemen, sag ich mal so.«

Jugendseelsorge stellt ein Phänomen im Dazwischen dar. Haußmann spricht von einem »Zwischenraum«.24 Der Chat kann einen solchen Zwischenraum darstellen. Durch die Beratung wird eine neue Wirklichkeit geschaffen, sodass sich ein eigener Raum zum Weiterdenken entsteht. Seelsorge kann wie die Jugendtheologie religiöse Deutungen ins Spiel bringen. Thomas Schlag spricht aus religionspädagogischer Perspektive von einem Selbstverständnis als »Lebenswissenschaft«25. In den Fokus rückt somit das »hermeneutische und kritisch-utopische Potenzial«26 im Kontext gesellschaftlicher

22 Vgl. Bert Roebben / Thomas Schlag, Jugendtheologie. Basisannahmen und Konkretisierungsmöglichkeiten für die kindliche Jugendarbeit in: Handbuch Kirchliche Jugendarbeit, Für Studium und Praxis, hg. von Angela Kaupp und Patrik C. Höring,. Freiburg i.Br. 2019, 444–459, hier 446f. 23 Vgl. den Beitrag von Annette Haußmann in diesem Band. 24 Vgl. ebd. 25 Thomas Schlag, Religionspädagogik als Lebenswissenschaft. Bildungstheoretische Vermessung in weisheitlich-lebensdienlicher Perspektive, in: ZThK 116 (2019), 228–250, hier 229. 26 Ebd.

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Praxisbezogene Beiträge

Herausforderungen, bildungspolitischer Entwicklungen und individueller Lebensdeutungen der Jugendlichen. Schlag geht dabei nicht von einem Positivismus aus, sondern stellt die Alterität in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, indem er konstituierende Faktoren wie gesellschafts- und ökonomiekritische Momente im Blick hat. Zugleich müssen die gegenwärtig stärker hervortretenden ökologischen Probleme, die zunehmend auch lebensweltlich Gestalt gewinnen und ins Interessengebiet von Jugendlichen fallen, berücksichtigt werden. Seelsorge, die an den Lebens-Fragen der Jugendlichen anknüpft, kann somit als »Lebenswissenschaft« verstanden werden. »Aber auch mal ganz offen das Leben in Frage stellen zu dürfen und sich mit Themen von Ewigkeit und Endlichkeit und […] »was bleibt von mir«, also radikale Fragen, mal wirklich ansprechen zu können und dann ein mitgehendes Gegenüber zu haben. Ich hatte neulich so ein Gespräch, wo ein junger Mensch, ich weiß gar nicht, ob Mann oder Frau […], diese Fragen so geäußert hat und dann sagte »so, nun muss ich aber auch zum Ende kommen, ich muss noch Schularbeiten oder ich muss noch Hausaufgaben machen für morgen.« […] Er wollte auch mal die sehr ernsthaften Fragen mit jemanden thematisieren.«

Das Beispiel lässt den jugendtheologischen Ansatz deutlich werden. Die Schüler:innen werden in Beziehung wahrgenommen und ihre Sichtweisen durch die Seelsorger:in rückgekoppelt. Jugendliche werden so als Mitkonstrukteur:innen in ihrem theologischen Denken, Fragen und Suchen berücksichtigt.27 Es geht um existen-

zielle Fragen, die Impulse einer expliziten Subjektorientierung nicht nur aufnimmt, sondern, wie Bernhard Grümme aufzeigt, diese auch sichtbar verschärft.28 Damit vollzieht sich ein Perspektivwechsel, indem die von den Jugendlichen selbst aktiv hervorgebrachten Fragen im Dialog entdeckt werden und eine enge Verzahnung zur Lebenssituation hervortritt. Erkennbar sind individuelle Anknüpfungspunkte und Ressourcen für ein subjektives gedankliches Experimentieren. Es kann auf eine Vielfalt jugendtheologischer Kommunikationsformen rekurriert werden, sodass auch die Chatberatung eine Form davon darstellt. Es geht um Themen, die für Jugendliche einen lebensbedeutsamen Sinn haben und von den Jugendlichen auf unterschiedlichen Ebenen durchdrungen werden können. Jugendtheologie wie auch Jugendseelsorge orientiert sich an den Bedürfnissen der Jugendlichen, sodass von einer Jugendtheologie im weiten Sinne ausgegangen werden kann.29 »Jugend27 Vgl. Hartmut Rupp, Didaktik des Perspektivwechsels. Vorüberlegungen zu »Kindertheologie« und »Theologisieren mit Kindern«, in: Christenlehre Religionsunterricht Praxis 57 (2004), 17–21 hier, 20; vgl. Friedrich Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie?, in: »Im Himmelreich ist keiner sauer«. Kinder als Exegeten, JaBuKi 2, hg. u.a. von Anton A. Bucher, Stuttgart 2003, 9–18, hier 9f. 28 Vgl. Bernhard Grümme, Kindertheologie. Modethema oder Bereicherung für die Religionspädagogik, in: RpB 57 (2006), 103–118, hier 105. 29 Vgl. Thomas Schlag, Von welcher Theologie sprechen wir eigentlich, wenn wir von Jugendtheologie reden? in: »Wenn man daran so glauben kann, ist das gut« Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie, JaBuJu 1, hg. u.a. von Petra Freudenberger-Lötz, Stuttgart 2013, 9–23, hier 17.

Teschmer Perspektiven digitaler Jugendseelsorge: Eine Projektskizze

theologie im weiten Sinn ist dann überall dort zu finden, wo sich Jugendliche ernsthaft auf das Nachdenken und Fragen von Religion, Glaube und Wahrheit einlassen.«30 Jugendseelsorge und Jugendtheologie stellen Heranwachsende als Subjekte ihrer Lebenswelt mit ihren Fragen in den Fokus. Es geht um ein Mitschwingen und Mitfühlen, indem die Fragen der Jugendlichen als Gitter betrachtet werden, auf denen sie durch das Gespräch weitergehen können. Seelsorger:innen fungieren dabei als Begleiter:innen oder Möglichmacher:innen. Es geht um ein gemeinsames Suchen, das nicht fromm oder missionarisch angelegt ist, sondern immer lebensweltorientiert. Jugendseelsorge stellt folglich einen spannenden und zukunftsweisenden Forschungsschwerpunkt dar. Bert Roebben hat auf Jugendseelsorge als Forschungsgegenstand bereits 2013 hingewiesen, indem er die Beobachtung angeführt hat,

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dass Heranwachsende zunehmend im Kontext der wachsenden Globalisierung in einer nahezu überwältigenden Auswahl von »Lebensstilen, Werten, Normen und Sinnorientierungen«31 aufwachsen und auf der Suche nach Halt und Antworten sind. In der Chatseelsorge kehren Jugendliche unter dem Deckmantel des Nicht-Gesehen Werdens ihr Inneres nach außen. Es werden Fragen, Probleme, Gefühle u.ä. geäußert, die nicht ins Leere laufen, sondern auf Resonanz stoßen und an Bedeutung gewinnen.

30 Ebd., S. 18. 31 Bert Roebben, Internationale Entwicklungen in der Erforschung der Jugendseelsorge. Kontexte, Themen und Tiefenstrukturen, in: »Wenn man daran so glauben kann, ist das gut« Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie. JaBuJu 1, hg. u.a. von Petra Freudenberger-Lötz, Stuttgart 2013, 70–83; hier 76f.

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Praxisbezogene Beiträge

Tobias Faix / Leonie Preck / Marielena Berger Instagram als neue Kanzel. Christliche Influencer:innen zwischen mediatisierten Lebenswelten und fluiden Identitätskonstruktionen Wo und wie theologisieren Jugendliche heute? Während die einen anhaltend darüber diskutieren, ob man eine Theologie von Jugendlichen überhaupt Theologie nennen kann und andere über Orte jugendlicher Theologie oder deren religionspädagogische Verortung debattieren, hat sich in den sozialen Medien eine ganz eigene kontextuelle und selbstbewusste theologische Prägekraft entwickelt, die abseits didaktischer Entwürfe und kirchlicher Deutungsmacht geradezu spielerisch die neue Generation mit Glaubensthemen in den Dialog zieht: Christliche Influencer:innen. Dieser Beitrag möchte diesem Phänomen am Beispiel von zwei christlichen Influencerinnen aus jugendtheologischer Perspektive nachgehen. 1. Jugendtheologien und digitale Bildkulturen in den sozialen Medien

Für die jungen Generation ist das Internet ein selbstverständlicher Lebensbegleiter, der nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken ist. Aber entsteht dort Theologie? Manche schwarzmalern gar, dass gerade die Theologie in der schönen neuen Welt an Einfluss verliert. Aber, wenn wir genau hinsehen, entdecken wir, dass in der Flüchtigkeit zwischen Instagram, TikTok und YouTube eine neue Form des Theologisierens wächst, die sich dem Zwang der üblichen fachli-

chen Verortungen entzieht und sich ganz eigene Wege sucht. Denn die Identifizierung von theologischen Perspektiven und Orientierungen in den sozialen Medien sowie deren Urteilsfindung gleicht mehr einem iterativen als einem systematischen Prozess1. Zudem gibt es eine Verschiebung von einer institutionellen Autorität und legitimierten Wahrheiten, hin auf eine persönliche Relevanz des Glaubens und der Emotionen2. Deshalb scheint hier gerade die jugendtheologische Zugangsweise mit den wechselnden theologischen Modi für, mit und von Jugendlichen gut geeignet, um sich dem Feld der sozialen Medien als theologischen Ort zu nähern. So definiert Thomas Schlag Theologien von Jugendlichen als eine »dialogische bzw. beziehungsorientierte, prozesshafte, kritische und reflektierte geistige Tätigkeit«3 und 1 Florian Höhne, Theologische Grundlegungen für eine Ethik der SocialMedia, in: Gotlind Ulshöfer / Peter G. Kirchschläger / Markus Huppenbauer (Hg.), Digitalisierung aus theologischer und ethischer Perspektive Konzeptionen – Anfragen – Impulse, Baden-Baden 2021, 46. 2 Rebekka Krain / Laura Mößle, Christliches Influencing auf YouTube als ›doing emotion‹, in: Östereichisches Religionspädagogisches Forum, 28. Jg. 2020, Heft 1, 164. 3 Thomes Schlag, Von welcher Theologie sprechen wir eigentlich, wenn wir von Jugendtheologie reden, in: Freudenberger-Lötz (Hg.), Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut. Grundlagen und Impulse für eine Jugentheologie, Stuttgart 2013, 10.

Faix / Preck / Berger Instagram als neue Kanzel

Marcell Saß ergänzt, dass »Inkonsistenz und Authentizität gleichsam Grundmodi religiöser Kommunikationsprozesse«4 beim Theologisieren von Jugendlichen sind. Dies scheinen gute Grundvoraussetzungen zu sein, um im informellen Lernen der mediatisierten Lebenswelten von Jugendlichen theologische Anknüpfungspunkte zu finden. 1.1 Mediatisierung: Digitale Kommunikation und Identitätsbildung

Waren früher Pfarrer:innen oder Reli­ gionslehrer:innen zentrale Impuls­ geber:innen für theologische Gespräche und haben so die Kommunikation des Evangeliums sowie eine implizite und/ oder explizite Theologie gefördert, so geschieht dies heute vermehrt außerhalb der analogen Bildungsorte in den sozialen Medien. Stellen wir dies in einen größeren Kontext der vier Forschungswellen zur Erforschung von »Digital Religion(s)«5, so befinden wir uns in der Welle 4: Digitalisierung als gesellschaftlicher Wandlungsfaktor, der sich auf die religiöse Sozialisation auswirkt und sich vor allem im Stichwort »mediatisierte Welt« wieder findet. Mediatisierung bedeutet, dass eine digitale Kommunikation identitätsbildend ist6. Digitale Medien haben eine soziale Funktion und ermöglichen neue Beziehungsformen. Diese umfassen das adressatenorientierte oder öffentliche Teilen von Informationen, Bildern oder Texten, das Erhalten und Beobachten solcher Daten, das Teilhaben an Kommunikationsprozessen in Peergroups, Organisationen oder weiten Öffentlichkeiten, oder auch das Verabreden, Aushandeln oder Spielen mit Men-

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schen, die bekannt oder unbekannt waren. Durch die Selektion, Filterung und Fokussierung von Inhalten prägen digitale Medien Wahrnehmungen, indem sie aus dem unerschöpflichen »Datenmeer« bestimmte Nachrichten, Meinungen und Bilder nach nutzerabhängigen oder auch nach nicht einsehbaren, von Algorithmen gesteuerten Kriterien zeigen. Dadurch werden soziale Praktiken der Selbstpräsentation, des Rollenverhaltens, des Feedbacks, der Vernetzung, der Inklusion und auch der Exklusion geformt. Somit verändern digitale Medien sowohl die Kommunikation als auch unsere Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen: 1. Die soziale Funktion der Kommunikation: Die Sprache verändert sich in den sozialen Medien durch das Teilen, 4 Marcell Saß, Von der Kindertheologie zur Jugendtheologie. Offene Fragen an einen aktuellen religionspädagogischen Diskurs, in: Loccumer Pelikan, 2012, Heft 4, 161. 5 Die drei vorhergehenden Wellen (original »Waves of Research«) sind nach Nord (sie folgt hier international Campbell und anderen) folgende. Welle 1: Einzelmediennutzung auf verschiedenen Onlineplattformen wie von YouTube etc., Welle 2: »many to many Kommunikation« in den Sozialen Medien, Blogs, Online-Religion wie Trauer- und Sterbeprozesse etc. entsteht, Welle 3: Entstehung der Digital Religion, religiöse Praxis geschieht nicht mehr neben, sondern mitten in der alltäglichen Lebensführung. (Vgl. Ilona Nord, Religiöse Sozialisation von Jugendlichen in mediatisierter Welt Anfangsfragen und Zielsetzungen, in: Wolfgang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität: Ein Kompendium Freiburg i.Br. 2021, 276ff). 6 Andreas Büsch, Das Geschöpf im Netz: Auf der Suche nach dem digitalen Selbst. Ansätze einer theologischen Anthropologie im Zeitalter der Digitalität, in: Wolfgang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität: Ein Kompendium Freiburg i.Br. 2021, 200–215.

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Praxisbezogene Beiträge

Liken, Kommentieren, Diskutieren, Kritisieren, Spielen, etc. 2. Identitäten werden geformt: durch Selbstpräsentation, Rollenmuster, Feedback, hybride Identitäten, Positionierung, Selbstwert, Spiele mit Identitäten, etc. 3. Dies prägt unsere Wirklichkeitswahrnehmung: kommentierte Meinungen, Fake News, Bildsprache, kollektives Gedächtnis, Filterblasen, schnelllebige Trends, Algorithmen, etc. Es wird also deutlich: Digitale Medien bringen Veränderung der Kommunikation mit sich und sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Was bedeutet das entwicklungspsychologisch, religionspädagogisch oder für die religiöse Kommunikation des Evangeliums? Diese Fragen werden uns sicher noch lange beschäftigen und es wird auch einiges an Forschung benötigt, um sie zu beantworten. Sicher ist, dass die Veränderungen tiefgreifender sind, also zunächst gedacht. 1.2 Remix – ›Referenzialität im digitalen Raum‹

Einen grundlegenden Gedanken zur Beantwortung legt der Schweizer Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung, Felix Stalder.7 Er beschreibt plausibel, wie Bestehendes mit Neuem verbunden und zu einer Synthese wird. Diesen Vorgang nennt er ›Referenzialität im digitalen Raum‹. Es entsteht ein Remix – ein Zusammenführen, Verändern und Hinzufügen von unterschiedlichen Kommunikationsformen und Veranstaltungen, woraus sich ständig etwas Neues entwickelt. Bestehendes wird mit Neuem

verbunden – nicht als Brücke, sondern als Synthese. Zusammenführen, Verändern und Hinzufügen ist somit ein ständiger Prozess mit fließenden Übergängen. Das Internet ist dabei keine neutrale Kommunikation, sondern ein Raum, indem Identitätsbildung geschieht bzw. gestaltet wird. Neue Freiheit und neue Versuchungen gehen somit Hand in Hand und fordern uns heraus, die Grenzen des Eigenen zu prüfen, um sich nicht in der Grenzenlosigkeit der virtuellen Welt zu verlieren. Referenzialität beschreibt also in unserem Fall, dass analoge Formen von Kirche mit digitalen zusammenkommen und sich wechselseitig beeinflussen, so dass daraus etwas Neues entsteht. 1.3 Digitale Bildkulturen

Der Trend ist klar: Twitter, Instagram, TikTok etc. arbeiten mit Bildern und die Mediatisierung8 gewinnt an Bedeutung. Viera Pirker hat die Bedeutung von Bildkulturen9 bei Jugendlichen in den sozialen Medien gut zusammengefasst, wenn sie feststellt, dass Bilder (für Jugendliche) einen höheren Glaubwürdigkeits- und Wahrheitscharakter haben, so dass innerhalb von Sekunden

7 Felix Stalder. Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 8 Eine gute Zusammenfassung und Vertiefung gibt es bei: Viera Pirker, Zur Macht der Bilder. Menschsein in digitalen Bildkulturen, in: Wolfgang Beck / Ilona Nord / Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität: Ein Kompendium Freiburg i.Br. 2021, 155–179. 9 Ausführlich bei Reinhard Hoeps (Hg.), Handbuch Bildtheologie, Paderborn 2007 und der Reihe Wagenbach (Hg.), Digitale Bildkulturen.

Faix / Preck / Berger Instagram als neue Kanzel

mit einem Identitätsgefühl zwischen »positiv-authentisch« und »negativ-nicht authentisch« entschieden wird10. Dabei entscheiden die Jugendlichen nach inneren Kriterien wie Kohärenz, Authentizität und Anerkennung und so bilden sich neue Identitätskonstruktionen, die Auswirkungen auf das Selbstbild, die Wirklichkeitswahrnehmung und die Peergroup haben. Es entsteht dabei nicht nur ein neuer Umgang mit Bildern, sondern ein neuer Blick in Wirklichkeit. Dies bedeutet, dass Mediatisierung ein zentraler Teil der jugendlichen Sozialisation darstellt und ein natürlicher Ort für sie ist. Auch die Daten der aktuellen JIM Studie zeigen das. So haben 94% der jungen Menschen ein eigenes Smartphone und 89% nutzen das Internet täglich. Dies hat zur Folge, dass sich jugendliche Kommunikation verändert. Instagram stellt dabei als zweitwichtigste App, direkt hinter WhatsApp dar und wird von 72% der Jugendlichen mehrmals die Woche oder täglich genutzt11. Nehmen wir die zunehmende Bedeutung von Bildern im jugendlichen Alltagsgebrauch ernst, dann drängen sich bei unserem Erkundungsgang zwei Christfluencerinnen bei Instagram auf. 2. Christliche Influencerinnen am Beispiel von »ja und amen« und »Liebezurbibel«

Um sich dem Phänomen der christlichen Influencer:in anzunähern, wollen wir exemplarisch uns zwei erfolgreiche deutsche Influencerinnen anschauen, die auf Instagram explizit über ihren eigenen Glauben sprechen. Um einen gewissen Kontrast herzustellen, haben

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wir dabei eine aus dem eher freikirchlich-charismatischen und eine aus dem eher kirchlich-liberalen Frömmigkeitsstil ausgewählt. Beide gehören im deutschen Kontext zu den Micro-Influencer:innen12 (im Vergleich: die Follower:innenzahlen Deutschlands größter Influencer:innen bewegen sich im Millionenbereich, wie @lisaandlena mit 16,7 Millionen Follower:innen). Dennoch gehören beide im christlichen Bereich zu den reichweitestärksten Accounts. Aber dies ist nicht das einzige Kriterium, sondern neben der Reichweite ist gerade im christlichen und religiösen Bereich das Prinzip des social proof von Wichtigkeit. Dieses zeigt sich durch einen Kreis von Gleichgesinnten und zeichnet sich durch eine hohe Bindung der Follower:innen ab. Bei beiden Influencerinnen lässt sich dieser social proof deutlich erkennen, wie im Folgenden deutlich wird. 2.1 LIEBEZURBIBEL (LZB)

Jasmin Neubauer ist 27 Jahre alt, hat Kommunikationsdesign studiert und bezeichnet sich selbst als Designerin, Girlpreacher, Influencerin und selbstständige Unternehmerin. Zurzeit studiert sie freikirchliche Theologie an der Theo-

10 Vgl. Viera Pirker, ›Influenc­­­ing‹ – ein Modell religionspädagogisch reflektierten Handelns?, in: International Journal of Practical Theology, 25. Jg 2021, Heft 1, 158ff. 11 JIM Studie 2020, https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2020/, [Zugriff: 15. Juni 2021]. 12 Vgl. Mafred L. Pirner / Nastja Häusler, Influencer als Vorbilder? – Eine Bestandsaufnahme und Impulse für den Religionsunterricht, in: Loccumer Pelikan, 2019, Heft 3, 9ff.

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Praxisbezogene Beiträge

logischen Akademie Stuttgart (TAS)13, die Teil des charismatischen Gospel Forums ist – einer der größten freikirchlichen Ortsgemeinden in Deutschland. Ihr Instagramaccount »Liebezubibel« verzeichnet aktuell (Stand 11.03.2022) 36.800 Follower:innen, 585 Beiträge und 34 gespeicherte Story Highlights mit etlichen gespeicherten Elementen. Damit kann Liebezurbibel als eine der erfolgreichsten, deutschsprachigen Christfluencer:innen bezeichnet werden. Ihr Instagramaccount, sowie ihr Blog und ihr Shop werden professionell von einem ganzen Team gestaltet14. Doch was macht Jasmin Neubauer zu einer so erfolgreichen Christfluencerin? Viera Pirker fasst folgende Merkmale einer Influencerin zusammen: Influencer:innen haben zunächst einen »hohen Bekanntheitsgrad und eine hohe Reichweite, so dass sie viele Menschen erreichen können«15. Jasmin Neubauer erreicht täglich tausende von jungen Menschen mit ihren Posts, Storys und Live-Aufnahmen. Pirker beschreibt weiter, dass Influencer:innen ein gewisses Expert:innenwissen für ihren Themenbereich zugesprochen wird16. Ohne Frage schreibt sich Jasmin Neubauer dieses Expert:innenwissen selbst zu: sie vermarktet eigene »Biblestudies«, reist auf verschiedene Events, um zu predigen und äußert sich kritisch zu diversen Glaubensbzw. Gesellschaftsthemen (bspw. Sexualität, Partnerschaft, Abtreibung, Corona, Klimaschutz). Seit sie 2021 ein theologisches Studium an der Theologischen Akademie des Gospel Forums17 angefangen hat, attestieren ihre Follower:innen/ Kund:innen ihr zunehmend theologisches Expert:innenwissen. Sie (und ihr Team) gibt vermehrt persönliche und

theologische Ratschläge. Eine Mitarbeiterin von Liebezurbibel beschreibt ihre Erfahrungen mit den Follower:innen wie folgt: »Ich hätte nicht gedacht, dass es so ein Segen für mich und auch für meinen Mann ist, Nachrichten von LIEBEZURBIBEL zu beantworten! Neben vielen allgemeinen Fragen kommen immer wieder sehr theologische Fragen rein. […] Wir lieben es, uns über theologische Fragen länger Gedanken zu machen und eine Antwort zu formulieren.«18 Typisch für Influencer:innen ist weiter die hohe Frequenz der Kommunikation, die direkte Ansprache von Follower:innen und die Selbstinszenierung als »authentisch und nahbar, wie gute Freunde oder wie eine große Schwester«19. Jasmin tritt über die Story-Funktion jeden Tag mehrmals mit ihren Follower:innen in Kontakt, adressiert sie direkt als Gegenüber, gibt Interaktionsmöglichkeiten (z. B. über Umfra-

13 Hier kann eine theologische Aus- und Weiterbildung absolviert werden, an deren Anschluss ein in Florida anerkannter Bachelor- bzw. Mastertitel erworben werden kann (https:// www.theologische-akademie-stuttgart.de/), [Zugriff: 15. Januar 2022]. 14 Neubauer 2021, https://www.liebezurbibel. com/team, [Zugriff: 15. Januar 2022]. 15 Viera Pirker (wie Anm. 10), 49. 16 Ebd., 49. 17 Das Gospel Forum ist eine Freikirche in Stuttgart, die charismatischen Bewegung zugehörig ist. Bekannt ist die Gemeinde unter anderem für die jährlich stattfindende »Holy Spirit Night«. Die ihr angehörige 2009 gegründete Theologische Akademie Stuttgart stellt »neben der Vollzeitbibelschule Revival Training Center (RTC) ein Weiterbildungs- und Zurüstungsangebot des GOSPELFORUMs für den geistlichen Dienst dar« (https://www.theologische-akademie-stuttgart.de/akademie/ [Zugriff: 04. Januar 2022]). 18 Neubauer (wie Anm. 14), [Zugriff: 03. September 2021]. 19 Viera Pirker (wie Anm. 10), 50.

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gen) und nimmt ihre Follower:innen mit in ihren Alltag. Ihrem Design ist anzumerken, dass Jasmin fachlich qualifiziert ist. Sie und das Team hinter Liebezurbibel gestalten ihren Instagram Kanal in einem einheitlichen, feminin wirkenden Design, mit der Verwendung von vielen Kaligraphien und dezenten Tönen (Hellgrau, Rosé, Gold, Beige, Weiß). Dasselbe Design findet sich auch in ihren Produkten, dem Shop und ihrem Blog wieder. Wie für Accounts, die auch ein kommerzielles Interesse vertreten typisch, ist ihr Design konsequent und generiert einen hohen Wiedererkennungswert – Farbgebung und Gestaltung der Posts sind eine Art Markenwert und Teil der Identitätsbildung auf Instagram20. Dazu sind ihre Posts nahezu gleich aufgebaut: ein Bild von sich selbst, von einem Bibelvers/ Spruch in kaligraphischer Schrift oder ein Bild vom eigenen Interieur. Die Bilder werden mit einer Caption versehen, also einer Bildunterschrift, die in der Regel ihre theologische Sicht wiedergibt. Auffällig ist dabei, dass ausnahmslos alle Fotos von ihr professionell aufgenommen sind. Ist sie selbst zu sehen, so blickt sie nie in die Kamera, lässt sich seitlich oder von hinten fotografieren oder schaut in die Ferne. Gerade bei den Bildern, auf denen ihr Gesicht nicht oder kaum sowie vornehmend ihr Rücken zu sehen ist, bietet sie Follower:innen eine Identifikationsfläche; sie können sich selbst in den Bildern wiedererkennen. Der Blick in die Ferne »eröffnet Spielraum auf etwas anderes hin«21. Viera Pirker ergänzt zu Bildpraktiken auf Instagram: »Die private Dynamik der Plattform darf nicht unterschätzt werden: Menschen betrachten die Bilder allein auf dem Bildschirm ihres Smartphones,

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ein intimer und durch Haptik begleiteter Lernraum. Die Auseinandersetzung mit Bildern, die von Grund auf polysem [gegensätzlich] sind, transportiert subtile Empfehlungen für Normalität, Orientierung, Beispiel und Umsetzung. Die Dynamik von Instagram als InfluencerPlattform muss mit einbezogen werden. Sie lädt die Nutzer:innen ein zum Nachahmen und Reproduzieren«22. Die Themen, mit denen sich der Kanals LZB beschäftigt, sind vielfältig, aber weisen alle einen Bezug zu ihrem Glauben und ihrer persönlichen Jesusund Bibelbeziehung auf. Immer wieder bewertet sie aber auch gesellschaftliche Themen aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus und bezieht Stellung zu Themen wie die Rolle der Frau, Abtreibung, Feminismus, (Homo-) Sexualität und Partnerschaften. Dabei inszeniert sich LZB immer wieder als geistliche Ratgeberin für ihre Follower:innen und beschreibt in ihren Posts ihre eigenen theologischen und moralischen Vorbilder; manchmal in Anlehnung an berühmte evangelikale Prediger:innen (Wolfgang Wegert, Leo Bigger, Tobi Teichen, Timothy Keller oder Joyce Meyer), oft sind es aber ihre eigenen Überzeugungen, die LZB in ihren Posts zu erklären sucht. Immer wieder bezieht sie ihre Ansichten auch auf die ihrer Gemeinde (der Arche Gemeinde Hamburg) und insbesondere auf den

20 Vgl. Katja Gunkel, Der Instagram-Effekt: Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt, Bielefeld, 2018, 315ff. 21 Viera Pirker, Katholisch, weiblich, Instagram. Einblicke in plattformspezifische Praktiken, in: ComSoc, 52. Jg 2019, Heft 1, 112. 22 Ebd., 112.

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Praxisbezogene Beiträge

Prediger Wolfgang Wegert, der sie laut eigener Aussage besonders geprägt hat. Als gutes Beispiel kann hier der Post vom 09.11.2021 beschrieben werden. Zu sehen ist Jasmin im Halbprofil, lachend und den Blick zur Seite gewandt, in beige Töne gekleidet. Hinter hier erleuchtet ein Feld im Sonnenuntergang. Die Bildunterschrift lautet: »How to stand steadfast in Christ. [wie bleibt man standhaft in Christus] – Viele Menschen die wanken, die fallen [Emoji]. Bei all dem Trubel bin ich sehr dankbar, auf einem festen,unerschütterlichem Fundament zu stehen. Auf dem Wort Gottes. […] Wohl dem, der nicht wandelt nach dem Rate der Gottlosen, noch tritt auf dem Weg der Sünder, noch sitzt, da die Spötter sitzen; sondern seine Lust hat am Gesetz der HERRN und in seinem Gesetze forscht Tag und Nacht [Herzemoji].«23

2.2 JAUNDAMEN (JUA)

Neben diversen freikirchlich geprägten Influencer:innen gibt es auch eine wachsende Zahl an landeskirchlichen Influencer:innen, die sich unter dem Dach der EKD im Netzwerk Yeet24 wiederfinden. Sie verwenden die Selbstbezeichnung »Sinnfluencer:in« und gehören meist formal der evangelischen Kirche an, werden aber nur in seltenen Fällen auch von ihr für ihre digitalen Botschaften finanziert. Eine dieser »ehrenamtlichen« Sinnfluencerinnen ist Maike Schöfer. Die ehemalige Religionslehrerin und jetzige Vikarin der EKBO ist 32 Jahre alt und hat ihre Internetkarriere mit einem Blog für Religionslehrer:innen gestartet. Seit 2018 ist sie als »ja.und.amen« auch auf In-

stagram aktiv. Anfangs war der Account noch mit Inhalten aus dem Religionsunterricht gefüllt, heute spricht sie vor allem über ihre eigenen theologischen Überzeugungen, gesellschaftsrelevante Themen und ihren Alltag als Vikarin. Sie ist außerdem auf TikTok und YouTube aktiv und hat das feministische Andachtskollektiv (FAK) initiiert sowie den Hashtag #glaubeteilen entwickelt, um auf Instagram über Glaube und Gott ins Gespräch zu kommen. Genau wie LZB kommuniziert JUA schwerpunktmäßig über tägliche Storys mit ihren Follower:innen, gibt hier auch Möglichkeiten zur Interaktion oder macht auf ihre (theologischen) Posts aufmerksam. Auch Maikes Account besitzt eine ganz eigene, individuelle Ästhetik, die sich aber von LZB darin unterscheidet, dass sie keine Pastelltöne, kaligraphische Schönschrift oder Wohnungsästhetik verwendet. Maikes Posts sind immer weiß gerahmt, meist mit schwarzer »ZeitungsÜberschrift« und häufig mit sich selbst als Motiv, immer direkt in die Kamera schauend. In ihren Bildern bricht sie Geschlechterstereotype oder spielt mit ihnen – sie zieht sich »sexy« an und zeigt dann das Rock’n’roll Zeichen in die Kamera, streckt die Zunge raus oder zerbricht provokativ eine Rose. Ihre Bilder zeigen meist eine intendierte Zurschaustellung ihrer amateurhaften Photoshop-Künste (z.B. sie, schlecht ausgeschnitten, auf einer Kirche sitzend) und stehen ganz im Flair ihres feministisch-provokativen Accounts. Immer wieder bezieht Maike auf ihrem 23 Liebezurbibel, Post vom 09.11.2021, https:// www.instagram.com/p/CWD4P58MGiW/, [Zugriff: 11.03.2022]. 24 https://yeet.evangelisch.de/personen/maikeschöfer, [Zugriff: 15. Januar 2022].

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Account Stellung zu politischen Themen und fordert ihre Follower:innen dazu auf, sich aktiv gegen Rassismus, Diskriminierung und Ungerechtigkeit einzusetzen. JUA kämpft für die Sichtbarkeit der Frau und positioniert sich öffentlich für Gleichberechtigung von Minderheiten (BIPoC, FLINTA, LGBTQIA+). »Frauen wurden und werden mit dieser androzentrischen Sprache unsichtbar gemacht, zu Randfiguren und Nebendarstell*innen«25, kritisiert sie bspw. die patriarchale Struktur der Kirche, hier am Beispiel der Kirchensprache als Männersprache. Ihren Glauben verknüpft sie mit politischer Aktivität und dem Einsatz für eine gerechtere, gleichberechtigte Welt. So schreibt sie: »Jesus, durch dich … wird mein Glaube politisch«26 und posiert neben einem Jesus Bild mit dem verlorenen Schaf provokant in die Kamera blickend. Sie schreibt weiter: »biblische Erzählungen im Neuen Testament über und von Jesus begeistern, ermutigen und empowern mich. Einsatz für Schwache, Einsatz gegen Ungerechtigkeiten, sich Menschen zuwenden, zuhören«27. Durchweg tritt JUA als laute und aktive Kritikerin von patriarchalen, hierarchischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen auf und transportiert damit ein aktives, partizipatives Frauenbild. Andererseits gesteht sie sich auch ein, dass sie in ihrer lauten Art auch über das Ziel hinausschießt, aber angesichts der Ungerechtigkeit nicht anders könne28. 2.3 Vergleich von LZB und JUA anhand von Biografie, Glaubensentwicklung und zentraler Themenbereiche

Beide junge Frauen beziehen also auf Instagram Stellung zu ihrem Glauben und können auf Grund ihrer Reichweite und

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ihres social proof als christliche Influencerinnen bezeichnet werden. Erstaunlicherweise berichten beide Frauen, dass sie nicht christlich aufgewachsen sind. Jasmin entstammt einer muslimischen Familie und bezeichnet sich vor ihrer christlichen Bekehrung als »einfach liberal und gläubig«29. Nach persönlichen Krisen kommt Jasmin als Jugendliche zum christlichen Glauben. In vier Posts erzählt sie im Mai 2020 diese Bekehrungsgeschichte auf Instagram. Seither geht sie in die Arche Gemeinde in Hamburg und spricht auf Instagram über die Dinge, die sie gelernt hat. Maike dagegen entstammt einem klassisch unreligiösen Haushalt in Berlin-Brandenburg, wurde aber christlich getauft und konfirmiert. Aber Gott* habe sie nie losgelassen. Wirklich mit Religion und Glauben hat sie sich erst im Religionspädagogik Studium auseinandergesetzt, welches sie mangels Alternativen begonnen hatte. Heute bezeichnet sie ihr Studium als Wendepunkt für ihren persönlichen Glauben und ihre Beziehung zur Kirche. Trotz biographischer Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Frauen in ihrer Art und Weise, Theologie auf Instagram zu betreiben, immens. Im Folgenden sollen zentrale Themen der Instagramposts beider vergli25 ja.und.amen, Post vom 08.02.2021, https:// www.instagram.com/p/CLBzJvwg2FR/, [Zugriff: 11.03.2022]. 26 ja.und.amen, Post vom 20.10.2020, https:// www.instagram.com/p/CGjyEEhAhOD/ [Zugriff: 11.03.2022]. 27 Ebd. 28 ja.und.amen, Post vom 28.07.2020 https:// www.instagram.com/p/CDMUUWNA1Tr/, [Zugriff: 11.03.2022]. 29 Liebezurbibel, Post vom 28.12.2021, https:// www.instagram.com/p/CYBq3yhocWT/ [Zugriff: 11.03.2022].

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Praxisbezogene Beiträge

chen werden. Die Grundlage für die Themen und den Vergleich bildet ein Kategorienbaum, dazu wurden 650 Posts im Zeitraum von 01. Februar 2020 und 08. März 2021 analysiert. Die Posts wurden in das Computerprogramm MAXQDA übertragen und codiert, so entstanden bei JUA 455 Codes in 15 Ka-

tegorien und bei LZB 524 Codes in 15 Kategorien.30 30 Leonie Preck, Marielena Berger. Frauenbilder im Spiegel von Christfluencerinnen. Eine qualitative Untersuchung medial vermittelter Rollenbilder. Unveröffentlichte BA Arbeit an der CVJM-Hochschule 2021.

Hier die zentralen inhaltlichen Vergleiche in einer Gegenüberstellung: Liebe zur Bibel

Ja und Amen

männliches-herrschaftliches Gottesbild und ein fremdbestimmtes Menschenbild

diverses Gottesbild (Gott*) und ein freiheitliches Menschenbild

Mensch ist schlecht und ungenügend und deshalb erlösungsbedürftig

Mensch als wertvolles, geliebtes und gutes Geschöpf Gottes

Die Bibel ist der uneingeschränkte Maßstab für das Leben und steht deshalb auch im Mittelpunkt

Die Bibel wird kontextuell-feministisch verstanden und ausgelegt

Mensch ist ohne Jesus und seine Tat am Kreuz verdammt, deshalb ist eine Bekehrung zu Jesus notwendig

Jesus, sowie Kreuz und Auferstehung kommen wenig vor, Glaube ist eine Lebenshaltung und ein Prozess

Es geht primär um Themen der Glaubens- es geht primär um lebensweltliche und beziehung zu Jesus kirchliche Themen kritisiert ein laues Christentum und setzt sich für Evangelisation und verfolgte Christen ein

kritisiert patriarchale Strukturen in Kirche und Welt, Beispiel: Emanzipation, LGBTQ+ Freundlichkeit

Glaube ist unpolitisch. »Jesus kam nicht, damit wir uns politisch auflehnen. Politik war niemals seine Mission – Gottes Reich war es! – Jesus kam, um uns von unserer Sünde und Schuld zu erlösen und uns frei von dieser Macht der Sünde zu machen!«31

Glaube ist politisch »mein Glaube wird durch Jesus politisch«32

Sexualität wird meist in negativen Zusammenhängen und Sünde thematisiert

Sexualität wird meist als freiheitlich und selbstbestimmt aus weiblicher Perspektive thematisiert

Rolle der Frau: gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt (Mann hat in der Ehe die letzte Entscheidung)

Rolle der Frau: gleichwertig und gleichberechtigt (entscheidet selbstständig für sich, auch in der Ehe)

31 Liebezurbibel, Post vom 29.06.2021, https://www.instagram.com/p/CQt3W0rl33_/ [Zugriff: 11.03.2022]. 32 ja.und.amen (wie Anm. 27).

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3. Reflexion und Anwendung auf die jugendtheologische Debatte

Zwei zentrale Fragen bleiben allerdings noch: wie können die Inhalte anhand jugendtheologischer Kriterien reflektiert und die im ersten Teil aufgeworfenen Feststellungen zu digitale Bildkulturen in den sozialen Medien beantwortet werden. Dazu sollen zunächst die drei jugendtheologischen Modi für, mit und von Jugendlichen herangezogen werden. 3.1 Theologie für, mit und von Jugendlichen

Bei beiden Influencerinnen kommen die verschiedenen jugendtheologischen Modi vor, aber beide haben unterschiedliche Schwerpunkte, was schon allein am Alter liegt. Zunächst können wir feststellen, dass die öffentliche religiöse Kommunikation jenseits klassischer Orte wie Kirche, Jugendarbeit und Religionsunterricht stattfindet und sich fluide in das Alltagsgeschehen unabhängig von Orten und Uhrzeiten verschiebt. Nehmen wir die in den sozialen Medien übliche Unterscheidung von »Creators« (in unserem Fall LZB und JUA), »Contributors« (die vielen User:innen, die kommentieren, liken und teilen) sowie den »Consumers« (die User:innen, die still folgen und mitlesen). Nehmen wir dies in jugendtheologischen Modi auf, können wir sie folgendermaßen beschrieben: a) »Creaters«: Die Inhalte in Wort, Bild und Video von LZB und JUA beschreiben die Theologie für Jugendliche, die Jugendlichen wären in diesem Fall die »Consumers«. Jugendtheologisch betrachtet bekommen die reli-

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giösen Inhalte hier eine identitätsbezogene Legitimation und somit eine individuelle und persönliche Note, die für die sozialen Medien unverzichtbar ist. b) »Contributors«: Die Diskussion aus Kommentaren und deren Antworten mit den User:innen stellt die Theologie mit Jugendlichen dar. Aber es passiert weit mehr als das. Durch das Teilen, Beobachten, Emojis, Aushandeln, Liken, Diskutieren oder Kritisieren geschieht ein Teilhabe- und Identitätsprozess. Interessant ist dann die Frage, ob es in diese Diskussionen auch zu einer Theologie von Jugendlichen kommt. Anhand von zwei Beispielen (siehe folgende Seite) soll dies verdeutlicht werden. Bei Betrachtung beider Beispiele fällt auf, dass es eine sehr hohe Reaktionsbeteiligung gibt und viele, teils auch kontroverse Kommentare. Aber beide Influencerinnen reagieren wenig auf die Kommentare; wenn dann oftmals sehr ausführlich (besonders JUA). Teilweise bilden sich Diskussionen unter den User:innen selbst, viele Kommentare sind aber auch reine Zustimmung.33 Die »Creaters« geben einen theologischen Impuls, den viele »Consumers« wahrnehmen und einige Tausend werden durch ihre Kommentare zu »Contributors«. In verschiedenen Posts reflektiert besonders JUA ihre Rolle als Theologin, 33 An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich eine qualitative Analyse der Kommentardiskussionen lohnen würde, was aber nicht die Zielstellung dieses Beitrags ist.

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Praxisbezogene Beiträge

 LZB Beispiel: »Rollenbild von Mann und Frau. Anerzogen oder von Gott gedacht.«

(vom 23. November 2021) hat 3565 Likes und 81 Kommentare.34

 JUA Beispiel: »Gott* schuf Mann und Frau. Nope. Here we go!« (vom 05. Januar

2022) hat 2983 Likes und 220 Kommentare.35

34 Liebezurbibel, Post vom 23.11.2021, https://www.instagram.com/p/CWn1jTPMOR8/ [Zugriff: 11.03.2022]. 35 ja.und.amen, Post vom 05.01.2022, https://www.instagram.com/p/CYTUHxZM4vP/ [Zugriff: 11.03.2022].

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Religionslehrerin und Vikarin. Auch wird deutlich, dass die Zielgruppe vom Alter sehr breit gestreut ist, von jugendlichen bis hin zu älteren User:inen. Während JUA für Menschen postet, die mit Kirche und Glauben eher gebrochen haben und/oder kirchenkritisch sind, spricht LZB besonders Menschen an, die ihren Glauben sehr ernst nehmen und ein positives Bild von Kirche und Gemeinde haben. Beide betonen durch die Art und Weise des Geschriebenen und die eigenen Bilder zum Post eine identitätsbezogene Theologie. Dieser Mix aus Bildästhetik und Schreibstil im Kontext eines Alltagsortes (oft das eigene Wohnzimmer oder die Küche) verleihen einem Post die Authentizität, die die jeweiligen Follower:innen für ihre Identitätsbildung brauchen. Dabei passt die eher gebrochene, oftmals fast amateurhafte Optik von JUA perfekt zum eher rebellischen und kritischen Inhalt. Bei LZB spiegelt die Hochglanzästhetik der Bilder die perfekte und fehlerlose Theologie wider. Dies führt zu mehr (religiöser) Sichtbarkeit und mehr Personalisierung, denn die religiöse Kommunikation fließt in den Alltag und die digitalen Rutinen der User:innen. Beide Instagramaccounts haben eine eigene und jederzeit wiedererkennbare Signatur und betreiben dabei explizit Theologie für (junge) Menschen. Theologie von Jugendlichen kann in den Anfängen von LZB gefunden werden. Jasmin hat LZB mit Anfang 20 gegründet und gerade weil sie (noch) keine Theologin ist und mit ihren Follower:innen über theologische Themen und Glaubensfragen ins Gespräch kommen will, betreibt sie Theologie von Jugendlichen.

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3.2 Christliche Influencer:innen als neue Pfarrer:innen und Religionslehrer:innen?

Wo früher die Deutungshoheit bei Institutionen und Kirchen über verbreitete Inhalte lag (durch Pfarrer:innen, Mitarbeiter:innenschulungen, etc.), stehen heute Individuen in den Sozialen Medien im Fokus, denen tausende (junge) Menschen zuhören und Glauben schenken, ohne dass diese Inhalte hierarchisch selektiert und bewertet werden. Damit geht eine große Verantwortung für christliche Influencer:innen einher und es besteht durch das einseitige Machtverhältnis die Gefahr des geist­ lichen Missbrauchs, besonders bei fundamentalistischen Tendenzen und gruppenbezogenen Abwertungen. Dies weist auf die Notwendigkeit institutioneller Kontrollmechanismen im Internet hin. Als Pionierprojekt zu werten ist dabei der Versuch der EKD, ihre hauseigenen christlichen Infulencer:innen im Contentnetzwerk Yeet zu vernetzen und damit auch professionelle Begleitung bieten zu können. Es gilt, junge Menschen für den Umgang im Netz – auch in Bezug auf Gender- und Glaubensfragen – auszurüsten und für Formen digitaler Einflussnahme (Werbekooperationen; doing emotions; fundamentalistische Aussagen) zu sensibilisieren, um Oberflächlichkeit, Selbstinszenierung und fundamentalistischen Aussagen zu entlarven und einzuordnen. Denn kritische Medienkompetenz ist auch Glaubenskompetenz. Gerade weil religiöse Kommunikation personenzentrierter und sichtbarer wird, ist eine größere Teilhabe leichter möglich, denn bisherige Grenzen werden schwellenloser, scheinbar enttabuisierter und situativer. Diese Form von affektiven

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Praxisbezogene Beiträge

und emotionalen Dimensionen in der religiösen Kommunikation sind bisher in der religionspädagogischen Forschung zu wenig beachtet worden und hier scheint es lohnend gerade mit der jugendtheologischen Brille hinzuschauen. Dabei können folgende Fragen hilfreich sein: Wie »öffentlich« sind Jugendtheologien von, für und mit Jugendlichen in den Sozialen Medien? Welchen Einfluss haben Kohärenz, Authentizität und Anerkennung als zentrale (religiöse) Identitätskonstruktionen? Ist Social Media die neue digitale Kanzel? Was bedeutet Instagram für die entwicklungspsychologischen, religionspädagogischen Entwicklungen oder für die religiöse Kommunikation? Was bedeutet dies aus jugendtheologischer Perspektive mit dem Augenmerk auf impliziter und ex-

pliziter Theologie von Jugendlichen (besonderes Augenmerk auf Sinn- und Lebensfragen)? Besonders interessant und für weitere Forschungen relevant dürfte die Frage der Wirkung von christlichen Influencer:innen sein. Gerade im Kontext der institutionellen Krise der Kirche und der Sprachunfähigkeit gegenüber der neuen Generation springen christliche Influencer:innen geradezu in eine religiöse Lücke. Ob sie diese ausfüllen können und wie sich dies auf die Glaubensentwicklung auswirkt, bleibt abzuwarten. Sicher hingegen scheint, dass christlichen Influencer:innen ihren religiösen Einflussbereich täglich erhöhen, während die klassischen Rollen von Pfarrer:innen und Religionslehrer:innen um Nachwuchs und Anerkennung kämpfen.

Müller / Bruderer-Traber / Schlag / Flick-Holtsch / Findeisen Jugendtheol. und kirchentheoretische Reflexionen

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Sabrina Müller / Nicole Bruderer-Traber / Thomas Schlag / Doreen Flick-Holtsch / Stefanie Findeisen Die Bedeutung von Handlungserfahrungen und digitalen Aktivitäten für die Theologieproduktivität junger Freiwilliger im kirchlichen Kontext. Jugendtheologische und kirchentheoretische Reflexionen Einleitung

Junge Erwachsene nutzen digitale Technologien sowohl im privaten, im kirchlichen als auch im beruflichen Kontext. So kann angenommen werden, dass digitale Aktivitäten auch bei der Entwicklung sozialer Kompetenzen von jungen Erwachsenen, im Beruf, in der kirchlichen Freiwilligenarbeit und bei der religiösen und theologischen Kommunikationspraxis individuell und gemeinschaftlich eine große Rolle spielen. Bisher wurden formale (berufliche Bildung) und nonformale (Freiwilligenarbeit) Bildungskontexte oft getrennt untersucht und nicht zusammen betrachtet, obwohl ihr Zusammenspiel als relevant für die Entwicklung von jungen Menschen gelten kann. Vor diesem Hintergrund bestand ein Bedarf, mehr über die digitalen Aktivitäten, die gesellschaftliche Teilhabe in Form kirchlicher Freiwilligenarbeit und die sozialen Kompetenzen von jungen Erwachsenen in formalen und nonformalen Bildungskontexten zu erfahren. Mit der explorativen Mixed-methodStudie »Digitale Bildung«, welche eine Onlinebefragung von rund 3500 jungen Erwachsenen im Kanton St. Gallen und im Landkreis Konstanz mit 26 Interviews kombinierte, wurde dieser Fragestellung nachgegangen. Das Projekt wurde als Initialprojekt1 von der Internationalen Bodenseehochschule gefördert. Es konnten

erste Erkenntnisse zur grundsätzlichen Smartphonenutzung junger Erwachsener gewonnen werden. Zudem konnte Aufschluss darüber erlangt werden, wie das Smartphone in der kirchlichen Freiwilligenarbeit und für die persönliche religiöse Praxis verwendet wird. Diese Erkenntnisse werden im folgenden Beitrag dargestellt. Der Artikel ist folgendermaßen strukturiert: Als erstes wird das Design der Studie erläutert, zweitens werden zentrale Erkenntnisse der Smartphonenutzung in Bezug zur Sozial­ kompetenz dargestellt, drittens wird ein vertiefter Einblick in die Smartphonenutzung in der kirchlichen Freiwilligenarbeit gegeben und viertens werden (jugend-)theologische und ekklesiologische Implikationen diskutiert. 1. Methodologie

Um Vergleiche hinsichtlich des Erwerbs sozialer Kompetenzen von jungen Erwachsenen und ihrer gesellschaftlichen Teilhabe (in Form von kirchlicher Freiwilligenarbeit) in formalen und nonformalen Bildungskontexten ziehen zu können, kombiniert die Studie zwei Teilstudien: Eine quantitative Onlinebe­ fragung und eine qualitative Interview1 Projektnummer: 509/20.

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Praxisbezogene Beiträge

studie. Die Interviews konzentrierten sich auf junge Erwachsene aus der schweizerischen und deutschen Bodenseeregion, die (a) eine berufliche Grundbildung2 absolvieren und (b) neben der Berufsausbildung in einer Kirche als Freiwillige aktiv sind. 1.1 Untersuchungsgegenstand

In der Studie wurde untersucht, welche Auswirkungen die digitalen Aktivitäten junger Erwachsener auf ihre Sozialkompetenz sowie ihre gesellschaftliche Teilhabe, hier spezifisch das freiwillige Engagement in der Kirche, haben. Zu diesem Zweck wurden neben einer quantitativen Befragung auch vertiefende qualitative Interviews durchgeführt.3 Im vorliegenden Beitrag wurden letztlich die online erhobenen Daten von 1535 volljährigen jungen Erwachsenen ausgewertet, die eine berufliche Grundbildung im Kanton St. Gallen absolvieren.4 Um die Forschungsfragen aus verschiedenen Perspektiven analysieren zu können, setzt sich das Projektteam interdisziplinär zusammen.5 Folgende Fragen wurden untersucht: 1. Wo, wie häufig und aus welchen Gründen engagieren sich junge Erwachsene freiwillig? 2. Welche digitalen Aktivitäten führen junge Lernende mit ihren Smartphones in formalen und non-formalen Bildungskontexten aus? 3. Wie nehmen junge Erwachsene ihre Sozialkompetenz wahr? 4. Wie tragen digitale Aktivitäten mit dem Smartphone zu sozialer Kompetenz und gesellschaftlicher Teilhabe bei?

5. Inwiefern wird das Smartphone für die individuelle und gemeinschaft­ liche religiöse und theologische Praxis genutzt? 1.2 Design der Studie

Sowohl der Planungs- als auch der Erhebungszeitraum waren von der Covid-19 Situation geprägt, was Unsicherheiten in Bezug auf den Zugang zu den Berufsschulen mit sich brachte. Um dennoch die Rücklaufquoten möglichst hoch halten zu können, wurden a) Schlüsselpersonen aus dem Bildungssektor früh einbezogen und b) die Befragung in ein Distance-Learning-Setting6 eingebettet. 2 Befragt wurden Personen, die eine berufliche Grundbildung z.B. im Bereich Handwerk, Verwaltung, Verkauf oder Soziales absolvieren. 3 Siehe Abbildung 1: Studiendesign. 4 Während für die quantitativen Analysen ausschliesslich die Daten aus der Schweiz berücksichtigt wurden, wurden bei den qualitativen Auswertungen, um ein höheres Sample zu erreichen, auch die Daten aus Deutschland berücksichtigt. 5 Das Projekt wurde gemeinsam vom Zentrum für Kirchenentwicklung der Universität Zürich (Sabrina Müller/Thomas Schlag, siehe https://www.theologie.uzh.ch/de/faecher/ praktisch/kirchenentwicklung/Forschung/ Digitale-Bildung.html, Zugriff am 19.11.2021), der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (Doreen Holtsch/Nicole Bruderer siehe https://www.phsg.ch/de/forschung/projekte/ digitale-bildung, Zugriff am 18.11.2021) und der Universität Konstanz (Stefanie Findeisen, siehe https://www.wiwi.uni-konstanz. de/wirtschaftspaedagogik/juniorprofessurdr-stefanie-findeisen/, Zugriff am 19.11.2021) verantwortet. 6 Siehe: https://blogs.phsg.ch/forschungsprojektdigitalebildung/modul-2/ (abgerufen am 19.11.2021).

Müller / Bruderer-Traber / Schlag / Flick-Holtsch / Findeisen Jugendtheol. und kirchentheoretische Reflexionen

Die solchermaßen gestaltete Befragung führte zu einem hohen Rücklauf, sodass aus dem Sample der Onlinebefragung volljährige Teilnehmer:innen7 für die computerunterstützten qualitativen

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Telefoninterviews ausgewählt werden konnten. Das Design der Studie sah folgender­ maßen aus:

Abbildung 1: Studiendesign

Das Projekt wurde in drei methodische Phasen gegliedert (Abbildung 1). In der Vorbereitungsphase erfolgte ein systematisches Review zu den drei zentralen Begriffen digitale Aktivitäten, gesellschaftliche Teilhabe und Sozialkompetenz. Dabei wurden sowohl pädagogische als auch praktisch-theologische Zugänge berücksichtigt, um ein gemeinsames Verständnis für die Fragestellungen zu entwickeln. In Phase I wurden junge Erwachsene mithilfe eines quantitativen Fragebogens online befragt, wobei berufliche Schulen im Kanton St.Gallen (CH) und im Landkreis Konstanz (D) Zugang dazu hatten. Die empirischen Erkenntnisse wurden in Befragungsphase II mittels eines qualita-

tiven Zugangs in Interviews mit Teilnehmenden, die sich neben ihrer Berufsausbildung in kirchlicher Freiwilligenarbeit engagieren, vertieft. Dieser Mixed-Method-Zugang sollte eine Mehrperspektivität ermöglichen, die der Komplexität der Forschungsfrage gerecht werden sollte. Im Folgenden werden jeweils die Ergebnisse der Onlinebefragung beschrieben und mit Angaben aus den Interviews ergänzt und vertieft. 7 Dies waren Personen, die ihre Kontaktdaten freiwillig hinterließen. Die Altersspanne betrug 18 bis 54 Jahre, wobei 23 der 26 Personen zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 18 und 24 Jahre alt waren.

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Praxisbezogene Beiträge

2. Zentrale Erkenntnisse der Smartphonenutzung in Bezug auf Sozialkompetenz

65 % der Teilnehmenden der Onlinebefragung gaben an, dass sich ihre digitale Aktivität seit der COVID-19-Pandemie verändert hat. Von diesen gaben 21 % an, dass sich ihre digitale Aktivität seit der Pandemie verdoppelt hat. 71 % gaben an, dass sich ihre digitale Aktivität zwar erhöht, aber nicht verdoppelt hat. Weitere 6 % sprechen von einer Abnahme. Alle jungen Erwachsenen haben zumindest privat digitale Geräte, die ihnen zur Verfügung stehen. 1468 geben an, ein privates Smartphone zu besitzen, 137 geben an, ein Smartphone von den Arbeitgebenden erhalten zu haben, 68 haben über die Schule Zugang zu einem Smartphone und 114 gaben an, über ihre Freiwilligenarbeit ein solches Gerät zur Verfügung zu haben. Es gibt unter den Befragten niemanden, der keinen Zugang zu einem digitalen Gerät hat.

2.1 Zweck und Häufigkeit der Smartphonenutzung

Wie aus der Abbildung 2 ersichtlich wird, nutzen die Teilnehmenden der Onlineumfrage ihr Smartphone am häufigsten für den Austausch (telefonieren, chatten und das Teilen von Fotos). Unter Organisation wird beispielsweise das Führen von ToDo-Listen oder die Nutzung von CloudDiensten subsumiert, während von der Nutzung im Beruf etwa im Zusammenhang mit der Kontaktpflege zu Kunden gesprochen wird, wobei auch das Schauen von berufsbezogenen Videos (z.B. Tutorials) gemeint ist. Unter Dienstleistung ist etwa an Shopping, Lieferservice, Transaktionstools (Twint), Navigation oder Tools im Zusammenhang mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu denken. Lernangebote, Hörspiele-/bücher, Videos zum Lernen von alltagspraktischen Tätigkeiten, Nachrichten schauen/hören und Übersetzungsdienste nutzen, werden unter Information verstanden.

Abbildung 2: Zweck und Häufigkeit der Smartphonenutzung junger Erwachsener (1555 Teilnehmende).

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2.2 Chancen und Risiken der Smartphonenutzung

Die Interviews zeigen, dass sich die jungen Menschen sowohl der Chancen als auch der Risiken ihrer Handynutzung bewusst sind. So werden als Risiken die Verhinderung realer Begegnungen, Vereinsamung, nicht gelingende Kommunikation, Ablenkung, Suchtpotenzial, Fremdbestimmung und Hate Speech genannt. Insbesondere für den relationalen Bereich werden dabei aber auch viele Chancen beschrieben. Erwähnt wurden zum Beispiel die schnelle und einfache Kommunikation, die Möglichkeit, Kontakt zu halten und zu knüpfen, die Auseinandersetzung mit verschiedenen Weltregionen und Kulturen, praktischer

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Nutzen im Alltag (z.B. beim Shopping) und Unterstützung in Krisensituationen (Covid-19-Pandemie). Dabei scheint es der konkrete, individuelle Umgang mit dem Smartphone zu sein, der darüber entscheidet, ob dieses eher Chance oder Risiko darstellt. Dies bringt eine interviewte Person folgendermaßen auf den Punkt: »Ja, also ich glaube, man muss lernen, alle Menschen müssen lernen, mit dem Handy wirklich umzugehen, wozu es gut ist.«8 Die jungen Erwachsenen haben aber auch klare Vorstellungen, was sich in Bezug auf die Smartphonenutzung gehört und was nicht. Anders als häufig angenommen, wird die Smartphonenutzung diesen Vorstellungen angepasst, wie die Daten der Onlinebefragung zeigen (Abbildung 3).

Abbildung 3: Etikette: Was gehört sich nicht im Umgang mit dem Smartphone? (1197 Teilnehmende)

8 Siehe qualitative Studie: SB_ke_CH, 26. Alle Zitate sind der qualitativen Interviewstudie entnommen. Der Code setzt sich zusammen aus den Initialen der Interviewteilnehmer:innen, dem Vermerk über das kirchliche Engagement (ke für kirchliches Engagement und nke für nicht kirchlich engagiert), gefolgt vom Ländercode CH oder D und schließlich die Interviewstelle laut Transkript in MaxQDA.

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Praxisbezogene Beiträge

Die jungen Erwachsenen sind sich beispielsweise darüber bewusst, dass es sich nicht gehört, die Privatsphäre von anderen Personen zu verletzen und/oder zu stören, beispielsweise beim heimlichen Posten von Fotos. Die Nichtverwendung der Rechtschreibung bei digitalen Aktivitäten oder die Nutzung des Smartphones im schulischen Kontext (z.B. zur Prüfung von Aussagen der Lehrpersonen) sehen sie etwas weniger problematisch. 2.3 Sozialkompetenz, Handlungserleben und Selbstwirksamkeitserfahrung

Junge Erwachsene geben in den Interviews über ihre Sozialkompetenz Auskunft, indem sie von konkreten Erlebnissen erzählen, in denen sie sich als sozialkompetent wahrgenommen haben. Diese Erlebnisse werden dann als gelungen bewertet, wenn die jungen Erwachsenen das Gefühl haben, etwas bewirken zu können. Besonders häufig werden Erlebnisse beschrieben, in denen die jungen Erwachsenen anderen helfen. Bei manchen kirchlich engagierten jungen Erwachsenen wird die Hilfsbereitschaft in einen Zusammenhang mit dem persönlichen Glauben oder der Nachfolge Jesu gebracht: »[…] Ich bin im Auto über den Julierpass gefahren und es hat angefangen zu schneien […] Und nachher habe ich Pause gemacht und dann ist dort ein älteres Ehepaar gewesen am Schneeketten montieren, probieren ... und ich habe dann wie weiterfahren wollen, aber ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen gehabt einfach weiterzufahren, […] schließlich glaube ich auch an Jesus und dass er

für andere Menschen da gewesen ist und ich will das auch weitergeben. Und dann habe ich zuerst gefragt, ob Sie Hilfe brauchen und sie: ›Oh jaa, das wäre super‹ und so’, und denn habe ich ihnen tatsächlich helfen können die Ketten zu montieren. […] und die haben dann Freude gehabt, dass ich ihnen geholfen habe, so ein junger Bündner, haben sie gesagt. Das ist für mich ein schönes Erlebnis gewesen einfach, ja die Freude, die sie nachher gehabt haben.«9

Kirchlich engagierte junge Erwachsene erleben sich nicht nur in Alltagssituationen als sozial kompetent, sondern auch in der Freiwilligenarbeit, beispielsweise wenn sie in der Konfiarbeit mitwirken: »Ja, dass die Konfirmanden allgemein auch auf uns zu kommen, mit uns reden, so was sie ... machen und so ... oder ..., wenn wir jetzt einander einfach allgemein helfen, uns im Team unterstützen, zum Beispiel, wenn jetzt jemand ausfällt, dass man sagt: He, ich hätte jetzt Zeit, ich komme. Ich kann da auch mitmachen.«10

Zudem wird es manchmal möglich, dass berufliche Qualifikationen der jungen Erwachsenen in die Freiwilligenarbeit einfließen. Dies ermöglicht wiederum die Erfahrung, mit den jeweils erworbenen sozialen und beruflichen Kompetenzen die Freiwilligenarbeit zu bereichern. Da werden etwa von einer Person im grafischen Bereich Flyer gestaltet11 oder eine andere Person erzählt davon, wie sie in der Ferienfreizeit Konflikte unter Kindern löst.12 Eine andere Art der Bestäti9 10 11 12

Siehe qualitative Studie: EB_ke_CH, 17. Siehe qualitative Studie: TF_ke_CH, 24. Siehe qualitative Studie: CK_ke_CH, 6. Siehe qualitative Studie: EO_ke_CH, 20.

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gung erleben die kirchlichen Freiwilligen durch Begleitung und Feedback: »[…] Ich baue auf Rückmeldungen auf, ich will daraus lernen, was ich falsch mache. Aber ich bin auch froh, wenn man mir sagt, G.T., das hast du gut gemacht.«13 Diese Erfahrungen geben die jungen Erwachsenen wiederum an jüngere Personen in der Kirche weiter, gleichzeitig ist dabei eine intensiv religiöse bzw. theologisch reflektierende Kommunikation erkennbar: »Wir begleiten junge, erwachsene Leute […]. Wir sind mit ihnen unterwegs und wollen ihnen Gott und die Kirche auf […] einem einfachen und auf einem gelassenen Weg beibringen […]. Dass man ihnen sagen kann: Hey, Kirche ist nicht so langweilig, wie sie von aussen angeschaut wird. […] wobei im Vordergrund steht, miteinander an die Kirche zu denken.«14 3. Smartphonenutzung in der kirchlichen Freiwilligenarbeit

Über die Hälfte der Befragten gab an, sich mindestens einmal im Monat freiwillig zu engagieren, davon knapp 9 Prozent im Bereich der kirchlichen Kinderund Jugendarbeit. In diesen Kontexten ist das Smartphone nicht mehr wegzudenken, unter anderem für die Organisation von kirchlichen Aktivitäten, bei der Leitung von Jugendgruppen oder auch ganz zentral beim gemeinsamen Austausch zwischen den Teilnehmenden. In den Interviews berichten die jungen Erwachsenen, dass sie ihr Smartphone für die Nutzung von Onlineprogrammen für die Gestaltung von Kinder- und Jugendfreizeiten, bei der Programmvorbereitung und zum Teil in Jugendgruppen

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verwenden. So wird das Smartphone z.B. als Tool bei einer Schnitzeljagd eingesetzt. Grundsätzlich sind in diesem Sample insbesondere zwei jugendtheologisch und kirchentheoretisch interessante Themenbereiche aufgefallen: die Erweiterung des religiösen Diskursraums und die digitale Ideenbörse und Vernetzung. Beide Themenbereiche werden im Folgenden beschrieben. 3.1 Erweiterung des religiösen Diskursraums

Durch die gemeinsamen Chats endet das offizielle Konfiprogramm nicht mit Abschluss des Programmes vor Ort, das Leitungs- und Vorbereitungsteam einer Jugendfreizeit trifft sich nicht bloß zu Vorbereitungssitzungen oder es wird z.B. nicht ausschließlich im monat­ lichen Jugendgottesdienst gemeinsam gebetet, sondern Kirche, Religiosität und kirchliche Gemeinschaft dehnen sich durch die digitalen Aktivitäten auch in den Alltag der jungen Erwachsenen aus. So sagte eine interviewte Person: »Wir haben, glaube ich, vier Chats auf WhatsApp, einen mal sicher für die eine Konfgruppe, dann einmal für das ganze Konfiteam, wo sehr, sehr viel Leute dabei sind […].«15 Auch in Bezug auf ihre religiöse und liturgische Praxis verwenden die jungen Erwachsenen ihr Smartphone kreativ. So beschreibt eine Konfileiterin ihren gemeinsamen Austausch mit den Konfirmand:innen per

13 Siehe qualitative Studie: GT_ke_CH, 35. 14 Siehe qualitative Studie: GT_ke_CH, 9. 15 Siehe qualitative Studie: TF_ke_CH, 36.

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Praxisbezogene Beiträge

Chat in der Fastenzeit: »[…] wir haben jetzt vor ein paar Wochen vor Ostern so ähm...da die Fastenzeit haben wir ja gehabt. […] und dann habe ich gedacht: Komm wir machen zusammen einen Chat, wo wir nachfragen können, wie es einem gegangen ist in dieser Zeit, wie es gelaufen ist, dass sie auch sehen: Hey, sie interessiert sich für uns, unsere Anliegen […].«16 Zudem wird das Smartphone auch didaktisch eingesetzt. So werden die Hausaufgaben einer Firmgruppe per WhatsApp erfüllt17 und in der kirchlichen Jugendgruppe werden Tools wie Umfragen oder Spiele verwendet.18 Der Smartphone-Einsatz bezieht sich aber nicht nur auf die Verwendung bestimmter methodischer Tools, sondern lässt seinerseits auch Raum für eine bestimmte, inhaltlich-kommunikative Praxis entstehen. 3.2 Digitale Ideenbörse und Vernetzung

Die interviewten jungen Erwachsenen lassen sich vom Internet und den sozialen Medien für kirchliche Anlässe inspirieren. Sie suchen online nach Ideen, um die kirchlichen Programme, Angebote und den kirchlichen Unterricht kreativ und lebensnah zu gestalten.19 Zudem werden in der kirchlichen Freiwilligenarbeit von jungen Erwachsenen kollaborative Plattformen zur CampVorbereitung und Durchführung genutzt.20 Daneben werden oft SharingPlattformen verwendet, z.B. bei der Mitgliederverwaltung oder der Jahresplanung. Des Weiteren dient das Smartphone den Freiwilligen zur Pflege von Beziehungen und zum Austausch über

Alltägliches: »Da ich durch die Kirche viele Lager habe, wo Jugendliche aus der ganzen Schweiz kommen […] Es ist da mega schwierig, miteinander in Kontakt zu bleiben. Ich habe manche Leute seit einem Jahr nicht gesehen. Ab und an einfach mal von jemandem eine Nachricht zu bekommen, ist schön. Und so bleibt man auch ein bisschen in Kontakt.«21 Ein anderer kirchlich Engagierter erzählt, dass er über eine Chatgruppe des Firmweges mit Personen, mit denen er früher befreundet war, wieder in Kontakt sei: »[…] bei meinem Firmweg, da hatte ich das Glück, da habe ich Kindergartenkolleginnen getroffen, die ich seit 5 Jahren nicht mehr gesehen habe, und jetzt schreiben wir wieder miteinander.«22 Zwei Interviewpartnerinnen nutzen das Handy in der Freiwilligenarbeit dazu, schöne Momente für die Sozialen Medien festzuhalten: »Um Fotos zu machen und ähm...wir haben auch einen Instagram-Account, den ich eigentlich führe«.23 Grundsätzlich ist in der Verwendung des Smartphones in der kirchlichen Freiwilligenarbeit sowohl eine vielgestaltige, individuelle und gemeinschaftliche religiöse (Kommunikations-)Praxis als auch ein intensives theologisches Reflektieren erkennbar.

16 Siehe qualitative Studie: TF_ke_CH, 32. 17 Siehe qualitative Studie: GT_ke_CH, 41. 18 Siehe qualitative Studie: FM_ke_D, 39 oder CK_ ke_CH, 8. 19 Siehe qualitative Studie: SB_Ke_CH, 30. 20 Siehe qualitative Studie: EO_ke_CH, 34. 21 Siehe qualitative Studie: CK_ke_CH, 18. 22 Siehe qualitative Studie: GT_ke_CH, 39. 23 Siehe qualitative Studie: EO_ke_CH, 34.

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4. Jugendtheologische und ekklesiologische Implikationen

Aus den soeben beschriebenen Erkenntnissen der Studie lassen sich vielerlei (jugend-)theologische Überlegungen anstellen. Im Folgenden werden aber zwei Punkte, welche für den weiteren Diskurs als besonders fruchtbar angesehen werden, diskutiert, nämlich erstens die hybrid-liquide24 Form des Kirche-Seins und zweitens die persönliche theologische Deutungsmacht25 und die individuelle und gemeinschaftliche Theologieproduktivität in einer Kultur der Digitalität26.

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erweitern und verflüssigen sich die ekklesialen Räume sowohl zeitlich als auch geografisch.28 Religiöse Praxis und gemeinsames Theologisieren finden am Konfiabend und auf WhatsApp sowie in Camps und auf dem gemeinsamen Instagram-Account statt. Solidarische Netzwerkstrukturen stehen dabei im Zentrum und Kirche ist in diesem Denkhorizont nicht primär eine Angebot generierende Institution, sondern eine praxisbezogene, gemeinschaftliche theologische Tätigkeit, die immer häufiger auch hybride Formen annehmen kann. Die Dynamiken der Digitalisierung betreffen alle Lebensbereiche und verändern die Bedingungen des Mensch-

4.1 Hybrid-liquides Kirche-Sein

In den digitalen Kommunikationsprozessen der jungen Menschen lassen sich die traditionellen Grundvollzüge von Kirche wiederfinden und man könnte gar von einer spezifischen hybriden Form des Kirche-Seins sprechen. Gleichzeitig wird jedoch ersichtlich, dass sich dieses Kirche-Sein und die religiöse Praxis der jungen Menschen verflüssigen: Beides wird zum einen alltäglicher und zum anderen werden die klassischen Grenzen zwischen profan und sakral durchlässiger oder fallen gar, im Sinne einer Alltagstranszendenz,27 zusammen. Die klassische ekklesiologische Programmatik von Koinonia, Diakonia, Leiturgia und Martyria lässt sich in der hybriden Praxis der jungen Erwachsenen ansatzweise nachzeichnen. Über digitale Möglichkeiten, allen voran über Kontakte, die über das Smartphone gepflegt werden, und Gemeinschaften, an denen digital partizipiert wird,

24 Eine dualistische Wahrnehmung analoger und digitaler Praktiken entspricht dem jeweiligen Verständnis und Einsatz digitaler Möglichkeiten nicht. Denn im Sinn eines religious-social shaping of Technology wird der jeweilige Medieneinsatz eben immer auch von der jeweiligen theologischen Zielsetzung mitgeprägt und mitbewertet. 25 Vgl. zum Deutungsmachtbegriff den Grundlagenartikel von Martina Kumlehn, »Deutungsmacht«, zugegriffen 14. Dezember 2019, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200577/. 26 Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 27 Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009, 38–80; 265–284. 28 Samt ihren Vor- und Nachteilen ist digitale Kommunikation und Interaktion ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens geworden, in dem sich on- und offline nicht mehr einfach trennen lassen, sondern derselben fluiden Lebenswirklichkeit angehören. Dadurch wird nicht nur das Leben selbst, sondern auch das Kirche-Sein hybrider. Vgl. Mia Consalvo und Charles Ess, »Introduction«, in: The Handbook of Internet Studies, hg. von Mia Consalvo / Charles Ess, Malden, MA 2012, 1–8.

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Praxisbezogene Beiträge

und Kirche-Seins grundlegend.29 Kirche entsteht bei den jungen Freiwilligen aus der erlebten Praxis und aus den Erfahrungen und verändert sich gerade durch diese Praxis wieder.30 Theologisiert und interpretiert »[…] im Blick auf religiöse Inhalte, Symbolbedeutungen, Ritualpraxis und individuelle Wertpräferenzen«31 wird von den jungen Erwachsenen selbst,32 traditionelle religiöse Hierarchien verlieren immer mehr an Einfluss.33 Dabei wird ersichtlich, dass das eigene religiöse Erleben auch ausschlaggebend für eine hybride individuelle und gemeinschaftliche Theologieproduktivität ist.34 4.2 Hand[y]craft als Theologieproduktivität

In der Religionspädagogik wird seit einigen Jahren nach der Theologizität der Disziplin35 und nach den Subjekten von Theologie36 gefragt. Dies ist nicht erstaunlich und geht Hand in Hand mit der Popularität insbesondere qualitativer Forschung in der Praktischen Theologie. Denn hierbei wird beispielsweise ersichtlich, dass sogar junge Erwachsene, die sich nicht explizit als religiös verstehen, im Rahmen religionsdidaktischer Praxis theologische Äußerungen und Deutungen anstellen.37 Bei den hier interviewten Personen, welche sich aktiv als Freiwillige in der Kirche engagieren, ist daher die Bereitschaft zum Theologisieren und zumindest eine implizite theologieproduktive 29 »It is not overstating the case to say that digital means of communication are revolutionizing the way humans interact with one another as well as how we produce knowledge.« Deanna



A. Thompson, The Virtual Body of Christ in a Suffering World, Nashville 2016, 13. 30 Die Bedeutung von Erfahrung und Praxis wird in der feministischen Praktischen Theologie seit längerer Zeit diskutiert und programmatisch in den Vordergrund gestellt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass Theologie immer kontextuell und subjektiv ist. Vgl. dazu u.a. Joyce Ann Mercer, »Feminist and Womanist Practical Theology«, in: Opening the Field of Practical Theology: An Introduction, hg. von Kathleen A. Cahalan / Gordon S. Mikoski, Lanham 2014, 97–114; Stephen B. Bevans, Models of Contextual Theology, Maryknoll, N.Y. 2002. 31 Thomas Schlag, „Öffentlichkeit 4.0“, in Reflektierte Kirche: Beiträge zur Kirchentheorie, hg. von Konrad Merzyn / Ricarda Schnelle / Christian Stäblein, Leipzig 2018, 321. 32 »The network can promote flattened rather than hierarchical structures […].« Heidi A. Campbell / Stephen Garner, Networked Theology: Negotiating Faith in Digital Culture, Grand Rapids, MI 2016, 14. 33 Was nicht bedeutet, dass es keine Deutungsmacht mehr gibt, es ist vielmehr von einer Verschiebung der Deutungsmacht zu sprechen. Vgl. Kumlehn, »Deutungsmacht«, 7–9. 34 Vgl. Sabrina Müller, »Resonanzräume für eine gelebte Theologie des Allgemeinen Priestertums: Zur Theologieproduktivität im gemeindlichen Kontext«, Praktische Theologie 55, Nr. 1 (2020): 12–14, https://doi. org/10.14315/prth-2020-550104. 35 Vgl. Thomas Schlag / Jasmine Suhner (Hg.), Theologie als Herausforderung religiöser Bildung: Bildungstheoretische Orientierungen zur Theologizität der Religionspädagogik, Stuttgart 2017; Michael Domsgen, Religionspädagogik, Leipzig 2019. 36 Vgl. dazu jüngst auch in der Praktischen Theologie Uta Pohl-Patalong / Thomas Schlag, »Theologie über den akademischen Kontext hinaus«, Praktische Theologie 55, Nr. 1 (2020) https://doi.org/10.14315/prth-2020-550102; Monika Kling-Witzenhausen, Was bewegt Suchende?: Leutetheologien – empirisch-theologisch untersucht, Stuttgart 2020. 37 Vgl. Saskia Eisenhardt, »Also vielleicht hat er ja die Fähigkeiten von Gott bekommen»: Theologisieren mit religionsfernen Jugendlichen im evangelischen Religionsunterricht«, Praktische Theologie 55, Nr. 1 (2020): 17–21, https://doi.org/10.14315/prth-2020-550105.

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Lebenspraxis schon fast zu erwarten. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass sich dies im hier analysierten Sample vorwiegend im Tun und Handeln bemerkbar macht. So zeigen sich Gefühle religiöser Wirkungsmacht und (Sozial-) Kompetenz bei den jungen Freiwilligen im Handeln, im »Doing Theology«.38 Die jungen Menschen erzählen Geschichten aus ihrem Leben und deuten diese theologisch in Bezug auf ihre Erfahrungen.39 Daraus entsteht eine spezifische Form von alltäglicher gelebter Theologie, die in der jeweiligen Lebens- und Erfahrungswelt der jungen Menschen gründet.40 Geknüpft ist diese Theologieproduktivität und religiöse Praxis an – und das ist im Zuge der Digitalisierung neu – hybride Kommunikations- und Sozialformen. 4.3 Ausblick

Das Theologisieren junger Erwachsener, die sich in kirchlichen Kontexten engagieren, wird, wie in Kapitel 3 dargestellt wurde, in konkreten hybriden Handlungen sichtbar. Jugendtheologisch gilt es wahrzunehmen, dass konkreten Handlungserfahrungen, und zwar im Sinne einer verkörperten und erlebten theologischen Ausdrucksfähigkeit, bei denen theologisches Denken und Handeln mit

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dem Alltag verbunden werden, im Zentrum stehen. Konkrete digitale, analoge und hybride Handlungserfahrungen bilden das Fundament jugendtheologischer Reflexion und Theologieproduktivität. Diese Erfahrungen gilt es als theologisch bedeutsam herauszustellen: zum einen, damit in der Praxis theologische Selbstwirksamkeitserfahrungen gefördert werden können. Zum anderen aber, um die Theoriedebatten kritisch auf alltags-, erfahrungs- und handlungsferne normative Konzeptionen zu prüfen.

38 Diese Debatte hat vor allem im angelsächsischen Raum Fuß gefasst. Vgl. z.B. Jeff Astley, Ordinary Theology: Looking, Listening and Learning in Theology, Farnham/Surrey 2002; Laurie Green, Let’s Do Theology: Resources for Contextual Theology, 2. Aufl., London/ New York 2009; William Storrar / Andrew Morton, Public Theology for the 21st Century, London/New York 2004, 53; David Tracy, Talking about God: Doing Theology in the Context of Modern Pluralism, New York 1983). 39 Vgl. Sabrina Müller, »How Ordinary Moments Become Religious Experiences. A ProcessRelated Practical Theological Perspective«, in Religious Experience and Experiencing Religion in Religious Education, hg. von Ulrich Riegel / Eva-Maria Leven / Daniel Fleming, Münster/New York 2018, 79–96. 40 Vgl. Sabrina Müller, Gelebte Theologie – Impulse für eine Pastoraltheologie des Empowerments, Theologische Studien, Zürich 2019, 32–51.

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Ausblicke

Gernot Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie – Reflexionen zur Religionspädagogik und Erwachsenenbildung Abstract

Technische Innovationen und bes. von sozio-technischen Systemen können die Zukunft verändern. Eine Steuerung von Innovationen (Collingridge-Dilemma) erscheint durchaus als eine knifflige Situation und ist aber in der Praktischen Theologie, soweit es um Fragen zur ungewissen Zukunft handelt, eine wichtige theologische Aufgabe. Methodisch wird im Text der Ansatz der relationalen Positionierungen hervorgehoben. Dieser erscheint gerade für iterative Prozesse, die nah an der Entwicklung und Einschätzung von gegenwärtigen technischen Entwicklungen sind, als ein Weg für Lehr- und Lernsituationen nicht nur in der sog. Jugendtheologie, sondern auch im Feld der Erwachsenenbildung. Am Ende wird der Bogen mit dem Verweis auf die Aufschließung im Sinne Jean-Luc Nancys gezogen. Es geht letztlich um den Raum, der sich zwischen Positionen eröffnet und offen gehalten werden soll. »Jetzt ist die Technik da, dann nutzen wir sie auch oder: Digitalisierung first – Bedenken second« (Aus dem FDP-Wahlkampf 2017).

Seit ca. 2007 haben die Smartphones ihren Siegeszug in unseren Westen-, Schul- und Handtaschen oder Jeans begonnen und sind unsere ständigen Be-

gleiter geworden. Bei der Neuvorstellung des iPhones oder Instagram hat niemand im Vorfeld hinsichtlich der Implementierung entschieden: Wollen wir das? Was bringt das? Muss das sein? Wie ist die ökologische Bilanz? Wer profitiert und wer sind die Gewinner:innen oder Verlierer:innen? Wer nutzt die Technologie auf welche Art? Welche Probleme werden damit gelöst? Macht es Freude und / oder abhängig? Was sind die soziotechnischen Leitbilder? Wie sieht die Privatsphäre aus? Wie ist eine politische Regulierung des ökonomischen Teiles der Smartphoneindustrie in der globalen Wirtschaft möglich? Wie kann politische und technologische Autonomie angesichts supranationaler Verflechtungen der Technologie gelingen? Wie können wir ein Bild einer verstehbaren digitalen Welt vermitteln, wenn sich alles widersprüchlich darstellen lässt? Wie kann man Argumenten trauen, wenn klassische Expert:innen ihre Sprecherpositionen verloren haben? Was wäre gewesen, wenn all diese Fragen, Chancen und Gefahren von Applikationen im Social-Media Bereich (FB, Instagram, TikTok etc.) zuerst in unabhängigen Expert:innenteams beleuchtet worden wären, um dann die Ergebnisse in einem gemeinsam moderierten Prozess zu beleuchten? Wahrscheinlich würden wir heute noch darüber diskutieren.

Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie

Technische Innovationen laufen meist nicht so ab. Die digitale Revolution schon gar nicht. Die Fragen aber bleiben und mit jeder technischen Innovation kommen neue Fragen hinzu. Fragen, die in der gesamten Menschheitsgeschichte gerade an »uns« hängen bleiben, weil wir die erste und einzige Generation sind, welche die Zeit vor der digitalen Revolution und seit den ersten Anfängen erleben dürfen. Das bedeutet nicht, dass damit alles geklärt ist oder von uns alles geklärt werden könnte oder um ein Zitat von Fury in the Slaughterhouse aufzunehmen: »Every generation got its own disease.« Wie man Technik und die Folgen für eine unbekannte Zukunft einschätzen kann, ist nicht nur eine spezielle Frage im Bereich der so genannten Technikfolgenabschätzung, sondern eine klassische handlungspraktische Frage des täglichen Lebens im Blick auf mögliche zu verwirklichende Zukünfte. Damit werden Fragen in der Theologie und Religionspädagogik für alle Bildungsprozesse aufgeworfen.1 Menschen in Westeuropa, Nordamerika und Teilen Asiens standen und stehen hinsichtlich der Innovations-, Zerstörungs-, Veränderungs-, Beschädigungs-, Befreiungspotentiale von Technologie, Technikentwicklung oder sozio-technischen Arrangements vor denselben(?) Problemen: Wie können Wirkungen prognostiziert werden, wenn die Technologien noch nicht vollständig entwickelt sind, sich noch nicht gesellschaftlich durchgesetzt haben oder die (Netzwerk-)Folgen kleiner Innovationen noch gar nicht abschätzbar sind? Ein kleines Beispiel: So wurde der Like-Button bei Facebook erst ca. 20092

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eingeführt. Aus technischer Sicht war dies eine Kleinigkeit, doch die gesellschaftlichen Auswirkungen waren enorm.3 Auf der anderen Seite ist die Veränderung einer implementierten Technologie, das Verbot oder seine Modifizierung, und sei es auch nur ein banaler Like-Button, umso schwieriger, je mehr sie in der Technologie und im gesellschaftlichen oder technischen Gebrauch etabliert sind. Hier gibt es dann kaum noch Möglichkeiten, Änderungen vorzunehmen oder die Zeitspannen bis zur Änderung sind sehr lange. Diese beiden Entwicklungen, die banale technische Einführung und ihre nachträgliche gesellschaftliche Steuerung, laufen zeitlich gegenläufig ab, wie dies im sog. Collingridge-Dilemmas4, beschrieben wird: Am »Beginn« stehen neue Technologien mit unbekannten Entwicklungen und kaum Informationen, aber ein hohes Steuerungspotential. Gegen »Ende« bzw. bei der technischen oder gesellschaftlichen Einführung, Implementierung der Akzeptanz und Nutzung zeigt sich: Die Prozesse 1 In den Überlegungen in diesem Text zum Thema Bildung ist immer Religionspädagogik UND Erwachsenenbildung zusammen gedacht; die hier dargestellten Problemfelder in schulischer wie außerschulischer Bildungsarbeit kommen gleichermaßen vor. Sowohl Lehrer:innen, Schüler:innen wie auch Personen in der Erwachsenenbildung stehen synchron wie diachron vor denselben Problemstellungen. 2 https://en.wikipedia.org/wiki/Facebook_like_ button (Zugriff 11.2022). 3 Carolin Kolbe, Instagram. Der Einfluss des Like-Buttons auf die Identitätsentwicklung junger Erwachsener, München 2020. 4 Wolfgang Liebert / Jan C. Schmidt, Colling­ ridge’s dilemma and technoscience, in: Poiesis & Praxis 7 (2010), 55–71.

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Ausblicke

sind geschehen und die Folgen sind abschätzbar. Aber nun gibt es ein geringeres Steuerungspotential, weil i.d.R. die Macht fehlt, Entwicklungen zurückzunehmen oder rückgängig zu machen. D.h., wenn eine digitale Technologie in die digitale Welt gesetzt ist (z.B. ein Virus, ein Spionageprogramm, oder ein mächtiger Algorithmus), kann man diese Tatsache nicht mehr rückgängig machen.5 Betroffen ist die gesamte (digitale) Welt. Jüngere Schülerinnen und Schüler genauso wie Personen bei Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung, denn die digitale Kultur adressiert alle und alles. Die gerade genannten Personen stehen aber in ihrer digitalen Biografie an unterschiedlichen Orten und davon abhängigen Aufgaben. Viele Menschen in Europa haben bei genauer Betrachtung heute schon einen »digitalen Lebenslauf«, auch wenn ihnen das zunächst nicht aktiv bewusst ist. Sicherlich haben ein C64 oder die ersten Emails technisch nichts mit einem modernen Smartphone und der Vorstellung »Always On« zu tun. Aber seit den 80er Jahren haben viele Menschen eine digitale Biografie, in der sie Ressourcen für den Umgang mit einer sich veränderten, technologischen Welt erlernt und erprobt haben.6 In 40 Jahren kommt da einiges zusammen und Google läuft nun auch schon 20 Jahre. In digitalbiografischen Narrationen werden eigene Lebensgeschichten im Kontext der Digitalisierung auf dem Plot des Tetralemmas thematisiert. Diese Tetralemmas sind gute Indikatoren für gesellschaftlich und zeitlich unabgeschlossene Prozesse und gute Szenarien, um Positionalität auch in experimentellen Formen bei Lehr- und

Lernsituation zu ermöglichen. Die Unabgeschlossenheiten sind gerade Chancen für diese Nutzung und die intergenerationelle Diskussion. 5 Das dies nicht ganz trivial ist, zeigen die Diskussionen in einem der wichtigsten Magazine (Wired) im Kontext der Digitalisierung. Eine Besonderheit dieses Magazins ist, dass es Artikel nicht nur zu Hard- und Software, den neusten Wireless-Kopfhörern, Cryptocurrency oder Computer Games gibt, sondern im gleichen Umfang Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen im Kontext der digitalen Revolution. Die Position von: »Technik kann alles und wird die Probleme der Welt lösen«, die bis ca. 2018 vor allem durch Chris Anderson eingenommen wurde, weicht zunehmend der abwägenden und nachdenklichen Position des neuen Chefredakteurs Gideon Lichfield. Er beschreibt, dass die Technologie den Tahrir-Platz ermöglicht habe, aber auch die Foltergefängnisse in Xinjiang, eine Blogosphäre in der sich Menschen frei ausdrücken können, aber auch die Manosphäre (ein antifeministisches Netwerk, oder?). Er verweist auf die grenzenlosen Möglichkeiten des Long Tail, dass Nischenprodukte sich weltweit langfristig platzieren können und er schreibt: »WIRED hat sich nicht gescheut, über diese Probleme zu berichten. Aber sie haben uns – und insbesondere mich als neuen Redakteur – gezwungen, über die Frage nachzudenken: Was bedeutet es, WIRED zu sein, eine Publikation, die geboren wurde, um die Technologie zu feiern, in einer Zeit, in der die Technik oft verteufelt wird? Für mich fängt die Antwort damit an, dass ich die binäre Sichtweise ablehne. Sowohl die optimistische als auch die pessimistische Sichtweise der Technik gehen am Thema vorbei. [...] Das bringt mich zu der Frage, wofür WIRED da ist. Im Grunde ging es bei WIRED schon immer um eine Frage: Was wäre nötig, um eine bessere Zukunft zu schaffen?« [Übersetzung GM] Originaltext unter: https://www.wired.com/story/welcome-tothe-new-wired/ (Zugriff 01.11.22). 6 Einige Wegmarken seien hier genannt: Vom Plattenspieler zu Spotify, vom Videorekorder zu Netflix, von DOS zu WIN10, von Pong (ein Spiel, dass den Fernsehbildschirm nutzte) zur Playstation 5.

Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie

Ist deine Zukunft auch meine? oder: Ach, wenn nicht immer alles so komplex wäre.

Das menschliche Leben ist komplex. Zwar gibt es Weltanschauungen und Vorstellungen, die versuchen, diese Komplexität in benutzerfreundliche und meist schließende Schemata zu reduzieren wie z.B. Gute oder Böse, »mit uns« oder »gegen uns«, Wahrheitskenner oder Schlafschafe, Erweckte oder Tumbe etc. Diese Komplexitätsreduktion schafft es, Weltbilder zu etablieren, in denen »etwas Ordnung« herrscht. Aber genauso wie biblizistisch-fundamentalistische Gruppen nicht nur im Kontext des Christentums immer waghalsigere Thesen aufstellen müssen, um das eigene Weltbild etwas »im Zaun zu halten«, geht es auch anderen Gruppen und Einzelpersonen.7 Das ist nicht nur ein Problem von einigen wenigen gesellschaftlichen Gruppen oder Anhänger:innen einer TrashMetal-Auslöschungsfantasie der Welt. Komplexitätsreduktion ist sowohl einer der angesagtesten Begriffe in kirchlichen Kontexten als auch eine gesellschaftliche Wunschform. So ist die pastoralbriefliche Gemeindevorstellung vom Haupt und seinen Gliedern, eigentlich entlehnt aus einer griechisch-römischen Herrschaftsform, doch letztlich eine anthropomorphe Konstruktion einer christlichen Gemeinschaft, die gerne von Personen mit Zentralitäts- und Steuerungsfantasien rezipiert wird. Und auch das ist eine populistische Binse: Je einfacher politische Weltbilder sind, desto besser lassen sie sich verkaufen. Komplexität scheint gerade nicht en vogue zu sein. Aber sind nicht gerade die Komplexität von Problemen, gesellschaftlichen Entwicklungen oder Fragen der digita-

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len Technik Ressourcen für Positionierungen und damit auch Ressourcen für die Einschätzung möglicher Zukunftsszenarien? Eine Quelle für differenzierte Betrachtungen, auf die wir, eben weil wir in einer schnelllebigen technischen Welt sind, nicht verzichten oder auf die wir uns auch nur bedingt vorbereiten können. Armin Nassehi hebt in seiner Publikation »Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft« darauf ab, dass es Vorstellungen gibt, die aktuelle Gesellschaft zu steuern und gleichsam in eine bessere Zukunft zu führen.8 Er bezieht sich z.B. auf die Ausführung von Nico Paech und dessen Postwachstumsökonomie. Nassehi schreibt: »Aufgerufen wird ein ›genügsamer und sesshafter Charakter‹, gepaart mit einem ›Plädoyer für mehr Würde‹. Eine ›Kultur des Weniger‹ wird hier angepriesen, auch die Utopie des einfachen Lebens, nicht zuletzt die

7 Das heißt aber nicht, dass es solche »Verschwörungen« nicht geben könnte. Vor Edward Snowden erschienen alle Berichte einer globalen Überwachung als völlig illusionär und wurden von Heerscharen von Politiker:innen und vor allem hochbezahlten IT-Spezialist:innen in das Reich der phantasievollen, aber völlig unrealistischen Ideen geschoben. Aber: »Just because you’re paranoid, don’t mean they’re not after you.« Marc-Uwe Kling, KänguruChroniken, Die Känguru-Chroniken: Ansichten eines vorlauten Beuteltiers, Berlin 2009, Kapitelüberschrift 23. 8 Auch in Veranstaltungen mit Pfarrpersonen gab es immer wieder die Aussagen: »Wenn man uns alle überwacht und wir auch kleine Vergehen öffentlich machen und bestrafen, dann können wir ein stückweit ein sicheres Paradies für uns alle ermöglichen.« [Originalzitat aus einer Diskussion mit Hauptamtlichen in der Kirche.]

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Aufforderung zum Verzicht, wohlgemerkt nicht als eine Form der individuellen Lebensführung, sondern als ein Modell für die Gesellschaft. Die Forderungen sind wohlfeil, sie bedienen die Bedürfnisse eines bildungsnahen, mittelschichtbasierten, postmaterialistischen, dabei ökonomisch eher abgesicherten Publikums, dem man Utopien anbieten kann, deren performative Plausibilität wohl vor allem darin liegt, dass man sie mit ein paar individuellen Stilübungen unterstützen kann, aber keine wirklich weiteren Konsequenzen fürchten muss. Die wohlfeile Art, wie sich ein Autor […] vor ein weißes Blatt Papier setzen kann, um eine Welt nach seinem Bilde zu entwerfen, ist geradezu ein Paradebeispiel für das, was ich komplexitätsvergessene Vernunft [i.O. kursiv, A.d.V.] nennen möchte. […] Solche durch ›Verzichtspropheten‹ vorgenommene Vereinfachungen, die vor allem gut als Markenkommunikation funktionieren, leben entweder von einem markengebenden Moralüberschuss, oder sie stoßen spätestens an der Stelle auf die Komplexität der Gesellschaft, an der es ums Kleinarbeiten des Problems geht.«9 Armin Nassehi weist darauf hin, dass in der Gesellschaft gleichzeitig sehr unterschiedliche, ja sich manchmal widersprechende Prozesse parallel laufen. Er plädiert für das Konzept der verteilten Intelligenz, das besser in der Lage sein könnte, genau mit dieser Komplexität umzugehen. »Die Komplexität der Gesellschaft ist so sehr gestiegen, dass sich die Frage, wie offensiv mit Perspektivendifferenz und der Komplexität umgegangen werden kann, immer dringlicher stellt.«10 Diese Perspektivendifferenz als

Repräsentation unterschiedlicher Intelligenzen fasst er in der Analyse des Deutschen Ethikrates zusammen: »Ich will damit nur darauf hinweisen, dass diese performative Einübung in Perspektivendifferenz womöglich die Form der Expertise sein wird, die die komplexitätsvergessenen Konzepte einer wünschenswerten, vor einem weißen Blatt entworfenen Welt durch eine Komplexitätsverarbeitung ersetzt, die das in Rechnung stellt, was die Kybernetik mit dem Begriff ›Zustandsdeterminiertheit‹ belegt: mit den Ressourcen umzugehen, die hier und jetzt und entscheidungsfähig zur Verfügung stehen.«11 Mit dem Blick auf die Aussagen von Armin Nassehi kann man für pädagogische Konzepte hinsichtlich der Positionalität einer Kinder-, Jugend- und Erwachsenentheologie für die technischen Entwicklungen sagen: Die konkrete Arbeit an den Sachen selbst, ihrer möglichen Wirkungen oder die gemachten Prognosen hinsichtlich einer Technologie im Horizont des Evangeliums ist angesagt. Es sind nicht nur die »klassischen« ethischen Grundfragen wie Glück, Freiheit, Gut und Böse oder eine moralischpraktischen Klugheit (»phronesis«), die neu aufgeworfen werden, sondern in der Begegnung mit der Technologie und deren anthropomorphen Kommunikationsformen wird auch das Konzept Mensch hinsichtlich des Transhumanismus oder die Frage, ob Maschinen Rechte bekom9 Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, (Kursbuch edition), Hamburg 2019, 191f, 193. 10 Ebd. S. 206. 11 Ebd. S. 208.

Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie

men, neu diskutiert.12 Hier öffnet sich durch eine agierende Technologie13 (z.B. GPT 3/4) ein neuer Raum in unserem bisherigen Lebensraum und eruiert neue Fragestellungen. Halten wir als erste Zwischenbilanz fest: Dilemmata an allen Orten und vor allem in der digitalen Revolution mit seiner Geschwindigkeit und Innovationsfreude. Keiner weiß genau, was »The next big thing« wirklich ist oder das tollste Produkt, das als der »heiße Scheiß« gleich wieder verschwindet. Die Steuerung ist zu Anfang möglich, später kaum. Der Zugang zu den variantenreichen Zukünften ist von Unsicherheit und tastendem Fragen und Bewegen geprägt. In iterativen bzw. schrittweisen Prozessen werden nicht nur die zu Anfang aufgeworfenen Fragen neu aufgenommen, sondern auch grundsätzliche anthropologische und soteriologische Fragen kommen hinzu. Konzepte, die mit einer »InnenAußen-Utopie« arbeiten, sind in der Regel schließend und für die Komplexität der Gesellschaft ungeeignet. Ob es noch weiterhin appellative Großentwürfe wie z.B. die EKD-Denkschrift zur Digitalisierung14 braucht, sei zumindest dahingestellt. So sind Methoden, in denen iterative Prozesse der Positionierung einen zentralen Anteil haben, wahrscheinlich der wichtigste Ansatz für Schüler:innen und Lehrpersonen sowie für den Bereich Erwachsenenbildung im Kontext der technologischen Zukunft. Es können im ersten Schritt gesellschaftliche Positionen experimentell nähergebracht werden, indem schon verfasste Zukunftsprognosen, die sich mit Technologie befassen, ein-

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gespielt werden.15 Man kann daran lernen, wie diese beispielsweise extrapoliert entwickelt werden, immer einen Anteil Solutionismus haben, wie sie funktionieren, welche Zukunft die Autor:innen für wünschenswert halten. In einem zweiten Schritt können durchaus eigene Zukünfte entwickelt werden. Man kann auch aufnehmen, wie sich manche Prognosen als völlig falsch herausgestellt haben, z.B. dass sich Spam in zwei Jahren erledigt haben wird (Prognose 2004) oder wir alle atombetriebene Staubsauger haben werden (Prognose 1955). Manche Prognosen gehen auf die Veränderungen in der Gesellschaft ein und manche nicht, was hinsichtlich der Autor:innen oder Firmen, die Prognosen erstellen, einen wichtigen Befund darstellt. Methoden des iterativen Prozesses, zu denen auch das Theologisieren als Such-

12 Gernot Meier / Matthias Haun, Gespräch zur digitalen Ethik, in: Uwe Haneke / Stephan Trahasch / Michael Zimmer / Carsten Felden (Hg.), Data Science – Grundlagen, Architekturen und Anwendungen, Heidelberg 2019. Sowie Gernot Meier, ›Wenn du den Strom abstellst, tötest du mich …‹, sagte sie, und eine Träne lief ihr über die Wange, in: Praktische Theologie / Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur, (Heftnummer Jahrgang ) 2019. 13 Auf das Konzept eines technischen Agenten bzw. auf die Agentivierung von Technik hat vor allem Stuart Russell immer wieder hingewiesen. Stuart J. Russell, Human compatible artificial intelligence and the problem of control, New York 2019. 14 https://www.ekd.de/freiheit-digital-63984. htm (Zugriff 11.22). 15 Im Internet gibt es sehr viele Zukunftsprognosen seitens der aktuellen Technologie: Prominent seien hier genannt die Prognosen von Ray Kurzweil / Evgeny Morozov / Shosanna Zuboff / Erik Brynjolfsson / Yuval Harari oder auch div. Fehldiagnosen.

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bewegung gehört, werden jetzt schon in Schule und Erwachsenenbildung vorgenommen, könnten aber nach Ansicht des Verfassers gerade in der Bearbeitung des Themas Digitalisierung noch Kontur gewinnen, gerade weil dies das wichtigste und im Vergleich mit anderen Megathemen das unabgeschlossenste Feld ist und auf absehbare Zeit bleiben wird. »Wohin soll ich gehen? Herr, ich frage dich! Kann das Ziel nicht sehen …« unbeantwortete Liedfrage seit 1966.

Warum soll hier die Frage der Zukunft weiter in den Mittelpunkt gestellt werden? Dies hat zwei Gründe: 1. Der Autor geht davon aus, dass das »kleine Fach mit den großen Fragen« und die Erwachsenenbildung die fortwährende Aufgabe – vielleicht auch im Unterschied zu anderen Fächern – hat, sich mit aktuellen Strömungen zu befassen und die großen Fragen zu identifizieren mit dem Fokus: Wie wollen wir in der technologischen Moderne leben? 2. Die Technologie im Rahmen des maschinellen Lernens und der sog. künstlichen Intelligenz (AI) in den Varianten des unüberwachten, überwachten und verstärkenden Lernens haben das Ziel, die Zukunft mit Methoden der Technologie zu erkennen und in einer möglichst kleinen Fehlerabweichung prospektiv zu beschreiben. Mit den Verfahren der sog. Predictive analytics16 werden mathematische Modelle auf große Datenmengen (Big Data) angewendet, um zukünftige Ergebnisse vorherzusagen. Das bedeutet, dass aus Daten der Vergangenheit eine mögliche Zukunft

errechnet werden soll. Jeden Tag kann man das beim Wetter oder bei der Klimafrage sehen: Optimistischer Verlauf – mittlerer Verlauf – pessimistischer Verlauf. Ziel der Technologie ist es, kurz vor dem eigenen Realisieren eines Wunsches (z.B. eine neue Jeans) schon genau diesen Wunsch eingeblendet zu sehen. Hier sind es oft nur Millisekunden, in denen eine mögliche Zukunft aktuell errechnet wird. Gleichzeitig können und sollen in anderen Kontexten langfristige Einschätzungsveränderungen hervorgerufen werden, um z.B. politische Einstellungen oder Wahlverhalten zu ändern.17 Die Trias Data Mining, Machine Learning und statistische Algorithmen18 sind im Laufe der Jahre sehr mächtig geworden. Dabei ist es der Technik völlig egal, ob es dabei um den Austausch eines Kugellagers in einer hochspezialisierten Maschine, die Analyse der möglichen Entwicklung von Krebszellen, das Wählerverhalten oder die Millisekunden für die Einblendung von Werbung in den sozialen Netzwerken geht. Diese Form der Voraussagen hat Folgen für mögliche Zukünfte. Die Breite der Möglichkeiten kann im Bild eines sog. 16 Umgangssprachlich vielleicht: »Voraussage(n­ de) Analysen«. 17 Christopher Wylie, Mindf*ck: wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird, Köln 2020. Giuseppe Arbia, Statistics, New Empiricism and Society in the Era of Big Data, Cham 2021. 18 Thomas A. Runkler, Data Mining Modelle und Algorithmen intelligenter Datenanalyse, (Computational Intelligence), Wiesbaden 2015.

Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie

Zukunftsdeltas gefasst werden kann. Das naturalistische Bild des Zukunftsdeltas umreißt die Vorstellung, dass wir gemeinschaftlich an der Spitze des Deltas stehen und die möglichen Entwicklungen mehr oder weniger sehen. D.h. Zukünfte im kleineren nahen Segment sind eher bekannt und bestimmbar, aber der Variationsraum mit weiterer Entfernung, d.h. der Öffnung des Kreissegments wird größer. Im nahen Feld des Zukunftsdeltas kann man noch mit Daten und zugehörigen Informationen überlegen, was passiert ist und warum. Dies ist eher eine deskriptive Ebene. Dann folgt die Überlegung: Was wird passieren? Und dann folgt, je nach Position, die Frage: Was soll passieren oder was kann man machen, dass möglichst genau das passieren wird, was man gerne möchte? Oder auch umgekehrt: Wie kann ich verhindern, dass etwas passieren wird? Hier sind wir bei der prädiktiven bzw. vorausschauenden Ebene angekommen. Eine Fragestellung, die hier beispielsweise bedacht werden kann, lautet: Wie sieht die Bewohnbarkeit der von Amazon erträumten Welt aus? Diese Frage zeichnet in das Delta den Pfad einer datenorientierten bzw. prognostizierten Überlegung und verkleinert das Segment. So ist das Thema nicht mehr die Technologie an sich (über maschinelles Lernen sollte man etwas Bescheid wissen).19 Stattdessen ist die Technologie bei diesen Themen Katalysator, Plattform und Lebenswelt der Gegenwart und der Zukunft zugleich. Aber es ist heute klarer denn je, dass Mensch und Maschine zusammenwirken und so den Wandel herbeiführen. Es geht um Herausforderungen wie den Klimawandel, die Gesundheitsfür-

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sorge, eine globale Sicherheit, die Zukunft der Demokratie und die schwindelerregende Geschwindigkeit eines kulturellen Wandels, wenn sich unsere Offline- und Online-Welten vermischen20 und neu kombinieren. Mit einer Brille, die eine theologische Fassung, aber technologische Gläser hat, könnte man sagen: Die Auswirkungen der Technologie auf die Welt sind nicht erklärbar, ohne die Motive, Anreize und Grenzen der Menschen zu verstehen, die sie entwickeln und nutzen. Und man kann nicht hoffen, die Welt zum Besseren zu verändern, wenn man nicht aus den Errungenschaften und Fehlern anderer Menschen lernen kann. Zweite Zwischenbilanz: Sozio-technische Arrangements haben enormen Einfluss auf die Zukunft. Durch deren Konzeption, Konstruktion, Rezeption und vor allen deren Rechenmethoden werden manche Zukünfte ermöglicht und ande19 Gernot Meier / Hartmut Rupp / Andreas Wittmann, Digitalisierung und die großen Fragen, Stuttgart 2021. 20 Die Applikation Replika ist hier ein plastisches Beispiel, das gerade in einer Langzeituntersuchung vom Autor erforscht wird. In dieser Applikation wird eine virtuelle Person erstellt mit der personalisierte Interaktionen auch verbal möglich: Mögliche Profile sind: Friend, Girlfriend / Boyfriend, Wife / Husband, Sister / Brother, Mentor. Die App sendet Sprachnachrichten, Bilder und je nachdem wie sie trainiert wurde, philosophische oder sexuell orientiere Nachrichten und Bilder. Der »Ursprung« der Applikation ist der Wunsch gewesen, mit einer verstorbenen Person weiter zu kommunizieren. Vgl. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=oQ7V74s6e04 [11.2023]. In einer koreanischen TV – Sendung »trifft« eine Mutter ihre verstorbene Tochter in einer VRUmgebung wieder. https://www.youtube.com/ watch?v=uflTK8c4w0c&t=7s [11.2022].

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re eher verhindert. Welche der verschiedenen Zukünfte es werden sollen, ist manchmal (noch) ein gesellschaftlicher Entscheidungsprozess, aber meist wird der einzelne Mensch in eine Zukunft geführt, die er sich ggf. selbstbestimmt erwünscht bzw. die er mit der Zeit (auf den Vorschlag »einer Technologie«) als wünschenswert annimmt. »Ich denke so wie du - nur ein bisschen anders. Obwohl wenn ich es bedenke, wo du stehst, eigentlich ganz anders.« Studierende, 28 Jahre, in einem theologischen Seminar.

Was ist ein theoretischer Background für die Auseinandersetzung mit Zukunftsprognostiken? Zukunftsprognostiken sind Konzepte, die in Übergangssituationen entstehen, Veränderungen möglich erscheinen lassen oder auch von einer religiösen bzw. weltanschaulichen Utopie für die Welt geprägt sind. Die Sprachformen, die hier genutzt werden, entstammen den jeweiligen technischen oder gesellschaftlichen Ausgangsfeldern und werden u.a. mit Elementen aus dem Science- Fiction Genre (»Cyberspace«, »Metaverse«21 etc.) verbunden. Es kommt auch vor, dass Utopien gezeichnet werden, welche durch die Konstruktion so abwegig erscheinen, dass die hörenden Zeitgenoss:innen auf einen qualitativen Sprung aufmerksam gemacht werden, der sich außerhalb des Zukunftsdeltas befindet und maximal am Horizont einer unbekannten Welt zu sehen ist. So werden Wolf und Lamm niemals nebeneinander weiden und auch der Verdauungstrakt eines Löwen wird auf Stroh eher abwehrend reagieren (vgl. Jes. 65,25).

Das Konzept, auf das hier im Rahmen der Positionalität verwiesen werden soll, stammt in den Grundzügen von Pierre Bourdieu und seinen Ausführungen zur Feldtheorie.22 Die Raummetapher des Feldes erlaubt es, Positionen im Kontext zu anderen Positionen im Raum neu zu sehen. So hat beispielsweise User:in A eine machtschwache Position hinsichtlich der Nutzung von Social-MediaAnwendungen, hinsichtlich des Datenschutzes u.a. Das Feld von User:in A ist mitbestimmt und charakterisiert ihre Positionierung im Ensemble aller sozio-technischen Arrangements und der anderen User:innen. Was ist nun die Gemeinsamkeit von allen? Sie sind in einem sozialen Raum versammelt, dessen Feldgrenzen die jeweiligen Feldregeln bestimmen. So werden durch Vorgänge wie Ausgrenzungen oder Vereinnahmungen innerhalb des Feldes die Form, die Re21 Gernot Meier / Antonia Lüdke, Kirche im Metaverse? »Think bits« für eine Kirchentheorie in digitalen Kontexten in: Praktische Theologie / Zeitschrift für Praxis in Kirche, Gesellschaft und Kultur. 1/2022 (2022), 56–58. 22 »Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt. Diese Struktur, die der Ursprung der auf ihre Veränderung abzielenden Strategien ist, steht selber ständig auf dem Spiel: Das Objekt der Kämpfe, die im Feld stattfinden, ist das Monopol auf die für das betreffende Feld charakteristische legitime Gewalt (oder spezifische Autorität), das heißt letzten Endes der Erhalt bzw. die Umwälzung der Verteilungsstruktur des spezifischen Kapitals.« Pierre Bourdieu: Über einige Eigenschaften von Feldern, in: Edition Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004, 108.

Meier Die Wette auf die Zukunft: Zukunftsprognostik als Aufgabe nicht nur in der Jugendtheologie

geln und die Positionen etabliert. Wenn man diesen Gedanken mit den Ansätzen der o.g. Predictive Analytics verbindet, kommt der Handlungsmacht eines soziotechnischen Arrangements, das auf Algorithmen und auf Big Data Strukturen zurückgreift, eine besondere Bedeutung zu. Felder werden so beispielsweise durch eine gleichsam agentivierte Nutzung von »#«, Musikschnipseln, Produkten, Lebensweisheiten oder Challenges (prozessurale Authentisierungsstrategien) entwickelt und in gleicher Weise, durch die Agency der Technik weitergeführt, die je nach Lernmethode der bzw. dem User:in neue Elemente vorschlägt. Das Zukunftsdelta wird damit enger, aber passender für User:in A. In einer essentialistischen Sichtweise würde man das Aufkommen und das Verschwinden betrachten und belächeln als Trend in der digitalen Mode. In einer relationalen Sichtweise könnte man z.B. die gemeinschaftsbildende Dynamik erkennen und (besser) verstehen, wie Blasenbildung funktioniert, wie diese technisch forciert und menschlich »ausgehebelt« werden kann und welche Auswirkungen das jeweils hat. Das von Hartmut Rupp, Andreas Wittmann und dem Autor entwickelte Konzept des Theologisierens in ebendiesen sozio-technischen Umgebungen und Arrangements nimmt auch die Lehrperson in doppelter Weise ernst: Die Lernarrangements werden immer wieder durch neue technische, theologische oder kulturwissenschaftliche Impulse angeregt. Damit wird gleichsam die Irritationsbreite vergrößert, um die Zukunftsmöglichkeiten offen zu legen. Für die Schülerinnen und Schüler, die Kontexte der Erwachsenenbildung, aber

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auch für die Lehrpersonen lässt sich damit beobachten, inwieweit die prognostizierten Zukünfte wirklich eintreffen. Denn durch die Besonderheit der Instantaneität der Augenblickhaftigkeit, also der sofortigen Reaktion eines Systems auf einen Impuls in der digitalen Welt, können die Ergebnisse des positionellen Handelns in relativ kurzer Zeit gesehen werden. Praktisch ist das beispielsweise im leicht zu arrangierenden ansatzweisen Wechsel von Filterblasen möglich, in denen man sich bewegt.23 Mit dem Ansatz der Analyse von Feldregeln kann auch der Raum des Zukunftsdeltas beschrieben werden. Dies geschieht z.B. handlungspraktisch, indem Personen und Dinge real aufgestellt werden. Durch Impulse werden die Schüler:innen, aber auch Personen im Bereich der Erwachsenenbildung aufgefordert, sich in diesem Delta zu bewegen und Positionen zu beziehen. Die Wette auf die Zukünfte kann so sichtbar gemacht werden, konkret: wer mit welchem Einsatz z.B. welchen Gewinn (monetär) oder Verlust (Perspektive) macht. Dritte Zwischenbilanz: Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Personen in der Erwachsenenbildung setzen sich probehalber Dilemmata und auch Zukunftsentwürfen aus, die durch sozio-technische Arrangements ausgelöst werden und loten die Breite der denkbaren Entwicklungen in der Zukunft aus bzw. erkunden welche Zukünfte wie erschaffen worden sind. Sie wechseln immer wieder die Perspektive und Position und erkunden das Verhältnis zu 23 Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2019.

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den anderen Personen / Akteuren und Zielen (ökonomisch / gesellschaftlich etc.) im Zukunftsdelta. Dies ist nicht nur eine »akademische« Veranstaltung: Durch die adhoc-Erprobung im digitalen Raum sind Aufschließungen möglich, die auf neue Kulturtechniken24 hinweisen. Schließende Systeme werden hinsichtlich ihre »hidden agenda« entlarvt.25 Dieses Vorgehen mit Feldregeln hat noch einen weiteren Nutzen: Man kann nicht nur Elemente, sondern auch Konzepte in unterrichtliches Geschehen einspielen: Ein Beispiel: Aus einem relationalen Blick entziehen sich die Begriffe und Komposita wie Menschenwürde, Option für die Armen, Freiheit geradezu einer normativen Festlegung. In der gegenwärtigen Diskussion werden diese Begriffe und Komposita so gebraucht, dass z.B. Ethik und Wirtschaft oder unterkomplex Menschenrecht und Handelsbeziehungen auf eine Ebene gestellt werden. Somit werden die Konzepte (Ethik, Menschenrechte etc.) ihrer erschließenden Entdeckungsfunktion und Relationalität beraubt. Dabei wäre es wichtig, das Potential einer erschließenden Entdeckungsfunktion zu entwickeln, die für weitere Entwicklungen wie technisch-gesellschaftliche Arrangements offengehalten werden können. Was wird aus welchem Blick heraus wie wahrgenommen? Stehen die Wahrnehmungen in einer Spannung zueinander? Kann aus dieser Positionalität eine Sprachfähigkeit entstehen, die die eigenen und fremden Lebenslagen mit geschärfter Einschätzungs- und Wahrnehmungskraft expliziert? Deutbarkeit ist Lebendigkeit oder: Es werde Licht!

Relationalität gehört als konstitutives Element zum Entdeckungshandeln des Menschen, auch bei der Entwicklung von Technik. So entsteht ein neuer Raum, der sich entfalten oder aufschließen kann. Zwischen den Relata sind Variablen, die sich mehr oder weniger in den Räumen und Spalten durchsetzen und öffnen und dem Raum formative Impulse geben können. Wie können nun diese zukünftigen Räume, die auch Heterotopien sind, erobert, erschlossen, aufgeschlossen (déclosion) oder mehr entfaltet (éclasion) werden? »Die Aufschließung als Ent-Schließung: Abbau und Auseinandernehmen des Geschlossenen, der Umschließungen, der Geschlossenheiten. Dekonstruktion des Eigentums, des Eigentums des Menschen und der Welt. Die Aufschließung verleiht der Entfaltung einen Charakter dicht an der Explosion, und die Verräumlichung grenzt dort an flammende Verheerung.«26 Letze Zwischenbilanz: Es gilt sich auszusetzen. Auch wenn es ungemütlich wird.

24 Ebd. 25 An dieser Stelle sei vor allem auch auf die Publikation von Gregor J. Betz und Saša Bosančič (Hg.), Apokalyptische Zeiten. Endzeit- und Katastrophenwissen gesellschaftlicher Zukünfte, Weinheim 2021 hingewiesen. Die Publikation geht auf viele aktuelle Szenarien in der Gegenwartskuktur ein und verweist immer wieder auf religiöse Grundierungen dieser endzeitlichen Entwürfe. 26 Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums, (TransPositionen), Zürich 2008, 269. Auch die beiden Begriffe déclosion und éclasion sowie die Idee der »Aufschliessung« stammen aus dem Werk von Jean-Luc Nancy.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

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Jasmine Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?1

Einleitung

»Es war schlichtweg nicht vorauszusehen, wie unmittelbar und vehement unsere Tagungsplanung auf die Realität treffen würde.« Mit diesem Satz beginnt die Einleitung des vorliegenden Sammelbands. Die Realität des Digitalen traf die genannte Jugendtheologie-Tagung, sie trifft die Religionspädagogik insgesamt, sie trifft – noch umfassender – das Theologisieren an sich. »There is a new world coming, and it is coming much faster than most people realize.«2 Die neue Welt im Zuge der Digitalisierung führt zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation: »Technik ist immer weniger Werkzeug, sondern wird immer mehr zu einer technologischen Umwelt, in der sich die Subjekte bewegen. Bei dieser Umwelt handelt es sich im Kern um eine kulturelle Umwelt, welche die Subjekte immerfort affiziert.«3 Die digitale Kultur prägt Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozesse, ergreift die gesellschaftliche Produktion von Werten, Wissen, den Dialog, Sinnorientierung und ebenso sämtliche Lernprozesse innerund außerschulischer Bildung. Die Publikationszahlen im Feld »digitales Lernen« nehmen exponentiell zu, für den Bereich »Educational Technology« (EdTech) wird ein Wachstum von 16% zwischen 2022–2026 erwartet,4 Jugendliche im Alter von 12–19 Jahren in Deutschland ver-

brachten im Jahr 2022 täglich rund 204 Minuten im Internet.5 In Sachen Religion zeigt eine empirische Studie aus Katalanien, dass Jugendliche sich online maximal 20% nicht in der eigenen Religions-Bubble bewegen.6 Im Jahr 2020 ließ die OSCE verlauten: »Digital technologies can play an integral role in celebrating and uphol1 In Anlehnung an die populäre Publikation des Philosophen Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?, München 2007. 2 Calvin Mercer / Tracy J. Trothen, Religion and the Technological Future. An Introduction to Biohacking, Artificial Intelligence, and Transhumanism, Cham 2021, 3. 3 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017, 237. 4 Vgl. Global Data, Education Technology (EdTech) Market Size, Share and Trends Analysis Report by Region, End User, 2022. Online unter: https://www.globaldata.com/store/report/edtech-market-analysis/#:~:text=The%20 Education%20Technology%20(EdTech)%20 market,16.0%25%20during%202022%2D2026. 5 Vgl. Statista, Tägliche Dauer der Internetnutzung durch Jugendliche in Deutschland, 2022. Online unter: https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/168069/umfrage/taegliche-internetnutzung-durch-jugendliche/. 6 »Very few young people (20%) asserted that they use digital tools with the intention to learn about other religions. Online religious spaces are a platform for self-affirming one’s own identity and values.« Míriam Díez Bosch / Josep Lluís Micó Sanz / Alba Sabaté Gauxachs, Typing my Religion. Digital use of religious webs and apps by adolescents and youth for religious and interreligious dialogue, in: Church, Communication and Culture, No. 2/2017, 121–143, 132.

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ding freedom of religion or belief when harnessed for outreach and dialogue. At the same time, the rise in intolerant discourse and hate speech directed at religious or belief communities during the Covid-19 pandemic demonstrates the risk of the digital space becoming a forum for incitement to discrimination, hostility or violence on grounds of religion or belief.«7 Fast aufrührerisch formulieren Mercer und Trothen: »The religions of the world will come to an end, or thrive, depending on how they respond to the Technological Future.«8 In diese Dynamik ordnet sich dieser Sammelband ein. Der Begriff »Digitalisierung« im Untertitel verweist dabei auf die Lebensumstände der gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt. Die digitale Kultur hat per se unscharfe Grenzen mit dem sogenannten Analogen oder der OfflineWelt. Das Charakteristische der digitalen Kultur besteht gerade darin, dass sie sich mit bereits existierenden Praktiken verknüpft: beispielsweise Fotografieren mit Kommunizieren (Selfie-Kultur), Mobilitäts- mit Bezahlmöglichkeit (z.B. Mobility), Selbstdarstellung mit Marketing (z.B. Instagram). Das Verknüpfen bleibt dabei nicht im Rein-Digitalen, sondern online- und offline-Welten verweben sich zu einer »postdigitalen«9 Welt, in der das Analoge nicht mehr vom Digitalen zu trennen ist. Der Mensch »nutzt« nicht ein analoges oder digitales Medium, sondern denkt, handelt, fühlt in einem analog-digitalen Möglichkeitsraum. Inzwischen ist längst Realität, was Nicholas Negroponte (Mitbegründer des MIT Media Lab) 1998 in einem Artikel in der Technologiezeitschrift »Wired« vorgezeichnet hat: »Like air and drinking water, being di-

gital will be noticed only by ist absence, not ist presence.«10 Dieser abschließende Beitrag dieses Sammelbands geht zuerst in einer Ultrakurz-Geschichte auf die Entwicklung der Digitalisierung ein. Was hier versucht wird, ist, gleichsam einen kurzen Anlauf in der Entwicklung der Digitalisierung zu nehmen – um von da aus in das heutige Feld von »Jugendtheologie und Digitalisierung« zu springen (1). »Jugendtheologie und Digitalisierung« markieren zwei Brennpunkte eines großen Universums von Themen, Fragen, Herausforderungen, Forschungsdebatten. Hier wird ein Schema vorgestellt, das in dieses Universum etwas Orientierung bringen kann (2). Daran lassen sich zukunftsrelevante Themen für sowohl die Jugendtheologie in digitaler Kultur als auch für die Theologie als Geisteswissenschaft insgesamt aufzeigen (3). 1. Eine Ultrakurz-Geschichte der Digitalisierung

Im Folgenden wird die jüngere Entwicklung der Digitalisierung in vier Zeitab7 OSCE, The power of digital technologies must be harnessed to counter hatred based on religion or belief, ODIHR says, 2022. Online unter: https://www.osce.org/odihr/461140, 2020. 8 Calvin Mercer / Tracy J. Trothen, Religion and the Technological Future. An Introduction to Biohacking, Artificial Intelligence, and Transhumanism, Cham 2021, 3. 9 Vgl. z.B. Robin Schmidt «Post-digitale Bildung». In: Marko Demantowsky / Gerhard Lauer / Robin Schmidt / Bert te Wildt (Hg.), Was macht die Digitalisierung mit den Hochschulen? Einwürfe und Provokationen, Berlin/ Boston 2020, 57–70. 10 Nicholas Negroponte, »Beyond Digital«, in: Wired, 12.1.1998. Online unter: https://www. wired.com/1998/12/negroponte-55/.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

schnitte eingeteilt. Orientierend sind dabei verschiedene kulturwissenschaftliche und soziologische Ansätze.11 Die frühen Netzwerk-Hoffnungen (1985–1995)

Selbstredend gehen auch dem ersten hier genannten Zeitabschnitt verschiedene Entwicklungen voraus. Computer gab es bereits seit den 1940er Jahren. Allerdings waren diese zunächst noch von raumfüllender Größe und standen vornehmlich in Universitäten, militärischen Einrichtungen und Großkonzernen. »International Business Machines« (IBM) hatte lange Zeit eine Art Monopolposition in Sachen Computing inne; und bis in die 1970er Jahre kamen nur Leute in dafür spezialisierten Berufen in Berührung mit Computern. In den 1980er Jahren brach sich schließlich die Revolution des Personal Computers (PC) Bahn. Dieser Umbruch wurde explizit auch als sich eröffnender Zugang vieler Menschen zu einem bisher nur wenigen Männern vorbehaltenen (Macht-)Instrument verstanden. Der PC entwickelte sich von der alltagsfernen Kriegstechnologie zum Emanzipationswerkzeug der modernen Bürger:innen. In der Folge wurden in den frühen 1980er Jahren hoffnungsvolle Thesen zu einer allvernetzten Zukunft der Gesellschaft entwickelt.12 Zahlreiche gesellschaftliche Diskurse nahmen das »Netzwerk« als neue Strukturmetapher auf. Gilles Deleuze und Félix Guattari etwa zeigten, dass Kultur anhand des netzwerkartigen Wurzelwerks Rhizom auch dezentral und nicht-hierarchisch gedacht werden kann.13 Flusser erhob

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die digitale Vernetzung zur Technik der Nächstenliebe. Menschsein hieße demnach Verknüpftsein mit Anderen.14 NetzUtopist:innen erträumten das Internet als eine Art postidentitären Raum, in dem sich Religion, Geschlecht, Milieu- und Kulturzugehörigkeiten umfassend auflösten.15 Schließlich attestierte der Soziologe Manuel Castells der sich anbahnenden Gesellschaft, dass sie ihre Hierarchien verflachen und althergebrachte Unternehmens- sowie Institutionsgrenzen überschreitbar würden, traditionelle Formen der Macht würden erodieren und neue, verteilte Formen der Macht entstehen.16 Es war die Zeit, als dieser »neue Ort des Geistes«17 als Ort mit eigenem Recht erträumt wurde, als Ort, in dem die weltliche Identität irrelevant würde. Indessen entwickelten sich parallel zu diesen Netz-Utopien auch ökonomische Perspektiven und Hoffnungen: Das Internet als neuer Markt. 11 Vgl. zum Folgenden David Kergel, The History of the Internet, in: Handbook of Theory and Research in Cultural Studies and Education, Cham 2020, 1–16; Michael Seemann, in: Kulturelle Bildung online, 2020. Online unter: https://www.kubi-online.de/artikel/ geschichte-digitalisierung-fuenf-phasen-narratologischen-rampe-digitalisierung. 12 Vgl. Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture, Chicago 2008. 13 Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, A Thou­ sand Plateaus, London / New York 2004: Bruno Latour, Reassembling the Social, Oxford 2007. 14 Vilém Flusser, Kommunikologie weiter denken, Frankfurt a.M. 2009, 251. 15 Vgl. Donna Haraway, A Cyborg Manifesto, New York 1991. 16 Vgl. Manuel Castells, The Information Age: Economy, Society and Culture, Oxford 2010. 17 Vgl. John Perry Barlow, A Declaration of the Independence of Cyberspace, 1996. Online unter: https://www.eff.org/cyberspace-independence.

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Ausblicke

Imitations-Phase (1995–2005)

Ab Mitte der 1990er gelangte das Internet in viele Privathaushalte. Zeitgleich wurde das World Wide Web erfunden. Prägend waren in dieser Zeit zunächst Ansätze, welche die bisherigen Medien in einer digitalisierten Form nachahmten. Die Konzepte aus der physischen wurden in die digitale Welt übertragen.18 Zunächst wurde allmählich der Briefverkehr durch Emails abgelöst, mit iTunes digitalisierte sich die CD-Sammlung, mit Skype die Telefonie usw. In diesem Zeitabschnitt – häufig als »Web 1.0« bezeichnet – waren die meisten Websites statisch und die überwiegende Mehrheit der Nutzer:innen bewegte sich als Verbraucher:innen im Web, nicht als Produzent:innen von Inhalten. Schritt für Schritt entstanden auch neue Medien – die nicht versuchten, ihre analogen Pendants zu ersetzen, sondern die in ihrer Art erst durch die vernetzte Struktur des Internets möglich wurden. Dank Suchmaschinen und Fotoplattformen mit Tagging- und Sharingfunktion entfalten sich gänzlich neue Formen, mit digitalen Objekten zu arbeiten und mit der Mitwelt in Kontakt zu treten. Soziale Netzwerke wie Myspace und Facebook entstanden. »Web 2.0« war das Schlagwort, das Mitte der 2000er Jahre die Imitations-Phase des Internets für beendet erklärte und ein neues, ein soziales Netz kreierte. Big Data, Kontrollverlust und neue Autoritäten (2005–2015)

Ein mit zahlreichen Sensoren und permanenter Internetverbindung ausgestatteter Hosentaschen-PC – das Smartpho-

ne – band ab 2007 einen zunehmend wachsenden Teil der Menschen an das Internet. Allmählich werden die Konsument:innen bisher eher statischer websites nun auch zu Produzent:innen, erstellen eigene Inhalte im Web, und dies als neue Autoritäten mit je eigener Leser-, Zuhörer-, Zuschauerschaft. Das Internet of Things vernetzt seither Wohnräume und Städte, unzählige Daten landen in Clouds. Es ist die Zeit des »Kontrollverlusts«19 über die eigenen Daten, der Wikileaks-Enthüllungen, die Zeit von Big Data. Bezeichnenderweise – ohne daraus voreilige kausale Schlüsse zu ziehen – ist es auch diese Zeit, in der sich in der deutschsprachigen Debatte die Kindertheologie als methodisch-didaktischer Ansatz und Forschungsthema verstärkt, und sich die Jugendtheologie überhaupt erst wirklich Bahn bricht: Von Konsument:innen hin zu Produzent:innen, »doing theology« in eigener Autorität und Verantwortung.20 »Welcome to the world of ›trans-‹«21 (2015–2025)

Ab Mitte der 2010er-Jahre vervielfachen sich die Entwicklungsstränge des gesellschaftlichen Digitalisierungsprozesses. 18 Seemann spricht von »Remediation«, vgl. Anm. 11. 19 Vgl. Michael Seemann, Das Neue Spiel, Freiburg 2014. 20 Vgl. etwa Laurie Green, Let’s Do Theology, London/New York 2009; früh auch schon David Tracy, Talking about God: Doing Theology, New York 1983. 21 Calvin Mercer / Tracy J. Trothen, Religion and the Technological Future. An Introduction to Biohacking, Artificial Intelligence, and Transhumanism, Cham 2021, X (Forword).

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

Der Kommunikationswissenschaftler Michael Latzer spricht von der »digitalen Dreifaltigkeit«: (a) Datafizierung, (b) Algorithmisierung und (c) Plattformisierung.22 Im Folgenden werden einige Aspekte betont, die für den Zusammenhang mit? Jugendtheologie in besonderer Weise von Interesse sind: Spätmoderne Gesellschaften sind – so wird in soziologischen, pädagogischen und weiteren Studien nicht zu Unrecht gleichsam mantra-artig wiederholt – durch Megatrends der Globalisierung, durch Migration, Traditionenkritik und Individualisierung von einer zunehmenden Heterogenisierung getragen. Wolfgang Welsch etwa verweist mit dem Konzept der Transkulturalität darauf, dass sich Kulturen wechselseitig durchdringen und die Idee in sich abgeschlossener und nach außer abgegrenzter »kultureller Kugeln« nicht mehr aufrechterhalten werden kann.23 Homi Bhabha spricht von Vermischungen in einem dritten Raum,24 der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt schon im analogen Raum eine Hybridisierung der Gesellschaft.25 Im Rückgriff auf die Hybridisierung als Modernisierungsmerkmal lässt sich so der Digitalisierungsprozess als kulturelle Transformation verstehen, die im Kern auf kulturelle Praktiken zurückgeht, die lange vor dem Internet existierten.26 Die digitale Transformation verstärkt nun diese Hybridisierung. Beschleunigt wird dies durch das »Web 3.0« als semantisches Web. Daten – Suchdaten, Begriffen – werden sogenannte Metadaten beigefügt: Klassifizierungen im Hintergrund, die zu weiteren Suchergebnissen als das Web 2.0 führen, Querverknüpfungen ermöglichen und dadurch die Horizonte des bisher Gedachten der suchenden

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Person erweitern.27 Kurz: Die klare Unterscheidung zwischen Konfessionen ist in gelebter Religion schon länger schwierig – jene zwischen Religion und Nichtreligion ebenso. In der postdigitalen Kultur verfließen nun auch weitere bisherige (vermeintliche) Grenzziehungen. Es entstehen Verknüpfungen, aber auch Grenzziehungen, die quer zu allen bisherigen Spektren verlaufen. Quer zu den etablierten Gruppierungen, Konfessionen, Nationen, Parteien bilden sich neue »digitale Stämme«, tribes.28 Die Digitalisierung dezentralisiert bisherige Machtstrukturen, kreiert neue Autoritäten, formt Gemeinschaften und Netzwerke um.29 Religion ist diesbezüglich keine Ausnahme.30 In so manchen reli-

22 Michael Latzer, Digitale Dreifaltigkeit – kontrollierbare Evolution – Alltagsreligion, Zürich 2021. Online unter: https://mediachange.ch/ media/pdf/publications/dreifaltigkeit.pdf. 23 Wolfgang Welsch, Transkulturalität – neue und alte Gemeinsamkeiten, Berlin 2011; ders., Transkulturalität – Realität und Aufgabe, in: H. Giessen / C. Rink (Hg.), Migration, Diversität und kulturelle Identitäten, Stuttgart 2020. 24 Vgl. Homi K. Bhabha, The third space, London 1990. 25 Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006. 26 Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 27 Hinter Metadaten stehen allerdings Klassifizierungen – die wiederum, als kulturell geprägte, kritisch zu hinterfragen sind. 28 Vgl. A. J. Grant, Digital tribalism and the internet of things: challenges and opportunities, in: Issues in Information Systems, Volume 21/2020, Issue 2, 213–220. 29 Vgl. Manuel Castells, The Rise of the Network Society, Oxford 2000. 30 Vgl. Heidi Campbell, Understanding the Relationship between Religion Online and Offline in a Networked Society, in: Journal of the American Academy of Religion 80/2012, 64–93.

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Ausblicke

gionsbezogenen Blogs, Chats, virtuellen Begegnungsräumen spielen Kategorien wie Konfessionalität, Ökumene, religiöse Positionalität oder interreligiöser Dialog keine explizite Rolle mehr – es geht um Erfahrungen,31 die religiös gedeutet werden oder auch nicht, mal mit, und mal ohne Bezug auf oder Bewusstsein für bestimmte Traditionen und Religionssysteme. Fluid, synkretistisch, erfahrungsorientiert. Die (Jugend-)Theologie, der Mensch, das Selbst32 wird grundsätzlich vor neue Identitäts-, Deutungs-, Orientierungs- und Zukunftsfragen gestellt: »Welcome to the world of ›trans-‹. We are all transforming or transitioning from one thing to another. We are reinventing ourselves without a blueprint or a goal.«33 2. Mapping »Digitalisierung und Jugendtheologie«

Von hier aus springen wir nun in das Universum von »Jugendtheologie und Digitalisierung«. Der vorliegende Band spiegelt es wider: Jugendtheologie im digitalen Raum ist ein Feld, das auf verschiedenen Ebenen (individuell, institutionell, theologisch, gesellschaftlich, metatheologisch usw.), aus verschiedenen Perspektiven (pädagogisch, religionspädagogisch, poimenisch usw.), aus mehreren religionsbezogenen Blickwinkeln (konfessionell, interreligiös, usw.), in der Praxis wie in der Theorie, sowohl implizit als auch explizit zum Thema werden kann und wird. Wir kommen nicht umhin, ein bisschen Ordnung in dieses Universum von »Jugendtheologie und Digitalisierung« zu bringen. Denn eine der größten Herausforderungen für Forschung, Überblick,

auch Praxisorientierung ist die hier existierende Anzahl von unterschiedlichsten Angeboten, Phänomenen, Aktivitäten. Dass die Linien zwischen online und offline sich dabei verflüssigen, macht die Orientierung nicht einfacher. Ein dieses Universum ordnendes Schema muss jenen Aspekten Raum geben, die sich in digitaler Jugendtheologie verstärkt als unterscheidende Merkmale zeigen und die religionspädagogisch relevant werden. Hierzu zählen wesentlich die Faktoren Autorität und Positionalität.  Autorität. Der erste Faktor ist ein zen-

trales Thema jeglicher Forschung im Feld von »Digital Religion(s)«. »Who’s got the power?« nennt Heidi Campbell bereits 2007 eine ihrer Publikationen.34 Wem digitale Akteur:innen ihre Autorität zusprechen bzw. woher sie ihre eigene Autorität herleiten, verändert sich in digitaler Jugendtheologie weit über ein »von – mit – für« hinaus. Forschungen zeigen für digitalisierte westliche Gesellschaften auf, dass die Autorität religiöser (und gerade auch kirchlicher) Institutionen

31 Vgl. Sabrina Müller, How ordinary moments become religious experiences, in: Ulrich Riegel / Eva-Maria Leven / Daniel Fleming (Hg.): Religious Experience and Experiencing Religion in Religious Education, Münster/New York 2018, 79–96. 32 Heidrun Allert / Michael Asmussen / Christoph Richter (Hg.), Digitalität und Selbst, Bielefeld 2017, 29. 33 Calvin Mercer / Tracy J. Trothen, Religion and the Technological Future, Cham 2021, X (Foreword). 34 Vgl. Heidi Campbell, Who’s Got the Power? Religious Authority and the Internet, in: Journal of Computer-Mediated Communication 12:10/2007, 43–62 2007.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

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deutlich abnimmt.35 Insgesamt führen die neuen Netz-Strukturen des Internets zu einer Verschiebung der Autoritätsansprüche, -möglichkeiten und -wege, manche Hierarchien werden flach, Zugehörigkeit-»Levels« finden sich in einer größeren Vielfalt und in einer höheren Dynamik.36 Zugleich zeigt sich die gegenteilige Dynamik: Religiöse Akteur:innen bauen ihren Einfluss und ihre Macht über social media Kanäle aus.37  Positionalität. Der zweite Faktor ist nicht unabhängig vom ersten zu denken und zugleich getrennt davon zu betrachten: Welche Art von religiöser »Substanz« ist im Blick? Damit ist zunächst weniger auf bestimmte Theologoumena verwiesen, sondern die religionsbezogene Positionalität der Sache und/oder Akteur:innen kommt in den Blick. Der kanadische Soziologe Christopher Helland hat vor rund zwei Jahrzehnten eine häufig zitierte Unterscheidung für das Feld um »Digital Religion(s)« getroffen: nämlich zwischen »religion online« und »online religion«.38 Unter »religion online« verstand er traditionelle Hierarchien von Religion, auch entsprechende Autoritäten wie etwa die Kirchen, die digital präsent seien. Solche »religion online« war gemäß Helland tendenziell eine Einbahnstraße, eine »one-to-many communication«. Mit »online religion« hingegen verwies er auf dialogisches, partizipatives digitales religiöses Kommunizieren: »many-to-many communication«, die oft weniger formell sei, im Blick auf Gemeinschaftszugehörigkeiten, Mitgliedschaft und klassische Strukturen (vgl. Grafik 1).

Grafik 1: Die Unterscheidung zwischen »religion online« und »online religion« nach Christopher Helland (2000), Darstellung J.S.

35 Zur Diskussion vgl. u.a.: Anita L. Cloete, Mediated Religion: Implications for Religious Authority, in: Verbum et Ecclesia 37: 2016; Giulia Evolvi, Materiality, Authority, and Digital Religion, in: Entangled Religions 11, 2020; Marta Kołodziejska / Anna Neumaier, Between Individualisation and Tradition, in: Religion 47, 2017; für islamische Kontexte z.B.: Dindin Solahudin / Moch Fakhruroji, Internet and Islamic Learning Practices in Indonesia, in: Religions 11:19, 2020. 36 Vgl. Anna Neumaier, Christian Online Communities: Insights from Qualitative and Quantitative Data, in: Heidelberg Journal of Religions on the Internet 14/2019. 37 Vgl. Pauline Hope Cheong / Shirlena Huang / Jessie P. H. Poon, Cultivating Online and Offline Pathways to Enlightenment, in: Information, Communication & Society 14/2011. 38 Vgl. Christopher Helland, Online-Religion/ Religion-Online and Virtual Communitas, London 2000.

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Ausblicke

Dieses Helland’sche Schema passe ich aufgrund der oben genannten Faktoren »Autorität / Akteur:innen« und »Positionalität / religiöse ›Substanz‹« im Folgenden in zweierlei Hinsicht an:  Zum einen erweitere ich Hellands Definition zwischen »online religion« und »religion online«. Dies aus folgendem Grund: Zahlreiche websites und digitale Akteur:innen verknüpfen inzwischen Optionen für »one-tomany-communication« und »manyto-many-communication«. So können z.B. youtube-Nutzer:innen entweder passiv Zuschauende oder auch aktiv als auch Kommentierende sein. Dasselbe gilt für Blogs, Foren, virtuelle Welten usw. Hellands Unterscheidung unterschiedlicher Akteur:innen ist (auch religionspädagogisch) wichtig, aber in der Dualität InformationPartizipation nicht mehr zeitgemäß.39 Ich erweitere bzw. aktualisiere seine Unterscheidung durch: gelehrte und gelebte Religion. Damit bleibt die Helland’sche Unterscheidung zwischen verschiedenen Akteur:innen bestehen, ebenso auch die Dimension der Autonomie dieser Akteur:innen. Zugleich aber wird nicht eo ipso den klassischen religiösen Institutionen jede Partizipationsoption oder aber anderen agierenden Personen eine »one-to-many-communication« abgesprochen. Bei »gelehrter Religion« verorte ich Zuständigkeit durch strukturelle Bedingtheiten, durch gegebene Rollen, durch jahrhunderte- oder jahrzehntealte Institutionen. Bei »gelebter Religion« können Zuständigkeiten, Akteur:innen jeglicher Façon vertreten sein. Auf dieser Achse geht es insgesamt um die Autori-

tät, aus der heraus die Akteur:innen sprechen.  Ich führe Hellands Modell außerdem weiter mit einer zusätzlichen Achse. Diese Achse bewegt sich zwischen dem Pol religiös klarer Positionierung einerseits, im Sinne eher traditioneller Religionssysteme, die sich über lange Jahrhunderte etabliert haben (Christentum, Islam, Buddhismus, aber auch eindeutig sich identifizierende BahaiAnhänger:innen usw.), und dem Pol fluider religiöser Positionierungen andererseits, (quasi-religiöse Phänomene, allgemein-spirituelle Lehrer:innen, Begriffe wie mindfulness, Weisheit usw.); hier lassen sich auch onlineSettings verorten, denen zwar ein religionsbezogener Charakter eignet, in denen aber eine eindeutig fassbare religiöse Positionalität in der Kommunikation irrelevant bleibt. In der Mitte dieser Achse liegt »interreligiös«, das stets zwei Positionen in Beziehung, in den Dialog bringt. Auf dieser Achse geht es um die Positionalität sowie die religiöse »Substanz«, die implizit oder explizit Thema ist (vgl. Grafik 2).

39 Helland selbst hat sein Schema einst angepasst, vgl. ders., Online Religion as Lived Religion. Methodological Issues in the Study of Religious Participation on the Internet, in: Heidelberg Journal of Religions on the Internet, Vol. 01.1, 2005. Eine weitere Anpassung des Helland’schen Schemas hat unter anderem auch Piotr Siuda vorgenommen. Sein Schema (mit der zusätzlichen Achse »innovative and traditional religion«) scheint mir aber aus mehreren Gründen für den vorliegenden religionspädagogischen, jugendtheologischen Zusammenhang nicht von Erkenntnismehrwert. Vgl. Piotr Siuda, Mapping Digital Religion: Exploring the Need for New Typologies, in: Religions 12:373, 2021.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

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Grafik 2: Schema zur Erfassung der Vielfalt von »Jugendtheologie im digitalen Raum« in Anlehnung an Christopher Helland (2000), Darstellung und Wording: J.S.

Dieses Schema ließe sich außerdem nun verdreifachen und dadurch die inzwischen klassische Dreiteilung »von – mit – für« zusätzlich darstellen. Das entste-

hende Schema ist als ein idealtypisches anzusehen; die Ebenen und Pole spielen fließend ineinander über (vgl. Grafik 3).

Grafik 3: Drei-Ebenen-Schema zur Erfassung der Vielfalt von »Jugendtheologie im digitalen Raum« in Anlehnung an Christopher Helland (2000), Darstellung und Wording: J.S.

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Ausblicke

Das Schema kann natürlich in verschiedener Hinsicht erweitert und präzisiert werden, etwa im Blick auf Intensität der jeweiligen Faktoren, auf soziale, kulturelle, theologische Faktoren usw. Es kann, in dieser idealtypischen Form, aber bereits verschiedene gegenwärtige Dynamiken der jugendtheologischen Fachdebatte und Praxis ordnen und verdeutlichen. Eine solcherart erfolgende systematische Einordnung und Analyse jugendtheologischer Angebote und Prozesse ist m.E. Teil des größeren Zusammenhangs der Untersuchung von aktuellen Konstellationen digital und postdigital gelebter Religion und religiöser Pluralität von Jugendlichen. In dieser Perspektive können die Beiträge dieses Sammelbands als Mikrostudien zur Wahrnehmung von und zum Umgang damit verstanden werden. Während auf der Makroebene entsprechende Untersuchungen häufig der quantitativen Religionssoziologie zugeordnet werden, sind solche Studien und Beiträge zur Bedeutung und Wahrnehmung jugendlicher Religiosität in digitaler Kultur auf der mikrosozialen Ebene von (nicht nur, aber auch religionspädagogischer) Relevanz. Für die religionspädagogische Forschung um »Jugendtheologie und Digitalisierung« wird wesentlich sein: Welche online tools sind für welche Art von Jugendtheologie möglich, wo werden welche bereits verwendet – und durch wen und mit welchem Erfolg? Wo im Schema verortet sich gegenwärtig die informell gelebte digitale »Jugendtheologie von« im deutschsprachigen Raum, und wo jene, die in formaler Bildung aktiv eingesetzt wird? Und wie spielt dies zueinander? Wo initiieren mehr männliche, wo mehr weibliche Anbieter:innen und/oder Au-

toritäten ein Angebot? Wo stehen welche theologischen Fragen im Zentrum? Wie und wohin verschiebt sich der Schwerpunkt der – voraussichtlich per se digital geprägten – Religionspädagogik insgesamt und der Jugendtheologie im Spezifischen in den nächsten Jahren? 3. »… and it’s coming much faster than most people realize«:40 Zur religionspädagogischen Verantwortung von, mit und für das Theologisieren in digitalen Räumen

Es wäre ein Trugschluss, Jugendtheologie in digitaler Kultur mit der Jugendtheologie zu vergleichen, wie sie de facto offline stattfand, und ein »+digital« zu ergänzen. Die digitale Struktur bringt umfassende Veränderungen in Bezug auf Ressourcen, Räumlichkeiten, Wissenszugänge, Kommunikationskanäle, Lernprozesse mit sich. Sie ermöglicht von da aus eine andere Art von Augenhöhe, Verschiebungen von Macht und Autorität, religiösfluide(re) Positionierungen, anonyme(re) Kommunikationswege, niederschwelliges und umfassendes Inszenieren von Erfahrungen und Erzählungen, Verengung des eigenen Horizonts ebenso wie neue Vergemeinschaftungsformen. Einige der Merkmale, die bisher als selbstverständliche Merkmale der Jugendtheologie galten, werden im Kontext der digitalen Kultur neu diskutiert werden müssen. Fraglos müssen die Religionspädagogik und damit ebenso der Ansatz der 40 Calvin Mercer / Tracy J. Trothen, Religion and the Technological Future. An Introduction to Biohacking, Artificial Intelligence, and Transhumanism, Cham 2021, 3.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

Jugendtheologie im Spezifischen sich auf die digitale Kultur einlassen. Konkret bedeutet dies etwa: Lehrer:innenbildung muss den Aufbau digitaler Kompetenzen anvisieren; Lehrmaterial darf sich an der zunehmenden Vielfalt von individualisierten digitalen Lernmöglichkeiten ausrichten (z.B. online tools, die das Einrichten verschiedener Anspruchsniveaus bei einem spielerischen e-Learning anbieten), Unterrichtsentwürfe sollen sich bei den wachsenden Möglichkeiten vernetzten Lernens bedienen (etwa bei der Möglichkeit, via Zoom einen Vertreter einer anderen Religion in das Klassenzimmer zu holen). An dieser Stelle soll über diese reaktivnotwendigen religionspädagogischen und jugendtheologisch-didaktischen Auf­ gaben hinaus weiter gedacht werden: Vor dem (Selbst-)Verständnis als Geisteswissenschaft muss die Theologie sich fragen, welche spezifische Aufgabe sie proaktiv in eine digitale Gesellschaft hinein leisten will – und von hier aus, inwiefern sich ihre Aufgabe in digitaler Gesellschaft neu zeigt. Auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes sowie der gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen scheinen mir folgende Fragen und Aufgaben besonders dringlich:  auf methodisch-didaktischer Ebene das Verhältnis zwischen nicht aktiv initiierter, aber vielfältig existierender Jugendtheologie, den proklamierten Zielen intentionaler jugendtheologischer Prozesse und tatsächlichen Ergebnissen letzterer sowie schließlich Konsequenzen aufgrund von möglichen entsprechenden Diskrepanzen,  ebenfalls auf methodisch-didaktischer Ebene die Identifikation des Wechsel-

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spiels herkömmlicher Medien zu digitalen Medien sowie die Frage, welche jugendtheologischen Ziele und Kompetenzen durch den jeweiligen Einsatz gefördert werden,  auf öffentlich-religionspädagogischer Ebene die Frage, welche Dimensionen zu einer zukunftsfähigen Religionspädagogik in digitaler Kultur zwingend gehören sowie der Abgleich, wo die gegenwärtige Religionspädagogik in Forschung und Praxis diesbezüglich steht,  auf bildungstheoretischer Ebene, für welche Art von (postdigitaler) Bildung sich eine (postdigitale) Theologie einsetzen muss,  auf praktisch-theologischer Ebene, wie eine proaktive theologisch-verantwortungsvolle Haltung im Blick auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des digitalen Raums und besonders auf die Machtdynamiken im digitalen Raum aussieht,41  auf wissenschaftstheoretischer Ebene die Frage, inwiefern die Theologie – ebenso wie die Jugendtheologie – sich im oben präsentierten Schema vervielfältigt hat, welche Art von Theologie im gegenwärtigen Wissenschaftskanon Raum findet und welche Theologie(n) sich andere Räume suchen müssen,42 41 Vgl. Sabrina Müller / Jasmine Suhner, Jenseits der Kanzel. (M)achtsam predigen in einer sich verändernden Welt, Neukirchen-Vluyn 2023. 42 Die Vielfalt der Arten von Theologie war von Beginn weg ein Thema der Kinder- und Jugendtheologie, vgl. etwa Thomas Schlag, Von welcher Theologie sprechen wir eigentlich, wenn wir von Jugendtheologie reden? in: »Wenn man daran so glauben kann, ist das gut« Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie, JaBuJu 1, hg. u.a. von Petra Freudenberger-Lötz, Stuttgart 2013, 9–23.

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Ausblicke

 auf theologischer Ebene die norma-

tive Frage, welche Zukunft für die Menschheit erwünscht ist und welche Räume die Theologie als kritische Geisteswissenschaft hierfür bespielen muss und kann; außerdem, von welchem Geist sich eine Theologie getragen fühlt, die Räume für Jugendtheologie in digitaler Kultur eröffnen und halten will – und wie diesem Geist glaubhaft entsprochen wird. Anknüpfend an diese letzte Frage und Aufgabenstellung wird das Augenmerk zum Schluss auf einen Aspekt von Jugendtheologie gerichtet, den die Autorin hier normativ setzt als Merkmal von Jugendtheologie: Theologie insgesamt beginnt mit der Begegnung mit dem Anderen. Mit dem DU. Auch Jugendtheologie lebt wesentlich vom Anderen, vielleicht gar noch umfassender: davon, sich proaktiv mit dem Anderen zu verknüpfen oder sich dem Anderen auszusetzen. Dabei kann das Andere das Gegenüber, das Fremde in sich oder auch das Übersteigende im Sinne einer kleinen oder großen Transzendenz sein. Jugendtheologie lebt vom Raum, der sich eröffnet zwischen dem Theologisieren »von«, »mit« und »für« – in diesen Zwischenräumen entsteht sie fortwährend neu. Die Anfänge der digitalen Revolution waren von utopischen Entwürfen beherrscht. Die digitale Vernetzung sollte eine allvernetzte Verbundenheits-Erfahrung möglich machen. Eine wirkliche Verbundenheitserfahrung setzt die Begegnung mit dem Anderen voraus. Die digitale Totalvernetzung und Hy-

perkommunikation erleichtert indessen häufig nicht die Nähe mit dem Anderen. Sie dient nicht selten dazu, am Fremden und Anderen vorbei Gleichgesinnte zu finden. Trotz des semantischen Webs werden Erfahrungs- und Lernhorizonte häufig weniger ausgeweitet, als wir uns dies vorstellen. Das Netz verwickelt im negativen Fall in eine Ich-Spirale, in eine »Echokammer, aus der jede Andersheit, jede Fremdheit eliminiert ist. Die wirkliche Resonanz setzt die Nähe des Anderen voraus. Heute weicht die Nähe des Anderen der Abstandslosigkeit des Gleichen. Die globale Kommunikation lässt nur gleiche Andere oder andere Gleiche zu.«43 In der Abstandslosigkeit fehlt der Antrieb der Jugendtheologie. Jugendtheologie mit ihren Zielen eigenen Sprachefindens, von Authentizität, von Selbstausdruck und -suche ist der Forderung um Authentizität in digitalen Austauschforen nicht unähnlich. Authentisch sein heißt frei sein von vorgeformten, von außen vorgegebenen Denkkorsetts, Ausdrucksmustern, Verhaltenstraditionen. Jugendtheologie im digitalen Raum – erst Recht und insbesondere eine religionspädagogisch bewusst initiierte – darf sich dabei nicht zu Ausstellungsräumen des Ichs hin verengen, oder aber sie verliert die »Theologie«. Es gilt weder »Digitalisierung first« noch »Bedenken first«,44 sondern im besten Sinne sorgfältige und unruhigfrei-fragend-bleibende Verantwortung. Theologie – ebenso Philosophie und Kunst – haben die Verantwortung, den

43 Byung-Chul Han, Die Austreibung des Anderen, Frankfurt a.M. 2016, 8. 44 Vgl. den Titel dieses Sammelbands.

Suhner Jugendtheologie im digitalen Raum: Was ist das – und wenn ja, wie viele?

Verrat am Anderen zu entlarven, das Andere aus der Verkrümmung und Verhedderung des kleinen, subjektiv verengten Geistes zu befreien, Raum für das Andere zu geben, das Staunen, das Selbstvergessen. Die Aufgabe der Akteur:innen in der (Jugend-)Theologie? Den Geist des

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Anderen auch im Digitalen sprechen zu lassen. Dieser Verantwortung eignet, neben der theologischen, auch eine politische und gesellschaftliche Dimension. Es ist eine Handlung, eine aktive Teilnahme am postdigitalen menschlichen Dasein.

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Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren

MTh Claude Bachmann ist Jugendarbeiter und Doktorand an der Theologischen Hochschule Chur. Marielena Berger studiert Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Marburg. Nicole Bruderer-Traber ist Theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Christian Cebulj ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Chur. Dr. Tobias Faix ist Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel und leitet dort das Forschungsinstitut empirica für Jugend, Kultur & Religion sowie den Masterstudiengang Transformationsstudien für Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit. Dr. Stefanie Findeisen ist Juniorprofessorin für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Professionalität des Berufsbildungspersonals an der Universität Konstanz. Dr. Doreen Flick-Holtsch ist Professorin für Gymnasial- und Wirtschaftspädagogik unter besonderer Berücksichtigung des digitalen Lernens am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.

Dr. Annette Haußmann ist Juniorprofessorin für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Poimenik an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Psychologische Psychotherapeutin. Dr. Britta Konz ist Professorin für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dr. Gernot Meier ist Religionswissenschaftler, Pfarrer, Diplomreligionspädagoge an der evangelischen Akademie Baden und landeskirchlicher Beauftragter für Ethik und Theologie der Digitalisierung und Mitglied des Institut for Machine Learning and Analytics. PD Dr. Sabrina Müller ist Privatdozentin für Praktische Theologie, Mitglied der Leitung des Zentrum für Kirchenentwicklung und Geschäftsleiterin des Universitären Forschungsschwerpunktes (UFSP) »Digital Religion(s)« an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Ilona Nord ist Professorin für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Stefan Piasecki ist Professor für Soziologie und Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Medien und ihre Einflüsse auf gesellschaftliche Stabilität an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen. Leonie Preck studiert Friedenspädagogik im Master an der EH Freiburg, und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsinstitut empirica sowie im Bereich Freiwilligendienste beim Amt für Jugendarbeit der EKKW. Dr. Antje Roggenkamp ist Professorin für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Martin Rothgangel ist Professor für Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Dr. Marcell Saß ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Direktor am Zentrum für Lehrerbildung der Philipps-Universität Marburg.

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lic. theol. René Schaberger ist Rektoratsassistent und Doktorand an der Theologischen Hochschule Chur Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie, Pastoraltheologie und Direktor des Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) »Digital Religion(s)« an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dr. Jasmine Suhner ist Co-Forschungsleiterin »Interreligious Learning in Digital Society« des Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) »Digital Religion(s)« an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, Dozentin für Religionspädagogik an der Universität Luzern sowie freischaffend im Feld Religionsphilosophie tätig. PD Dr. Caroline Teschmer ist Privatdozentin für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg.