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German Pages 229 [230] Year 2014
Martin Endres »Poëtische Individualität«
Studien zur deutschen Literatur
Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf
Band 207
Martin Endres
»Poëtische Individualität« Hölderlins Empedokles-Ode
ISBN 978-3-11-033014-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033133-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-037814-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern, ohne die kein Wort wäre.
Vorwort Dieser Publikation liegt meine 2011 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingereichte Dissertationsschrift zugrunde, die für die Drucklegung überarbeitet und geringfügig erweitert wurde. Daß mich Hölderlins Ode Empedokles über Jahre begleitete, daß mir diese unerhörte Dichtung ein so wertvolles Gegenüber in einem innigen Dialog und Herausforderung meines eigenen Sprechens wurde – dies war mir nur durch die Hilfe derer möglich, denen ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Besonders danke ich meinem Doktorvater Gerhard Buhr für sein unschätzbares Vertrauen, für die unzähligen Stunden unseres ›offenen‹ und bis heute unaufhörlichen Gesprächs, und für seinen freudigen Ernst in der Lektüre, der mir in allem Maßstab ist und bleiben wird. Roland Reuß danke ich für die unvergleichliche Unterstützung, mit der er mich in so vielfältiger Weise begleitete, für seine stete Ermutigung zur Radikalität im philologischen Tun und zur bedingungslosen Verpflichtung gegenüber der Sache. Peter Staengle bin ich dankbar für sein offenes Ohr in jedem Belang. Mein tiefer Dank gilt überdies meiner Frau Andrea Sakoparnig, ohne die es dieses Buch so nicht geben würde und die wie niemand sonst weiß, was es mir bedeutet – ich danke ihr für jedes Wort, für jeden Tag. Oswald Egger danke ich für das ununterredende Gespräch, die ganze Zeit. Katharina Dittes für Ihre Freundschaft und für alles, was sie zu diesem Buch beigetragen hat. Zudem möchte ich dem Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart sowie dem Stadtarchiv von Bad Homburg vor der Höhe danken für die freundliche Druckfreigabe der Faksimiles der Handschriften Hölderlins. Allen voran jedoch danke ich meinen Eltern für ihre so liebevolle Unterstützung und ihr grenzenloses Vertrauen. Ihnen widme ich diese Arbeit.
Leipzig, den 21. Juni 2014
Inhalt Einleitung
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Methode – Poetizität als Prozeß und Struktur
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15 Metrik Die Genese der Form – Prozeß und Struktur 17 Die Logik der Form – Die alkäische Ode 20
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Neuedition
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37 Interpretation Titel Empedokles 37 Strophe 1 41 Vers 1 Das Leben suchst du … 43 Vers 2 Ein göttlich Feuer … 67 Vers 3 Und du in … 83 Vers 4 Wirfst dich hinab … 95 Zur Poetik des Erinnerns 107 Strophe 2 115 Vers 5 So schmelzt’ im Weine … 117 Vers 6 Der Königin; und … 131 Vers 7 Nur deinen Reichtum … 139 Vers 8 Hin in den … 147 Der Ausgleich der Gegensätze 157 Strophe 3 161 Vers 9 Doch heilig bist du … 163 Vers 10 Die dich hinwegnahm … 175 Vers 11 Und folgen möcht’ ich … 183 Vers 12 Hielte die Liebe … 191 Die ›poëtische Individualität‹ 209
Literatur
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Einleitung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Friedrich Hölderlins Ode Empedokles. Ziel der Untersuchung ist eine textnahe Interpretation der Ode, die zugleich ihr methodisches Vorgehen reflektiert und dieses thematisiert. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse der Interpretation Anlaß geben, Hölderlins Konzeption der ›poëtischen Individualität‹ in seiner Poetik des ›Erinnerns‹ neu zu bedenken und so einem allgemeineren methodischen wie theoretischen Zugang zu seinen Texten zu erschließen. Mit der Wahl des Gegenstandes reagiere ich auf ein in der literaturwissenschaftlichen Forschung bis heute bestehendes Desiderat, das sich im wesentlichen an vier Punkten festmachen läßt: Erstens ist die Empedokles-Ode bislang nicht eingehend interpretiert und in ihrem poetischen Eigenwert gegenüber Hölderlins Dramenentwürfen reflektiert worden. Zweitens werden die Interpretationen zu den Oden Hölderlins im Allgemeinen nicht den Anforderungen dieser lyrischen Form gerecht, was vor allem aus einem für die deutsche Lyrik seit dem 18. Jahrhundert andauernden einseitigen Metrik-Verständnis resultiert. Die Unangemessenheit der Interpretation gegenüber sowohl stofflichen wie formalen Momenten findet drittens in einem methodischen Vorgehen ihren Grund, das die in meinen Augen für die Poetizität eines literarischen Textes zentralen Momente Prozeß und Struktur nicht ausreichend bedenkt. Viertens sind Hölderlins dichtungstheoretische Überlegungen meist nur für sich betrachtet oder als Erklärungshilfen seiner poetischen Texte herangezogen worden, jedoch wurden daraus keine Konsequenzen für die Methode der Interpretation gezogen.
Stoff Die um 1797 entstandene Ode Empedokles fällt gemeinsam mit dem sogenannten Frankfurter Plan in die Anfangszeit von Hölderlins Beschäftigung mit der Empedokles-Thematik, die etwa ein Jahr später in den ersten Dramenentwurf und schließlich in zwei theoretische sowie zwei weitere szenische Entwürfe führte. Schon angesichts ihrer werkchronologischen Stellung als vermutlich erste poetische Arbeit zu diesem Stoff¹ muß die Ode Empedokles als ein zentraler Text für alle weiteren poetischen wie theoretischen Arbeiten zu diesem Thema angesehen werden. Die bisherige literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Empedokles-Komplex Hölderlins beschränkte sich jedoch beinahe ausschließ-
1 Vgl. Theresa Birkenhauer, Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996, S. 102.
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Einleitung
lich auf die Dramen bzw. die poetologischen Studien Grund zum Empedokles und Das untergehende Vaterland und hat die Ode wenn, dann nur am Rande in die Analyse miteinbezogen.² Daß sie hingegen als programmatisch für den spekulativen, transzendentalphilosophischen und poetologischen Gehalt der theoretischen Schriften Hölderlins Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… oder Seyn Urtheil Möglichkeit anzusehen ist, wurde bis dato nicht hinreichend bedacht und bildet einen wichtigen Teil meiner Untersuchung.
Metrik Angesichts der erst im Schreibprozeß Hölderlins vollzogenen Umarbeitung eines rhapsodischen Entwurfs hin zu einer dreistrophigen Ode liegt ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit neben der Empedokles-Thematik auf der Bedeutung dieser Formentscheidung. Ausgehend von der in der Forschung meist nur am Rande geleisteten Problematisierung der Übertragbarkeit antiker Odenstrophen ins Deutsche möchte ich allgemeine Überlegungen darüber anschließen, welche alternativen Zugänge zur Metrik denkbar sind, welche Bedeutung sie (insbesondere für Hölderlins Schreiben) besitzt und welche poetischen wie poetologischen Konsequenzen dies für seine literarische Produktion hat. Besonders an den Oden Hölderlins ist zu erkennen, daß ihnen entgegen dem herkömmlichen Verständnis kein starres Strophenschema einer ›alkäischen‹ oder ›asklepiadeischen‹ Ode zugrunde liegt. Dem spätestens seit Klopstock auch theoretisch fundierten Metrikverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts entspricht, daß Hölderlin angesichts der Einheit von Form und materiell Ausgesprochenem auch die abstrakte Seite der Dichtung als eine ›inhaltliche‹ ansieht. Nicht nur bezüglich der Gedichte Hölderlins wurde die von der Umsetzung der Form ausgehende Reflexion auf die Logik der Form selbst in der Forschung bis auf wenige Ausnahmen ausgeblendet.
2 Vgl. Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 101–119; Ulrich Gaier, Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen, Basel 1993, S. 289–295; Joachim von der Thüsen, »Vater Ätna«. Vulkan und Geschichte in Hölderlins Empedokles. In: Poesie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann, hg. von Dagmar Ottmann und Markus Symmank. Unter Mitarbeit von Constanze Keutler, Würzburg 2001, S. 93–103; Patrizia Hucke, Entgegengesetzte Wechselwirkungen. Hölderlins »Grund zum Empedokles«, Würzburg 2006, S. 153; Harald Weilnböck, »Was die Wange röthet, kann nicht schlecht seyn«. Die Beziehungsanalyse der Entfremdung bei Hölderlin und Heidegger, Würzburg 2000; Ralf Schnell, Empedokles: Legende – Trauerspiel – Film. In: Schwellen der Medialisierung. Medienanthropologische Perspektiven. Deutschland und Japan, hg. von K. Ludwig Pfeiffer und Ralf Schnell, Bielefeld 2008, S. 113–128; Katja Malsch, Literatur und Selbstopfer. Historisch-systematische Studien zu Gryphius, Lessing, Gotthelf, Storm, Kaiser und Schnitzler, Würzburg 2007, S. 156 f.
Einleitung
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Diesem Desiderat begegnet meine Arbeit, indem die Analyse der EmpedoklesOde auch das abstrakt-metrische Schema thematisiert und dieses aus sich heraus zu begreifen versucht. Meine Interpretation begründet, warum Hölderlin diese Formentscheidung traf und inwieweit gerade der Empedokles-Stoff einen idealen Oden-Stoff für ihn darstellt.
Methode Neben der Kritik an der ungenügenden Wertschätzung der Ode im Rahmen des Empedokles-Werkkomplexes Hölderlins sowie an dem nach wie vor allzu traditionsverhafteten Umgang mit Metrik stellt die Methode der Interpretation literarischer Texte den dritten und wichtigsten Aspekt meiner Studie dar. Die Beschränkung auf rein literaturhistorische Analysen unter motiv- und aspektorientierten Maximen erzielte in der Vergangenheit meist nur allgemeine Ergebnisse. Die meiner Arbeit zugrundeliegende Methode der Interpretation versucht dagegen dem Text in seiner individuellen Verfaßtheit gerecht zu werden, indem sie sich von den beiden Prinzipien Prozeß und Struktur bestimmen läßt. Konkret bedeutet dies, von Wort zu Wort, von Vers zu Vers und von Strophe zu Strophe schrittweise vorzugehen. Zugleich wird jede aus der Versbewegung entstandene semantische und syntaktische Sinneinheit – sei es ein Kolon innerhalb des Verses, ein ganzer Vers, eine Periode oder eine Strophe – in ihrem jeweiligen Aussagewert für sich und in ihrer Bedeutung für die gesamte Ode diskutiert. Somit handelt es sich um eine Methode, die mit Hölderlins poetischer Verfahrensweise kommuniziert: Schreiben ist für Hölderlin keine sprachliche Ausführung eines vom Schreibprozeß unabhängigen Gedankens, sondern dessen schrittweise Gewinnung in der Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Material. Entsprechend verzichtet meine Interpretation darauf, einen aus dem Ganzen des Textes zu destillierenden Gedanken anzunehmen bzw. zu versuchen, den sogenannten ›Textinhalt‹ zu paraphrasieren oder gar auf den Begriff zu bringen. Mithilfe meiner Interpretationsmethode soll es möglich sein, neue und wichtige Erkenntnisse zu Hölderlins Dichtung allgemein und insbesondere zur Empedokles-Ode zu gewinnen. Gezeigt werden soll unter anderem, daß sich die zentrale Problematik des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in den Empedokles-Texten unmittelbar in der Weise des Sprechens spiegelt – und daß nicht nur der Gegenstand der Rede, sondern die Sprache selbst thematisch ist. Dies wird in der Frage nach dem Sprecherbezug innerhalb der Ode deutlich: Wer von welcher Position aus zu wem spricht, d.h. wer jeweils Subjekt oder Objekt der Rede ist, kann in der Empedokles-Ode nicht trennscharf unterschieden werden. Während die Nähe von Hölderlins Schreiben zum Denken Kants, Schellings und Hegels zumeist nur behauptet wird, ist diese hier exakt am Text verifizierbar. Den Fragen, wie
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Einleitung
Bewußtsein, Subjektivität und Erkenntnisvermögen des Menschen zu denken und wie diese wiederum sprachlich zu vermitteln sind, begegnet Hölderlin in einer poetischen Form, die alle Ebenen des Textes (Semantik, Syntax, Metrik, etc.) einschließt. Die so gewonnenen Einsichten eröffnen schließlich auch ein neues Verständnis seiner poetologischen Position, allen voran seiner Schrift Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig.... Absicht und Ergebnis meiner Untersuchung ist dabei nicht, einen fixierten Gedanken im Sinne einer finalen Interpretation herauszuarbeiten, sondern die Komplexität der verschiedenen Bezüge und Aussagen innerhalb der Ode sichtbar zu machen. ›Final‹ ist meine Interpretation nur insofern, als sie das prinzipiell Unabschließbare des Textes als die letztmögliche Aussage über ihn exponiert und damit zugleich seine poetische Qualität behauptet.
Neuedition Die Arbeit enthält schließlich auch eine Neuedition der Ode inklusive aller erhaltenen Überlieferungsträger. Diese umfaßt eine Faksimilierung und Neutranskription der Entwurfshandschrift, die die Entstehung des Textes sowie die poetische Verfahrensweise Hölderlins nachvollziehbar macht, eine Reproduktion des Erstdrucks der Ode in der Aglaia (1801) sowie ein Faksimile und eine Transkription der Reinschrift der Ode, die Hölderlin höchstwahrscheinlich erst nach der Publikation des Textes anfertigte.
Methode Poetizität als Prozeß und Struktur Die Interpretation der Empedokles-Ode wird über die Angemessenheit der von mir gewählten Vorgehensweise entscheiden. Obwohl sie damit im Hegelschen Sinn in ihrem Vollzug demonstriert wird, sehe ich in ihrer Konzeptualisierung und Systematisierung einen notwendigen Teil meiner (Vor-)Überlegungen. Mein Ziel ist es, im folgenden die Methode meiner Textlektüre gegenüber anderen Interpretationsverfahren zu situieren und ihren Wert für die Analyse poetischer Texte im Allgemein aufzuzeigen. Unter Interpretation verstehe ich, die individuelle Poetizität eines literarischen Textes auszudrücken und darzustellen. Die Interpretation bildet somit die ästhetische Qualität der Dichtung im »Medium des Begriffs«³ ab. Insofern sie Kriterien des literarischen Kunstwerks folgt und diese transparent macht, beweist sie die sonst nur behauptete Annahme, daß jeder Text seine eigene Methode des Verstehens vorgibt. Ihre Kohärenz gewinnt die Interpretation aus der Verfaßtheit des interpretierten Gegenstandes und nicht nach Maßgabe einer ihm äußerlichen These, die mithilfe eines fixen Instrumentariums an Interpretationsmitteln und Kategorien bestätigt werden soll.⁴ Dieser Interpretationsbegriff ist dem Wortsinn des griechischen methodos verpflichtet. Methodisches Vorgehen bedeutet demnach konkret, der Entwicklungs- und Strukturlogik eines literarischen Textes ›nachzufolgen‹ und diese im Nachvollzug zur Darstellung zu bringen.⁵ Dieses induktive Verfahren gründet meines Erachtens auf zwei zentralen Prinzipien jedes literarischen Textes: Prozeß und Struktur. Obgleich beide in einer direkten Wechselbeziehung zueinander
3 Theodor W. Adorno, Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a. M. 2003, S. 326–375, hier S. 354. 4 Vgl. Peter Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1970, S. 33: »Die Literaturwissenschaft darf nicht vergessen, daß sie eine Kunstwissenschaft ist; sie sollte ihre Methodik aus einer Analyse des dichterischen Vorgangs gewinnen; sie kann wirkliche Erkenntnis nur von der Versenkung in die Werke, in die ›Logik ihres Produziertseins‹ erhoffen.« 5 Mit Szondi lässt sich sagen, dass die so verstandene Lektüremethode »einem Entfaltungsprozeß [gleicht], der die Idee des Ganzen (in jeder Einzelheit enthalten, darum schon aus der ersten begriffenen Einzelheit erkennbar), im Durchgang durch das Werk, im Nacheinander der einzelnen Verstehensakte, konkret werden lässt« (Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1975, S. 152). In Adornos Sinn könnte man hier von der »Nachahmung der Bewegungskurve des Dargestellten« sprechen (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 189).
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Methode
stehen und entsprechend nur in dieser gedacht werden können, möchte ich sie zunächst je für sich in ihren wesentlichen Momenten skizzieren: Unter Prozeß verstehe ich die schrittweise Entwicklung der poetischen Rede, die Sprachbewegung in ihrem Wort für Wort, ihre Temporalität. Diese Sprachbewegung darf jedoch nicht als die bloße Aneinanderreihung von Worten und Sätzen in Versen begriffen werden, sondern ist als ein Prinzip zu denken, das die eigene und in jedem Text individuell ausgebildete Entwicklungslogik benennt. Jedes in einem Prozeßschritt gesetzte Wort steht in Relation zum vorangehenden und evoziert einen spezifischen Erwartungshorizont auf das ihm folgende. Man kann in diesem Sinn von einer Wechselwirkung von Retension und Protension der Worte sprechen, deren Zusammenhalt in ihrer Tension, ihrer differentiellen Spannung zueinander besteht.⁶ Der Prozeß der Rede verläuft damit nicht linearprogressiv, sondern komplex und ›konfigurativ‹. Daran läßt sich anschließen, daß dieses sprachliche ›Verfahren‹ das aus dem juristischen Bedeutungsfeld des Wortes ›Prozeß‹ entlehnte Moment der ›Verhandlung‹ einschließt: Jedes gesetzte Wort ist den zuvor gesetzten verpflichtet und muß ihnen Rechnung tragen; gleichzeitig stellt es in der Weiterführung der Entwicklung einen Anspruch an das folgende Wort, das sich nun selbst wiederum rückwirkend zu dem direkt vorgängigen sowie dessen Beziehung zu den ihm vorangehenden ins Verhältnis setzen muß. Infolge dieser wechselseitigen Bestimmungsverhältnisse läßt sich kein Wort von den anderen im Prozeß stehenden isoliert betrachten oder rein analytisch in seinem Wert und seiner Bedeutung für die Gesamtanlage des Textes bestimmen. Damit wird zugleich ein wesentliches produktionsästhetisches Moment berührt, das – wie die Interpretation zeigen wird – gerade in der ›Verfahrensweise‹ Hölderlins einen besonderen Wert besitzt: Die Äußerung des Subjekts ist nicht auf eine sprachunabhängige Intention rückführbar, sondern konstituiert sich in einem dialogischen Prozeß von sprachlicher Setzung und Reflexion auf diese Setzung – und folglich als eine Wechselbeziehung von Subjekt und Objekt. Die Struktur beschreibt das komplementäre Gegenstück der prozessualen Entwicklung, da sie die individuelle räumliche Ordnung der reflexionslogischen Beziehungen und Bestimmungsverhältnisse benennt, die sich im Prozeß entwikkeln. Dabei umfaßt sie sowohl die Beziehungen von Wort zu Wort als auch die
6 Man kann sich diesem Phänomen von Jacques Derridas Begriff der ›temporalisation‹ der différance her nähern: Die Bedeutung zweier Worte (in einem poetischen Text) ist allein in ihrer zeitlichen Dislokation und der daraus entstehenden konstitutiven Spannung der beiden zueinander zu erfassen. Auch für Derrida ist die ›temporalisation‹ der différance dabei nicht von ihrem ›espacement‹ zu trennen, der Verräumlichung und damit der Struktur; vgl. Jacques Derrida, Die différance. In: Derrida, Randgänge der Philosophie, 2., überarbeitete Auflage, Wien 1999, S. 31–56.
Poetizität als Prozeß und Struktur
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komplexeren Strukturen dieser Beziehungen untereinander. Wichtig ist dabei, die Sprachstruktur nicht mit der äußeren Form des Geäußerten gleichzusetzen. So findet die Struktur einerseits in Versen, Perioden und Strophen bzw. in einer bestimmten Gedichtform wie einer Ode, einem Sonett etc. ihren Ausdruck, andererseits übersteigt sie dieses zweidimensionale Raster und stellt eine ungleich höhere Komplexität dar. Dies zeigt sich vor allem daran, daß die Struktur kein statisches Sediment oder eine Kristallisation des Prozesses ist, sondern die Einheit der dynamischen Relationen der Textelemente zueinander. Wie bereits für den Prozeß gilt auch für die Struktur, daß die Worte keine isolierbaren oder gar austauschbaren Rasterpunkte einer sprachlichen Zusammenstellung sind. Entsprechend ist sie nicht nur eine individuelle Konstellation fixer Bedeutungseinheiten. Die Bedeutung eines Wortes in der Struktur der Rede ist nicht repräsentationslogisch zu denken (in dem Sinn, daß jedem Wort ein außersprachlicher Gegenstand zugeordnet worden wäre, und die Ordnung der Worte in der Folge nur die Ordnung der Dinge abbildet), sondern differenzlogisch, da sie aus dem komplexen Beziehungsgeflecht als ganzem resultiert. Was ein Wort bedeutet, ist abhängig von seinem Ort innerhalb des dynamischen Gefüges. Das ›Ganze‹ der Struktur ist dabei selbst nicht von vornherein als feste Größe vorgegeben, sondern in Wechselwirkung mit dem Prozeß der Rede eine sich nach und nach generierende Konfiguration.⁷ Diese Konfiguration formiert sich in jedem Prozeßschritt, transformiert sich mit jedem weiteren und nimmt erst mit dem Ende des Prozesses ihre endgültige Form an. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch nicht, daß die Struktur erst mit dem letzten Wort ihre Geltung besitzt – jeder Prozeßschritt und jede daraus resultierende strukturelle Konfiguration besitzt seinen bzw. ihren Wert für das poetische Sprechen und muß innerhalb der Interpretation als solche/r untersucht und zur Darstellung gebracht werden. Betrachtet man Prozeß und Struktur zusammen, läßt sich ihre Komplementarität so beschreiben, daß die einzelnen Entwicklungsschritte der Rede nach und nach eine Veränderung der Struktur bewirken, wobei die Struktur die Einheit des sich prozessual konstituierenden Zusammenhangs seiner Einzelmomente darstellt. Die Wechselwirkung von Prozeß und Struktur ist dabei nicht nur bestim-
7 Dieser Aspekt wird vor allem im Strukturalismus zu wenig bedacht. ›Struktur‹ wird hier zumeist nur als die Konstellation de- und rekombinierter Elemente verstanden, deren Sinn allein aus der positionalen Differenz entsteht (vgl. Roland Barthes, Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch 5 [Mai 1966], S. 190–196). Die Entwicklungslogik hingegen, die nicht nur die Entstehung der Struktur verstehen läßt, sondern auch erst deren endgültige Verfaßtheit begreiflich macht, wird ausgeblendet. Ganz zu schweigen davon, daß so die für Hölderlin zentrale ›Verfahrensweise‹ der Dichtung und die Bewegung des Denkens, die darin Ausdruck findet, nicht reflektiert wird.
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Methode
mend für mein methodisches Vorgehen in der Interpretation, sondern schließlich auch zentral in der Erfassung dessen, was ich als die Poetizität eines literarischen Textes fasse, insofern sie verantwortlich ist für dessen Identität und (›poëtischer‹) Individualität: Das poetische Sprechen konstituiert sich einerseits in der Selbstbestimmung seiner Momente und der Reflexion auf sich selbst, diese Selbstbestimmung erfolgt andererseits aber nur in seiner Bewegung und der dynamischen Relationen seiner Elemente.⁸ Daß die Poetizität in den Prinzipien Prozeß und Struktur gründet, wird besonders in der Lyrik deutlich. Sie kann als die Gattung angesehen werden, in der die Identität des materiell Ausgesprochenen und der Form der Rede am stärksten hervortritt. Jeder Schritt innerhalb der Versrede wirkt sich unmittelbar auf die Struktur eines Gedichts aus; umgekehrt hat jede formale Entscheidung direkte Konsequenzen auf den Sinn des Ausgesagten. Auf Prozeß und Struktur hat in der Lyrik zudem die Auseinandersetzung mit äußeren Formvorgaben großen Einfluß: ein Strophenschema, die Verszahl einer Strophe, die Silbenzahl eines Verses, das Verhältnis von Vers- und Wortfüßen etc.⁹ Die poetische Rede hat also nicht nur das Verhältnis ihrer eigenen Entwicklung gegenüber dem darin sich konstituierenden Aufbau zu reflektieren, sondern sich zudem mit einem äußeren Ordnungsschema auseinanderzusetzen. Meine auf Prozeß und Struktur reflektierende Methode grenzt sich weiterhin von vorherrschenden dialektisch-hermeneutischen Theorien und ihren zugrundeliegenden Annahmen über textimmanente Zusammenhänge ab. Letztere sollen nicht mehr als eine Teil-Ganzes-Beziehung verstanden werden, sondern ebenfalls als eine Wechselbeziehung von Prozeß und Struktur. Der Text erweist sich durch diese Methode als holistisches Gefüge, das somit eher mit poststrukturalistischen
8 Struktur und Prozeß können so auf die beiden ›Forderungen‹ Hölderlins in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… hin betrachtet werden. Hölderlin spricht hier vom »nothwendigen Widerstreit […] zwischen der ursprünglichsten Forderung des Geistes, die auf Gemeinschaft und einiges Zugleichseyn aller Theile geht, und zwischen der Forderung, welche ihm gebietet, aus sich heraus zu gehen, und in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich in sich selbst und in anderen zu reproduciren« (Hölderlin, FHA XIV, S. 303). Die Poetizität und die ›poëtische Individualität‹ eines Textes als Struktur und Prozeß können dann als »Einigkeit der Teile« im »harmonischen Wechsel« des »Fortstreben[s]« beschrieben werden (ebd.). 9 Welche Bedeutung dies für die Metrik hat und inwieweit auch diese als von Prozeß und Struktur bestimmt gedacht werden muß, vgl. S. 15–25.
Poetizität als Prozeß und Struktur
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und dekonstruktivistischen Theorien zu erfassen ist. Dies impliziert, daß alle Elemente eines poetischen Textes wesentlich sind für das in ihm Ausgesagte.¹⁰ Im Unterschied zum repräsentationalistischen Sprachverständnis der klassischen Hermeneutik und den sich daraus ergebenden Deutungskonsequenzen betrachte ich die Bedeutung poetischer Rede folglich als differentiell-holistisch¹¹ konstituiert.¹² Bedeutungsstiftend sind die Beziehungen der Elemente des Textes untereinander, die sich ständig verschieben und so dynamisch komplexe Strukturen ausbilden. Nur eine solche Bedeutungsexplikation macht die Mehrdeutigkeit literarischer Texte als Ergebnis von sich transformierenden Relationen ver-
10 Vgl. Roland Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«. Hölderlins Andenken und Mnemosyne, Frankfurt a. M. 1990, S. 89: »Für jede Interpretation eines poetischen Textes empfiehlt es sich, der Maxime zu folgen, alles in der Vorlage an Momenten der Sprache und Äußerungsslosigkeit Begegnende als präzise Gesetztes und präzise zu Bestimmendes aufzunehmen. […] Je detaillierter eine Auslegung ist, je mehr sie die Einzelheiten des Textes in die begriffliche Darstellung zu überführen vermag, je mehr sie sich, wie Hegel sagen würde, bei der Explikation des dichterischen Gehalts ›auszubreiten und sich zu verlieren getraut‹, desto mehr entspricht sie dem Anspruch, den jeder ästhetische Gegenstand gegenüber dem und an den Rezipienten erhebt.« Die potentielle semantische Valenz einer jeden sprachlichen Einheit, sei es nun auf Wort-, Versoder syntaktischer Ebene, verbürgt die Konstitution des Textes als einer geschlossenen Einheit. Christoph Küper nähert sich diesem Aspekt aus einer linguistischen Perspektive: »Aufgrund der Vielfalt der möglichen Äquivalenzbeziehungen, die ein Element im poetischen Text mit anderen Elementen eingehen kann, die – in Bezug auf das Sprachsystem – nicht einmal demselben sprachlichen Paradigma angehören müssen, kann jedes Element im poetischen Text zu einem semantischen Element werden, auch wenn es in der natürlichen Sprache kein solches ist, und semantische Elemente der natürlichen Sprache können völlig neue und einmalige Beziehungen eingehen, die ihre übliche Bedeutung verändern, z.B. dadurch, daß sie an besonders markanten Positionen des poetischen Textes plaziert und dadurch aufeinander bezogen sind« (Christoph Küper, Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses, Tübingen 1988, S. 61). 11 Vgl. Georg Bertram (Hg.), In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holimus, Frankfurt a. M. 2008, S. 13: »Dem semantischen Holismus zufolge gewinnt ein sprachlicher Ausdruck seine Bedeutung wesentlich dadurch, dass er in bestimmten Beziehungen nicht zu Elementen nichtsprachlicher Natur steht, sondern zu einer Vielzahl anderer sprachlicher Ausdrücke. […] Es ergibt sich so ein Bild der Sprache als einer umfassenden Struktur. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks besteht in der Rolle, die er im Ganzen einer sprachlichen Struktur oder innerhalb eines größeren sprachlichen Zusammenhangs spielt.« Zum Holismus-Begriff allgemein vgl. Georg Bertram, Jasper Liptow (Hg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Problem der Gegenwartsphilosophie, Düsseldorf 2002 und Bertram, In der Welt der Sprache, 2008. 12 Diese Position läßt sich noch radikalisieren, geht man davon aus, daß poetisches Sprechen nicht darauf abzielt, eine objektiv gegebene (mehr oder minder gegenständliche) Wirklichkeit zu repräsentieren, sondern »daß der in der Sprache ausgedrückte Sinn nur als sprachlicher Sinn existiert« (Albrecht Wellmer, Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt a. M. 2004, S. 22). Man kann diese Auffassung mit Wellmer als ›semantischen Objektivismus‹ bezeichnen im Unterschied zu ›hermeneutischem Objektivismus‹ (vgl. ebd., S. 22).
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Methode
ständlich und tilgt sie nicht zugunsten eines eindeutigen Sinns. Der Vorstellung einer Sinnhierarchie möchte ich den Gedanken der ›Gleich-Gültigkeit‹ und der eindeutigen Mehrdeutigkeit poetischer Rede entgegensetzen. Wenn, wie meine Interpretation zeigen wird, nur die Komplexität mehrerer Bedeutungen Sinn erzeugt, müssen alle anderen Ansätze scheitern, die von einer monovalenten Identität zwischen Sinn und Bedeutung ausgehen. Dieser Interpretationsbegriff hat darüber hinaus weitere grundsätzliche Konsequenzen. Die Aufwertung der Mehrdeutigkeit zu einer zentralen Qualität poetischer Rede stellt eine Absage an das Vorurteilsparadigma klassischer Hermeneutik dar. Diese versteht unter Interpretation eine Auflösung der im Text enthaltenen Unwägbarkeiten gemäß einer vorentworfenen These. Anstelle hermeneutischer Subordinationsmechanismen um eines eindeutigen Ergebnisses willen steht ein Verfahren, das die Unterminierung hierarchischen Denkens, die Dichtung wesentlich eignet, als strukturell bedingt transparent macht. Dies impliziert, daß sich ein adäquates methodisches Vorgehen nicht darin erschöpfen darf, den individuellen Text als exemplarisch für eine literarische Epoche auszuweisen bzw. ihn zum Zeugen einer geistesgeschichtlichen oder philosophischen Strömung zu machen. Ebenso verfehlt sind meiner Ansicht nach ›Erläuterungen‹, die auf dem Gedanken eines ›hinter‹ oder ›unter‹ dem Geäußerten Liegenden gründen und dieses durch Relativierung oder Beseitigung ›verbalen Ballastes‹ sichtbar zu machen versuchen.¹³ Eine solche Position steht in der Gefahr, sich einer Ignoranz gegenüber der sprachlichen Verfaßtheit des Textes schuldig zu machen und eine Deutungshoheit für sich zu reklamieren, die meist allein auf subjektiv gesetzten Dogmen beruht.¹⁴ Demgegenüber ist eine Haltung einzunehmen, die dem ›Anspruch‹ des Textes folgt und diesem durch das dialogische Moment der
13 Diese Kritik bezieht sich besonders auf Heideggers Gedanken der ›Er-Läuterung‹; vgl. Beda Allemann, Hölderlin und Heidegger, Freiburg 1954, S. 126: »Denn Erläuterung meint hier nicht die Äußerung einer weiteren Interpreten-Meinung zu einem umstrittenen Text, sondern […] meint eher die Läuterung des Blicks, der das Gedicht durchsichtig machen soll auf das in ihm Ungesagte hin. Wo solche Läuterung gelingt, bringt sie als die jetzt wesentlich verstandene ›Erläuterung‹ schließlich das Lautere, das alles dichterisch Gesagte durchglänzt, zu einem ersten Scheinen.« 14 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik Peter Szondis an Heideggers Interpretation zu Hölderlins Brod und Wein: »Bedenklicher aber noch ist, so scheint mir, die tyrannische Geste, mit der eine Deutung, die nicht davon ausgeht, daß das Schlußwort zum Heiligen zurück muß, geradezu verbietet und jene, die ihm nicht zustimmen können, gleichsam als Schlafende brandmarkt, die nicht hören können und also auch nicht wert sind, geweckt zu werden« (Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 288).
Poetizität als Prozeß und Struktur
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Interpretation gerecht wird.¹⁵ Interpretation darf nicht zu einer vereinfachenden ›Klärung‹ einer poetischen Äußerung führen, mit dem Ziel, ihre ›Dunkelheit‹ und ›Rätselhaftigkeit‹ zu beheben,¹⁶ sondern hat das für das Verstehen (im Wortsinn) ›Problematische‹ als solches zu exponieren.¹⁷ Fundierte Aussagen über die Empedokles-Thematik im Allgemeinen und die zugrundeliegende poetologisch-philosophische Konzeption Hölderlins sind daher nur induktiv und nicht deduktiv zu leisten. Erst eine Untersuchung wie die vorliegende bereitet den Boden, auf dem motiv- oder aspektorientierte Analysen fruchtbar werden, denn nur sie erfaßt die Elemente des Textes als bestimmt in ihrem Zusammenhang und greift sie nicht willkürlich heraus. Es muß daher von einer Invertierung des Verhältnisses von Methode und Interpretation gesprochen werden. Die Methode wird nicht von der Interpretationsabsicht diktiert, sondern umgekehrt: Die Interpretation resultiert aus der
15 In diesem Zusammenhang möchte ich den Gedankens des ›Dialogischen‹ im Sinne Gadamers aufrecht erhalten und ihn von den meines Erachtens problematischen Annahmen traditioneller Hermeneutik lösen. So gilt es mir, den »Anspruch des Werkes [… zu wahren], den es an uns richtet, die ständige Aufforderung des Gedichtes an uns, ihm Rede und Antwort zu stehen, die hartnäckige, aber immer berechtigte Erinnerung an sein Anrecht, seine Rechte geltend zu machen« (Jacques Derrida, Hans-Georg Gadamer, Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt a. M. 2004, S. 17). 16 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 185 f.: »Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen. Die Forderung der Kunstwerke, verstanden zu werden dadurch, daß ihr Gehalt ergriffen wird, ist gebunden an ihre spezifische Erfahrung, aber zu erfüllen erst durch die Theorie hindurch, welche die Erfahrung reflektiert. Worauf der Rätselcharakter der Kunstwerke verweist, das ist einzig vermittelt zu denken. Der Einwand gegen die Phänomenologie der Kunst, wie gegen jede, die wähnt, das Wesen unmittelbar zu haben, ist weniger, daß sie antiempirisch sei, als umgekehrt, daß sie die denkende Erfahrung sistiert. Die gescholtene Unverständlichkeit der hermetischen Kunstwerke ist das Bekenntnis des Rätselcharakters aller Kunst.« Vgl. ebd., S. 184: »Als konstitutiv aber ist der Rätselcharakter dort zu erkennen, wo er fehlt: Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.« Vgl. weiterhin Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 39: »Nicht darauf, das Dunkle heller zu machen, […] sondern darauf, die zum anfänglichen Nichtbegreifen und Befremden notwendigen dunklen Einschlüsse als solche ins Bewußtsein zu heben und in ihrer Sperrigkeit solange zu respektieren, bis eine andere, weitere und höhere integrierende Bewußtseinsform die Notwendigkeit der betreffenden Passagen einzusehen (in Eines zu sehen) vermöchte.« 17 Damit kommt man paradoxerweise der Forderung Heideggers nach, den Text ›von sich her sehen zu lassen‹ (vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 12., unveränderte Ausgabe, Tübingen 1972, S. 154). Ebenso ist der Sinn des poetischen Textes nicht auf »die Bedeutung von ›Urteilsgehalt‹« zu verkürzen, sondern als das zu verstehen, »darin das formale Gerüst des im Verstehen Erschließbaren und in der Auslegung Artikulierbaren überhaupt sichtbar wird« (ebd., S. 156); vgl. weiterhin Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 93–95.
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Methode
Methode. Der individuelle Text, nicht der vorweg entworfene Sinnhorizont ist Ausgang und Ziel des Interpretierens. Die dabei empfundene Unsicherheit anläßlich des allein vom Text bestimmten Vorgehens ist eine unvermeidliche Folge eines adäquaten Umgangs mit Literatur. Weil Dichtung alltägliche Weltbezüge und gewohnte Denkmuster erschüttert, ist auch der Interpret aufgefordert, seine Souveränität gegenüber dem Text preiszugeben. Er muß sich von dem, was die ästhetische Erfahrung strukturell evoziert, in seiner Methode und damit seiner Interpretation leiten lassen. Nur so wird die ästhetische Erfahrung im wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten bewahrt und als deren Qualität herausgestellt. Da ich in meiner Arbeit von der Gleichwertigkeit von Subjekt und Objekt für Hölderlins Schreiben und Denken ausgehe, betrifft dies auch meine eigene Subjektivität mit Blick auf das methodische Vorgehen. Obwohl ich mich in meiner Interpretation von der Textlogik der Ode bestimmen lasse und entsprechend meine eigene Position auf das mir vorliegende Objekt hin relativiere, bleibt es meine Subjektivität, die die Deutung zu einer möglichen neben anderen macht. Die Interpretation ist so naturgemäß beschränkt auf meine Kommunikation mit dem Text und darauf, was diese in Prozeß und Struktur zu entfalten vermag. Auf das Wechselverhältnis von Prozeß und Struktur zu reflektieren und so auch eine andere Haltung des Subjekts gegenüber dem poetischen Sprechen anzunehmen, ist besonders hinsichtlich Hölderlins Schreiben und dessen Poetologie relevant. Anläßlich der überlieferten Manuskripte Hölderlins ist die Vorstellung aufzugeben, wonach nur die ›finale‹ Textgestalt im gedruckten Buch und der lineare Textverlauf die sogenannte ›Intention des Autors‹ repräsentieren und allein Geltung besitzen für das Verständnis des Textsinns. Tatsächlich werden die strukturellen, syntaktischen und semantischen Momente eines poetischen Textes meist erst dann deutlich, wenn man sie auf ihre Entstehungsbedingungen hin reflektiert. In Analogie zu poetischen Verfahrensweisen anderer Autoren wie etwa Franz Kafka oder Paul Celan gründet Hölderlins Schreiben nicht in einem der Aufzeichnung unabhängigen vorsprachlichen Gedanken, der in einem zweiten Schritt nur noch in Worten ausgeführt würde. Das vouloir-dire – bewußt in seiner doppelten Bedeutung ›Sagen-Wollen‹ und ›Bedeutung‹ verstanden – entwickelt sich erst im und mit dem Vorgang des Schreibens, d. h. in der Auseinandersetzung mit bereits Geschriebenem und im Horizont dessen, der sich darin öffnet. Da insbesondere für Hölderlins Dichtung der naive Gedanke eines ›Idealtextes‹ fallen gelassen werden muß, der aus den Entwurfsfragmenten der Aufzeichnungen ›herauszulesen‹ wäre, hat auch die Interpretation diese Vor(ein)stellung zu suspendieren, will sie der Poetik Hölderlins gerecht werden. Ein solch fiktiver Idealtext ›vor‹ bzw. ›hinter‹ dem Geäußerten oder gar ein davon unabhängiger
Poetizität als Prozeß und Struktur
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Sinn entbehrt jeder Grundlage und zeugt mehr vom Wunsch des Interpreten, sich den Inkonsistenzen, Brüchen und Mehrdeutigkeiten des ästhetischen Gegenstandes nicht stellen zu müssen. Daraus folgt für das hier vorgestellte methodische Vorgehen, daß sich die Interpretation auch mit der Frage auseinandersetzen muß, wie sie dem Text in seiner historischen Dimension gerecht werden kann und wie sie vermeidet, den eigenen gegenwärtigen Standpunkt als maßgeblich anzusetzen. Dies bedeutet im Umkehrschluß nicht, die ›Intention des Autors‹ als Maßstab der Deutung anzusetzen. Vielmehr kommt es mir darauf an, jedes Wort in seinem historischen Sprachstand, seiner Verwendung, seiner Bedeutung und mitunter aus seiner für diese Zeit angenommenen Etymologie zu bedenken. Nur so kann paradoxerweise die Aktualität und Überzeitlichkeit des poetischen Sprechens erfahren werden, da sich die Bedeutung des Ausgesagten nicht im historisch entfernten Kontext erschöpft, sondern auch von einer gegenwärtigen Position aus begriffen werden kann. Um es verkürzt zu sagen: Nur so zeigt sich, daß die Empedokles-Ode in ihrer Thematik und ihrer stofflichen wie formalen Auseinandersetzung noch heute Wert besitzt. Dies gründet letztlich in der oben genannten prinzipiellen Unabschließbarkeit des Verstehens eines poetischen Textes, da die sinnstiftenden Beziehungen der Textelemente und -momente nicht in einem begrifflichen Raster ›festgestellt‹ werden können und so immer wieder neu die Bewegung des Nachvollzugs einfordern.
Metrik Nachdem die Interpretation Prozeß und Struktur als maßgebend für die Poetizität eines literarischen Textes begreift, muß auch die metrische Analyse von diesen beiden Prinzipien bestimmt sein. Bereits Martin Opitz hat in seinem Buch von der Deutschen Poeterey von 1624 darauf hingewiesen, daß die Übertragung antiker Metren und Strophenformen ins Deutsche unmöglich ist.¹⁸ Das quantifizierende System des Griechischen ist inkompatibel mit der qualifizierenden Wortbetonung des Deutschen. Der Gedanke, daß die natürliche Prosodie der deutschen Sprache die Grundlage für den Versbau darstellt und der Sinn der Rede nicht von der Betonung der Worte zu trennen ist, wurde jedoch erst von Klopstock und schließlich von Hölderlin poetisch reflektiert.¹⁹ Maßgeblich sind für Klopstock nicht mehr allein die antiken Versfüße, sondern die im Deutschen bereits gegebenen ›Wortfüße‹, die die freie ›Erfindung‹ von Vers- und Strophenformen ermöglicht. Hölderlins Dichtung steht in der Tradition Klopstocks, da seine Verse auch in den Oden keinem verpflichtenden Formgesetz folgen; Strophenformen sind ihm lediglich abstrakte Kontrastfolien und – unabhängig von der griechischen Tradition – Reflexionsflächen für eine individuelle Rede, die mit dem selbstgesetzten Schema in Spannung tritt. Die Konsequenz daraus ist, daß im Deutschen nicht von Vers- und Strophenmaßen wie dem ›Hexameter‹ oder der ›alkäischen‹ Ode gesprochen werden kann. Die Adaption eines antiken metrischen Schemas bedeutet für Hölderlin, sich einen abstrakten Referenzrahmen zu wählen, mit dem das poetische Schreiben kommuniziert und mit dem sich das individuelle Sprechen kritisch ins Verhältnis setzt. Noch bis in die metrischen Analysen von Friedrich Beißner und Wolfgang Binder zu Hölderlins Dichtung in den 1950er Jahren hat sich jedoch die Vorstellung eines Primats der abstrakt-rationalen Form antiker Metrik gegenüber der Individualität konkreter Rede gehalten, so daß deren Abweichung von der Vorgabe in ihren Augen einen Regelverstoß darstellt.²⁰ Gegen diese Vorstellung wenden sich meine Überlegungen. Die Unübersetzbarkeit der metrischen Systeme fordert auch ein Umdenken bezüglich der antiken Versfüße. Es ist bemerkenswert, daß die von Klopstock
18 Vgl. Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Breslau 1624, S. 37 f. 19 Vgl. Dieter Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1994, S. 40. 20 Vgl. Friedrich Beißner, Dichterberuf. Vortrag in der Jahresversammlung der Friedrich Hölderlin-Gesellschaft 1950. In: Hölderlin-Jahrbuch 1951, hg. von Friedrich Beißner und Paul Kluckhohn, Tübingen 1951, S. 19–50 und Wolfgang Binder, Hölderlins Odenstrophe. In: Hölderlin-Jahrbuch 1952, hg. von Friedrich Beißner und Paul Kluckhohn, Tübingen 1952, S. 85–111.
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Metrik
entwickelte Theorie des Wortfußes, die sich diesem Problem stellt, in der Forschung bis heute nahezu völlig ausgeblendet wird. Bei einem Wortfuß handelt es sich um eine ›metrische Sinneinheit‹, die sich nach dem artikulierten Wort und nicht nach einem antiken Versmaß richtet. Klopstocks Wortfuß ersetzt damit den antiken »künstlichen« Versfuß, da dieser »nicht immer aus einzelnen Wörtern, sondern oft aus so vielen, als, nach dem Inhalte, zusammen gehören, und daher beynah wie Ein Wort müssen ausgesprochen werden«²¹. Dies bedeutet, daß sich im poetischen Sprechen bereits durch die Wahl der Worte metrische Einheiten bilden, die allein vom Sinn des Ausgesagten konstituiert werden und als (metrische) Bausteine für die weitere Rede aufgefaßt werden können. Gleichzeitig ist die Konzeption des Versfußes nicht aufzugeben. Das poetische Schreiben hat vielmehr die Spannung zwischen Wortfüßen und antiken Versfüßen zu bedenken. Gerade bei Hölderlin zeigt sich diese Spannung zwischen den beiden metrischen Systemen, da er beide als gleichwertig betrachtet. Die Reflexion auf einen antiken Versfuß kann für Hölderlin ebenso Anlaß und Ausdruck des Schreibens sein wie ein am Ausgesprochenen orientierter Wortfuß. Der Aufbau von Vers- und Wortfüßen ist jedoch weder kontingent noch allein ein historisches Faktum. Sie sind wie die komplexeren Vers- und Strophenformen ein Ergebnis der Wechselwirkung der einzelnen Elemente; in diesem Fall ein Ergebnis der Zahl und Reihenfolge betonter und unbetonter Silben. Auch ein Vers- oder Wortfuß repräsentiert damit eine Formlogik. So ist beispielsweise ein Trochäus (1 2) nicht einfach nur ein alternativer Versfuß zu einem Jambus (2 1), sondern dessen Spiegelung. Direkt aufeinander folgend (1 2 2 1 oder 2 1 1 2) muß die poetische Rede an der jeweiligen Stelle des Verses das Moment der ›Spiegelung‹ ernst nehmen und seine Bedeutung für den syntaktischen, semantischen oder thematischen Wert im Verlauf des Gedichts zum Ausdruck bringen. Beide Entscheidungen – das über die Versfüße erzeugte Verhältnis sprachlich aufzugreifen und adäquat umzusetzen oder es bewußt außer Acht zu lassen und damit eine Spannung zwischen Form und materiell Ausgesprochenem zu erzeugen – sind Teil des poetischen Ausdrucks und der poetischen Verfahrensweise.²² Die metrische Gestalt eines Verses oder einer Strophe ist dementsprechend nicht nur die ›Realisierung‹ eines abstrakten und statischen Bauplans, sondern Resultat eines Prozesses, also der
21 Friedrich Gottlieb Klopstock, Sämmtliche Werke, 10 Bde., Leipzig 1854 f., Bd. 10, S. 131. 22 Ich wende mich damit dezidiert gegen die Auffassung, daß erst in der völligen Loslösung von abstrakten Strophenschemata eine Identität von Form und materiell Ausgesprochenem möglich ist; vgl. hierzu Boris Previšić, Hölderlins Rhythmus, Frankfurt a. M., Basel 2008, S. 38: »Darum ist nur im freien Vers eine derartige Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form gegeben, während in festen Formen der Inhalt fast grenzenlos variiert, zumal er in kreativer Vielfalt gegen dieselben Formen gewissermaßen anrennt.«
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dynamischen Folge der Vers- oder Wortfüße, die eine (individuelle) Struktur hervorbringen.²³
Die Genese der Form – Prozeß und Struktur Die Analyse des metrischen Verlaufs eines Gedichts sieht sich drei grundlegenden Fragen gegenüber: 1) Warum wird nach der Setzung einer ersten metrischen Einheit weitergesprochen bzw. in welchem Verhältnis steht die weitere Rede in Rückbezug auf diese Setzung? 2) Wie ist die Entstehung metrischer Einheiten in Form von Versfüßen aus der Entwicklung der Versstruktur erklärbar? Und schließlich: 3) Warum kommt es zu Unterbrechungen oder gar einem Abschluß dieser Genese an den Vers- und Strophengrenzen und welche internen wie externen Faktoren spielen dabei eine Rolle? Prinzipiell hat die Untersuchung des metrischen Verlaufs mit dem Kontrastprinzip ›betont-unbetont‹ auch die Wechselwirkung von Präsenz und Absenz zu beachten, die strukturbildend auf die Versgestalt einwirkt und zugleich die Reflexion des Subjekts auf diese Wechselwirkung einschließt. Zum Einstieg in diese Überlegungen (die insbesondere für die Empedokles-Ode wichtig werden) möchte ich eine einfache alternierende Folge analysieren: 1212 Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja: wo eine Inzäsion der metrischen Reihe gesetzt werden kann, die die Rede von ›Versfüßen‹ erst ermöglicht. Was veranlaßt uns dazu, das abgebildete Schema beispielsweise als eine Folge von zwei Versfüßen mit gleichem (trochäischen) Versmaß zu bestimmen? Meine These ist, daß erst mit der zweiten betonten Silbe (1 2 1) und der Reflexion auf die erste die Möglichkeit einer solchen Strukturierung gegeben ist. Nur im Rückbezug auf das zuvor Gesetzte und im Bewußtsein der Wiederholung der ersten Betonung ist die Folge 1 2 als Einheit zu begreifen.²⁴ Das Gleiche gilt für die zweite unbetonte Silbe: Wenn 1 2 als abgeschlossen betrachtet werden soll, komplettiert sich erst mit der Wiederholung der Nicht-Betonung die zweite Einheit – d.h. die Reflexion auf die erste Struktureinheit ermöglicht die Einheit
23 Vgl. Hans-Jost Frey, Vier Veränderungen über Rhythmus, Basel 2000, S. 42: »Die [metrische] Ordnung des individuellen Verses konstituiert sich erst als Ablauf der Rede, die er ist, und ist nur aus dem Vollzug seiner Bewegung zu gewinnen.« 24 Zur konstitutiven Funktion der Wiederholung in der Metrik vgl. Martin Lott, Poetische Grundbegriffe, Hamburg 1996, S. 45.
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einer zweiten, die der ersten entspricht. Es ist zu überlegen, ob die Absenz der ersten metrischen Einheit und die Absicht, diese zu wiederholen, als Grund für die Fortführung der Reihe angesehen werden kann. Der Wunsch nach Einheit in der Reflexion auf das Vorangegangene evoziert die Setzung des Gleichen. Unabhängig davon ist festzuhalten, daß die erste Einheit nur in Abhängigkeit von der zweiten zu denken ist, da sich diese ausschließlich rekursiv mit dem Beginn der zweiten konstituiert. Die beiden stehen also in einer Wechselwirkung. Das bedeutet zugleich, daß die Struktur der Folge nur bedingt in der objektiven Form des Metrischen begründet ist. Ebenso bedingend ist das Subjekt, das sich auf die Entstehung der Reihe bezieht. Anders ausgedrückt: Das metrische System und das Subjekt, das mit den metrischen Formen umgeht, sind gleichermaßen für die Konstitution von Versfüßen verantwortlich. Denn was spräche gegen eine endlose Reihe von betonten und unbetonten Silben ohne Inzäsionen, wenn nicht das Subjekt solche Einheiten setzen und für das Sprechen als notwendig erachten würde? Entsprechend ist zu fragen, ob eine Genese gleicher Versfüße denkbar ist, die unendlich fortgeht, und ob die Reflexion an jeder weiteren Position der Reihe gleich bleibt: 12 12 12 … A B C … Zu bedenken ist hierbei, daß sich die Bezüge innerhalb der Reihe durch hinzukommende Einheiten oder Versfüße potenzieren. C ist nicht nur auf B bezogen, sondern zugleich auf A und AB. Das Gleiche gilt für die Wechselwirkung aller Teile zueinander. Aber ist diese Reihe endlos – mit einem daraus resultierenden exponentiellen Zuwachs der Bezüge? Dies mag zwar für die rein objektive Ebene der metrischen Reihe gelten, jedoch nicht für die Reflexion des Subjekts auf den Zusammenhang der Momente. Denn das Hinzutreten eines dritten, gleichen Versfußes besitzt für das Subjekt nicht den gleichen Charakter wie die bloße Wiederholung des ersten. Da es sich der Einheit ›Trochäus‹ bewußt wird, ist keine ›unschuldige‹ Setzung eines weiteren, gleichen Versfußes mehr möglich. Das Subjekt muß eine Entscheidung treffen: Soll das alternierende Schema beibehalten oder durchbrochen, d.h. soll die bisherige Struktur affirmiert oder modifiziert werden?²⁵ Der dritte Versfuß
25 Die Setzung des dritten Fußes ist dabei nicht nur die Entscheidung über Monotonie oder Abwechslung, sondern ebenso über Identität und Differenz. Das hat vor allem in Bezug auf die sprachliche Füllung eine Bedeutung: Unterstützt die Metrik das materiell Ausgesprochene, indem es die Konsistenz bzw. die Veränderung einer Aussage in den Versfüßen nachbildet, oder steht sie in Spannung zu diesen Momenten?
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ist so die erste bewußt gesetzte metrische Einheit, bei der das Subjekt frei auf die Erfahrung der Genese der zweiten reagiert. Entsprechend kann erst jetzt von einem vorläufigen Abschluß der Reflexion gesprochen werden und zugleich vom möglichen Ende einer Periode. Dieser Abschluß nach dem dritten Versfuß ist mit der Konzeption der ›Ganzheit‹ in der aristotelischen Poetik vergleichbar. Aristoteles verhandelt den Begriff der ›Ganzheit‹ als Trias im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Tragödie: Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte endlich, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.²⁶
Auch wenn die Bedeutung der einzelnen Momente der Tragödie nicht den eben skizzierten einer metrischen Reihe entsprechen, so steht doch auch bei Aristoteles die komplexe Beziehung der Teile untereinander und ihre wechselseitige Abhängigkeit im Prozeß (der Handlung) im Vordergrund. Ausgehend von diesen allgemeinen Überlegungen wird es die Aufgabe der metrischen Analyse sein, das Strophenschema der alkäischen Ode noch einmal neu in den Blick zu nehmen und auf ihre Entwicklungslogik hin zu untersuchen. Besonders Hölderlins Dichtung widersetzt sich in ihrer Prozessualität der Übernahme antiker Odenstrophen – deren metrische Struktur ist für Hölderlin kein äußerliches Formgesetz, dem entsprochen werden muß,²⁷ sondern Reflexionsfläche individueller Rede, die mit der (frei gewählten) Vorgabe in Spannung tritt.²⁸ Dies schließt ein, daß Hölderlin nicht darum bemüht ist, einem antiken Ideal
26 Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 25 [1450b]. 27 Selbst in jüngsten Untersuchungen hält sich diese für Hölderlins Schreiben unangemessene Position: »Dabei fasst er [Hölderlin] das Metrum [i.e. das ›alkäische Odenmaß‹] noch als Fessel auf, von der sich das Gedicht erst noch zu befreien hat, ehe die metrisch-rhythmische Differenz in der triadischen Großform aufgehoben wird« (Previšić, Hölderlins Rhythmus, S. 78). 28 Der Konflikt zwischen abstraktem Schema und individueller Rede wird auch von Wolfgang Binder thematisiert, jedoch unter der Prämisse, daß die poetische Realisierung der Strophenform weitestgehend auf eine »Verschmelzung« bedacht sei: »[W]ie verhalten sich deutsche Sprache und deutscher Versbrauch zu dieser unter ganz anderen Voraussetzungen erwachsenen Versart? Bis zu welchem Grad gelingt die Verschmelzung, welche charakteristischen Veränderungen erleidet dabei die Odenmetrik und welche Vorbedingungen muß die Sprache erfüllen?« (Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 85). Diese Position übersieht die grundsätzliche Dialogizität von Sprache und abstraktem Schema, die keine Aufhebung oder ›Verschmelzung‹ zuläßt, sondern beide Seiten in – um die Terminologie Hölderlins aufzugreifen – ›unterschiedener Innigkeit‹ von Konkre-
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im Deutschen zu entsprechen.²⁹ Die Frage ist also, inwieweit das materiell Ausgesprochene einer Ode nicht nur auf eine statische metrische Vorgabe reagiert, sondern an ausgewiesenen Stellen ihrer sprachlichen Entwicklung auch die Logik ihrer abstrakten Form zur Darstellung bringt.³⁰ Meine Interpretation wendet sich damit gleichzeitig gegen eine Reduktion des Metrums auf ein allgemeines und damit austauschbares Regelwerk mit rein gliedernder Funktion.³¹
Die Logik der Form – Die alkäische Ode Aufgrund von Hölderlins Umarbeitung der Empedokles-Ode von einem zunächst rhapsodischen Entwurf in eine alkäische Ode liegt das Augenmerk besonders auf dieser antiken Strophenform. Gleichzeitig stellt sich die Frage, was Hölderlin zu diesem Formwechsel veranlaßte. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, daß die Wahl der alkäischen Strophe für Hölderlin im Blick auf den Empedokles-Stoff
tion und Abstraktion, von subjektiv-individuellem Ausdruck und objektiv-allgemeiner Formvorgabe hält. 29 Obwohl die Unmöglichkeit der mimetischen Übersetzung antiker Strophenformen ins Deutsche von der Forschung einerseits längst reflektiert wurde, ist andererseits die Darstellung dieses Umstandes oft von Wertungen begleitet, die noch immer das antike Maß als Formideal stilisieren: »Gewiß: subjektiv wollten die einen wie die andern griechische (oder lateinische) Verse in deutscher Sprache nachahmen. Wir wissen heute, daß dies unmöglich ist. Den reizvollen Widerstreit, zwischen dem musikalischen Wortton und dem quantitierenden Versmaß vermag auch der feinsinnigste Kenner des Griechischen nur zu ahnen, nicht wirklich zu schmecken. Es ist barbarisch, für jeden Strich des metrischen Schemas, also für jede lange Silbe, im Deutschen einen Iktus, einen dynamischen Verston, zu setzen, und es ist naiv zu glauben, diese rigoristische Manier sei dem griechischen Vorbild ähnlicher, sei genauer« (Beißner, Dichterberuf, S. 5). 30 Hier verbinden sich die beiden ›Ordnungen‹ der poetischen Rede, die in Hölderlins Dichtung eher als zwei ›Perspektiven‹ auf den gleichen Gegenstand verstanden werden müssen: »Die eine ist die Ordnung des Schritt für Schritt sich aufbauenden Bewegungsablaufs, von dessen Phasen jede die Erfüllung des vorhergehenden und die Erwartung des folgenden ist. Die so verlaufende Bewegung hat kein Ziel außer sich. […] Die zweite Ordnung der Versrede ist die metrische Vorschrift, welche der sich selbst ordnenden Bewegung trotz allem ein Ziel setzt und bestimmte Forderungen an ihren Verlauf stellt. Zwar ist der gelungene Vers nicht einfach die Anwendung des metrischen Gesetzes, sondern er bringt es hervor, und nur weil er das Gesetz legitimiert, indem er es produziert, scheint er ihm zu gehorchen« (Frey, Vier Veränderungen über Rhythmus, S. 42 f.). Diese Dualität gilt es in meinen Augen zu radikalisieren und auf die Metrik selbst zu übertragen. Die Metrik ist bereits für sich als Wechselwirkung von Prozeß und Struktur zu denken, die mit der entsprechenden Wechselwirkung der poetischen Rede interagiert. 31 Eine solche Position vertritt Binder: »[Die] Kombination von Hebungen und Senkungen […] ist nur die mathematische Außenseite eines metrischen Innenraums, in dem die Grundfiguren und dynamischen Urformen zuhause sind« (Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 88).
Die Logik der Form – Die alkäische Ode
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eine bewußte Entscheidung darstellt. Die Odenstrophe, so die These, gliedert den Text nicht nur in semantische Einheiten der Verskola, sondern weist unabhängig von der sprachlichen Realisierung in ihrem metrischen Grundschema eine Struktur auf, die den Themenkomplex ›Empedokles‹ darstellt. Um es vorgreifend zu formulieren: Bereits im metrischen Aufbau der alkäischen Ode realisiert sich die Kernstruktur der Empedokles-Thematik, ein »erstes Bedeutungshaftes«, das »als Korrelat bestimmter Sprach- und Denkbewegungen schon auf ein Inhaltliches«³² hinweist.³³ Bezieht man diese metrische Bedeutungsebene ein, wird eine Verbindung zu den theoretischen Reflexionen im Grund zum Empedokles sichtbar. So wird dem alkäischen Versmaß allgemein eine »innere Antithetik«³⁴ zugesprochen, die jedoch kein starres Gerüst darstellt, sondern einen dynamischen Denkprozeß, eine antithetische Bewegung.³⁵ Am Ende steht ein aus der Reflexion gewonnenes Zu-Sich-Kommen: Der in einem »dramatischen Urgefühl [gründende tragische] Gang«³⁶ führt zu einem ›Erfahrungswissen‹³⁷, »das des Innewerdens aus der Bewegung des Lebens und dem Walten des Schicksals heraus bedarf«³⁸. Um die Analogien zwischen dieser Denkbewegung und dem alkäischen Strophenbau zu erkennen, müssen die Beziehungen der drei metrisch voneinander unterschiedenen Einheiten betrachtet werden.³⁹
32 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 88. 33 Vgl. Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 97: »Wohl aber spricht schon die Form und schon die formalste Form, das Metrum, eben weil sie nicht eine noch sinnleere Konfiguration, sondern ein schon bedeutungshaftes Gebilde ist, eine Symbolsprache, die, richtig verstanden, es uns erlaubt, jeweils Form und Gehalt auf einander zu beziehen und die Einheit des Kunstwerkes zu verstehen.« 34 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 88. 35 Vgl. Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 95: »Der alk. Charakter der Strophe liegt vielmehr darin, daß das antithetische Prinzip nicht unmittelbar, in einer allgemeinen Wahrheit, sondern mittelbar, in einem individuellen Zustand, nicht in einer gesetzlichen Beziehung, sondern in einem konkreten Vorgang zum Ausdruck kommt.« 36 Karl Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, Darmstadt 1961, S. 152. 37 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 686: »Erfahrung und Erkenntnis des Heterogenen«. 38 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 97. 39 Zum triadischen Bau der Ode vgl. auch Walter Hof, Hölderlins Stil als Ausdruck seiner geistigen Welt, Meisenhein am Glan 1954, S. 118: »Das alkäische Maß ist also zwar vierzeilig, aber dreiteilig. [… D]as alkäische Maß ist eine geradezu ideale Verkörperung des Hölderlin eigenen Rhythmus. Hätte er es nicht vorgefunden, er hätte es erfinden können.«
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21212p12212s 21212p12212s 21212s212 1221221212 Neben ihrer Strukturanalogie sind die ersten beiden Verse durch den alternierenden Übergang von betonten und unbetonten Silben⁴⁰ an den Versenden als eine metrische Einheit zu denken, die einen »bruchlos«⁴¹ zyklischen Kreislauf beschreibt: 21212p12212s 21212p12212s Teilen sich die Verse infolge der Zäsur in der Mitte in jeweils zwei metrische Kola,⁴² wird unter Berücksichtigung der antiken Taktsetzung eine weitere Struktur sichtbar, die auf Äußerungen Hölderlins im Grund zum Empedokles bezogen werden können. In der Versmitte stehen sich mit Trochäus und Daktylus die beiden Vers-
40 Ich setze mich hier bewußt sowohl von der Bezeichnung ›lange‹ und ›kurze Silbe‹ ab (vgl. Karl Viëtor, Die Lyrik Hölderlins. Eine analytische Untersuchung, Frankfurt a. M. 1921, S. 111: »lange und kurze Silben kennt die deutsche Sprache nicht im Sinne der antiken«; vgl. Friedrich Zelle, Versuch des Beweises, daß die Deutsche Sprache keine Quantität hat. In: Hans-Heinrich Hellmuth, Joachim Schröder (Hg.), Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen. In Quellenschrift des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 447–459, hier S. 448: »[S]o scheint es mir, daß für den Vers alle Sylben gleiche Länge haben, also Verschiedenheit der Zeitdauer im Deutschen Gedichte kein Stoff für die Kunst sei«); ebenso erweisen sich die Begriffe ›Hebung‹ und ›Senkung‹ als problematisch. Wenn eine Übersetzung des antiken Versmaßes ins Deutsche erfolgen kann, dann nur in einem Über-Setzen in ein neues Sprachsystem, das entsprechend einer neuen Begrifflichkeit bedarf. 41 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 89; vgl. auch Hof, Hölderlins Stil als Ausdruck seiner geistigen Welt, S. 117: »Zwischen der ersten und zweiten Zeile besteht ein analoges Verhältnis wie zwischen den Zeilenhälften, denn hier geht fallende in steigende Bewegung über, ohne daß durch aufeinanderstoßende Hebungen ein Teil in sich abgeschlossen, vom anderen scharf getrennt und zugleich zu ihm in akustischen Gegensatz gebracht würde. Das Wellental, das so zwischen den Zeilen entsteht, ist zwar ein stärkerer Ruhepunkt als die Zäsur in der Zeilenmitte, aber es ist kein absoluter Ruhepunkt.« 42 Ein ›metrisches Kolon‹ kann aus einem Versende, der antiken Taktsetzung, einem Wortfuß im Sinne Klopstocks oder einer in der Sprache syntaktisch gesetzten Einheit bestehen. Aufgabe der Interpretation ist es, die metrischen Kola rekursiv auf den Text zu beziehen und als semantische Einheiten zu reflektieren; vgl. Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 92: »Der formale Bezug, der […] im Metrum gestiftet ist, ist ein unstrittig objektivierbares ästhetisches Phänomen und macht es erforderlich, auch [dessen] Semantik« zu berücksichtigen.
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füße gegenüber, die die gesamte Strophe als einander entgegengesetzte ›Extreme‹ dominieren. Setzt man die ersten Verse mit der ersten Phase der ›tragischen Ode‹ ins Verhältnis, der harmonischen Entgegensetzung der Extreme, so manifestiert sich diese Relation durch Gegenüberstellung der Trochäen und Daktylen. Sie beschreiben in dieser höchstmöglichen Engstellung die »reine Innigkeit«⁴³ vor dem Übermaß. Noch vor der konkreten sprachlichen Realisierung der Strophenform wird so das thematische Motiv der Ode in der metrischen Notation im Zentrum des Verses sichtbar. Umrahmt ist dieses Zentrum durch einen Amphibrachys am Anfang und einen Kretikus am Ende des Verses. Wie die Interpretation zeigen wird, ist diese Konstellation im jeweils ersten Vers einer Strophe sprechend. Zieht man den Amphibrachys und den Kretikus zusammen, entsteht eine syntaktisch vollständige sprachliche Einheit, die ihren eigenen semantischen Wert besitzt.⁴⁴ Die zyklische Bewegung der ersten beiden Verse verstärkt darüber hinaus den Eindruck eines ›harmonischen‹ Ausgleichs der Vers-Dualität, die somit noch vor einer Trennung in die Verschiedenheit widersteitender Extreme liegt. Man kann den Doppelvers so deuten, daß in ihm »das Bewußtseyn, das Nachdenken [… und] die physische Sinnlichkeit […] mäßig genug gehalten«⁴⁵ werden. So ist die Versmitte einerseits durch die Zäsur verschieden, der ausbleibende Betonungsprall verhindert andererseits die Geschiedenheit ihrer Teile. So entsteht das ›Harmonischentgegengesetzte‹ bzw. die ›unterschiedene Innigkeit‹ der metrischen Elemente.⁴⁶ Der dritte Vers bildet die zweite metrische Einheit der alkäischen Ode. Als einziger Vers der Strophe besitzt er ein alternierendes Versmaß, wobei nicht festgelegt ist, welcher Versfuß dominant ist. So kann nicht entschieden werden, ob v. 3 eine trochäische Reihe darstellt, die von einer unbetonten Auftaktsilbe eingeleitet wird, oder ob es sich um ein hyperkatalektisch-jambisches Versmaß handelt: 2 1 2 1 2 s2 1 2
43 Hölderlin, FHA XIII, S. 868. 44 Vgl. v. 1: 2 1 2 […] 1 2 1 = Das Leben […] quillt und glänzt 45 Hölderlin, FHA XIII, S. 868. 46 Vgl. Michael Konrad, Hölderlins Philosophie im Grundriß, Bonn 1967, S. 32: »Harmonie ist Vereinigung Verschiedener zu Einem […], aber so, daß ihre Verschiedenheit in ihrer Einheit nicht ausgelöscht wird.«
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Metrik
Im Rahmen der Empedokles-Thematik liegt jedoch keine »Verdopplung«⁴⁷ des ersten oder letzten Verskolons vor. Vielmehr kommt hier die nächste Phase der Verlaufsstruktur der tragischen Ode zur Darstellung: die scheinbare Vereinigung der Extreme in einem Einzelnen; hier: einem einzelnen (zweisilbigen) Versfuß. Der dritte Vers repräsentiert so den »Trug«⁴⁸ der Aufhebung aller Gegensätze des Denkens und Fühlens durch die »idealische That«⁴⁹ eines Subjekts.⁵⁰ Diese Einheit ist vor allem deswegen trügerisch, weil das Metrum je nach Perspektive zwischen jambischem und trochäischem Sprechen schwankt, also auch das eine Versmaß in sich widersprüchlich ist. Erst der vierte Vers bringt den für Hölderlin notwendigen Ausgleich der Extreme und damit den Abschluß der transzendentalen Bewegung – den Ausgleich, der verhindert, daß das Allgemeine in einer »Einzelheit«⁵¹ abstirbt: 1221221212 Da Trochäus und Daktylus gleich doppelt in ihre ursprüngliche Opposition zurückkehren,⁵² hat sich »die Kraft des innigen Übermaßes verloren« und die Extreme des Denkens und Fühlens sind in »eine reifere wahrhaftere, reine allgemeine Innigkeit«⁵³ übergegangen. Der vierte Vers läßt die Bewegung der Antithesen »harmonisch ausschwingen«, wodurch die Ode den »geschilderten Entfaltungsprozeß des Faktischen ins Geistige, des unmittelbar Gegebenen in eine ewige Ordnung«⁵⁴ erhebt. Die Extreme treten »unterscheidender, klarer«⁵⁵ hervor. Das Ende der Ode beschreibt zwar nicht den Zustand der ›reinen Innigkeit‹ der ersten beiden Verse, da dies einen vorbewußten Zustand erfordern würde, der vierte Vers verweist jedoch in einer »mäßige[ren], freier[en] Reflexion und Empfindung«⁵⁶ auf den Beginn der Strophe.
47 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 90. 48 Hölderlin, FHA XIII, S. 871. 49 Hölderlin, FHA XIII, S. 873. 50 Auf die Metrik übertragen artikuliert v. 3 den Versuch, das dreisilbige daktylische Versmaß in ein zweisilbig-alternierendes aufzuheben. 51 Hölderlin, FHA XIII, S. 873. 52 Die Doppelung der Versfüße kann so verstanden werden, daß beide Seiten nicht nur in Bezug auf die jeweils andere gedacht werden sollen, sondern zudem (als Ergebnis der transzendentalen Bewegung) auch in diesem Bezug sich reflektieren. Ein bewußter Fremdbezug ist nur als ein zugleich reflektierter Selbstbezug möglich – und umgekehrt. 53 Hölderlin, FHA XIII, S. 874. 54 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 108. 55 Hölderlin, FHA XIII, S. 872. 56 Hölderlin, FHA XIII, S. 868.
Die Logik der Form – Die alkäische Ode
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Ziel dieser Analyse war es, die »Strophenform […] auf tiefere, begründende Polaritäten zurückzuführen, die eben darum den formal-ästhetischen Raum überschritten und dem Aufbau der Wirklichkeit selbst bis hinunter in ontologische Grundverhältnisse entnommen waren. […] Die sachliche Folge [… war], daß wir in den Bereich eintraten, in dem Hölderlins Denkformen und dichterische Strukturen wurzeln«⁵⁷. Unabhängig von der Frage, in welcher Weise die sprachliche Realisierung der Strophenform von diesem Grundschema abweicht,⁵⁸ behauptet bereits die Auseinandersetzung mit dem abstrakten ›Gegenstand‹ der alkäischen Odenstrophe die Untrennbarkeit von Form und materiell Ausgesprochenem im poetischen Ausdruck.⁵⁹
57 Binder, Hölderlins Odenstrophe, S. 109. Die bereits in der metrischen Form abzulesende transzendentale Bewegung bezeugt so den von Viëtor angeführten Charakter der Oden Hölderlins, die für ihn »dialektische Reflexionsgedichte« (Viëtor, Geschichte der deutschen Ode, S. 148) darstellen: »Eine begriffliche Antinomie wird durch die dichterische Schau gelöst. Leben und Denken erscheinen nun als metaphysische Einheit, der Widerstreit zwischen Endlichem und Unendlichem geschlichtet. […] Gedrungen und unpreziös zugespitzt stehen die Begriffe gegeneinander, Wort, Rhythmus und Bedeutung klingen schön zusammen« (ebd., S. 148); vgl. dazu auch Lawrence J. Ryan, Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne, Stuttgart 1960, S. 160: »Es werden zwar durch die ›Übergänglichkeit‹ des alkäischen Verses die scharfen Konturen [gegenüber der asklepiadeischen Ode] etwas geglättet, aber es ist für den Gesamtcharakter […] kennzeichnend, daß Hölderlin auch der alkäischen Strophe ein symmetrisch-antithetisches Gepräge verleiht.« 58 Es würde – wie bereits oben ausgeführt – einen Fehlschluß bedeuten zu erwarten, daß die Wahl einer Strophenform mit der Forderung verbunden ist, sie in der Sprache bruchlos umzusetzen. Auch der umgekehrte Fall führt zu falschen Schlüssen: Die Realisierung als Affirmation des abstrakten Schemas beschreibt keinen Mangel an »Zwanglosigkeit und Beweglichkeit« (Viëtor, Die Lyrik Hölderlins, S. 112) oder gar eine »pedantische Anklammerung« (Beißner, Dichterberuf, S. 5). Auch hier ist an jeder Stelle zu reflektieren, welche Auswirkungen diese Umsetzung auf die Rede besitzt und warum das Sprechen gerade in dieser Form vorliegt. 59 Meine Analyse verzichtet hier darauf, neben der semantischen Dimension der Metrik auch die metrisch-phonologischen Relationen zu berücksichtigen. Hingewiesen sei hier auf die Untersuchung von Christoph Küper, der sich der verschiedenen Positionen bezüglich der Kausalitätsverhältnisse von metrischen und phonologischen Einheiten annimmt; vgl. Küper, Sprache und Metrum, S. 108 ff.
Neuedition Der Sonderstatus, den die Ode innerhalb der Werkphase Hölderlins zum Themenkomplex Empedokles einnimmt, erweist sich auch im Blick auf ihre Druckgeschichte. Obgleich erst 1801 im Frankfurter Almanach Aglaia veröffentlicht, ist sie der einzige Text Hölderlins zu Empedokles, der publiziert wurde. Doch auch der Quellenlage des Textes muß besondere Beachtung zukommen: Neben einem Entwurfsblatt des Gedichtes, das mehrere Überarbeitungsstufen Hölderlins zeigt, liegt eine nach dem Erstdruck (genauer: nach Hölderlins Rückkehr aus Frankreich) zu datierende Reinschrift vor.⁶⁰ Die Tatsache, daß sich die Ode Empedokles aus einem rhapsodischen Entwurf heraus entwickelte, hat Auswirkungen auf die Interpretation. Die Verse 1–8 der ersten beiden Strophen der Ode zeigen eine bewußte Revision des Sprachmaterials der ersten Aufzeichnung – allein die vertikal am linken Rand der Manuskriptseite notierte dritte Strophe weist keine Überarbeitungsspuren auf und stellt eine für sich abgeschlossene Einheit dar, die keinen Hinweis auf eine frühere Konzeption gibt. In der Interpretation gilt es nun, die Versgestalt der Ode als Reflexion auf den früheren ›Sprachstand‹ des rhapsodischen Entwurfs zu begreifen und die semantischen Veränderungen deutlich zu machen, die sich aus diesem anderen Sprechen ergeben. An vielen Stellen ist es der formale Kontrast der beiden Aufzeichnungsschichten hinsichtlich der Organisation des Sprachmaterials, der semantische und syntaktische Besonderheiten der Ode betont und wesentlich zum Verständnis des Gesagten beiträgt. Darüber hinaus ist die enge Gebundenheit von Hölderlins poetischer Verfahrensweise an die Materialität der Handschrift zu beachten. Auf der Rückseite des Entwurfsblattes zur Empedokles-Ode (s.u. H1) findet sich der (ebenfalls rhapsodische) Entwurf seines Gedichts Buonaparte, der über die Konzentration der Worte ›Heilig‹, ›Gefäß‹, ›Dichter‹, ›Leben‹, ›Wein‹ und ›Held‹ in den ersten drei Versen eindeutig intertextuelle Bezüge zur Empedokles-Ode zeigt. Obwohl die Manuskriptseiten Hölderlins bereits in der Historisch-Kritischen Ausgabe von Dietrich E. Sattler transkribiert und gemeinsam mit Faksimiles ediert wurden, ist eine erneute Aufarbeitung der Überlieferungsträger notwendig. Besonders die eingeschränkten technischen Möglichkeiten Sattlers zum Zeitpunkt der Erstellung seiner Edition sowie Mängel in der Transkription machen eine Neuedition unumgänglich.⁶¹ Diese bietet eine überarbeitete Umschrift des
60 Vgl. Hölderlin, FHA V, S. 427. 61 Wie wichtig eine Neutranskription der Blätter ist, zeigt sich beispielhaft an Hölderlins Überarbeitung des Wortes »bodenlosen« in Z. 9 der Entwurfshandschrift (H1). Die Streichung betrifft
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Neuedition
Entwurfsblattes sowie der Reinschrift, die neben dem als Faskimile beigegebenen Erstdruck das Fundament für jeden Analyseschritt der Interpretation bildet. Hintergrund der Neuedition ist, daß das Entwurfsblatt und die spätere Reinschrift Hölderlins als die entscheidenden Überlieferungsträger der Ode zu begreifen sind, die gegenüber dem Druck ihre Eigenständigkeit behaupten und die einzigen autorisierten Textgrundlagen darstellen. Die Überarbeitungen, die die Entwurfshandschrift zeigt, geben überdies einen präzisen Einblick in die Textgenese, die einen Nachvollzug der poetischen Verfahrensweise Hölderlins zuläßt.
Beschreibung der Überlieferungsträger Entwurfshandschrift [H1] Württembergische Landesbibliothek, Hölderlin-Archiv, Cod. poet. et. phil.fol. 63, I,3, S. 8⁶² — Bei der Handschrift handelt es sich um ein Doppelblatt im Quartformat mit den Abmessungen 18,7 × 22,8 cm. Alle Kanten sind beschnitten und teilweise geflickt. Das Papier besitzt eine gelbliche Farbe und ist leicht gerippt. Das Wasserzeichen zeigt ein gekröntes Posthorn mit anhängender Glocke; darunter ›C & I Honig‹.⁶³ Die Eintragungen sind mit der für die Zeit typischen braunen Gallustinte vorgenommen. Reinschrift [H2] Stadt Bad Homburg v. d. Höhe, Depositum der Württembergischen Landesbibliothek, Hölderlin-Archiv, Homburg, H,21r⁶⁴ — Bei der Handschrift handelt es sich um ein Doppelblatt im Folioformat mit den Abmessungen 21,5 × 34 cm. Die Kanten des bräunlichen, festen und leicht gerippten Papiers sind unbeschnitten. Das Wasserzeichen zeigt ein gekröntes Wappen mit Bischofsmütze; darunter
entgegen Sattlers Ansicht nicht die gesamte erste Worthälfte, sondern läßt den ersten Buchstaben unberührt: ›bodenlosen‹ wird zu ›blosen‹ geändert, nicht zu ›losen‹. Damit erhält nicht nur das geänderte Wort einen gegenüber der früheren Transkription anderen Sinn, auch die gestrichene Buchstabenfolge innerhalb des Wortes wird so bedeutend: Im rhapsodischen Entwurf wird mit ›oden‹ gerade das Wort gestrichen, das die Gattungsbezeichnung der späteren Textstufe bezeichnet. Man kann überlegen, ob für Hölderlin mit dieser Streichung nicht der Grundstein für die spätere Umarbeitung in eine alkäische Ode gelegt wurde. 62 Vgl. Katalog der Hölderlin-Handschriften. Auf Grund der Vorarbeiten von Irene KoschligWiem, bearb. von Johanne Autenrieth und Alfred Kelletat, Stuttgart 1961, S. 50. 63 Vgl. Katalog der Hölderlin-Handschriften, S. 148. 64 Vgl. Katalog der Hölderlin-Handschriften, S. 97.
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›F L‹.⁶⁵ Die Eintragungen sind ebenfalls mit der für die Zeit typischen braunen Gallustinte vorgenommen. An der linken oberen Ecke findet sich eine Eintragung mit Bleistift von Karl Gok: »[Nr.34.]35. 36. 37.«. Die rechts neben dem Titel »Empedokles.« stehende Notiz »Nr. 35«, die ebenfalls Gok zugesprochen werden kann, bezieht sich auf dessen Gedichtverzeichnis. Die Eintragung »59. S. 112« mit roter Tinte, die von der gleichen Hand stammt, verweist mit Nummer und Seitenzahl auf die Uhland-Schwabsche Druckvorlage des Gedichts.⁶⁶ Erstdruck [D] Aglaia. Jahrbuch für Frauenzimmer auf 1801, hrsg. von N. P. Stampeel, Frankfurt am Main: Hermann, S. 353 — Der Text ist in einer Standard-Fraktur gesetzt. Über dem gesperrt gesetzten Titel steht die für den Almanach übliche Zählung, hier: »20.«. Titel und Text sind durch einen mittenzentrierten Querstrich voneinander abgesetzt. Am Ende des Gedichts findet sich die gesperrt gedruckte Signatur »Hölderlin.«. Der Satz zeigt den für die Zeit üblichen, nach rechts stufenweise versetzten Einzug der Verse innerhalb einer Strophe.
Textgrundlage Die Interpretation setzt die spätere Reinschrift Hölderlins [H2] als Textgrundlage voraus. Da nicht davon ausgegangen werden kann, daß Hölderlin auf den Satz des Textes in der Aglaia einwirken konnte, ist H2 als die letzte autorisierte Textstufe der Ode anzusehen. Aus den Überarbeitungen, die H2 gegenüber dem Druck aufweist, läßt sich zumindest schließen, daß Hölderlin im Nachhinein eine andere Textfassung als maßgeblich ansah. Die sicherlich wichtigste Abweichung von H2 gegenüber D ist das in der Aglaia verzeichnete Komma im ersten Vers nach der Wiederholung des Wortes »suchst« (s.u.: Vergleich der Editionen). Wie die Interpretation zeigen wird, hat diese Änderung Hölderlins (oder, wie man an dieser Stelle nur vermuten kann: der frühere Eingriff des Setzers) entscheidenden Einfluß auf das Verständnis des Verses und darf nicht zugunsten syntaktischer Normen emendiert und damit marginalisiert werden.
65 Vgl. Katalog der Hölderlin-Handschriften, S. 151. 66 Im Druck von 1826 findet sich der Text schließlich auf S. 61; vgl. Gedichte von Friedrich Hölderlin, hg. von Ludwig Uhland und Gustav Schwab, Stuttgart, Tübingen 1826, S. 61.
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Abb 1: H1 — Cod. poet. et. phil.fol. 63, I,3, S. 8
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Diotima. Doch heilig bist du mir,
wie der Erde Macht,
Hielte die [a]Liebe mich nicht, dem Helden.
Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter
Und folgen möcht’ ich in die Tiefe,
Die Helden neÞt könt’ ich neÞen und [S]Und [Sch]schweigen von der schönsten der HeldiÞen, Empedokles Du suchst [das]In den Flaμen suchst du das, ein Herz gebietet und pocht Leben, dich treibt dein groß und
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Du [d]folgst und wirfst dich in d[ie]en alten
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gä¿h bodenlosen Aetna hinab e [¿]Perlen zerschmolz[t’] im Wein[e] die Köni gin, D[en]ie Verschwende[nd]rin! mochte [d]sie doch [E](Ein Quell springt) Hättest nur du nicht deine Perlen Dein Die schönen Kräfte deines Lebens Das Leben such[[e]st du Dem a[d]lten gährenden Becher und suchst und es quillt vor di , glänzt [¿]Kühn geopfert. [E]Ein göttlich Feuer t[¿]ief aus der Erde dir. Groß war, wie das Element das ihn u. eilst Und ach! du folgst der Lust, [dem]und hinwegnahm, kühn und muthig gut Der Getödtete, feurig und groß, Und du ab Wirf[e]st dich hin Und hielte die zarte in schauderndem in des Aetna Flaμen. i[h]ch möchte [dem]ihm folgen, dem Verlangen, heiligen MaÞe, So hielte die zarte Liebe Es schmelzt’ im Weine Perlen Übermuth mich nicht. Der Königin die Königin. und Die übermüth’ge! moch[t’]te sie doch! [d]hättst du Dichter Im Über muth; und Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter heilger hin in Dichter de[m]n gährenden Kelch geopfert.
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feurig und groß ¥durchgängige Streichung, teilweise mit tintenleerer Feder¦. hielte die zarte ¥durchgängige Streichung, teilweise mit tintenleerer Feder¦. Königin ¥durchgängige Streichung, teilweise mit tintenleerer Feder¦.
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Abb 2: H2 — H,21r
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[Nr.] [34.]35. 36. 37.
59. S.112 Empedokles. Nr. 35
Das Leben suchst du, suchst und es quillt und glänzt Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen Wirfst dich hinab, in des Aetna Flaen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth
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Der Königin; und mochte sie doch! hätt[es]st du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter Hin in den gährenden Kelch geopfert! Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden.
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Textkritische Zeichen [g]Graphenfolge [Graphenfolge] Graphenfolge ¿ 10
Meta Light Medium Normal
Bodoni
Überschreibung eines Graphs in der Graphenfolge Einfügung eines Buchstabens oder eines Wortes in die Graphenfolge Durchstrichene Graphenfolge Nicht entzifferter Graph Zeilenzählung Hölderlins Hand (Tinte) Erste Aufzeichnungsschicht Spätere Aufzeichnungsschicht Reinschrift Karl Goks Hand (Blei und Tinte)
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Abb 3: D — Aglaia. Jahrbuch für Frauenzimmer auf 1801, S. 353
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Vergleich der Editionen Empedokles⁶⁷ Das Leben suchst du, suchst und es quillt und glänzt Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth Der Königin; und mochte sie doch! hättst du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter Hin in den gährenden Kelch geopfert! Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden.
5
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1 Du (US), suchst, und (A, US, Z, H, StA) ; 2 Dir (US); 3 Du (US); 4 Dich (US), hinab (A, US, Z); 5 Uebermuth (US, K); 6 mochte sie! Hättest Du (US), Hättst (Z); 7 Deinen (US), Reichthum (A), Dichter! (A), Dichter, (US, Z); 9 Du (US); 10 Dich (US), hinweg nahm (A)
(A)
Aglaia. Jahrbuch für Frauenzimmer auf 1801, hg. von N. P. Stampeel, Frankfurt a. M., S. 353.
(US)
Gedichte von Friedrich Hölderlin, hg. von Ludwig Uhland und Gustav Schwab,
(Z)
Friedrich Hölderlins Sämtliche Werke und Briefe in fünf Bänden. Kritisch-historische
Stuttgart, Tübingen 1826, S. 61. Ausgabe von Franz Zinkernagel, Leipzig 1914–1926, Bd. 1 [Gedichte] (1922), S. 142. (H)
Hölderlin, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hg. von Norbert von Hellingrath, Friedrich Seebaß und Ludwig von Pigenot, Berlin 1913–1923, Bd. 3 [1798–1800] (1922), S. 19.
(StA)
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. von Friedrich Beißner und Adolf Beck, 8 Bde., Stuttgart 1943–1985, Bd. 1/1 [Gedichte bis 1800] (1943), S. 240.
67 Hölderlin, FHA V, S. 430.
Interpretation
Titel Vor der Interpretation des Titels ist eine Klärung des Begriffs ›Titel‹, seiner Stellung und Funktion notwendig. Welche Momente kommen dem Titel zu, die ihn als einen solchen bestimmen und ihm einen dem Gedicht vorangestellten Raum zusprechen? Dieser Raum ist zunächst hinsichtlich der – wie Derrida zurecht feststellt – Ambivalenz seines Ortes, seiner Position im Gedicht zu betrachten. Der Titel nimmt eine ›Randstellung‹ ein, sofern er dem nachfolgenden Textkorpus angehört, sich gleichzeitig aber von ihm unterscheidet.⁶⁸ Das lateinische Wort titulus bezeichnet diese Randstellung. Einerseits bedeutet titulus eine »Auf- bzw. Überschrift«⁶⁹, d.h. eine am Äußeren eines Gegenstandes befindliche und in diesem Sinne ihm äußerliche Benennung. Andererseits meint der Begriff eine »Inschrift«⁷⁰, die als Eingeschriebenes untrennbar mit der Materialität des Bezeichneten verbunden ist und die innere Struktur desselben bestimmt. So verweist bereits die Etymologie des Wortes ›Titel‹ auf dessen (im Sinne Derridas) ›parergonale‹ Funktion. Das parergon ist einerseits nicht vom ergon ablösbar, das bezeichnet wird; andererseits trennt es das ergon (von Außen) von Anderem ab und behauptet seine Einheit und Abgeschlossenheit.⁷¹ Dies ist
68 Vgl. Jacques Derrida, Titel (Noch zu bestimmen). In: Derrida, Gestade, hg. von Paul Engelmann Wien 1994, S. 219–245, hier S. 225: »Ein Titel hat statt oder seine Statt nur am Rande des Werkes; ließe er sich dem Korpus, das er betitelt, inkorporieren, gehörte er ihm einfach als eines seiner internen Elemente, eines seiner Stücke an, so verlöre er Rolle und Wert eines Titels. Wäre er andererseits dem Korpus vollkommen äußerlich und abgetrennt von ihm, […] so wäre er kein Titel mehr.« 69 Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage, 2 Bde., Darmstadt 1998, Bd. 2, Sp. 3137. 70 Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 3137. 71 Vgl. Jacques Derrida, Parergon. In: Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, S. 31–176. Dies schließt ein, daß die Position des Wortes, das den Titel nennt (auf der Seite, auf einem Buchrücken, etc.), nicht den topos des Titels zu bestimmen vermag: »Was ist der Topos des Titels? Hat er statt und wo in Bezug auf das Werk? Am Rande? Außerhalb des Randes? Auf der inneren Randung? In einem nachgezeichneten und reapplizierten Über-den-Rand-hinaus-Gehen (pardessous-bord) durch Invagination, im Innern, zwischen dem mutmaßlichen Zentrum und der Peripherie? Oder zwischen dem Eingerahmten und dem Einrahmenden des Rahmens? […] Oder spielt der Titel vielmehr im Innern der Räumlichkeit des ›Werkes‹, indem er die mit Definitions-
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Interpretation
besonders für die vorliegende Ode relevant: Das Wort »Empedokles« wird ›innerhalb‹ der Ode nicht mehr genannt und steht somit tatsächlich am Rand bzw. auf der Grenze von Innen und Außen des Textes. Der Titel »Empedokles« bezieht sich als Eigenname auf eine historische Person: Der Name benennt Empedokles von Akragas. Damit wird die gesamte theoretische wie poetische Auseinandersetzung Hölderlins mit dem Vorsokratiker⁷² aufgerufen.⁷³ Dies bedeutet jedoch nicht, daß durch die Eindeutigkeit des Namens eine programmatische Vorgabe gesetzt wäre, so daß allenfalls ein historisches Faktum oder dessen Überlieferung in den nachfolgenden Versen sprachlich umgesetzt würde.⁷⁴ Gerade in Anbetracht der für Hölderlin unaufhebbaren Verbundenheit von Subjekt und Objekt im Geistigen bleibt zu klären, ob sich das bereits im ersten Vers auftretende Du als bloße Anrede der Person ›Empedokles‹ durch das poetische Ich verstehen läßt oder ob nicht (gleichzeitig) ein autoreflexives Verhältnis des lyrischen Ich, d.h. eine Selbst-Anrede im Sinne einer ›transzendentalen Verständigung‹ erfolgt.⁷⁵ So wird letztlich auch die Bestimmung des Titels
anspruch auftretende Legende in eine Gesamtheit einschreibt, die sie mehr beherrscht und die ihn, den Titel, als lokale Wirkung konstituiert?« (ebd., S. 41). 72 Ich verzichte hier darauf, noch einmal allgemein auf Hölderlins Rezeption des historischen Empedokles sowie dessen Schriften einzugehen, da dies in den letzten Jahren bereits an anderer Stelle detailliert und umfassend geleistet wurde; vgl. hierzu besonders Walther Kranz, Empedokles. Antike Gestalt und romantische Neuschöpfung, Zürich 1949, S. 155–347; Theresa Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 96–239; Uvo Hölscher, Empedokles und Hölderlin, Eggingen 2001; Hannah Völker, Hölderlins Dramenfragmente »Der Tod des Empedokles« und ihr Bezug zu Antike und Romantik, Hamburg 2002. 73 Aus phänomenologischer Perspektive ist damit nicht geklärt, inwieweit der Name ›Empedokles‹ neben seinem bestehenden ›existenzialen Charakterisierungsmoment‹ im Sinne Roman Ingardens (d.h. dessen Modus als ›real‹ vermeinter Gegenstand) auch eine Verortung hinsichtlich seiner ›existenzialen Position‹ aufweist, also ob er im »existenzialen Modus ›Realität‹« steht (vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. Vierte unveränderte Auflage, Tübingen 1972, S. 70). Denn der Name ›Empedokles‹ kann ebenso »verwendet werden, daß in ihm neben dem existentialen Charakterisierungsmoment noch das Moment einer eigentümlichen existentialen Position enthalten ist, das den Gegenstand zwar nicht in der faktisch existierenden raum-zeitlichen Realität, aber doch in der fiktiven, durch den Sinngehalt [… der Ode] geschaffenen ›Wirklichkeit‹ setzt« (ebd., S. 70 f.). 74 Birgitt Scheuermanns ›referentielle Funktion‹ des Titels, also dessen ›thematisches Hinweisen‹ auf den Text, muß demnach weiter gefaßt werden (vgl. Birgitt Scheuermann, Titel und Text. Das Beispiel Rimbaud, Frankfurt a. M., Bern 1982, S. 23). 75 Dies erweitert die These, daß ein Eigenname immer »etwas [benennt], das mit dem, was in der Dichtung ›vorkommt‹, zu tun hat, das sie in ihrer Eigenheit kennzeichnet« (Horst-Jürgen Gerigk,
Titel
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als ›Eigenname‹ in seiner Bedeutung erweitert, da das Wort ›Empedokles‹, als Vokativ verstanden, die Person Empedokles nicht nur als ein Gegenüber anredet.⁷⁶ Daran anschließend ist zu diskutieren, ob Hölderlin (oder das poetische Ich) sein Sprechen Empedokles ›widmet‹, ihm ›zueignet‹; diese Überlegung läßt sich dadurch stützen, daß das Moment der Gabe im Verlauf der Interpretation von Bedeutung sein wird. Überdies wird mit der Anrede auch ein bestimmter Rahmen des Denkens eröffnet: Der Name ›Empedokles‹ wird zum Zeichen einer transzendentalen Verlaufsstruktur.⁷⁷ Was Hölderlin mit der historischen Person Empedokles verbindet, wird infolge des Gedichttitels zu einem strukturbestimmenden Wesensmoment der gesamten Ode. »Empedokles« ist kein Akzidenz, kein Äußerliches, das fehlen kann, ohne das so Betitelte zu verändern. Die ›Transformation‹ des Personennamens zum Titel drückt sich auch in der genannten Randstellung aus, die den Titel im Gegensatz zum Verhältnis Name–Person als einen notwendigen Bestandteil des Gedichtes ausweist. Dies wird auch im Rückgriff auf den lateinischen titulus deutlich, wenn man diesen im Sinne eines ›Kennzeichens‹ bzw. als ›Grund‹ und ›Ursache‹ des Betitelten in Betracht zieht.⁷⁸
Titelträume. Eine Meditation über den literarischen Titel im Anschluß an Werner Bergengruen, Leo H. Hoek und Arnold Rothe. In: Titel – Text – Kontext. Randbezirke des Textes. Festschrift für Arnold Rothe zum 65. Geburtstag, hg. von Jochen Mecke und Susanne Heiler, Berlin 2000, S. 21– 28, hier S. 23), indem sich das ›Vorkommnis‹ nicht auf die im Titel genannte Person reduziert, sondern sowohl den Autor als auch den Leser miteinbezieht (vgl. ebd., S. 27: »Der Zuruf, das ist der Titel.«). Die oben genannte ›Rand‹- bzw. »Zwitterstellung« (Scheuermann, Titel und Text, S. 22) des Titels hat diesbezüglich auch maßgeblich Anteil an der Eröffnung der kommunikativen Situation, die schließlich mit der Du-Anrede konkretisiert wird: Der Titel »erfüllt eine phatische Funktion« (ebd., S. 20), d.h. er integriert den Rezipienten von Anfang an in die ›Verständigung‹, die sich in der Ode entwickelt. 76 In diesem Fall sei der Vokativ nicht auf das lateinische vocare (›rufen‹) reduziert, das lediglich ein »Rufen in die Abwesenheit und ein Bitten um Gegenwart« bezeichnen würde (Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 370), sondern in einer weiteren Bedeutung von ›Anrede‹ verstanden. 77 Man kann hier im Rückgriff auf Levinsons Differenzierung zwischen Personennamen und Titeln von Kunstwerken von einer Transformation oder gar Hypostasierung sprechen; vgl. Jerrold Levinson, Titles. In: The Journal of Aesthetics an Art Criticism 44/1, Greenvale, New York 1985, S. 29–39, hier S. 38. 78 Vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 3138.
Strophe 1
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Strophe 1
Das Leben suchst du, suchst und es quillt und glänzt Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth Der Königin; und mochte sie doch! hättst du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter Hin in den gährenden Kelch geopfert! Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden.
Zunächst möchte ich einen Überblick über den formalen Aufbau der gesamten Ode geben, um bereits vor dem detaillierten Nachvollzug der sprachlichen Entwicklungslogik die Relationen der Verse bzw. Versgruppen zu analysieren. Damit soll ein Einstieg in die Komplexität der verschiedenen Ebenen des Textes ermöglicht und Bezüge hervorgehoben werden, die mitunter auch über die Strophengrenzen hinausgehen. Eine erste Gliederung der Ode neben der Einteilung in drei Strophen zu je vier Versen wird durch die Anzahl der Kola in den ersten sechs Versen und ihrer Verteilung möglich. Das erste Verspaar besitzt drei Kola in v. 1⁷⁹ und ein Kolon in v. 2, das dritte Verspaar mit einem Kolon in v. 5 und drei Kola in v. 6 ist das exakte Spiegelbild dieser Verteilung. Einerseits wird dadurch formal eine Beziehung der beiden Verspaare behauptet, die es auch in der Interpretation zu beachten gilt, andererseits besitzt das mittlere Verspaar (v. 3/4) damit eine doppelte Funktion. Es ist nicht mehr nur Abschluß der ersten Strophe, sondern rückt überdies auch ins Zentrum der ersten Odenhälfte.
79 Dies ist begründet in der Isolierung des wiederholten Wortes »suchst«, das durch das vorangehende Komma und eine Sprechpause zwischen den Worten »suchst« und »und« als eigenes Kolon abgegrenzt wird. Die Interpretation wird darauf näher eingehen.
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Interpretation
Diese Konstellation hat auch Auswirkungen auf das Verständnis des ersten Verspaares der letzten Strophe (v. 9/10), das aus zwei Versen zu je zwei Kola aufgebaut ist. Dies läßt sich so deuten, daß die Abfolge der ersten drei Strophenhälften eine antithetische Bewegung beschreibt: Der ›These‹ in Strophe 1 (3/1) wird eine ›Antithese‹ (1/3) in Strophe 2 gegenübergestellt; die ›Synthese‹ bildet der Ausgleich der Gegensätze in der dritten Strophe (2/2). Setzt man ›Einheit‹ und ›Vielheit‹ als die bestimmenden Prinzipien an, ist diese dialektische Bewegung noch genauer zu beschreiben. Das Verspaar v. 1/2 ist durch das Primat der Vielheit der drei Kola des ersten Verses über die Ungeteiltheit des zweiten mit nur einem Kolon als ›Gesamtheit‹ zu begreifen. Das Verspaar v. 5/6 kehrt diese Relation um und behauptet mit dem Primat des einen Kolons des sechsten Verses eine ›Ganzheit‹.⁸⁰ Erst im letzten der drei Verspaare (v. 9/10) tritt der Ausgleich der beiden vorangehenden ein: Beide Verse bestehen aus jeweils zwei Kola. Das ausgewogene Verhältnis von Ganzheit und Gesamtheit beschreibt so eine ›Allgemeinheit‹.⁸¹
80 Vgl. Gerhard Buhr, Methodologie, Heidelberg 1992 [unveröffentlichtes Ms.], S. 12: »Der Satz: ›Vielheit und Einheit stehen in Beziehung‹ aber ist noch einmal weiter zu entwickeln. In diesem Satz wird nämlich die Beziehung zunächst als eine Einheit beansprucht. Eine Einheit ist aber nicht ohne Vielheit zu denken, und deshalb gehört zu der als Einheit gedachten Beziehung eine Vielheit an Beziehungen. Die Vielheit an Beziehungen ist nun nichts anderes als eine Doppelheit: Einerseits gibt es die Bezogenheit der Einheit auf die Vielheit, sie heißt Gesamtheit. Die Gesamtheit ist die Vielheit, insofern sie die Einheit als ein untergeordnetes Moment an sich hat. Andererseits gibt es umgekehrt die Bezogenheit der Vielheit auf die Einheit, sie heißt Ganzheit. Die Ganzheit ist die Einheit, insofern sie die Vielheit als ein untergeordnetes Moment in sich einbezogen enthält. Die so wichtigen Begriffe der Ganzheit und Gesamtheit sind Beziehungsbegriffe. Sie stehen in einem Umkehrungsverhältnis zueinander, Ganzheit ist gewissermaßen die umgestülpte Gesamtheit, und umgekehrt ist die Gesamtheit gewissermaßen die umgestülpte Ganzheit. Beiden Kategorien ist gemeinsam, daß in ihnen jeweils ein Moment das Primat vor dem anderen hat, bei der Ganzheit ist die Einheit primär gegenüber der Vielheit, bei der Gesamtheit ist die Vielheit primär gegenüber der Einheit; so daß auch gesagt werden kann, bei Ganzheit und Gesamtheit liege eine hierarchische Beziehung vor.« 81 Vgl. Buhr, Methodologie, S. 12: »Zu der doppelten Beziehung von Vielheit und Einheit, mithin zu den beiden Beziehungskategorien Ganzheit und Gesamtheit ist die einheitliche Beziehung zu bestimmen: Sie ist das Zugleich von Ganzheit und Gesamtheit, welches Zugleich ich Allgemeinheit nenne. In ihr verlieren Vielheit und Einheit ihr jeweiliges Primat voreinander, denn sie sind zugleich einander untergeordnet und übergeordnet. In der Allgemeinheit gibt es keine Hierarchie mehr.«
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Das Leben suchst du, suchst und es quillt und glänzt 21212122121 Der erste Vers ist, entgegen der rein syntaktischen Einteilung durch das Interpunktionszeichen, in drei Kola gegliedert, von denen das zweite Kolon auch metrisch das Zentrum des Verses bildet. Letzteres ergibt sich durch eine noch näher zu bestimmende Sprechpause nach der Wiederholung des Wortes »suchst«, da der nachfolgende Teilsatz (und es […] dir.) als eigenständiger Hauptsatz gelesen werden kann. Als einsilbiges Kolon fällt »suchst« mit der dritten betonten Silbe des Verses zusammen und ist dadurch von je fünf Silben – genauer: von je drei unbetonten und zwei betonten Silben – umschlossen. Die Interpretation hat daher der Frage nachzugehen, ob das poetische Sprechen durch diese ›Spiegelachse‹ eine Veränderung erfährt und wie sich die beiden äußeren Verspartien zueinander verhalten.⁸² Das Leben […] Der Vers beginnt mit »Das Leben«. Infolge des bestimmten Artikels erwartet man entweder ein implizites Wissen um das Abstraktum ›Leben‹, oder – dies liegt in diesem Fall näher – die Rede eröffnet einen Erwartungshorizont, der eine zu diesem Zeitpunkt noch unklare Bestimmung einfordert. Ungeachtet einer Entscheidung darüber ist es befremdlich, daß das Abstraktum mit einem bestimmten Artikel versehen ist: Das Paradoxale besteht darin, daß das Allgemeine des ›Lebens‹ jeder Konkretion entgegensteht. Der Artikel nennt das Leben aber als ein Bestimmtes unter anderen. Bei dieser Spannung handelt es sich nicht um die Verlegenheit des Sprechers, einen Einstieg in seine Rede zu finden.⁸³ Der
82 Darüber hinaus liegt das Augenmerk besonders auf der durch die Metrik evozierten sprachlichen Einheit, die sich durch die Kontraktion des Amphibrachys des ersten und des Kretikus des vierten Taktes ergibt. Wie bereits in der allgemeinen metrischen Analyse der Strophe erläutert, wird das thematische Zentrum des Verses in Form der Gegenüberstellung von Jambus und Daktylus von den äußeren Takten in einen Rahmen gesetzt, der seinerseits einen syntaktisch vollständigen Satz mit einem eigenen semantischen Gehalt darstellt: »Das Leben […] quillt und glänzt«. 83 Daß Hölderlin präzise auf die Setzung von Artikeln reflektiert, zeigt sich nicht nur in Seyn Urtheil Möglichkeit, wenn dort die Äußerungen zu ›Seyn‹ in Analogie zu Hegels Abschnitt »Seyn«
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Anfang der Ode exponiert vielmehr eine Spannung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit,⁸⁴ die im weiteren Verlauf zu beachten ist. Das Wort ›Leben‹ steht etymologisch dem Verb ›bleiben‹ im Sinne des ›Fortbestehens‹ nahe.⁸⁵ Für Adelung kommt zudem die Bedeutung einer »ständigen Bewegung«⁸⁶ hinzu, die der im ›Bleiben‹ implizierten Fixierung der Bewegung gegenübersteht. Nach Adelung lassen sich diese Gegensätze in der Bedeutung eines »Zustandes« vereinen, der »das Vermögen hat, eigene Veränderungen hervor zu bringen, und dessen Fortdauer«⁸⁷. Wie sich zeigen wird, nimmt Hölderlin zwar diese semantische Ambivalenz des Wortes ›Leben‹ auf, unterstellt sie aber nicht etwa der Bedeutung einer »Daseinsform von Menschen, Tieren und Pflanzen vom Entstehen bis zum Tod«⁸⁸, was eine Existenz innerhalb der Zeit im Sinne einer individuellen Lebensdauer definieren würde. Vielmehr zielt Hölderlin mit dem ersten Vers auf die ›Idee des Lebens überhaupt‹⁸⁹, d.h. auf das
in der Wissenschaft der Logik mit dem notwendigen Verzicht auf eine Bestimmung durch einen Artikel ihren Anfang nehmen. 84 Diese Spannung zeigt sich auch in der Metrik: ›Leben‹ (1 2) ist das einzige Wort im ersten Vers, das zwei Silben besitzt und damit die Relation von Betonung und Nicht-Betonung an sich ausdrückt. 85 Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von Elmar Seebold, 23. erweiterte Auflage, Berlin, New York 1999, S. 509. 86 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1954. 87 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1954. Es ist an dieser Stelle zu überlegen, ob der Begriff ›Zustand‹ überhaupt für eine Definition des Abstraktums ›Leben‹ legitim zu verwenden ist. Ein ›Zustand‹ ist etymologisch ein Zum-›Stand‹Gebrachtes (vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 917) und bezieht sich so auf eine (augenblickliche) Beschaffenheit zu einem bestimmten Zeitpunkt, die eine Veränderung erfahren kann (vgl. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, 10., überarbeitete und erweiterte Auflage von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, S. 1216a). Doch dies würde dem Begriff eines nicht auf ein Individuum beschränkten ›Lebens‹ die Grundlage entziehen. Ein Zustand kann nur relativ zu anderen Zuständen gesehen werden, die als einer möglichen Veränderung unterworfen wiederum nur Seiendem zugesprochen werden können. Das Abstraktum ›Tod‹ als Antonym zu ›Leben‹ impliziert die Nicht-Existenz, das Nicht-Sein und schließt durch die Abwesenheit von Raum und Zeit die Möglichkeit von Veränderung in der Zeit aus. 88 Gerhard Wahrig, dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache, München 1978, S. 496. 89 Vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 307: »Eben dadurch, durch dieses hyperbolische Verfahren, nach welchem das Idealische, harmonisch Entgegengesetzte und Verbundene, nicht bloß als dieses, als schönes Leben, sondern auch als Leben überhaupt betrachtet, also auch als eines andern Zustandes fähig betrachtet wird, und zwar nicht eines andern harmonischentgegengesetzten, sondern eines geradentgegengesetzten, eines Äußersten, so daß dieser neue Zustand mit dem vorigen nur vergleichbar ist durch die Idee des Lebens überhaupt«.
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Lebensprinzip bzw. den allgemeinen Grund der Existenz, der sich im Verlauf des Verses explizieren wird. Das Leben suchst […] Mit dem Prädikat erfährt das Leben eine nähere Bestimmung. ›Leben‹ wird durch ›suchen‹ grammatisch zum direkten Objekt des ersten Kolons und bildet »das Ziel des im Verb ausgedrückten Vorgangs«⁹⁰. Das Verb ›suchen‹ setzt grundsätzlich das Wissen des Gesuchten als eines Konkreten voraus.⁹¹ Durch seine etymologische Verwandtschaft zum lateinischen quaerere rückt es in die Nähe des Verbs ›fragen‹.⁹² Darin drückt sich nicht nur eine Entsprechung in der Art und Weise der mit Anfang und Ziel begrenzten Bewegung aus, sondern auch die Angewiesenheit der Suchbewegung auf das Gesuchte: Das Objekt muß trotz seiner Unbestimmtheit bereits zu Beginn des Fragens und Suchens in den Blick genommen werden.⁹³ Das ›Suchen‹ thematisiert das eigentlich ›unmögliche‹ Sprechen am Anfang, sofern es bestimmt und unbestimmt zugleich sein muß. Das, was man sucht und nach dem man fragt, sei es auch abstrakt, muß bereits bekannt und damit gewissermaßen bestimmt sein. Darin liegt der Unterschied zum Forschen, das auf ein Unbekanntes und völlig Unbestimmtes ausgeht und mit der Gefahr verbunden ist, ergebnislos zu bleiben. Das Gesuchte bzw. Gefragte ist jedoch nicht nur passiv gegenüber einer rein aktiven Suchbewegung des Du: Das Suchen ist darauf angewiesen, daß sich das Gesuchte ihm zuspricht. Das Gesuchte wird erst durch sein Sich-Verhalten zum Suchenden erkennbar, indem es sich aus dem Bereich des Begreifbaren in die Abwesenheit stellt und so als das Entzogene zum Movens der Suche wird.⁹⁴ Was
90 Metzler-Lexikon Sprache, hg. von Helmut Glück, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 2000, S. 488. 91 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 494: »etwas, dessen Ort unbekannt ist, zu finden oder zu entdecken sich bemühen«. 92 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 12., unveränderte Ausgabe, Tübingen 1972, S. 5: »Jedes Fragen ist ein Suchen. […] Fragen ist erkennendes Suchen des Seienden in seinem Daß- und Sosein.« 93 Hierin spiegelt sich auch die von Adelung angeführte Bedeutung des Suchens als ›intensives Sehen‹ wieder: »etwas, […] zu entdecken sich bemühen, besonders so fern es durch hin und her sehen geschiehet, so, daß es als ein Intensivum von sehen betrachtet werden kann« (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 494). 94 Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 135: »Was sich entzieht, kann den Menschen wesentlicher angehen und inniger in den Anspruch nehmen als jegliches Anwesende, das ihn trifft und betrifft. […] Was sich uns in der genannten Weise entzieht, zieht zwar von uns weg. Aber es zieht uns dabei gerade mit und zieht uns auf seine
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ist also das Gesuchte des ersten Verses? Was ist »Das Leben«, das durch den bestimmten Artikel konkret vorgestellt wird, sich aber bei näherer Betrachtung zum Abstraktum zurückzieht und von allem Sinnlich-Gegenständlichen löst? Bezüglich des ersten Kolons kann hier von einem syntaktischen ›Vorangehen‹ des Lebens gesprochen werden: Durch die Inversion rückt das Objekt ›Leben‹ als Entzogenes an die erste Stelle des Satzes und bildet somit auch den Ausgang der sprachlich realisierten Suchbewegung des Du. Die semantischen Nähe des Verbs ›suchen‹ zu quaerere enthält neben dem Moment des Fragens auch das Bewußtsein eines Mangels, das die Suchbewegung initiiert. Daraus ergibt sich, daß quaerere das Bemühen bezeichnet, etwas zu erlangen, ein telos zu erreichen.⁹⁵ Darin besteht auch die semantische Beziehung zum lateinischen consectari: dem ›Eifer‹ der Suche.⁹⁶ Das Lebens suchst du, […] Das erste Kolon wird mit dem Wort »du« schließlich durch das (vorläufige) Subjekt des Satzes abgeschlossen. Diese Komplettierung der Inversion setzt den Akzent des Sprechens nun auf den Angeredeten und lässt, wenn auch indirekt, das lyrische Ich zum ersten Mal in Erscheinung treten.⁹⁷ Als ›wahrnehmbares Echo‹ des Du wird das poetische Ich als ein Sich-Entgegensetzendes manifest.⁹⁸
Weise an. […] Was sich entzieht, west an, nämlich in der Weise, daß es uns anzieht, ob wir es sogleich oder überhaupt merken oder gar nicht. Was uns anzieht, hat schon Ankunft gewährt. Wenn wir in das Ziehen des Entzugs gelangen, sind wir auf dem Zug zu dem, was uns anzieht, indem es sich entzieht.« 95 Vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 2253. 96 Vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 2253. 97 Daß Hölderlin die syntaktische Form der Inversion gezielt verwendet, wird deutlich, wenn man sich den ersten Vers der Textstufe I betrachtet, in der Hölderlin die syntaktische Ordnung Subjekt–Prädikat–Objekt des Versanfangs bereits im ersten Überarbeitungsschritt aufgibt (v. 1: Du suchst das → 2In den Flammen suchst du das). Die Akzentuierung des Objekts und die ent1 scheidende Umwendung der Syntax vollzieht sich jedoch erst in Textstufe II (v. 1: 3Das Leben such[e]st du); vgl. Transkription, S. 31. 98 Genau genommen wird auch erst mit dem »du« der erste Wort-Akzent der Ode gesetzt, wenn man unter der Betonung die Gegenüberstellung zu einem Unbetonten und somit das Ereignis der Ur-Teilung in antithetische Prinzipien überhaupt versteht. ›Leben‹ steht zwar an der ersten Stelle, aber schon der Versuch einer Akzentuierung setzt eine klare Fixierung und Abgrenzung dessen voraus, was akzentuiert wird. Insofern ›Leben‹ aber ein Abstraktum bezeichnet, greift jede derartige Bestimmung ins Leere. Vorausschauend auf das Ende des Verses lässt sich daher die These aufstellen, daß dem Leben als einem Harmonisch-Entgegensetztem kein Extrem im Sinne einer Polarität und somit auch kein eindeutiger Akzent zugesprochen werden kann.
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Das mit der Du-Anrede eröffnete Kommunikationsverhältnis ist in die Momente des Anspruchs und des Zuspruchs zu unterscheiden. Das Ich wendet sich an sein Gegenüber, was zunächst voraussetzt, daß es das Du als Person anerkennt.⁹⁹ Der erste Akt der Kommunikation, der Anpruch, ist dabei noch nicht das konkret Gesprochene, sondern geht diesem vielmehr als Grund des Sprechens voraus.¹⁰⁰ Dieser Grund repräsentiert die transzendentale Voraussetzung jeder Erkenntnis, die Fichte mit dem Begriff der ›Tathandlung‹ vorzeichnet. Erst in der Bezogenheit auf ein Gegenüber kann sich das poetische Ich überhaupt erst als das sprechende realisieren.¹⁰¹ Nach wie vor muß dabei unbestimmt bleiben, ob sich der Anspruch auf ein konkretes Du außerhalb des Ich bezieht oder ob nicht vielmehr eine autoreflexive Konstellation des Ich bzw. im Ich vorliegt. Das zweite Moment der Du-Anrede ist der Zuspruch. Über seinen konstatierenden Charakter weist der Zuspruch allein dem Du den Akt des Suchens zu und verstärkt dadurch die Differenz zum Ich. Das Präsens des Prädikats evoziert eine Präsenz des Du und damit eine unmittelbare Relation des Sprechers zu seinem Gegenüber. Wie kann man sich eine solche Präsenz vorstellen, wenn schon drei Verse später vom Tod des Angesprochenen die Rede ist? Welchen Charakter nimmt ein Dialog an, wenn einerseits die physische Absenz des Du akzeptiert werden muß, andererseits das Ich über die Sprache eine Präsenz reklamiert? Weiterhin ist zu fragen, ob das präsentische Sprechen des ersten Verses bzw. der ersten Strophe (nur) temporal aufzufassen ist oder ob die Präsenz des Du nicht vielmehr ein überzeitliches Relationsgefüge von Subjekt und Objekt zur Sprache bringt. Diese These ließe sich nicht zuletzt durch das Objekt der Suche (›Leben‹) stützen, das – als Prinzip verstanden – einen entsprechend vor- bzw. überzeitlichen Grund der Existenz darstellt. Es gilt daher zu untersuchen, ob das Präsens
99 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erweiterte Auflage, Tübingen 1972, S. 341; vgl. Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 11: »Das Spezifikum des mit der ›Du‹-Anrede eröffneten kommunikativen Verhältnisses liegt darin, daß es in ihm um die Beziehung der Individuen als Personen – und zwar im emphatischen Sinne – geht. Der Anredende bezieht sich auf das Gegenüber […] nur als auf einen potentiell Entgegnenden, nicht jedoch auf irgendeine seiner Eigenschaften.« 100 Dies wird verständlich, wenn man Gadamers allgemeine Überlegungen zum Begriff des ›Anspruchs‹ auf die Dimension der Sprechhandlung überträgt: »Offenbar enthält der Begriff des Anspruchs aber, daß er nicht selber eine festgelegte Forderung ist, deren Erfüllung eindeutig vereinbart ist, sondern vielmehr eine solche begründet« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 120). 101 Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 341 f.: »Solche Selbstbezüglichkeit entspringt dem dialektischen Schein, den die Dialektik des Ich-Du-Verhältnisses mit sich führt. Das Ich-Du-Verhältnis ist kein unmittelbares, sondern ein Reflexionsverhältnis. Allem Anspruch entspricht ein Gegenanspruch.«
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die vermeintlich ›reale‹ Dialogsituation, wie sie Birkenhauer annimmt,¹⁰² nicht gerade unterläuft und eine transzendentale Ordnung der ersten Strophe konstelliert. Der Anfang des Verses enthält noch eine weitere Irritation: Wenn das Du tatsächlich als präsentischer Dialogpartner fingiert wird, der überdies eine reale Tätigkeit vollzieht, bleibt unklar, warum er überhaupt das ›Leben‹ sucht. Geht man von einer konsistenten Aussage des poetischen Ich aus, setzt man voraus, daß es sich beim Du um ein lebendiges Subjekt handelt. Die Suche nach dem Leben läßt sich daher so lesen, daß es das Leben (noch?) gar nicht besitzt, das Ich also in seiner Rede etwas voraussetzt, das dem Du nicht zukommt. Ebenso deutet die Rede möglicherweise eine Verblendung an, sofern das Du nicht erkennt, was es bereits besitzt bzw. mehr für sich reklamiert, als ihm zu besitzen möglich ist. Mit der Aussage »Das Leben suchst du« ist das Ende der Strophe sowie das Hauptmotiv der Empedokles-Thematik mit ausgesprochen: Empedokles ›sucht das Leben‹ und ›findet den Tod‹. Suchen und Finden bzw. Leben und Tod sind von Anfang an in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu sehen, was die Frage evoziert, inwieweit die vielleicht ›grundlose‹ Suche nicht schon das tragische Ende des Opfertodes bedingt. Das Leben suchst du, suchst […] Das zweite Kolon des ersten Verses (»suchst«), das die Mitte des Verses bildet, ist das einzige der Ode, das aus nur einer Silbe besteht. Es wird eingerahmt von einem vorausgehenden Komma und der bereits genannten Sprechpause. Diese Sprechpause, verstanden als ein erstes Innehalten oder ›Aufhören‹, kann als ein Ereignis innerhalb der Sprechbewegung gelesen werden – ein Ereignis, das es unmöglich macht, in der bisherigen Weise weiterzusprechen. Das Ereignis hat zweierlei zur Folge: Zum einen unterbricht es die Bewegung und bringt sie zum Stehen, zum anderen fordert es ein Verhalten des Sprechenden zu sich selbst und zwingt ihn, in einer anderen Weise fortzufahren.¹⁰³ Doch warum wird das Prädikat überhaupt wiederholt? Was geht dem Ereignis voraus bzw. was begründet es. Gilles Deleuze spricht mit Blick auf Hume davon,
102 Vgl. Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 103. 103 Letzteres gründet in dem von Reuß zurecht betonten Vers-Charakter des Sprechens, das sich stets auf das Vorangegangene – in diesem Fall ein Ereignis – bezieht; vgl. Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 101: »Das poetische Ich, wenn es überhaupt weiterzureden vermag, wird sich, so es ihm gelingt, die Rede wiederzugewinnen, zu seiner vorhergehenden Äußerung und dem Augenblick der Äußerungslosigkeit zu verhalten suchen. Erst die Umwendung – ich erinnere an die Etymologie des Wortes ›Vers‹ – ruft […] den versus-Charakter hervor.«
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daß die Wiederholung zwar nichts an dem Objekt verändert, auf das die Sprache referiert: Die Suche des Du wird keine andere, nur weil erneut auf sie hingewiesen wird. Was sich jedoch verändert, ist die psychische Disposition des Subjekts in Bezug auf das Objekt – es entsteht »etwas Neues im Geist«¹⁰⁴. Interessant ist dieser Aspekt deshalb, weil nicht klar ist, für wen diese subjektive Veränderung gilt: für das poetische Ich, das mit der Wiederholung einen Hinweis auf seine eigene Haltung gegenüber der genannten Suche gibt, oder für das Du, dessen Veränderung während und durch die Suche für das Ich offensichtlich wird und deswegen zur Sprache kommt. Dies kann nicht entschieden werden. Die Sprache versagt eine eindeutige Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, obwohl die dialogischen Situation offensichtlich ist. Hingegen ist eine Spekulation darüber möglich, welche Art von Veränderung das Subjekt(ive) erfährt und welche Wertungen damit verbunden sind. Ein wesentliches Moment der Wiederholung des Wortes ›suchst‹ ist das Unabgeschlossene der Suche und die daraus erwachsende Resignation. Man könnte mit Recht annehmen, daß sich diese Verzweiflung nur auf das Subjekt bezieht, über das gesprochen wird. Doch damit wäre der Begriff auf seine außersprachliche Referenz reduziert. Die Resignation weist aber zugleich auf das poetische Ich zurück, das im Schreiben re-signiert, d.h. seine Aussage gegenzeichnet, das gesetzte Wort bekräftigt, indem es dieses wiederholt, und damit die Aufmerksamkeit auf die Semantik von ›suchen‹ lenkt. Eine andere Lesart der resignierenden Wiederholung bedenkt die veränderte syntaktische Struktur: Da das Objekt der Suche nicht mehr genannt wird, gewinnt der reine Vorgang des Suchens an Bedeutung.¹⁰⁵ Was läßt nun die Rede stocken und wie wird diese Unterbrechung in der Sprache manifest? Gerade das Fehlen eines möglichen Interpunktionszeichens nach der Wiederholung bewahrt die Unbestimmtheit des eingetretenen Ereignisses im Spatium zwischen ›suchst‹ und ›und‹.¹⁰⁶ Das blanc zwischen den beiden
104 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, Frankfurt a. M. 1989, S. 99. 105 Auch hierin kann eine wertende Aussage des poetischen Ich gesehen werden, insofern schon sprachlich das angezeigt wird, was wenig später tatsächlich eintritt: Die Suche des Du scheitert schon deswegen, weil es das Objekt aus den Augen verliert bzw. dieses als Nicht-Gegenständliches und Unkonkretes nicht im Blick halten kann. 106 Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 44: »Die Semiotisierung der Wahrnehmung unterschlägt mithin gerade jene extremen Momente, die im ›Durchriß‹ durch die Konstruktion der Gestalten und Zeichen auf einen Punkt weisen, der nicht mehr Wahrnehmung ›von etwas‹ ist«.
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Worten zeigt ein »Tabu des Nennens«¹⁰⁷, das zugleich dessen Unmöglichkeit impliziert.¹⁰⁸ Neben der zentralen metrischen Stellung kommt dem zweiten »suchst« auch syntaktisch die Rolle einer Spiegelachse zu, wodurch die genannte Veränderung des Sprechens sichtbar wird. Die inversive Struktur des ersten Kolons (›Objekt– Prädikat–Subjekt‹) kehrt sich im dritten Kolon um: »es quillt und glänzt« (›Subjekt–Prädikat‹). Der metrisch und syntaktisch markierte Ordnungswechsel beruht auf dem Ereignis, das sich – graphisch unmarkiert – jeder Benennung entzieht. Wenn der Verlauf des Verses bis zum wiederholten Auftreten des Wortes ›suchst‹ eine – nicht nur syntaktische – Fortführung der Rede erwarten läßt, so ist es erst das in den regelmäßigen Fortgang der Sprech- und Suchbewegung tretende Ereignis, das dazu führt, daß die bestehende Ordnung »durchbrochen, unterhöhlt, und durch eine neue Ordnung ersetzt wird«¹⁰⁹.
107 Brigitte Haberer, Sprechen, Schweigen, Schauen. Rede und Blick in Hölderlins ›Der Tod des Empedokles‹ und ›Hyperion‹, Bonn, Berlin 1991, S. 136. 108 Zum Ereignisbegriff vgl. Mersch, Ereignis und Aura, S. 43: »Unmittelbar taucht ein Riß inmitten der Wahrnehmung wie ein ›Einschlag‹ auf: ›Unterbrochener Kontakt, die Dunkelphase, die Pause: die Fremdheit‹. Freigelegt werden so die Wegbahnen einer Gewahrung, die sich dem öffnet, was nicht gesagt oder repräsentiert werden kann, was in Erscheinung tritt, wo die Sprache schweigt.«; vgl. weiterhin Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 60: »Es [die Sprechpausen] sind Löcher des Nicht-Sinns, […] ein Schweigen, das nicht [nur!] darin besteht, daß etwas nicht gesagt oder getan, verschwiegen oder unterlassen wird, sondern [auch!] darin, daß das Sinnereignis selbst sich der sprachlichen oder praktischen Bewältigung entzieht« (Einf. v. ME). Die Einfügungen sind gegen die von Waldenfels unternommene Reduzierung der Unbestimmtheitsstellen auf das Entziehen des Ereignisses gesetzt und sollen das von ihm negierte Verhalten zum Ereignis restituieren. Dem Schweigen ist wesentlich, daß das Objektive, d.h. das Entzogene, erst durch die subjektive Erfahrung der Unmöglichkeit des (Er-)Fassens als solches in Erscheinung tritt. Die Interpretation muß sich davor hüten, den erfahrenen Bruch der syntaktischen und semantischen Kontinuität, d.h. die in und durch die Auslegung entstandene Differenz, einem vereinigenden tertium zu überantworten (vgl. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 66: »Klüfte verlocken zu Brückenbauten«). In Bezug auf das Ereignis ist die Entzogenheit das Spezifische, das eine begriffliche Einordnung in ein vorgeformtes Verstehens-Gefüge untersagt. Die Unmöglichkeit des Nennens des Ereignisses resultiert schließlich auch – im Sinne Derridas – aus dessen ›Singularität‹. Jeder Versuch einer (konkreten) Aussage über das Ereignis, jede »Mitteilung von Wissen über das Ereignis [… muss] die Singularität des Ereignisses in gewisser Weise immer schon [verfehlen …] – durch die einfache Tatsache, daß das Sprechen zu spät kommt und die Singularität in die Generalität verliert« (Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 21). 109 Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 35. Die Wiederholung von »suchst« reduziert sich so nicht auf die Erzeugung einer Spiegelachse, sondern weist darüber hinaus auf
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In Rückbezug auf das erste Kolon kommt der Wiederholung von ›suchst‹ letztlich auch der Charakter einer Komprimierung des Versbeginns (»Das Leben suchst du«) zu. Ausgehend von der Valenztheorie der generativen Grammatik selegiert das grammatische Prädikat »suchst« die Aktanten »du« und die im Akkusativ stehende Wortgruppe »Das Leben« als affiziertes Objekt. Die Rede des ersten Kolons verdichtet sich somit in einem Wort, das zwischen dem ersten und dritten Kolon vermittelt. Die weitere Interpretation muß prüfen, inwieweit diese grammatische Verdichtung nicht auch Subjekt und Objekt betrifft, wodurch die beschriebene Suchbewegung des Du dem heroischen Streben gleichzusetzen wäre, das danach trachtet, die Gegensätze in einem ›Einzelnen‹ aufzuheben. Der Versuch, die Gegensätze im Subjekt aufzuheben, und das Scheitern dieses Versuchs sind so bereits durch ein Wort ausgedrückt: »suchst« vereinigt zwar die Gegensätze von Subjekt und Objekt in sich, markiert aber nicht den Abschluß der syntaktischen Bewegung. Erst am Versende ist ein erster Ruhepunkt erreicht. […] und es quillt und glänzt Die Analyse des dritten Kolons muß darauf achten, wie sich die Rede über die syntaktische Ordnung hinaus verändert. Den Anfang des Kolons bildet die Konjunktion »und«, die in vier Funktionen unterschieden werden kann. Als erstes kann ›und‹ konsekutiv bzw. konklusiv aufgefaßt werden. Die sprachliche Einheit »es quillt und glänzt« ist dann die erwartbare Folge der vorangehenden Aussage: Das dritte Kolon expliziert die Rede von der Suche weiter. In enger Beziehung dazu steht das »und« in seiner kausalen Bedeutung, so daß die Aussage des dritten Kolons als Resultat einer zuvor genannten Ursache zu verstehen ist: Nur weil sich das Du in der genannten Suchbewegung befindet, »quillt und glänzt« ›es‹. In ihrer dritten, temporalen bzw. iteralen Bedeutung eröffnet die Konjunktion eine Lesart, die sich an der ausgedrückten Zeitstruktur des Verses orientiert und das bereits erwähnte präsentische Sprechen näher bestimmt: In dem Augenblick, in dem das Du die Suche unternimmt, »quillt und glänzt« ›es‹. Die letzte Deutung des »und« hätte eine Gleichordnung der ersten und zweiten Vershälfte zur Folge: Daß nach dem Leben gesucht wird, ist völlig unabhängig von der Tatsache, daß »es quillt und glänzt«. Doch auch im letzten Fall verbürgt die Einheit des Verses eine Beziehung der beiden Teile. Das materiell Ausgesagte wird in seiner Form reflektiert und erhält dadurch einen eigenen Aussagewert.
eine zeitliche Dimension der (Such-)Bewegung hin, eine horizontale Erstreckung des Fortschreitens. Allein dadurch evoziert der Versbeginn die Erwartung einer chronologischen Gleichförmigkeit, die das Ereignis vertikal durchstößt.
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Für das methodische Vorgehen der Interpretation ist es entscheidend, daß keiner Lesart des »und« ein Vorzug zu geben ist.¹¹⁰ Erst durch den Verzicht auf eine dominante Lesart wird die gewünschte Offenheit gegenüber der semantischen Polyvalenz sprachlicher Einheiten erreicht.¹¹¹ Um diesem methodischen Anspruch gerecht zu werden, muß die Funktion der Versgrenze und ihr semantischer Wert beachtet werden. Alle Bemühungen um einen Nachvollzug der Sprachbewegung gründen bisher darin, den ersten Vers trotz des syntaktischen Übergangs von v. 1 in v. 2 als eine abgeschlossene sprachliche Einheit aufzufassen. Dies lässt sich zunächst anhand der Etymologie des Wortes ›Vers‹ rechtfertigen, das als Abstraktum des lateinischen vertere die Umwendung bzw. den Rückund Selbstbezug der im Vers getroffenen Aussage, d.h. das stete »Sichorientieren am Vorangegangenen«¹¹² ausdrückt.¹¹³ Gerade im ersten Vers der Ode lässt sich zeigen, daß wesentliche Momente des semantischen Spektrums des poetischen Sprechens erst durch die Versgrenze sichtbar werden und nicht dem Dogma einer syntaktischen Einheit geopfert werden dürfen.¹¹⁴ Gleichzeitig ist die durch die
110 Vgl. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, S. 150: »Man kann einen solchen Satz auf verschiedene Weise ›lesen‹ und dadurch jeweils einen anderen (dann schon eindeutigen) Satz bekommen; aber weder die einzelnen Worte noch die Satzkonstruktion berechtigen uns, irgendeine von diesen Lesarten zu bevorzugen. Der vieldeutige Satz ist aber auch nicht mit der Mannigfaltigkeit der durch ›Interpretation‹ gewonnenen eindeutigen Sätze zu identifizieren. Es ist gerade das Charakteristische der vieldeutigen Sätze, daß sie eine Mehrheit von ›Interpretationen‹ zulassen, ohne irgendeine von ihnen entschieden auszuschließen oder zu bevorzugen.« 111 Vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt a. M. 2000, S. 87: »Durch syntaktische Unentscheidbarkeiten wird die hermeneutische Dimension nicht verlassen, allenfalls die polyseme Dichte hermeneutisch verdichtet. Hermeneutisches Verstehen [wird] nicht in Frage gestellt, vielmehr [… entdeckt] es verschiedene Verstehensmöglichkeiten von Sätzen […]. Auch die Tatsache, daß man die so entdeckten Sätze möglicherweise nicht gleichzeitig affirmieren kann, weil sie sich ausschließen, tut dem jeweiligen hermeneutischen Verstehensprozeß keinen Abbruch, öffnet der klassischen Polysemie-Hermeneutik vielmehr Tür und Tor.« 112 Küper, Sprache und Metrum, S. 70; vgl. weiterhin Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 53: »[A]n jeder gesetzten Versgrenze [wird …] das in dem betreffenden Vers materialiter Ausgesprochene zu seiner Einheit reflektiert«. 113 Vgl. Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 70: »Wenn eine Zeile auf-hört, bedeutet dies nicht notwendig zugleich, daß nach ihr weitere Äußerungen möglich werden können. Gerade moderne Dichtung zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Möglichkeit eines endlichen Verstummens am Ende der Zeile ernst nimmt.« 114 Vgl. Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 72: »Als Regel nicht allein für die Rezitation, sondern vor allem für die Interpretation könnte darum gelten, bei Differenz von Versgrenze und Satzeinschnitt den Vers, und nicht, wie gang und gäbe, das Joch der Syntax stark zu machen und über die Versgrenze, als sei sie nicht, hinwegzulesen.«
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Versgrenze erzeugte Semantik nicht auf die Reflexion des Verses in sich zu reduzieren. Die Versgrenze ist im Gegensatz zum Zeilenende auch die Schwelle zum darauffolgenden Vers, der seinerseits rückbezüglich ist. Die reflexive Bewegung beschränkt sich daher nicht auf den einzelnen Vers, sondern schließt das unmittelbar Vorangehende mit ein.¹¹⁵ Das Wort »es« scheint in Reflexion auf das zuvor Ausgesagte zunächst nur ein anaphorisches Pronomen zu sein. Durch die Referenz auf »Leben« zu Beginn des Verses wird das Verszentrum mit dem Wort »suchst« genauer bestimmt. Es leistet als Spiegelachse der Inversion des ersten Kolons die genannte Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, das aber nicht auf die syntaktische Dimension beschränkt bleibt. Zusätzlich ereignet sich ein Umschlagen der vermeintlichen Passivität des Gesuchten in eine Aktivität. Das ›Agens‹ »Leben« darf dabei jedoch nicht in bloßer Abhängigkeit gedacht werden. Gerade weil das Gesuchte – ganz im Sinne Heideggers – immer das Entzogene bleibt, ist es grundsätzlich unabhängig von jeder Suchbewegung. So wird zudem das »und« näher bestimmt, das infolge der Gleichordnung der Kola auch eine Indifferenz des »Lebens« gegenüber dem Du anzeigen kann. Neben dieser Lesart, die eine Koreferenz der pronominalen und nominalen Satzkonstituenten voraussetzt, ist es ebenso möglich, die Funktion des »es« als nur referentiellen Substituenten des ›Satzgegenstandes‹ zu relativieren. Das »es« ist dann eine abstrakte Entität, die sich erst durch den Prädikat-Komplex »quillt und glänzt« aktualisiert. Als ›Zustandsträger‹, der sich trotz seiner Attribute nicht eindeutig identifizieren läßt, behauptet das »es« – nun in Analogie zu »Leben« – eine gewisse Autonomie.¹¹⁶ Außerdem begründet die attributive Prädikation von ›quillen‹ und ›glänzen‹ die mögliche Verfehlung des Du: Das Du findet lediglich die Akzidenzien des Gesuchten, ohne die zugrundeliegende Substanz zu erkennen.
115 Vgl. Küper, Sprache und Metrum, S. 70: »Der Vers ist also kein vereinzelbares Phänomen, sondern er verlangt [auch] die permanente Rückwendung zum vorherigen Vers, mit dem er in einer Äquivalenzbeziehung steht, und damit ist er ein Prototyp von kodifiziertem poetischen Parallelismus.« 116 Zum Charakter des ›Unnennbaren‹ bzw. der Wirkung des ›Geheimnisvollen und Unheimlichen‹ des »es« vgl. Karl Brugmann, Ursprung des Scheinsubjekts ›es‹ in den germanischen und den romanischen Sprachen, Leipzig 1917, S. 11: »Diese Wirkung geht nicht von einer positiven Bedeutung des es aus, kraft deren es auf ein hinter dem Verbalbegriff steckendes rätselhaftes Satzsubjekt hinwiese. Sie beruht vielmehr darauf, daß im Gegenteil durch das es dem Verbum, bei dessen Nennung man sich gewöhnlich zugleich einen Vollzieher der Handlung vorstellt und daher unwillkürlich nach einem solchen Subjekt sucht, diese Vorstellung völlig entzogen wird.«
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Die dritte Lesart begreift das »es« nur als ›grammatische Angabe‹, die jegliche Subjekt-Funktion einbüßt. Da sich die Bedeutung des »es« erst aus der Wortstellung im gesamten Satz ergibt, weist es über die Versgrenze hinaus und stellt so eine erste Verbindung zum zweiten Vers her. Die weitere Interpretation muß prüfen, ob das so verstandene »es« eine Verbindung von »Leben« und »Feuer« schafft, welche Rolle der Vermittlung der beiden Prädikate »quillt und glänzt« zukommt und welche Aussage sich dadurch für das erste Verspaar ergibt. Die Aufmerksamkeit gilt jedoch zunächst der Analyse des Prädikatskomplexes am Versendes. Die beiden Prädikate »quillt« und »glänzt« sind erneut durch ein »und« zu einer eigenen sprachlichen Einheit innerhalb des dritten Kolons zusammengefasst. Entsprechend müssen nicht nur die beiden Teile der Einheit, sondern auch die einheitsstiftende Konjunktion selbst untersucht werden. Das erste Prädikat »quillt« geht auf das Verb ›quellen‹ zurück, das passiv verstanden den (Her-)Vorgang fluider Materie aus einer Quelle bezeichnet.¹¹⁷ Es ruft eine Bedeutung auf, die durch die Polysemie des Substantivs ›Quelle‹ Teil eines trinären Bedeutungsgefüges wird. Die ›Quelle‹ ist nach Adelung »das aus der Erde entspringende Wasser« und zugleich »der Ort, wo Wasser aus der Erde hervor springt«¹¹⁸. Man könnte den durch das Verb ausgedrückten Vorgang auf die ›Quelle‹ im Sinne des ›Anfangs‹ oder ›Ursprungs‹ beziehen. Doch weder die Rückbindung an »Leben« noch die Deutung des »es« als unbestimmter Entität, auf die sich das »quillt« bezieht, erlauben es, den ausgedrückten (Her-)Vorgang realgegenständlich aufzulösen. Wenn Adelung die Abstraktheit der Quelle bzw. des Quellens so fasst, daß diese »den Grund des Daseyns oder der Erkenntniß eines andern Dinges enthält« bzw. »seinen Grund in einem andern Dinge [hat], aus einem andern Dinge als seinem Grunde [herkommt]«¹¹⁹, so weist dies auf die Suche des Du zurück. Angesichts der dreifachen Bedeutung des Wortes ›Quelle‹, das nicht nur die Bewegung, sondern auch den Grund derselben umfasst, scheint eine Identifizierung von ›Quellen‹ und ›Leben‹ möglich. Das gesuchte Leben wird durch das Wort ›quellen‹ näher bestimmt. So gibt es nicht nur das Ziel der Suche vor, sondern
117 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 890: »In Gestalt einer Quelle hervor kommen, von flüssigen Körpern, mit einer wallenden oder wellenförmigen Bewegung aus einem Orte entspringen.« 118 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 889; vgl. weiterhin Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 267. 119 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 890. Reuß verweist in diesem Zusammenhang auf den an sich schon metaphorischen Charakter der Rede von der Quelle, die eine »vergegenständlichende Auffassung« transzendiert (Reuß, »… / Die eigene Rede des andern«, S. 266 f.).
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nennt auch den ›Grund‹ der (Such-)Bewegung: Das »Leben« als Ursprung für das »zielsuchende Vorwärtsdrängen, das urtümlich geistige Begreifen, ein SichEntwerfen auf einen Bereich, der bildhaft als ›Quell-Sphäre‹ anzusprechen«¹²⁰ ist. Diese Deutung legitimiert sich im Hinblick auf den Grund zum Empedokles und die darin beschriebene transzendentale Denkbewegung: Die Erfahrung des ›reinen Lebens‹¹²¹ stellt sich erst durch das Verlassen dieses Zustandes ein.¹²² Auch das zweite Prädikat »glänzt« tritt in zweifacher Bedeutung auf. Die Paraphrase »Glanz von sich geben«¹²³ bezeichnet einerseits das Glänzen eines Gegenstandes aus sich heraus, andererseits die Erscheinung dessen, was auf einen Gegenstand trifft und von diesem reflektiert wird.¹²⁴ Hier genügt es jedoch
120 Reinhold Wisser, Vom innersten des deutschen romantischen Geist. In: Studi in onore di M. F. Sciacca, hg. von Maria Teresa Antonelli und Michele Schiavone, Mailand 1959, S. 228–245, hier S. 246. Das Moment der notwendigen Bewegung aus der Quelle heraus und zugleich von der Quelle weg findet sich auch in den von Beißner genannten Versen in der Handschrift der Elegie Brod und Wein (Friedrich Beißner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 1933, S. 147): »nemlich zu Hauss ist der Geist / Nicht am Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimath« (Hölderlin, FHA VI, S. 233); vgl. hierzu auch Michael Franz, Hölderlins philosophische Arbeit in Homburg v. d. H. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, Stuttgart 1981, S. 118–130, hier S. 129 f. Heidegger spricht diesbezüglich davon, daß es die Quelle selbst ist, die die Suchbewegung initiiert: »An das Heimische gekehrt und in ihm Heimat wollend, wird der Geist am Beginn von der Heimat verstoßen und in ein vergeblicheres Suchen hineingestoßen« (Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a. M. 1996, S. 92). 121 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 870. Das Verhältnis von Erfahrung und wegstrebender Bewegung rückt in die Nähe einer Tautologie, wenn man die Erfahrung als Bewegung, d.h. als ›ErFahrung‹ im Sinne Heideggers versteht (vgl. Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 224). Durch das Präfix er-, das den »Anfang einer Handlung« (Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 227) bezeichnet, ist die Erfahrung selbst eine Form der Bewegung, ist Aus-Fahrt und Aus-Gang. 122 An dieser Stelle lässt sich eine wesentliche Parallele zu Hegels Postulat in der Wissenschaft der Logik erkennen. Die Bewegung aus dem Anfang, so Hegel, ist als eine Bewegung zum Anfang hin anzusehen, durch die der Anfang erst als solcher wahrhaft erkannt wird: »Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist, […] daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt, und in der That hervorgebracht wird. […] Der Fortgang ferner von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zu Grunde liegen bleibt, und nicht daraus verschwindet« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I. Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1979, S. 70). 123 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 694. 124 Vgl. Joseph Kehrein, Onomatisches Wörterbuch – zugleich ein Beitrag zu einem auf die Sprache der klassischen Schriftsteller gegründeten Wörterbuch der neuhochdeutschen Sprache. Nachdruck der Ausgabe Wiesbaden 1863, Hildesheim, New York 1974, S. 185: »Glanz, […] volles, in hohem Grade ausströmendes oder zurückgeworfenes Licht.«
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Interpretation
nicht, die Bestimmung des Wortes »glänzen« allein auf die in einschlägigen Wörterbüchern verzeichnete Lexik zu gründen, da das Bedeutungsspektrum, das Hölderlin eröffnet, erst im Kontext seines Gesamtwerkes sichtbar wird. Auch wenn es hier nicht darum gehen kann, eine differenzierte Wortfeldanalyse durchzuführen, so möchte ich doch auf drei Bedeutungsfelder des Wortes »glänzen« bzw. »Glanz« eingehen. Zunächst wird ›glänzen‹ von Hölderlin zur Benennung besonderer Lichterscheinungen verwendet, die sich qualitativ unterscheiden und deren Spezifik zumeist erst in Rückbezug auf die entsprechenden lateinischen Begriffe erkannt werden kann.¹²⁵ So ist einmal von Glanz als fulgor die Rede, also einem blitzenden, feurigen, stark blendenden Licht,¹²⁶ das sich von nitor, einem gleißenden, milden Glanz – etwa dem der Sonne¹²⁷ – unterscheidet. Außerdem verwendet Hölderlin das Wort ›glänzen‹ in der Bedeutung von claritas, der Helligkeit und des hellen Glanzes, der gleichsam den Bezug zum Licht als Symbol des Erkennens eröffnet.¹²⁸ Mit der zweiten Bedeutung von ›glänzen‹ wird das Göttliche, die Höhe bzw. der Himmel attribuiert und damit deren Entzogenheit und Unerreichbarkeit betont.¹²⁹ Dem schließt sich die dritte Bedeutung von ›glänzen‹ an, die die Vollendung einer Bewegung, das Erreichen eines Ziels oder die Stetigkeit und Unveränderlichkeit eines vollkommenen Zustandes zum Ausdruck bringt.¹³⁰ Diese Bedeutungsdimension wird durch den Prädikatskomplex »quillt und glänzt«
125 Die folgenden Übersetzungen der Worte »glänzen« bzw. »Glanz« gründen auf Georges’ Ausführlichem lateinisch-deutschen Handwörterbuch. 126 Vgl. »Und wie im Aug ein Feuer dem Manne glänzt« (Hölderlin, FHA VIII, S. 558); »Und der Smaragd, wie blendend er glänzt« (Hölderlin, FHA I, S. 309). 127 Vgl. »Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde« (Hölderlin, FHA IX, S. 214); »So glänzt darob des schönen Sommers Sonne« (Hölderlin, FHA IX, S. 178); vgl. dazu Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 694: »Glänzende Lufterscheinungen, in engerer Bedeutung, welche zwar glänzen, aber nicht brennen, zum Unterschiede von den feurigen.« 128 Vgl. »je glänzender und wirklicher und sichtbarer in ihm das Rätsel aufgelöst erscheint, um so notwendiger wird sein Untergang« (Hölderlin, FHA XIII, S. 874); »In frischer Klarheit glänzten wir und die Welt« (Hölderlin, FHA XI, S. 675). 129 Vgl. »Ruhig glänzen indes die silbernen Höhen darüber« (Hölderlin, FHA VI, S. 317); »Das Feld ist kahl, auf ferner Höhe glänzet« (Hölderlin, FHA IX, S. 170); »Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen« (Hölderlin, FHA IX, S. 162); »Aus Höhen glänzt der Tag, des Abends Leben« (Hölderlin, FHA IX, S. 222); »Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet« (Hölderlin, FHA IX, S. 226); »Glänzende Götterlüfte / Rühren euch leicht« (Hölderlin, FHA V, S. 401). 130 Vgl. »und du / Ruhst und glänzest in deiner / Schöne wieder« (Hölderlin, FHA V, S. 544); »sollt ich welken, wenn du glänzest? sollte mir das Herz ermatten, wenn die Siegslust dir in allen Sehnen erwacht?« (Hölderlin, FHA XI, S. 717). Zur Parallelbestimmung der Sonne als stetige, »sieghaft-
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angesprochen. In mehreren Texten Hölderlins wird die Bewegung des Quellens dem Glänzen gegenüberstellt.¹³¹ Die Kombination der Prädikate »quillt« und »glänzt« erfordert nicht zuletzt deshalb besondere Beachtung, weil Hölderlin sie erst im Zug einer Änderung setzt.¹³² Der Versuch, den semantischen Wert des Prädikatskomplexes wegen des Wortes »und« rein satzsemantisch zu klassifizieren, greift nicht weit genug. Die Konjunktion drückt nicht nur eine Hinzufügung, Ergänzung oder Summierung aus. Die Verbindung von »quillt« und »glänzt« durchbricht diese bekannten Relationen, da die Verben sich in gleich mehreren Bestimmungen kontradiktorisch gegenüberstehen. Ist das Quellen eine Bewegung aus der Tiefe, die (realgegenständlich betrachtet) das Zu-Tage-Treten von Wasser beschreibt, steht dem das Glänzen gegenüber, das eine Stetigkeit und Vollendung behauptet und mit einer aus der Höhe kommenden Licht- bzw. Feuererscheinung einhergeht. Das Versende formiert sich demnach zu einem Paradoxon, da dessen Teile einerseits in Differenz zueinander treten, andererseits durch das »und« zu einer Einheit zusammengeschlossen werden. In diesem Sinne ist auch das Wort »und« zu verstehen: es stellt beide Prädikate einander gegenüber und fügt sie zugleich in eine Einheit. Das »und« markiert – nicht nur graphisch – einen »Zwischenraum, durch den [die Prädikate …] zugleich voneinander getrennt und aufeinander bezogen sind«¹³³ und übersteigt damit seine rein syntaktisch-gliedernde Funktion. Es bildet auch die ›Mitte‹ der beiden Prädikate, die sie in ihrer ›unterschiedenen Innigkeit‹ hält, in der Einheit von Identität und Differenz. Diese ›unterschiedene Innigkeit‹ entsteht jedoch nicht erst auf der syntaktischen Ebene des Versendes, sondern gründet bereits in den Worten »quillt« und »glänzt«. Beide Prädikate besitzen in sich eine antonyme Polysemie, weil das Quellen die Bewegung wie auch den Grund der Bewegung, das Glänzen das aktive Aussenden und das passive Spiegeln von Licht benennt. Die bisherige Analyse
sichere« und göttliche vgl. Hans-Heinrich Schottmann, Metapher und Vergleich in der Sprache Friedrich Hölderlins, Bonn 1960, S. 33 ff. 131 Vgl. »Brunnen steigen empor und über die Hügel in reinen / Bahnen gelenkt, ereilt der Quell das glänzende Becken« (Hölderlin, FHA III, S. 236 f.); »Dann glänzt um uns und schweigt / Das ewige Gestirn, indes herauf / Der Erde Glut aus Bergestiefen quillt« (Hölderlin, FHA XIII, S. 734); »Oder des Abends, wenn ich fern ins Tal hinein geriet, zur Wiege des Quells, wo rings die dunkeln Eichhöhn mich umrauschten, […] und über den Gipfeln still die Abendwolke stand, ein glänzend Gebirg« (Hölderlin, FHA XI, S. 779 f.). 132 Vgl. FHA V 429, Textstufe II: 3und es quillt vor di , → 4[und es quillt] und glänzt (vgl. Transkription, S. 31). 133 Ute Guzzoni, Wendungen. Versuche zu einem nicht identifizierenden Denken, Freiburg, München 1982, S. 70.
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zeigt, daß der Prädikatskomplex letztlich als ein metaphorisches Sprechen zu bewerten ist, dessen Grundcharakter darin besteht, den »Konflikt zwischen Identität und Differenz«¹³⁴ zu exponieren und in sich als Einheit auszutragen. Die Gegensätzlichkeit der beiden Prädikate hat so auch Auswirkungen auf die Deutung der Textstelle. Denn erst in der Entfaltung ihrer kontradiktorischen Semantik und ihrer immanenten Widersprüchlichkeit konturieren sich die Prädikate wechselseitig: Erst durch das Glänzen aus der Höhe wird der Ursprung und die Tiefe der Quelle verständlich, erst durch die ursprüngliche Bewegung des Quillens die ruhende Vollendung des Glanzes. Trotz dieser Wechselwirkung sind ›quillen‹ und ›glänzen‹ weder quantifizierbar noch qualifizierbar. Was mit ihnen ausgedrückt wird, läßt sich nicht ›greifen‹ und folglich auch nicht ›klar und deutlich‹ bestimmen. Der Prädikatskomplex problematisiert damit die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts und kritisiert dessen Anspruch, ›das Leben‹ finden und so auf den ›Begriff‹ bringen zu wollen. Das Versende verlangt nun den Rückbezug auf das Vorangehende und insbesondere auf den Anfang des Verses, der vom Ende her neu in den Blick genommen werden muß. Wie hat sich die Rede im Verlauf verändert und damit auch die Position des Sprechers gegenüber dem Objekt der Aussage? Welche Konsequenzen hat das Versende für das im ersten Teil des Verses angesprochene Du? Die bereits in der Analyse der alkäischen Odenform genannte strukturelle Besonderheit der Empedokles-Ode im jeweils ersten Vers der drei Strophen realisiert sich auch hier. Aus der Kontraktion des Amphibrachys am Anfang und des Kretikus am Ende wird ein eigenes Satzgefüge deutlich: ›Das Leben […] quillt und glänzt‹.¹³⁵ Das Leben, im ersten Kolon das Satzobjekt, wird zum Subjekt der Aussage und zum Träger der Prädikate. Semantisch lädt sich ›Leben‹ im Zuge dieser Einlösung des zu Beginn gesetzten Erwartungshorizontes durch die paradoxale Struktur des Prädikatskomplexes auf. Das Wort »Leben« ist nun der Signifikant der bislang unbestimmt gelassenen Einheit von Identität und Differenz. Dies deckt sich mit den bereits erwähnten Ausführungen Hölderlins zur ›Idee des Lebens überhaupt‹¹³⁶
134 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 186. Der ›Konflikt‹ rückt hier in die Nähe des Heideggerschen Begriffs der ›Bestreitung des Streites‹ des ›Werkes‹, der, seiner Exklusivität bezüglich ›Welt‹ und ›Erde‹ enthoben, mutatis mutandis das Wesen des Prädikatskomplexes als Einheit von Identität und Differenz beschreibt (vgl. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 2001, S. 46 f.: »[Der Streit ist nicht,] damit das Werk den Streit in einem faden Übereinkommen zugleich niederschlage und schlichte, sondern damit der Streit ein Streit bleibe. […] Weil der Streit im Einfachen der Innigkeit zu seinem Höchsten kommt, deshalb geschieht in der Bestreitung des Streites die Einheit des Werkes«). 135 212 […] 121 136 Vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 307.
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in seiner Entwurfsschrift Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig…. Hier wird das Leben als Prinzip und ›Totalitätsbestimmung‹ verstanden und als eine in sich unterschiedene Einheit.¹³⁷ Die ›Idee des Lebens überhaupt‹ nennt dabei kein statisches Gefüge, sondern umfasst unter sich auch alle Momente seiner eigenen ›Reflexionsstruktur‹.¹³⁸ Nicht zuletzt durch das Ereignis in der Versmitte stehen sich nun zwei Versteile gegenüber, die die Rolle des angesprochenen Du unterschiedlich interpretieren. Die Frage ist, ob die Suche des Du nach dem abstrakten ›Leben‹ erfolgreich war und wie Hölderlin sprachlich auf diesen Anspruch reagiert. Die zweite Vershälfte bietet zwei Antworten an, die beide das für die Empedokles-Ode zentrale Moment der Hybris und der Selbstermächtigung thematisieren. Selbst wenn man dem Vers einen optimistischen Grundton zuspricht, bleibt die anfängliche Suche für das Du bzw. Empedokles unbefriedigt: Das Abstrakte wird notwendigerweise verfehlt, auch wenn das »es« als Pronomen für »Das Leben« kurzfristig anderes verspricht. Denn was gefunden wird, ist nicht die eine Substanz des Anfangs, sondern deren Erscheinung in ihrer Widersprüchlichkeit. Goethes Aussage folgend – was »in die Erscheinung tritt, muss sich trennen«¹³⁹ – bezeichnet das »es« eine Einheit von Identität und Differenz, die zwar auf das ›Leben‹ referieren mag, dieses aber hinter der sich öffnenden Paradoxalität seiner Momente verborgen bleibt.¹⁴⁰ Außerdem bietet das sich entziehende ›Leben‹ eine mögliche Erklärung für das Ereignis in der Versmitte: Die Such- und Schreibbewegung erreicht einen Punkt, an dem sich das Gesuchte bzw. Zu-Benennende einerseits einem Zugriff verwehrt (und so nicht gedacht oder unmittelbar ausgesprochen werden kann),
137 Vgl. Wolfgang Heise, Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin, Weimar 1988, S. 270 f.: »Es [das Leben] ist Totalitätsbestimmung, umfasst […] Harmonie und Dissonanz, Entstehen und Vergehen, Subjekt und Objekt, das universelle wie das individuelle, äußeres wie inneres Werden. [… Seine Struktur ist] die Dialektik des Einen-in-sich-Unterschiedenen, der Einheit von Harmonie und Dissonanz, der Identität des Identischen und Nichtidentischen.« 138 Vgl. Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin, Stuttgart 1975, S. 81; vgl. ebd., S. 80: »[D]as Leben ist eine reale und substanzielle Einheit, die alles umfasst, […] ist der unruhige Zusammenhang von Trennungen und Verbindungen, von Auflösungen und Vereinigungen«. 139 Johann Wolfgang Goethe, Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I–IV. 133 Bde. in 143 Tln., Weimar 1887–1919, Repr. [Tb.-Ausg.] München 1987, Abt. II, Bd. 11, S. 166. 140 Als Momente metaphorischer Rede sind ›Quellen‹ und ›Glänzen‹ nicht einfach ›inhaltliche‹ Bestimmungen des Lebens. Vielmehr wird durch die Antinomie auf eine abstrakte Struktur des Lebens bzw. des ›es‹ aufmerksam gemacht, die sich jedoch nicht auf ihre Teile reduzieren lässt. Das ist nichts anderes als ein konkret-buchstäblicher Verweis auf ein Abstrakt-Nicht-Buchstäbliches, ein Allgemein-Unbegrenztes.
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andererseits aber (im dritten Kolon) in seinen Strukturmomenten anschaulich wird. Das Leben als Ereignis ist demnach die ›reine‹, vor jedem diskursiv-denkenden Zugang liegende Innigkeit, ein Abstraktum, das sich erst in der Differenz konkretisiert. Ob das Du bzw. Empedokles diese Reflexion ebenfalls vollzieht und sich der Unmöglichkeit seiner Suche bewußt wird, bleibt fraglich. Besonders dann, wenn man die zweite Lesart des Verses stark macht, die die erste Deutung noch radikalisiert: Steht das Wort »es« nicht für das Leben und stellt es lediglich eine grammatische Angabe dar, ist die Verbindung der beiden Vershälften gekappt. Daß sich Empedokles auf der Suche nach dem Leben befindet, hat keine Auswirkungen darauf, daß das, was nicht benannt werden kann – d.h. auch nicht durch das Wort »Leben« – die ganze Zeit schon vorliegt: die nicht weiter reduzierbare Einheit von Identität und Differenz. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Du bzw. Empedokles, der dem blind gegenübersteht, was er gar nicht erst suchen müßte, sondern möglicherweise auch für das poetische Ich, das sich während des Sprechens der Unangmessenheit seiner Rede bewußt wird und sich in der zweiten Vershälfte dazu verhält.
Zur Metrik von v. 1 Das Leben suchst du, suchst und es quillt und glänzt 21212122121 Die Interpretation hatte bereits mehrfach auf die metrische Form der Rede und ihre Aussagequalität in Bezug auf das materiell Ausgesprochene hingewiesen. Dennoch ist eine detaillierte Analyse der Metrik von v. 1 notwendig, um den Eigenwert des Versschemas zu erkennen und so weitere Bedeutungsdimensionen des Gesagten freizulegen. Für den ersten Vers der Ode soll dies in starkem Rückbezug auf die allgemeinen Vorüberlegungen zur Metrik als einer Wechselwirkung von Prozeß und Struktur geschehen; dadurch wird eine methodischen Grundlage für die Analyse der folgenden Verse geschaffen. Den Überlegungen zum Abschluß einer metrischen Periode folgend¹⁴¹ müßte man den dritten Versfuß von v. 1 zunächst in zwei Teile gliedern:
141 Vgl. Die Genese der Form – Prozeß und Struktur, S. 17–20.
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Das Leben suchst du, suchst | und es quillt und glänzt 212121m22121 Diese Gliederung widerspricht aber der überlieferten alkäischen Odenstrophe. Demnach ist die metrische Reihe nicht von jambischen Versfüßen dominiert, sondern von Trochäen, die mit einem Auftakt eingeleitet werden: 2p1 2p 1 2p 1 2 2p 1 2p1 Die metrische Reihe wäre damit vor allem von fallenden Versfüßen bestimmt – der Daktylus unterbricht zwar die Regelmäßigkeit der Trochäen, doch von einer Zäsur innerhalb der Versrede infolge eines sich ändernden Metrums kann nicht gesprochen werden. Der These einer daraus resultierenden ›fließenden Bewegung‹ der alkäischen Ode, die auch an den Versgrenzen nicht halt macht und daher häufig als Gegenentwurf zur ›dialektischen‹ asklepiadeischen Odenstrophe genannt wird, wäre aber nur dann zuzustimmen, wenn man die erste Silbe als Auftakt wertet. Der erste Vers diskutiert diese Norm kritisch: Liest man die Reihe jambisch, setzt der Wechsel des Metrums nicht mit einem Daktylus als drittem, sondern mit einem Anapäst als viertem Versfuß ein. So spiegelt sich das alkäische Versmaß, wodurch eine Negativfolie zur Vorgabe entsteht. Bezeichnenderweise ist es der vierte Fuß, über dem auch die Versrede eine Änderung erfährt. Die Frage, die sich aus metrischer Perspektive und unabhängig von der Einhaltung der alkäischen Form stellt, ist, warum nicht einfach jambisch weitersprochen wird. Bis kurz vor Ende des Verses scheint diese Möglichkeit zu bestehen: Das Leben suchst du, suchst und es 21212121 Man könnte sich hier durchaus eine Fortsetzung der Rede vorstellen, die keinerlei Irritationen in die gleichmäßige Alternation der Versfüße bringen würde. Ein Akzent auf dem Wort »es« wäre schon deshalb zu erwarten, weil der Vers hier einen Subjektwechsel – vom »du« zum »es« – artikuliert, der die Rede maßgeblich bestimmt. Eine denkbare alternierende Rede könnte folgendermaßen aussehen: Das Leben suchst du, suchst und es (erscheint) 2 1 2 1 2 1 2 1 (2 1) Ist der Anapäst im ersten Vers also doch der Maßgabe der alkäischen Ode geschuldet? Fügt sich Hölderlin nur dem antiken Formgesetz? Entscheidend für
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die Beantwortung dieser Fragen ist der Prädikatskomplex »quillt und glänzt«. Die Interpretation hat die Komplexität dieses Versendes bereits herausgestellt: »quillt und glänzt« artikuliert eine Paradoxalität, da sich die beiden Prädikate in mehreren Bedeutungsdimensionen gegenüberstehen, zugleich aber ihre Zusammengehörigkeit durch das »und« behauptet wird. Auf den Anfang des Verses bezogen betont diese Konstellation die Unmöglichkeit einer ›eindeutigen‹ Aussage über das gesuchte »Leben«: Das Abstrakte ist nur vermittels einer konkreten Dualität und das jenseits des Urteils Stehende nur vermittels einer sich selbst thematisierenden Urteilsstruktur zu erfahren. Dieser Reflexionsprozeß wird in der Entwicklung der metrischen Reihe repräsentiert. Ein rein jambisches Versmaß würde auf das Wort »es« – wie zuvor auf »Leben« – einen Akzent setzen, wodurch beide in einer direkten und ›eindeutigen‹ Beziehung stünden. Das gesuchte ›Leben‹ wäre so genau dasjenige, das – in anderer Form zwar, aber doch als Einheit – auch im Konkreten wahrnehmbar wird. Hölderlins Vers subvertiert diese klare Bezugnahme in seiner Auseinandersetzung mit der alkäischen Strophenform. Der Prädikatskomplex am Versende verschiebt den Akzent eine Silbe weiter, wodurch sich ein Anapäst ergibt. Das Wort »es« wird unbetont und als Repräsentant des ›Lebens‹ durch eine Dualität ersetzt. Dieser Wechsel kommt einer Reinterpretation des Strophenmaßes über den Dialog zwischen abstrakter Vorgabe und konkreter Versrede gleich und bedeutet keine Unterwerfung unter ein tradiertes Formgesetz. Die Frage, inwieweit sich die Dualität mittelbar oder unmittelbar in der Sprache realisiert, ist am Metrum noch in anderer Weise abzulesen: »Das Leben« beschreibt einen Amphibrachys (2 1 2). Die Aussage hingegen, die die Dualität expressis verbis ausspricht, nimmt eine spiegelverkehrte Form an, einen Kretikus: »quillt und glänzt« (1 2 1). Man kann soweit gehen, die Betonungen der Versfüße als Bild für die Dualität zu lesen: Der Amphibrachys markiert mit der einen betonten Silbe die Dominanz der Einheit gegenüber einer in ihr enthaltenen Dualität der unbetonten Silben – der Kretikus hebt dagegen explizit die Dualität über die zwei Betonungen hervor und ordnet die Einheit unter. Damit wird auch eine zweite Deutung des Versmaßes möglich, die den dritten bzw. vierten Versfuß von einer anderen Seite beleuchtet. Denn auch wenn man den metrischen Bau des Verses nicht als eine Spiegelung der alkäischen Strophe versteht und trochäische Versfüße annimmt, bleibt der Verlauf der Reihe von einer Spannung in der Mitte des Verses bestimmt. Auf den Daktylus an der dritten Position muß dabei besonders geachtet werden: Wenn die allgemeinen Überlegungen zur Abgeschlossenheit einer Periode mit der dritten metrischen Einheit zutreffen, muß erklärt werden, warum nicht ein dritter Trochäus gesetzt wird, der die beiden vorangehenden affirmiert. Auch hier ist es das unbestimmte Personalpronomen, an dem sich der Bruch mit dem alternierenden Versmaß realisiert:
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Das Leben suchst du, suchst und es 21212122 Da die erwartete Hebung nicht einsetzt, wird der dritte Versfuß in seiner vorübergehenden trochäischen Form mit der unbetonten Silbe »es« modifiziert und zu einem Daktylus reinterpretiert. In das alkäische Strophenmaß ist folglich ein Wechsel eingeschrieben, der der monotonen Alternation entgegensteht und mit dem Daktylus eine Varianz enthält, die Hölderlins Vers auf der Ebene der konkreten Versrede mit einem inhaltlichen Aspekt verbindet. Die vergebliche Suche nach dem ›Leben‹ – angezeigt durch die Wiederholung des Wortes »suchst« – und der Perspektivwechsel, der auf diese Resignation folgt und zugleich einen Grund für das Verfehlen des Gesuchten ausspricht, korrespondiert auf der metrischen Ebene mit dem Wechsel zum Daktylus. Der Gleichförmigkeit trochäischer Versfüße hält das Subjekt (der Rede) ein kontrastives Metrum entgegen, das die Veränderung seiner Position verdeutlicht. Die Einsicht in die Sinnlosigkeit der monotonen Suche veranlaßt es dazu, der Silbe »es« keinen Akzent zu verleihen und damit den Trochäus rückwirkend in einen Daktylus zu transformieren. Die Analogie zwischen metrischer und sprachlicher Ebene in v. 1 zeigt, daß die Unsicherheit, ob der Wendepunkt des Verses von einem dritten Jambus, einem Trochäus oder einem Daktylus markiert wird, mit der Frage nach der Mitte zu tun hat. Die ungerade Anzahl der Silben (11) macht es unmöglich, den Vers in zwei gleich große Teile zu gliedern. Die klassische Unterteilung des Verses mit einer Zäsur vor dem Daktylus 21212p122121 orientiert sich lediglich an statischen Versfüßen, die als feste Einheiten nur in besonderer Weise kombiniert werden. So entsteht der Eindruck von katalektischen bzw. hyperkatalektischen Versfüßen, von fehlenden bzw. überschüssigen Silben am Ende der beiden Perioden: 21212p122121 Die exakte Mitte wird – auch in der Spiegelung des Verses in jambische und anapästische Versfüße – verfehlt.¹⁴²
142 Die Unmöglichkeit, die rechnerische Mitte mit einer metrischen Einheit zu markieren, resultiert zudem bereits aus dem Verhältnis 2:3 der Silbenzahl der Versfüße (das gilt sowohl für das Verhältnis Jambus-Anapäst als auch für das von Trochäus-Daktylus). Eine unmittelbare Reflexion auf diesen Problemzusammenhang erhält man im jeweils ersten Vers einer Strophe: Bleibt in der ersten Strophe ungeklärt, ob man die Zäsur nach dem zweiten oder erst nach dem dritten
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Dies wäre nicht weiter von Bedeutung, würde die Empedokles-Ode nicht die Frage nach dem Verhältnis von Gegensätzen und ihrer verbindenden Mitte bzw. ihrem gemeinsamen Grund aufwerfen: Die Suche nach dem abstrakten Leben endet in einer konkreten Dualität.¹⁴³ Die Vermittlung oder das Vermittelnde zwischen den Gegensätzen in einem Wort respektive einem Versfuß eindeutig zu bestimmen, ist daher nicht nur in den ersten beiden gleichgebauten Versen unmöglich, sondern auch im dritten Vers. Denn auch dieser stellt vor das Problem, daß kein dominanter Versfuß bestimmbar ist und damit auch kein eindeutiges Versmaß: Für den rein alternierenden Vers mit 9 Silben kann nicht entschieden werden, ob er jambisch-hyperkatalektisch oder trochäisch mit Auftakt ist. Erst die gerade Anzahl der Silben im vierten Vers und die klare Gegenüberstellung der zwei Daktylen und zwei Trochäen läßt die Strophe und den Prozeß der sich ständig verschiebenden Mitte zur Ruhe kommen: 1221221212 Die Reflexionsbewegung endet nicht darin, daß ein Versfuß oder ein Wort die Mitte klar bestimmt, sondern in der Erkenntnis, daß der Versuch einer solchen Fixierung das Verhältnis der Gegensätze nicht ausdrücken kann. Mit v. 4 kommt zum Ausdruck, daß die Mitte unausgesprochen bleiben muß und lediglich von zwei Seiten zu umgrenzen ist. Die Ode weist die Vorstellung einer Synthese zurück und konstelliert eine Spannung. Eine Aufhebung in einem Einzelnen wäre verbunden mit einer gewaltsamen Konzentration auf eine Seite der Wechselbeziehung und würde das Gesuchte verfehlen. Diese Erkenntnis ist – so läßt sich bereits an dieser Stelle festhalten – eine der zentralen inhaltlichen Aussagen der Ode. Die Suche nach ›dem‹ Leben ist nur erfolgreich, wenn man das Gesuchte als konkrete Relation von Gegensätzlichem begreift. Der implizite Vorwurf an Empedokles in der dritten Strophe besteht darin, daß er in seinem Streben, die Gegensätze in sich aufzuheben, die Liebe außer Acht läßt. Dieser Vorwurf ist bereits auf der metrischen Ebene ausgedrückt. Nur in der Akzeptanz des Anderen als Anderem – und d.h. für die Sprache: nur in einer ›dialogischen‹ Form – ist eine Erfahrung dessen möglich, was jenseits der Trennung liegt. Diese Überlegungen bewegen sich aber nach wie vor auf der Ebene des überlieferten Strophenmaßes der alkäischen Ode. Aufgabe der textnahen Interpreta-
(oder gar vierten) Versfuß ansetzen darf, deklinieren die folgenden die beiden möglichen Verhältnisse (2:3 und 3:2) durch. 143 Die Frage nach der Vermittlung betrifft dabei natürlich auch den Gegensatz ›abstrakt‹ vs. ›konkret‹ und damit das Verhältnis von Anfang und Ende des Verses.
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tion der einzelnen Verse wird sein, darüber hinaus die Abweichungen gegenüber dieser Vorgabe zu exponieren. Nur so können die semantischen Spannungsfelder der Ode im Blick auf die scheinbar gesicherte sprachliche Form reflektiert werden. Und nur so kann man erkennen, wie sehr Hölderlins Dichtung von Klopstocks Gedanken einer auf Wortfüßen geprägten Metrik im Deutschen durchdrungen ist, die die Individualität der Aussage gegenüber rein äußerlichen Ordnungsschemata behauptet.
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Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, 2121212212s Obwohl v. 1 nicht mit einem Punkt endet und damit eine sprachliche Ergänzung erwarten läßt, bleibt zu fragen, warum mit v. 2 weitergesprochen wird: Was kann über den ersten Vers hinaus gesagt werden, wenn der Allzusammenhang des Lebens als eine dialektische Relation seiner Teile dargestellt wurde, die das Subjekt (das sprechende Ich und das angeredete Du) nicht zu transzendieren vermag? Liegt mit v. 2 nur eine Wiederholung dieser Aussage vor – zumal er die gleiche metrische Struktur besitzt? Ein göttlich Feuer […] Der Beginn des zweiten Verses weist eine ungleich komplexere Beziehung des materiell Ausgesagten zur Form der Aussage auf. Die vielfältigen Bezüge, die sich im Verlauf des Verses entfalten, resultieren daraus, daß er einerseits für sich lesbar ist und als eigenständige Einheit gegenüber v. 1 verstanden werden kann. Andererseits besitzt er einen reflektierten und zugleich reflektierenden Charakter, da er im Horizont des zuvor Gesagten steht. Zum Einstieg in die Interpretation des Verses kann die Versgrenze für einen Augenblick außer Acht gelassen werden. So ergibt sich folgender Satz: ›es quillt und glänzt ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir‹. Alles, was für die Relation von ›quillen‹ und ›glänzen‹ geltend gemacht wurde, ist nun zunächst auf die Rede vom ›göttlichen Feuer‹ zu beziehen. Auch wenn diese Aussage unscheinbar wirkt, ist bereits mit dem ersten Wort des zweiten Verses ein Widerstand gesetzt, der an den Anfang zurückweist: Wie kann, wenn mit der für das Bewußtsein offenbar notwendigen Dualität von ›quillen‹ und ›glänzen‹ ein vorläufiger Ruhepunkt der Reflexion erreicht war, jetzt von einem Feuer gesprochen werden – und dies völlig unabhängig davon, daß es sich um ein ›göttliches‹ handeln soll? Wodurch motiviert sich die Restitution der Einheit gegenüber differenten Teilen?¹⁴⁴ Wird mit dem Beginn des zweiten Verses wieder die Erkenntnisstufe von v. 1 eingenommen? Dieser setzte mit dem vermessenen Anspruch ein, das abstrakte all-
144 Hölderlin thematisiert diese Dominanz in seinem Epigramm Wurzel alles Übels: »Einig zu seyn, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn / Unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?« (Hölderlin, FHA VI, S. 179).
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umfassende Leben als eines unter Anderem und noch dazu als ein bestimmtes zur Sprache zu bringen. Ausschließlich von einem unbestimmten Artikel auszugehen, der aus der Syntax des Satzes resultiert, ist aufgrund der hohen Präzision, mit der in v. 1 gesprochen wurde, auszuschließen. Nach dieser ersten Irritation wird deutlich, daß hier keineswegs ein bloßer Rückschritt in das anfängliche, naive Denken vorliegt. Auch wenn sich eine vergleichbare paradoxale Spannung aufbaut, so ist v. 2 keine bloße Repetition, sondern eine Spiegelung des ersten Verses: Dem bestimmten Artikel wird ein unbestimmter, dem abstrakten ›Leben‹ ein Konkretes gegenübergesetzt. Eine mögliche Erklärung für diese Inversion ist, daß zuvor eine Bewegung in die dialektische Dualität nötig war. Erst mit dem Abschluß der Reflexion in v. 1 kann zum Anfang zurückgekehrt werden. Dies bedeutet, daß der scheinbar ›bruchlose‹¹⁴⁵ Übergang von v. 1 in v. 2 nicht als lineare Prosa gelesen werden darf. Gerade im Rückgang auf den Anfang und dessen sprachlicher ›Umkehrung‹ realisiert sich der Verscharakter des Gesagten. Die Reflexion auf den Anfang läßt diesen als einen anderen erscheinen. Der Rückgang ›in den Grund‹ bzw. zum Grund des Sprechens ist nach dem Fort- und Durchgang in v. 1 zugleich das ›Resultat‹ dieser Bewegung.¹⁴⁶ Doch dieses Resultat behält nur kurz seinen positiven Charakter, da keine Klarheit über den Anlaß des Sprechens erreicht wird. Was ist gewonnen, wenn man die Kontrastverhältnisse umkehrt und statt einer ›bestimmt-abstrakten‹ jetzt eine ›unbestimmt-konkrete‹ Rede vor sich hat, die ebensowenig das Ganze bzw. ›das Eine‹ zu benennen vermag, das im Sprechen präsent werden soll? Das Entscheidende an dieser Stelle ist, daß über den Rückbezug der Aussage der Anfang von v. 1 nicht negiert wird. Daß jetzt anders (über den Anfang) gesprochen wird, ist nur möglich vor dem Hintergrund der immer noch ›geltenden‹ Rede »Das Leben«. Die Inversion der Verhältnisse abstrakt-konkret und bestimmt-unbestimmt behauptet zum einen die Relativität der beiden Anfänge »Das Leben« und »Ein göttlich Feuer«, zum anderen reagiert sie direkt auf die Dualität von »quillt und glänzt«. Das Sprechen am Anfang von v. 2 steht in unmittelbarem Verhältnis zum Einstieg in den ersten Vers: Die eindeutige Rede »Ein göttlich Feuer« zielt paradoxerweise auf ihre eigene Relativierung, weil sie nur verstanden wird in Abhängigkeit zu »Das Leben«. Der eben genannte Vorwurf, mit »Ein göttlich
145 Ein Charakteristikum, das der alkäischen Odenstrophe oft zugesprochen wird, ist die fließende, d.h. durch keinen Hebungsprall unterbrochene Abfolge der Versfüße. Auch wenn man diese Beobachtung teilt, liegt darin die Gefahr, vor dem Hintergrund des Strophenschemas auch das materiell Ausgesagte als unproblematisch und ›bruchlos‹ zu bewerten. 146 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, S. 44.
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Feuer« erneut eindeutig sprechen zu wollen, obwohl diese Unternehmung kurz zuvor aufgegeben werden mußte, bezieht sich also ausschließlich auf die Oberfläche des Ausgesagten, die die Versstruktur außer acht läßt. Auch das Ende von v. 1 nimmt dadurch eine andere Funktion an: »quillt und glänzt« ist nicht nur der Abschluß einer Denkbewegung, sondern ebenso das vermittelnde Scharnier zwischen v. 1 und v. 2. Die Dualität wird folglich nicht preisgegeben. Sie initiiert die einzige Möglichkeit eines anfänglichen Sprechens in Form einer relativierenden Wieder-Holung. Diese retrospektive Transformation der Rede darf nicht mit einer Repetition verwechselt werden. Gegenüber v. 1 kann der Anfang der Rede offenbar nicht mehr in einer bloßen Nennung bestehen, sondern ist um ein Adjektiv erweitert. In der Metrik spiegelt sich diese Veränderung: Gegenüber dem in v. 1 gesetzten Amphibrachys (2 1 2) ist der erste Wortfuß um zwei Silben erweitert: 2 1 2 1 2. Diese metrische Einheit entspricht dem ersten Kolon von v. 1 (»Das Leben suchst du«). Mit Recht kann man fragen, in welchem Verhältnis die Nennung des grammatischen Subjekts ›göttlich Feuer‹ mit der Redeeinheit steht, die eine vollständige syntaktische Ordnung von Subjekt, Objekt und Prädikat umfasst. Festzuhalten ist, daß erst mit dem Wort »Feuer« das zweite vollwertige Subjekt nach dem angeredeten Du genannt wird – die Unsicherheit, ob es sich beim Pronomen ›es‹ eher um eine grammatische Angabe denn um ein Subjekt handelt, wird von v. 2 aus gesehen noch größer. Das Bedeutungsfeld des Wortes ›Feuer‹ erschöpfend klären zu wollen, wäre hier ein unsinniges Unterfangen – selbst wenn man nur die Bandbreite der Bedeutungen und Bezüge klären wollte, die sich bei Hölderlin finden.¹⁴⁷ Der Begriff ›Feuer‹ reicht bei ihm von der inneren Begeisterung und dem göttlichen Seelenfunken über das Schicksalsfeuer bis hin zu dem von den Göttern geschickten Strahl, der die Irdischen trifft.¹⁴⁸ Um die Semantik der Formulierung »Ein göttlich Feuer« zu begreifen, muß zunächst erneut auf die Form der Aussage reflektiert werden. Die verschobene Referenz von ›Leben‹ zu ›Feuer‹ läßt die Komplexität der Rede erahnen. Erst die textimmanente Relation erklärt den weiteren Versverlauf. Intertextuelle Bezüge, die das Feuer entweder als ein Grundmotiv der Empedokles-Thematik verdeutlichen¹⁴⁹ oder als ein von den Göttern Gesandtes begrei-
147 William Gilby hat sich einer solchen Aufgabe gestellt; vgl. William Gilby, Das Bild des Feuers bei Hölderlin. Eine genetische Betrachtung, Bonn 1973. 148 Vgl. Gilby, Das Bild des Feuers bei Hölderlin. 149 Gilby deutet das Feuer in diesem Zusammenhang zu einseitig als das Irdische des Vulkans, in dessen Flammen sich der göttliche Geist materialisiere: »Der Feuerkelch des Ätna erscheint als Tor zur unmittelbaren Begegnung mit diesem unendlichen Geist des Alls« (Gilby, Das Bild des
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fen lassen – dies besonders in Hölderlins Spätwerk –, können nur ansatzweise weiterhelfen. Denn neben der fraglosen Rekurrenz Hölderlins auf das Bild des Feuers ist es die Konstellation der Worte, die ihnen in der Ode Bedeutung verleiht. In der Wortfolge »göttlich Feuer« ist in nuce die Bewegung des ersten Verses abgebildet, da sich dasjenige, was direkt ausgesprochen werden soll (Gott bzw. das Göttliche), sowohl der unmittelbaren Wahrnehmung als auch der nennenden Sprache entzieht. In seiner Konkretion (als Feuer) tritt es indirekt und nur re-präsentiert in Erscheinung. Vergleichbares findet sich im ersten Vers, in dem vom ›Leben‹ letztlich nur vermittels der konkreten Dualität positiv gesprochen wird. Die Spannung zwischen Abstraktion und Konkretion wurde dort durch den bestimmten Artikel ausgelöst, der das scheinbar problemlose Nennen des ›Lebens‹ relativierte. Hinzu kommt, daß das ›Göttliche‹ zu einem adjektivischen Attribut modifiziert und so ›das Absolute‹ zu einer Qualität herabgestuft wird, die auch ›für anderes‹ (hier: Feuer) gelten kann. Es ist zu überlegen, ob dies eine (sprachliche) Reaktion auf die ›Kränkung‹ in v. 1 darstellt und das Subjekt diese Unterminierung des Göttlichen bewußt vollzieht: Das poetische Subjekt versucht seine sprachliche Souveränität zu restituieren, nachdem es zuvor seine Ohnmacht in der Darstellung des (einen) ›Lebens‹ erfahren mußte und dieses nur über die beiden Prädikate ›quillen‹ und ›glänzen‹ auszudrücken vermochte. Durch diese aus dem formalen Aufbau des Verses gewonnene Überlegung kann die Rede vom »göttlich Feuer« in zweifacher Hinsicht verstanden werden. Einerseits läßt sich lesen, daß es neben dem irdischen auch ein göttliches Feuer gibt. Gestützt wird diese Deutung durch den unbestimmten Artikel, der indirekt die potentielle Pluralität verschiedener Feuer anzeigt.¹⁵⁰ Andererseits ist aber auch der Umkehrschluß möglich: Das Element Feuer ist immer schon als göttlich anzusehen, was auf die vorsokratische Elementenlehre und damit auf den historischen Empedokles verweist.¹⁵¹ Der letzten Deutung ist aufgrund der im Gedicht entwickelten Thematik sicherlich der Vorzug zu geben. Gleichzeitig ist das Oszil-
Feuers bei Hölderlin, S. 67). Das Feuer ist für ihn weiterhin der »nie ruhende Grund[] der Welt, des rein Lebendigen, das dafür sorgt, daß überall Werden und nirgends Stillstand ist« (ebd.). 150 Das ›göttliche Feuer‹ ist möglicherweise auch eine Anspielung auf das Empyreum, die göttlich-feurige Sphäre des Himmels (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica. Mit Kommentaren von Alexander von Siemer und Heinrich Christmann, Bd. 1, Graz, Wien, Köln 1982, q. 66). 151 Als das erste der vier Elemente hatte das Feuer seit Empedokles eine hervorragende Stellung in der griechischen Naturphilosophie inne und wurde später in der Stoa als göttliches Urprinzip betrachtet, in das alles durch den Weltbrand zurückgeht. Bei Heraklit findet sich darüber hinaus der Gedanke des ›Urfeuers‹, das als das ›ewig lebendige Feuer‹ noch vor der Dualität von Göttern und Menschen seinen Ursprung hat: Aus dem feurigen Hauch entstehen durch Umwandlung zu-
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lieren zwischen den beiden gesetzten Schwerpunkten der Rede wahrzunehmen, was ihr einen metaphorischen Charakter verleiht: Bei »göttlich Feuer« kommt es nicht darauf an, das Moment des einen Gegenstandsbereichs in den anderen zu übertragen, sondern beide Bereiche in ihrem wechselseitigen Bezug als gleichwertige wahrzunehmen. Die Rede vom Feuer bestimmt jedoch nicht zufällig den Eingang von v. 2: ›Feuer‹ steht im Zusammenhang mit ›glänzen‹ und baut somit eine inhaltliche Brücke zum ersten Vers.¹⁵² Daß das Feuer ›göttlich‹ genannt wird, entfaltet das semantische Spektrum, das im Wort ›glänzen‹ bereits vorgezeichnet war: die Vollkommenheit, das Göttliche und Unveränderliche des Lichts. Der Differenzierung der Momente von ›glänzen‹ steht die Behauptung entgegen, daß es sich um ›ein göttlich Feuer‹ handelt. Die Spannung von Explikation und Implikation ist somit einerseits in dieser einen Redeeinheit versammelt, andererseits wird dadurch die Abhängigkeit von v. 1 umso deutlicher: »Ein göttlich Feuer« ist die Reaktion auf die dort vollzogene Bewegung von einer abstrakten Einheit (»Das Leben«) hin zu einer differenzierten Dualität (»quillt und glänzt«). Auch für den letztgenannten Aspekt kann der Anfang von v. 2 eine vorläufige Erklärung bieten: Das poetische Ich unternimmt den Versuch, die im ersten Vers sprachlich erfahrene Komplexität der Bezüge von Versanfang und -ende auf einen Begriff zu bringen. Was in dieser Verdichtung scheinbar fehlt, ist die Mitte des Verses und die Rolle des angesprochenen Du. Ein Blick auf die später entstandene Elegie Brod und Wein zeigt jedoch, daß die Aussage nicht auf die Objektseite des materiell Ausgesprochenen zu reduzieren ist: In der dritten Strophe wird das ›göttliche Feuer‹ ein dem Herzen Innewohnendes genannt, das zum Aufbruch veranlaßt.¹⁵³ So kann man lesen, daß die Suche des Subjekts von einem inneren ›göttlichen Feuer‹ ausgelöst wird. In Verschränkung von Subjektivem und Objektivem behauptet das Kolon also zugleich die Untrennbarkeit der beiden Seiten.¹⁵⁴
nächst Wasser und dann Erde – hier kehrt sich der Prozeß um und wendet sich auf dem gleichen Stufenweg zum Feuer zurück; vgl. Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 142–144. 152 Gisela Wagner weist auf den untrennbaren Zusammenhang von Feuer und Licht bei Hölderlin hin, der besonders durch die Rede vom ›Blitz‹ bzw. ›Strahl‹ deutlich wird; vgl. Gisela Wagner, Hölderlin und die Vorsokratiker, Würzburg 1937, S. 134–136. 153 Vgl. Hölderlin, FHA VI, S. 249: »Auch verbergen umsonst das Herz im Busen, umsonst nur / Halten den Muth noch wir, Meister und Knaben, denn wer / Möcht’ es hindern und wer möcht’ uns die Freude verbieten? / Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen, / Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.« 154 Die Untrennbarkeit wird von der Metrik gestützt und der Kontrast zur Rede im ersten Vers deutlich. »Ein göttlich Feuer« besitzt das gleiche Versmaß wie »Das Leben suchst du« (2 1 2 1 2). Sind jedoch im ersten Vers Objekt und Subjekt (auch syntaktisch) klar voneinander geschieden, so
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Ein göttlich Feuer tief […] Das folgende Wort »tief« markiert die Mitte des Verses. Die Mitte ist, wie im ersten Vers, ein entscheidender Wendepunkt der Rede und zugleich ein Ort der Vermittlung von Extremen. Entsprechend ist auch für v. 2 zu fragen, ob ›tief‹ überhaupt eine nähere lokale Bestimmung des Ursprungs ist, aus dem ein ›göttliches Feuer‹ ›quillt und glänzt‹. Es gilt, die auf den ersten Blick unscheinbare Abweichung von der Regelsyntax zu beachten: Der Vers kann nicht in ›ein göttlich Feuer aus der tiefen Erde‹ paraphrasiert werden. Durch den Versverlauf ist »tief« auch als Adverb der beiden Prädikate am Ende von v. 1 zu verstehen, was sich mehrfach deuten läßt. Die erste Lesart beschränkt sich auf den Versübergang: das ›göttliche Feuer quillt und glänzt tief‹. Auf den gesamten ersten Vers bezogen kann man zugleich lesen, daß das Leben bzw. das unbestimmte »es« ›quillt und glänzt‹, und zwar so tief wie ein göttliches Feuer. Indem ›es‹ sich konkretisiert, besitzt ›es‹ die Qualität und Intensität eines ›göttlichen Feuers‹. Gleichzeitig wäre das ›Feuer‹ so die Maßangabe für die Quantität und Extension des Quillens und Glänzens. Interessant ist, daß sich diese doppelte kategoriale Bestimmung im Blick auf das Attribut ›göttlich‹ gleichzeitig aufhebt, da ein Göttliches nur ex negativo zu umschreiben oder an bzw. in einem Konkreten repräsentiert ist. Paradox ausgedrückt ist die Formulierung ›ein göttlich Feuer‹ eine unbestimmt bestimmte Unbestimmtheit. Es ist der Versuch, ein Transkategoriales kategorial zu erfassen, ein abstrakt Allgemeines und Absolutes konkret (d.h. durch den Artikel als ein unbestimmt Konkretes) auszusprechen. Diese Vermittlung von Gegensätzen – Qualität vs. Quantität, bestimmt vs. unbestimmt, besonders vs. allgemein – vollzieht sich in der ersten Vershälfte nicht nur auf der syntaktischen Ebene. Der relative Begriff ›tief‹ bezeichnet zum einen die vertikale wie horizontale Dimension, zum anderen ist er ein ambivalenter Ausdruck in Bezug auf die Erkennbarkeit des so Charakterisierten: Dem ›Verborgenen‹ und ›Unergründlichen‹, das als ›tief‹ bezeichnet wird, steht das ›gründliche‹ Verständnis gegenüber sowie der deutliche »Begriff von allen Merkmahlen eines Dinges«¹⁵⁵. Das Subjekt – d.h. auch das in v. 1 angesprochene – steht somit über das Wort ›tief‹ in Beziehung zum Objekt. Damit wird ein Rückbezug möglich, der das Ende von v. 1 noch einmal neu thematisiert. Ist ›ein göttlich Feuer tief‹ eine modale Bestimmung von »quillt und glänzt«, wird die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts zur Diskussion gestellt.
erfolgt im zweiten die kondensierte Vermittlung der beiden in einer Redeeinheit. Erst durch die metrische Parallelität wird dieses Verhältnis sichtbar. 155 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 601.
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Erscheint es dem angeredeten Ich nur so, als quelle und glänze das Leben bzw. das ›es‹, oder verhält es sich tatsächlich so?¹⁵⁶ Dies wurde aus der Entwicklung von v. 1 nicht ersichtlich, hat jetzt aber weitere Konsequenzen. Bisher war nur unklar, ob das Du das Quillen und Glänzen (als mögliche Repräsentation des gesuchten Lebens) wahrnimmt oder nicht, jetzt kommt hinzu, worin sich eine solche Wahrnehmung begründet: im Subjekt oder im Objekt. Die Frage nach dem Modus im kantischen Sinn ist die nach der Art und Weise, wie das Subjekt die Dualität von »quillt und glänzt« bzw. das »göttlich Feuer« denkt und wie es diese in seinem ›Urteil‹ ausdrückt. Zur Diskussion steht das sprachliche Verhältnis des Subjekts zu seinem Erkenntnisvermögen und zu seinem Sprachvermögen: Ist das Urteil (»es quillt und glänzt / Ein göttlich Feuer tief«) ein bloß mögliches, handelt es sich um eine Aussage, die wirklich die Verfaßtheit des Gegenstandes bezeichnet, oder ist die Rede gar notwendig auf das Objekt der Rede bezogen? Verhandelt wird damit zugleich die Frage des ›Wahrheitswertes‹ der Aussage. Handelt es sich bei der (durch das poetische Ich geäußerten) Wahrnehmung um eine perceptionem clare et distincte im Sinne Descartes?¹⁵⁷ Eine einfache perceptio
156 Man könnte an dieser Stelle, ausgehend von der Frage nach dem ›Modus der Rede‹, auch Kants Lehre von den Modalbegriffen in Anspruch nehmen: »Die Modalität der Urtheile ist eine ganz besondere Function derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urtheils beiträgt (denn ausser Grösse, Qualität und Verhältniß ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urtheils ausmachte), sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. Problematische Urtheile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als blos möglich (beliebig) annimt; assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird; apodiktische, in denen man es als nothwendig ansieht.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787 [Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, Göttingen, Bd. 3], S. 62). Dies hat besonders deswegen Relevanz, weil Hölderlin die Frage nach der Modalität bezüglich Möglichkeit und Wirklichkeit gegenüber der kantischen Definition verkehrt und nur das als möglich ansieht, das schon wirklich ist: »Wenn ich einen Gegenstand als möglich denke, so wiederhol’ ich nur das vorhergegangene Bewußtseyn, kraft dessen er wirklich ist. Es giebt für uns keine denkbare Möglichkeit, die nicht Wirklichkeit war. Deswegen gilt der Begriff der Möglichkeit auch gar nicht von den Gegenständen der Vernunft, weil sie niemals als das, was sie seyn sollen, im Bewußtseyn vorkommen, sondern nur der Begriff der Nothwendigkeit. Der Begriff der Möglichkeit gilt von den Gegenständen des Verstandes, der der Wirklichkeit von den Gegenständen der Warnemung und Anschauung« (Hölderlin, FHA XVII, S. 156 [Seyn Urtheil Möglichkeit]). 157 Vgl. René Descartes, Meditationes de prima philosophia, éd. de Amstelodami, ex typographia Blavania 1685, III 35: »[A]c proinde iam videor pro regula generali posse statuere, illud omne esse verum, quod valde clare & distincte percipio«. Vgl. Leibniz’ Weiterentwicklung der Erkenntnislehre Descartes’: »Wenn ich eine Sache unter anderen wiedererkennen kann, ohne sagen zu können, worin die Unterschiede oder Eigenschaften bestehen, so ist die Erkenntnis verworren. So
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verliert ihren Wahrheitswert, wenn sie nicht zugleich eine perceptio intellectus ist. Zwar ist für Descartes das »wahr, was ich recht klar und deutlich erfasse«¹⁵⁸, diese Wahrnehmung beschreibt aber nur ein Gegebenes im Bewußtsein und muß nichts über ein tatsächliches Sein aussagen. Erst in der Überwindung der sinnlichen Wahrnehmung und durch den Intellekt sind entsprechend wahre Aussagen über das Wahrgenommene möglich. Dies ist an dieser Stelle der Ode erkennbar: Zwar kann das Quillend-Glänzende genannt werden, es ist jedoch nicht in einen eindeutigen Begriff aufzulösen oder auf ein dadurch klar konturiertes Objekt zu beziehen – selbst dann nicht, wenn man sich ›tief‹ und gründlich damit auseinandersetzt. Mehr noch: Sie unterlaufen die Bestimmung der genannten Gegenstände. Was ›quillt‹, läßt sich nicht bestimmen, sondern nur der Ort, an dem es ›quillt‹. Da ›Glänzen‹ einen sowohl aktiven wie passiven Charakter hat, kann man ebenfalls nur den Ort angeben, an dem ›es‹ ›glänzt‹. Es ist aber keine Aussage möglich, ob sich dort das wahrgenommene Objekt befindet. Hinzu kommt, daß die Relation unklar bleibt, die »quillt und glänzt« zu einer Einheit fügt. So wird die in sich widersprüchliche Semantik von ›tief‹ als sowohl ›dunkel und unerklärlich‹ und zugleich ›klar in seinen Merkmalen erkannt und auf einen Grund rückführbar‹ verständlich. Was sagt dies nun über das (poetische) Subjekt? An der Entwicklung des ersten Verses läßt sich ablesen, daß hier nicht nur eine verblendete Perspektive eines Ich wiedergegeben wird. Die Rede behauptet nicht nur eine subjektive Wahrnehmung, sondern stellt sie in Frage und relativiert sie auf ein Objekt hin. Doch wessen Erkenntnisvermögen steht hier überhaupt zur Diskussion: die des angeredeten Du oder die des poetischen Ich – sofern sich diese beiden überhaupt trennscharf unterscheiden lassen? Weiterhin ist unklar, ob das Erkenntnisvermögen des poetischen Subjekts problematisiert wird, oder dessen sprachliches Vermögen, das Wahrgenommene adäquat auszudrücken. Ist die komplexe und letztlich unbestimmte Rede »quillt und glänzt« der Erkenntnisschwäche des poetischen Ich geschuldet? Unterliegt sie der Hybris, ein Allgemeines bzw. Unbestimmtes als Konkretes aussprechen zu wollen? Ist diese Unschärfe gerade das
erkennen wir manchmal auf klare Weise, ohne auf irgendeine Art im Zweifel zu sein, ob ein Gedicht oder ein Bild gut oder schlecht gemacht ist, weil es ein ›ich weiß nicht was‹ gibt, das uns befriedigt oder abstößt. Wenn ich die Merkmale erklären kann, über die ich verfüge, so nennt man die Erkenntnis deutlich« (Gottfried Wilhelm Leibniz, Abhandlung über Metaphysik. In: Leibniz. Philosophische Schriften und Briefe. 1683–1687, hg. von Ursula Goldenbaum, Berlin 1992, S. 168– 226, hier S. 205). 158 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Zum erstenmal vollständig übersetzt und hg. von Artur Buchenau, Hamburg 1994, S. 253.
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die Begriffssprache Übersteigende des poetischen Sprechens? Oder repräsentiert es nur die Perspektive des angeredeten Du, für dessen Wahrnehmung – wenn sie denn statt hat – ebenfalls nicht klar ist, welchen Wahrheitswert sie besitzt? Man kann die verschiedenen Lesarten den erkenntnistheoretischen Positionen des 18. Jahrhunderts zuordnen: Der vorkantischen Erkenntnislehre, die von einer prinzipiell möglichen wahren Erkenntnis des Objekts ausgeht, der kantischen Vernunftkritik, die die subjektiven Bedingungen jedes Erkenntnisvorgangs aufzuzeigen versucht, und schließlich der nachkantisch-idealistischen Perspektive (vornehmlich derjenigen Hegels), die die beiden Positionen miteinander verbindet und eine ›Aufhebung‹ bzw. Wechselwirkung des Subjektiven und Objektiven postuliert. Aus dem bisherigen Verlauf der Ode wurde deutlich, daß sie zugleich eine Problematisierung der Erkenntnisleistung wie des sprachlichen Vermögens bezüglich der Erkenntnis bzw. des Erkannten darstellt. Dies leistet sie jedoch nicht begrifflich differenzieren, sondern in einer sich entwickelnden Rede, über deren Verlauf die verschiedenen Bezüge nach und nach entwickelt werden, ohne dabei die Einheit der Aussage zu verletzen. Bislang konzentrierte sich die Interpretation des zweiten Verses und der in ihm exponierten Frage nach dem Subjekt auf syntaktisch-grammatische Momente. Doch auf der thematischen Ebene der Ode findet sich ebenfalls dieser skizzierte Problemzusammenhang. Wie bereits erwähnt, benennt das ›göttliche Feuer‹ auch ein inneres.¹⁵⁹ Entscheidend ist, daß es für Hölderlin neben dem auf das Göttliche ausgerichtete Streben, das maßvoll auf das ›beseeligende himmlische Feuer‹¹⁶⁰ bezogen bleibt,¹⁶¹ ein Empedokles zugesprochenes übermäßiges Feuer gibt. Im zweiten Dramenentwurf wird Empedokles in diesem Zusammenhang mit Prometheus gleichgesetzt, der den Göttern die ›Lebensflamme‹ raubt.¹⁶² Die prometheische Hybris, die auch in Hölderlins Der Rhein thematisiert wird,¹⁶³ ist zum einen für den weiteren Verlauf der Ode und die Schilderung des Ätnatodes interessant: In der griechischen Mythologie hat Zeus Vulkanus beauf-
159 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 755: »[Empedokles:] Aber freudig quillt / Aus muthger Brust die Flamme.« 160 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 747. 161 Vgl. die bereits zitierte Passage aus Brod und Wein (Hölderlin, FHA VI, S. 249). 162 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 818: »[Hermokrates:] Das hat zu mächtig ihn / Gemacht, daß er vertraut / Mit Göttern worden ist. / Drum tönt sein Wort dem Volk, / Als käm es vom Olymp; / Sie dankens ihm / Daß er vom Himmel raubt / Die Lebensflamm’ und sie / Verräth den Sterblichen.« 163 Vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 635: »Wer war es, der zuerst / Die Liebesbande verderbt, / Und Stricke von ihnen gemacht hat? / Dann haben des eigenen Rechts / Und gewiss des himmlischen Feuers / Gespottet die Trozigen, dann erst / Die sterblichen Pfade verachtend / Verwegnes erwählt, / Und den Göttern gleich zu werden getrachtet.«
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tragt, Prometheus zur Strafe für den Feuerraub an den Felsen am Kaukasus zu schmieden.¹⁶⁴ Zum anderen erfolgt der indirekte Verweis auf Prometheus genau an der Stelle, an der die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts problematisiert wird: das Vermögen, das dem Menschen erst durch das ›göttliche Feuer‹ geschenkt wird.¹⁶⁵ Die Hybris des Prometheus, der auch in Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als »Titan« – also als ein ›über sich Hinausgreifender‹ – genannt ist,¹⁶⁶ wird so mit einer bloß subjektiven Erkenntnis enggeführt. Die Gefahr einer maßlosen Steigerung des Subjektiven, die das Objektive nur als ein Moment des Subjektiven versteht und ihm unterordnet, wäre für Hölderlin nicht gegeben, wenn »Eines nicht in uns wäre, das ungeheure Streben, Alles zu seyn, das, wie der Titan des Aetna, heraufzürnt aus den Tiefen unsers Wesens«¹⁶⁷. […] tief aus der Erde […] Da die Gliederung des Verses nicht durch Interpunktion geregelt ist, zeigt sich umso deutlicher, welche Bedeutung einer Lektüre zukommt, die auf die weitere sprachliche Entwicklung der Rede achtet. Nur wenn man neben dem strukturellen Aufbau auch ihre Prozessualität reflektiert, wird die Versmitte als sprachlicher Umschlagpunkt deutlich. Für das Folgende würde man eine gänzlich andere Syntax erwarten. Statt einer weiteren Attribution von ›Feuer‹ läge eine genauere Bestimmung des Ortes nahe, an dem es als ein ›göttliches‹ erscheint: ›ein göttlich Feuer aus der Tiefe der Erde‹. Die Inversion dieser Ordnung bringt rückblickend eine zusätzliche Charakterisierung des Subjekts mit sich – genauer: des gesamten Subjekt-Komplexes, der in v. 2 evoziert wurde und vom angeredeten Du über das sprechende Ich auch den Leser und dessen Subjektivität einschließt. Die syntaktische Inversion korrespondiert mit der hybriden Aneignung des Wahrgenommenen durch das Subjekt. Der gesamte Vers hat sich um den dynamisch sich verschiebenden, ›narzisstischen‹ Pol des (sich äußernden und angesprochenen) Subjekts organisiert.
164 Vgl. Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, Leipzig 1770 [Nachdruck: Darmstadt 1996], Sp. 2486. 165 Für Francis Bacon ist wahre Erkenntnis von einem Gegenstand nur durch den Geist als einem himmlischen Feuer zu erlangen; vgl. Francis Bacon, Novum organum. In: Works, hg. von Robert Leslie Ellis, James Spedding und Douglas Denon Heath, London 1858 f., Bd. 1, S. 70–223, hier S. 157: »[N]on per ignem certe, sed per mentem, tanquam ignem divinum.« 166 Vgl. Hölderlin, FHA XVI, S. 433: »[…] Drin ist aber / Der feuerbringende, der Gott, der Titan / Prometheus«. 167 Hölderlin, FHA XI, S. 596.
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Der Wechsel, der sich mit den Worten »aus der Erde« vollzieht, stellt einen nahezu gewaltsamen Bruch mit der etablierten Perspektive und Dominanz des Subjekts dar und läßt diese als allein subjektiv erscheinen. Die Interpretation von »aus der Erde« kann sich daher nicht darin erschöpfen, das ›göttliche Feuer‹ angesichts seines scheinbar rein terrestrischen Ursprungs als ein nur vulkanisches zu deuten. Entscheidend ist, daß es sich hier nicht um eine metaphorisierende Beschreibung einer eigentlich profanen Begebenheit handelt, sondern um ein präzises Sprechen, in dem das dialektische Spannungsmoment des ersten Verses weiter reflektiert wird. Worin besteht aber das widerständige und dialektische Moment der »Erde« als Quelle des Feuers? Es gilt zunächst den materiellen Stoff oder die Erdkugel von der Vorstellung des Irdischen als Gegenbegriff zum Himmlischen zu unterscheiden. Versteht man unter ›Erde‹ einen lokalen Ursprung, liegt die Gleichsetzung mit dem im Gedicht später genannten Ätna nahe. Damit wird zwar die aus dem Krater fließende Lava als Beschreibung eines aus der Tiefe ›quillenden‹ Feuers nachvollziehbar, doch bereits das Attribut ›glänzen‹ problematisiert diese Deutung, da es lediglich den Feuerschein der flüssigen Lava benennt, nicht aber den aus der Höhe und zur Ruhe gekommenen ›Glanz‹. Ebenso wenig bezeichnet ›Feuer‹ göttliche Strahlen oder die Vollendung einer Bewegung, was einen wesentlichen Aspekt in der Spannung zu dem veränderlichen Quillen darstellt. Selbst wenn man diesen letzten Punkt zurückstellt, bleibt die Irritation, wie aus diesem rein materiellen Ursprung ein ›göttlich Feuer‹ zu Tage treten bzw. wie etwas Göttliches in einem Abgrund seinen Grund finden soll. Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen, sondern im Zusammenhang mit dem zuvor Gesagten zu verstehen. Erneut ist es weniger die Bedeutung des einzelnen Wortes »Erde«, das diese Passage verständlicher macht, als vielmehr der Kontext. In diesem Fall ist es der bestimmte Artikel, der eine entscheidende Veränderung der Subjektperspektive auf das Wahrnehmungsobjekt ausdrückt. Im Gegensatz zum Versanfang, an dem noch von ›einem Feuer‹ die Rede war, wird jetzt von ›der Erde‹ gesprochen. Es wäre ein schwaches Argument, dies der Singularität der Erde zuzuschreiben: Aus der Tatsache, daß es nur eine Erde gibt, folgt nicht automatisch, daß sie eindeutig bestimmt werden kann. Mit dem direkten Artikel wird eine Haltung ausgedrückt, die über diese Deutung hinausgeht und deren Selbstverständlichkeit unterminiert. Wird mit dem bestimmten Artikel nicht endgültig behauptet, klar und distinkt sagen zu können, was der Gegenstand der Wahrnehmung ist? Ist mit der Thematisierung von ›Grund‹ und ›Ursprung‹ zugleich ein Wissen um das aus ihm Entspringende ausgesprochen? Und weiter gefragt: Was kann man sich unter der Erde vorstellen, wenn nicht erneut – in Analogie zu ›Leben‹ – eine Vielheit, die gewaltsam unter einen Begriff gebracht wurde?
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Damit wiederholt sich die Vermessenheit der Rede am Gedichtanfang (insofern dort das Leben als ein Objekt gedacht und gesucht wird) und zugleich die hybride Haltung des Subjekts gegenüber dem Gegenständlichen. Das Subjekt erfährt in der Mitte des Verses eine Kränkung, weil das Objekt (»göttlich Feuer«) als das ›Entgegengeworfene‹ und ›Entgegengestellte‹¹⁶⁸ (durch seinen Ursprung außerhalb seiner) nicht verfügbar und kontrollierbar ist. Dieser Kränkung versucht das Subjekt durch die anmaßende Bestimmung zu begegnen. »Ein göttlich Feuer tief aus der Erde« ist somit beides: Anzeige der Ohnmacht des Subjekts und der Versuch, sich des Objekts wieder zu ermächtigen. Interessant ist dabei, daß Hölderlin durch den Versverlauf sowohl die Kränkung des Ich durch das Objekt als auch sein Bestreben, diese Kränkung zu überwinden, zwar als Differenz etabliert, in der konkreten sprachlichen Bewegung aber zugleich deren Einheit behauptet. Da unentschieden bleibt, ob es sich um eine Dominanz des Subjekts handelt oder um dessen Ohnmacht, drückt der Vers die begrifflich nicht nennbare Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt aus sowie deren prinzipielle Gleichrangigkeit. Weder besitzt das Subjekt Herrschaft über das ihm Gegebene, noch ist das Objekt autonom in Bezug auf das es erkennende Subjekt. Dieses erste Anzeichen für eine angestrebte Vermittlung von Subjekt und Objekt als ›unterschiedene Innigkeit‹ unterscheidet sich von der Hegelschen ›Aufhebung‹ darin, daß beide Seiten in ihrer Eigenständigkeit und Individualität belassen und nicht in einer höheren, abstrakten Einheit nivelliert werden. […] aus der Erde dir, Mit dem letzten Wort des Verses kehrt die Rede in die Dialogizität des Anfangs zurück. Formal betrachtet markiert das Komma nach »dir« an der Versgrenze eine quasi periodische Unterbrechung innerhalb des Sprachverlaufs. Warum kommt die Rede aber nach den ersten beiden Versen nicht zu einem Schluß, obwohl ein syntaktisches Ende erreicht ist? Dies ist vor allem auch deswegen zu diskutieren, weil die beiden Verse aufgrund ihres identischen Baus eine geschlossene Einheit darstellen. Das Wort »dir« ist wesentlich auf den bisherigen Verlauf des Verses bezogen, da es die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Rede wie auch deren Wahrheitswert an die Position des Subjekts bindet. Bereits die syntaktische Inversion und die besondere Stellung des Wortes »tief« thematisierten die Abhängigkeit der Aussage von der Subjektivität des Sprechenden wie des Ange-
168 Vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 1242.
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sprochenen – dies kulminiert am Ende des Verses. Es kann nicht entschieden werden, ob es dem angeredeten Subjekt nur so erscheint, als würde ein ›göttlich Feuer tief aus der Erde quillen und glänzen‹ oder ob es sich tatsächlich so verhält; ebenso ist unklar, ob es sich dabei lediglich um eine Unterstellung durch das poetische Ich handelt, die mit der Wahrnehmung des Du keineswegs übereinstimmen muß. Stärker als in der gesamten Rede zuvor ist der Aussagewert an die Perspektive des Subjekts gebunden und von dieser abhängig. Gleichzeitig ist »dir« das erste Wort, das einen wertenden Charakter besitzt – wenn auch nur indirekt: Daß es für das Du ›tief aus der Erde quillt und glänzt‹, bedeutet, daß es sich in der Höhe, über diesem Ort befinden muß und auf das ihm eröffnete Szenario hinabsieht. Im Frankfurter Plan findet sich eine vergleichbare Positionierung: Die Hybris von Empedokles drückt sich darin aus, daß er zu Beginn des fünften Auftritts des ersten Aktes von sich sagt, »er müsse fort, um höher sich zu stellen, um aus der Ferne, sie [Frau und Kinder] mit allem, was da lebe, anzublicken, anzulächeln«¹⁶⁹. Die Kritik an dieser selbstgesuchten und zugleich selbstbehaupteten exponierten Stellung des Empedokles gegenüber ›allem, was da lebt‹, deutet sich auch durch den Kasus des Personalpronomens an. Das Wort »dir« relativiert im Dativ nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Souveränität und Autonomie des Subjekts, das über das ihm nur ›gegebene‹ Objekt nicht frei verfügt. Das Subjekt kann das ihm gleichrangige Objekt also lediglich annehmen. Die Hybris des Empedokles, die sich bereits in der vermessenen Suche und ihrem Scheitern äußerte, wiederholt sich am Ende des zweiten Verses in vergleichbarer Weise. Nicht die Blindheit gegenüber dem gesuchten ›Leben‹ wird kritisiert, sondern die vermessene Haltung des Angesprochenen. Die Wahrnehmung, die am Ende des zweiten Verses indirekt beschrieben wird, läßt sich auch als ›Spekulation‹ verstehen. Ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung »Ausspähen und Auskundschaften von einer Warte«¹⁷⁰, bezeichnet ›Spekulation‹ zum einen die Schau von einem souveränen und exponierten Standpunkt aus nach unten. Zum anderen benennt es eine besondere Form der Gottesschau: Unter Spekulation wird eine Erkenntnisform gedacht, »in welcher Spiegelndes (Geist, Natur) und Gespiegeltes (Gott) in ein sich gegenseitig verdeutlichendes Verhältnis gestellt sind«¹⁷¹. Diese wechselseitige Bestimmung und
169 Hölderlin, FHA XIII, S. 545. 170 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971–2007, Bd. 9, S. 1355. 171 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 1355. Unter dem Aspekt der Spiegelung lassen sich auch die beiden ersten, metrisch identischen Verse der alkäischen Ode betrachten.
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Vermittlung von Gegensätzen bis hin zur Gegenüberstellung von Göttlichem und Irdischem in der Wahrnehmung des Subjekts greift der zweite Vers auf. Sieht Hegel in der Spekulation das Prinzip, »die Trennung in der Identität von Subjekt und Objekt aufzuheben«¹⁷², läßt sich die Perspektive in v. 2 demgegenüber anders begreifen. Nicht in der Aufhebung, sondern nur in der Vermittlung der Dualität von Subjekt und Objekt sowie im Verzicht auf Eindeutigkeit ist Erkenntnis sowie sprachliche Mitteilung dieser Erkenntnis möglich.
Zur Metrik von v. 2 Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, 2121212212s Die Analyse der metrischen Gestalt des Verses steht wie dessen konkrete Sprachlichkeit im Horizont von v. 1. Auch hier gilt, daß der individuelle Gehalt der poetischen Sprache und ihre Komplexität nur durch die Wechselwirkung zwischen Form und materiell Ausgesprochenem begriffen werden kann. Auffällig ist, daß erneut die mathematische Mitte des Verses mit der sechsten Silbe (»tief«) nicht nur die höchste Intensität innerhalb der gesamten Bewegung besitzt, sondern ebenfalls einen Umschlagpunkt markiert, der eine Erschütterung subjektiver Dominanz bedeutet. In v. 1 war dies die vergebliche, weil letztlich maßlos-hybride Suche des Du nach dem Leben, in v. 2 ist es die Aneignung des Objekts durch das Subjekt. Diese Aneignung bedingt die syntaktische Ordnung, wird ab der siebten Silbe jedoch subvertiert. Hinzu kommt, daß das Wort »tief« als die problematische überzählige Silbe die klare Zuordnung zu einem Versfuß untersagt. Sie wird aber gerade dadurch zum positiven Medium zwischen den Gegensätzen – aus metrischer Perspektive das Medium zwischen (der Kontinuität eines dritten) Trochäus und (dem Wechsel zum) Daktylus. Zudem kommt der letzten Silbe des Verses besondere Bedeutung zu aufgrund der Unentscheidbarkeit ihrer Betonung: 2121212212s
Nur vor dem Hintergrund des ersten Verses wird der zweite verständlich, gleichzeitig kann die Rede in v. 1 erst durch den komplementären zweiten Vers einen ersten Ruhepunkt erreichen. 172 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1979, S. 119.
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Mit einem Akzent gelesen würde sich exakt die Struktur des ersten Verses wiederholen und es ergäbe sich die Spiegelung zwischen Amphibrachys und Kretikus. Unbetont gliederte sich der Vers in zwei metrisch verschiedene Teile – einer trochäischen Bewegung am Anfang und zwei Daktylen am Ende –, so daß die sechste Silbe nicht mehr als Spiegelachse, sondern Verbindungsglied zu interpretieren wäre. Dies hat unmittelbar Einfluß auf das Verständnis des Ausgesagten: Liegt der Schwerpunkt auf dem Subjekt (»dir«) am Ende des Verses oder besitzt das Wort doch keine derart starke Funktion, daß es durch die Hervorhebung der Perspektive der Rede alles zuvor Gesagte vom Ende her noch einmal zu relativieren vermag? Entsprechend ist zu fragen, ob dem Wort »tief« entweder die Bedeutung eines Umschlagpunktes zukommt oder vielmehr eines Verbindungsglieds zweier prinzipiell differenter Einheiten. Die Mehrdeutigkeit in der Mitte und am Ende entsteht erneut durch den Rückbezug auf den vorausliegenden sprachlichen Komplex, der begrifflich und eindeutig nicht auszudrücken wäre.
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Und du in schauderndem Verlangen 2 1 2 1 2 s2 1 2 Die Frage, die sich zu Beginn des zweiten Verses stellt – Warum wird nach der Versgrenze überhaupt weitergesprochen? – stellt sich durch das Komma am Ende von v. 2 umso dringlicher. Warum ist die Periode der ersten beiden Verse trotz ihrer auf den ersten Blick formalen wie thematischen Abgeschlossenheit nicht gleichbedeutend mit einer den Satz beschließenden Zäsur? Und […] Der Übergang von v. 2 in v. 3 ist ambivalent, da er durch das Komma abgegrenzt, diese Abgrenzung aber bereits mit dem ersten Wort »Und« des folgenden Verses partiell zurückgenommen und relativiert wird. »Und« kann zwar als Auftakt eines neuen Hauptsatzes verstanden werden, doch die Loslösung zu dem zuvor Gesagten wäre weitaus höher, würde ihm ein Punkt vorausgehen. In ihrer Aufeinanderfolge über die Versgrenze hinweg beschreiben Komma und »Und« damit die komplexe Relation, die bisher zentral war: das Verhältnis von Einheit und Differenz und deren Vermittlung in der Prozessualität der Sprache. Die Bewegung verläuft (a) über das zugleich trennende und verbindende Komma, (b) über die durch die Versgrenze erzeugte Sinneinheit von v. 2 sowie die Eröffnung einer von ihr unterschiedenen Weiterführung der Rede und schließlich (c) über das »Und«, das die Zusammengehörigkeit der beiden Teile behauptet und zugleich deren Unterschied markiert. Da sich die Bedeutung des Wortes ›und‹ – d.h. seine Semantik wie seine Funktion innerhalb des Satzes bzw. Verses – keine Referenz auf ein äußeres Objekt besitzt, ist es entscheidend, das Spektrum dieser besonderen Verbindung sichtbar zu machen. Bereits in v. 1 besaß die Konjunktion ›und‹ eine vierfache Bedeutung, die nun auch im Blick auf die Vermittlung der beiden Hauptsätze bzw. der Verse 1/2 und 3/4 hervorzuheben ist. In der konsekutiven bzw. konklusiven Funktion besagt das Wort ›und‹, daß der in v. 3 und v. 4 beschriebene Zustand des Du sowie dessen Tat eine notwendige Explikation der Aussage in den beiden ersten Versen ist, so daß diese selbst nur im Licht dieser Weiterführung verständlich wird. Als kausale Konjunktion ist diese Beziehung noch stärker betont, da in v. 1
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und v. 2 der Grund dafür skizziert wird, daß sich das Du in dieser Weise verhält.¹⁷³ Bei einem temporalen bzw. iteralen ›und‹ stehen die beiden Sätze in einem nachgeordneten Verhältnis zueinander, wobei über die Chronologie hinaus keine weiteren Beziehungen zwischen ihnen besteht und der Freitod des Du lediglich der beschriebenen Suche und der Erscheinung des göttlichen Feuers nachgeordnet ist. Gänzlich unabhängig voneinander sind die beiden Sätze nur dann zu verstehen, wenn man davon ausgeht, daß das ›und‹ eine koordinative Konjunktion ist. Dann ist zu fragen, warum das Ich diese beiden Sätze in einen derart engen Bezug zueinander stellt und ob es über das ›und‹ hinaus keine konkretere Aussage über das Verhältnis der beiden geschilderten Begebenheiten machen will oder kann. Besonders den letzten Punkt gilt es für den in v. 2 so prominent gewordenen Subjekt-Komplex zu bedenken. Von welcher Position aus wird dieses ›und‹ überhaupt geäußert und an wen richtet es sich: vom Ich aus an ein unbekanntes Du, vom Ich aus an Empedokles, vom Ich aus an sich selbst, von Hölderlin aus an sich selbst, der im Schreiben auf sich als ›geschriebenes‹ und darin gegenübergesetztes Ich reflektiert, von Hölderlin aus an den Leser? Und du […] Die Betonung ändert sich jedoch mit dem nächsten Wort. Der Akzent verschiebt sich auf das Subjekt und setzt damit gleich zu Beginn des neuen Verses – auch metrisch¹⁷⁴ – den Schwerpunkt, mit dem der vorherige endete. Die erneute Anrede steht jedoch für mehr als nur die bereits mit dem Wort »dir« vollzogene Trennung des Ausgesagten vom Ich der Rede. Über die Versgrenze, die Interpunktion und die Konjunktion hinweg hat sich auch der Zustand des Angeredeten verändert, denn mit dem Wechsel vom Dativ (»dir«) zum Nominativ (»du«) hat auch der (Satz-)Gegenstand gewechselt. Das Subjekt steht jetzt, angezeigt durch den Kasus, als aktiver Träger der Handlung im Mittelpunkt und ist nicht mehr passives Objekt, dem etwas (in der Wahrnehmung) gegeben wird oder dem etwas erscheint.
173 Diese Lesart ist vor allem wegen der bereits erwähnten paradoxen Relation von Grund und Abgrund interessant. Wie wäre es zu verstehen, daß ein begründetes Verhalten für Empedokles letztlich in einen Abgrund führt? Hinzu kommt, daß v. 3 eine ausweglose, in sich widersprüchliche ›Befindlichkeit‹ als Grund und Anlaß für den Ätnasturz artikuliert. In diesem Fall läge ein doppelter Grund vor bzw. es wären zwei Gründe anzunehmen, die wiederum aufeinander bezogen und kausal abhängig zu denken wären. 174 So kann man in v. 3 erst für die zweite Silbe »du« von einem ›Akzent‹ sprechen. Das Wort »Und« für sich genommen steht noch in keiner Relation und ist damit metrisch ebensowenig eindeutig bestimmbar wie die letzte Silbe »dir« in v. 2.
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Bereits an dieser Stelle des Verses läßt sich erkennen, daß der Übergang von v. 2 zu v. 3 keine bruchlose Kontinuität beschreibt. Sowohl die Interpunktion wie das mehrdeutige »Und« zeigen etwas an, das nicht weiter verbalisiert wird. Der Umschlag vom passiv-objektiven »dir« ins aktiv-subjektive »du« ist eng an die Form der Aussage gebunden. Sie ist eine Vers-Bewegung über die Leerstelle der Versgrenze hinweg, d.h. eine Invertierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt sowie eine (nicht nur syntaktische) Spiegelung der Subjekt-Position, die vom Ende (von v. 2) an den Anfang (von v. 3) wechselt. […] in schauderndem Verlangen Bevor ich näher auf die Formulierung am Versende eingehe, möchte ich zunächst das vorangestellte Adverb in den Blick nehmen. Da nicht davon die Rede ist, daß das Du mit »schauderndem Verlangen« handelt, sondern »in« diesem, liegt die Betonung darauf, daß es sich – im Wortsinn – um eine ›Befindlichkeit‹ des Du handelt. Das ist für die Souveränität des Subjekts von Bedeutung, die am Ende von v. 2 thematisch wurde. Ein Gefühl nicht nur als Akzidentelles, Vorübergehendes bei sich zu haben, sondern mit ihm wesentlich verbunden und in es eingebunden zu sein, dementiert die eigene Autonomie. Die Befindlichkeit ist vom bloßen ›Zustand‹ des Subjekts zu unterscheiden, da damit nur die »Beschaffenheit zu einem Zeitpunkte«¹⁷⁵, also die temporäre Äußerlichkeit des Gefühls betont würde. Außerdem würde dem Subjekt mit ›Zustand‹ eine Statik zugesprochen, ein finales Zum-Stehen-Kommen; ›Befindlichkeit‹ hingegen erlaubt, die Dynamik weiterer äußerer Veränderungen bei gleicher innerer Verfaßtheit zu denken. Besonders bei v. 4 zeigt sich, daß das genannte Gefühl nicht nur Anlaß zum Handeln ist, sondern die Tat selbst in diesem vollzogen wird. Das über ›Befindlichkeit‹ eröffnete Wortfeld führt dabei über die Verschränkung von Ort und Gefühl hinaus und läßt sich in direktem Bezug auf v. 1 lesen. Wie und wo sich Empedokles (an dieser Stelle des Textes) befindet, ist als ›Befund‹ zugleich das Ergebnis und das Ende der von ihm angestrengten Suche. Was er jedoch gefunden hat, ist nicht ein äußeres Objekt, sondern eine besondere Emotionalität, die seine Subjektivität bedingt. Worin gründet aber die Befindlichkeit des angesprochenen Subjekts? Da die Antwort darauf aus dem bisher Geäußerten gewonnen werden muß, ist noch einmal an das Verhältnis der ersten zur zweiten Strophenhälfte und deren Übergang zu erinnern. Die beiden erstgenannten Lesarten des »Und« am Versanfang geben einen ersten Hinweis darauf, daß das in v. 3 Gesagte eine direkte Reaktion
175 Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 1216a.
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auf v. 1 und v. 2 darstellt. Das ›schaudernde Verlangen‹ ist entweder Konsequenz oder weitere Explikation der Suchbewegung und der Erscheinung des ›göttlichen Feuers aus der Erde‹. ›Schauderndes Verlangen‹ artikuliert jedoch eine widersprüchliche Struktur, da es ein Gefühl beschreibt, das einen Konflikt austrägt. Denn wie soll verstanden werden, daß das Hingezogensein des Verlangens mit einem schaudernden Zurückweichen verbunden ist?¹⁷⁶ Es wäre voreilig, hier von einem Widerstreit zweier Gefühle auszugehen, da nicht von ›Schaudern und Verlangen‹ die Rede ist. Die Bedeutung, die diese Formulierung für die Aussage in v. 3 besitzt, zeigt sich auch an der überlieferten Entwurfshandschrift. In der ersten Konzeption lautet der Vers der Odenfassung noch »Und ach! Du folgst der Lust, [u. eilst] [dem] und«¹⁷⁷; erst in einer späteren Überarbeitung notiert Hölderlin am linken Rand des Blattes über drei Zeilen hinweg den späteren Wortlaut. An dieser Änderung läßt sich ablesen, wie sehr es ihm darauf ankam, dem Du keine blinde Nachfolge seiner Lust bzw. seines Verlangens zuzuschreiben, sondern auch das Subjekt und dessen innere Verfaßtheit als eine dialektische Spannung zu beschreiben, die sich allgemein in den beiden ersten Versen aufgebaut hat. Eine erste Deutung faßt »in schauderndem Verlangen« so auf, daß das Verlangen das Subjekt erschaudern läßt. Im Verlauf der Rede ließe sich diese Interpretation dadurch stützen, daß in dem Verlangen der Anlaß zum Sturz in den Ätna gesehen werden kann: das Subjekt ›erzittert‹¹⁷⁸ vor dem Wunsch, sich umzubringen.¹⁷⁹
176 Das ›schaudernde Verlangen‹ ist in seiner Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen und – entgegen der Meinung Emil Staigers – gerade keines, das sich lediglich »an keine faßlichen Gründe mehr kehrt und die Besinnung überwältigt« (vgl. Emil Staiger, Der Opfertod von Hölderlins Empedokles. In: Hölderlin-Jahrbuch 13 [1963/64], hg. von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat, S. 1–21, hier S. 12; Joseph B. Dallett teilt Staigers Ansicht [vgl. Joseph B. Dallett, Hölderlins Ätna. Zur Quellenfrage und Bildlichkeit der Empedokles-Dichtungen. In: Goethezeit. Studien zur Erkenntnis und Rezeption Goethes und seiner Zeitgenossen – Festschrift für Stuart Atkin, hg. von Gerhart Hoffmeister, Bern, München 1981, S. 252–264, hier S. 256 u. 262 f.]). 177 Transkription, S. 31, Z. 26. 178 Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 833a. 179 Mit Adorno könnte man Empedokles’ Befindlichkeit auch ein ›ästhetisches Verhalten‹ nennen, den Ausdruck eines Selbstbewußtseins, das von einer Dominanz über das Objekt absieht und somit ›Eros und Erkenntnis‹ verbindet: »Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild. Was später Subjektivität heißt, sich befreiend von der blinden Angst des Schauers, ist zugleich dessen eigene Entfaltung; nichts ist Leben am Subjekt, als daß es erschauert, Reaktion auf den totalen Bann, die ihn transzendiert. Bewußtsein ohne Schauer ist das verdinglichte. Jener, darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bil-
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Das Zugleich der beiden widerstreitenden Momente in einem Gefühl kann auch so ausgelegt werden, daß hier ein für das Ende der Ode entscheidender Aspekt formuliert wird. In Rudolf Ottos religionspsychologischer Bestimmung wird das Heilige als mysterium tremendum et fascinosum erfahren.¹⁸⁰ Die ›Kontrastharmonie‹ eines staunend-überschwenglichen Ergriffenseins und schauervoller Furcht vor der absoluten Unnahbarkeit des numinosen Gottes steht dem in sich paradoxen Gefühl des ›schaudernden Verlangens‹ sehr nahe und ist eine mögliche Reaktion auf die Erscheinung des ›göttlichen Feuers‹. Es kann zu diesem Zeitpunkt der Interpretation nur behauptet werden, daß dieses emotionale Kontrastprinzip im Sinne Ottos in der Erfahrung des Heiligen auch mit dem ersten Kolon der dritten Strophe (»Doch heilig bist Du mir, […]«) in direktem Bezug steht. Das Problem der beiden genannten Lesarten besteht darin, daß hier ›schaudern‹ ausschließlich aktiv aufgefaßt wird. Die Rede »in schauderndem Verlangen« darf jedoch nicht nur paraphrasiert werden in ›schaudernd machendes Verlangen‹. Denn zugleich wird das Verlangen selbst als ›schaudernd‹ beschrieben, was eine weit komplexere Aussage darstellt. Durch das Attribut ›schaudernd‹ wird das Verlangen als ›Verlangen‹ fragwürdig, da dieses »lebhafte und und mit unruhiger Erwartung verbundene Wollen«¹⁸¹ eines Abwesenden, eines Objekts, das man nicht besitzt, hier von einer »Empfindung der Angst, des Schreckens«¹⁸² geprägt sein soll. Um genauer zu sein: Das Wort ›schaudernd‹ unterminiert die herkömmliche Bedeutung von ›Verlangen‹, indem es ein ihm widersprüchliches Moment behauptet.¹⁸³ Hier wird erneut die poetische Qualität der Versrede deutlich in ihrer Abgrenzung von einem begrifflichen Sprachgebrauch. Die an sich unmögliche Verbindung der beiden Worte führt nicht zu einer leeren Paradoxie, die lediglich unser sicher geglaubtes Sprachverständnis unterläuft. Die auf der sprachlichen Ebene stattfindende Dekonstruktion der Begriffssprache korrespondiert mit der des Subjekts, dem das Gefühl eines ›schaudernden Verlangens‹ zugesprochen wird. Das angeredete Du besitzt – der Äußerung des poetischen Ich folgend – kein ein-
det die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich untertan zu machen. Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 489 f.). 180 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2004. 181 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1075. 182 Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 833a. 183 Damit werden alle Deutungen fraglich, die die Formulierung ›schauderndes Verlangen‹ als Todessehnsucht deuten.
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heitliches Gefühl mehr, sondern ist emotional gespalten. Dies unterstreicht nicht nur die bereits in v. 2 artikulierte Erschütterung der Subjektsouveränität, sondern bereitet auf den weiteren Verlauf der Rede in v. 4 vor. Daß sich das Du in diesem widersprüchlichen Gefühl wesentlich befindet und dieses nicht nur akzidentell seine Handlung begleitet, führt notwendigerweise zu einer Zerrissenheit des Subjekts selbst. Die Fragwürdigkeit der Sprache bezeugt so die Fragwürdigkeit des Subjekts gegenüber sich selbst sowie die Notwendigkeit, sich selbst zu reflektieren. Die Folge ist, daß sich das Subjekt in seiner widersprüchlichen emotionalen Dualität sich selbst als Objekt gegenübersetzt. Im angesprochenen Subjekt wiederholt sich die Trennung der Einheit in eine konkrete Wechselbeziehung zweier widerstreitender Momente, der es in v. 1 und v. 2 noch gegenübergestellt war.¹⁸⁴ Bezüglich der Eingangsfrage, was diese paradoxe Emotionalität im Du ausgelöst hat, kann aus der eben skizzierten Strukturanalogie geschlossen werden, daß das Subjekt die Verfaßtheit des Objekts, mit dem es konfrontiert war, in sich re-präsentiert. Am Ende des Verses zeigt sich so eine doppelte Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt. Das Subjekt kann sich als solches nur begreifen, wenn es sich zum Objekt wird; das Objekt hingegen muß, wenn es in die Erscheinung tritt, Subjektives und Objektives miteinander vermitteln.¹⁸⁵
184 Die Problematisierung der Subjektivität, die immer auch das Verhältnis der Subjektivität des Autors bzw. des Lesers gegenüber dem Text einschließt, kann auch im Horizont der aristotelischen Poetik gelesen werden. Aristoteles bestimmt die Tragödie als die »Nachahmung von Handelnden […], die Jammern und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung […] bewirkt« (Aristoteles, Poetik, S. 19). Mit der karthatischen ›Lust am Schaudern‹, die sich für Aristoteles besonders in Euripides’ Tragödien ausdrückt, werden Momente artikuliert, die sich in der ›tragischen Ode‹ Empedokles wiederfinden. 185 Vgl. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, S. 97: »[Das] Subjekt ist hiermit subjektives Subjekt-Objekt, – das Objekt objektives Subjekt-Objekt. Und weil nunmehr, da eine Zweiheit gesetzt ist, jedes der Entgegengesetzten ein sich selbst Entgegengesetztes ist und die Teilung ins Unendliche geht, so ist jeder Teil des Subjekts und jeder Teil des Objekts selbst im Absoluten, eine Identität des Subjekts und Objekts [...]. Nur in realer Entgegensetzung kann das Absolute sich in der Form des Subjekts oder Objekts setzen, das Subjekt in Objekt oder Objekt in Subjekt dem Wesen nach übergehen, – das Subjekt sich selbst objektiv werden, weil es ursprünglich objektiv oder weil das Objekt selbst Subjekt-Objekt ist, oder das Objekt subjektiv werden, weil es nur ursprünglich Subjekt-Objekt ist. Hierin besteht allein die wahre Identität, daß beide ein Subjekt-Objekt sind, und zugleich die wahre Entgegensetzung, deren sie fähig sind.«
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Zur Metrik von v. 3 Und Du in schauderndem Verlangen 2 1 2 1 2 s2 1 2 Angesichts der Beobachtungen zur Metrik von v. 1 und v. 2 – ihrer Unablösbarkeit vom materiell Ausgesprochenen, ihrer Entwicklungslogik und ihres eigenen Aussagewerts –, ist das alternierende Metrum von v. 3 in seiner Differenz zu den beiden vorangehenden Versen zu analysieren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Interpretationen der Odenstrophe muß daher erneut gefragt werden, ob, und wenn ja: warum mit dem Übergang in v. 3 ein Wechsel des metrischen Sprachmodus stattfindet und was diesen Wechsel motiviert. Der dritte Vers der ersten Strophe bildet weitaus komplexere Strukturen und Relationen aus, als man es angesichts der klassischen Metrifizierung gemäß dem antiken Schema erwarten würde. Ungeachtet dessen möchte ich zunächst die herkömmliche Ordnung untersuchen und auf das Ausgesagte beziehen. Und Du in schauderndem Verlangen 2 12 12 12 12 In dieser Gliederung besteht der Vers aus vier Trochäen und einer Auftaktsilbe. Für diese Ordnung spricht, daß das Wort »Und« lediglich als Konjunktion, als Brückenglied zwischen den ersten beiden Versen und v. 3 gelesen werden kann und somit keine eigene Betonung erhalten noch Teil eines Versfußes sein muß. Auffällig ist dabei jedoch, daß die zweisilbigen Trochäen ausschließlich von ein- und dreisilbigen Wörtern gebildet werden und so zu keinem Zeitpunkt eine Übereinstimmung von antikem Versfuß und – im Sinne Klopstocks – deutschem Wortfuß vorliegt. Diese Spannung zwischen der Form der Rede und dem materiell Ausgesprochenen zeugt von einer Irritation innerhalb der Aussage. Die Metrik kann so als Indikator einer indirekt zur Sprache kommenden Verschiebung gewohnter Verhältnisse verstanden werden, die fragen läßt, woraus diese Verschiebung resultiert, d.h. wo sich im materiell Ausgesprochenen diese Irritation wiederfindet. Von der im Strophenüberblick skizzierten Perspektive aus, die den gesamten Aufbau der vier Verse zueinander reflektiert, ist bei dieser Gliederung der Wegfall des Daktylus signifikant. Konnte das dialektische Verhältnis von Trochäus und Daktylus in der Mitte von v. 1 und v. 2 als maßgeblich für deren Entwicklungslogik bestimmt werden, so verwundert es jetzt, daß v. 3 nur noch von Trochäen dominiert wird. Übertragen auf die Relation von Subjekt und Objekt, die bislang die Interpretation prägte, ist das Fehlen eines der beiden zentralen Versfüße gleich-
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bedeutend mit der Absolutsetzung des anderen. Entsprechend dieser metrischen Einseitigkeit ist in v. 3 ausschließlich vom Subjekt die Rede.¹⁸⁶ Auch hier kann zu diesem Zeitpunkt nur darüber spekuliert werden, ob die Verschiebung der Ordnung wie auch die Absolutsetzung eines Versfußes mit der von Hölderlin thematisierten Hybris des Empedokles korrespondiert. Diese besteht darin, sich – jenseits der natürlichen Innigkeit der Gegensätze – über jegliche Objektivität zu erheben und die eigene Subjektivität als allein ›Maß gebend‹ (hier auch im Wortsinn als metrum verstanden) zu erklären. Angelehnt an diese Ordnung ist jedoch auch eine Spiegelung der Versfüße möglich, die die erste Silbe nicht als Auftakt sondern als Teil eines Jambus und das Ende des Verses hyperkatalektisch versteht: Und Du in schauderndem Verlangen 21 21 21 21 2 Alle Beobachtungen, die zuvor für das trochäische Versmaß gemacht wurden, ergeben sich auch für das jambische: der Konflikt zwischen zweisilbigen Versfüßen und ein- bzw. dreisilbigen Wörtern und das Fehlen eines Daktylus. Hinzu kommt jedoch, daß durch dieses alternative Schema die klassische Gliederung in zweisilbige Versfüße hinsichtlich ihrer klaren Zuordnung metrischer Einheiten erschüttert ist. Die neunte Silbe unterläuft jeden Versuch, eine definite Ordnung herzustellen.¹⁸⁷ So oszilliert das Metrum zwischen einem jambischen und trochäischen Maß, wie sich die Rede in einem permanenten Schwanken zwischen Subjekt und Objekt entwickelt. Neben diesen beiden klassischen Gliederungen sind jedoch noch weitere Ordnungen denkbar, die sich aus der Prozessualität des Ausgesprochenen ableiten lassen. Nach den ersten drei einsilbigen Worten folgt mit »schauderndem« das erste dreisilbige Wort, das sich damit metrisch vom Versbeginn abstößt. Rückwirkend entsteht dadurch eine Einheit der ersten drei Worte zu einem metrischen Kolon, in diesem Fall: einem Versfuß. Zusammen mit dem letzten Wort »Verlangen«, das ebenfalls dreisilbig ist, ergibt sich so eine Ordnung des Verses in drei Versfüße zu je drei Silben:
186 Auch in der Deutung des ›schaudernden Verlangens‹ als tremendum et fascinosum ist dieses unter dem religionsspychologischen Gesichtspunkt Rudolf Ottos nur die subjektive Reaktion auf das Objekt; das unnennbar Heilige bezeichnet keine Qualität des Objekts selbst. 187 In Rückbezug auf das Metrum von v. 1 und v. 2, bei denen die elfte Silbe als überzählig interpretiert werden kann, kann v. 3 als unterzählig beschrieben werden; als Richtmaß dient v. 4, der mit zehn Silben genau die Mitte der beiden darstellt.
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Und Du in schauderndem Verlangen 212 121 212 Die beiden dreisilbigen Versfüße finden sich bereits in v. 1 und v. 2, wo der Amphibrachys den Anfang, der Kretikus das Ende des Verses bildet. In der möglichen Zusammenrückung der beiden in v. 1 ergab sich sogar ein eigenes Satzgefüge: »Das Leben […] quillt und glänzt« (2 1 2 […] 1 2 1). Das Verhältnis von Anfang und Ende und ihr direkter Bezug werden in v. 3 metrisch aufgenommen und modifiziert. Anfang und Ende stehen sich nicht mehr komplementär gegenüber, sondern der Kretikus in der Mitte wird von zwei Amphibrachys umrahmt. Die Spannung von Trochäus und Daktylus stellt demgemäß nicht mehr das Zentrum des Verses dar. Es ist auffällig, daß gerade die beiden Versfüße, die zuvor die problematische Mitte bildeten und in der Folge gleich in doppelter Form den vierten Vers dominieren werden, in dieser Triade gänzlich fehlen. So entsteht der Eindruck, als ob metrisch der Konflikt von Trochäus und Daktylus und damit – auf die Kernproblematik der Strophe übertragen – der Konflikt von Subjekt und Objekt vorläufig in eine andere Ordnung, einen anderen Modus übergegangen ist. Die Relation von Amphibrachys und Kretikus ist jedoch weitaus komplexer. Insofern es sich um drei einander abwechselnde Versfüße handelt, wiederholen sie die triadische Struktur, die sie jeweils selbst konstituiert. So ergeben sich zwei mögliche Deutungen dieser Aufeinanderfolge: 212 121 212 2 1 2 1 2 1
(a) (b)
Im Fall (a) können die drei Versfüße als ein Amphibrachys gelesen werden, bei (b) hingegen als ein Kretikus – je nachdem, welcher Fuß betont, welcher unbetont gelesen wird. Die metrische Verschränkung kann nun so verstanden werden, daß über das Verhältnis 3:1 kein ruhiger Ausgleich unter den Momenten vorliegen kann, da jeweils ein Teil die Dominanz über den anderen behauptet. Diese spezifische Relation von Einheit (des Verses bzw. des Versfußes) und Vielheit (der drei Versfüße bzw. drei Silben) bleibt der Rede jedoch nicht äußerlich, sondern wird im Ausgesprochenen explizit aufgegriffen. Aus der metrischen Dreiteilung des Verses erscheint auf der Textoberfläche ein entsprechendes Verhältnis: Und Du in | schau-dern-dem | Ver-lan-gen 212 121 212
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Interpretation
Erst in dieser Einteilung fällt auf, daß der Vers in der ersten Einheit aus drei einzelnen Silben, in den beiden folgenden aus drei zusammenhängenden aufgebaut ist: In der Formulierung ›Und Du in‹ überwiegt die Vielheit der Silben über die Einheit der Worte, in ›schauderndem‹ und ›Verlangen‹ die Einheit des Wortes über die Vielheit der Silben. Aus diesem Unterschied der Relationen ergibt sich eine neue, aus der Materialität des Ausgesprochenen resultierende Ordnung, die mit der metrischen in Spannung tritt: Und Du in | schau-dern-dem | Ver-lan-gen 1 2 2 (c) 2 1 1 (d) Da die drei Teile in dieser Gliederung nicht mehr in einer alternierenden Reihenfolge stehen, ergeben sich weitere sprachliche ›Versfüße‹: Es handelt sich entweder (c) um einen Daktylus (1 2 2) oder (d) einen Bakcheios (2 1 1). Daß v. 3 von der Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Dreiheit dominiert ist, wird spätestens dann deutlich, wenn man sich seiner syntaktisch-semantischen Gliederung bewußt wird. Der Vers besteht aus einer Redeeinheit, die sich aus den drei eben genannten Unter-Einheiten zusammensetzt. Die beiden Interpretationen zur Metrik von v. 3 gingen bisher von einem streng alternierenden Metrum aus; diese Deutung ist jedoch nicht alternativlos. Das Wort, das durch seine letzte Silbe dem regelmäßigen Versmaß entgegensteht, ist »schauderndem«. Anstelle einer zweiten betonten kann es auch mit einer zweiten unbetonten¹⁸⁸ Silbe gelesen werden:¹⁸⁹
Und Du in schauderndem Verlangen 212 122 212 Anstelle einer Reflexion über die Verschränkung von Anfang und Ende wird hier – in Analogie zu v. 1 und v. 2 – die Mitte des Verses problematisiert. Die erste Irritation, die sich bei dieser Prosodie einstellt, ist der Modus des Wortes »schau-
188 In der antiken Metrik könnte die Silbe auch einen Nebenakzent (u) besitzen. Innerhalb einer metrischen Analyse jedoch, die die Dynamik des sich schrittweise verschiebenden Hauptakzentes reflektiert, ist ein solcher Nebenakzent obsolet; die Entwicklung des Verses und die Verlagerung des metrischen Schwerpunktes über das Kontrastverhältnis ›betont-unbetont‹ sind lückenlos zu beschreiben. 189 In anderer Weise wird damit ebenfalls das Verhältnis von 3:1 thematisch, da im Gegensatz zu den anderen metrischen Gliederungen des Verses insgesamt nur drei Silben betont werden.
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derndem« (als Partizip), der schon in der Vers-Interpretation Fragen aufwarf. Bezeichnenderweise ist es gerade die Nicht-Betonung der dritten Silbe, die das regelmäßige Metrum unterbricht. Um noch einmal die oben skizzierte alternative Formulierung zu bemühen: Lautete der Vers etwa ›in Schaudern und Verlangen‹, würde das alternierende Metrum nicht gestört. Um diesem Versabschnitt unter metrischen Gesichtspunkten näher zu kommen, ist erneut auf dessen Entwicklungslogik einzugehen. Sieht man einmal von der Erwartung einer Fortführung des alternierenden Versmaßes ab, artikuliert der Vers bis zum Ende des Wortes »schauderndem« ausschließlich die aus v. 1 und v. 2 bekannten Versfüße: Trochäus und Daktylus. Ebenso ließe sich eine Fortführung des Verses denken, die sich weiter in diesem metrischen Horizont bewegt: Und Du in schauderndem (Angstgefühl) 2 1 2 1 2 2 (1 2 2) Die eigentliche Irritation entsteht also nicht durch den Daktylus von »schauderndem«, sondern durch den direkten Anschluß eines Amphibrachys mit dem Wort »Verlangen« und die dadurch entstehende Folge von drei unbetonten Silben: Und Du in schauderndem Verlangen 212 122 212 Zwischen den Worten entsteht metrisch eine Kluft, eine – als Gegenstück zum Betonungsprall verstanden – ›Nichtbetonungskluft‹, die die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis der beiden Worte zueinander lenkt. Gerade dieses Verhältnis hat sich in der Vers-Interpretation als das widersprüchliche Gefühl des angeredeten Du gezeigt, als die Einheit, die eine unaufhebbare Differenz artikuliert, die es für den weiteren Verlauf der Rede zu beachten gilt.
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Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. 1221221212 Die am Ende von v. 3 etablierte Spannung der widersprüchlichen Emotionalität wirft die Frage auf, wie sich das Du in der Folge dazu verhält. Der Erwartung einer aus dem Gefühl resultierenden Handlung wird zu Beginn von v. 4 entsprochen. Das Du tritt – nach der in v. 1 genannten Suche – erst jetzt wieder als tätiges Subjekt auf: Wirfst dich […] Die Bezeichnung der Tat als ›werfen‹ bzw. ›hinabwerfen‹ ist allerdings problematisch. Die semantische Reibung, die die Formulierung »Wirfst dich« erzeugt, wird deutlich, wenn man sie im Kontrast zu möglichen anderen denkt. So würde es beispielsweise näher liegen, daß sich das Du in den Abgrund ›fallen‹ läßt bzw. sich in den Abgrund ›stürzt‹. Im Unterschied zu diesen eher passiven Handlungen im Sinne eines Sich-Überlassens hebt ›sich werfen‹ zugleich ein aktives Moment der Tat hervor. Diese Irritation infolge des reflexiven Verbgebrauchs darf nicht übergangen werden, da sie direkt aus dem Ende von v. 3 resultiert. Ein ›SichWerfen‹ setzt eine Distanz des Subjekts zu sich selbst voraus, da sich das Subjekt zugleich als Objekt seiner Tat begreift.¹⁹⁰ ›Sich werfen‹ setzt voraus, sich von sich zu unterscheiden – jedoch nicht als ein von sich verschiedenes Objekt, sondern als ein von sich unterschiedenes.¹⁹¹ Sprechend ist, daß das Wort ›werfen‹ neben seinem reflexiven Gebrauch diese Relation von Subjekt und Objekt bereits in sich trägt. Durch das ihm Entgegengeworfene (ob-iectum) wird das Du sich selbst zum Objekt, was dazu führt, daß es sich diesem (in ihm) Unterschiedenen gewaltsam ›(hin)unterwirft‹ (sub-icere).
190 Alle Verwendungen von ›sich werfen‹ im Sinne von ›sich jdm. an den Hals werfen‹, ›sich auf den Boden werfen‹, etc. sind Ableitungen der Grundbedeutung »[etwas] mit einer kräftigen Armbewegung durch die Luft fliegen lassen«; vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 1163 b. 191 Zur Differenzierung von »Unterschied an und für sich« und ›Verschiedenheit‹ als der äußerlichen und ›beziehungslosen‹ Relation zu dem von ihm Unterschiedenen vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II. Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 46–55. Das Subjekt ist für Hegel nicht von sich ›verschieden‹, da es keine Identität an sich besitzt, das es von anderem negativ abgrenzt.
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Die Unterschiedenheit des Subjekts in sich, die seine Handlung ›werfen‹ ermöglicht, ist jedoch weniger Ausdruck eines souveränen transzendentalen Selbstbewußtseins. Aus dem bisherigen Textverlauf wird deutlich, daß die Beziehung von Subjekt und Objekt in ihrer gleichwertigen Wechselseitigkeit, auf der ein solches Selbstverhältnis gründet, vielmehr problematisch ist. Gleichermaßen ist ›sich werfen‹ weder Ergebnis noch Ausdruck einer ›Tathandlung‹ im Sinne Fichtes, in der sich das Subjekt selbst setzen und dadurch ein Für-Sich-Sein konstituieren würde.¹⁹² Die Handlung des Subjekts ist vielmehr eine direkte Reaktion auf dessen Erschütterung durch das schon in sich widersprüchliche Gefühl des ›schaudernden Verlangens‹. Das von Außen bewirkte Selbstverhältnis des Du angesichts des paradox erscheinenden Wahrnehmungsobjekts läßt die Rede vom ›sich werfen‹ zu. Die Befindlichkeit des Subjekts in Reaktion auf die Erscheinung des Objekts führt zu einer Tat, die im Subjekt das analoge Strukturmoment einer in sich widersprüchlichen Einheit reformuliert. Wirfst dich hinab, […] An der Entwurfshandschrift sieht man, daß diese Formulierung das Ergebnis einer Überarbeitung Hölderlins darstellt. In der ersten Aufzeichnungsschicht der Ode lautet der Vers noch »Wirf[e]st dich hin«; erst in einem zweiten Schritt fügt Hölderlin das »ab« hinzu,¹⁹³ was dem Wortlaut der späteren Reinschrift entspricht: »Wirfst dich hinab«. Mit dem dritten Wort des Verses erhält das Sich-Werfen des Subjekts eine Richtung. Diese wäre jedoch bereits in der Verbindung ›hin-werfen‹ ausgedrückt, so daß sich die Frage stellt, welche spezielle Bedeutung das Wort »hinab« hat. Zunächst scheint die Änderung einer widerstandslosen ›Selbst-Aufgabe‹ zu widersprechen, die sich im ›Hinwerfen‹ im Sinne von ›Hingeben‹ ausdrücken würde. Die Spannung von Subjekt und Objekt, die sich mit ›werfen‹ aufgebaut hat, ginge damit verloren und die Handlung wäre mehr vom Ziel(ort) der Handlung motiviert denn vom skizzierten Selbstverhältnis des Subjekts. Dessen innerer Konflikt wird hingegen durch das Wort ›hinab‹ aufrecht erhalten, weil es den für das Prädikat entwickelten Bezug zur in sich unterschiedenen Einheit von Subjekt und
192 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Einl. und Reg. von Wilhelm G. Jacobs, 4. Auflage, Hamburg 1997, S. 16. Der Versbeginn läßt sich als eine indirekte Kritik am Denken Fichtes lesen: Nicht ein absolut gesetztes Ich ist letzter Grund der Subjekt-Objekt-Dualität, sondern diese ist als Wechselbeziehung nicht weiter abstrahierbar. Bezogen auf die Empedokles-Thematik ist eine Aufhebung der Gegensätze in einem Subjekt nicht denkbar, der Versuch von Empedokles, dies zu leisten, gemäß Hölderlins Deutung Hybris. 193 Transkription, S. 31, Z. 29f.
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Objekt weiter konturiert. Drückte sich zuvor im Wort ›werfen‹ (icere) das tertium dieser Beziehung aus, so sind nun im Adverb ›hinab‹ deren Teile in eins gefügt: ›hin‹ beschreibt die Bewegung des Ob-jekts als ein Entgegen(werfen), ›ab‹ die des Sub-jekts als einer nach unten. Subjekt und Objekt werden mit den zwei Worten »wirfst« und »hinab« in ihrer wechselseitigen Überkreuzung in der Tat des Du ausgedrückt. In Analogie zu »schauderndem Verlangen«¹⁹⁴ ist es erneut nicht ein einfaches Wort, das diese komplexe Relation zur Sprache bringt, sondern ein Kompositum aus zwei Worten.¹⁹⁵ Wie präzise Hölderlin diesen Versbeginn durch die Änderung in der Handschrift gestaltet, wird auch an der Stellung des Wortes »dich« ablesbar. Das Subjekt steht exakt zwischen den beiden Worten, die sein Selbstverhältnis in der Handlung konstituieren. Um genauer zu sein: Das Subjekt steht – angezeigt durch das akkusative Pronomen – als sein eigenes Objekt und das Objekt als Subjekt in seiner eigenen Handlung. Das Wort »dich« ist so die vermittelnde Einheit des Prädikatskomplexes. Was in v. 3 nur behauptet wurde – daß sich das Du »in schauderndem Verlangen«, also in einem widerstreitenden Gefühl befindet – wird nun in v. 4 syntaktisch eingelöst.¹⁹⁶ Angesichts der Richtungsangabe »hinab« stellt sich darüber hinaus allgemein die Frage nach der Perspektive, da es die »Bewegung von einem höhern Orte nach einem niedrigern [bezeichnet], und zwar von der redenden oder handelnden Person weg«¹⁹⁷. Ein Problem ist nun die Ungewißheit darüber, von wem aus »hinab« ausgesprochen wird, d.h. ob das poetische Ich die Position des Du teilt oder nur ›anstelle‹ von ihm spricht. Erneut ist man mit der Verwischung klarer Subjektgrenzen konfrontiert, die die gesamte Strophe bisher prägte. Denn zu der eben gestellten Frage, wo sich das poetische Ich befindet, kommt die Ungewißheit, ob es sich statt der Anrede an ein Du bzw. den im Titel genannten Empedokles nicht durchgehend um eine Selbstanrede des Ich handelt. Gerade für die letztgenannte Deutung wird die Formulierung interessant, da sie die Trennung des
194 In Rückbezug auf v. 1 und v. 2 kann man hinzufügen: und in Analogie zu »quillt und glänzt« sowie »göttlich Feuer tief aus der Erde«. 195 Die unterschiedene Einheit von »wirfst […] hinab« zeigt sich auch an der Spiegelung der beiden Worte. Während ›werfen‹ mit einem Wort die Dualität von Subjekt und Objekt beschreibt, verbindet das Kompositum von ›hin‹ und ›ab‹ die beiden miteinander. Auf das gesamte Kolon bezogen drückt sich diese Spiegelung auch in der Metrik aus: Wirfst dich | hinab (12 p 21). 196 Angesichts der Etymologie von ›werfen‹ als einer ›drehenden‹ Bewegung (vgl. Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 8. Auflage, München 2005, S. 1557) läßt sich diese Deutung dadurch stützen, daß die Wortfolge »Wirfst dich hinab« selbst eine ständige ›Drehung‹ der Subjekt-Objekt-Relation darstellt. 197 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1182.
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Interpretation
Subjekts in ein aktiv-handelndes Subjekt und ein passives Objekt radikalisiert. Denn was bedeutet es, wenn sich das poetische Ich präsentisch – d.h. im Augenblick der Rede – darin beschreiben würde, wie es sich hinabwirft? Welche Subjektivität liegt dann dem poetischen Ich zugrunde, wenn es in der Folge weiterreden kann? Und welchen Teil – realgegenständlich wie methaphorisch aufgefasst – hätte es dann tatsächlich (sprechend-handelnd) von sich ›hinabgeworfen‹? Die mehrfache Lesbarkeit des Kolons wird durch das Komma nach »hinab« noch verstärkt. Die Interpunktion in der Mitte des Verses gliedert ihn in zwei Teile, so daß man seine erste Hälfte zunächst für sich lesen muß. Diese so erzeugte Absolutsetzung des ›Hinabwerfens‹ wirft Fragen auf, weil weder ein Ausgangspunkt noch ein Ziel direkt angegeben ist. Nur wenn man bis zu v. 2 und der Rede vom »aus der Erde« quillenden Feuer zurückliest, läßt sich ein solches ausmachen und das ›Hinabwerfen‹ als Gegenbewegung im Sinne von ›in die Erde‹ verstehen. Das Komma, das erst in der späteren Reinschrift von Hölderlin eingefügt wurde, hat in diesem Zusammenhang jedoch noch weitere Auswirkungen auf die Bedeutung des Verses, da es dessen gesamte zweite Hälfte zu einem explikativen Nebensatz abstuft. Dabei bedeutet die Grenze, die das Komma markiert, den Übergang zweier unterschiedlicher Sprachmodi. Selbst wenn man die genaue Semantik des Kolons »in des Aetna Flammen« und dessen Implikationen zunächst außer Acht läßt, wird dieser Wechsel deutlich, der letztlich die gesamte erste Strophe betrifft. Bis zum Wort »hinab« handelt es sich um eine indexikalische, perspektivische und subjektgebundene Rede, bei der nie klar ist, von welcher Richtung, von welcher Position, über welches oder von welchem Subjekt her gesprochen wird und ob die Rede die Ansicht des poetischen Ich oder des angeredeten Du wiedergibt. Fokussiert man sich auf die Befindlichkeit und die Tat des Subjekts, liegt diese Unsicherheit darin, daß man nicht weiß, ob das poetische Ich die in v. 2 beschriebene Erscheinung als ›göttliches Feuer aus der Erde‹ nur deutet und dem Du in der Folge das paradoxe Gefühl ›schaudernden Verlangens‹ zuspricht; weiterhin, ob dies die Haltung des Du repräsentiert oder – als dritte Möglichkeit, die nun in v. 4 virulent wird – ob es eine Tatsache beschreibt. Durch das Komma als eigener Modus des Sprechens abgesetzt, ist das letzte Kolon »in des Aetna Flammen« eine deskriptive, konstatierende Rede, die – in klarem Gegensatz zum zuvor Gesagten – einen Bruch mit jeglicher Perspektive vollzieht und eindeutig den Anspruch auf Objektivität, d.h. hier ›Subjektlosigkeit‹, erhebt. Man könnte soweit gehen zu sagen, daß das letzte Kolon indirekt ausdrückt, daß das ›Subjekt‹ (als der Gegenstand des Sprechens) tatsächlich ›hinabgeworfen‹ und fallen gelassen wurde und nur noch der Restposten einer referierenden Redeinstanz übrig bleibt.
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[…] in des Aetna Flammen. Mit dem letzten Kolon erhält man erstmals einen eindeutigen Hinweis darauf, daß mit der Anrede des Du in der gesamten ersten Strophe der im Titel genannte Empedokles (von Agrigent) angesprochen sein könnte.¹⁹⁸ Die Nennung des Aetna¹⁹⁹ bezieht sich auf die von Hippobotos überlieferte Todesart von Empedokles, auf die sich auch Hölderlin bezieht.²⁰⁰ Der berichtende, historisierende Stil des Versschlusses kann einerseits als Profanisierung der Tat verstanden werden – betont man das Wort »Aetna«, sind es eben nur die Flammen eines Vulkans und nicht die des ›göttlichen Feuers‹, in die sich das Du wirft.²⁰¹ Andererseits ist der Ätna als ein mythologischer Ort zu
198 Ich setze diesen Satz bewußt in den Konjunktiv, da das Ende der Strophe die bisherigen Beobachtungen nicht einfach aufhebt oder vereindeutigt. Die Komplexität der Bezüge und die sprachliche Mehrdeutigkeit haben die Rede bis zu dieser Stelle konturiert. Selbst wenn man, wie in der Interpretation von v. 1 explizit formuliert, den thematischen Rahmen ›Empedokles‹ als formgebend voraussetzt und reflektiert, bedeutet dies nicht, daß es sich bei der ersten Strophe lediglich um eine expositorische Schilderung dieser Thematik handelt, die die Legende vom Ätnatod des Empedokles möglichst kunstvoll nachzeichnet. Die Ode ist von Beginn an eine Auseinandersetzung mit der für Hölderlins Empedokles-Rezeption zentralen Problematik einer angemessenen Subjekt-Objekt-Relation im Schreiben und nicht die Artikulation eines vorsprachlichen Gedankens. 199 Allein aufgrund der Tatsache, daß das Wort »Aetna« in der gesamten Ode neben dem Titel den einzigen Eigennamen darstellt, kann es in Bezug zu Empedokles respektive (dem Wort) »Empedokles« gelesen werden. 200 Vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übersetzt und erläutert von Otto Apelt, 3. Auflage, Hamburg 1998, S. 143: »Hippobotos aber berichtet, er sei, nachdem er sich erhoben, in der Richtung auf den Ätna zugewandert und bei den Feuerschlünden angelangt, sei er hineingesprungen und verschwunden, in der Absicht, den über ihn verbreiteten Glauben, er sei zum Gott geworden, zu bestärken.« Die historischen Zeugnisse und Legendenbildungen zu Empedokles und dem Ätna reichen über dessen Freitod hinaus: »Von dem Fardella wird in seiner Descriptione Siciliae berichtet, daß ohngefähr 200 Schritte von dem obersten Gipfel des Berges annoch Spuren von einem gebahnten Wege anzutreffen wären, welcher von denen Einwohnern der Philosophen-Gang genennet würde, und die uralte Tradition hätte, daß daselbst Empedocles seine physicalischen Betrachtungen über denselbigen anzustellen gepflogen« (Johann Heinrich Zedler, Großes Universalexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden worden, 64 Bde. u. 4 Supplementbde., Halle, Leipzig 1732–1751, Bd. 1, Sp. 709). 201 Dem entsprechen die ironischen Banalisierungen der Todesumstände von Empedokles; vgl. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, S. 146: »Auch Du weihtest dich einst, Empedokles, himmlischem Feuer, / Läuternd in lodernder Glut deinen vergänglichen Leib; / Nicht als ob du absichtlich hinab in den Ätna dich stürzest, / Nein, du suchtest Versteck; dabei versankst du hinein.«; vgl. Horaz, Briefe. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit histo-
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lesen, der Verbindungen zur titanischen Hybris zuläßt, die Hölderlin Empedokles attestiert.²⁰² So sei der als Sohn von Gaia und Tartaros gezeugte Riese Typhon von Zeus unter den Ätna verbannt worden, nachdem er sich gegen diesen aufgelehnt hatte und letztlich bezwungen wurde;²⁰³ prominent findet sich dieser Mythos unter anderem in den Oden Pindars.²⁰⁴ Losgelöst von den historischen und mythologischen Bezügen ist die Formulierung »Aetnas Flammen« als die Nennung des Ortes zu untersuchen, auf den die Handlung des Du ausgerichtet ist. Es gilt dabei erneut, auf den genauen Wortlaut des Versendes zu achten. In Hölderlins Arbeiten über Empedokles steht die Rede über den Vulkan Ätna²⁰⁵ immer wieder in enger Verbindung mit Äußerungen
rischen Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland, Leipzig 1816, S. 265 (Brief an die Pisonen): »[W]ie einst Empedokles / die kühle Tat beging, und in den Feuerschlund / des Aetna sprang, damit die Leute dächten / er sei ein Gott geworden. Frei / und unbenommen seis den Verslern, nach Belieben / den Hals zu brechen!« 202 Der Freitod von Empedokles läßt sich gleichermaßen als Unterwerfung unter die von der Subjekt-Objekt-Relation konstituierten Wirklichkeit wie als konsequente Handlung der Hybris deuten, sich als göttlicher Erlöser für die Welt zu opfern oder zu seinem eigenen göttlichen Ursprung zurückzukehren; vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 937: »[Pausanias:] Beim göttlichen Herakles! stiegst du auch / Um die Gewaltigen, die drunten sind, / Versöhnend die Titanen heimzusuchen, / Ins bodenlose Tal, vom Gipfel dort, / Und wagtest dich ins Heiligtum des Abgrunds, / Wo duldend vor dem Tage sich das Herz / Der Erde birgt und ihre Schmerzen dir / Die dunkle Mutter sagt, o du der Nacht / Des Äthers Sohn! ich folgte dir hinunter.« 203 Vgl. Zedler, Großes Universalexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 1, Sp. 708: »[U] nd nach dererselben [Poeten und Historien-Schreiber] Fabeln soll Iupiter den Riesen Typhoeum, welcher den Himmel stürmen helffen, unter diese Insul geworfen, und ihm diesen Berg auf den Kopf gesetzet haben, daher es kann geschehen, wenn sich dieser Riese einmal bewegte, daß nicht allein die in Sicilien gewöhnlichen Erdbeben entstünden, sondern der Berg Aetna fange auch an, Feuer auszuwerfen.« Hinzu kommen christliche Deutungen der Vulkane Vesuv und Ätna als Tore zur Hölle oder allgemein als Orte des Todes; vgl. von der Thüsen, »Vater Ätna«, S. 93. 204 Interessant ist, daß der Typhon-Mythos in der ersten pythischen Ode Pindars zur Sprache kommt – eine der Oden, die Hölderlin selbst ins Deutsche übertragen hat: »Der Götter Feind, / Typhon der hundertköpfige, den vormals / Die Kilikische nährte die vielbenamete Grotte, nun aber / Die über Kuma meerabwehrende Gestade, / Und Sikelia ihm drückt / Die Brüste die haarigen; die Säule / Aber die himmlische zusammenhält, / Der schneeige Ätna, das ganze Jahr / Des Schnees des scharfen Ernährer« (Hölderlin, FHA XV, S. 193). 205 Dies entgegen der Rüge von Adelung diese Bezeichnung betreffend: »Sehr unschicklich ist es, wenn einige einen Feuer speyenden Berg, nach dem Vorgange der Franzosen, einen Vulkan nennen wollen. Warum nicht lieber Feuerberg, wenn der gewöhnliche Deutsche Ausdruck zu lang scheinet. Das Wort hat wenigstens Analogie genug« (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1316. Die Bestimmung des Ätna als Vulkan gründet jedoch auch auf mythologischen Bezügen zum Gott Vulcanus: »Nach deren Poeten Vorgeben soll Vulcanus, der GOtt der Schmiede, seine Werckstatt unter diesem Berg [Ätna] gehabt,
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über den Abgrund.²⁰⁶ Auch in der Grundschicht der überlieferten Handschrift ist noch explizit vom »bodenlosen Ätna« die Rede.²⁰⁷ Doch schon diese Streichung ist ein Anzeichen dafür, daß Hölderlin im Unterschied zu den späteren Dramenentwürfen die ›Abgründigkeit‹ des Ätna kritisch reflektiert. ›Hinab‹ ist dabei das erste Wort, das diese Position Hölderlins deutlich macht, da es gewöhnlich nur in Richtung auf einen konkreten, wenn auch nicht genau anzugebenden Ort geäußert wird.²⁰⁸ Der zweite Aspekt, der für diese Deutung spricht, ist, daß nicht vom Ätna schlechthin die Rede ist, in dessen ›bodenlosen‹ Krater sich das Du wirft, sondern von dessen »Flammen«²⁰⁹. Die Semantik dieser Stelle wird durch eine Substitutionsprobe deutlich. Warum wird nicht etwa das ›Feuer des Ätna‹ oder dessen ›Lava‹ genannt? Der Ausdruck »Flammen« unterscheidet sich von diesen Alternativen darin, daß sie »die entzündete Sammlung von Dämpfen an und über einem brennenden Körper, das mit Dünsten vermischte Feuer [bezeichnen], wenn es sich als ein flüssiger Körper aufwärts bewegt«²¹⁰. In dieser Eigenbewegung nach oben schlagen sie dem Du entgegen und stellen damit eine Gegenbewegung zu dessen Hinabwerfen dar.²¹¹ Damit läßt sich für den gesamten Ablauf der Handlung sagen, daß sie ein Subjekt-Objekt-Verhältnis formuliert: Das Subjekt wirft
und daselbst die Waffen der Götter verfertiget haben« (Zedler, Großes Universalexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 1, Sp. 709). 206 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 546: »Sein Liebling, der unruhig und bekümmert in dieser Gegend umherirrt, findet bald drauf die eisernen Schuhe des Meisters, die der Feuerauswurf aus dem Abgrund geschleudert hatte, erkennt sie, zeigt sie der Familie des Empedokles, seinen Anhängern im Volke, und versammelt sich mit diesen an dem Vulkan, um laidzutragen, und den Tod des großen Mannes zu feiern.« 207 Vgl. Transkription, S. 31, Z. 9. 208 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1182. 209 Auch im Hyperion ist an der Stelle, die sich indirekt auf Empedokles bezieht, von den ›Flammen‹ des Ätna die Rede: »Da fiel der große Sicilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen« (Hölderlin, FHA XI, S. 772). 210 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 184; ebenso Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 335a: »sich bewegendes, hochschlagendes Feuer«. 211 Die Bewegungsenergie kann dabei so weit gehen, daß sich die Flamme von ihrem Grund ablöst und für einen kurzen Moment frei nach oben fliegt; vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 643 (Herv. v. ME): »Wir sind, wie Feuer, das im dürren Aste oder im Kiesel schläft; und ringen und suchen in jedem Moment das Ende der engen Gefangenschaft. Aber sie kommen, sie wägen Aeonen des Kampfes auf, die Augenblicke der Befreiung, wo das Göttliche den Kerker sprengt, wo die Flamme vom Holze sich löst und siegend emporwallt über der Asche, ha! wo uns ist, als kehrte der entfesselte Geist, vergessen der Laiden, der Knechtsgestalt, im Triumphe zurück in die Hallen der Sonne.«
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sich (als Objekt) dem sich ihm (als Subjekt) entgegenschlagenden Objekt entgegen. Die Betonung der Flammen erfolgt nicht nur durch die Schlußstellung des Wortes am Ende der Strophe, sondern auch durch die syntaktische Konstruktion mit dem vorangestellten Genitiv »des Aetna Flammen«: Es sind die Flammen des Ätna, in die er sich hinabwirft, nicht das Feuer. Hinzu kommt, daß Flammen im Plural die erwartete – und von Empedokles erwünschte – Einheit des Objektiven unterminieren. Die Tat, die aus der problematisch erfahrenen Dualität des Lebens erwuchs, führt folglich erneut zu einer uneindeutigen Pluralität. Daß nur das ›Objekt‹ des Ätna genannt wird, d.h. das von ihm her Entgegenkommende, und nicht dessen Grund selbst, führt zu der Frage, warum an keiner Stelle der ersten Strophe der Grund für die Tat des Du zur Sprache kommt. Das ›schaudernde Verlangen‹ bereitet zwar das Selbstverhältnis vor, das ein SichWerfen möglich macht, es beschreibt jedoch keinesfalls eine zwingende Kausalität. Dem entspricht, daß auch zu keinem Zeitpunkt der Tod des Du respektive von Empedokles genannt wird.²¹² So expositorisch die erste Strophe am Ende erscheint, so verschweigt sie doch die beiden zentralen Punkte der EmpedoklesThematik. Dies wirft ein neues Licht auf den Status des letzten Kolons und seine Stellung gegenüber dem zuvor Gesagten. Der Bruch mit dem perspektivischen Modus der Rede in v. 1–3 und der ersten Hälfte von v. 4 läßt die Frage zu, ob das poetische Ich sich dazu nur nicht äußern will oder ob es ihm – zu diesem Zeitpunkt seiner Äußerung – gar nicht möglich ist. Die Absetzbewegung von der mythischen Rede und dem etablierten Redeniveau könnte einerseits als eine der beschriebenen Tat des Du simultane Abstoßbewegung des poetischen Ich gelesen werden. Andererseits ist im Blick auf Strophe 2 und 3 zu fragen, ob nicht der ›Mangel‹ an Subjektivität im letzten Sprechakt Anlaß gibt, weiterzusprechen. Sich rein ›objektiv‹ zu äußern, d.h. den ›subjektiven‹ Standpunkt gegenüber dem Geäußerten auszublenden und allein über das Objekt(ive) zu reden, wird dem zuvor Gesagten nicht gerecht. Das Ich büßt mit der letzten Äußerung, die eher als Randbemerkung denn Schlußbemerkung zu verstehen ist, die Möglichkeit ein, seine eigene Subjektivität und seine Handlung gegenüber der des Du zu artikulieren – oder es vermag dies schlichtweg nicht. Auch wenn sich das poetische Ich zum Grund der Tat nicht explizit äußert, so lassen sich doch im Verlauf der Verse mögliche Erklärungen dafür finden,
212 Dies gilt auch für die Dramenentwürfe. Joseph Suglia hat diesen Aspekt zum Ausgangspunkt seiner Studie gemacht; vgl. Joseph Suglia, Hölderlin and Blanchot on self-sacrifice, New York 2004, hier besonders S. 5–31. Auch in der zweiten Strophe der Ode ist lediglich vom Opfer des ›Reichtums‹ die Rede, nicht von Empedokles selbst.
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die auch die Redeinstanz und deren Position mitbedenken. Zum einen ist – wie bereits angedeutet – das Hinabwerfen in die Flammen als Folge der Zerrissenheit des Subjekts zu deuten. Sie soll in der Einheit und Einseitigkeit des Objektiven (d.h. dem Objekt ›Ätna‹ bzw. den ›Flammen‹) und durch die Auslöschung des Subjekts und des Subjektiven endgültig aufgehoben werden. Entsprechendes kann für das poetische Ich gesagt werden: Die Zweideutigkeit der Rede sowie die Unsicherheit darüber, ob es sich auf ein externes Du oder – zumindest auch – in Selbstanrede auf sich bezieht, soll in einer vermeintlich objektiv-faktischen Schilderung überwunden werden. Beides ist, wie sich gezeigt hat, nicht möglich. In beiden Fällen übersieht das Subjekt, daß die Erfahrung der Dualität von der Struktur des gesuchten Lebens respektive auf es hin vom Gesagten selbst ausgelöst wurde, d.h. von einer Subjekt-Objekt-Relation, die nicht überwunden werden kann. Zum anderen – um diese enge Verbindung zwischen sprechendem und besprochenem Subjekt zu radikalisieren – kann die Anrede des Ich an Empedokles und die Beschreibung der Verfaßtheit des erscheinenden Objekts wie des erfahrenden und fühlenden Subjekts als Auslöser der Tat verstanden werden. In absoluter Simultanität von Sprechen und Besprochenem wird dem Du bzw. Empedokles erst in und mit der Anrede nach und nach klar, was er tut, wo er sich befindet und was er wahrnimmt. Die Antwort auf diese Anrede erfolgt jedoch nicht verbal, sondern ausschließlich handelnd; in der Lesart der Selbstanrede des poetischen Ich fallen diese beiden Momente zusammen: Das Ich agiert sprechend-handelnd und reagiert handelnd-sprechend.
Zur Metrik von v. 4 Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. 1221221212 Die klassische metrische Gliederung des zehnsilbigen Verses beschreibt eine Folge von zwei Daktylen und zwei Trochäen: 122 122 p 12 12 Wie bereits im Überblick über den metrischen Aufbau der gesamten Strophe genannt, fällt die Restitution des Daktylus auf, der in der Deutung von v. 3 als rein trochäisch (bzw. rein jambisch) fehlte. Verbunden mit der sich daran anschließenden Deutung einer Einseitigkeit und hybriden Absolutsetzung des Subjekts durch einen bestimmenden Versfuß, zeichnet sich v. 4 durch eine klare Gegen-
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Interpretation
überstellung der beiden Versfüße aus. Sprechend ist, daß mit Daktylus und Trochäus genau die beiden metrischen Einheiten wechselseitig konturiert werden, die in v. 1 und v. 2 in ihrer direkten – von hier aus gesehen: inversen – Aufeinanderfolge das problematische und schwankende Zentrum und den Umschlagpunkt des Verses darstellten. Von Hölderlins Grund zum Empedokles her gesprochen liegt gegenüber dem ›Übermaß der Innigkeit‹, in dem die beiden Versfüße in v. 1 und v. 2 vorlagen, nach dem Durchgang durch die Strophe die ›Innigkeit‹ einer »ruhigern Betrachtung« vor, die »nun allgemeiner gehaltner unterscheidender, klarer hervorgeht«²¹³. Diese Einteilung des Verses konzentriert sich jedoch allein auf das abstrakte Verhältnis der Versfüße zueinander und läßt den über die Sprache erzeugten Aufbau außer Acht. Durch das Komma ist der Vers in zwei Teile gegliedert, was auch Auswirkungen auf die Metrik der ersten Hälfte hat: Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. 1221p221212 Die drei Worte des ersten Kolons können so als Choriambus (1 2 2 1) gelesen werden. Dies ist interessant, weil damit die beiden Versfüße, die in der metrischen Interpretation von v. 3 eine Reihe zweisilbiger Einheiten darstellten, gespiegelt gegenüberstellt werden: Trochäus und Jambus (1 2p2 1). Diese Spiegelung ist ein metrisches Bild für die im ersten Kolon ausgedrückte Selbstbezüglichkeit des Subjekts, das sich im Objekt als Subjekt und zugleich im Subjekt als Objekt erfährt und entsprechend handelt. Das für die ersten vier Silben bestimmende Spiegelverhältnis wiederholt sich in dieser metrischen Gliederung auch für den gesamten Vers. Ist das Silbenverhältnis dem klassischen Schema folgend eines von 6:4, kehrt sich diese Relation in der am Wort orientierten metrischen Struktur in 4:6 um. Diese Umkehrung läßt sich so deuten, daß der Vers nicht tradierten Schemata folgt, sondern diese vielmehr modifiziert, was sich schließlich auch in der sprachlichen Darstellung der Empedokles-Überlieferung wiederfindet. Neben diesen strukturellen Momenten der Metrik von v. 4 gilt es die prozessuale Entwicklung des Verses in den Blick zu nehmen. Besonders für das Versende
213 Hölderlin, FHA XIII, S. 872. Im einseitigen Versmaß von v. 3 war die Vereinigung »in einem Einzelnen und deßwegen zu innig« (ebd., S. 871). Der Wechsel zu v. 4 beschreibt den Moment, in dem diese Vereinigung »in eben dem Grade aufhört, als [sie] zu innig und einzig war« und in ein unterschiedeneres Verhältnis der Extreme übergeht (ebd., S. 871).
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ergibt sich eine Perspektive auf die Metrik, die über eine rein strukturelle Betrachtung nicht möglich ist. Das Komma nach dem Wort »hinab« hat nicht nur Auswirkungen darauf, in welchen abstrakten Relationen die Silben gesehen werden können, sondern ermöglicht auch, von einer Verteilung von Akzenten auszugehen, die nicht der überlieferten Strophenform entspricht. Durch die Unterbrechung nach der vierten Silbe kann die folgende als Markierung eines neu einsetzenden Sprechens auch betont gelesen werden: Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. 1221p121212 Durch den Hiatus erhöht sich nicht allein die Zahl der Akzente. Die alternierende Reihe, bestehend aus drei Trochäen, wiederholt metrisch das Versende von v. 3 und behauptet eine direkte Verbindung der beiden Äußerungen. Die formale Analogie von »schauderndem Verlangen« und »in des Aetna Flammen« wird durch den assonanten Reim von »Verlangen« und »Flammen« noch verstärkt. Dieser Befund kann so interpretiert werden, daß sich Innen und Außen, Subjekt und Objekt strukturell entsprechen. Damit wird die Entsprechung metrisch realisiert, noch bevor das Subjekt (das poetische Ich wie das angesprochene Du) sich dessen bewußt ist. Unabhängig von dieser letzten Deutung, die sich in der Annahme eines zusätzlichen Akzents begründet, ist zu fragen, welche Auswirkungen die Inversion »in des Ätna Flammen« auf das Versmaß hat und welche Alternativen denkbar wären, die Hölderlin bewußt nicht realisiert. Der Regelsyntax entsprechend ließe sich der Versverlauf auch wie folgt denken: Wirfst dich hinab in Flammen des Ätna 12212 12212 Der Vers wäre aus einem doppelten Adoneus aufgebaut und würde damit die Abgeschlossenheit der Rede besonders betonen. Daß Hölderlin dieses Versmaß nicht wählt, resultiert weniger aus der Einhaltung des klassischen Strophenschemas als vielmehr aus der im Sprechen erfahrenen Unabgeschlossenheit der Rede und ihrem Ungenügen sowie ihrer Einseitigkeit.
Zur ›Poetik des Erinnerns‹
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Zur ›Poetik des Erinnerns‹ Die Rede über den Ätnasturz, die als einzige der ersten Strophe auf eine historische Begebenheit Bezug zu nehmen scheint, spaltet sich am stärksten in die Dichotomie von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit auf. Wenn (die historische Person) Empedokles das sujet und damit das Objekt der Ode ist, handelt es sich beim Ende von v. 4 um ein eigentliches Sprechen. Wenn hingegen das poetische Ich ein Subjekt darstellt, das sich im Vollzug des Sprechens über sich selbst verständigt und versucht, über sich Rechenschaft abzulegen und Klarheit zu gewinnen über seinen Gegenstand ›Empedokles‹, so liegt paradoxerweise eine uneigentliche Rede vor, ein metaphorisches Sprechen. Denn was bedeutet es, wenn sich das poetische Ich mit seiner Rede in einen ›Abgrund‹, vielleicht sogar seinen eigenen ›Abgrund der Selbstreflexivität‹ stürzt? Sich über eine eigentliche Rede als ›eigentlich‹ in den Blick zu nehmen führt zu einer ›subjektiven Metapher‹, einer Übertragung des Eigenen ins Uneigene des Anderen.²¹⁴ Das Andere wird so zur einzigen Möglichkeit, das Eigene zu artikulieren, das Eigene allein hingegen zur unhaltbaren Position, die sich ins Uneigentliche verkehrt. In diesem Sinn ist jede poetische Rede, die über die einfache subjektive Selbstbeziehung hinausreicht, notwendigerweise »hyperbolisch«²¹⁵. Entsprechend hat der Versuch, über das Präsens der Rede das historisch Entfernte in die Gegenwart zurückzuholen, zu einer eigenen Präsenz zu machen und sich über diese scheinbare Präsenz der Sprache selbst zu vergegenwärtigen, letztlich nur aufgrund der Forderung nach absoluter Subjektivität einen gegenteiligen, entfremdenden Effekt. Denn solange dies in der Schwebe bleibt, d.h. solange die präsente Rede das Vergangene als Vergangenes repräsentiert, ist die Vergegenwärtigung als eine Selbstverständigung des Subjekts möglich. Nur über ein Präsens des Vergangenen, das sich weder in einer präteritalen Beschreibung des Vergangenen erschöpft, noch das Gegenwärtige des Eigenen als rein präsentisch auszeichnet, ist poetische Selbstvermittlung denkbar. Ein möglicher Hinweis auf diese nur über das Uneigen(tlich)e vermittelbare Selbstverständigung des Subjekts findet sich in Hölderlins theoretischen Entwürfen Seyn Urtheil Möglichkeit und Wenn der Dichter einmal des Geites mächtig…. Hölderlin wendet sich hier gegen die von Fichte und dem frühen Schelling ver-
214 Zur Verbindung von Stoff und Metapher vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 305 (Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig…; Herv. v. ME): »Wie muß nun der Stoff beschaffen seyn, der für das Idealische, für seinen Gehalt, für die Metapher, und seine Form, den Übergang, vorzüglich receptiv ist.« 215 Hölderlin, FHA XIV, S. 307.
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Interpretation
tretene Position eines absoluten Ich, d.h. einer reinen Subjektivität als selbstsuffizientes Prinzip, indem er ihr den Gedanken einer notwendigen ›Beziehung des Subjects und Objects‹ aufeinander« entgegenhält. Selbstbewußtsein ist für Hölderlin weder nur durch das Subjekt noch durch das Objekt allein denkbar, sondern ausschließlich in der Vermittlung der beiden Entgegengesetzten.²¹⁶ In Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… überträgt er diesen Gedanken theoretischer Selbstverständigung auf die Verfahrensweise des poetischen Geistes. Ziel der poetologischen Abhandlung ist die Begründung einer »poëtischen Individualität«²¹⁷, die das rein abstrakt begriffene Verhältnis von Subjekt und Objekt in der schöpferischen Reflexion der Sprache konkret erfahrbar werden läßt. Für die in v. 4 vollzogene Spaltung der Rede in Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des (poetischen wie angeredeten) Subjekts wird Hölderlins Aussage verständlich, daß der Dichter seine eigene Individualität »nicht durch sich selbst und an sich selbst erkennen kann«²¹⁸. Entsprechend ist »ein äußeres Object nothwendig und zwar ein solches, wodurch die reine Individualität […] erkennbar und mit Freiheit vestzuhalten ist«²¹⁹. Die Wechselwirkung der poetischen Verfahrensweise besteht darin, daß das frei gewählte Objekt so beschaffen sein muß, daß das Subjekt, »wenn es will [von ihm] abstrahiren kann, um von diesem durchaus angemessen bestimmt zu werden und es zu bestimmen«²²⁰. In der Empedokles-Ode wird diese Bestimmung des Eigenen über das notwendig gesetzte Andere noch potenziert, weil das Objekt der Rede ein Subjekt ist: Empedokles. Die Wechselwirkung ist somit kommunikativ, das frei gewählte Objekt der Rede tritt dem Ich von Anfang an als ein Du entgegen und macht die Grenze zwischen Subjekt und Objekt durchlässig. Dieses ›doppelte‹ Subjekt der Rede ist gespalten – ständig wechselnd zwischen Aktivität und Passivität und unklar in seinen Konturen als redendes oder angeredetes –, in dieser Entgegensetzung aber zugleich »unzertrennlich verbunden und Eines«²²¹. Das Paradoxe dieser Relation liegt darin, daß das ›poëtische Individuum‹ der »Reflexion weder als entgegensezbares Einiges, noch als vereinbares Entgegengeseztes erscheinen, […] also gar nicht erscheinen [kann],
216 Vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 45: »Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt«. 217 Hölderlin, FHA XIV, S. 311. 218 Hölderlin, FHA XIV, S. 312. 219 Hölderlin, FHA XIV, S. 312. 220 Hölderlin, FHA XIV, S. 314. 221 Hölderlin, FHA XIV, S. 311.
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oder nur im Karakter eines positiven Nichts«²²². Über keine der voneinander zu unterscheidenden »Qualitäten« der Selbsterkenntnis des poetischen Ich in dieser intersubjektiven Gegenüberstellung – »als Erkanntes aufgefaßt vom Erkennenden, […] als Erkennendes aufgefaßt vom Erkennenden, […] als Erkanntes und Erkennendes aufgefaßt, von der Erkenntniß, noch als Erkenntniß aufgefaßt vom Erkennenden«²²³ – kann das Ich als absolutes gedacht werden. Vielmehr entwickelt sich die Komplexität einer intersubjektiven Wechselbeziehung, die sich im Fall der Empedokles-Ode gleich auf vier Ebenen aufsteigender Abstraktion zeigt. Auf der untersten, ›thematischen‹ Ebene findet sich der ›referierte‹ innersubjektive Konflikt von Empedokles, auf der nächst höheren Ebene die Beziehung zwischen dem angesprochenen Du und dem sich artikulierenden, bewertenden Ich (für das nicht geklärt ist, ob es sich nicht selbst über die gesetzte Figur ›Empedokles‹ anredet). Diese beiden Subjekte werden schließlich von einem schreibenden Ich – d.h. Hölderlin – in ihrer Relation zueinander reflektiert, d.h. das Subjekt ›Autor‹ gewinnt seine ›poëtische Individualität‹ nur über die Beziehung zu einer subjektiven Wechselwirkung innerhalb des Textes, von der es ›bestimmend bestimmt‹ wird. Auf der vierten Ebene steht schließlich der Leser der Ode Empedokles gegenüber. Die Gewinnung seines Selbstbewußtseins ist nur über die ästhetische Erfahrung des gesamten Gedichts möglich. Da die Reflexion auf jeder nächsthöheren abstrakten Ebene die konkrete(n) Ebene(n), von der sie ausging(en), einschließen muß, bedeutet dies für den Rezipienten oder Interpreten der Ode, nicht nur das Verhältnis von Empedokles zu sich, des Ich zum Du, des Autors zu dem im Schreiben entwickelten doppelten Subjekt zu denken, sondern auch seine Subjektivität auf diese drei Ebenen hin zu reflektieren, die ihm als Objektiv-Subjektives gegenüberstehen. Nur so ist ein ›Nachvollzug‹ der Bewegung des Textes als ein Bewußtseinsprozeß möglich, auch wenn letztlich (wie für das Ich des Textes oder den Autor) keine eindeutige und endgültige Klärung der Subjektfrage möglich ist und man immer wieder neu der Auseinandersetzung mit einem Objekt bedarf – d.h. mit dem Text und der eigenen Position gegenüber dem Text. Bislang habe ich die inter- bzw. innersubjektive Vermittlung zu einer ›poëtischen Individualität‹, die sich von v. 4 für die gesamte erste Strophe erkennen läßt, nahezu ausschließlich auf ihre transzendentalen Gesichtspunkte hin betrachtet. Angesichts der im Verlauf der Rede entwickelten Zeitlogik, d.h. der besonderen Konfusion und Diffusion der Zeitebenen – der präsentischen Anrede eines
222 Hölderlin, FHA XIV, S. 311. 223 Hölderlin, FHA XIV, S. 312.
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Interpretation
vergangenen Subjekts –, wird jedoch der gesamte spekulative Hintergrund von Hölderlins poetologischer Konzeption deutlich, die er in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… skizziert. Zentraler Begriff und Ausgangspunkt der poetischen Verfahrensweise für die ›poëtische Individualität‹ ist das ›Erinnern‹. Hölderlin stellt die Frage, wie eine in sich und mit sich identische Individualität des Subjekts durch die Zeit hindurch überhaupt zu denken ist. Denn der rein subjektiven ›Begründung‹ des Ich ist ein »zeitliche[r] Mangel«²²⁴ inhärent, der nicht über die bloße Exposition des Subjekts gegenüber einem Objekt (und ihm selbst als seinem eigenen Objekt) – also durch den »Act des Geistes, welcher […] einen durchgängigen Widerstreit zur Folge hatte«²²⁵ – behoben werden kann. Nur wenn die Zeit als Bedingung von Individualität und Identität in der Verfahrensweise reflektiert und in dieser ausgedrückt wird, und d.h. zugleich, wenn die Wechselwirkung mit dem notwendig gesetzten Objekt so verstanden wird, daß sie sich ausschließlich dynamisch in der Zeit vollzieht, ist für Hölderlin ein Überstieg naiver Ich-Konzeptionen im poetischen Sprechen möglich. ›Erinnern‹ ist dabei die (aktive) Form, in der sich die Konstitution der Individualität als einer Einheit des Bewußtseins in der Zeit vollzieht, weil es eine Verbindung von zeitlich Differentem stiftet. Das ›Erinnern‹ selbst besteht jedoch nicht darin, einen vergangenen Gegenstand oder ein historisches Faktum in der Reflexion zu repräsentieren oder zu ›verinnerlichen‹.²²⁶ Vielmehr ist das ›Erinnern‹ selbst von der Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt bestimmt. Nicht das Objekt ›an sich‹ (das für Hölderlin genausowenig zu denken ist wie das Subjekt ›an sich‹) bildet den Gegenstand der Erinnerung, sondern die (Selbst-) Vermittlung des Subjekts über das Objekt. Vor diesem Hintergrund ist die besondere Zeitlogik von v. 4 noch einmal neu zu bedenken. Durch den bereits im Titel gesetzten Bezug auf die historische Person ›Empedokles‹ ist zwar die Bedingung eines »empyrischindividualisirte[n] und karakterisirte[n]«²²⁷ Objekts der Erinnerung gegeben, doch der aktive Prozeß des ›Erinnerns‹ in und durch die Sprache wäre damit noch nicht geleistet. Die
224 Hölderlin, FHA XIV, S. 308. 225 Hölderlin, FHA XIV, S. 309. 226 Darin liegt auch die Differenz der Position Hölderlins zu der Hegels. Für Hegel ist die Erinnerung »die Versammlung der Gestalten aus ihrer äußerlichen Existenz in das Innere des begreifenden Geistes. Ihm ist Erinnern immer ein Verwandeln, – Er-Innerung als Überholen des An-sich-seins des Vergangenen, – eine neue Weise, es zu setzen als zugehörig dem erinnernden Ich oder dem Allgemeinen der Intelligenz« (Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a. M. 1971, S. 34). Dieses Bestreben der ›Er-Innerung‹ gilt es als Empedokleische Hybris des Subjekts für Hölderlin gerade zu vermeiden. 227 Hölderlin, FHA XIV, S. 314.
Zur ›Poetik des Erinnerns‹
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Zeitlogik der ersten Strophe, die über die Statik dieser Relation hinausführt, resultiert aus der Verschränkung einer ›herkömmlichen‹ Erinnerungskonstellation auf der einen Seite (ein Ich vergegenwärtigt sich ein vergangenes Subjekt mit Namen ›Empedokles‹) und einer Sprache auf der anderen Seite, die diese zeitlich differente Konstellation präsentisch artikuliert. In der Sprache wird so eine Einheit des Subjekts im Sinne einer ›poëtischen Individualität‹ geschaffen, die weder Gegenwärtiges und Vergangenes (Ich und Empedokles) noch Gegenwärtig-Unterschiedenes (Selbstvermittlung des Ich) einfach nur gegenüberstellt, sondern im synchronen Vollzug der Rede erinnernd hervorbringt. Die Referenz der Rede ist – so sehr sie auch notwendigerweise einen Objektbezug realisiert – die Sprache in ihrem präsentischen Vollzug. Eine Vergangenheit als Vergangenheit wäre in der Empedokles-Ode sprachlich nicht denkbar, ohne zugleich eine Differenz zu artikulieren, die die Einheit des ›Erinnerns‹ gefährdete. Somit gewinnt auch Hölderlins Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Erkenntnis unter dem Aspekt der Zeitlichkeit neue Aktualität: »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß«²²⁸. In der Mitte zwischen ›Ahndung‹ und ›Erinnerung‹, d.h. zwischen der ins Futurische gerichteten Prospektion und der in die Vergangenheit blickenden Retrospektion liegt die Gegenwart des Erinnerns als einer ›unterschiedenen Innigkeit‹ von Sprache und Erkenntnis. Doch welche Stellung nimmt die ›poëtische Individualität‹ innerhalb der philosophischen Spekulation Hölderlins ein, wenn sie über die Selbsterkenntnis des sich äußernden Subjekts hinausgeht und die Erfahrung stiften soll, »daß mehr als Maschinengang, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt«²²⁹? Die Bedeutung der ›poëtischen Individualität‹ für Hölderlins poetologische Konzeption wird deutlich, wenn man den Gedanken auf seine frühe Schrift Seyn Urtheil Möglichkeit bezieht. Ist im sprachlichen Geschehen der Erinnerung die intersubjektive Differenz zu einer dynamischen Einheit vermittelt, so bedeutet dies zunächst nur, daß die in der »Ur=Theilung«²³⁰ vollzogene Trennung in Subjekt und Objekt zu einer konkreten Einheit aufgehoben wird. Weder ist damit eine »Identität« beider zu denken, noch darf diese Einheit mit dem ›Seyn‹ gleichgesetzt werden, bei dem »gar keine Theilung vorgenommen werden kan, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll zu verlezen«²³¹.
228 Hölderlin, FHA XIV, S. 319. 229 Hölderlin, FHA XIV, S. 45. 230 Hölderlin, FHA XVII, S. 156. 231 Hölderlin, FHA XVII, S. 156.
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Interpretation
So bleibt nur, die ›poëtische Individualität‹ als ein Drittes zu verstehen, das zwischen dem ›Seyn‹ (der trennungslosen Einheit und zugleich uneinholbaren Voraussetzung jeder Form des Urteilens) und dem ›Urtheil‹ (der Teilung in Subjekt und Objekt) liegt. Dieses Dritte ist für die theoretische Konzeption Hölderlins notwendig, da auch die Trennung von ›Seyn‹ und ›Urtheil‹ in zwei Begriffe auf einer höheren Ebene nur noch einmal eine Ur-Teilung wiederholt. In der Konsequenz dieses Gedankens liegt nun aber gleichzeitig, daß die Vermittlung der beiden zu einer Einheit selbst nicht begrifflich-urteilend erfolgen darf, um nicht in einen ewig trennenden Prozeß im Sinne einer schlechten Unendlichkeit zu verfallen. Die Einheit des Getrennten in Seyn Urtheil Möglichkeit ist dagegen an der Materialität der Handschrift realisiert: als ein Manuskriptblatt, auf dem die Überlegungen zum ›Seyn‹ auf der einen, die zum ›Urtheil‹ auf der anderen Seite notiert sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, welche Seite als recto, welche als verso-Seite anzusehen ist. Die Einheit des Blattes bedeutet die Unablösbarkeit und Komplementarität beider und markiert zugleich den Mangel prädikativer, weil urteilender Darstellungsformen. Kann dann überhaupt eine Vermittlung von ›Urtheil‹ und ›Seyn‹ stattfinden? Und wenn ja: Wie kann über die extensionslose, ›utopische‹ Blattkante der Handschrift hinaus ein tertium gedacht werden, das – wie bereits skizziert – nicht in der intellektuellen Anschauung eines ›positiven Nichts‹ endet, sondern als absolut Präsentes alle prädikativen Urteilsstrukturen transzendiert und dabei trotzdem nicht den (in dieser Weise ebenso einseitigen und darin erneut urteilenden) Anspruch vertritt, das Trennungslose des ›Seyns‹ zum Ausdruck zu bringen? Für Hölderlin können die »unendlicheren mehr als nothwendigen Beziehungen des Lebens […] zwar auch gedacht, als nur nichts blos gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht«²³². Eine Vermittlung ist für ihn demnach ausschließlich poetisch bzw. ästhetisch möglich. Der bereits genannte ›zeitliche Mangel‹ des Denkens führt wieder zur Konzeption der ›poëtischen Individualität‹ zurück, und zwar zu einem Aspekt, der bislang unberücksichtigt blieb: die Relation der (an die Materialität des Ausgesprochenen gebundenen) Zeitverhältnisse und der (in der Prozessualität der Rede ausgedrückten eigenen) Zeitlogik des Gedichts. Denn wie ist das Geschehen des ›poetischen Erinnerns‹ vorstellbar und worin unterscheidet es sich von prädikativen Urteilssätzen? Was ist unter der Kompensation des ›zeitlichen Mangels‹ der intellektuellen Anschauung im poetischen Sprechen zu denken, wenn Zeit nicht einfach darüber erfahren werden soll, was materiell ausgesprochen wird? Und letztlich: Was bedeutet dies für die Interpretation der
232 Hölderlin, FHA XIV, S. 47.
Zur ›Poetik des Erinnerns‹
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Empedokles-Ode und den methodischen Umgang mit Hölderlins Texten im Allgemeinen? Die Antwort auf diese Fragen kann wiederum nur aus der Analyse des Textverlaufs gewonnen werden. Wie die Interpretation der ersten Strophe zeigen konnte, ist keine ihrer Aussagen von der Entwicklungslogik der Verse ablösbar. Bereits von ›Aussage‹ zu sprechen, erweckt den falschen Eindruck, der Text bestünde aus diskreten Äußerungen, die lediglich in besonderer Weise aufeinanderfolgen. Demgegenüber baut sich im Fortgang des Gedichts eine zunehmend komplexe Struktur auf, »worinn sich negativ und deswegen ausdrüklich und sinnlich sich alle Stüke beziehen und vereinigen«²³³. Diese Struktur des Gedichts ist vom Prozeß ihrer Entstehung nicht zu trennen. Der Wert einer poetischen Äußerung erwächst für Hölderlin aus ihrem räumlichen wie zeitlichen Verweisungszusammenhang. Ein Wort evoziert die prospektive Erwartung auf eine Weiterführung der Rede, zugleich stiftet es einen Bezug zum bisher Gesagten und reichert dieses in seiner Bedeutung an. Das Schweben des Ausgesagten in seiner zeitlichen Dynamik, d.h. über seine einzelnen Prozeßschritte hinweg, sowie die Mehrdeutigkeit, die auch nach dem Ende eines Verses oder einer Periode erhalten bleibt und sich strukturell sedimentiert, können allein als ›Inhalt‹ der Rede beschrieben werden. Wenn mit ›Empedokles‹ zudem eine historische Figur als ›freies Objekt‹ gewählt wird, ist es allein die Vermittlung der verschiedenen Zeitebenen – der dargestellten wie der darstellenden Zeit – die ein Erinnerungsgeschehen und eine ›poëtischen Individualität‹ ermöglicht. Im Horizont von Seyn Urtheil Möglichkeit ausgedrückt wird so eine Erfahrung gestiftet, die rein philosophisch nicht positiv nennbar ist und sich begrifflich nur als Untrennbarkeit von ›Seyn‹ und ›Urtheil‹ ausdrücken läßt. Als ›poëtische Individualität‹ des Erinnerns wird die poetische Rede selbst ein ›In-Dividuum‹, ein ›Unteilbares‹, das sich zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen ›Seyn‹ und ›Urtheil‹ bewegt und zugleich beide umfaßt: Das Gedicht wird eine ›individuelle Repräsentation‹ ihrer Vermittlung. Diese Repräsentation ist – da sie eine ›utopische‹ Einheit ist aufgrund ihrer Aktualisierung ›jenseits‹ der Trennung von Gesagtem und Vorsprachlichem – weder zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutig zu lokalisieren noch mit einem Wort zu nennen: sie ist Sprachgeschehen.
233 Hölderlin, FHA XIV, S. 322.
Strophe 2
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Strophe 2
So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth Der Königin; und mochte sie doch! hättst du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter Hin in den gährenden Kelch geopfert!
Gegenüber der ersten Strophe fällt auf, daß die Verse 5–8 infolge der unmarkierten Versübergänge eine einzige Periode bilden.²³⁴ War dort eine Untergliederung in zwei Teile zu je zwei Versen möglich, liegt hier eine ungleich komplexere Ordnung vor. Ungeachtet dieser strukturellen Differenz weist jedoch auch die zweite Strophe sieben Kola auf. Einen direkten Bezug zwischen dem Beginn der beiden Strophen ist außerdem durch die Verteilung der ersten vier Kola gegeben. Der erste Vers der ersten Strophe besteht aus drei Kola gegenüber einem Kolon im zweiten Vers; dieses Verhältnis hat sich in der zweiten Strophe umgekehrt. Auch in der Gliederung der Kola im Blick auf die gesamte Strophe ergibt sich ein entsprechend gespiegeltes Verhältnis. Sind die beiden mittleren Verse 2 und 3 aus nur einem Kolon aufgebaut und werden sie von v. 1 und v. 4 mit je drei bzw. zwei Kola umrahmt, so ist diese Relation in der zweiten Strophe invertiert: Die beiden Verse, die aus einem Kolon bestehen, umrahmen nun die mit drei und zwei Kola. Aus diesen formalen Besonderheiten läßt sich eine erste Überlegung für die weitere Interpretation formulieren. Denn die Frage, die bereits nach jedem Vers der ersten Strophe gestellt werden mußte – Warum wird überhaupt weitergesprochen? – wird nun vor allem nach dem Abschluß der ersten Strophe virulent. Das Symmetrie-Verhältnis 3:1 gegenüber 1:3 sowie die Verteilung der Kola kann eine Antwort darauf vorbereiten, da die zweite Strophe formal eine Umkehrung bzw. Spiegelung der ersten darstellt. Zu klären ist, worin diese Spiegelung besteht, was gespiegelt wird und warum dies überhaupt nötig ist. Was ist in der ersten Strophe so ›einseitig‹ formuliert worden, daß es nun einer entgegengesetzten, komplementären Perspektive bedarf?
234 Überdies kann aufgrund der Kleinschreibung »hättst du« im dritten Kolon von v. 6 davon ausgegangen werden, daß es sich auch bei der zweiten Strophe um einen Satz handelt.
Vers 5
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Vers 5
So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth 2121212212s Anläßlich des Einstiegs in die zweite Strophe muß nicht nur der Grund für eine Fortführung der Rede diskutiert werden, sondern auch ihr Modus. Warum wird nun ›so‹ weitergesprochen? So […] Die Rede besitzt zu Beginn der zweiten Strophe die aus dem bisherigen Verlauf der Ode bekannte zweifache ›Richtung‹. »So« bezieht sich zum einen auf das eben Gesagte und setzt es mit dem Nachfolgenden ins Verhältnis, zum anderen verweist es auf das Kommende, obgleich der Modus, in dem nun gesprochen wird, noch unbestimmt ist. Ich möchte mich zunächst auf die konnektive Funktion des Versbeginns konzentrieren. »So« eröffnet die Auseinandersetzung, in welchem Verhältnis die zweite Strophe zur ersten steht und wie das in ihr Ausgesagte das Vorangegangene ergänzt, erweitert oder gar erklärt. Da es die beiden ›Aussagen‹ koordiniert und wechselseitig in Beziehung setzt, könnte es davon zeugen, daß die erste Strophe nicht genügte, um dem Zu-Sagenden gerecht zu werden. Darüber hinaus zeigt es an, daß sich das poetische Ich erneut der Gefahr ›eindeutiger Rede‹ bewußt wurde und darauf sprachlich reagiert: Die Einheit der ersten Strophe wird nun durch eine zweite relativiert und in ihrer Abgeschlossenheit problematisiert. Schon mit dem ersten Wort der Strophe wird deutlich, daß sich der ›Inhalt‹ der Ode – entsprechend der Beobachtungen auf der Wortebene – allein aus dem Bezug der Versgruppen zueinander erfassen läßt. Die Fortführung der Rede könnte jedoch auch so verstanden werden, daß nach der ›Exposition‹ des Empedokles-Stoffes nun eine Erläuterung seines Gehalts folgen muß. Der Tod von Empedokles hätte dann eine »symbolische Wahrheit«²³⁵, die es nun darzustellen gilt. Die Konjunktion ›so‹ behauptet, daß das in den beiden Strophen Ausgesagte vergleichbar ist. Man darf dabei jedoch nicht übergehen, daß dem ›so‹ kein korrespondierendes ›wie‹ vorangeht, wodurch eine Paraphrase der Verse denkbar
235 Ingeborg Hochmuth, Empedokles in Hölderlins Trauerspiel. In: Altertum 17 (1971), S. 43–59, hier S. 46.
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Interpretation
würde: ›Wie Du dich in des Aetna Flammen wirfst, so …‹. Dies bedeutet nicht, daß ein solcher Vergleich unzulässig ist, sondern stützt nur noch einmal die Erfahrung der komplexen Wechselbeziehung von Prozeß und Struktur innerhalb des poetischen Sprechens. Ohne die Vergleichspartikel ›wie‹ ist die erste Strophe in ihrer Aussage zunächst relationslos und in sich abgeschlossen; erst der Übergang in den folgenden Vers stiftet deren Beziehung und verweist auf die Synchronizität des poetischen Sprechens und der darin ausgedrückten Bewegung des Denkens.²³⁶ Entsprechend ist es erst die Reflexion auf das Gesagte, die das weitere Sprechen motiviert und mit der Vergleichspartikel ›so‹ den Grund dafür angibt: das Unzureichende des zuvor Ausgesagten im Blick auf das Zu-Sagende und die Notwendigkeit der Ergänzung und Erweiterung. Angesichts der Eröffnung eines Vergleichs ist zu fragen, ob dieser im folgenden realisiert wird, und wenn ja: worin er sein tertium findet. Auf v. 5 bezogen kann bislang nur gesagt werden, daß der Text die Erwartung evoziert, daß der referierte Ätnasturz der ersten Strophe und die Rede »schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth« ein gemeinsames Drittes besitzen. Bevor man jedoch dieser Frage nachgehen kann, gilt es die beiden weiteren Bedeutungen der Konjunktion ›so‹ zu reflektieren. Neben der Deutung als Vergleichspartikel ist die Eröffnung des Verses sowohl kausal wie konsekutiv zu lesen. Allein wegen des in der ersten Strophe Ausgesagten bzw. im Anschluß daran »schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth«. In beiden Lesarten ist das materiell Ausgesprochene nicht von der ›Begründung‹ des Sprechens zu trennen. Die zweite Strophe erfolgt nur wegen oder im Anschluß an die erste. So schmelzt’ […] Das Prädikat des Verses läßt sich schon aufgrund seiner Etymologie an den zuvor genannten Ätnasturz anschließen. Im Italienischen bezeichnet ›Lava‹ ursprüng-
236 Eine vergleichbare Stelle findet sich in Hegels Phänomenologie des Geistes: »Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 22) Immer wieder sind Interpreten versucht, den Satz zu ergänzen und folgendermaßen zu modifizieren: »[…] nicht [nur] als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt […]«. Die Bewegung des Satzes und die erst aus der Nennung des ›Subjekts‹ sich ergebende Relation zwischen Subjekt und Objekt gegenüber der Substanz sind jedoch gerade Ausdruck von Hegels Denken und nicht etwa nur dessen Darstellung in einer sprachlich mangelhaften und deshalb zu korrigierenden Form.
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lich die fließende ›Schmelze‹ eines Vulkans sowie das daraus erstarrte Gestein.²³⁷ Im Deutschen liegt ›schmelzen‹ in zwei genera verbi vor. Als Neutrum bedeutet es, »aus einem festen Körper in einen flüssigen verwandelt«²³⁸ werden, aktivisch verwendet benennt es das Einwirken auf einen Gegenstand, das diese Zustandsveränderung auslöst, »doch nur so fern es vermittelst der Wärme und des Feuers geschiehet«²³⁹. Ohne die Verbindung mit einem konkreten Objekt des Satzes kann ›schmelzen‹ auf die Rede selbst bezogen werden. Einerseits wird retrospektiv behauptet, daß in der ersten Strophe ein vergleichbarer Vorgang stattgefunden hat, prospektiv auf v. 5 hin gesehen kann ›schmelzen‹ aber ebenso als Reaktion auf die Abgeschlossenheit (und Petrifizierung) der Sprache (der ersten Strophe) verstanden werden, die nun wieder ›in Fluß‹ gebracht werden soll. Auffälliger als die Bedeutung des Wortes »schmelzt’« ist jedoch der Modus, in dem es steht. Das Apostroph markiert zwar nur ein ellidiertes ›e‹, doch auch ›schmelzte‹ ließe offen, ob es sich dabei um Indikativ-Präteritum oder Konjunktiv-Präsens handelt. Diese Uneindeutigkeit begründet sich dabei nicht metrisch: Es geht nicht darum, eine überzählige Silbe des Verses zu vermeiden. Die Uneindeutigkeit reformuliert vielmehr die am Ende von v. 4 aufgeworfene Frage nach der Eigentlichkeit bzw. Uneigentlichkeit der Rede.²⁴⁰ Zu diesen beiden Modi ist »schmelzt’« aber auch homophon als ›schmelzt‹ zu lesen. Nachdem der Konjunktiv einen eher futurischen Charakter besitzt, das Präteritum dagegen in die Vergangenheit weist, sind mit dem Präsens alle drei Zeitdimensionen genannt, die sich in einem Wort ›verschmelzen‹. Dies ist im Rückblick auf die erste Strophe bemerkenswert und greift den eben skizzierten Aspekt der Erinnerungspoetik auf. Was bedeutet es, wenn sich zu Beginn der zweiten Strophe die (Erzählzeit wie die erzählte) Zeit verdichtet? Ist dieses ›so‹ auch in der ersten Strophe zu finden, nur eben ›entfaltet‹? Oder ist das Verschmelzen aller Modi und Zeiten eine logische Folge aus dem zuvor Gesagten: Wenn weiter gesprochen werden soll, kann dies nur ›so‹ geschehen? Zu der Unentschiedenheit respektive Ungeschiedenheit der Modi und Zeiten ist ›schmelzen‹ zugleich in seiner aktiven Bedeutung wie seiner Verwendung im
237 Zudem benennt ›Lava‹ in übertragener Bedeutung auch einen ›feurigen Redestrom‹ und ist somit eng mit der vorliegenden Sprachbewegung der Ode verbunden; vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 596a. 238 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 1566. 239 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 1566. 240 Auch der dritte Modus (Imperativ II) ist lesbar: Der Versbeginn formuliert eine Aufforderung an eine unbekannte Gruppe, etwas zu schmelzen. Im folgenden wird sich zeigen, daß dies noch eine weitere Interpretation des Versverlaufs möglich macht, die hier noch nicht genauer ausgeführt werden kann.
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Neutrum zu lesen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt noch keinen Hinweis darauf, wer oder was geschmolzen wird oder ob es etwas anderes schmelzt. Diese Unentschiedenheit gilt es wahrzunehmen, da sie – angesichts der bisher entworfenen Thematik der Ode – eine Ungetrenntheit von Subjekt und Objekt ausdrückt. So schmelzt’ im Weine […] Die Fortsetzung des Verses nennt den Ort, an dem das Schmelzen stattfindet. Mit ›Wein‹ ist ein topos genannt, der Hölderlins gesamtes poetisches Werk wie seine dichtungstheoretischen Schriften durchzieht: die Spannung zwischen dem Dionysischen und Apollinischen. Ohne an dieser Stelle Hölderlins Denken bezüglich ›Dionysos‹ gerecht werden zu wollen, möchte ich doch die Aspekte hervorheben, die innerhalb der Empedokles-Thematik Relevanz besitzen. Zwar enthalten auch die Dramenentwürfe keine namentliche Nennung des Weingottes, an mehreren Stellen finden sich jedoch Hinweise auf Dionysos und seine Gleichstellung mit Empedokles, die einen solchen Bezug für die Interpretation der Ode zulassen.²⁴¹ Dieser Bezug motiviert sich aus der Charakterisierung des Dionysos als trunken, unbändig-wild und irrational, die sich in der grenzenlosen Hybris des Empedokles sowie seinem Opfertod wiederfindet. Der Übermut wäre dann Ausdruck eines dionysischen Einheits- und Selbstaufhebungsstrebens, eine rauschhafte Auflösung ins All-Eine und eine Aufhebung des principii individuationis. Das zweite Motiv, das Empedokles mit Dionysos verbindet, ist dessen nahezu christologische Vorstellung als Erlösergestalt und ›kommender Gott‹²⁴². An diesen Heilsgedanken schließt sich auch die christliche Symbolik des Weines beim Letzten Abendmahl an. Der Wein ist dort Zeichen zum Gedenken an den Tod Christi. Überdies findet sich bei Hölderlin häufig die Deutung des Dionysos als ›Gott der Kunst‹; insbesondere der Dichter ist Künder des Dionysos.²⁴³ Der ›ekstatisch begeisterte‹ und in ›heiligem Wahn‹ der manía handelnde Künstler besitzt diese Rolle vor allem
241 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 942: »[Greis:] Ein größrer ists, denn ich! denn wie die Rebe / Von Erd’ und Himmel zeugt, wenn sie getränkt / Von hoher Sonn aus dunklem Boden steigt, / So wächst er auf, aus Licht und Nacht geboren. […] / Der Eine doch, der neue Retter faßt / Des Himmels Stralen ruhig auf, und liebend / Nimmt er, was sterblich ist, an seinen Busen, / Und milde wird in ihm der Streit der Welt.« 242 Vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a. M. 1982. 243 Vgl. Hölderlin, FHA VIII, S. 636: »Zu reden so, dass er [der Dichter] aus heiliger Fülle / Wie der Weingott thöricht, göttlich / Und gesezlos sie, die Sprache der Reinesten, gibt, / Verständlich den Guten«; vgl. Hölderlin, FHA VI, S. 251: »Aber sie [die Dichter] sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester, / Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.«
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deshalb, weil er im Kunstwerk wie Dionysos die Gegensätze vermittelt.²⁴⁴ Entsprechend ist der ›Wein‹ bei Hölderlin die Rebe, die »getränkt / von Hoher Sonn aus dunklem Boden steigt«²⁴⁵ oder das ›dunkle Licht‹²⁴⁶. Sowohl für den Beginn von v. 5 als auch für die gesamte zweite Strophe ist dieses Motivgewebe um die Figur des Dionysos aufschlußreich, da es gleich mehrere Punkte verdeutlicht. Der indirekte Hinweis auf Dionysos kann einmal so verstanden werden, daß für das poetische Ich der Freitod ebenfalls aus Einheitsstreben erfolgte und der Rückkehr in die Allnatur diente.²⁴⁷ Gleichzeitig läßt sich mit »im Weine« aber auch eine Zustandsbeschreibung und Gemütsverfassung bezeichnen:²⁴⁸ Empedokles handelte ›im Weine‹, d.h. berauscht und ekstatisch. Das dritte Motiv ist christologisch und spielt auf das Bild des Erlösers an,²⁴⁹ das Hölderlin mit Empedokles’ Opfertod verbindet.²⁵⁰ Auch für das Motiv ›Gott der Kunst‹ bietet sich ein Bezug auf Empedokles an: In v. 7 wird das Du schließlich explizit als ›Dichter‹ angesprochen und wegen der Verschwendung seines Reichtum gerügt.²⁵¹ Das Wein-Motiv und der Tod von Empedokles lassen sich zudem mit Sokrates assoziieren. In einem Brief an Christian Ludwig Neuffer vom Oktober 1794 schreibt
244 Vgl. Anton F. Harald Bierl, Dionysos und die griechische Tragödie. Politische und ›metatheatralische‹ Aspekte im Text, Tübingen 1991. 245 Hölderlin, FHA XIII, S. 942. 246 Vgl. Hölderlin, FHA VIII, S. 805: »Es reiche aber, / Des dunkeln Lichtes voll, / Mir einer den duftenden Becher, / Damit ich ruhen möge; denn süss / Wär’ unter Schatten der Schlummer.« 247 Vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 596: »Ich wollt’ es glauben, wenn Eines nicht in uns wäre, das ungeheure Streben, Alles zu sein, das, wie der Titan des Ätna, heraufzürnt aus den Tiefen unsers Wesens.«; ebd.: »Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht.« 248 Bereits die Formulierung »in schauderndem Verlangen« konnte als ›Befindlichkeit‹ sowohl lokal wie emotional verstanden werden. Die Präposition »im« nimmt diese Mehrdeutigkeit auf. 249 Vgl. Frank, Der kommende Gott, S. 285–332. 250 Das Schicksal »erforderte ein Opfer, wo der ganze Mensch, wo das wirklich und sichtbar wird, worinn das Schiksaal seiner Zeit sich aufzulösen scheint, wo die Extreme sich in Einem wirklich und sichtbar zu vereinigen scheinen, eben deswegen zu innig vereiniget sind, und in einer idealischen That das Individuum deswegen untergeht und untergehen muß, weil an ihm sich die vorzeitige aus Noth und Zwist hervorgegangene sinnliche Vereinigung zeigte, welche das Problem des Schiksaals auflöste« (Hölderlin, FHA XIII, S. 873). 251 Eine weitere Stelle, die hier herangezogen werden kann, ist die erste Strophe der Ode Buonaparte, die auf der Rückseite der Entwurfs-Handschrift der Empedokles-Ode steht. Dort ist vom Dichter als einem heiligen Gefäß die Rede, »Worinn des Lebens Wein, der Geist / Der Helden sich aufbewahrt« (Hölderlin, FHA IV, S. 36).
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Hölderlin noch von seiner Absicht, den Tod des Sokrates in einer Tragödie zu bearbeiten. Erst 1797 wird Hölderlin Empedokles als Gegenstand seines dramatischen Schreibens wählen.²⁵² Der von Platon und Xenophon überlieferte Tod des Sokrates durch den Schierlingsbecher weist mehrere Parallelen zu Empedokles auf: vom Opfertod eines Philosophen bishin zur märtyrerhaften Tat eines Erlösers. Was die beiden für Hölderlin jedoch zentral unterscheidet, ist die Bewertung des Todes. Beschreibt der sokratische Tod besonders in der Deutung Hegels eine Konsequenz aus der von Sokrates vertretenen philosophischen Lehre, steht in Hölderlins Konzeption des Empedokles-Themas die Zerrissenheit des Subjekts im Vordergrund, die den Freitod motiviert. Gerade darin liegt für Hölderlin das Tragische des Empedokles-Stoffs.²⁵³ Daß der Vers das sokratische Motiv nicht weiter ausführt und mit »Perlen« eine gänzlich anderes Bild eröffnet, kann als die Wiederholung dieser Abkehr in nuce gelesen werden. Diese Beobachtungen beschränken sich bisher nur auf die Formulierung »im Weine«. Eine angemessene Interpretation des Verses, die nicht nur Motivparallelen untersucht, ist jedoch erst dann möglich, wenn die Entwicklung des Verses reflektiert wird. Die mit den Worten »im Weine« eröffnete mythologische Ebene scheint im ersten Moment Aufschluß über die Motivation bzw. den Grund für den Tod des Empedokles zu geben. Tatsächlich aber sorgt der weitere Versverlauf nicht für Aufklärung, sondern für weitere Irritationen. Konnte im ersten Wort des Verses (»So«) der Wunsch des poetischen Ich gelesen werden, das in der ersten Strophe Geäußerte mit etwas Anderem zu vergleichen, so wird eben dieser Vergleich durch das weitere Sprechen unterlaufen. Zwar kann man das Feuer als tertium comparationis zwischen den ›Flammen des Ätna‹ und dem ›Wein‹ nennen, da Wein eine ›Frucht der Sonne‹ darstellt und deren Hitze bedarf.²⁵⁴ Das Wort »schmelzt’« fügt sich jedoch streng genommen nicht mehr in diese Analogie: Im Wein kann nichts ›schmelzen‹, sondern nur ›gären‹²⁵⁵ bzw. sich aufgrund der Säure auflösen. Diese Fortführung ist nur konsistent zu denken, wenn man
252 Vgl. Hölderlin, FHA XIX, S. 199 (Brief an Christian Ludwig Neuffer, 10. Oktober 1794): »Ich freue mich übrigens doch auf den Tag, wo ich mit dem Ganzen im Reinen sein werde, weil ich dann unverzüglich einen andern Plan, der mir beinahe noch mer am Herzen liegt, den Tod des Sokrates, nach den Idealen der griechischen Dramen zu bearbeiten versuchen werde«; vgl. Theresia Birkenhauers umfangreiche Untersuchung dieser frühen Konzeption Hölderlins sowie des sokratischen Todesmotivs (vgl. Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 16–96). 253 Vgl. Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 238 f. 254 Vgl. Gilby, Das Bild des Feuers bei Hölderlin, S. 82: »Der Wein, der voll göttlichen Feuers ist, das die reifende Traube von der Sonne empfängt.« 255 Es wird noch zu untersuchen sein, warum am Ende der Strophe vom »gährenden Kelch« die Rede ist.
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»schmelzt’ im Weine« als einen Wechsel in ein metaphorisches Sprechen begreift. Dies kann nun so gedeutet werden, daß sich das poetische Ich in seiner Artikulation des Mangels der direkten und eigentlichen Rede bewußt wird und zu einem entlegeneren uneigentlichen Bild greift – und so den Vergleich in eine Metapher übergehen läßt. Die Metapher löst den Vergleich jedoch nicht ab. Die Komplexität des Verses besteht vielmehr darin, daß er nicht nur das Verhältnis zwischen Strophe 1 und 2 (als Vergleich bzw. Metapher) thematisiert, sondern diese beiden sprachlichen Relationen selbst miteinander in Beziehung setzt. Überdies stellt sich die Frage, warum die erste Strophe über das »So« nun mit einer metaphorischen Rede (»schmelzt’ im Weine«) verglichen wird, und weiter, was verglichen wird: die Weise zu sprechen? das von der Sprache Bezeichnete? oder – wie sich aus der bisherigen Interpretation der Ode ableiten läßt – beides zugleich als untrennbar miteinander verbunden? So schmelzt’ im Weine Perlen […] Auf den ersten Blick scheint mit dem Wort »Perlen« die Metapher noch befremdlicher zu werden.²⁵⁶ Doch das ›Schmelzen‹ von Perlen in Wein verweist auf eine historische Begebenheit, von der Plinius der Ältere berichtet: Kleopatra, die letzte Königin des ägyptischen Ptolemäerreiches, wettete mir ihrem Geliebten Marcus Antonius, ihm das teuerste Bankett aller Zeiten zu bereiten. Antonius nahm die Wette an. Als er jedoch irritiert war, am folgenden Tag bis auf zwei mit Wein gefüllte Becher nur leere Teller vorzufinden, nahm Kleopatra einen ihrer Ohrringe ab, legte ihn in ihren Becher – der Ohrring löste sich auf und sie trank den Becher aus. Danach reichte sie Antonius den zweiten Ohrring, es ihr gleichzutun. Dieser erkannte daraufhin seine Wette als verloren an und gab ihr die Perle zurück.²⁵⁷
256 Hölderlin verwendet dieses Motiv auch an anderer Stelle, dort jedoch in einem in sich stimmigen Bild: »O du, so dacht’ ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab’ ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen!« (Hölderlin, FHA XI, S. 781). 257 Vgl. Gaius Plinius (Secundus), Historia Naturalis, Nördlingen 1987, Kap. IX, S. 119–121; vgl. Ilse Becher, Das Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur, Berlin 1966, S. 134–137; vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 687: »Ach! sagt’ ich, indeß wir so herumgiengen, es ist wohl ein prächtig Spiel des Schiksaals, daß es hier die Tempel niederstürzt und ihre zertrümmerten Steine den Kindern herumzuwerfen giebt, daß es die zerstümmelten Götter zu Bänken vor der Bauernhütte und die Grabmäler hier zur Ruhestätte des waidenden Stiers macht, und eine solche Verschwendung ist königlicher, als der Mutwille der Kleopatra, da sie die geschmolzenen Perlen trank; aber es ist doch Schade um all’ die Größe und Schönheit!«
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Die Frage ist nun, warum Hölderlin gerade dieses Bild bemüht.²⁵⁸ Auf der Wortebene ist es im direkten Anschluß an die Rede vom Ätna von Bedeutung: ›Krater‹ ist die griechische Bezeichnung für ein Gefäß zum Mischen von Wein und Wasser.²⁵⁹ Überdies kann eine Parallelstelle aus der Elegie Stutgard Aufschluß über den weiteren Hintergrund des Bildes geben. Dort heißt es: »Und den eigenen Sinn schmelzet, wie Perlen, der Wein.«²⁶⁰ Die gegenüber v. 5 nur minimal erweiterte Stelle gibt zu bedenken, ob nicht auch für Empedokles der ›eigene Sinn‹ respektive der ›Eigensinn‹ für dessen Tod verantwortlich ist. Bedeutet dieser die Aufgabe subjektiver Überhöhung und das rauschhafte Eingehen in den ›Gemeinsinn‹? Immerhin ist auch in der spätesten Aufzeichnungsschicht der Hymne Der Einzige vom »Gemeingeist Bacchus«²⁶¹ die Rede. Doch auch die beiden Personen sind von Bedeutung, die indirekt mit den ›im Weine schmelzenden Perlen‹ genannt werden. Zum einen ist überliefert, daß sich Marcus Antonius als neuer Dionysos verehren ließ und sich dessen Attribute zusprach.²⁶² Somit ist nicht allein über das historische Ereignis ein Bezug zum ›Wein‹ geschaffen, sondern auch über die mythologische Dimension der Rede. Zum anderen geben die Überlieferungen zu Kleopatra Hinweise auf das bisher Gesagte und enthalten Parallelen zu Empedokles. So hat auch sie nach der Niederlage gegen Oktavian am 10. August 30 v. Chr. gemeinsam mit Marcus Antonius Selbstmord begangen. Außerdem besaß Kleopatra als letzte Pharaonin einen göttlichen Status auf Erden.²⁶³ In den Dramenentwürfen Hölderlins finden sich Passagen, in denen auch Empedokles sich entweder selbst diesen Status zuspricht oder vom Volk als Gott verehrt wird.²⁶⁴
258 In den Dramenentwürfen ist ebenfalls von Empedokles’ Perlen die Rede, hier werden sie jedoch ins Meer als ihrem Ursprung zurückgeworfen: »Lebendiges! inniges! dir zum Dank / Und daß er zeuge von dir, du Todesloses! / Wirft lächelnd seine Perlen ins Meer / Aus dem sie kamen, der Kühne« (Hölderlin, FHA XI, S. 873). 259 Vgl. Wilhelm Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, bearb. von Max Sengebusch, 3. Auflage, 6. Abdruck, 2 Bde., Braunschweig 1914, Bd. 1, S. 1502. 260 Hölderlin, FHA VI, S. 191. 261 Hölderlin, FHA VIII, S. 790. 262 Vgl. Plinius, Historia Naturalis, Kap. IX, S. 118. 263 Es bietet sich an dieser Stelle an, auch auf die Pharaonenkrone, die sogenannte ›Pschent‹, und ihre Symbolik zu reflektieren: Die Doppelkrone mit der Schlange als Symbol für Unter- und dem Geier für Oberägypten verweist zugleich auf Erde und Himmel, die in der Herrschaft des Pharao vereint sind. Von hier aus ergibt sich ein Rückbezug auf die duale Einheit des Lebens in seiner Erscheinungsform als »göttlich Feuer tief aus der Erde«. 264 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 702 f.: »[Hermokrates:] Denn es haben / Die Götter seine Kraft von ihm genommen, / Seit jenem Tage, da der trunkne Mann / Vor allem Volk sich einen Gott, genannt. [… Kritias:] Ich sage dir: sie wissen nichts denn ihn / Und wünschen alles nur von
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Bereits vor dem Versende läßt sich damit die Bewegung der Rede erkennen. Das poetische Ich sah sich zu Beginn der zweiten Strophe der Schwierigkeit gegenüber, den erfahrenen Mangel in dem, was es zuvor über Empedokles und dessen Tat bzw. sein eigenes Selbstverhältnis aussagte, in der weiteren Rede zu kompensieren. Der Vers beginnt daraufhin mit der Eröffnung eines Vergleichs, der dies in eigentlicher, direkter Rede leisten soll. In ihrem Verlauf jedoch wird dem Ich bewußt, daß auch jedes Bild, das es der ›unvergleichlichen‹ Tat gegenüberstellt, dieser nicht gerecht wird: Etwas anzuführen, das wie Empedokles in den Flammen des Ätna »schmelzt’«, erscheint unmöglich. In Reaktion darauf verändert sich die Richtung der Rede und spätestens mit dem Wort »Weine« erhält der anfängliche Vergleich einen metaphorischen Charakter. So liegt dem Vers zwar eine reflektierte Spannung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Sprache zugrunde, das Problem, das zur Veränderung der Rede führte, ist damit aber nicht überwunden. Auch wenn v. 5 in sich metaphorisch ist und mit dem Dionysos-Motiv einen poetologischen Subtext artikuliert, bleibt er doch angesichts des historischen Ereignisses, das er mit Kleopatra reportiert, unangemessen, weil er den Tod von Empedokles auf eine weltlich-materielle Ebene hin banalisiert. Das Ich reiht – zumindest vordergründig – das Ungeheuerliche, das Anlaß der Äußerung war, in Bekanntes und Nachvollziehbares ein. Das Bestreben, etwas Allgemeines und Allgemein-Gültiges zu sagen,²⁶⁵ das über den Freitod des Empedokles zu abstrahieren vermag, erstirbt so erneut in einem Einzelnen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth Erst mit den beiden letzten Worten des Verses wird das Subjekt des Satzes genannt – und gleichzeitig ausgespart: Es wird gerade nicht gesagt, wer ›Perlen
ihm zu haben, / Er soll ihr Gott, er soll ihr König sein.«; ebd., S. 704: »[Hermokrates:] Damit er nimmerwiederkehrend dort / Die böse Stunde büße, da er sich / Zum Gott gemacht.«; ebd., S. 705: »[Kritias:] Doch wenn du, wie ein Lästerer erscheinst / Vor denen, die, als einen Gott ihn achten?«; ebd., S. 711: »[Empedokles:] ich allein / War Gott, und sprachs im frechen Stolz heraus –«; ebd., S. 713: »Was dünket euch? der Sinn ist ihm verfinstert, / Weil er zum Gott sich selbst vor euch gemacht.« 265 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 873: »Er scheint nach allem zum Dichter geboren, scheint also, in seiner subjectiven thätigern Natur, schon jene ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit zu haben, die unter andern Umständen, oder durch Einsicht und Vermeidung ihres zu starken Einflusses, zu jener ruhigen Betrachtung zu jener Vollständigkeit und durchgängiger Bestimmtheit des Bewußtseyns wird, womit der Dichter auf ein Ganzes blikt.«
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im Wein schmelzt’‹, sondern daß der »Übermuth« dafür verantwortlich ist.²⁶⁶ Der Begriff findet sich auch in den Dramenentwürfen, steht dort jedoch ausschließlich in Verbindung mit den Selbstäußerungen Empedokles’ – die Hybris ist dort immer eine sprachliche.²⁶⁷ Die Verschiebung in der Ode besteht einerseits darin, daß Empedokles der Übermut im Tod und nicht im Leben, für sein Handeln und nicht für seine Rede attestiert wird. Wenn man die Anrede des Du jedoch nicht auf Empedokles bezieht, sondern auf das poetische Ich selbst, wird wiederum der aus den Dramenentwürfen bekannte Vorwurf des Wortfrevels aktuell. Nicht Empedokles, sondern die Rede über dessen Tat ist dann ›übermütig‹. Daß beides zugleich gilt, zeugt erneut von der ›unterschiedenen Innigkeit‹ des Subjekts bzw. der Subjekte in der dialogischen Verssprache. In ihr ereignet sich zum einen eine Trennung in Ich und Du – sei es in der Anrede des ›realen‹ Du ›Empedokles‹ oder in der Selbstanrede –, zum anderen sind beide im ›Übermut‹ miteinander verbunden. Die Rede über den ›Übermut‹ des Empedokles kann nur in einer selbst ›übermütigen‹ Rede erfolgen. Fraglich bleibt, worin der Übermut jeweils besteht. In den Dramenentwürfen und im Grund zum Empedokles wird der Tod ausnahmslos als Folge der Hybris genannt: entweder als freiwilliges, versöhnendes Sühneopfer für das ›Übermaß der Innigkeit‹ oder als deren Fortsetzung, als logische Konsequenz der selbsterklärten Göttlichkeit im Leben und als Rückkehr in den göttlichen Allzusammenhang. Die Handlung selbst wird somit nicht für ›übermütig‹ erklärt, sondern
266 Erst an dieser Stelle des Verses verliert sich die mögliche Deutung der Rede als Imperativ, der mit »So schmelzt’ im Weine Perlen« einen kollektiven Aufruf zum Handeln beschreibt, eine Wiederholung von Kleopatras Tat. Durch dieses Gleichtun würde, so suggeriert der Vers bis zu dieser Stelle, ein Nachvollzug dessen möglich, was in der ersten Strophe beschrieben wurde: eine Erfahrung vom Tod des Empedokles. Es bleibt ungeklärt, ob dies mit einschließt, daß in der Nachfolge von Empedokles nur noch diese Handlung offen steht (als die einzige, die ein Bewußtsein von dieser Erfahrung garantiert), oder ob allein ›Perlen‹ einen entsprechenden Verlust vermitteln. 267 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 703: »[Hermokrates:] Er gleich den alten Übermüthigen, / Die mit dem Schilfrohr Asien durchwandern, / Einst durch sein Wort geworden sein die Götter.«; ebd., S. 820: »[Mekades:] Ein übermütiges Gerede fällt / Mir ein, das er gemacht da er zuletzt / Auf der Agora war. / […] was Einem gebricht, / Ich bring es vom andern, und binde / Beseelend, und wandle / Verjüngend die zögernde Welt / Und gleiche keinem und Allen. / So sprach der Übermütige.« Im ersten Entwurf kommentiert Hölderlin am Rand der Seite eine Textstelle, an der von der Selbsterhöhung Empedokles’ zu einem Gott die Rede ist, wiefolgt: »Bei uns ist so etwas mehr eine Sünde gegen Verstand, bei den Alten war es von dieser Seite verzeihlicher, weil es Ihnen begreiflich war. Nicht Ungereimtheit, Verbrechen war es ihnen. Aber sie verzeihen es nicht, weil ihr zarter Freiheitssinn kein solches Wort ertragen wollte. Eben weil sie es mehr ehrten und verstanden fürchteten sie auch mehr den Übermuth des Genies. Uns ist es nicht gefährlich, weil wir nicht berührbar sind dafür« (Hölderlin, FHA XII, S. 70).
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lediglich deren Motivation. Im Gegensatz dazu nennt die Ode mit »in schauderndem Verlangen« die Befindlichkeit, die den Freitod im Ätna begleitet. Statt angesichts des behaupteten Vergleichs der Perlenschmelze mit Empedokles vorschnell die beiden Taten gleichzusetzen, sind sie in ihrer Differenz wahrzunehmen. Das ›schaudernde Verlangen‹ stellt, wie die Interpretation gezeigt hat, eine komplexe Wechselwirkung von Subjekt und Objekt im Subjekt dar – ›Übermut‹ dagegen die ›unverhältnismäßige‹ Dominanz und Überhebung eines Subjekts über »diejenigen Verbindungen des Lebens, die nothwendig, also gleichsam ohnediß zum Contact geneigt sind« sowie über »das Bewußtseyn, das Nachdenken, oder die physische Sinnlichkeit«²⁶⁸. Die Transformation des Vergleichs zur Metapher reformuliert dabei in sich nur noch einmal die in v. 3 genannte widerstreitende Befindlichkeit. Die Tat von Empedokles kann weder mit einem Wort erklärt, noch im Vergleich auf ein tertium hin paraphrasiert werden. Nur in der Widersprüchlichkeit, die sich sowohl im ›schaudernden Verlangen‹ sowie in den Momenten der Metapher ausdrückt, ist eine (sprachliche) Umgrenzung des Unsagbaren dieses Todes möglich. Gegenüber dem Übermut des Empedokles bezieht sich der des poetischen Ich auf die Äußerung selbst. Worin der mögliche Wortfrevel besteht, läßt sich jedoch nicht genau angeben: Waren bereits die Äußerungen der ersten Strophe hybrid, in dem Sinne, daß nicht ›so‹ über Empedokles gesprochen werden kann? Hat sich das Ich also schon in der Exposition im Wort vergriffen, sich etwa über den Gegenstand und damit Empedokles erhoben? Klagt sich das Ich an, nach der ersten Strophe weitergesprochen zu haben, und stellt v. 5 beides zugleich aus: die sprachliche Hybris wie die Selbstanklage? Und genauer: Welche Rede in v. 5 war denn frevelhaft: Überhaupt ›etwas‹ mit Empedokles’ Tat vergleichen zu wollen? Über den Subtext ›Dionysos‹ Empedokles selbst zum Gott erklärt bzw. – im Gegensatz dazu – ihn durch den Kleopatra-Vergleich profanisiert zu haben?²⁶⁹ Oder bezieht sich der »Übermuth« des Wortes auf die kommenden Verse, so daß sich das Ich bereits zu diesem Zeitpunkt bewußt wäre, daß die folgende Rede nur hybrid sein kann? Der Begriff »Übermuth« steht in seiner Nähe zum ›Übermaß‹ auch für einen weiteren poetologischen Kontext, der sich an die bisherigen Beobachtungen anschließen läßt: Hölderlins Frage nach dem ›Maß‹ der Sprache und sein für die Dichtung konstitutives Spannungsverhältnis zum ›Übermaß‹. In einem Brief an
268 Hölderlin, FHA XIII, S. 868. 269 An die zweite Deutung läßt sich eine weitere anschließen, die den Vergleich mit Kleopatra als ironisch und als Horazische Verspottung von Empedokles liest, für die sich das poetische Ich am Ende ermahnt.
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Casimir Ulrich Böhlendorff vom Dezember 1801 spricht Hölderlin vom notwendigen Zusammenspiel apollinischer »Klarheit der Darstellung« und dionysischem »Feuer vom Himmel«²⁷⁰. Wurde bereits zuvor mit dem Motivfeld um Dionysos auf den Dichter und das Entgrenzend-Schöpferische seiner Sprache hingewiesen, so mahnt das Wort »Übermuth« nun indirekt an die ›nüchterne‹ Gegenkraft. Somit eröffnet v. 5 einen poetologischen Horizont, den es in der weiteren Interpretation zu beachten gilt. Zu prüfen ist, ob sich die Selbstthematisierung des poetischen Sprechens im folgenden Vers fortsetzt und nicht erst in v. 7 mit der expliziten Nennung des ›Dichters‹ wieder aufgenommen wird.
Zur Metrik von v. 5 So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermuth 21212122121 Die metrische Analyse von v. 1 und v. 2 konstatierte für die jeweils sechste Silbe einen Wendepunkt der Rede, der eine Erschütterung der thematisierten subjektiven Dominanz zur Folge hatte: in v. 1 die vergebliche, weil maßlos-hybride Suche des Du nach dem Leben, in v. 2 die Aneignung des Objekts durch das Subjekt. Wurde dieser Umschlagpunkt durch ein Wort markiert (»suchst« und »tief«), fehlt dieses in v. 5. Aus der Prozessualität des Versverlaufs, der an keiner Stelle durch ein Interpunktionszeichen unterbrochen wird, ergeben sich andere metrische Gliederungen, die sich primär an den Wortfüßen und dem Sinn der Rede orientieren: So schmelzt’ im Weine | Perlen der Übermuth 21212m122122 Zunächst fällt auf, daß das Versmaß mit der letzten Silbe vom klassischen Strophenschema der alkäischen Ode abweicht, und zwar mit dem Wort, das eine solche Überschreitung des gewohnten Maßes benennt: »Übermuth«. Dies hat Auswirkungen auf die Einteilung des Verses. Das Ende ist nun aus zwei aufeinanderfolgenden Daktylen aufgebaut. Interessant ist, daß diese metrische Einheit den Anfang von v. 4 bildete und damit ein metrischer Rückbezug zum vorangehenden Vers gesetzt ist. Sieht man von der fünften Silbe ab, ist v. 5 eine Umkehrung von v. 4 und verstärkt so den Eindruck, daß die zweite Strophe als Spiege-
270 Hölderlin, FHA XIX, S. 492 (Brief an Ulrich Böhlendorff, 4. Dezember 1801).
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lung der ersten konzipiert ist, um deren Einseitigkeit auszugleichen. Gleichzeitig konstelliert sich durch die beiden Daktylen eine alternierende Reihe in der ersten Vershälfte, die mit dem Anfang von v. 1 übereinstimmt. So können die beiden Verspassagen direkt aufeinander bezogen werden und es stellt sich die Frage, ob (für das poetische Ich) die ›Suche nach dem Leben‹ ein ›Schmelzen im Wein‹ darstellt. Eine zweite mögliche Gliederung des Verses setzt die Zäsur erst nach der siebten Silbe: So schmelzt’ im Weine Perlen | der Übermuth 2 1 2 1 2 1 2 m2 1 2 2 Auch diese Ordnung untermauert die Beobachtungen der Interpretation: Nach dem Wort »Perlen« tritt ein Bruch der Rede ein, da mit den Worten »der Übermuth« kein reales Subjekt genannt wird, das die Handlung des Schmelzens vollzieht. Das Versmaß des so entstandenen zweiten metrischen Kolons bildet einen 2. Päon, einen Versfuß, der kein regulärer Versfuß der alkäischen Ode ist und somit metrisch ebenfalls den »Übermuth« repräsentiert, der das Gewohnte und Maßvolle übersteigt. Wie zuvor für v. 1 ist schließlich auch eine dritte Strukturierung des Verses möglich, die dessen Anfang und Ende aufeinander bezieht, indem man den Kretikus und den Amphibrachys zu einer alternierenden Reihe kontrahiert: So schmelzt’ […] der Übermuth 2 1 2 […] 1 2 1 Es ergibt sich eine allein in der Metrik begründete Aussage, die mit dem materiell Ausgesprochenen korrespondiert: Der ›Übermut‹ und nicht ein konkretes Subjekt – so die Behauptung des Verses – sind für das ›Schmelzen der Perlen im Wein‹ verantwortlich und für die Rede, die dieses Bild entwirft.
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Der Königin; und mochte sie doch! hättst du 2121212212s Die Analyse von v. 6 setzt sich mit der Frage auseinander, ob, und wenn ja: in welcher Weise sich die Selbstthematisierung des poetischen Sprechens fortsetzt. Wie reagiert die Rede nach der Versgrenze auf den ›Übermut‹ und den Konflikt zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen? Welche Konsequenzen hat die Aussparung des Subjekts am Versende von v. 5? Wie der Überblick über die zweite Strophe zeigte, ist die Gliederung des Verses in drei Kola von Bedeutung. Das erste Kolon schließt infolge der unmarkierten Versgrenze die syntaktische Einheit innerhalb des ersten Satzes ab: Der Königin; […] Auf den ersten Blick scheint dieser Versbeginn lediglich das in v. 5 entworfene Bild zu komplettieren: Kleopatra löste als die letzte ›Königin‹ des ägyptischen Ptolemäerreiches Perlen in Wein auf. Seinen Wert besitzt dieses Wort jedoch nicht auf der Bildebene des Textes, sondern durch seine Position sowie seinen Modus. War zuvor mit »Übermuth« das syntaktische Subjekt der Aussage genannt, verschiebt sich dieser Bezug nach der Versgrenze.²⁷¹ In der ersten Deutung ist nun der ›Übermut der Königin‹ für die Handlung verantwortlich. Diese Lesart ist jedoch nur eine von insgesamt drei Möglichkeiten, wie sich der Genitiv auf v. 5 beziehen läßt. Neben dem ›Übermut‹ können auch der Wein wie die Perlen ›der Königin‹ zugesprochen werden, inklusive aller weiteren additiven Varianten. Es ist nicht entscheidbar, ob alle drei Objekte der Königin gehören, nur zwei Objekte oder gar nur eines.²⁷² Denkbar ist, daß zwar Perlen und Wein in ihren Besitz fallen, mit »Übermuth« jedoch der Übermut an und für sich genannt ist. Der Beginn des Verses thematisiert somit die Frage nach der Zugehörigkeit²⁷³ und den Konflikt zwischen einem An-sich- und Für-sich-Sein gegenüber einem Für-anderes-Sein.
271 An der Entwurfshandschrift läßt sich erkennen, daß Hölderlin diese Verschiebung durch eine Umstellung der beiden Worte intendiert; vgl. Transkription, S. 31, Z. 39–41: 1 im Weine Perlen die Königin / Die übermüth’ge → 2 im Weine Perlen der Übermuth / Der Königin. 272 Damit wird auf der Wortebene das Verhältnis von 3:1 aufgenommen, das sich als bedeutungstragende Relation der Verskola von v. 1 und v. 2 erwies. 273 Auch das Wort ›Zugehörigkeit‹ wird in diesem Zusammenhang sprechend, da es zugleich die Frage eröffnet, ob sich ein von Übermut bestimmtes Verhalten ›gehört‹.
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Interpretation
Sprechend ist dabei, daß der Genitiv »Der Königin« nicht nur als genitivus subjectivus sondern auch als possessivus gelesen werden kann. Hinzu kommt, daß »Der Königin« nicht allein einen Genitiv beschreibt. Als Dativ verstanden läßt sich der Versverlauf wiefolgt paraphrasieren: ›der Übermut schmelzt der Königin Perlen im Wein‹. Die ›Königin‹ ist somit das Objekt, auf das die Handlung zielt und nicht das Subjekt, das diese selbst initiiert. Die Frage ist nun, ob der Übermut in dieser Lesart etwas der Königin rein Äußerliches²⁷⁴ und autonom Agierendes ist oder ein ihr zugehöriges Verhalten, mit dem sie sich den Erfolg der Handlung selbst ›schenkt‹. Diese doppelte Lesart ist festzuhalten, da sie die Souveränität der Königin diskutiert und noch einmal auf das Verhältnis von 3:1 zurückführt. Bereits in der metrischen Analyse von v. 3 erwies sich dieses Verhältnis als bedeutsam, weil es die Frage nach Einheit versus Ganzheit (der Rede) aufwarf. Eine vergleichbare Deutung läßt sich nun auch für v. 6 anschließen, wobei die Rolle der Königin als Monarchin sprechend wird. Im Genitiv beansprucht die ›Alleinregierende‹ die Einheit der drei in v. 5 genannten Momente, die ihr jedoch nicht notwendigerweise zukommen müssen. Die Lesart von »Der Königin« als Dativ erschüttert diese Dominanz, da es nun ein Anderes ist, das ihr die ›Perlen im Wein schmelzt’‹. Auch formal findet diese Relativierung der königlichen Herrschaft Ausdruck. Der Vers, der die Alleinstellung der Königin behauptet, ist selbst in drei Kola gegliedert, wohingegen das, was sie zu verbinden behauptet, bereits für sich eine Einheit (des Verses) bildet. Damit nimmt das poetische Ich auch auf seine eigene Souveränität Bezug und stellt diese in Frage. Es kann sich selbst nicht als Souverän der Sprache behaupten, weil die Entwicklung des Verses eigentliches und eindeutiges Sprechen problematisiert. Das Ende des Kolons wird durch ein Semikolon markiert. Dieses findet sich nur einmal in der Ode und zieht somit eine erhöhte Aufmerksamkeit auf sich. Das Semikolon wird im Allgemeinen dann gebraucht, wenn der Punkt eine zu große, das »Komma eine zu kleine Unterscheidung machen würde«²⁷⁵. Innerhalb des Versverlaufs wird jedoch besonders eine Verwendungsweise des Semikolons sprechend: Es kann dann stehen, »wenn man einem Satze noch einen weiteren kurzen Beweis, eine kurze Erläuterung, Ausnahme, Folge u.d.g vermittelst der
274 Angesichts dieses Wortfeldes ließe sich anschließen, daß Übermut auch ein Außer-sichSein bedeuten kann. 275 Johann Friedrich Heynatz, Die Lehre von der Interpunktion oder dem richtigen Gebrauche der Unterscheidungs- oder Abtheilungszeichen als eine Beilage zu seiner Deutschen Sprachlehre, 3. Auflage, Berlin 1779, S. 34.
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Partikeln denn, nemlich, doch, nur, also &c. beifügt«²⁷⁶. Damit wiederholt sich am Ende der ersten syntaktischen Einheit der Übergang von der ersten in die zweite Strophe. Auch hier stand die Frage nach der ergänzenden, erläuternden oder kommentierenden Funktion der weiteren Rede im Mittelpunkt. Dies bestärkt die am Ende von v. 5 implizite Kritik des poetischen Ich an seinem Sprechen. Der erneute Einsatz der Rede, die an den Anfang zurückkehrt, relativiert den gesamten v. 5 im Sinne eines gelingenden Fortschritts. Die Interpretation des folgenden Kolons muß somit die beiden Konjunktionen »und« und »doch« bedenken, die den Charakter und die Funktion des angefügten Nebensatzes bestimmen. […] und mochte sie doch! […] Das Wort »und« betont zunächst die Verbindung der beiden Satzteile. Ich habe an anderer Stelle bereits auf die verschiedenen Bezugsmöglichkeiten der Konjunktion hingewiesen.²⁷⁷ Als Eröffnung des zweiten Kolons sperrt sich das ›und‹ gegen die dort genannten Bedeutungen: »mochte sie doch« ist weder konsekutiv, noch kausal oder temporal-iterativ auf das Vorangegangene bezogen. Andererseits wird die Formulierung »mochte sie doch« nicht unabhängig oder nur gleichgeordnet vom restlichen Satz gesetzt. Es scheint, daß das ›und‹ hier eine paradoxe oder zumindest uneindeutige Relation bezeichnet: Einerseits behauptet es einen Bezug, andererseits läßt es diesen offen und negiert die üblichen Relationen. Das Prädikat des Satzes hingegen ruft ein reiches Bedeutungsspektrum auf. Die Semantik von ›mögen‹ ist allgemein in ›können‹ und ›wollen, gern haben‹ zu unterscheiden, wobei das erste Bedeutungsfeld an dieser Stelle dominant ist. Im »weitesten Verstande« bezeichnet es »so wohl subjective, als objective, Kraft, Macht, Vermögen haben etwas zu thun, möglich seyn, durch keinen Widerspruch, durch keine wesentliche oder zufällige Einschränkung gehindert werden, zu seyn oder zu handeln«²⁷⁸. Diese Bedeutung von ›mögen‹ wird besonders in Bezug auf die Tat des Empedokles sprechend, da diese in der Schilderung der ersten Strophe von Widersprüchen geprägt ist. In seiner engeren Bedeutung bezeichnet ›mögen‹ sowohl die Notwendigkeit als auch die Legitimität einer Handlung.²⁷⁹
276 Heynatz, Die Lehre von der Interpunktion, S. 34. 277 Vgl. auch Heynatz, Die Lehre von der Interpunktion, S. 59 f. 278 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 257. 279 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 257: »2) Ursache haben etwas zu thun; in der vertraulichen Sprechart. Du magst dich immer in Acht nehmen. Er hätte es immer thun mögen. 3) Erlaubniß haben etwas zu thun, durch den Willen des andern nicht gehindert werden«.
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Interpretation
So wird lesbar, daß es der Königin im Gegensatz zu Empedokles’ Freitod nicht nur erlaubt war, ›Perlen im Weine zu schmelzen‹, sondern daß dies sogar eine notwendige Tat darstellt. ›Mögen‹ bestimmt jedoch nicht nur das angeredete Subjekt, sondern auch das poetische Ich in seinem Sprechen, weil es einerseits die »Gleichgültigkeit« des Geäußerten »von Seiten des Redenden« bezeichnet:²⁸⁰ Ob die Königin Perlen in Wein schmelzt, hat letztlich keine größeren Auswirkungen. Andererseits kann ›mögen‹ den Status der Rede relativieren, wenn es dazu verwendet wird, eine »Vermuthung, eine wahrscheinliche Möglichkeit anzudeuten«²⁸¹: Der Redende ist sich bei Kleopatra im Unterschied zu Empedokles nicht sicher, ob sich die Handlung so zugetragen hat. Die Bedeutung von ›mögen‹ als ›können‹ schließt an diese letzte Deutung an, da es ein Optativum und Conjunctivum ausdrückt, was hier durch das Tempus und den Modus von »mochte« noch unterstrichen wird. Es bleibt wie bereits in v. 5 bezüglich »schmelzt’« offen, ob es sich bei »mochte« um Indikativ Präteritum oder Konjunktiv Präsens handelt und damit um ein eigentlich-nennendes oder uneigentlich-metaphorisches Sprechen. Auch das folgende Wort »sie« ist in dieser Weise zweifach zu lesen. In einer ersten Deutung steht es als Personalpronomen für die Königin. Zugleich kann sich »sie« aber auch auf die »Perlen« in v. 5 beziehen. Dabei rückt das zweite semantische Feld von ›mögen‹ in den Vordergrund:²⁸² Die Köngin ›schmelzt’ Perlen im Wein‹, obwohl oder weil sie diese ›wertschätzt‹.²⁸³ Mit dem letzten Wort »doch« erfährt das Kolon eine wichtige Ergänzung. Besonders zu beachten ist die syntaktische Position des Wortes, da man angesichts des Semikolons nach »Königin« erwarten würde, daß es anstelle des »und« steht und damit eine Erläuterung, Ausnahme oder Folge einleitet. Die Beziehung zwischen den beiden Satzteilen von v. 5 und v. 6 wird so zwar einerseits über das Wort »doch« präzisiert, durch seine Stellung aber gerade abgeschwächt. Das Wort erhält als nachgestellte Konjunktion einerseits eine abtönende Bedeutung: Ob die Königin Perlen in Wein auflöst, fällt nicht weiter ins Gewicht. Andererseits besitzt es einen adversativen Charakter: Die Königin hat letztlich ›doch‹ (wider Erwarten) die Perlen aufgelöst, obwohl sie »sie« (die Perlen) wertschätzt. Anfang und Ende des Kolons markieren den komplexen und partiell widersprüchlichen Charakter des Gesagten. Die Betonung ihrer Verbindung über das
280 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 258. 281 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 258. 282 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 257. 283 Durch das »und« wird diese Relation bewußt offengelassen.
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Wort »und« wird durch das »doch« relativiert. Gleichzeitig wird aber erst mit diesem letzten Schritt die indirekte Kritik an Empedokles durch das Ich deutlich und die Funktion verständlich, die der metaphorische Vergleich mit Kleopatra besitzt. Die Rede in v. 5 und v. 6 beschreibt eine Entwicklung, die das Ich über den (von ihm selbst gewählten) historischen ›fremden Stoff‹ mit einem motivischen und sprachlichen Subtext konfrontiert, mit dem es sich im weiteren Sprechen auseinandersetzen muß. Dazu gehört, daß die Rede von ›mögen‹ als ›Können‹ und ›Vermögen‹ über die Grenzen der Kleopatra-Thematik hinaus eine poetologische Dimension des Textes eröffnet. Mit dem Vermögen und dem im letzten Kolon des Verses genannten »Dichter« erinnert ›mögen‹ an das vornehmlich von Schiller bestimmte ›ästhetische Vermögen‹.²⁸⁴ Unter diesem Vermögen, das den ›ästhetischen Zustand‹²⁸⁵ ermöglicht, versteht Schiller den wechselseitigen Ausgleich des im Menschen angelegten Gefühls- und Vernunftvermögens.²⁸⁶ Von dieser Bestim-
284 An anderer Stelle nennt Schiller die Einbildungskraft das schöpferische Vermögen des Dichters: »Furchtlos und mit schauerlicher Lust nähert er sich jetzt diesen Schreckbildern seiner Einbildungskraft, und bietet absichtlich die ganze Kraft dieses Vermögens auf, das SinnlichUnendliche darzustellen, um, wenn es bei diesem Versuche dennoch erliegt, die Überlegenheit seiner Ideen über das Höchste, was die Sinnlichkeit leisten kann, desto lebhafter zu empfinden.« (Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 801 [Über das Erhabene]). Bemerkenswert an dieser Passage ist die Formulierung ›schauerliche Lust‹, die an das ›schaudernde Verlangen‹ in v. 3 erinnert. 285 Vgl. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 633 (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 20. Brief): »Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muss man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.« 286 Vgl. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 586 (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 6. Brief): »Wir wissen, dass die Sensibilität des Gemüts ihrem Grade nach von der Lebhaftigkeit, ihrem Umfang nach von dem Reichtum der Einbildungskraft abhängt. Nun muss aber das Übergewicht des analytischen Vermögens die Phantasie notwendig ihrer Kraft und ihres Feuers berauben und eine eingeschränktere Sphäre von Objekten ihren Reichtum vermindern.«; ebd., S. 627 (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 19. Brief): »Was in dem vorhergegangenen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit nichts als ein leeres Vermögen war, das wird jetzt zu einer wirkenden Kraft, das bekommt einen Inhalt; zugleich aber erhält es, als wirkende Kraft, eine Grenze, da es, als bloßes Vermögen, unbegrenzt war. Realität ist also da, aber die Unendlichkeit ist verloren. Um eine Gestalt im Raum zu beschreiben, müssen wir den endlosen Raum begrenzen; um uns eine Veränderung in der Zeit vorzustellen, müssen wir das Zeitganze teilen. Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unsrer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung.«
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Interpretation
mung aus muß der Verlauf von v. 5 noch einmal neu betrachtet werden. Dort wurde die Einseitigkeit und Maßlosigkeit der Rede vom poetischen Ich selbst mahnend beschränkt. Ob die Thematisierung des Reichtums von Kleopatra und der Umgang mit diesem das ›ästhetische Vermögen‹ nennt, oder ob letzteres mit dem Bild der im ›Wein schmelzenden Perlen‹ lediglich Ausdruck findet, darf an dieser Stelle nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Ausrufezeichen, das das Kolon begrenzt, betont die besondere Bedeutung der Aussage. Zum einen überrascht diese Interpunktion, wenn man davon ausgeht, daß es sich um ein eher abtönendes Sprechen handelt. Nicht das, was darin über Kleopatra gesagt wird, hat demnach Bedeutung für das poetische Ich, sondern der Kontrast dieser Handlung gegenüber der Tat von Empedokles. Zum anderen ruft das Ausrufezeichen und der damit verbundene ›Nachdruck der Rede‹ die ursprüngliche Bedeutung des ›emphatischen Sprechens‹ auf, da es ›verdeutlicht‹ und ›zeigt‹. Mit dem Satz »und mochte sie doch« soll nachträglich und nachdrücklich etwas an dem zuvor Gesagten deutlich werden, was bisher nicht genügend Ausdruck fand und für das poetische Ich von Bedeutung ist: die eigene Sprache in Bezug auf das in ihr Ausgesagte. […] hättst du Mit dem letzten Kolon nimmt der Vers den Dialog mit dem Du wieder auf. Dies irritiert, weil man nach dem Ende der ersten Strophe und der Synchronität von Handlung und Rede im Präsens der Sprache davon ausgehen konnte, daß mit dem genannten Tod im Ätna auch das Du innerhalb der Gesprächssituation seine Existenz verliert. Die zeitliche Utopie der ersten vier Verse wird damit noch verstärkt, da die Rede nicht mehr nur eine Revision von Empedokles’ Tod darstellt, sondern dieser über seinen Tod hinaus als Gegenüber ›weiterlebt‹. Das angeredete Du wird nun direkt mit dem Bild der im ›Wein schmelzenden Perlen‹ konfrontiert. Erneut möchte ich die Versgrenze am Ende von v. 6 als Markierung einer sprachlichen Einheit verstehen, die zunächst retrospektiv auf das bisher Gesagte Bezug nimmt. So kann das Kolon »hättst du« zunächst als Frage gelesen werden: ›Hättest Du im Übermut Perlen im Wein geschmolzen?‹ Der Konjunktiv impliziert dabei zwei Aspekte dieser Frage: Hättest Du so gehandelt, wenn Du a) dich in dieser Situation befunden oder b) diesen Reichtum besessen hättest? Liest man das Versende als Frage, relativiert sich der Status des zuvor Geäußerten und zugleich die Souveränität des poetischen Ich: »hättst du« betont die Unsicherheit darüber, ob die Tat des Empedokles überhaupt mit der Kleopatras verglichen werden kann. Ganz abgesehen davon ist fraglich, ob die Rede in ihrem metaphorischen Charakter in v. 5 eine realisierbare Handlung referiert: Kann das Du Perlen im Wein schmelzen?
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Neben dieser Deutung kann »hättst du« auch als Teil eines Aussagesatzes verstanden werden, bei dem das Gelingen bzw. die Konsequenz der Handlung offen bleibt: ›Hättest Du Perlen im Wein geschmolzen, dann …‹. In dieser Lesart müssen v. 5 und v. 6 nicht unbedingt eine alternative Tat in Aussicht stellen; ebenso ist denkbar, daß das poetische Ich allgemein die Überlegung anstellt, was passiert wäre, wenn Empedokles respektive das Du ›so‹ gehandelt hätte. Alle Lesarten des Versendes sind wiederum gleichzeitig auf das Ich selbst und sein (sprachliches) Handeln zu beziehen. Die genannte Metaphorizität der Rede, die die Frage aufwirft, ob ›Perlen im Wein geschmolzen‹ werden können, führt auch zu einer Infragestellung der eigenen sprachlichen Aktion: ›Hätte‹ ich (bzw. das Ich) anders sprechen, Anderes sagen können und müssen?
Zur Metrik von v. 6 Der Königin; und mochte sie doch! hättst du 2121212212s Infolge der Interpunktion und der Versgrenze gliedert sich der Vers in drei Wortfüße: Der Königin; und mochte sie doch! hättst du 2122p 2122sp rs Auffällig ist an dieser Ordnung, daß der Vers die herkömmliche Einteilung in Versfüße aufbricht. Hinzu kommt, daß v. 6 die bisher größte Varianz hinsichtlich betonter und unbetonter Silben gegenüber dem tradierten Odenschema aufweist: Eine klare Abfolge von Trochäen bzw. Jamben und der metrische Wechsel in der Mitte des Verses durch einen Daktylus sind nicht mehr nachvollziehbar. Der Vers ist jedoch noch weitaus komplexer aufgebaut. Der erste Wortfuß beschreibt einen 2. Päon, den Versfuß, der auch als Versende von v. 5 gelesen werden kann: »der Übermuth«. Durch die metrische Analogie wird die Deutung gestützt, nach der der Übermut der Königin für das Schmelzen der Perlen verantwortlich ist und nicht der Übermut an sich. Der 2. Päon entsteht in v. 6 aus der nachträglichen Umwertung des gewöhnlich jambischen Versbeginns durch das Wort ›Königin‹, dessen letzte Silbe keine Betonung besitzt. Aus der erwarteten jambischen Reihe (2 1 2 1) von zwei zweisilbigen Versfüßen resultiert so ein viersilbiger Wortfuß aus zwei Worten (2 1 2 2). Ein möglicher Grund für diese Umwertung ist die implizite monas, die Einheit und unitas der Herrschaft, die die Königin (und das Wort »Königin«) beansprucht; die
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Interpretation hat diesen Aspekt bereits im Blick auf die ›Eindeutigkeit‹ der Rede sowie die Relation gegenüber den drei Bezugsworten in v. 5 herausgestellt. Die Metrik formuliert eine entsprechende Relation, da die Dualität der jambischen Versfüße in die Einheit des Päons aufgehoben wird. Die nächste metrische Einheit des zweiten Kolons scheint diese Struktur zu wiederholen: und mochte sie doch 2122s Bis zur vierten Silbe kann den Worten tatsächlich das gleiche Schema zugesprochen werden. Dieses korrespondiert mit der durch die Konjunktion »und« markierten sprachlichen Ergänzung: Wenn etwas zu »Der Königin« ausgesagt werden soll, das ihr ›entspricht‹, muß es auch im gleichen Metrum erfolgen. Mit der fünften Silbe wird diese metrische Figur jedoch verlassen. Die Unklarheit darüber, welche Bedeutung das Wort »doch« am Ende des Kolons besitzt (ob es eine Differenz artikuliert oder sich darin lediglich die Gleichgültigkeit des poetischen Ich gegenüber dem Gegenstand ausdrückt), findet sich nun auch in der Uneindeutigkeit wieder, ob die Silbe einen Akzent erhalten soll oder nicht. Eine Betonung hat die Konsequenz, daß das Versmaß des ersten Kolons konterkariert und damit nun ›doch‹ die Alternativlosigkeit und Eindeutigkeit solchen Sprechens behauptet würde. Ohne Akzent ›verläuft‹ sich die Metrik im Unbetonten, Nebensächlichen und ›Gleichgültigen‹. Das Schwanken der Wortfüße zwischen betonten und unbetonten Silben setzt sich auch im letzten Kolon fort: hättst du rs Der letzte Wortfuß weist schließlich keine Einheit oder Eindeutigkeit mehr auf, da er gänzlich in sich gespiegelt werden kann. Je nachdem, ob man das Versende jambisch oder trochäisch liest, verändert sich – wie zuvor bereits in der Interpretation dargelegt – der Charakter des Sprechens, wird ein Frage- oder Aussagesatz formuliert.
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Nur Deinen Reichtum nicht, o Dichter 212121212 Nachdem v. 6 das ›Vermögen‹ des Subjekts und dessen Handeln thematisiert hatte, muß die Interpretation nun darauf achten, wie dieses Motiv weiterentwickelt und reflektiert wird. Formal ist v. 7 infolge der Interpunktion in zwei Kola untergliedert. Der erste Teil schließt syntaktisch direkt an das Ende von v. 5 an. Der zweite besitzt mit der exklamatorischen Nennung des ›Dichters‹ einen direkten Bezug zur poetologischen Dimension der Ode und zum Verhältnis des poetischen Ich zum angeredeten Du. Nur Deinen Reichtum nicht, […] Der Vers beginnt mit einer Einschränkung. Die Erwartung, daß damit auch das im letzten Kolon von v. 5 entworfene Bedeutungsspektrum verringert und die Bezüge vereindeutigt werden, erfüllt sich jedoch nicht. Die Besonderheit der ersten Verseinheit besteht in Analogie zu v. 1 darin, daß sie sich mehrfach untergliedern läßt. Liest man prozessual, bilden zunächst die ersten drei Worte »Nur Deinen Reichtum« eine Einheit.²⁸⁷ Je nach Betonung eines der Worte ergibt sich in Verbindung mit dem in v. 5 Geäußerten ein anderer Sinn der Rede: Nur Deinen Reichtum […] Liegt der Akzent auf dem ersten Wort, läßt sich die Aussage des poetischen Ich folgendermaßen paraphrasieren: ›Wenn Du ausschließlich Deinen Reichtum hättest,…‹. Das Ich sagt damit, daß das Du mehr besitzt als nur (diesen bestimmten) Reichtum – das exclusivum bedeutet jedoch keine Privation von Besitz, sondern ist die Anzeige eines Mehr. Zudem ist die Quantifizierung bemerkenswert, da bereits mit dem Wort ›Reichtum‹ ein »Überfluß an gewissen Dingen«²⁸⁸ ausgedrückt ist. Das unbestimmte Mehr ist daher eher qualifzierbar denn quantifizierbar.
287 Die Partikel »nicht« am Ende des Kolons hat, wie sich zeigen wird, einen weitaus größeren semantischen Wert als nur die Negation des zuvor Geäußerten. 288 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 1045.
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Nur Deinen Reichtum […] Eine andere Aussage liegt vor, wenn man das Possessivpronomen betont liest. In Verbindung mit dem Konjunktiv »hättst« bezieht sich die Besitzanzeige nicht nur auf eigenen, sondern auch auf fremden Reichtum. Doch worin besteht diese Teilhabe an fremdem Vermögen? Und welche Konsequenzen sind damit verbunden, wenn das Du nicht nur seinen eigenen Reichtum besitzt? Nur Deinen Reichtum […] Die dritte Lesart des Satzteils legt die Betonung auf den Reichtum: ›Wenn Dein Besitz lediglich in Deinem Reichtum bestünde,…‹. Das Ich relativiert den Stellenwert, den der ›Reichtum‹ des Du besitzt und kritisiert (paradoxerweise durch dessen Betonung) eine Haltung, diesen für besonders wichtig zu erachten. Das Du ist dem Ich nicht allein aufgrund seines ›Vermögens‹ wertvoll; es ist durch eine Qualität ausgezeichnet, die darüber hinaus geht und im strengen Sinn auch nicht von ihm ›besessen‹ wird. Für alle drei Deutungen ist entscheidend, den Begriff des ›Reichtums‹ im weiteren Horizont von ›Vermögen‹ zu verstehen, der in v. 5 aufgespannt wurde, und ihn nicht auf materiellen Besitz zu reduzieren. Mit der Negationspartikel »nicht« vollzieht sich eine Umdeutung der bisherigen Versrede. Sie wirkt sich auf alle drei eben skizzierten Bedeutungsvarianten des Kolons aus, jedoch nicht so, daß schlicht das Gegenteil des zuvor Geäußerten behauptet würde. Für die erste Lesart bedeutet diese Negation, daß dem Du nicht nur das Mehr an Reichtum abgesprochen wird, sondern daß ihm ein völliges ›Unvermögen‹ zukommt. Zugleich aber läßt sich der Satz als Optativ verstehen: ›Hättest Du nur Deinen Reichtum nicht‹. In der zweiten Deutung, die das Possessivpronomen betont, bezieht sich die Negationspartikel lediglich auf den eigenen Besitz, läßt aber das zuvor implizit genannte fremde Vermögen unberührt. Für die dritte Betonung des Satzes negiert »nicht« wiederum den gesamten Bedeutungskomplex: Dem Du fehlt nicht nur der eigene Reichtum, sondern darüber hinaus das, was diesen zuvor überstieg. Auf das gesamte Kolon bezogen läßt sich eine weitere Beobachtung anschließen, die erneut die Prozessualität der Versrede sichtbar werden läßt: Bis zu dem Wort »nicht« vermittelt der Satz über den Konjunktiv »hättst« den Eindruck, daß das Du den genannten Reichtum nicht besitzt. Mit dem Wort, daß diese Aussage expressis verbis negiert, kippt die Rede jedoch in ihr Gegenteil: ›hättst du / Nur Deinen Reichtum nicht‹, bedeutet, daß er ihn tatsächlich besitzt und das Ich allein die Möglichkeit des Unvermögens thematisiert.
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An der Komplexität des ersten Kolons zeigt sich das permanente Schwanken zwischen Vermögen und Unvermögen, das neben dem Besitz des angeredeten Du vor allem auch das Sprach-Vermögen des Ich einschließt. Zu keinem Zeitpunkt des Verses kann das poetische Ich behaupten, daß es Sprache ›besitzt‹, oder gar über seine ›eigene‹ Sprache verfügt. Hölderlin konstelliert mit dem nachgestellten Wort »nicht« eine Äußerung, die über die Rede vom Vermögen in komplexer Form die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt ausdrückt, die sich auch auf das Verhältnis des Subjekts zur Sprache auswirkt. Keine der beiden Seiten ›besitzt‹ eine Dominanz über die je andere, jede ist zugleich leidend wie tätig, vermögend wie unvermögend. […] o Dichter Das zweite Kolon kann nun so verstanden werden, daß sich die Rede nach v. 4 und der Schilderung der Todesumstände wieder direkt auf Empedokles von Agrigent bezieht. Die emphatische Anrede bzw. der nachgestellte Ausruf »o Dichter« nennt eine ›Profession‹, die auch dem historischen Empedokles zugesprochen wird. In zahlreichen Überlieferungen ist von ihm als Poeten²⁸⁹ oder als metaphorikos²⁹⁰ die Rede – nicht zuletzt weil seine erhaltenen Schriften in metrisch gebundener Form vorliegen. Die Quellen, die Empedokles auch als Dichter bezeugen, sind zwar seit der Antike kontrovers diskutiert worden,²⁹¹ doch auch Hölderlin nennt ihn im Grund zum Empedokles ›Dichter‹.²⁹² Mit der poetischen ›Anlage‹ von
289 Vgl. Zedler, Großes Universalexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 8, Sp. 1021: »Empedocles, ein berühmter Philosophus, Poet und Historicus von Agrigento.« 290 Aristoteles, Poetik, 1457b. 291 Über den aktuellen Stand dieser Diskussion referiert zuletzt ausführlich und umfassend Birkenhauer, Legende und Dichtung, S. 203–214. 292 Einschränkend ist jedoch zu sagen, daß Hölderlin hier lediglich von Empedokles ›als‹ Dichter spricht bzw. davon, daß dieser »zum Dichter geboren« sei; vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 873: »Er scheint nach allem zum Dichter geboren, scheint also in seiner subjectiven thätigern Natur schon jene ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit zu haben, die unter andern Umständen, oder durch Einsicht und Vermeidung ihres zu starken Einflusses, zu jener ruhigen Betrachtung, zu jener Vollständigkeit und durchgängiger Bestimmtheit des Bewußtseyns wird, womit der Dichter auf ein Ganzes blikt, ebenso scheint in seiner objectiven Natur, in seiner Passivität, jene glükliche Gaabe zu liegen, die auch ohne geflissentliches und wissentliches Ordnen und Denken, Bilden, zum Ordnen und Denken und Bilden geneigt ist, jene Bildsamkeit der Sinne und des Gemüths, die alles solche leicht und schnell in seiner Ganzheit lebendig aufnimmt, und die der künstlichen Thätigkeit mehr zu sprechen, als zu tun giebt.«; ebd., S. 876: »In diesem Verhältnisse lebt er 1) überhaupt, als fühlender Mensch, 2) als Philosoph und Dichter, 3) als ein Einsamer, der seine Gärten pflegt.«
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Interpretation
Empedokles wird dabei ein Aspekt angesprochen, der innerhalb der Ode bereits relevant wurde: die Frage des ›Maßes‹ und dessen Überschreitung. Empedokles habe nicht innerhalb der »eigentümlichen Sphäre« der Dichtung bleiben können, da das »Schicksal seiner Zeit« ihn als »Opfer« gefordert hätte.²⁹³ Ich möchte an dieser Stelle die Untersuchung des Opfermotivs noch etwas aufschieben, da es im folgenden Vers explizit thematisiert wird. Wichtiger ist an dieser Stelle die Engführung des poetischen Ich mit Empedokles. Ob das poetische Ich ebenfalls als Dichter zu bezeichnen ist, muß offen bleiben, will man eine Gleichsetzung mit Hölderlin vermeiden. Letzterer ist das Subjekt, das die beiden Subjekte auf der Textebene in Beziehung setzt und sich zu dieser Relation im Ganzen sprachlich verhält. Dennoch ist der Gedanke zulässig, daß mit dem Wort »Dichter« ein poetologisches Moment artikuliert wird. So kann die Du-Anrede von der historischen Figur Empedokles abgelöst und erneut als Selbstrede des poetischen Ich verstanden werden, das sich in seiner eigenen (poetischen) Rede reflektiert. Es bleibt jedoch zu klären, worin der Reichtum des Dichters besteht. Der Ausruf am Versende, der das Du als solchen bezeichnet, hebt seinen Besitz doch klar von dem Kleopatras ab. In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts werden verschiedene Aspekte ›poetischen Reichtums‹ formuliert, die für die selbstreflexive Bewegung der Versrede in der zweiten Strophe von Bedeutung sind. So führt Schiller in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung den »Reichtum des Stoffes«²⁹⁴ poetischer Werke an, durch den der Mangel an »Einfalt der Formen«²⁹⁵, die er in Texten antiker Dichter sieht, ausgeglichen werden kann. ›Reichtum‹ bezeichnet hier die ›Fülle‹²⁹⁶ und ›Reichhaltigkeit‹ des gewählten Stoffs, die »in das Zeichen«²⁹⁷ übertragen wurde.²⁹⁸ Innerhalb der EmpedoklesOde ist dieser Aspekt bedeutsam, weil sich ab der zweiten Strophe ein ganzer Stoff-Komplex findet: die Rede von Empedokles und der Vergleich mit Kleopatra. Zudem wird das Stoffliche als ›Vermögen‹ sowohl als materieller wie geistiger Reichtum innerhalb der Rede reflektiert.
293 Hölderlin, FHA XIII, S. 873. 294 Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 720. 295 Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 720. 296 Vgl. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1105a. 297 Hölderlin, FHA XIV, S. 321. 298 Zu Hölderlins Bestimmung des poetischen Stoffs vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 305: »Der Stoff ist entweder eine Reihe von Begebenheiten, oder Anschauungen Wirklichkeiten subjectiv oder objectiv zu beschreiben, zu mahlen oder er ist eine Reihe von Bestrebungen Vorstellungen Gedanken, oder Leidenschaften Nothwendigkeiten subjectiv oder objectiv zu bezeichnen oder eine Reihe von Phantasien Möglichkeiten subjectiv oder objectiv zu bilden.«
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Demgegenüber hebt der ›Reichtum der Bilder‹ einen anderen Aspekt der Dichtung hervor. Betont wird hier die Vielzahl, Innovation und Unausschöpflichkeit der im poetischen Text enthaltenen Vergleiche, Metaphern und Vorstellungsbereiche.²⁹⁹ Auch dies wird in der Ode aufgegriffen, da in v. 5 und v. 6 die Möglichkeit und Gefahr vergleichender und bildlicher Rede thematisch wird. Daran läßt sich der ›Reichtum der Einbildungskraft‹³⁰⁰ anschließen, der bereits in v. 6 mit der Rede vom Vermögen indirekt genannt wurde.³⁰¹ Der Reichtum der produktiven Einbildungskraft, der für Schelling im ›Dichtungsvermögen‹ die höchste Ausprägung findet,³⁰² ist die Fähigkeit, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen zur Darstellung zu bringen und so poetische Anschauung überhaupt zu ermöglichen. Eng damit verbunden ist der ›Reichtum der Phantasie‹ und der ›Vorstellungen‹.³⁰³
299 Vgl. Ludwig Uhland, Werke, 2 Bde., hg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler, München 1980, Bd.2, S. 401: »Es gehört großer poetischer Reichtum dazu, um im Romantischen zu glänzen. Der romantische Dichter darf nicht mit ewig wiederkehrenden Bildern, mit längst verdufteten Blumen die Welt langweilen und anwidern. Ein schöpferischer Geist muß mit gewaltigem Zauberstab immer neue und wechselnde Erscheinungen hervorrufen. Auch ist es nicht damit getan, das buntfarbige Feuerwerk spielen zu lassen, das mit zuckenden, sich kreuzenden Lichtern das Auge blendet. Wir wollen nicht bunte Seifenblasen der Phantasterei vor uns aufsprudeln sehen; im Spiele soll Bedeutung liegen, im Bilde das göttliche Leben.« 300 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artickeln abgehandelt, 3 Bde., Biel 1777, Bd. 2, S. 964: »Die Stärke, Lebhaftigkeit und den Reichthum der Einbildungskraft hat der Redner mit allen andern Künstlern gemein; sie sind ihm nöthig, weil er oft sichtbare Gegenstände so hell und so lebhaft zu schildern hat, daß der Zuhörer sie mit Augen zu sehen glaubt, welches ihm nothwendig schweerer wird, als dem Dichter, dessen Sprache dazu bequämer ist.« 301 Goethe stellt an einer Stelle seines West-östlichen Divan den Bilderreichtum der Dichtung in direkte Relation zur Einbildungskraft: »Die Fruchtbarkeit und Mannigfaltigkeit der persischen Dichter entspringt aus einer unübersehbaren Breite der Außenwelt und ihrem unendlichen Reichtum. Ein immer bewegtes öffentliches Leben, in welchem alle Gegenstände gleichen Wert haben, wogt vor unserer Einbildungskraft, deswegen uns ihre Vergleichungen oft so sehr auffallend und mißbeliebig sind. Ohne Bedenken verknüpfen sie die edelsten und niedrigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen« (Johann Wolfgang von Goethe, Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Berliner Ausgabe, hg. von einem Bearbeiter-Kollektiv unter Leitung von Siegfried Seidel u.a., 22 Bde., Berlin, Weimar 1965–78, Bd. 3, S. 204). 302 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke, hg. von Karl Friedrich Schelling, Stuttgart, Augsburg 1856–1861, Bd. I/3, S. 35. 303 Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 913: »Aber nicht jeder hat Genie, Lebhaftigkeit und Reichthum der Phantasie, [...]. Dieses ist den vorzüglichen Genien, die dann eigentlich Dichter genannt werden, vorbehalten.«; ebd., Bd. 1, S. 342: »Durch diese Größe sind die Gemählde des Himmels und der Hölle, bey Milton und Klopstok, erhaben: welch er-
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Interpretation
Das Gemeinsame dieser verschiedenen Perspektiven bildet schließlich der ›Reichtum des Ausdrucks‹,³⁰⁴ der das Zusammenwirken des Stofflichen, Bildlichen und der produktiven Einbildungskraft der Dichters in eins faßt. Der ›Reichtum des Ausdrucks‹ steht Alexander Gottlieb Baumgartens Forderung seiner Ästhetik nahe, derzufolge in jedem Gedicht dem Streben nach »Reichtum« (ubertas) und »Größe« (magnitudo), d.h. nach einer qualitativen sowie quantitativen ›Anreicherung‹ der poetischen Momente, eine Kraft entgegenwirken muß, die die Einheit des Gesamteindrucks ermöglicht.³⁰⁵ Der ›Reichtum des Dichters‹ wird somit zu einem Motiv in der zweiten Strophe, das den Ausdruckswert der Rede thematisiert: ihre Bildlichkeit, ihre stofflich-materielle Seite sowie die Haltung des Ich zum Gesagten und seinem ›Vermögen‹. Die Interpretation von v. 8 wird besonders darauf achten müssen, inwieweit diese Selbstbezüglichkeit der Versrede eine Bewertung oder Klärung dieses Komplexes formuliert.
Zur Metrik von v. 7 Nur Deinen Reichtum nicht, o Dichter 212121212 Für die Metrik von v. 7 und den komplexen Sinn der Aussage sind die möglichen Akzentuierungen der Silben entscheidend. Die ersten drei Wörter können in den folgenden zwei metrischen Bewegungen gelesen werden: (I)
Nur Deinen Reichtum 12212
staunlicher Reichthum der Phantasie in ihren Beschreibungen!«; ebd., Bd. 2, S. 811: »Ein solcher war vorzüglich Homer; dessen scharfen Auge (was man auch von seiner Blindheit sagt) nichts entgieng. Daher der überschwengliche Reichthum seiner Vorstellungen.« 304 Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 2, S. 913: »Die Empfindungen sind darin nicht nur weit über die Natur getrieben, sondern werden auf alle Seiten gewendet, damit nur der Dichter Gelegenheit habe, den Reichthum des Ausdruks zu zeigen.«; ebd., Bd. 1, S. 437: »[A]lso muß der Dichter auch ein beredter Mann seyn, er muß Leichtigkeit und Reichthum des Ausdruks haben.«; ebd., Bd. 2, S. 764: »Auch würde dadurch immer begreiflicher, wie aus der kleinen Anzahl wahrer Stammwörter ein so sehr großer Reichthum des Ausdruks in den ausgebildeten Sprachen entstanden ist.« 305 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Frankfurt (Oder) 1750–1758; zur ubertas insb. § 115–118.
Vers 7
(II)
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Nur Deinen Reichtum 21212
Im ersten Fall (I) formuliert der Versbeginn einen Adoneus, der das traditionelle Versschema aufbricht, wobei sich die betonte ›Exklusivität‹ auch in der ›außergewöhnlichen‹ metrischen Form wiederfindet. Wird hingegen das Possessivpronomen betont (II), erhält man eine alternierende Reihe. In Verbindung mit dem Wort »nicht« potenziert sich die Möglichkeit der Akzent-Verteilung: (Ia) Nur Deinen Reichtum nicht 122121 (Ib) Nur Deinen Reichtum nicht 122122 (IIa) Nur Deinen Reichtum nicht 212121 (IIb) Nur Deinen Reichtum nicht 212122 Die unterschiedliche ›Dominanz‹ der Negation ist entscheidend für die metrische Entwicklungslogik des Verses und gibt Hinweise auf die Reflexivität der Rede auf der Formebene. Je nachdem, ob »nicht« einen Akzent erhält oder nicht, liegen verschiedene Mischformen der beiden Grundmomente vor, die die ersten drei Worte etablierten: rein daktylisch-außergwöhnliche Exklusivität (Ib), absolut regelmäßige Alternation (IIa) – oder die gespiegelten Wechselbeziehungen zwischen ihnen (Ia und IIb). Dies hat auch Auswirkungen auf das zweite Kolon. Je nachdem, ob das Wort »nicht« betont wird oder nicht, ändert sich die Relation zur Anrede »o Dichter«. (a) (b)
[…] Reichtum nicht, o Dichter 1 2 1, 2 1 2 […] Reichtum nicht, o Dichter 1 2 2, 2 1 2
Liest man »nicht« mit einem Akzent (a), liegt eine regelmäßige Fortführung des alternierenden Metrums vor, die die Unterbrechung durch das Komma und die damit verbundene Absetzung des Kolons vom ersten Teil des Verses überwindet. Im anderen Fall (b) kommt es nach der zweiten Silbe des Daktylus und der ersten des Amphibrachys zu einer ›Nicht-Betonungskluft‹.
Vers 8
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Vers 8
Hin in den gährenden Kelch geopfert! 1221221212 Der Vers beginnt mit einer Richtungsangabe, die an die indexikalische Formulierung von v. 4 erinnert: »Hin in« nimmt Bezug auf die Rede vom Sturz »hinab« in den Ätna. Erneut stellt sich damit die Frage nach der Perspektive, da mit ›hin‹ »die Richtung einer Bewegung von der redenden Person weg, in die Ferne«³⁰⁶ bezeichnet wird. Es bleibt jedoch unklar, von wem aus »Hin« ausgesagt wird, d. h. ob das poetische Ich die Position des Du teilt oder nur ›anstelle‹ von ihm spricht. Diese Diffusion der beiden Subjekte ist eine unmittelbare Reaktion auf das Ende des letzten Verses. Bei der Anrede »o Dichter« wurde der Subjekt-Bezug zweideutig gehalten. Anstelle einer Klärung der kommunikativen Situation ist »Hin« also die Fortführung dieser mehrdeutigen Rede. Hin in […] Auch die Präposition »in« greift auf v. 4 zurück, da damit ebenfalls »ein Seyn, ein[] Zustand um den Mittelpunct oder um das Innere eines andern Dinges, ingleichen ein Bestreben nach diesem Innern«³⁰⁷ angezeigt ist. Der Unterschied der beiden Formulierungen besteht darin, daß sich die Bewegung nicht mehr genau lokalisieren läßt. Konnte man in v. 4 noch die Richtung ›nach unten‹ angeben, bleibt sie hier unbestimmt. Zwischen der Position des Sprechenden und dem, wo ›hinein‹ die Rede zielt, ist streng genommen keine räumliche Angabe möglich. Hin in den gährenden Kelch […] Entsprechend kritisch muß der Ort gesehen werden, auf den ›hin‹ und ›in‹ den hinein sich der Vers bewegt. Die Rede vom »gährenden Kelch« eröffnet ein komplexes Bedeutungsgefüge, da sie auf zwei Textstellen gleichzeitig Bezug nimmt. Aufgrund ihrer Position am Ende der Strophe scheint sie nur eine weitere alternative und metaphorische Bezeichnung des Ätna zu sein. Dieser war in der ersten Strophe der Ort, ›in‹ dem (das Sprechen über) Empedokles sein Ende fand. Zugleich – und diese Relation ist aufgrund ihrer quasi innersprachlichen Refe-
306 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1180. 307 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1366.
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Interpretation
renz zu untersuchen – steht der ›gährende Kelch‹ diametral zur metaphorischvergleichenden Rede vom ›Schmelzen im Wein‹. Für die erste Deutung gibt es mehrere Parallelstellen in Hölderlins Dramenentwürfen, an denen der Ätna als »Schreckensbecher«³⁰⁸ bzw. »Feuerkelch«³⁰⁹ bezeichnet wird. Dies wird aus der etymologischen Wurzel des griechischen Wortes krater verständlich, das sowohl den Vulkantrichter als auch das Gefäß zum Mischen von Wein benennt.³¹⁰ Letztere Bedeutung stiftet auch den Bezug zum Kleopatra-Motiv am Anfang der Strophe: dem ›Kelch‹ als Gefäß des Weines und ›gären‹ als der Prozeß seiner Herstellung. Dem Wein kommt daher auch am Ende der Strophe für den Motivkomplex um Dionysos eine wichtige Rolle zu,³¹¹ da dieser versammelt die Aspekte ›Maßlosigkeit‹, ›rauschhaftes Einheitsstreben‹ und ›Erlösungsfunktion des Opfertodes‹. Die Formulierung »gährenden Kelch« ist jedoch keine alternative Bezeichnung für das Weingefäß am Strophenbeginn. Vielmehr stehen beide Äußerungen in einer semantischen Spannung zueinander. Die Rede vom »gährenden Kelch« liegt zwar im Bedeutungsfeld von ›Wein‹, betont dabei jedoch verschiedene Aspekte. Die Irritation ist – in Analogie zur Rede vom ›Schmelzen im Weine‹ – darin zu sehen, daß sich diese einer bruchlosen Zusammenfügung widersetzen. Im Kelch befindet sich gewöhnlich nicht der ›gärende‹, sondern der im Faß vergorene Wein. Hinzu kommt, daß nicht vom Wein im Kelch die Rede ist, sondern davon, daß sich der Kelch selbst im Gärungsprozeß befindet. Liest man »gährenden Kelch« metaphorisch als Umschreibung des Ätna, wird zudem der metonymischer Charakter der Formulierung erkennbar: Der ›Kelch‹ als Gefäß des Weines steht für den Wein allgemein. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird eine weitere widersprüchliche Struktur sichtbar: Der Kelch, der als krater dem Mischen (von Wein und Wasser)
308 Vgl. Hölderlin FHA XIII, S. 755: »[Empedokles:] Schauderndes / Verlangen! Was! am Tod entzündet mir / Das Leben sich zuletzt und reichest du / Den Schreckensbecher, mir, den gährenden / Natur! damit dein Sänger noch aus ihm / Die lezte der Begeisterungen trinke!« 309 Hölderlin, FHA XIII, S. 931: »[Empedokles:] Hier oben, hier, und reich genug und froh / Und herrlich wohn’ ich, wo den Feuerkelch / Mit Geist gefüllt bis an den Rand, bekränzt / Mit Blumen, die er selber sich erzog / Gastfreundlich mir der Vater Aetna beut.« 310 Vgl. Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 1, S. 1502. 311 Vgl. die mythologische Verknüpfung des Kelchsymbols mit Dionysos: »Nicht minder bedeutend war der Naturkelch (krater) des Dionysos, der einem anderen Krater des Demiurgen untergeordnet war. […] Der erste heißt der Dionysoskelch, durch den Trunk aus ihm vergißt die Seele ihre höhere Natur, und tritt den Weg zu den irdischen Wohnungen an« (Friedrich Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, Leipzig, Darmstadt 1836, S. 662).
Vers 8
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dient (also dem Vorgang, bei dem »zwey oder mehrere Dinge unter einander«³¹² gebracht werden), soll eine gärende Funktion besitzen. ›Gären‹ bezeichnet jedoch eine »Zersetzung« von Bestandteilen, die zuvor verbunden waren. Eine in sich konsistente Metapher bestünde nur dann, würde dem ›Kelch‹ als krater das Partizip ›schmelzend‹ beigestellt, das am Anfang der Strophe dem Wein zukam.³¹³ Die Komplexität der Redeeinheit drückt sich folglich darin aus, daß sie das eigentliche wie uneigentlich-metaphorische Sprechen über den Ort, an dem Empedokles seinen Tod findet, miteinander vermittelt. Auf der einen Seite steht der Kelch, der als Krater auf den Ätna verweist, auf der anderen Seite das Gären, das das bildliche Sprechen vom Wein am Anfang der Strophe wieder aufnimmt. Der metaphorische Charakter der Rede wird dabei durch einen metonymischen erweitert: Nicht der Kelch gärt, sondern der Wein in ihm. Doch wie zuvor die Metapher in v. 5 ein widerstreitendes, irritierendes Moment enthielt, liegt auch hier keine ›störungsfreie‹ Metonymie vor: Wein gärt im Faß, und der Kelch ist das Gefäß, in dem sich gewöhnlich der schon vergorene Wein befindet. Neben dieser Selbstreferenzialität des Textes besitzt die Formulierung »gährenden Kelch« eine Bedeutungsdimension, die sich von der Entwicklungslogik des Gesagten her erschließen läßt. Die Diffusion der Subjektgrenzen, die die gesamte Ode bisher prägte, schließlich am Ende von v. 7 mit dem Wort »Dichter« explizit zur Sprache kam und zudem den Beginn des folgenden Verses bestimmte, wird hier weiter reflektiert. Dabei ist die gegensätzliche Bewegung von Trennen und Verbinden sprechend. Genau an der Stelle des Textes, an dem das im Bild variierte Ätna-Motiv wieder aufgegriffen wird, ›löst‹ sich das poetische Ich wieder vom angeredeten Du. Das ›Gären‹ der Sprache ›zersetzt‹ die Subjektüberblendung und betont die Differenz von Ich und Du. Gleichzeitig ist die zweite Strophe das ›Gefäß‹, in dem die beiden Subjekte enggeführt werden, in dem sie sich ›vermengen‹. Hin in den gährenden Kelch geopfert! Mit dem letzten Wort des Verses wird schließlich ein zentraler, wenn nicht gar der zentrale Aspekt der Empedokles-Thematik genannt: das Opfer. Im Grund zum Empedokles ist die Rede davon, daß das »Schiksaal seiner Zeit«³¹⁴ das Selbst-
312 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 216. 313 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 217: »Den Wein mit Wasser mischen. Ein gemischtes Metall, wo mehrere Metalle unter einander geschmelzet worden.« 314 Hölderlin, FHA XIII, S. 873.
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Interpretation
opfer von Empedokles forderte. Diese Bewertung des Opfers in Hölderlins theoretischen Überlegungen als einer ›scheinbaren‹ Vereinigung der Gegensätze von Subjekt und Objekt, Natur und Kunst, Organischem und Aorgischem ist aber zu unterscheiden von dem in der Ode etablierten Zusammenhang. Entsprechend ist Vorsicht geboten, das Ende der zweiten Strophe auf allgemeine Deutungsansätze hin zu reduzieren. Ein entscheidender Unterschied zum Opfermotiv in den Dramenentwürfen Hölderlins besteht darin, daß in v. 8 nicht vom Selbstopfer Empedokles’ die Rede ist, sondern lediglich vom Opfer des ›Reichtums‹. Diese Differenz zu übergehen würde bedeuten, die Spezifik dieser Textstelle abzublenden und sie herkömmlichen Erklärungsmustern unterzuordnen. Daß am Ende der zweiten Strophe lediglich das Opfer des ›Reichtums‹ genannt wird, gleicht einer nachträglichen Bewertung des Ätnasturzes. Der Tod des Empedokles scheint nur unter dem Aspekt seines Vermögens relevant bzw. reduziert sich auf diesen. Was mit ihm und durch ihn verloren ging, ist nach v. 8 ausschließlich das, was (zu) ihm gehört. Unabhängig davon, ob man den ›Reichtum‹ nun als materiellen Besitz oder ästhetisches Vermögen interpretiert, wiederholt sich hier die Trennung, die das Du in der ersten Strophe selbst vollzog. Daß sich das Du in den Ätna werfen konnte, setzte voraus, daß es sich sich selbst gegenübergesetzt und sich als Subjekt und Objekt der Handlung verstanden hat. In der Rede von v. 8, die den Tod des Du im Bild reflektiert, findet sich eine vergleichbare Spaltung des Subjekts: eine Trennung in Wer und Was. Adelungs Definition des Opfers als »jedes sichtbare[] Ding, welches der Gottheit zur Abbildung seiner eigenen Übergabe an dieselbe, dargebracht wird«³¹⁵, hebt diesen Aspekt noch hervor. Ist der Reichtum lediglich eine Repräsentanz des Du respektive von Empedokles oder bezeichnet er das für das Ich Wesentliche dieses Opfers? Hegel bestimmt diesen Aspekt losgelöst vom religiösen Kontext, in dem das Opfer als »Bitten, Danken, Sühnen oder [als] die Bekräftigung eines Vertrages«³¹⁶ gegenüber den Göttern bzw. einem Gott verstanden wird. In der Phänomenologie des Geistes nennt Hegel die ›Aufopferung‹ des ›Knechts‹ die einzige Möglichkeit, das ›unglückliche Bewußtsein‹ zu überwinden und eine Einheit des Selbstbewußtseins zu erreichen. Für Hegel ist dieses Opfer nur möglich, wenn das Ich den schwächeren Teil seines Selbst zu »einem Dinge, zu einem gegenständlichen Sein«³¹⁷ macht. Eine für die Empedokles-Ode wichtige
315 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 605. 316 Ritter, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, S. 1224. 317 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 175 f.: »Durch diese Momente des Aufgebens des eigenen Entschlusses, dann des Eigentumes und Genusses und endlich [durch] das positive Mo-
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Kritik an dieser Opferlogik findet sich in Georges Batailles Religionstheorie, die eine Gegenkonzeption des Opferbegriffs anbietet. Bataille sieht in Hegels Opfer auf dem ›Altar der Dialektik‹ das Verschwinden des Heiligen dokumentiert. Er stimmt zwar Hegel darin zu, daß die Verdinglichung zum Wesen des Menschen gehört und gerade darin ein Grund seiner Abgrenzung vom rein Animalischen besteht. Für Bataille werden damit aber menschliche Grunderfahrungen wie die des Todes zurückgedrängt, was dazu führt, daß der Mensch letztlich selbst »zu einem Ding unter Dingen wird; eine Sache, die jedes Geheimnisses beraubt ist und fremden Zwecken untergeordnet«³¹⁸. Die Befreiung des Bewußtseins, deren Bedingung für Hegel die Verdinglichung des Selbst ist, ist für Bataille lediglich vernunftbestimmt und profan. Für Bataille ist das Opfer die Verschwendung des Dinglichen, die eine Erfahrung wider zweckrationales Handeln schafft. Die Attribute, die er dieser Erfahrung des Opfers zuspricht, erinnern an die der Ode, wenn er beinahe wörtlich von einem ›schaudernden Verlangen‹ spricht.³¹⁹ Zwar wird auch für Bataille das »Ding – und nur das Ding« geopfert, um das ursprüngliche Verhältnis von »Mensch und Welt, von Subjekt und Objekt«³²⁰ wiederherzustellen oder zumindest daran zu erinnern. Gleichzeitig aber ist das Opfer die Relativierung menschlicher Rationalität im Gegensatz zu deren Affirmation und Erhöhung bei Hegel. Ich führe die Positionen von Hegel und Bataille gegeneinander, weil die Rede des poetischen Ich Aspekte beider Seiten artikuliert und so dessen Bewertung des Opfers fraglich wird. Einerseits scheint das Ich die Verdinglichung des Sub-
ment des Treibens eines unverstandenen Geschäftes nimmt es sich in Wahrheit und vollständig das Bewußtsein der inneren und äußeren Freiheit, der Wirklichkeit als seines Fürsichseins; es hat die Gewißheit, in Wahrheit seines Ichs sich entäußert und sein unmittelbares Selbstbewußtsein zu einem Dinge, zu einem gegenständlichen Sein gemacht zu haben. – Die Verzichtleistung auf sich konnte es allein durch diese wirkliche Aufopferung bewähren; […]. Aber in der wirklich vollbrachten Aufopferung hat an sich, wie das Bewußtsein das Tun als das seinige aufgehoben [hat], auch sein Unglück von ihm abgelassen. Daß dies Ablassen an sich geschehen ist, ist jedoch ein Tun des andern Extrems des Schlusses, welches das ansichseiende Wesen ist. Jene Aufopferung des unwesentlichen Extrems war aber zugleich nicht ein einseitiges Tun, sondern enthielt das Tun des Anderen in sich.« 318 Robert Ochs, Verschwendung. Die Theologie im Gespräch mit Georges Bataille, Frankfurt a. M., Berlin, Bern 1995, S. 133. 319 Vgl. Georges Bataille, Theorie der Religion, hg. und Nachw. von Gerd Bergfleth, Berlin 1997, S. 33: »Dieser Schauder [in der Empfindung des Heiligen] ist zweideutig. Ohne jeden Zweifel zieht das, was heilig ist, an und besitzt einen unvergleichlichen Wert, doch im selben Moment erscheint es plötzlich als eine schwindelerregende Gefahr für die klare und profane Welt, das von der Menschheit bevorzugte Gebiet.« 320 Bataille, Theorie der Religion, S. 39.
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Interpretation
jekts im Sinne Hegels zu affirmieren, wenn der verlorene Reichtum beklagt wird und nicht der Angesprochene selbst. Andererseits klagt das Ich über den Verlust dieses Gegenständlichen und die Verschwendung des poetischen Vermögens. In gleicher Weise unterscheidet sich die Position des poetischen Ich auch von der Batailles’. Am Anfang der dritten Strophe wird das Heilige, das für Bataille nur durch das Opfer erfahrbar wird, unabhängig von diesem behauptet, wenn nicht sogar im Widerspruch dazu stehend. Die Verschränkung der Motive läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Für das Ich ist zwar das Opfer, das sich auf den Reichtum des Dichters beschränkt, Gegenstand der Kritik, nicht jedoch die Verdinglichung des Subjekts. Sich als Objekt seiner selbst zu konstituieren, darf lediglich keine Degradierung, Überwindung oder gar ›Aufopferung‹ eben dieses Subjekts nach sich ziehen. In der Interpretation zu v. 7 habe ich bereits den Versuch unternommen, das ›poetische Vermögen‹ gegenüber anderem Besitz zu konturieren. An dieser Stelle läßt sich diese Abgrenzung möglicherweise um den Aspekt des ›frei gewählten Objekts‹ erweitern. Das ›Du‹ (als der Reichtum des Dichters) darf im poetischen Selbstgespräch nicht zugunsten der Selbstvermittlung im Vollzug der Rede geopfert werden. Das Du ist nicht etwa ein ›vernachlässigbarer Gegenstand‹, um eine ›poëtischen Individualität‹ zu erreichen; letztere ist nur in Bezug auf das besondere Gegenüber möglich. Es gilt daher zu klären, worin das Opfer des poetischen Ich besteht, für das es sich selbst ermahnt, versteht man die zweite Strophe als eine Selbstanrede. Genauer: Wann ist ›Empedokles‹ bzw. der mit ihm verbundene Reichtum innerhalb der Ode geopfert worden? Auf diese Frage sind gleich mehrere Antworten möglich. Erstens ist denkbar, daß das Ich die thematische Exposition in der ersten Strophe im Nachhinein als leichtfertige Preisgabe von Empedokles betrachtet, so daß dessen Suche nach dem Leben, seine subjektive Verfassung und seine Todesumstände einseitig und unreflektiert dargestellt wurden. Ebenso möglich ist zweitens, das Opfer innerhalb der zweiten Strophe zu verorten: Der Versuch, den Tod im Ätna von den konkreten Umständen abzuheben und in Form eines bildhaften Vergleichs weiterzuführen, verliert Empedokles aus dem Blick und opfert ihn zugunsten der Selbstreflexion. ›Empedokles‹ ist somit nur noch thematischer Hintergrund, vor dem sich die Selbstvermittlung des poetischen Ich ereignet. Drittens – auf den ›Reichtum‹ bezogen, der mit Empedokles verbunden ist – kann das Opfer als die Verschwendung des bereits genannten poetischen Vermögens verstanden werden, also als Opfer des Bilderreichtums, des Reichtums der Einbildungskraft, des Stoffes oder des Ausdrucks. Die gesamte zweite Strophe ist dann für das Ich eine Verschwendung, weil es darin dem poetischen Anspruch nicht gerecht wird und leichtfertig mit den ihm zur Verfügung stehenden ›Mitteln‹ umgeht. Dabei gilt es einen weiteren Aspekt zu beachten, der
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die Eigenständigkeit der Ode gegenüber den späteren Dramenentwürfen unterstreicht. Wie die Ermahnung des poetischen Ich nicht das Selbstopfer des Subjekts thematisiert, wird auch das ›poetische Opfer‹ nicht allgemein kritisiert: nur das Opfer in den ›gährenden Kelch‹ hätte vermieden werden sollen. Der Vers endet jedoch nicht damit, mit dem ›Opfer‹ den zentralen Begriff der Empedokles-Thematik nur zu nennen. Vielmehr markiert »geopfert« den Schlußpunkt einer sprachlichen Entwicklung, die nur von ihrem Anfang her verständlich wird. Entscheidend ist das Wort »Hin« am Beginn des Verses: Was bedeutet es, daß der Reichtum ›hin-geopfert‹ wurde? Die beiden Teile des Prädikats am Anfang und Ende des Verses markieren die Grenzpunkte einer Bedeutungsverschiebung bzw. -veränderung im Verlauf der Rede. Denn vom Ende des Verses aus gesehen ist für das Präfix ›hin‹ eine andere Prädikatsergänzung zu erwarten, die zwar in der Nähe des Opfer-Begriffs steht, jedoch einen anderen semantischen Schwerpunkt setzt: hin-gegeben. Die Spannung besteht a) zwischen ›Hingabe‹ und ›Opfer‹ und zugleich b) zwischen ›Gabe‹ und ›Opfer‹. Im Fall a) drückt die Verschiebung von ›hingeben‹ zu ›geopfert‹ eine Distanzierung von der Vorstellung aus, sich etwas restlos zu überlassen bzw. sich rückhaltlos um eines Ideals, einer Sache oder um eines Gottes willen aufzugeben. Dies wäre in religiösen Kontexten mit Askese und Frömmigkeit verbunden und dabei auf Formen der unio mystica bzw. auf transzendente Erlösungs- oder Versöhnungsvorstellungen hin orientiert. Der entscheidende Unterschied zum ›Opfer‹ besteht darin, daß die Selbstaufgabe nicht mit dem Moment des Freitods verbunden sein muß. Der religiösen ›Hingabe‹ geht jedoch eine weit allgemeinere Vorstellung voraus. Für Adelung bezeichnet ›hingeben‹ zunächst nur »Geben, im Geben von der redenden Person oder von sich entfernen; [...]. Ingleichen in weiterer Bedeutung, von sich geben, andern überlassen«³²¹. Diese Verwendung des Wortes betont die Abkehr des poetischen Ich vom Du, die Trennung der über das Wort »Dichter« behaupteten Einheit der beiden Subjekte. Dagegen ist im ›Opfer‹ nicht nur das Überlassen des poetischen Reichtums ausgesprochen, sondern dessen vollständige Vernichtung. In gleicher Weise muß auch die Differenz von Opfer und Gabe analysiert werden. Die Gabe zeichnet sich erstens dadurch aus, daß sie »den ökonomischen Zirkel des Tauschs«³²² durchbricht und jede Form intentionalen Handelns unterminiert, d. h. eines Handelns, das eine Reaktion, ein Ergebnis, einen Gegenwert
321 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1186. 322 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 27.
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Interpretation
oder Dank fordert.³²³ Zweitens setzt ›geben‹ gegenüber dem Opfer (als kommunikativer Akt) die Präsenz eines Gebenden und Nehmenden voraus, ohne daß einer der beiden die Gabe erwarten oder begreifen darf.³²⁴ Drittens unterläuft das Wort ›Reichtum‹ das Ereignis der Gabe, das Unerwartbare, Ungeplante und Intentionslose: ›Besitz‹ oder ›Vermögen‹ (ideell wie materiell) widerspricht dem Charakter der Gabe als einem prinzipiell Uneinholbaren und Unmöglichen.³²⁵ Die Gabe ist keine Gabe, wenn sie »nur eine Möglichkeit, eine Potenzialität [verwirklicht], die schon vorgegeben ist«³²⁶. Viertens – und dieser Aspekt scheint mir entscheidend, weil er die eben genannten verbindet – kann die Gabe nicht genannt werden. Die Bezeichnung der Gabe als Gabe (und durch das Wort »Gabe«) würde sie in den Horizont der Erwartung oder des Nachvollzugs stellen. Zu sagen, das Du habe den Reichtum hin-gegeben, wäre ein unmöglicher Satz; ich »kann [ihn] zwar sagen, aber indem ich [ihn] ausspreche, übe ich Verrat an dem, was ich sagen wollte. […] Ich dürfte nie in der Lage sein zu sagen ›Ich gebe‹«³²⁷. Die Verschiebung von Gabe zu Opfer kann somit mehrfach interpretiert werden. Erstens wird lesbar, daß das Opfer des poetischen Reichtums nicht intentionslos erfolgte, sondern mit der Erwartung auf – im thematischen Kontext ›Empedokles‹ verstanden – Erlösung, Sühne, Restitution oder Befreiung. Zweitens ist das Opfer des Reichtums im Gegensatz zur Gabe retrospektiv nennbar.
323 Vgl. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 27: »Wenn ich dem anderen aus Dankbarkeit etwas schenke, im Tausch gegen einen geleisteten Dienst, dann hat keine Gabe statt. Wenn ich umgekehrt vom anderen ein Zeichen des Danks erwarte, wenn ich erwarte, dass er sich auf die eine oder andere Weise, symbolisch, materiell oder physisch, für meine Gabe erkenntlich zeigt, dass er mir im Tausch dafür etwas zurückgibt, dann hat ebenfalls keine Gabe statt. […] Die Gabe muß über den Dank hinausreichen.« 324 Vgl. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 27 f. 325 Vgl. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 31: »Wenn ich gebe, was ich geben kann, wenn ich gebe, was ich habe und deshalb geben kann, dann gebe ich nicht. Ein Reicher, der gibt, was er hat, gibt nicht.« 326 Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 31. 327 Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 31. Joseph Suglia geht meines Erachtens zu weit, wenn er diesen Gedanken auch auf die Darstellung des Opfers in Hölderlins Dramententwürfen überträgt. Suglia spricht davon, daß infolge der Undarstellbarkeit desselben, das Opfer selbst von Hölderlin geopfert werden mußte: »[N]o one can stage a scene for sacrifice, and this means that sacrifice – paradoxically – must be sacrificed« (Suglia, Hölderlin and Blanchot on self-sacrifice, S. 1).
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Zur Metrik von v. 8 Hin in den gährenden Kelch geopfert! 1221221212 Die semantische Verschiebung und Irritation, die das letzte Wort des Verses mit sich bringt, hat auch Einfluß auf die Metrik und gliedert die Reihe in zwei Einheiten: Hin in den gährenden Kelch | geopfert! 1221221p212 Der erster Teil des Verses beschreibt eine Spiegelung und bricht durch die überzählige Silbe die regelmäßige Abfolge der beiden Daktylen auf.³²⁸ Durch diese Gliederung wird deutlich, daß »geopfert« metrisch das Versende von v. 7 wiederholt: »o Dichter«. Neben dieser strukturellen Betrachtung des Verses ist jedoch auch eine prozessuale möglich. Legt man dem Vers die klassische Ordnung zugrunde, gliedert sich der Vers in zwei Daktylen und zwei Trochäen: Hin in den gährenden | Kelch geopfert! 122122p1212 An dieser Trennung des Verses wird das Opfer bzw. der mit ihm verbundene Ort problematisiert. Bis zum Wort »gährenden« liegt eine völlig ›störungsfreie‹, eigentliche Rede vor. Mit dem Übergang in das trochäische Maß verändert sich der Charakter der Aussage und kehrt zum Anfang der Strophe und das uneigentlich-metaphorische Sprechen zurück. Wie die Interpretation zeigen konnte, ist darin die Verfehlung begründet, die Anlaß zur (Selbst-)Kritik gibt. Erst nach dem ›Rückfall‹ in die bildliche Rede wird von einem ›Opfer‹ des ›sprachlichen Reichtums‹ gesprochen. Und erst vom Ende her, durch den Zusammenschluß von »gährendem« und »Kelch« als einer (möglicherweise ›übermütigen‹) Grenzverletzung, wird die Mahnung des poetischen Ich für die gesamte zweite Strophe nachvollziehbar.
328 Diese metrische Gliederung findet sich auch im letzten Vers der Ode, in dem die erste Vershälfte »Hielte die Liebe mich nicht« sogar durch das Komma vom Versende abgesetzt wird.
Der Ausgleich der Gegensätze
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Der Ausgleich der Gegensätze Das Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Rede, das am Ende der ersten Strophe mit der Formulierung »in des Ätna Flammen« virulent wurde, hat sich in der zweiten Strophe weiter differenziert. Unmittelbar von Beginn an wurde die Frage verhandelt, ob über die vergleichende und metaphorische Rede die zuvor problematisierte Relation von sprechendem und angesprochenem Subjekt reflektiert werden kann. So sind v. 5 und v. 6 von einem permanenten Schwanken dieser beiden Sprechweisen geprägt, die über die im Bild angelegten Motive des ›Übermuts‹, der ›Souveränität‹ oder des ›Vermögens‹ auch über das poetische Ich Auskunft geben. Der Andere als der oder das Fremde sowie das uneigentliche Bild sind die einzige Möglichkeit, das Eigene zu artikulieren, das Eigene allein ist hingegen die unhaltbare Position, die sich ins Uneigentliche verkehrt. Dieses Schwanken kommt für einen kurzen Moment in der Nennung des ›Dichters‹ zur Ruhe, da damit scheinbar das bislang nicht nennbare tertium der beiden Subjektpositionen genannt wird. Einerseits können sowohl Empedokles wie das poetische Ich als ›Dichter‹ verstanden werden, andererseits zeigt sich an dieser Stelle möglicherweise auch die Gesamtanlage der Ode, da die beiden Subjekte auf der Textebene auf das Subjekt ›Hölderlin‹ als organisierendes Zentrum jeder Äußerung hinweisen. Der Dialog zwischen poetischem Ich und angesprochenem Du ist so auch Ausdruck der Beziehung des Autors zu seinem Text.³²⁹ Damit liegt ein zweifacher Reflexionsprozeß im Schreiben vor. Das DichterSubjekt reagiert auf eine in der dialogischen Situation des Textes entstandene innertextuell-intersubjektive Relation, die gleichzeitig seine eigene Beziehung zu dieser Konstellation beschreibt. Diese letztgenannte ›subjektive‹ Reflexion auf das Geäußerte, d.h. auf seine eigene (subjektive), jedoch als Geschriebenes fremde (objektive), entäußerte Rede, ist von einer ›objektiven‹ Reflexion zu unterscheiden, die die intersubjektiven Bezüge des poetischen Ich und Empedokles auf der Textebene benennt. Keine der Reflexionen ist der jeweils anderen vorzuziehen oder als dominant zu verstehen. Im Sinne Hölderlins beschreibt sie eine ›unterschiedene Innigkeit‹ von Subjekt und Objekt, d.h. die Einheit der beiden Reflexionen in ihrer gleichzeitigen Differenz. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist (als ›poëtische Individualität‹) »unzertrennlich verbunden und
329 Wollte man sich diese doppelte Relation räumlich denken, kreuzt sich im Wort »Dichter« sowohl die horizontale wie vertikale Dimension dieses vierfachen Subjekt-Gefüges: Horizontal (d. h. auf der Textebene) werden das poetische Ich und Empedokles miteinander vermittelt, vertikal benennt dieses Wort den Kreuzungspunkt von Autor und Text.
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Eines«³³⁰. Sie lassen sich jedoch differenzieren, da sie sich im Schreibprozeß alternierend abwechseln: Der subjektiven Setzung eines Wortes (in Reaktion und Reflexion auf bereits Geschriebenes) folgt die objektive Reflexion, d.h. die innere Bezüglichkeit der Textmomente untereinander, die stets eine höhere Komplexität artikuliert als die vom Dichtersubjekt intendierte und kontrollierte. Diese wiederum fordert zu einem neuen sprachlichen Verhalten des Subjekts auf, dieser Komplexität im folgenden gerecht zu werden. Die konfigurative Struktur von sich aufeinander beziehenden Momenten des Textes ist also zum Teil Ergebnis der Reflexion des Subjekts, zum Teil Ergebnis von Bezügen, die das Subjekt nicht vollständig kalkulieren konnte. Schreiben ist daher kein rein ›souveräner‹ Akt, da jede sprachliche Setzung mehr konstellative Bezüge schafft, als intendiert oder prospektiv planbar sind. In dieser erfahrenen Entfremdung von der und durch die Sprache und der partiellen Insouveränität des Dichters gründet für Hölderlin der Anlaß des Schreibens überhaupt bzw. der Fortsetzung des Schreibprozesses. Die Kritik an der ›Opferung des poetischen Vermögens‹, von der in Strophe 2 die Rede ist, zeigt exakt diese zweifache Reflexion des Schreibens in seiner Selbstbezüglichkeit. Nicht nur werden hier Subjekt und Objekt, Autor und Text miteinander vermittelt, der Text ist zugleich auch Ausdruck des problematischen Verhältnisses dieser Relationen. Die Ode bezieht hier die Selbstbezüglichkeit in Form der Selbstkritik nicht nur mit ein, sondern drückt sie an sich aus. Diese Selbstkritik als Ausdruck der Selbstreflexivität ist neben dem ›Opfer‹Motiv an zwei weiteren Motiven ablesbar: ›Vermögen‹ und ›Souveränität‹. Beide werden im Verlauf der Rede in der Frage nach subjektiver Dominanz vielfältig relativiert und unterminiert – sei es über die Form der Rede, die keine eindeutigen syntaktischen wie semantischen Bezüge zuläßt, sei es als direkt geäußerte Kritik am Umgang mit dem Reichtum (im Sinne der zur Verfügung stehenden Mittel). Die Erschütterung der Dominanz von ›Vermögen‹ und ›Souveränität‹ ermöglicht aber erst das dialogische Verhältnis des reflexiven Schreibens, das für Hölderlin charakteristisch ist. Diese Beobachtungen führen auf einen bislang nur am Rande thematisierten Aspekt zurück. Am Anfang der zweiten Strophe zeigte sich mit der Verteilung der Kola der jeweils ersten beiden Verse eine Struktur, die Strophe 1 und 2 spiegelt. Die Interpretation der Verse 5–8 hatte zu klären, wodurch sich diese Spiegelung motiviert und worin sie innerhalb der Rede ihren Niederschlag findet. Nun kann diese Spiegelung von seiten der zweifachen Subjekt-Reflexion und in ihren Auswirkungen auf die Versrede genauer bestimmt werden. In der
330 Hölderlin, FHA XIV, S. 311.
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Analyse der Verse 1–4 wurde deutlich, daß die erste Strophe einen tendenziell expositorischen Charakter besitzt, da sie den Stoff der Rede, den thematischen Rahmen ›Empedokles‹ entwickelt. Der ›Mangel der Darstellung‹³³¹ besteht hier darin, daß zwar der äußere Anlaß sowie der Verlauf des Empedokleischen Handelns sowohl genannt als auch formal zum Ausdruck gebracht wurde, der Grund für den Freitod jedoch unbestimmt und unkommentiert blieb. Demgegenüber scheint die zweite Strophe dieses Verhältnis umzudrehen. Bereits im ersten Vers wird mit dem »Übermuth« der auch in den späteren theoretischen Schriften angeführte ›Grund‹ genannt, der die gesamte Handlung des Empedokles bis hin zum Sturz in den Ätna bestimmt. Dieser Nennung des Grundes kommt jedoch ebenfalls ein Mangel der Darstellung zu, da sie den Bezug zu Empedokles vernachlässigt und sich ausschließlich im Bildlichen erschöpft. Somit kann folgendes Spiegelverhältnis festgehalten werden: In der ersten Strophe steht das stoffliche Moment im Vordergrund, die sprachliche Umsetzung des Grundes bleibt jedoch dahinter zurück. In der zweiten Strophe wird eben diese sprachliche Seite bis hin zu poetologischen Aspekten exponiert und reflektiert und sogar deren ›Grund‹ ausgesprochen, die Figur Empedokles jedoch gerät aus dem Blick. Übertragen auf die Momente des Reflexionsgefüges überwiegt somit in der ersten Strophe die objektive Seite der Darstellung, in der zweiten die subjektive. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich der Stand des Bewußtseins hinsichtlich der ›poëtischen Individualität‹ nicht weiter entwickelt, sondern lediglich invertiert hat. Die Rede und das darin ausgedrückte Bewußtsein des Subjekts zeichnen sich bislang nur durch ein wechselndes Ungleichgewicht zwischen Objekt und Subjekt und einem zwischen stofflicher und sprachlicher Darstellung aus. Entscheidend ist, in diesem Befund nicht einen Mangel der Gedichtanlage selbst zu sehen, sondern die Spiegelung des Ungleichgewichts in Strophe 1 und 2 als die Darstellung eines Bewußtseinsprozesses zu begreifen, der um die Frage der Darstellung erweitert wurde. Am Ende der zweiten Strophe mag der Eindruck entstehen, daß sie nach den ersten vier Versen keinen Fortschritt des poetischen Sprechens darstellt. Daß die zentrale Relation von Subjekt und Objekt nicht nur behauptet wird, sondern die Ode in toto bestimmt und ein, wenn nicht sogar das
331 Die Rede vom ›Mangel der Darstellung‹ stellt keine abwertende Bestimmung dar. Sie benennt den Erwartungshorizont, der sich durch die Textlogik eröffnet. In der Wechselwirkung von Prozeß und Struktur entwickelt sich eine Spannung von bereits Gesagtem und noch Zu-Sagendem, die Anlaß ist zur Fortsetzung des Sprechens: Einerseits ist die Rede dem in ihr selbst gesetzten Anspruch der Darstellung (noch) nicht gerecht geworden, andererseits liegt in der Reflexion auf das zuvor Geäußerte der Grund weiterzusprechen. Das ›Potential‹ des Gesagten ist nicht ausgeschöpft und fordert dazu auf, das noch Ausstehende zu realisieren.
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wesentliche poetologische Prinzip des Hölderlinschen Schreibens darstellt, wird aber erst mit den Versen 5–8 deutlich. Für die dritte Strophe ergibt sich somit folgender Erwartungshorizont: Das Ungleichgewicht von Subjekt und Objekt, das sich in den ersten acht Versen auf verschiedenen Ebenen des Textes zeigt, muß nun als komplexe Wechselwirkung begriffen und dargestellt werden – nur dann ist das Ziel einer ›poëtischen Individualität‹ als einer ›unterschiedenen Innigkeit‹ erreicht. Dies betrifft a) das innersubjektive Verhältnis von Empedokles, b) das Verhältnis des poetischen Ich zum angesprochenen Du und zugleich das Selbstverhältnis des poetischen Ich zu sich, c) die Relation von Autor zu seinem Text sowie schließlich d) die daraus erwachsende ästhetische Erfahrung, die der Rezipient mit der Ode macht, sofern er dem Gang der Rede folgt. Auf allen vier Ebenen des Textes ist der sprachliche Ausdruck, der diesen Ausgleich der Relationen garantieren soll, immer zugleich auch Ausdruck des erreichten Bewußtseinszustandes.
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Strophe 3
Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden.
Wie in der Analyse der vorangegangenen Strophen spielt auch in Strophe 3 die Anzahl und Relation der einzelnen Kola in Bezug auf die Verseinheit eine besondere Rolle. Zeigten die Strophen 1 und 2 eine ungleiche Verteilung der Kola – dem Verhältnis von 3:1 der ersten beiden Verse in der ersten Strophe steht das umgekehrte Verhältnis 1:3 in der zweiten gegenüber –, ist die dritte Strophe mit jeweils zwei Kola in v. 9 und v. 10 ausgeglichen. Bereits mit dieser Struktur erfüllt die formale Strophengliederung den Erwartungshorizont, der sich nach der zweiten Strophe eröffnete: die Herstellung einer ausgeglichenen Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, poetischem Ich und angesprochenem Du, Autor und Text. Die weitere Interpretation muß folglich darauf achten, ob auch die sprachliche Darstellung diesen formal gesetzten Anspruch erfüllt.
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Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, 21212122121 Zunächst scheint der Vers der Erwartung auf einen Ausgleich der in den Strophen 1 und 2 etablierten Gegensätze zu widersprechen: Doch […] Die Rede setzt durch die adversative Konjunktion »doch« mit einem Widerspruch ein, einer Entgegnung, die eine Differenz betont und nicht die Vermittlung von Entgegengesetztem. Für das Wort ›doch‹ ist zu klären, worauf es sich bezieht, wogegen es opponiert: Wendet es sich lediglich thematisch-inhaltlich auf die in v. 7 und v. 8 referierte Opferung des poetischen Reichtums des Empedokles respektive des angesprochenen Du? Oder richtet sich der Versbeginn auf die sprachliche Darstellung in Strophe 2, die dort bereits innerhalb der Rede der Kritik unterzogen wurde? Infolge dieser doppelten Lesbarkeit ist der Widerspruch ›doch‹ als einer zweiter Ordnung zu verstehen, da er sich auf beide Ebenen des Textes zugleich beziehen läßt. Er artikuliert eine Differenz in der Vermittlung, eine Differenz in Bezug auf eine untrennbare Einheit von materiell Ausgesprochenem und der Form, die es besitzt. Doch heilig […] Lag mit dem ersten Wort der Fokus auf dem Rückbezug darauf, wogegen opponiert wird, ändert sich mit dem Wort »heilig« die Richtung der Rede. Was dem zuvor Gesagten jedoch entgegengehalten wird, kommt unvermittelt und durchbricht die bisher etablierte Sprachlichkeit der Ode. Das Wort ›heilig‹ kann zwar innerhalb des religiösen Bereichs verortet werden, der mit dem Motiv des Opfers angesprochen wurde, doch reicht es angesichts seiner Bezeichnung »höchste[r] Vollkommenheit«³³² weit darüber hinaus. Wie bei keinem anderen Wort der Ode muß für das Wort ›heilig‹ die Frage nach seiner Referenz und – im Anschluß daran – seiner Angemessenheit gestellt werden: Kann ein Wort ein ›Absolutes‹, eine ›höchste Vollkommenheit‹ bezeichnen? Und wenn, wie die Rede behauptet, dieser Anspruch vertreten wird, welchen
332 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1071.
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Status hat diese Äußerung hinsichtlich ihrer – in Strophe 2 fraglich gewordenen – sprachlichen Darstellung? Auch wenn die Empedokles-Thematik diesen Schluß suggeriert, so muß in dieser Frage eine Interpretation vermieden werden, die das Wort ›heilig‹ von vornherein als – den Begriff aus v. 5 aufgreifend – lediglich ›übermütige‹ Rede bewertet. Nimmt man von dieser Relativierung vorerst Abstand und analysiert man die Funktion, die das Wort innerhalb des poetischen Sprechens besitzt, lassen sich Beobachtungen machen, die innerreferentielle wie inferentielle Aspekte der Versrede sichtbar werden lassen. Die Formulierung »in schauderndem Verlangen« in v. 3 ist dabei ein wichtiger Bezugspunkt. Die Paradoxalität, die die Rede dort artikuliert, ließ sich als mysterium fascinosum et tremendum lesen und damit als Hinweis auf eine Erfahrung des Heiligen, die das Subjekt in seiner ›Befindlichkeit‹ bestimmt. Die Befindlichkeit wurde in der Folge nicht nur Anlaß des Handelns, sondern strukturierte auch den Modus der Handlung. Die beiden Formulierungen ›schauderndes Verlangen‹ und ›heilig‹ unterscheiden sich darin, daß sich die erste auf die subjektive Befindlichkeit des Du infolge einer Erfahrung des Heiligen bezieht, die zweite dagegen eine objektive ›Qualität‹ anzugeben versucht. Wenn nun das Wort geäußert wird, das dezidiert diesen sprachlichen Komplex und die damit verbundenen Momente aufgreift, so ist einerseits zu fragen, ob das Ich erst jetzt das direkt nennen kann, was zuvor nur indirekt und vermittelt gesagt werden konnte. Andererseits ist befremdlich, daß dies nun in einem Wort möglich sein soll.³³³ Der letzte Aspekt verbindet sich mit der vorangehenden Deutung, die den Bezug des Wortes »Doch« zu klären suchte. Wenn der Versbeginn von Strophe 3 eine sprachliche Metaebene einnimmt, da er der sprachlichen und thematischen Einheit der zweiten Strophe gegenübersteht, so wiederholt sich für das Wort »heilig« exakt dieselbe Strukturlogik. Das eine Wort, das eine absolute Unversehrtheit und Vollkommenheit bezeichnet,³³⁴ ist nicht einfach der anderen, alternativen Formulierung »in schauderndem Verlangen«
333 Dies erinnert an den Beginn der dritten Strophe von Wie wenn am Feiertage…: »Jetzt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen, / Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort« (Hölderlin, FHA VIII, S. 557). Hölderlin evoziert hier den für die Empedokles-Ode zentralen Konflikt durch den Konjunktiv: Die Rede schwankt zwischen der performativen Setzung des Wortes »Heilig« und der Behauptung der Präsenz des ›Heiligen‹ in der Rede sowie dessen gleichzeitiger konjunktivischer Zurücknahme als ein nur Zukünftiges, nur Erbetenes und Erhofftes; vgl. dazu die eingehende Analyse von Angela Esterhammer, Hölderlin and the Inter/Subjective Speech Act. In: Rereading Romanticism. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 47 (2000), hg. von Martha B. Helfer, Amsterdam, Atlanta 2000, S. 193–227. 334 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1071.
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gleichgestellt, sondern steht auf einer ihr übergeordneten Ebene. Aus heutiger Perspektive werden damit zwei diametral entgegengesetzte Sprachauffassungen einander gegenüber gestellt: Auf der einen Seite steht ein Sprachverständnis, demzufolge das Signifikat allein aus der differentiellen Beziehung von Signifikanten heraus zu begreifen ist: ›schauderndes Verlangen‹ bezeichnet das ›Heilige‹ nur indirekt über den Bezug der beiden Worte zueinander. Auf der anderen Seite steht eine Sprachauffassung, die von einer eindeutigen Relation von Signifikant und Signifikat ausgeht: Das Wort »heilig« bezeichnet das ›Heilige‹, unabhängig von seinem Kontext, in dem es steht, und unabhängig von den mit ihm in Beziehung stehenden Worten.³³⁵ Entscheidend ist an dieser Stelle, daß die poetische Rede sich auf keine der beiden Positionen festlegen läßt, sondern sie in ihrer Entgegensetzung und als Entgegensetzung zur Diskussion stellt. Unabhängig von dem behaupteten Rückbezug auf das ›schaudernde Verlangen‹ in v. 3 ist das Wort ›heilig‹ jedoch eine bis dato unbegründete Setzung, die sich im Verlauf der Rede als begründet erweisen muß, wenn sie nicht bloße Behauptung sein soll. Doch heilig bist du […] Im Unterschied zu der in Strophe 2 kritisierten Opferung des Reichtums beschreibt ›heilig‹ den Status des angesprochenen Subjekts und nicht eine erwartbare Alternative bzw. ein Korrektiv seines Handelns. Dies irritiert vor allem deswegen, weil das Du scheinbar unabhängig von seiner Tat diesen Status besitzt. Obwohl die Handlung des Du vom poetischen Ich kritisiert wurde, ist es ihm ›heilig‹. Dies betont auch die zweite Bedeutung von ›heilig‹ als ›unverletzlich‹ und ›unverderbt‹.³³⁶ Damit verbunden ist die bemerkenswerte Rückkehr der Rede ins Präsens, die für die Interpretation in gleich zweifacher Hinsicht wichtig ist. Erstens kehrt
335 Man kann diese Gegenüberstellung im Horizont von Hölderlins theoretischen Überlegungen in Seyn Urtheil Möglichkeit verstehen: So wie die Einheit des »Seyns« nur in Bezug auf die Relation von »Subject« und »Object« gedacht werden kann, ist die Einheit der Wechselbeziehung der beiden nur im Horizont von »Seyn« möglich. Was es in diesem Zusammenhang zu denken gilt, steht nicht jenseits der Trennung von Identität und Differenz im Sinne einer Hegelschen Aufhebung, sondern als Wechselbeziehung der beiden Momente zueinander. Entsprechend kann ›heilig‹ und ›schauderndes Verlangen‹ als eine poetische Repräsentation dieses theoretisch vorgebildeten Gedankens gedeutet werden. 336 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1071.
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die sprachliche Darstellung damit in den Modus der ersten Strophe zurück,³³⁷ mitsamt der poetologischen Implikationen, die sich aus Hölderlins ›Erinnerungspoetik‹ für das Verhältnis von Subjekt und Objekt ergeben.³³⁸ Zweitens kann der Versbeginn als performativer Sprechakt begriffen werden: Die Bezeichnung des Du als ›heilig‹ ist zugleich seine Heilig-Sprechung. Erst in dem Moment, in dem das Ich diese Äußerung vollzieht, wird das Du heilig, d.h. erst durch die Rede gibt es ein Signifikat, das dem Signifikant »heilig« entspricht.³³⁹ Somit kommt dem Satz eine ›absolute Präsenz‹ zu, da er nicht in die übrige Zeitlichkeit der Ode eingeordnet oder vom Kontext der Rede abgeleitet werden kann. In den beiden griechischen Bezeichnungen für ›heilig‹ spiegeln diese zwei Lesarten. So finden sich mit heros und hosios zwei Benennungen des Heiligen, die in Spannung zueinander stehen und den poetologischen Konflikt der Rede an dieser Stelle verdeutlichen: heros bezeichnet etwas den Göttern Geweihtes und heilig Gesprochenes.³⁴⁰ Das Wort hosios steht dagegen für eine Heiligkeit, die nicht von der Weihe des Menschen abhängt, sondern »durch göttliches Gesetz bestimmt« ist und »dem Naturgesetz« entspricht.³⁴¹ Mit dieser Differenzierung stellt sich erneut die Frage nach dem Status des Sprechens. Benennt das Wort ›heilig‹ eine von der Rede unabhängige Heiligkeit des Du, reagiert sie also lediglich auf eine Eigenschaft des Gegenüber in dem Sinn, daß sich das Du durch eine besondere Frömmigkeit dem göttlichen Gesetz gegenüber auszeichnet? Oder handelt es sich tatsächlich um eine Heilig-Sprechung, durch die das Du erst aufgrund seines »Opfers« bzw. seines »Opfertod[es]«³⁴² den Göttern unterstellt wird? Das Wort ›heilig‹ wirft damit nicht nur die Frage nach dem Modus des Sprechens auf,³⁴³ sondern zugleich die nach dem Grund der ›Heiligkeit‹.
337 Unter formalen Gesichtspunkten ist dieser Rückbezug auch für den Aufbau von v. 1 interessant: Bis zum »du« wiederholt sich exakt die gleiche Wortfolge im Blick auf die Verteilung der Silben: 1–2–1–1. 338 Vgl. hier Zur Poetik des Erinnerns, S. 107–113. 339 Hier kann auch die Überlegung aus der Interpretation zu Strophe 1 aufgegriffen werden, nach der es eine Abhängigkeit des sprachlichen Handelns des poetischen Ich und der Handlung des Du gibt. Das Präsens war dort so zu deuten, daß erst die Bestimmung der Befindlichkeit des Du als einem ›schaudernden Verlangen‹ dessen Tat initiiert und als ein ›Sich-Werfen‹ strukturiert. 340 Vgl. Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 1, S. 1242a. 341 Vgl. Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 2, S. 394b f.; zu einer weiteren Differenzierung der beiden Begriffe vgl. Walker Connor, ›Sacred‹ and ›secular‹. Hiera kai hosia and the classical Athenian concept of the State. In: Ancient Society 19 (1988), S. 161–188. 342 Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. 1, S. 1242b. 343 Die so eröffnete Diskussion um den Status der Rede läßt sich ausweiten und an Hölderlins Äußerungen zum Pindarfragment Das Höchste anschließen (vgl. Hölderlin, FHA XV, S. 354 f.).
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Folglich muß auch die Annahme revidiert werden, nach der die Heiligkeit des Du von dessen Handlung unabhängig ist. Um genauer zu sein: Der Grund für dessen Heiligkeit in Bezug auf sein Handeln muß präzisiert werden. Ein Anhaltspunkt dafür ist die Verschiebung innerhalb der Kritik des Opfers in v. 7 und v. 8. Nicht das Selbstopfer wird im Gegensatz zu den Dramen thematisiert, sondern die Opferung des Reichtums. Und weiterhin: Nicht das Opfer des poetischen Vermögens an sich wird beklagt, sondern daß es in den »gährenden Kelch« geopfert wurde. In beiden Fällen bleiben die ›Suche nach dem Leben‹ wie der ›Tod im Ätna‹ davon völlig unberührt und können entsprechend beide einen Grund der Heiligsprechung darstellen. Doch heilig bist du mir, […] Mit dem Personalpronomen »mir« erfährt die Aussage eine Sinnverschiebung. Wie in v. 2 (dort mit dem Wort »dir«) liegt hier eine Umwertung und Relativierung der Versrede durch das poetische Ich vor. Nachdem sich der Vers von der eröffnenden Entgegensetzung (»Doch«) über das sprachkritische Moment des Wortes ›heilig‹ zu einem performativen Sprechakt hin entwickelte, soll diese Bewegung nun allein von der Subjektposition des Ich her verständlich sein. Diese Einschränkung wirkt sich besonders auf den zuletzt genannten Punkt aus. Der Grund dafür, Empedokles respektive das Du als ›heilig‹ zu bezeichnen, ist kein (rein) objektiver. Selbst wenn sich das Ich auf die Handlung des Du bezieht und die Heiligsprechung motiviert, ist letztere damit keineswegs verbindlich oder zwingend von ihr abgeleitet. Die Rede schwankt somit zwischen ihrer eigenen Begründung und ihrer Grundlosigkeit, zwischen thetisch-performativer Setzung und dem fehlenden Nachweis ihrer Bedingungen. Da sich die ›Heiligkeit‹ des Du durch das Personalpronomen in ihrer ›objektiven‹ Geltung relativiert, wird die gesamte Aussage fraglich. Jemandem oder etwas das Prädikat der Vollkommenheit zuzusprechen, setzt eine Unabhängigkeit von der Subjektposition voraus; gerade diese wird aber durch das Wort »mir« negiert. Liest man die Stelle so, daß das Du dem poetischen Ich lediglich heilig erscheint, kommt eine weitere Unterminierung der Äußerung hinzu. Wenn es ihm nur ›wie‹ heilig ist, beschreibt dies einen Vergleich, der expressis verbis erst nach dem Ende des Kolons erfolgen wird: »wie der Erde Macht«.
Hölderlin stellt dort die Heiligkeit in engen Bezug zur Unmittelbarkeit, die sowohl »für die Sterblichen unmöglich [ist], wie für die Unsterblichen«. Dem wird die »strenge Mittelbarkeit« als das ›Gesetz‹ gegenübergestellt. Der unmittelbaren ›Heiligkeit‹ kann somit nur über eine Vermittlung begegnet werden; dies gilt auch für den nachfolgenden Vergleich »wie der Erde Macht«.
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Die subjektive Position des Ich gegenüber der ›Heiligkeit‹ des Du macht eröffnet darüber hinaus einen wichtigen textimmanenten Bezug. Führt man die oben analysierte Referenz des Wortes ›heilig‹ mit der Formulierung »in schauderndem Verlangen« zusammen, ist zu fragen, ob die Befindlichkeit infolge einer Erfahrung des Heiligen nun auch dem poetischen Ich zukommt, das sich auf das ›heilige‹ Du bezieht.³⁴⁴ Ist an seinem Sprechen eine solche Erfahrung des facsinosi et tremendi abzulesen, d.h. ist an seiner Rede eine Paradoxalität erkennbar, die mit der des ›schaudernden Verlangens‹ vergleichbar ist? Diese Überlegung ist mit einem Blick auf die sprachliche Struktur zu stärken, da das Wort »mir« als siebte Silbe die mathematische Mitte des Verses bildet und so die Frage aufwirft, worin die zentrale Stellung des Subjekts am Beginn der dritten Strophe begründet ist. Besondere Aufmerksamkeit kommt nun dem Komma am Ende der ersten Vershälfte zu, da es eine syntaktische Irregularität darstellt. Der weitere Verlauf der Rede bedürfte keines Kommas nach dem Wort »mir«. Es handelt sich also um eine gegen die objektive Sprachordnung gesetzte Zäsur des Subjekts. Der Interpretation des zweiten Kolons kommt die Aufgabe zu, diesen Aspekt weiter zu reflektieren. wie der Erde Macht, Die Rede nach dem Komma widerspricht zunächst diesem Erwartungshorizont, da die Äußerung der ersten Vershälfte scheinbar nicht weitergeführt wird. Weder das Du noch – was anläßlich der Zentralstellung des Subjekts durch das Wort »mir« noch wahrscheinlicher wäre – das poetische Ich werden thematisiert. Das Gegenüber ist lediglich Referenzpunkt eines Vergleichs, der mit der Partikel »wie« eingeleitet wird. Sensibilisiert durch den Beginn der zweiten Strophe ist nun der Charakter dieses Vergleichs näher zu analysieren. Zunächst fällt auf, daß sich die im Versverlauf zunehmende Relativierung der Rede vom ›Heiligen‹ auch nach dem Komma fortsetzt. Scheint die Bedeutung des zuvor Gesagten durch den Vergleich näher bestimmt zu werden, ist gerade das Gegenteil der Fall. Durch die Nebenordnung von etwas anderem, das für das Ich in gleicher Weise ›heilig‹ ist, büßt nicht nur das Gegenüber seine Singularität ein,
344 Der Dativ ›mir‹ kann dabei in gleicher Weise verstanden werden wie der des ›dir‹ in v. 2: Das Du ist ihm Ob-iektum, d.h. Entgegen-Geworfenes. Die Betonung des Subjekts ist damit zugleich die Relativierung seiner Position, da es über das Du als ›Gegebenes‹ nicht verfügen kann.
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sondern auch das Wort ›heilig‹ verliert seine besondere Stellung innerhalb des Verses, da es nun auf Verschiedenes bezogen werden kann.³⁴⁵ Die Rede von »der Erde Macht« greift gleich mehrere Momente der Ode auf. Zunächst erinnert die Formulierung an das »göttlich Feuer« in v. 2, das »tief aus der Erde« »quillt und glänzt«. Daß nun in v. 9 von der Heiligkeit der irdischen Macht die Rede ist, findet seinen Grund möglicherweise in eben dieser Erscheinungsform des Göttlichen: seinem Ursprung aus der Erde.³⁴⁶ Es läßt sich jedoch fragen, ob die durch den vorangestellten Artikel »der« erzeugte Nähe von ›Erde‹ und ›Macht‹ einerseits eine Engführung der beiden Bereiche markiert, die in v. 2 noch über das Wort »tief« und seine Bedeutung für die Subjektivität der Rede getrennt waren. Andererseits soll das Attribut ›heilig‹, das in der Formulierung ›göttlich Feuer‹ lediglich dem Objekt (und noch dazu nur einer Seite dieser Relation von Feuer und Erde) zugesprochen wurde, nun auch für das angesprochene Subjekt gelten. Der zweite Motivbereich ist der in der zweiten Strophe mit dem Wort »Königin« evozierte der ›Macht‹ als Souveränität. Vers 9 formuliert damit eine Absage an die Herrschaft eines einzelnen Subjekts und weist sie dem Irdischen zu. Diese Verschiebung kann zweifach verstanden werden: a) Das Du wird als ›heilig‹ angesehen, weil – oder zumindest obwohl – es keine Macht besitzt. b) Mit dem Du ist der poetische Reichtum mitgesetzt, der ihm in Strophe 2 zugesprochen wurde. Die Relativierung der Souveränität bestünde somit allein darin, daß die subjektive Macht, die das Du als ästhetisches Vermögen repräsentiert, der ›Macht der Erde‹ gleichgeordnet wird. Mit »der Erde Macht« öffnet sich zugleich ein mythologischer Kontext, der zumindest ansatzweise in v. 2 zur Sprache kam. Bei Hesiod ist Gaia (die Personifikation der Erde) »der niemals wankende[] Sitz aller Unsterblichen« und sie besitzt die göttliche und unverfügbare Macht der Schöpfung.³⁴⁷ Dem irdischen Vermögen, das über das Wort ›heilig‹ indirekt behauptet wurde, entspricht die ›Einbildungskraft‹ als subjektive Macht des Hervorbringens, als ›poetische Potenz‹.
345 Der Vergleich zeigt an, daß es eine entsprechend kanonisierende Rede schon einmal in Bezug auf anderes gab – folglich betrifft die Relativierung die thematisch-inhaltliche Seite und die formale Seite des poetischen Ausdrucks gleichermaßen. 346 Zur komplexen Relation von »göttlich Feuer« und »Erde« vgl. die Interpretation zu v. 2. 347 Hesiod, Theogonie. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Otto Schönberger, Stuttgart 1999, S. 13. In dieser Deutung ist die Erde in v. 2 diejenige, die Göttliches hervorbringt. Vgl. allgemein Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Sp. 7: »[S]o wohl das Vermögen etwas zur Wirklichkeit zu bringen, als auch ein mit diesem Vermögen begabtes Ding.«
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Diese Deutung wirft aber erneut das Problem auf, daß mit Gaia eine bildliche Ebene der Ode aufgerufen wird, die keine klare Trennung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede zuläßt. Daß der ›Erde‹ mit dem Wort ›Macht‹ ein im engeren Sinn menschliches Attribut zugesprochen wird, führt einerseits zu ihrer Personifizierung. Andererseits kippt die Rede nicht ins rein Metaphorische, da die ›Erde‹ nicht direkt – wie in anderen Texten Hölderlins – als ›Gaia‹ bezeichnet wird, sondern nur deren Attribute versammelt. In Analogie zum Anfang von v. 5 ist »der Erde Macht« also eine vergleichende Rede, die zugleich eine metaphorische Lesart zuläßt. Man kann dies so deuten, daß jeder sprachliche Versuch in der Empedokles-Ode, über einen einfachen Vergleich eine Explikation, Erläuterung oder Kommentierung des zuvor Geäußerten zu erreichen, in der Artikulation ›scheitert‹ und einen metaphorischen Charakter annimmt. Daran zeigt sich erneut die sprachliche Selbstbezüglichkeit der Ode: Das Signifikat der Äußerung ist kein außersprachliches Objekt, auf das indexikalisch verwiesen werden könnte, sondern ein komplexer Gegenstand, der mitunter nur über die innereferentiellen Bezüge der Äußerungen, d.h. ihrer wechselseitigen Bestimmung zu begreifen ist. Am Aufbau des letzten Kolons, der bislang nur am Rande thematisiert wurde, wird überdies erneut das komplexe Verhältnis von Subjekt und Objekt, materiell Ausgesprochenem und sprachlicher Darstellung sichtbar. Die Interpretation ging bisher allein davon aus, daß das poetische Ich über den Vergleich ein Anderes nennt, das es in gleicher Weise als ›heilig‹ ansieht. Für diese Deutung sprach mitunter die Positionierung des Ich im Zentrum des Verses durch das Personalpronomen »mir«. Die Eigentümlichkeit des vorgezogenen Artikels »der« macht jedoch auf einen zweiten Sinn der Rede aufmerksam, der der möglichen Paraphrase der ersten Lesart – ›wie mir die Macht der Erde heilig ist‹ – widerspricht: »wie der Erde Macht« sagt zugleich, daß ›der Erde Macht heilig ist‹. Hier gilt es, zunächst die formale Struktur der Aussage zu untersuchen. Gegenüber der ersten Lesart ist die ›Erde‹ nicht mehr (nur) Objekt der Rede, sondern (auch) ein zweites, dem Ich gleichgestelltes (personifiziertes) Subjekt: ›Dem Ich ist das Du heilig, der Erde die Macht‹. Nachdem der Vers in der zunehmenden Betonung der Subjektivität und der Relativierung auf das poetische Ich hin mit dem Wort »mir« seinen Höhepunkt erreicht hat, folgt nach dem Komma eine Formulierung, die diese ›Monarchie‹ und ›Souveränität‹ des Subjekts zurücknimmt und in eine Gleichstellung von Subjekt und Objekt überführt. In der Frage, worin nun die Heiligkeit der Macht für die Erde besteht, kann auf die genannte Bedeutungsdimension von ›vollkommen‹ und ›unverletzlich‹ zurückgegriffen werden. Im mythologischen Kontext der »niemals
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wankende[n]«³⁴⁸ Gaia ist die Macht des Hervorbringens göttlich und immerwährend. Der Erde ist somit die Macht ›heilig‹, weil sie sie umgekehrt in ihrem Wesen bestimmt. Die Bedeutung dieser zweiten Lesart des Versendes beschränkt sich dabei nicht auf das zweite Kolon, sondern wirkt auf die erste Hälfte des Verses zurück. Wenn der Erde die Macht heilig ist, ist zu überlegen, worin dann das tertium des Vergleichs besteht. Warum formuliert das poetische Ich einen Vergleich, wenn es nicht selbst die verbindende Mitte der beiden Seiten darstellt? Die Antwort darauf kann vermittels einer ›proportionalen Zuordnung‹ gefunden werden. Wenn der Erde Macht (an sich) heilig ist, kann geschlossen werden, daß das Du als ›heilig‹ bezeichnet wird, weil es eine entsprechende Qualität aufweist: Potenz, Reichtum. Tatsächlich wurde in der zweiten Strophe das poetische Vermögen mit dem Du in Verbindung gebracht. Die Heiligkeit, so ergibt sich aus der zweiten Hälfte von v. 9, besteht für das poetische Ich darin, daß dem Du diese ›Macht‹ (d.h. das poetische Vermögen allgemein und insbesondere die Einbildungskraft als ›Macht des Hervorbringens‹) prinzipiell zukommt. Das Komma am Ende des Verses verdient schließlich die gleiche Aufmerksamkeit wie das in der Versmitte. In Rückbezug scheint diese Interpunktion das gesamte Kolon »wie der Erde Macht« in eine Parenthese zu setzen und durch diese Einklammerung zu relativieren. Dies kann in mehrfacher Weise verstanden werden: Entweder handelt es sich dabei um den Versuch einer Restitution subjektiver Souveränität über eine graphische Zäsur, oder die Parenthese steht als Markierung für ein ›potentielles‹, aber bisher nur mögliches Denken und Sprechen.³⁴⁹ Der zweite Aspekt bezöge sich auf einen Ausgleich von Subjekt und Objekt, der an dieser Stelle nur behauptet werden kann, sich aber noch nicht auf allen Ebenen des Textes vollzogen hat. Das Sprechen am Ende von v. 9 skizziert somit vielmehr das Ziel des sich anschließenden Denkens und Sprechens und nicht dessen Erreichen. Der erste Vers der dritten Strophe stellt insgesamt eine komplexe Bewegung dar, in der in vielfältiger Weise die bisher etablierten Relationen von Subjekt und Objekt, materiell Ausgesprochenem und sprachlichem Ausdruck verhandelt und weiterentwickelt werden. Am Ende konstelliert sich eine Äußerung, die eine Einheit von Subjekt und Objekt darstellt und die Beziehung des poetischen Ich
348 Hesiod, Theogonie, S. 13. 349 »Macht« eröffnet hier das Wortfeld um dynamis respektive potentia als Möglichkeit, also »die Denkbarkeit« bzw. »das Seinkönnen einer Sache« (Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2., völlig neu bearb. Auflage, Berlin 1904, Bd. 1, S. 679). In diesem Sinn bezeichnet »Macht« die »reale Möglichkeit« (ebd., Bd. 2, S. 629).
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zum angesprochenen Du und zugleich zu seinem eigenen Sprechen abbildet. Als ›real Mögliches‹ ist das zweite Kolon der Anlaß und zugleich das telos des weiteren Sprechens und gibt der weiteren Untersuchung des Textes ihre Richtung vor.
Zur Metrik von v. 9 Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, 2121212212s Gegenüber dem klassischen Odenschema weist der Vers infolge der Interpunktion eine andere Struktur auf: Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, 212121p12121 Der erste Teil besteht in einem jambisch-alternierenden Versmaß (2 1 2 1 2 1). Die Zäsur durch das Komma unterbricht diese regelmäßige Reihe. Es folgt nicht der erwartete Daktylus, sondern die Betonung der siebten Silbe und somit ein Hebungsprall in der Versmitte. Diese Abweichung von der tradierten Strophenform markiert den entscheidenden Umschlagpunkt der Versbewegung, den die Interpretation als Wechsel von einer zunehmend subjektdominierten Rede zu einer Gleichwertigkeit von Subjekt und Objekt analysierte. Wie in v. 1 und v. 2 ist es also auch hier die sechste Silbe, die eine metrische Veränderung auslöst – und mit ihr eine Erschütterung der subjektiven Dominanz. Der Ausgleich von Subjekt und Objekt findet im symmetrischen Bau des zweiten Kolons seinen Ausdruck (1 2 1 2 1), der sich bis in die Mikrostruktur verfolgen läßt. So wiederholt die Formulierung »Erde Macht« noch einmal komprimiert die Spiegelsymmetrie des Kolons (1 2 1). Läßt man die sechste Silbe unbetont, kann man das Versmaß auch als Ergebnis einer Verschiebung des Daktylus um eine Position nach vorne lesen: Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, 21212212121 Hier liegt der Akzent auf der Existenz bzw. der Präsenz des Du, was eine weitere Folge des performativen Sprechens bedeutet. Die Bezeichnung des Du als ›heilig‹ führt also zu dessen ›Auferstehung‹ und dessen restitutio in integrum. Gleichzeitig wird damit ein bisher unbeachteter Sinn der Rede sichtbar, der sich allein aus dem Rhythmus des Verses ergibt. Bleibt die sechste Silbe tatsäch-
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lich unbetont, wird durch den Akzent auf der folgenden Silbe und dem dadurch entstehenden Adoneus die Kluft in der Mitte des Verses verwischt, was einen neuen Bezug der Worte zuläßt:
Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, 21212212121 Die Verszäsur resultiert aus der stärkeren Bindung des Daktylus an den Trochäus gegenüber der Bindung des Trochäus zu den letzten drei Silben, dem Kretikus. Dies verursacht eine entscheidende Sinnverschiebung. Denn das Wort »du« bezieht sich nun nicht mehr auf das angesprochene Gegenüber, sondern stellt eine kataphorische Referenz auf die »Macht« am Versende dar: ›Doch du bist mir wieder heilig, Erde Macht‹. Die Reflexion auf die Handlung in der zweiten Strophe und den Status des Gegenüber hätte demnach nicht (nur) dessen Rehabilitierung zur Folge und einen anschließenden Vergleich mit der Erde, sondern auch die Erinnerung an die ursprüngliche Heiligkeit der irdischen Macht. Nur vermittelt über das Du tritt der ›Erde Macht‹ wieder ins Bewußtsein. Neben dieser auf die Prozessualität des Verses eingehenden Analyse ist eine Betrachtungsweise möglich, die die metrische Struktur als ganze in den Blick nimmt. Im Vordergrund steht die metrische Klammerung des Verses, die auch in der zuletzt genannten Lesart deutlich wurde. Wie v. 1 und 5 besitzt auch v. 9 die metrische Besonderheit einer Verbindung von Amphibrachys und Kretikus. So wird an der Struktur des Verses eine sprachliche Aussage sichtbar, die sich aus dessen Verlauf nicht ergibt: Doch heilig […] Erde Macht, 2 1 2 […] 1 2 1 In Analogie zu v. 1 betont diese Zusammenrückung von Anfang und Ende die objektive Seite der Rede; alle Äußerungen das Subjekt betreffend, sowohl die Bestimmung des Du als auch die Position und Dominanz des Ich liegen im mittleren Versbereich, der ausgeblendet ist. Diese Beobachtung berührt eine zentrale Frage der bisherigen Interpretation: Inwieweit ist die prädikative Rede eine adäquate Äußerung für das Zu-Sagende, insbesondere innerhalb der Empedokles-Thematik? Die Verbindung von Amphibrachys und Kretikus bedeutet den Verzicht auf eine prädikative Satzkonstruktion und eine im Text genannte Redeinstanz, die eine solche Äußerung leistet. Entsprechend darf »Doch heilig […] Erde Macht« nicht allein als exklamatorische Anrufung der ungebrochenen Herrschaft des Irdischen bewertet werden. Diese
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Deutung ist zwar dadurch zu stützen, daß die durch die Metrik konstellierte Äußerung die Kontrastfolie einer auf subjektive Souveränität hin orientierten Sprache darstellt. Doch man übersieht damit das dialektische Moment dieses ›Subtextes‹. Der Vers subvertiert zwar die Subjektivität der Sprache, betont damit aber die sonstige Dominanz prädikativen Sprechens. Erneut geht es nicht darum, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, sondern in der durch die Intention des Subjekts organisierten Rede die objektive Widerständigkeit und Eigenlogik zu erkennen, die diese Souveränität unterminiert und relativiert.
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Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! 2121212212s Der Vers ist wie v. 9 aus zwei Kola aufgebaut. In der Silbenzahl stellt er jedoch eine Inversion zum vorangehenden dar: das erste Kolon ist aus fünf, das zweite aus sechs Silben aufgebaut. Dies ist für die prinzipiell identische metrische Grundstruktur, die parallele Ordnung der Kola und das Periodenende am Ende des Verses zu bedenken. Inwieweit sind die beiden Verse eine abgeschlossene und in sich reflektierte Einheit? Die […] Die Interpretation von v. 9 hatte am Ende die Frage gestellt, welchen Status das Kolon »wie der Erde Macht« infolge seiner Einklammerung durch die beiden Kommata besitzt. Diese Frage stellt sich nun erneut, da mit dem ersten Wort »Die« ein Relativpronomen am Beginn des Verses steht, das die gesamte Deutung des zuvor Geäußerten als einer ›Parenthese‹ zu negieren scheint. Denn handelte es sich bei dem Vergleich »wie der Erde Macht« tatsächlich nur um einen Einschub, müßte die Rede jetzt direkt auf das Du Bezug nehmen. Schon jetzt wird deutlich, daß die Fortsetzung der Rede erneut eine Wendung artikuliert und der Verswechsel auch einen Wechsel der Perspektive bedeutet. Da das Relativpronomen das Kolon als Parenthese degradiert, realisiert sich, was zuvor nur als ›real Mögliches‹ geäußert wurde; zugleich ist damit »wie der Erde Macht« von v. 10 aus gesehen ein bereits Realisiertes. An der Versgrenze kippt die Perspektive in die eine wie die andere Richtung und läßt das Denken zwischen ›real Möglichem‹ und ›Realisiertem‹ oszillieren. Hinzu kommt, daß nicht eindeutig gesagt werden kann, auf welches Wort sich das Pronomen »die« bezieht. »Erde« wie »Macht« sind gleichermaßen als Referenz denkbar, was zu unterschiedlichen Aussagen führt: Ist es die ›Erde‹, die »dich hinwegnahm« oder deren ›Macht‹? Diese Frage kann noch etwas aufgeschoben werden und ist schließlich für das Ende des Kolons relevant. Die dich […] Erst mit dem zweiten Wort des Verses wendet sich das poetische Ich an das zuvor heiliggesprochene Du. Entscheidend ist dabei, daß dies nur indirekt und vermittels der »Erde Macht« geschieht, was wiederum die Frage aufwirft, warum zu
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diesem Zeitpunkt keine direkte Anrede des Du mehr möglich ist und welche Rolle (die Äußerung) »der Erde Macht« dabei spielt?³⁵⁰ Es scheint, daß das poetische Ich nach der Heiligsprechung des Du und der anschließenden Relativierung der subjektiven Souveränität (hinsichtlich dieses Sprechakts) nur über die Einheit (von Subjekt und Objekt in) »der Erde Macht« eine weitere Anrede leisten kann. Ein Dialog als Ausdruck von Intersubjektivität ist offenbar nur durch die Einbeziehung des Objektiv-Subjektiven denkbar. Die dich hinwegnahm, […] Das Prädikat des Relativsatzes bringt nur auf den ersten Blick keine weitere Irritation der Aussage mit sich. Denn im Horizont der Empedokles-Thematik steht »hinwegnahm« quer zu dem in der ersten Strophe referierten Handlungsverlauf. Dort ist die Rede davon, daß sich das Du aktiv in des »Ätna Flammen« ›hinabwirft‹ und gerade nicht »mit Gewalt« von seinem Ort weg in eines anderen »Besitz«³⁵¹ gebracht wird. Überdies überrascht die Aussage »Die dich hinwegnahm« angesichts des in Strophe 2 kritisierten Opfers des poetischen Vermögens. Demgegenüber ist nun doch wieder die Perspektive auf das hin verschoben, was dem angesprochenem Subjekt selbst widerfahren ist.³⁵² Es gilt daher zu klären, woraus die Rede vom ›Hinwegnehmen‹ resultiert und ob sie allein in Rückbezug auf die ersten beiden Strophen erfolgt. Von Bedeutung ist dabei, daß im Unterschied zu ›wegnehmen‹ von ›hinwegnehmen‹ gesprochen wird. Prinzipiell ist ›hinweg‹ »ein Nebenwort, welches für das einfache weg gebraucht wird, dessen Bedeutung das hin bloß verstärket«³⁵³. Durch diese Verstärkung rückt ein wichtiger Aspekt in den Vordergrund: ›hinweg‹ betont mit »von hier, oder von hinnen weg«³⁵⁴ die Perspektive des sich äußernden Ich und dessen Position gegenüber dem Du. Somit kann die erste Hälfte von v. 10 so gelesen werden, daß das Du dem Ich ›hinweggenommen‹ wurde.
350 Zur Spannung zwischen ›eigentlichem‹ und ›uneigentlichem‹ Sprechen, die seit Beginn der zweiten Strophe bestimmend ist, kommt folglich die zwischen ›direkter‹ und ›indirekter‹ Rede hinzu. 351 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1432. 352 Daran ist zu sehen, daß die gesamte dritte Strophe bis zu diesem Zeitpunkt der Restitution des Du gilt. 353 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1201. 354 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 1201. Dieselbe Bewegung konnte bereits bei »[…] hinab in des Ätna Flammen« (v. 4) und »Hin in den gährenden Kelch […]« (v. 8) beobachtet werden.
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Hier ist nun die eingangs zurückgestellte Frage nach der Referenz des Relativpronomens wieder aufzunehmen – und gleichzeitig in ihrem Wert zu relativieren. Denn ob die ›Erde‹ oder deren ›Macht‹ dem Ich das Du entzieht, spielt eine sekundäre Rolle. Weitaus wichtiger ist die Überlegung, ob sich das poetische Ich nicht vielmehr auf seine eigene Äußerung bezieht und das Ereignis, das es dabei erfahren hat. Der Vergleich »wie der Erde Macht«, der eine Annäherung an das Du leisten und das Verhältnis beider Seiten weiter klären sollte, brachte eine Unterbrechung dieser direkten Kommunikation mit sich. »Die dich hinwegnahm« ist somit eine unmittelbare sprachliche Reaktion auf das zuvor Geäußerte und die darin sich vollziehende Entmachtung des poetischen Ich, das das Du nicht länger in der dialogischen Situation halten konnte. Die Äußerung »wie der Erde Macht«, die als Einschub scheiterte und ihre Autonomie gegenüber der ersten Hälfte von v. 9 behauptete, ist für das Ich als ganze dafür verantwortlich, daß es den direkten Kontakt zum Du verloren hat.³⁵⁵ Es ist bezeichnend, daß gerade das – mehr oder minder explizite – Eingeständnis der Ohnmacht gegenüber der Wider- und Eigenständigkeit der Sprache dem Ich die Restitution der dialogischen Situation ermöglicht – jedoch als ein Gespräch, das nicht mehr ohne das Objektiv-Subjektive realisierbar ist. Dies bedeutet nun wiederum nicht, daß die Rede in v. 10 einen ausschließlich selbstbezüglichen und sprachreflexiven Charakter besitzt und die Referenz auf Empedokles und dessen Tod im Ätna suspendiert; der weitere Versverlauf nach dem Komma wird zeigen, daß sich die Rede maßgeblich in dem dort etablierten thematischen Rahmen bewegt. Doch die Auseinandersetzung des poetischen Ich mit dem angesprochenen Du bzw. die Auseinandersetzung des Autors mit seinem Stoff sowie mit sich selbst vermittels dieses Stoffes, gewinnt in gleichem Maß an Ausdruckswert. kühner Getödteter!
355 Dies läßt sich auch poetologisch für den Verlauf der Ode deuten: Waren die ersten beiden Strophen davon geprägt, daß die Anrede des Du zugleich auch als Selbstanrede gelesen werden konnte, ist dies in der dritten Strophe nicht mehr ohne weiteres möglich. Das poetische Ich hat, so scheint es, die Unmittelbarkeit des sprachlichen Selbstbezugs verloren und hebt in seiner Rede die Bedeutung des Gegenüber als Anderen hervor. Dies bedeutet nicht, daß die Selbstreflexion dadurch verloren ginge; es wird damit lediglich die Rolle des ›objektiven Subjekts‹ (Du) und die Angewiesenheit auf diese Intersubjektivität in der Selbstbezüglichkeit deutlicher konturiert. Charakteristisch für Hölderlins Schreiben ist, daß sich sowohl der ›Verlust‹ der Unmittelbarkeit als auch die Reaktion auf diesen Verlust als Momente der Sprache zeigen und in poetischem Sprechen Ausdruck finden; sowohl die Widerständigkeit der Sprache wie das daraus resultierende ›neue‹ Verhältnis zu ihr werden in der Versrede erfahrbar.
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Wie in v. 9 ist es das Komma in der Versmitte, das entscheidenden Einfluß auf die Versgestalt und die Bedeutung der Aussage hat. Konnte bereits für das Kolon »Doch heilig bist du mir« gefragt werden, warum die Rede nicht bereits an dieser Stelle ihr Ende findet und vielmehr in einen explikativen Vergleich übergeht, so stellt sich diese Frage in v. 10 noch dringlicher. Was ist der Grund dafür, daß das Du in der zweiten Vershälfte in einer dem Ende von v. 7 (»o Dichter«) vergleichbaren emphatischen Weise angeredet wird? Der Unterschied der beiden Stellen besteht darin, daß es sich bei »kühner Getödterer« nicht nur um eine Parenthese handelt; das Kolon beschließt den Satz, noch dazu mit einem Ausrufezeichen. So wenig notwendig der exklamatorische Nachsatz auf den ersten Blick erscheint, so bedeutsam ist er sowohl für den Aussagekomplexes der Verse 9 und 10 als auch für die Gesamtanlage der Ode. Mit »kühner Getödteter« kehrt das Sprechen in den Modus direkter Rede zurück und macht so die chiastische Struktur des Verspaars deutlich.³⁵⁶ Mit dem vierten Kolon hat sich die Gewichtung innerhalb des Satzgefüges ein weiteres Mal verschoben, da die Anrede am Satzende dessen gesamten mittleren Teil (»wie der Erde Macht / Die dich hinwegnahm«) als Parenthese erscheinen läßt. Bereits auf der nicht-semantischen Ebene des Textes zeigt sich so der Versuch des poetischen Ich, über die direkte Anrede eine Restitution der anfänglichen Gesprächssituation der dritten Strophe zu erreichen – und damit auch eine Wiedergewinnung des ›hinweggenommenen‹ Du. Aus dem Satzverlauf heraus verstanden nimmt »kühner Getödteter« eine definitorische Funktion ein. Denn erst in dieser nachgestellten Rede erfolgt eine Bestimmung des Angesprochenen, die zugleich als weitere mögliche Begründung für die Heiligsprechung in v. 9 gelesen werden kann: ›Du bist mir heilig, weil Du ein kühner Getödteter bist‹. Um dieser Kausalität nachzugehen, bedarf es jedoch zunächst einer genaueren Analyse des Kolons sowie seiner Kontextualität im Gedicht. Das Adjektiv ›kühn‹ formuliert als Bezeichnung für die »Tugend«, »etwas unerschrocken und mit Bewußtsein der Gefahr«³⁵⁷ zu wagen, eine der oben genannten Bedingungen für die Heiligsprechung: den ›heroischen Tugendgrad‹. Verständlich wird diese Bestimmung des Du wegen seines Ätnatodes. Im weiteren Sinn beschreibt ›kühn‹ jedoch auch ein innovatives, zum Teil grenzüberschreitendes Verhalten, das im Kontext der zweiten Strophe und der Anrede des Du als ›Dichter‹ sprechend wird. ›Kühn‹ steht hier für ein Handeln, das »die Bahnen
356 Abstrakt läßt sich diese Struktur des Doppelverses folgendermaßen schematisieren: ›Direkt, Indirekt / Indirekt, Direkt‹. 357 Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 573a.
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des Gewohnten« verläßt und damit als »neuartig, eventuell zukunftsweisend«³⁵⁸ gefaßt werden kann. Gerade in den dichtungstheoretischen Überlegungen Hölderlins ist dieses Moment der produktiven Grenzverletzung im Zuge individuellen Sprechens von zentraler Bedeutung.³⁵⁹ Über das poetologische Motiv der ›Kühnheit‹ bezieht sich das poetische Ich auf Empedokles bzw. das Du und schreibt ihm eine Charaktereigenschaft zu, die Hölderlin selbst wiederum als ein wesentliches und notwendiges Moment der Dichtung bestimmt.³⁶⁰ Hinzu kommt, daß ›kühn‹ als Charakterisierung des Du in seiner Suche nach dem Leben gelesen werden kann, im Sinne eines ›Strebens‹ und ›Begehrens‹ nach diesem; und so auch in Verbindung mit dem in v. 3 genannten »Verlangen«.³⁶¹ Worin besteht aber die Verbindung dieser beiden Ebenen, d.h. worin liegt die Kühnheit eines Sprechens, das diese nicht nur nennend behauptet, sondern in ihrer Thematisierung an sich selbst zum Ausdruck bringt? Einerseits kann die gesamte Ode in ihrem bisherigen Verlauf als ein solches Sprechen gesehen werden, das in der Überwindung und Durchbrechung syntaktischer wie semantischer Eindeutigkeit sowie der innovativen Reformulierung und Neukonzipierung formaler und metrischer Schemata eine individuelle Rede darstellt. Andererseits
358 Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 573a. 359 Besonders prominent ist dieser Aspekt in einem Kommentar Hölderlins zum Pindarfragment Das Belebende: Über die Gewalt der Centauren entwickelt Hölderlin das Motiv des SprachFlusses und der Prozessualität des Sprechens. Die Dichtung, die zunächst von den »festgebildeten« Ufern »Bewegung und Richtung« erhält, reißt sich nach gewisser Zeit ihre »Bahn« und nimmt mit neuer Richtung ihre eigene »Bestimmung« an (Hölderlin, FHA XV, S. 364). 360 In diesem Zusammenhang steht auch die weitere Bestimmung der Kategorie des ›Kühnen‹ durch Wilhelm Hebenstreit, der explizit auf die potentielle Einheit der ›formalen‹ wie ›stofflichen‹ Seite eines ›kühnen‹ poetischen Ausdrucks hinweist: Das Kühne »kann […] sowohl auf Stoff und Form abgesondert, oder auf Stoff und Form gemeinschaftlich bezogen werden. Es erscheint als die gewagte Darstellung eines Gegenstandes, aufgefaßt im Allgemeinen von einer ganz verschiedenen oder entgegengesetzten Seite, als der gebräuchlichen oder erwarteten. Oft ist das Kühne mit Kraft und Neuheit verbunden, in so fern es nämlich durch Auswahl und Zusammenordnen der Bilder das Gefühl in ungewöhnlicher Weise aufregt, oder Gegenstände in einem in die Erscheinung noch nicht getretenen (neuen) Ganzen vereinigt. Seine Selbstständigkeit aber behauptet es in der Wirkung durch den unverkennbaren, dem Gefühl und der Phantasie zusagenden Ausdruck des Gewagten, wodurch es sich zugleich den Charakter des Schönen aneignet« (Wilhelm Hebenstreit, Wissenschaftlich-literarische Encyklopedie der Aesthetik, Wien 1843, S. 397b). 361 Vgl. [Die] Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Revidierte Fassung der deutschen Übersetzung Martin Luthers (1912), hg. von der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 1982, 2. Kor 11,21: »Worauf aber jemand kühn ist (ich rede in Torheit!), darauf bin ich auch kühn.«; Hiob 29,24: »Wenn ich mit ihnen lachte, wurden sie nicht zu kühn darauf; und das Licht meines Angesichts machte mich nicht geringer.«
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ist, beschränkt man sich auf die dritte Strophe, der unabgeleitete und damit ›ausbrechende‹ Beginn von v. 9 ›kühn‹: Das Du ›heilig‹ zu nennen, weil es ›kühn‹ ist, darf sich offenbar nicht in einer nachträglichen Begründung oder Erläuterung erschöpfen, sondern muß dieses Moment bereits in der Bezeichnung selbst enthalten: »Doch heilig bist Du mir« ist eine ›kühne Rede‹, die sich ›unerschrocken und mit Bewußtsein‹ eines möglichen Verlusts ihrer Unmittelbarkeit vollzieht – in der Gefahr eines Verlusts, der schließlich auch wirklich eintritt und mit der nachträglichen appelativen ›Kommentierung‹ wieder kompensiert werden soll. Auch der zweite Teil des Versendes ist zunächst im Horizont der Heiligsprechung von v. 9 zu begreifen. Daß es sich bei Empedokles bzw. dem Du um einen ›kühnen Getödteten‹ handeln soll, unterstreicht den Gedanken des Opfertodes. Nicht nur besitzt der Angesprochene in den Augen des poetischen Ich einen ausgezeichneten heroischen Charakter, die Stelle kann zudem so gelesen werden, daß er gerade deswegen ums Leben kam. Das passive Erleiden einer tödlichen Gewalt widerspricht jedoch der Exposition der ersten Strophe und verkehrt das Verhältnis von Subjekt und Objekt, aktiver Handlung und passiver Erduldung. Wie zuvor das Wort »hinwegnahm«, markiert auch »Getödteter« eine solche Umdeutung der früheren Äußerung. Falls es sich bei dem Ätnasturz um eine Tötung handelt, dann hat sie allein das Subjekt selbst zu verantworten, das sich hinabwirft – von einer Tötung durch ein anderes Subjekt oder gar ein ihm entgegenkommendes Objekt war bislang nicht die Rede. Der Grund für diese Äußerung ist somit in einer anderen Relation zu suchen. Die Kombination der beiden Worte »kühner Getödteter« und ihre wechselseitige Bestimmung gibt einen Hinweis darauf. Sie erweist sich als eine Konstellation, die mit der Rede vom »schaudernden Verlangen« in v. 3 korrespondiert – und zwar indem sie die dort ausgedrückte Relation in einem entscheidenden Punkt invertiert. Das ›schaudernde Verlangen‹ ließ sich als eine widersprüchliche Einheit von Zurückweichen und Hingezogensein beschreiben, die die Befindlichkeit des Subjekts in seiner eigenen Zerrissenheit bestimmt. Dies fand in der Chrono-Logie der Worte Ausdruck, da durch die Reihenfolge ›Weg-Hin‹ eine Kluft entsteht, ein ›emotionaler Riß‹, der letztlich zu einer Spaltung des Subjekts, zu seiner Verobjektivierung und schließlich zu einer aggressiven Handlung gegen sich selbst führt, die mit dem Tod endet. Die Formulierung »kühner Getödteter« beschreibt demgegenüber eine umgekehrte Chronologie: Der ›kühnen‹ und wagemutigen Vorwärts-Gerichtetheit des Du kommt das Objekt entgegen und damit auf es zu. Versteht man ›schauderndes Verlangen‹ abstrakt als die Bewegung einer Einheit in die Differenz, ist »kühner Getödteter« die Vermittlung von Differentem in einer ›ent-gegnenden‹, ›kommunikativen‹ Rede. Entsprechend wird hier noch einmal die Diskussion um die Motive ›Gabe‹ und ›Opfer‹, ›Hingabe‹ und ›Annahme‹ (bzw. Aufnahme) eröffnet – und schließlich auch die Frage, wie eine ›unterschiedene
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Innigkeit‹ sprachlich realisiert werden kann. ›Schauderndes Verlangen‹ und ›kühner Getödteter‹ sind die beiden Äußerungen, die indirekt auf das Verhältnis des Subjekts (genauer gesagt das Verhältnis beider Subjekte: das angesprochene Du wie das poetische Ich) gegenüber dem ›Heiligen‹ Bezug nehmen und darin ihr tertium finden. Um dies noch einmal in seiner ganzen Komplexität zu entfalten: Das ›schaudernde Verlangen‹ beschreibt die Befindlichkeit des Du angesichts des Göttlichen und objektiv Heiligen; ›kühner Getödteter‹ ist der Versuch einer sprachlichen Vermittlung der zuvor lediglich behaupteten Heiligkeit des Subjekts (Du), die wiederum in einem zugleich tätigen und leidenden Verhalten des Subjekts bzw. in einer Konstellation subjektiven und objektiven Handelns gründet. Mit diesem Versende ist der Schlußpunkt einer komplexen Sprachbewegung gesetzt, die ihre eigenen Bedingung reflektiert, darauf reagiert und diese sprachlich zum Ausdruck bringt. Zugleich greift sie bereits etablierte Momente und Äußerungen des Textes auf und entwickelt sie weiter. Die vermeintliche Einseitigkeit einer Aussage hinsichtlich ihres Modus (indirekter oder direkter Rede) oder ihrer Formulierung wird durch eine dazu komplementäre Äußerung revidiert und zugleich kommentiert. Dies schließt selbst die Diskussion verschiedener Sprachauffassungen mit ein, was am Beispiel des Wortes »heilig« deutlich wird. Trotz allem sind die Verse durch die nach dem ersten Kolon von v. 9 zunehmende Konzentration auf das angesprochene Du geprägt; das poetische Ich kommt nur noch indirekt und im Ringen um eine adäquate Darstellung der Verhältnisse zur Sprache. Entsprechend gilt die Aufmerksamkeit in der Interpretation der zweiten Strophenhälfte der Restitution und Re-Präsentation des Ich (als ein dem Du – auch sprachlich – gleichgestelltes Subjekt), das das ObjektivSubjektive in dieser Intersubjektivität nicht (wie in Strophe 1 und 2 geschehen) verlieren darf.
Zur Metrik von v. 10 Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! 2121212212s Die Zweiteilung des Verses durch das Komma in der Versmitte gliedert wie zuvor in v. 9 auch dessen metrischen Verlauf: Die dich hinwegnahm, kühner Getödteter! 21212p12212s
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Konzentriert man sich zunächst nur auf das erste metrische Kolon, wird dessen Verbindung zum Ende von v. 9 deutlich, da eine Fortführung der Rede und eine Zusammengehörigkeit der beiden Verse über das alternierende Metrum behauptet wird: […] wie der Erde Macht / Die dich hinwegnahm, […] 1 2 1 2 1 / 2 1 2 1 2 Gleichzeitig wird die chiastische Struktur der Verse erkennbar, da der Anfang von v. 10 mit drei unbetonten und zwei betonten Silben die metrische Inversion von v. 9 darstellt – dies gilt auch für das Versmaß: das trochäische Maß geht in ein komplementär jambisches über. Doch diese metrische Deutung ist nicht alternativlos. Ebenso ist denkbar, daß der Vers nicht jambisch einsetzt, sondern mit einem Daktylus – und der Versbeginn mit einem Adoneus als Schlußformel gerade das klassische Versende formuliert: Die dich hinwegnahm 12212 Die Interpretation hatte die Frage diskutiert, warum die Rede nach dem ersten Kolon von v. 10 nicht ihr Ende findet bzw. warum es einer Fortführung nach dem Komma bedarf. Die Metrik greift diese Frage nicht nur formal auf, sondern überträgt sie ihrerseits auf die Fortführung des Verses: In welcher Weise kann die metrische Reihe nach einer Schlußsequenz fortgesetzt werden? Die zweite Vershälfte scheint in diesem Zusammenhang – ungeachtet des bisherigen Verlaufs – zunächst das tradierte Strophenschema umzusetzen, indem sie mit einem Daktylus einsetzt. Der Bruch mit diesem Schema erfolgt erst in der letzten, unbetonten Silbe: […] kühner Getödteter! 122122 Die Wiederholung des Daktylus ist befremdlich, da er eine metrische Figur des vierten Verses einer alkäischen Odenstrophe beschreibt: den Beginn von zwei Daktylen, denen sich zwei Trochäen anschließen. Die Folge ist, daß die – auf der sprachlichen Ebene partiell realisierte und somit auch für die Metrik erwartbare – formale Symmetrie des Verses ausbleibt. Der Vers ist vielmehr durch ein Übergewicht daktylischen Sprechens geprägt, das vermuten läßt, daß darin der noch nicht vollständig erreichte Ausgleich der Rede ihren Ausdruck findet.
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Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, 212121212 Wie bereits in der ersten Strophe setzt der dritte Vers mit der Konjunktion »Und« ein und thematisiert damit die Relation von Einheit und Differenz sowie deren Vermittlung in der Prozessualität der Rede. Zuletzt zeigte sich an der nur indirekten Äußerung des poetischen Ich, vermittelt über die fortgesetzte Bestimmung des Du, ein Mangel an Intersubjektivität, dem nun mit der Fortführung des Sprechens begegnet wird. Das Ende von v. 10 war trotz der Emphase, ausgedrückt durch das Ausrufezeichen, nicht der Schlußpunkt der Denk- und Sprechbewegung und der Vermittlung des Ich mit seinem Gegenüber bzw. seinem Gegenstand. Auch an dieser Stelle des Textes muß das Wort »und« auf seine mehrfache Bedeutung hin reflektiert werden. In seiner konsekutiven bzw. konklusiven Funktion ist v. 11 eine notwendige Folge aus dem bisher Gesagten, eine weitere Explikation des in v. 9 und v. 10 Geäußerten: Warum das Du heilig genannt wurde, welche Haltung das Ich gegenüber dem Tod des Du einnimmt, welche Sprachauffassung dahinter steht und was diese Äußerung als Ganze über das poetische Ich aussagt, wird nun in der folgenden Rede deutlich. Als kausale Konjunktion wird diese Lesart noch verstärkt: Was und in welcher Form in v. 9 und v. 10 geäußert wurde, ist der Grund für die in v. 11 artikulierte Position des Ich. Durch ein temporales bzw. iterales ›und‹ stünden die beiden Sätze in einem rein gleich- oder nachgeordneten Verhältnis zueinander und über die Chronologie hinaus in keiner weiteren Beziehung. Diese Deutung kann hier jedoch zurückgestellt werden. Nachdem das Ich mit jeder Äußerung über das Du sich selbst mit thematisiert und darin die Abhängigkeit seiner Subjektivität von der Intersubjektivität deutlich wird, ist eine Loslösung der Rede von v. 9 und v. 10 bereits vor dem Einstieg in v. 11 auszuschließen. Zu bedenken ist vielmehr, wie sich die notwendig gesetzte Fortsetzung der Rede gestaltet, d.h. wie die partielle Einseitigkeit des zuvor Gesagten ausgeglichen werden kann, ohne selbst wiederum Gefahr zu laufen, allein die komplementäre Gegenseite zu betonen und damit erneut keinen angemessenen Ausdruck für die komplexe Wechselbeziehung des Objektiv-Subjektiven sowie des Intersubjektiven zu erreichen. Und folgen […]
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Interpretation
Mit dem ersten Wort nach der Konjunktion löst sich die eben formulierte Erwartung ein, nach der es sich bei v. 11 um ein notwendiges Sprechen handelt: »folgen« bezeichnet die Konsequenz, mit der die Rede neu einsetzt, und bestimmt die Aussage von v. 9 und v. 10 als Ursache für diese Folge. Ohne der Versrede vorzugreifen ist bereits diese Sprechhandlung des poetischen Ich eine realisierte Nachfolge sowie eine Erfüllung des im Vorigen implizit Geforderten, das nun nach und nach explizit wird. Mit dem Wort »folgen« kommt das Ich dieser Forderung im Wort nach. Sein Sprechen ›erfolgt‹ aus dem, nach dem es sich richtet und ist so zugleich das Ergebnis des ›Vorangehenden‹. Gleichzeitig aber bleibt unklar, worin dieses Folgen besteht, wenn es sich nicht allein auf die in der Sprache behauptete Handlung reduzieren soll, die als solche leer bliebe. Wem gefolgt, wer oder was ›nachgemacht‹³⁶² und welcher bzw. wessen ›Vorschrift‹ entsprochen wird, ist zu diesem Zeitpunkt nicht auszumachen. Und folgen möcht’ […] Die Vorläufigkeit der Folge kommt im nächsten Wort zur Sprache. Das Prädikat »möcht’« zeigt an, daß die Folge entgegen des zunächst gewonnenen Eindrucks noch nicht realisiert ist und lediglich angestrebt wird. Dies kann in zweifacher Weise verstanden werden: Zum einen drückt sich darin die Reflexion des poetischen Ich aus, daß die Konsequenz bislang lediglich in der Sprache gezogen wurde. Die Setzung des Wortes »möcht’« ist so die Anzeige eines erfahrenen Mangels, da die Rede mehr behauptet, als das Ich bislang realisieren konnte.³⁶³ Zum anderen – dies wäre poetologisch zu begreifen – sagt die Wortfolge »folgen möcht’«, daß eine Nachfolge ausschließlich in der Sprache verwirklicht werden kann oder darf. Ob eine Nachfolge in einer außersprachlichen Handlung anzustreben ist, bleibt zumindest zu diesem Zeitpunkt offen.³⁶⁴ Das Wort ›mögen‹ hat jedoch für die Versrede eine weitaus größere Bedeutung als nur die Anzeige eines Futurischen, noch nicht Realisierten. Die in
362 Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 341b. 363 Man könnte diesen Gedanken weiterführen und sagen, daß die Sprache dem Ich voraus war und dessen Nachfolge evoziert, diese aber (noch) nicht vollzogen und nur als Ziel geäußert werden kann. 364 Unter dem Aspekt der ›Nachfolge‹ ist auch die religiöse Dimension der Rede miteinzubeziehen, die sich gleich an mehreren Stellen der Ode entfaltet und besonders zu Beginn der dritten Strophe mit der Heiligsprechung des Du deutlich wird. Diese Deutung setzt jedoch voraus, daß die Nachfolge sich dezidiert auf das angesprochene Du (als dem ›geopferten‹ und ›heiligen‹ Erlöser) bezieht, was nicht uneingeschränkt angenommen werden darf.
Vers 11
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Strophe 2 zentrale Diskussion um das (ästhetische) Vermögen sowie die Frage nach der Souveränität des Subjekts muß in die Interpretation einbezogen werden. Die indikativische Rede von ›wollen, gern haben‹ und ›können‹ ist zugleich eine konjunktivische,³⁶⁵ wodurch der Vers erneut zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen schwankt und die beiden Modi miteinander vermittelt. In der zweiten Bedeutung als ›Vermögen‹ ist zunächst die eben aufgezeigte Spannung zwischen einer sprachlichen Realisierung und Nachfolge einerseits und der Exponierung eines noch nicht Erreichten andererseits in den Blick zu nehmen. Wenn ›mögen‹ nicht nur die Äußerung eines Wunsches ist, wird fraglich, worin die in der Rede behauptete Potenz der Nachfolge besteht. Gründet die Fähigkeit, eine Nachfolge leisten zu können, im Wort »folgen«? Drückt sich das ›Vermögen‹ bereits in dem Wort »folgen« aus und ist »möcht’« nur die nachträgliche Kommentierung und Behauptung des schon Realisierten? Handelt es sich also im weiteren Sinn erneut um ein performatives Sprechen, das in der Bezeichnung der Handlung diese gleichzeitig vollzieht? Ist also »Und folgen« tatsächlich die geforderte Nachfolge? Wenn dies zutrifft: Was wäre damit gewonnen? Handelt es sich dabei nicht lediglich um einen Zirkelschluß, wollte man den Verseinstieg folgendermaßen paraphrasieren: ›Im Wort »folgen« hat sich das Vermögen der Nachfolge realisiert‹? Die Bedeutung des Versbeginns liegt folglich nicht in einer der beiden Lesarten. Weder drückt sich in »Und folgen möcht’« nur der Wunsch oder die Hoffnung auf eine noch ausstehende Nachfolge aus, noch handelt es sich ausschließlich um deren Erfüllung in der Sprache. Der Text konstelliert vielmehr eine Spannung, die sich bereits in der zweiten Strophe aufgebaut hatte. Über die ›Gleich-Gültigkeit‹ der beiden Deutungen greift er die Diskussion über die Wechselwirkung von Subjekt und Sprache wieder auf und exponiert diese als eine Spannung zwischen Souveränität und Abhängigkeit, Aktivität und Passivität, subjektiver Dominanz und objektiver Wider- bzw. Eigenständigkeit der Sprache. Nur so löst v. 11 bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Forderung der Nachfolge ein, da es dem Bündel von Relationen in neuer Form Ausdruck verleiht. Und folgen möcht’ ich […]
365 An dieser Stelle gilt es die Differenz zwischen ›mögen‹ und ›möchten‹ wahrzunehmen, die hier durch die konjunktivische Form vermittelt wird. Erst seit dem 15. Jahrhundert ist ›möchten‹ auch als Indikativ zu verstehen; vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. [in 32 Teilbänden], Leipzig 1854–1960, Bd. 12, Sp. 2450.
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Interpretation
Ich habe bisher bewußt davon abgesehen, das darauf folgende Wort miteinzubeziehen, da es einen eigenen Schritt innerhalb der Versbewegung darstellt. War das Objektiv-Subjektive des Sprechens in der dritten Strophe bisher nur indirekt in der Äußerung über das Du erfahrbar – sozusagen als objektiv Objektiv-Subjektives –, so invertiert sich diese Relation jetzt und das poetische Ich nennt sich direkt als darauf bezogen. Die Beobachtungen zum Verhältnis von Souveränität und Abhängigkeit, subjektiven und objektiven Aspekten der Sprache werden nun auf das Ich bezogen bzw. von diesem für sich geltend genannt. Diese Spiegelung der Subjekt-Objekt-Relation findet ihre formale Entsprechung in der Inversion des Satzes, deren Drehpunkt das Prädikat darstellt.³⁶⁶ Diese besondere Satzstruktur, die mit dem materiell Ausgesprochenen korrespondiert, läßt jedoch ein weiteres formales Moment deutlich werden, das sich in den Horizont der bisherigen Beobachtungen zum Verlauf des Rede in v. 11 einfügt. Das Wort »ich« beschreibt als fünfte Silbe die mathematische Mitte des Verses, worin sich eine Reflexion auf den Aufbau des ersten Verses der Strophe ausdrückt. War es dort das passive Wort »mir«, das das Zentrum des Verses markierte, so ist »ich« das aktive Gegenstück dazu. Die ›vertikale‹ syntaktische Inversion ist somit zugleich eine ›horizontale‹ Spiegelung von v. 9. Daran läßt sich eine Bedeutung des Wortes »möcht’« anschließen, die bislang ausgeblendet wurde: die etymologische Verwandtschaft von ›mögen‹ mit ›Macht‹,³⁶⁷ die zum ersten Mal in v. 6 in Verbindung mit der ›Königin‹ thematisch wurde und schließlich auch in v. 9 bezüglich der ›Erde‹ wieder aufgegriffen wird. Die Restitution des aktiven Selbstverhältnisses, das im Wort »ich« Ausdruck findet, ist auch ein Zeichen für eine wiedergewonnene Souveränität des Ich; eine Souveränität, die zuvor in der Formulierung »und mochte sie doch!« eingeschränkt wurde: ›Im Gegensatz zu mir hat sie Macht‹. Was nun jedoch fehlt und sich auch im Verlauf des Verses nicht mehr realisieren wird, ist der Bezug des Ich auf das angesprochene Du. So bleibt vorerst offen, wem oder was das Ich Folge leisten »möcht’«. Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, Da mit dem Versende »in die Tiefe« das Ziel der Nachfolge genannt wird, bleibt der Fokus auf dem Ich und dessen Handlung. Die »Tiefe« kann nach dem Wort »Kelch« als eine weitere Umschreibung des Ätnas gelesen werden bzw. – auf die dritte Strophe bezogen – als eine nähere Bestimmung der in v. 9 genannten
366 »folgen möcht’ ich« vs. ›ich möcht’ folgen‹. 367 Vgl. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 883a.
Vers 11
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»Erde«. Die Richtung der Nachfolge ist (im Zusammenhang mit der Rede vom ›kühnen Getödteten‹, der von der Erde ›hinwegenommen‹ wurde) somit eine in den Tod. Die zweite und für das Verständnis der Rede weitaus wichtigere innertextuelle Referenz ist eine wörtliche und greift die Rede vom »göttlich Feuer tief aus der Erde« aus v. 2 auf. Entscheidend ist dabei, daß diese Referenz die frühere Aussage in einem wichtigen Aspekt modifiziert: Ist das Wort ›tief‹ in v. 2 ein Attribut, das als ›relationaler Begriff‹ gleich mehrere Gegensätze vermittelt, handelt es sich jetzt um die Abstraktion und Substantivierung dieses Bedeutungskomplexes. Die Nachfolge – und somit auch die Bewegung der Sprache – zielt nicht auf einen mit ›tief‹ beschriebenen Ort, sondern ›in die Tiefe‹ selbst. Damit ist jedoch zugleich gesagt, daß die Bewegung keinen Grund (außerhalb ihrer selbst) findet und finden wird.³⁶⁸ Die Nachfolge geht lediglich ›in die Tiefe‹, d.h. in ihre Richtung. Das grundlose telos ist eines, das in der Bewegung des Nachfolgens besteht, und nicht in einem klar auszumachenden Zielpunkt. Damit werden die Beobachtungen zu v. 2 relevant, in denen das Wort »tief« ein in sich gespaltenes, paradoxes Attribut darstellt, weil es das ›Verborgene‹ und ›Unergründliche‹ bezeichnet und zugleich das »[g]ründliche« Verständnis sowie den deutlichen »Begriff von allen Merkmahlen eines Dinges«³⁶⁹. Das Abstraktum ›die Tiefe‹ ist daher ein ›grundloser Grund‹ oder eine ›diffuse Klarheit‹ – ein Wort also, das die Gegensätze vermittelt und in sich austrägt. Ausgehend von der Analyse von v. 2 ist dieses Streben in die Tiefe aber noch unter einem weiteren Aspekt zu betrachten. Das Wort »tief« war dort zugleich der Index für eine Reflexion des Subjekts auf sein Erkenntnisvermögen und verbunden mit der Forderung, die subjektive Souveränität bezüglich der Wahrnehmung sowie der Äußerung des wahrgenommenen Objekts zu relativieren. Wenn das poetische Ich nun davon spricht, ›in die Tiefe‹ gehen zu wollen, beschreibt dies gleichzeitig eine Bewegung in eine zunehmende Selbstreflexion. Das angestrebte Objekt ›Tiefe‹ ist somit untrennbar mit dem Subjekt verbunden. Für diese Deutung der Nachfolge mit dem Ziel einer Vermittlung der Gegensätze spricht die Richtung, die in der Rede angegeben ist. Erneut ist es der Bezug zu v. 2, der hierüber weiteren Aufschluß geben kann: Hieß es dort ›tief aus der Erde‹, ist in v. 11 von der komplementären Bewegung ›in die Tiefe‹ die Rede. Entscheidend ist, daß das Wort »tief« zuvor die in v. 2 exponierten Gegensätze von Himmlischem und Irdischem, Subjekt und Objekt wechselseitig aufeinander
368 Hier wird die Bedeutung der Tiefe als ›Abgrund‹ sprechend; vgl. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 1431b. 369 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, S. 601.
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Interpretation
bezog. Der Wunsch bzw. die Behauptung des poetischen Ich, ›in die Tiefe‹ zu gehen oder gehen zu können, zielt daher auf diesen utopos des Vermittlungsgeschehens, der – paradox gesprochen – nur in der dynamischen Spannung der Gegensätze seinen Ruhepunkt findet. Nicht mehr die Souveränität und Dominanz des Subjekts, sondern dessen Eingehen in das Objektiv-Subjektive, in die ›unterschiedene Innigkeit‹, ist Grund und Anlaß der Nachfolge.³⁷⁰ Entgegen dem Eindruck, daß es sich bei v. 11 um ein abgeschlossenes Sprechen handelt, das zwischen den Gegensätzen seinen dynamischen Ort findet, steht am Versende nicht ein Punkt, sondern ein Komma, das die Fortführung der Rede im nachfolgenden Vers anzeigt.³⁷¹ Eine mögliche Erklärung für diese notwendige Fortsetzung ist darin zu sehen, daß lediglich das poetische Ich seinen Platz in der ›unterschiedenen Innigkeit‹ gefunden und artikuliert hat – und diese damit gerade verfehlt, wenn nicht auch das Du bzw. Empedokles in diese komplexe Wechselwirkung einbezogen und sprachlich verortet wird. Solange das Gegenüber nicht als gleichwertiger Teil des Vermittlungsgeschehens reflektiert und zur Darstellung gebracht ist, kann auch die Selbst-Vermittlung des poetischen Ich nicht als abgeschlossen begriffen werden und bleibt einseitig. Das subjektiv Objektiv-Subjektive muß letztlich ein subjektiv-objektiv Objektiv-Subjektives sein, um die transzendentale Bewegung des Denkens und Sprechens abzuschließen.
Zur Metrik von v. 11 Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, 212121212 Das Metrum von v. 11 besitzt – dem tradierten Strophenschema der alkäischen Ode entsprechend – ein regelmäßig alternierendes Versmaß. Dies wird noch dadurch unterstrichen, daß keine weitere syntaktische Untergliederung des Verses erfolgt und dieser so den Charakter einer kontinuierlichen Bewegung besitzt. Trotz dieser einfachen metrischen Struktur hebt sich der Vers von den jeweils dritten Versen der vorangehenden Strophen ab, da er der erste ist, in dem die fünfte Silbe die mathematische Mitte des Verses mit einem Wort markiert; und noch dazu mit einem Wort, das tatsächlich das Zentrum der Rede bildet: »ich«.
370 So erklärt sich auch das Fehlen des angesprochenen Du in v. 11, das, wäre es genannt, ein lediglich ›subjektives‹ telos der Nachfolge repräsentieren würde. 371 Neben dem Komma ist der mögliche Konjunktiv von »möcht’« ein weiterer sprachlicher Index dafür, daß die Rede nicht schon an dieser Stelle ihr Ende finden kann.
Vers 11
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Und folgen möcht’ ich in die Tiefe, 212121212 Die Interpretation des Verses konnte bereits die Parallelen zum Aufbau von v. 9 herausstellen, in dem ebenfalls das Subjekt diese Stelle einnimmt; mit dem Wort »mir« jedoch in einem passiven und nicht (wie in v. 11) einem aktiven Modus. Das Wort »ich« stellt die Spiegelachse des Versmaßes dar, da sich die vier Silben vor und nach ihm diametral gegenüberstehen: 2 1 2 1 p2p 1 2 1 2 Dieser Aufbau wird vor allem durch die Inversion des ersten Versteils sprechend, weil er metrisch den syntaktischen Bau der Rede wiederholt. Auffällig ist, daß das Zentrum des Verses im Unterschied zu den bisherigen Versen, die einen solchen Schwerpunkt besitzen – v. 1 mit »suchst«, v. 2 mit »tief«, v. 9 mit »mir« –, auf eine unbetonte Silbe fällt. Zu fragen ist also, worin diese Umwertung gründet. In der Versrede findet sich ein Anhaltspunkt dafür, daß der formale Bau mit dem im Vers Ausgesagten korrespondiert. Das Subjekt der Rede behauptet keine Dominanz mehr gegenüber dem Objekt bzw. keine Souveränität, die es über die Relation von Subjekt und Objekt stellen würde. Man kann das Versmaß von v. 11 daher so lesen, daß das Ich das artikulierte Ziel der ›Nachfolge in die Tiefe‹ formal bereits erreicht hat. Es ist in die (gespiegelten) Gegensätze eingegangen, es hat bereits seinen Ort im Zwischen und ›in‹ ihnen gefunden, da es einerseits von ihnen gehalten und positioniert wird, andererseits als Medium der Differenz deren Einheit verbürgt.
Vers 12
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Vers 12
Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden. 1221221212 Im vorangehenden Vers zeigte sich, daß es der objektiven Gegenseite (des Du) bedarf, um das sprachliche Vermittlungsgeschehen in seiner ganzen Komplexität zu realisieren. Der letzte Vers steht somit im Erwartungshorizont, die Einseitigkeit, in der das Sprechen in v. 11 erfolgte, auszugleichen und so die transzendentale Bewegung des Sprechens und Denkens an ihr Ende kommen zu lassen. Hielte […] Das erste Wort hebt im Gegensatz zur Rede in v. 11 die Spannung zwischen Indikativ und Konjunktiv auf und bewertet das dort Gesagte nachträglich als irreales bzw. nur mögliches Sprechen. Bevor der Grund dieser retrospektiven Deutung untersucht werden kann, gilt es die semantischen Implikationen des Wortes ›halten‹ zu entfalten, die für den weiteren Verlauf des Verses sprechend werden. Zunächst fällt auf, daß ›halten‹ ohne Präfix steht: Nach dem Wort ›folgen‹ würde man erwarten, daß nun von ›zurück-halten‹ die Rede ist. Diese ›Unbestimmtheit‹ des Prädikats läßt gleich mehrere Lesarten zu, die in das semantische Spektrum des Wortes fallen. So bedeutet ›halten‹ ursprünglich ›hüten, beobachten‹ bzw. ›auf etwas achten‹³⁷² und ›schützen, bewahren‹³⁷³. Daraus leitet sich schließlich die Bedeutung ab, die »Bewegung eines Dinges hindern«, »damit es nicht entfliehe, seine Bewegung fortsetze«³⁷⁴ – sei es »durch äußere Zwangsmittel« oder »moralische Bewegungsgründe«³⁷⁵. Im weiteren Kontext bedeutet ›halten‹ den »Zustand, die Veränderungen eines Dinges bestimmen«³⁷⁶, allgemein einem »Dinge das Gleichgewicht, oder die Wage halten, machen, daß es im Gleichgewichte stehe«³⁷⁷. Für v. 12 läßt sich damit ein Horizont der Rede angeben: ›halten‹ erweist sich als ein Gegenbegriff zur zuvor thematisierten Nachfolge. Dies wird besonders
372 Vgl. Paul, Deutsches Wörterbuch, S. 447a. 373 Vgl. Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 501. 374 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 928. 375 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 929. 376 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 929. 377 Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Sp. 929.
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Interpretation
für das am Ende von v. 11 genannte telos der (Sprach-)Bewegung relevant. Dort wurde die Frage virulent, wie eine Fortsetzung des Sprechens denkbar ist, die zwar einerseits notwendig ist (um die letzte Einseitigkeit der Rede zu beheben), andererseits aber nicht zu einem Überschreiten bzw. Heraustreten aus der dynamischen Spannung der ›unterschiedenen Innigkeit‹ führen darf, die mit »in die Tiefe« erreicht wurde. Daß ›halten‹ ein Wort ist, das dieser Anforderung gerecht wird, zeigt sich an seiner zweiten Bedeutung, nach der sich in der Widerständigkeit gegen das Fortstreben ein dauerhafter ›Zustand‹ etabliert, um ein ›Gleichgewicht‹ zu garantieren. Noch bevor also gesagt wird, wer oder was ›gehalten‹ wird, bringt der Vers im Wort zum Ausdruck, daß auch im weiteren Sprechen die dynamische Wechselspannung des Objektiv-Subjektiven ›erhalten‹ und bewahrt werden kann. Hielte die Liebe […] Mit den folgenden beiden Worten nennt das Ich das grammatische ›Subjekt‹ des Satzes, dem das Halten zugesprochen wird: »die Liebe«. Infolge der durch den Titel und die Exposition der ersten Strophe gesetzten Thematik der Ode gilt es zunächst, auf den Liebesbegriff des historischen Empedokles einzugehen. In der überlieferten Lehre des Empedokles ist die philia (Liebe) neben neikos (Haß/ Streit) ein daimon, eine der beiden polaren Grundkräfte. Die philia stiftet die Anziehung, Verbindung und Mischung der Elemente untereinander, wogegen neikos deren Trennung, Abstoßung und Loslösung bewirkt. Auch wenn Empedokles der Liebe einen qualitativen Vorrang gegenüber dem Streit zuerkennt, »da das Werden einen vollkommeneren Zustand voraussetzt als der Tod«, »die Liebe ein vollkommeneres Werk schafft, als der Hass« und so die Elemente »zu Schönheit«³⁷⁸ verbindet, beruht sein Denken letztlich auf einem Gleichgewicht der beiden Prinzipien, in dem keines ohne das andere zu denken ist. Eine Brücke zwischen der vorsokratischen Liebeskonzeption und der idealistischen Position Hölderlins kann in Herders Schrift Liebe und Selbstheit gesehen werden, die gleich zu Anfang auf die beiden widerstreitenden Kräfte des Empedokleischen Systems Bezug nimmt.³⁷⁹ Wie zuvor für Empedokles eine absolute Herr-
378 Hermann Winnefeld, Die Philosophie des Empedokles. Ein Versuch, Rastatt 1862, S. 13. 379 Vgl. Johann Gottfried Herder, Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen. In: Herder, Zerstreute Blätter, Erste Sammlung, Gotha 1785, S. 309– 346, hier S. 312 f.: »Man sahe, daß diese beyden Kräfte, die in der geistigen Welt das sind, was in der körperlichen Anziehung und Zurückstoßung seyn möchten, zur Erhaltung und Festhaltung des Weltalls gehören; und ich glaube, es war schon Empedokles, der Haß und Liebe zu Zeichnerinnen des Umrisses aller Geschöpfe machte: ›durch Haß, sagte er, werden die Dinge getrennt,
Vers 12
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schaft der Liebe zu einer letztlich form- und konturlosen Gestalt der Natur führen würde,³⁸⁰ begegnet auch Herder der Vorstellung einer grenzenlosen und unbedingten Liebe, da letztere für ihn »nie möglich [ist], als zwischen gegenseitigen freyen, consonen, aber nicht unisonen, geschweige identificirten Geschöpfen«³⁸¹. Hölderlin übernimmt diese von Herder postulierte innere Dialektik und sieht darin die prinzipielle Verfaßtheit der Liebe. Es bleibt zu diskutieren, ob dabei auch die von Marsilio Ficino entwickelte Trias »Beharrung, Hervorgang und Rückwendung«³⁸², wie er sie in seinem Kommentar zu Platons Symposion entwickelt,³⁸³ den Hintergrund der dialektischen Konzeption der Liebe bildet. Besonders Ulrich Gaier weist hier auf die Verbindung (neu)platonischen und idealistischen Denkens in der Idee eines »dreigestaltigen Eros«³⁸⁴ hin. Die ›unterschiedene Innigkeit‹ von Subjekt und Objekt als Liebe kann in Analogie zu Hölderlins Überlegungen zur ›tragischen Ode‹ nur in einer dialektischen Bewegung begriffen werden: Um die ›Liebe‹ zu denken und darzustellen bedarf es zunächst der Trennung des Objektiv-Subjektiven in Subjekt und Objekt. Werden beide daraufhin in ihrer Wechselwirkung gedacht, wendet sich das Denken reflexiv auf den Grund beider zurück, d.h. auf deren ursprüngliche Vermittlung in einer differenten Einheit.³⁸⁵ Auf die Empedokles-Ode bezogen ist die ›Liebe‹ im Rahmen der Konzeption einer ›poëtischen Individualität‹ und deren Bedeutung für ein intersubjektiv-
und jedes Einzelne bleibt was es ist; durch Liebe werden sie verbunden und gesellen sich zu einander‹ – so fern sie sich nämlich ihrer Natur nach, gesellen können: denn freylich auch über die Liebe, sagten die Griechen, herrscht das Schicksal; und Nothwendigkeit, die älteste der Gottheiten, ist mächtiger, als die Liebe.« 380 Vgl. Winnefeld, Die Philosophie des Empedokles, S. 16. 381 Herder, Liebe und Selbstheit, S. 346 f.; vgl. ebd., S. 344 f.: »Nachdem in einem Menschen sinnliche und geistige Freuden, Freundschaft und Liebe, Vaterzärtlichkeit und eigne Tugend wohlgeordnet und wohlgepaart sind, nach dem ist er für sich und andre glücklich. Unmöglich kann er also wie Meeresschleim mit allem zusammenfließen: unmöglich alles in gleichem Grade lieben, loben und gutheißen, oder jeden Staub in einen Sonnenstrahl verwandeln wollen, damit er doch auch das Staubkorn als einen Sonnenstral liebe. Er schadet damit dem Guten so sehr als dem Bösen, und verliehrt zuletzt ganz sein Urtheil und seinen Standpunkt. Wer nicht zurückstoßen kann, kann auch nicht anziehn: Beyde Kräfte sind nur Ein Pulsschlag der Seele.« 382 Gaier, Hölderlin, S. 141. 383 Vgl. Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, hg. und eingel. von Paul Richard Blum, Hamburg 2004. 384 Gaier, Hölderlin, S. 144. 385 Dies stellt eine starke Vergröberung der Hölderlinschen Dialektik dar, deren Bewegung sich in Die tragische Ode… über insgesamt sieben Schritte hinweg entwickelt. Es gilt an dieser Stelle lediglich auf die prinzipielle Verbindung der Liebeskonzeption mit Hölderlins transzendentaler Konzeption der Dichtung hinzuweisen.
194
Interpretation
dialogisches Denken zu verstehen. Der darin eröffnete Konflikt zwischen ›Liebe und Selbstheit‹ läßt sich gemäß Dieter Henrich in Analogie zu Hegels spekulativer Logik jedoch auch als Vermittlung der beiden Momente denken: »Die Beziehung auf sich muß so gedacht werden, daß sie zugleich den Gedanken einer Beziehung auf anderes einschließt, – und umgekehrt. […] Beide, Liebe und Selbstheit müssen zusammengedacht, aus ihrem Gegensatz herausgeholt werden«³⁸⁶. Der entscheidende Aspekt dieses Denkens ist darin zu sehen, daß es auch für Hegel die Liebe ist, »in der Gegensätze wie Subjekt und Objekt, Bestimmen und Bestimmtwerden in einem harmonischen Gleichgewicht gehalten sind«³⁸⁷. Diese Position ist besonders für die ›hemmende‹ und ›(zurück)haltende‹ Kraft der Liebe zu bedenken, wie sie auch in der Ode Lebenslauf verhandelt wird: »Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog / Schön ihn nieder. Das Laid beugt ihn gewaltiger;«³⁸⁸. Entgegen der prominenten Interpretation, wonach die ›Liebe‹ lediglich die »Selbstbeschränkung« und »Gegentendenz zum Streben nach einer Realisierung des Absoluten«³⁸⁹ benennt, ist sie wie im letzten Vers der Empedokles-Ode vielmehr diejenige Kraft, die einen Ausgleich der Gegensätze ermöglicht und so ›Schönheit‹ entstehen läßt.³⁹⁰ Nur in der ›Mäßigung‹ einer übertriebenen Subjektivität, die versucht, das Absolute durch sich und an sich selbst zu erreichen und damit Gefahr läuft, sich in Hybris zu verlieren, ist eine ›unterschiedene Innigkeit‹ im Denken und Sprechen zu realisieren. Hegels und Hölderlins Liebeskonzeption stehen damit in deutlicher Abgrenzung zu Fichtes Denken eines Einheisprinzips im Bewußtsein. ›Liebe‹ ist für beide nicht das »Princip der verfeinerten Selbstliebe, wo das Ich am Ende immer der lezte Zwek ist«³⁹¹.
386 Dieter Henrich, Hegel im Kontext, S. 15 f. Von hier aus läßt sich bereits die Dimension einer solchen Liebeskonzeption in der Reflexion auf den Ausgangspunkt der Ode erkennen: »Beides, so sehr es auch das jeweils andere ausschließt, gehört doch zueinander und macht erst ein ganzes Leben aus« (ebd., S. 16; Herv. v. ME). 387 Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn, München 2000, S. 178. 388 Hölderlin, FHA V, S. 472 389 Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 178. 390 Dies wendet sich gegen die »These […], daß die Liebe zwar eine Erscheinungsform des Seins ist, nicht aber ist sie geeignet, im Zustand der Trennungen die Vereinigung herbeizuführen« (Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 180). Gerade der Begriff ›Zustand‹ verfehlt Hölderlins Liebeskonzeption als einer dynamischen Wechselwirkung, die nicht in einer unterschiedslosen Einheit abstirbt. 391 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1989 ff., Bd. I/1, S. 101; vgl. Henrich, Hegel im Kontext, S. 21: »Ohnehin ist die Rede vom ›Ich‹ sinnvoll nur, wenn sie auf Selbstbewußtsein bezogen wird. Das aber ist einzig als Korrelat von Objektbewußtsein zu denken, – somit niemals als der gesuchte Einheitsgrund über allem Gegensatz.«
Vers 12
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Wie wichtig für Hölderlin die frühen Überlegungen Hegels zur ›Liebe‹ sind, zeigt sich in dessen Ausführungen zum Verhältnis von ›Leben‹ und ›Liebe‹, die mit Einschränkung eine abstrakte Verlaufsskizze der transzendentalen (Sprach-) Bewegung der Empedokles-Ode darstellen: [I]n ihr [der Liebe] findet sich das Leben selbst, als eine Verdopplung seiner selbst, und Einigkeit desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen, der unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und der Welt gegenüber, in der Entwicklung produziert die Reflexion immer mehr Entgegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion in völliger Objectlosigkeit aufhebt, dem Entgegengesetzten allen Charakter eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet. In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige.³⁹²
Die Setzung der »unentwickelten Einigkeit« in v. 1 mit den ersten beiden Worten »Das Leben« als Ausgangspunkt (des Sprechens) und zugleich Objekt der Suche führte in der Entwicklung der Reflexion auf diesen Anfang zurück zu ›immer mehr Entgegensetztem‹ und gleichzeitig zu einem Streben nach einer Vermittlung dieser Gegensätze in einer ›unterschiedenen Innigkeit‹. Im letzten Vers schließlich kommt das Prinzip zur Sprache, das den Zustand dieser besonderen Einheit des Getrennten nicht nur benennt, sondern zugleich ermöglicht. Nur in der ›Liebe‹ kann der Anfang als notwendig Gesetztes und der ›Fortgang als Rückgang in den Grund‹ begriffen werden, nur so »findet sich das Leben« selbst als in sich differente Einheit.³⁹³ Der wesentliche Unterschied zu Hegels Darlegung besteht darin, daß sich die Reflexion gerade nicht »in völliger Objectlosigkeit aufhebt«, sondern sich als eine komplexe und dynamische Wechselbestimmung erweist und in Form eines subjektiv-objektiven Objekt-Subjekts zur Darstellung kommt.³⁹⁴ Diese ›unterschiedene Innigkeit‹ der Liebe weicht damit von Hegels Definition des ›Wesens der Liebe‹ ab, das darin besteht, »das Bewußtsein seiner
392 Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, S. 245 f. 393 Dies zeigt die Gleichwertigkeit von ›Leben‹ und ›Liebe‹ in Hölderlins Denken, der keine Priorität des ›Lebens‹ bzw. des ›Geistes‹ und deren »reichere Struktur« annimmt, wie Dieter Henrich dies bei Hegel erkennt (vgl. Henrich, Hegel im Kontext, S. 27). 394 Diese doppelte Struktur, die sowohl die Verfaßtheit des Subjekts (als Subjekt-Objekt) wie des Objekts (als Objekt-Subjekt) umfaßt, führt damit zurück auf Ficinos Bestimmung der Liebe, da er sie die gesamte Wirklichkeit bestimmend denkt; vgl. Gaier, Hölderlin, S. 143: »Liebe ist Subjekt-Objekt par excellence. […] [W]ie bei Ficino ist Liebe der Name der den Kosmos durchwaltenden Energie, und ihre dialektisch entgegengesetzten und vereinigten Gestalten sind Naturgesetze und Gesetze für das menschliche Subjekt« (Herv. v. ME).
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Interpretation
selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen«³⁹⁵. Zu keinem Zeitpunkt, so kann man aus den Beobachtungen zum Verlauf der Ode schließen, ist für Hölderlin ein Selbstvergessen (oder Selbstvertauschen) in der Liebe möglich, will man ein »Übermaß der Innigkeit«³⁹⁶ vermeiden; vielmehr ist die Wechselseitigkeit ins Positive umzuwenden, sofern Liebe nur infolge der Freiheit und der darin bewahrten Selbstheit der Subjekte gedacht werden kann.³⁹⁷ Diese Überlegungen zur Dialektik der Liebe führen zu einem weiteren Motiv, das mehr oder minder wörtlich den bisherigen Verlauf der Ode bestimmte: das Motiv der ›Gabe‹. Die Liebe als Gabe von deren Logik her zu denken, ohne sich dabei unmittelbar auf die theologische Dimension der Liebe (als ›Gabe Gottes‹) zu beschränken, wurde vor allem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts diskutiert.³⁹⁸ Für die Empedokles-Ode ist besonders Jacques Derridas Postulat der prinzipiellen ›Unmöglichkeit‹ der Gabe heranzuziehen.³⁹⁹ Da die Gabe jede intentionale Handlung eines Subjekts transzendiert und weder logisch ableitbar noch zeitlich lokalisierbar ist, beschreibt sie für Derrida das Ereignis der différance, die Gleichursprünglichkeit und -rangigkeit des Gebens und Nehmens. So ist die Liebe, mit Jacques Lacan gesprochen, »die Gabe dessen, was man nicht hat«⁴⁰⁰ und was man wiederum erst mit dem und über den jeweils Anderen erhält. Auf die ›Logik‹ der Liebe übertragen artikuliert sich hier das eben ausgeführte dialektische Strukturmoment einer unvorgänglichen Wechselwirkung von Subjekt und Objekt. Die Liebe läßt keine Dominanz einer der beiden Seiten zu und unterläuft so jede Form subjektivistischer Verkennung – sowohl des Lebens wie der eigenen Selbstheit.
395 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1986, Bd. 1, S. 519. 396 Hölderlin, FHA XIII, S. 868. 397 Vgl. Henrich, Hegel im Kontext, S. 23 f.; vgl. weiterhin Schelling, Sämtliche Werke, Bd. I/7, S. 408: »Denn Liebe ist weder in der Indifferenz noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Sein bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere.« 398 Einen guten Überblick über diese vielseitige Diskussion bietet hier Kurt Wolf, Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 2006. 399 Vgl. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 29: »Die Gabe ist unmöglich, und nur als unmögliche kann sie möglich werden. […] Es gibt keine Möglichkeit der Gabe, die sich nicht als etwas präsentiert, das sich nicht präsentiert; sie ist das Unmögliche selbst.« 400 Jacques Lacan, Das Seminar IV. Die Objektbeziehung, Wien 2007, S. 144.
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Hielte die Liebe mich […] Mit der Selbstnennung des Ich durch das Wort »mich« wiederholt sich nun im letzten Vers die in v. 1 exponierte und problematisierte Relation des Subjekts zur Einheit von Objekt und Subjekt. Jedoch mit einem wichtigen Unterschied: Hatte dort das Du infolge seiner Suchbewegung eine künstliche (und letztlich unmögliche) Trennung vom ›Leben‹ vollzogen, indem es sich der allumfassenden Einheit gegenüber setzte und sie damit zu einem Objekt degradierte, artikuliert sich hier die dazu invertierte, reflektierte Haltung des Subjekts. Das poetische Ich nennt sich (aktiv) als (passiven) Teil eines Grundprinzips, das auf der Gleichwertigkeit von Differentem beruht. Die Trennung von Ich und ›der Liebe‹ ist eine, die über das erste Wort des Verses »Hielte« zurückgenommen wird, bevor sie realisiert ist. Das Ich befindet sich dabei nicht nur ›in‹ der Liebe, sondern ist zugleich deren Konstituens – einerseits wäre das Ich ohne die Liebe nicht Subjekt (als in dieser Beziehung zu einem Objekt stehend), andererseits wäre die Liebe nicht ohne das Subjekt, das sie als ein notwendiges Moment ihrer selbst begründet. Dies bedeutet schließlich die notwendige Erweiterung des am Ende von v. 11 genannten telos der Nachfolge »in die Tiefe« als einer dynamischen Bewegung der Selbstvermittlung. Dort relativierte das poetische Ich zwar bereits seine eigene Souveränität im Sprechen und Denken zugunsten der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, doch blieb letztere auf den Selbstbezug des Subjekts reduziert. Die Veränderung von »in die Tiefe« zur Subjekt-Objekt-Relation der ›Liebe‹ formuliert den Wechsel in die unvorgängige Intersubjektivität der Selbstvermittlung. Nicht in der subjektimmanenten Bewegung, sondern allein in der Bezugnahme auf ein anderes Subjekt (als Objekt) ist das subjektiv-objektive Objekt-Subjekt zu realisieren. Noch immer – und dies kann als letzter ›Mangel der Darstellung‹ und damit des Denkens bewertet werden – steht dabei jedoch die Nennung dieses Gegenüber aus, soll sie nicht nur (unausgesprochen) in der Rückwendung auf das in v. 9 und v. 10 Geäußerte bestehen. Auf den konkreten Versverlauf bezogen ist nun aber zu sehen, daß das Ich die Liebe bis zu dieser Stelle als notwendige Bedingung eben dieser Nachfolge »in die Tiefe« nennt: ›Hielte die Liebe mich, würde ich folgen wollen bzw. können‹. Damit wird erneut die anfängliche Erwartung einer ausschließlich hemmenden Kraft der Liebe unterlaufen und demgegenüber ihre bewahrende Funktion betont. Erst mit der nachgestellten Negation ändert sich schließlich die Kausalität der Rede: Hielte die Liebe mich nicht, […] Das Wort »nicht« am Ende des ersten Kolons invertiert den gesamten logischen Zusammenhang der Verse 11 und 12. Die ›Liebe‹ ist nun nicht mehr nur die Bedin-
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gung der Nachfolge, sondern sie ist das Prinzip, das dieser zugleich entgegensteht und das Ich davor zurückhält und schützt: ›Wenn mich die Liebe nicht halten würde, würde ich in die Tiefe folgen wollen/können.‹⁴⁰¹ Die Bewahrung des poetischen Ich durch die Liebe besteht in der oben genannten Vermeidung einer subjektimmanenten Selbstvermittlung und der damit verbundenen Verkennung der ›unterschiedenen Innigkeit‹. In diesem Sinn schließt die zuletzt genannte präventive Kraft der Liebe jedoch nicht aus, zugleich Bedingung der Nachfolge zu sein – beide müssen vielmehr dialektisch aufeinander bezogen werden. Die Liebe ist movens und telos der transzendentalen Bewegung, sie stellt einerseits die Beziehung zum Objekt her und bestimmt diese andererseits im Ausgleich von Selbstheit und Entäußerung. Besondere Beachtung muß nun auch dem Komma zukommen, das – wie zuvor das am Ende von v. 11 – die Unabgeschlossenheit des Sprechens und Denkens markiert; dies jedoch in einer besonderen Weise, die den syntaktischen Zusammenhang der Äußerung in v. 11 und v. 12 irritiert und die Erwartung einer nur linear-kausallogischen Rede unterläuft. Das Komma nach »nicht« kann, da nach ihm der Satz von v. 11 weitergeführt wird, auch als komplementäres Interpunktionszeichen einer Parenthese gelesen werden, die mit dem Komma nach »in die Tiefe« eröffnet wird. Wie kann man sich jedoch denken, daß die Liebe als movens und telos der Bewegung lediglich den Status eines Einschubs besitzt und nicht in ein gleichwertiges Bedingungsverhältnis der Kausalität gesetzt wird? Handelt es sich bei der Nennung der Liebe lediglich um eine Unterbrechung der Rede, in der das Ich etwas nachträgt, was zuvor lediglich unausgesprochen war? Daß der Satz zumindest auch als Parenthese gelesen werden kann, wird dann verständlich, wenn man sich an die dialogische Grundstruktur der Ode erinnert, die mit dem Einsatz von v. 11 zugunsten einer monologischen Selbstäußerung des Ich in den Hintergrund trat. Das Ich wird sich demnach dieses Mangels des Gegenüber bewußt (und damit auch dem Defizit im Gesagten gegenüber dem Du, das dadurch erklärungs- und ergänzungsbedürftig wird), reagiert sprachlich
401 Eine vergleichbare restriktiv-präventive Funktion schreibt Hölderlin der Liebe in den letzten beiden Versen von Die Eichbäume zu: »Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich, / Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd’ ich unter euch wohnen« (Hölderlin, FHA III, S. 51). Die Entgegensetzung von Streben und Zurückgehalten-Werden wird jedoch zumindest zum Teil relativiert, wenn man den (auch) konjunktivischen Charakter der Rede stark macht, der das Wort »möcht’« aus v. 11 einschließt. Wenn sich das poetische Ich, wie sich jetzt zeigt, so gehalten weiß, daß es auch das Folgen-Mögen in den Konjunktiv setzt, hebt sich der reine Gegensatz und das Gespaltensein des Ich in diesem Gegensatz auf.
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darauf in Form der Parenthese und restituiert so die ursprüngliche Gesprächssituation.⁴⁰² Damit ist zwar der Rückbezug auf das in v. 11 Geäußerte geleistet, jedoch nicht die Bedeutung des zweiten Kolons des Verses geklärt. Durch den besonderen syntaktischen Bau wird der Erwartungshorizont aufgespannt, daß mit den beiden letzten Worten der Ode zugleich die letzte verbleibende Einseitigkeit der Rede ausgeglichen wird und das Du, das den Anlaß des Selbstvermittlungsgeschehens bildete, als Teil der ›unterschiedenen Innigkeit‹ zur Sprache kommt.⁴⁰³ […] dem Helden. Das letzte Kolon hat jedoch nicht nur die Restitution der Intersubjektivität zur Aufgabe, sondern muß zugleich erweisen, warum auf den im Titel genannten ›Empedokles‹ hin eine Dialogsituation des poetischen Ich mit einem Du eröffnet wurde, die eine transzendentale Selbstvermittlung des Subjekts⁴⁰⁴ möglich macht(e). Auffallend ist dabei, daß sich die erwartete direkte Kommunikation, die bis zu v. 10 nahezu durchgehend mit der Anrede ›Du‹ präsent war, nicht einstellt. Das poetische Ich bleibt weiterhin vom Gegenüber abgewendet, wenn es vom ›Helden‹ spricht. Umso mehr tritt dadurch die zuletzt nur noch im Hintergrund stehende Deutung hervor, nach der die gesamte Dialogsituation der Ode letztlich
402 Vgl. Metzler-Lexikon Sprache, S. 510: »Im Zusammenhang mit der Erforschung der gesprochenen Sprache wird eine primär syntakt. Zuordnung kritisiert und gefordert, P.[arenthesen] zusammen mit Ellipsen und Anakoluthen im Rahmen einer Grammatik des Dialogs auch als aktive Sprecherleistungen bzw. Handlungsmuster zu beschreiben, die anzeigen, daß Sprecher unter dem Einfluß von Hörerreaktionen während des Redens ihre Planung ändern, etwa weil sie merken, daß sie diesen ohne bestimmte Zusatzinformationen überfordern oder dieser sie nicht versteht oder gerade Gesagtes mißbilligt«. 403 Vgl. hier noch einmal Hölderlins Äußerung in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… zur Notwendigkeit dieses frei gewählten Objekts für die Selbstvermittlung des Subjekts: »Alles kommt also darauf an, daß das Ich nicht blos mit seiner subjectiven Natur, von der es nicht abstrahiren kann ohne sich aufzuheben, in Wechselwirkung bleibe, sondern daß es sich mit Freiheit ein Object wähle, von dem es, wenn es will abstrahieren kann, um von diesem durchaus angemessen bestimmt zu werden und es zu bestimmen. / Hierin liegt die Möglichkeit, daß das Ich im harmonischentgegengesezten Leben als Einheit, und das Harmonisch-Entgegengesezte, als Einheit erkennbar werde im Ich in reiner (poëtischer) Individualität. Zur freien Individualität wird, zur Einheit und Identität für sich selbst gelangt das reine subjective Leben erst durch die Wahl seines Gegenstands« (Hölderlin, FHA XIV, S. 313 f.). 404 Ich lasse das ›Subjekt‹ an dieser Stelle bewußt unbestimmt, da es auf allen Ebenen des Textes zu reflektieren ist und das poetische Ich, den Autor und den Rezipienten benennen kann.
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(auch) als ein Selbstgespräch zu lesen ist und die Anrede des Gegenüber (nur) auf das poetische Ich zurückweist. »[D]em Helden« stellt jedoch in beiden möglichen Deutungen dieser dialogischen Verfaßtheit ein neues Sprechen dar, da keine Gerichtetheit der Rede mehr wahrnehmbar ist. Ganz gleich, auf wen sich das Sprechen bisher bezog – auf Empedokles, auf ein Du oder auf das Ich selbst –, ist es befremdlich, daß sich die Formulierung »dem Helden« nun vermeintlich auf einen (im und durch das Gespräch) Abwesenden beziehen soll; noch befremdlicher wäre es, wenn sie keinen Bezug zu einem der genannten Gegenüber hätte. Noch bevor die genaue Bedeutung des Wortes ›Held‹ geklärt ist, die es innerhalb der Ode besitzt, ergeben sich aufgrund dieser Irritation fünf verschiedene Lesarten: Erstens kann ›Held‹ den ›Protagonisten‹ bezeichnen. Entweder erfährt dann das Du keine weitere inhaltliche Bestimmung, oder die Bezeichnung eröffnet den gesamten dichtungstheoretischen Diskurs über die Funktion und den Charakter des ›tragischen Helden‹ innerhalb der Tragödiendichtung.⁴⁰⁵ Zweitens kann das Ende der Ode so verstanden werden, daß Empedokles bzw. das nicht weiter bestimmte Du für das poetische Ich den Idealtypus des ›Helden‹ oder gar den im strengen Sinne einzigen ›Helden‹ überhaupt repräsentiert.⁴⁰⁶
405 Hier stünden besonders die beiden Positionen von Aristoteles und Hegel bezüglich der Schuld-Frage im Vordergrund. Für Aristoteles ist der ›tragische Held‹ derjenige, »der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers [harmatia]« (Aristoteles [1982], S. 39). Hegel betont dagegen – auch in Abgrenzung zu Schelling, der im Tragischen noch immer die ›Bestrafung‹ des subjektiven Strebens nach Freiheit erkennt (vgl. Schelling, Sämtliche Werke, Bd. I/5, S. 697) –, bei »all diesen tragischen Konflikten [muß] vornehmlich die falsche Vorstellung von Schuld und Unschuld beiseite« gelassen werden: Der tragische Held steht jenseits der Frage nach alternativen Handlungsoptionen, denn »das ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, S. 545 f.). Ohne an dieser Stelle eine Interpretation ausgehend von den später verfaßten Überlegungen im Grund zum Empedokles leisten zu wollen, läßt sich Hölderlins Position hier tendenziell der Hegels zuordnen: Empedokles wird nicht für eine Tat oder eine moralische Schuld bestraft, sondern »das Schiksaal seiner Zeit erforderte […] ein Opfer, wo der ganze Mensch, wo das wirklich und sichtbar wird, worinn das Schiksaal seiner Zeit sich aufzulösen scheint« (Hölderlin, FHA XIII, S. 873). 406 Sieht man in der Äußerung des poetischen Ich auch die Position Hölderlins vertreten, kann diese Deutung jedoch sofort relativiert werden: »Mich freut es, daß du von Achill sprachst. Er ist mein Liebling unter den Helden, so stark und zart, die gelungenste, und vergänglichste Blüte der Heroenwelt« (Hölderlin, FHA XIV, S. 81); »Am meisten aber lieb’ ich und bewundere den Dichter aller Dichter um seines Achilles willen. […] Nimm die alten Herrn Agamemnon und Ulysses und Nestor mit ihrer Weisheit und Thorheit, nimm den Lärmer Diomed, den blindtobenden Ajax,
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Nach der dritten Lesart ist der Angesprochene lediglich ein Held unter anderen. Demnach wäre Empedokles eine Manifestation bzw. Exemplifikation der übergeordneten Idee ›Held‹, da sich alle Aussagen des Ich über ihn als idealtypische Charakteristika lesen lassen. Das Individuum würde so für ein Allgemeines stehen⁴⁰⁷ und damit neben der transzendentalen Selbstvermittlung zugleich eine Erkenntnis dessen ermöglichen, was generell unter einem ›Helden‹ zu denken ist.⁴⁰⁸ In der vierten Deutung wendet sich die Rede tatsächlich vom Gegenüber ab, da die Nennung ›Held‹ nicht notwendig auf das Du bezogen werden muß. Die Denk- und Sprachbewegung endete also nicht in der vollständigen Vermittlung mit dem gesetzten Dialogpartner, sondern führte das poetische Ich von diesem weg zum ›Helden‹. Die fünfte Lesart greift schließlich die Diskussion wieder auf, die in v. 4 eröffnet wurde und weite Teile der zweiten Strophe bestimmte. So hat man kein Kriterium zu entscheiden, ob es sich bei der Bezeichnung ›Held‹ um eine eigentliche oder uneigentliche Rede handelt, d.h. ob die Formulierung nicht nur eine Metapher ist. Dies schließt letztlich auch die Frage ein, wodurch sich eine solche Rede motiviert: Kann etwas bildlich ausgesprochen werden, was sich nicht auf den Begriff bringen läßt? Oder besitzt das uneigentliche Sprechen gar einen ironischkarikierenden Charakter und fällt es in eine quasi Horazische Spottrede zurück, die für Hölderlin den Anfang seiner Beschäftigung mit Empedokles bildete und Anlaß zu einer poetischen ›Korrektur‹ des überlieferten Bildes gab?⁴⁰⁹
und halte sie gegen den genialischen, allgewaltigen, melancholischzärtlichen Göttersohn, den Achill, dieses enfant gaté der Natur, […] und du wirst ein Wunder der Kunst in Achilles Karakter finden« (ebd.). 407 Dies ließe sich mit Hölderlins Äußerung im Grund zum Empedokles verbinden, wo er Empedokles eine »ungewöhnliche Tendenz zur Allgemeinheit« (Hölderlin, FHA XIII, S. 873) zuspricht. Gleichzeitig ist für Hölderlin damit die Notwendigkeit der »idealischen That« des Opfers gesetzt, das »deswegen untergeht und untergehen muß, [...] weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlöre, und (was noch schlimmer, als alle großen Bewegungen des Schiksaals und allein unmöglich ist) das Leben einer Welt in einer Einzelnheit abstürbe« (ebd.). 408 Hölderlin selbst gibt im Grund zum Empedokles abstrakte Kriterien für ein solches Denken an, wenn er davon spricht, daß, wer zum »Helden geboren, […] nicht sowohl geneigt [ist], die Extreme zu vereinigen, als sie zu bändigen, und ihre Wechselwirkung an ein Bleibendes und Vestes zu knüpfen, das zwischen sie gestellt ist, und jedes in seiner Gränze hält, indem es jedes sich zu eigen macht. Seine Tugend ist der Verstand, seine Göttin die Nothwendigkeit« (Hölderlin, FHA XIII, S. 877). 409 Vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 772: »Gestern war ich auf dem Aetna droben. Da fiel der große Sizilianer mir ein, der einst des Stundenzählens satt, vertraut mit der Seele der Welt, in seiner kühnen Lebenslust sich da hinabwarf in die herrlichen Flammen, denn der kalte Dichter hätte
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Erst die Etymologie des Wortes ›Held‹ macht verständlich, wie es sich in den Verlauf der Rede fügt. Der griechische Begriff heros steht dem lateinischen servare nahe.⁴¹⁰ Der ›Held‹ wäre somit der ›Bewahrende‹ und ›Schützende‹, ein Individuum, das eine der zentralen Eigenschaften der unmittelbar zuvor thematisierten ›Liebe‹ verkörpert. Die etymologische Dimension des Wortes und seine Bedeutung für den Zusammenhang der Rede innerhalb des Verses ist jedoch weiter als dieser wortgeschichtlich ›korrekte‹ Kontext. In Platons Kratylos findet sich eine (philologisch letztlich haltlose) Herleitung des Wortes ›Held‹, die die im Versverlauf gesetzte Nähe zur ›Liebe‹ mythologisch bekräftigt: Sokrates zufolge verdankt jeder heros seine Existenz dem eros, der Liebe.⁴¹¹ Die Rede in v. 12 wiederholt diese Genealogie, da der ›Held‹ wortlogisch aus der ›Liebe‹ hervorgeht. Diese Interpretation eröffnet zugleich die Diskussion, ob die Vorstellungen über den antiken heros auch auf den ›Helden‹ der Ode übertragbar sind. Handelt es sich auch bei dem so Bezeichneten um einen ›Halbgott‹?⁴¹² Nachdem das Du in v. 7 als ›Dichter‹ bezeichnet wird, ist auch der Zusammenhang von ›Dichter‹ und ›Held‹ zu analysieren. Die Spannung zwischen den beiden Worte besteht darin, daß sie die beiden fundamentalen Lebensformen des Menschen kontrastieren. Der Held ist Repräsentant der vita activa, wohingegen der Dichter für die vita contemplativa steht. Es genügt jedoch nicht, die beiden aufeinander zu beziehen, weil der Dichter seinen ›Stoff‹ nur den Heldentaten, und der Held seinen Ruhm nur dem Preisgesang der Poeten verdankt.⁴¹³ Der poe-
müssen am Feuer sich wärmen, sagt’ ein Spötter ihm nach. O wie gerne hätt ich solchen Spott auf mich geladen! Aber man muß sich höher achten, denn ich mich achte, um so ungerufen der Natur ans Herz zu fliegen, oder wie du es sonst noch heißen magst, denn wirklich! wie ich jetzt bin, hab ich keinen Namen für die Dinge und es ist mir alles ungewiß«. 410 Vgl. Hjalmar Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 1960–1972, Bd. 1, S. 614. 411 Vgl. Platon, Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider hg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt, Hamburg 2004, Bd. 2, S. 62: »[Hermogenes.] Und nun der Heros. Was mag er sein? / Sokrates. Das ist nicht allzuschwer zu erkennen. Denn ihr Name hat nur eine kleine Verschiebung erfahren und weist auf ihre Abkunft von Eros hin. […] Weißt Du nicht, daß die Heroen Halbgötter sind? […] Dann wird Dir klar werden, daß von dem Namen des Eros, des Schöpfers der Heroen, nur ein klein wenig abgewichen worden ist der Aussprache wegen.« 412 Einen Hinweis darauf, daß Hölderlin diese Frage im Rahmen der Empedokles-Thematik poetisch reflektiert, erhält man in den späteren Dramenentwürfen, in denen Empedokles sich selbst einen Gott nennt und auch vom Volk als ein solcher verehrt wird; vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 702 f., 704, 705, 713. 413 Vgl. Thorsten Valk, Das dunkle Licht der Dichtung. Zur Kunst des Erinnerns in Friedrich Hölderlins Hymne Andenken. In: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein, hg. von Olaf Hildebrand, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 98–113, hier S. 106.
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tologische Wert dieser Relation – insbesondere für die Empedokles-Ode – wird verständlich, wenn man das tertium der beiden Daseinsweisen reflektiert. Zu fragen ist, worin für das poetische Ich die ›Doppelexistenz‹ des Du als ›Dichter‹ und ›Held‹ begründet ist. Einer Passage aus Goethes Torquato Tasso folgend kann das Gemeinsame von Dichter und Held im »gleichen Streben« gesehen werden.⁴¹⁴ Aus den bisherigen Beobachtungen zur Ode und den Äußerungen in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… und im Grund zum Empedokles kann das ›Streben‹ des Dichters als die Vermittlung der Gegensätze verstanden werden, mit dem Ziel, sie als ›Harmonischentgegengesetzte‹ bzw. in ›unterschiedener Innigkeit‹ stehend zu begreifen und darzustellen. Der Held entspricht dem Dichter darin, daß er »nicht sowohl geneigt [ist], die Extreme zu vereinigen, als sie zu bändigen, und ihre Wechselwirkung an ein Bleibendes und Vestes zu knüpfen, das zwischen sie gestellt ist, und jedes in seiner Gränze hält, indem es jedes sich zu eigen macht«⁴¹⁵. Der Unterschied der beiden Positionen liegt darin, daß diese Vermittlung der Gegensätze für den Dichter nicht im Subjekt und durch es allein stattfinden darf. Es gilt nun, das Verhältnis von Dichter und Held und ihren Bezug zur Liebe genauer zu bestimmen. Denn die Empedokles-Ode setzt sich nicht nur von der im Grund zum Empedokles vertretenen Position ab, wonach weder die Dichtung noch die heroische Tat für die ›Auflösung des Zwistes‹ der Gegensätze ausreichend sind, sondern nur das Opfer.⁴¹⁶ Zudem pointieren die letzten beiden Verse der Ode auch eine Differenz zu der im Hyperion thematisierten Relation von Dichter, Held und Liebe, in dem die Dichtung die höchste Lebensweise der drei genannt wird.⁴¹⁷
414 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz, Hamburg 1948–60, Bd. 5, S. 88 (1. Akt, 3. Auftritt): »[Tasso:] O säh ich die Heroen, die Poeten / Der alten Zeit um diesen Quell versammelt! / O säh ich hier sie immer unzertrennlich, / Wie sie im Leben fest verbunden waren! / So bindet der Magnet durch seine Kraft / Das Eisen mit dem Eisen fest zusammen, / Wie gleiches Streben Held und Dichter bindet.« 415 Hölderlin, FHA XIII, S. 877. 416 Vgl. Hölderlin, FHA XIII, S. 872: »[D]ie gewaltigen Extreme, in denen er erwuchs, forderten nicht Gesang, […] das Schiksaal der Zeit erforderte auch nicht eigentliche That, […] es erforderte ein Opfer«. 417 Vgl. Hölderlin, FHA XI, S. 768: »Dir ist dein Lorbeer nicht gereift und deine Myrthen verblühten, denn Priester sollst du seyn der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon.« Der Lorbeer ist hier eine Auszeichnung für den Helden, die Myrten ein Symbol für die Liebe, weil sie als Brautschmuck dienen. Die Überwindung von Liebe und Tat durch die Dichtung wird an anderer Stelle sogar mit einer konkreten Heilserwartung verbunden: »Dich wird kein Lorbeer trösten und kein Myrthenkranz; der Olymp wirds, der lebendige, gegenwärtige, der ewig jugendlich um alle Sinne dir blüht« (ebd., S. 766).
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Demgegenüber formuliert die Rede in v. 11 und v. 12 ein komplexeres Verhältnis der drei Momente zueinander. Einerseits kann der Versverlauf wie folgt paraphrasiert werden: ›Ich würde dem Helden (auch mit dem eigenen Sprechen) folgen können bzw. wollen (und damit selbst zum Held werden), wenn mich die Liebe nicht halten würde‹.⁴¹⁸ So ist die Liebe jedoch wiederum nur eine hemmende Kraft gegenüber der angestrebten Selbstverwirklichung. Für die Kritik an der ›idealischen Tat‹ von Empedokles ist diese Deutung aber zu invertieren: Die Liebe stellt die Bedingung dar, daß eine andere Form der Selbstvermittlung und des Ausgleichs der Gegensätze möglich ist als in einer nur subjektiven Handlung. Und diese andere Form ist – so kann man aus den bisherigen Beobachtungen der Interpretation schließen – die Dichtung, da sie in gleich mehreren Aspekten eine Wechselbestimmung von Subjekt und Objekt darstellt: in der Relation rein subjektiven Sprechens aufgrund eines notwendig und zugleich frei gesetzten Objekts, in der Spannung zwischen der Intention des sich äußernden Ich und der Eigenständigkeit und -wertigkeit des Geäußerten, im Konflikt zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede, etc.⁴¹⁹ Da die Beziehung zwischen Dichter, Held und Liebe in der Empedokles-Ode nur durch die Poetizität der Rede verständlich wird, muß die Interpretation noch einmal auf die besondere Stellung des letzten Kolons in v. 12 und dessen Bedeutung für den Versverlauf eingehen. Eine methodische Maxime der bisherigen Untersuchung war, jeden Vers nicht nur in seiner Abhängigkeit und Relation zu den anderen zu begreifen, sondern ihn zugleich in seiner Einheit für sich zu reflektieren. So konnten bisher zwei Aspekte herausgestellt werden, die von einer immanenten Logik des Verses Zeugnis geben: die Einseitigkeit subjektiver Rede in v. 12, die durch das letzte Kolon ausgeglichen wird, sowie die wortlogische Entwicklung der Rede, die den Heros als Nachkommen des Eros verständlich werden läßt. Allein die syntaktisch-grammatische Ebene des Verses blieb bislang unberücksichtigt, da sich das Kolon »dem Helden« als Fortsetzung des Hauptsatzes von v. 11 lesen läßt. Es gibt über die genannten Bezüge der beiden Kola in v. 12 hinaus noch einen weiteren, der eine zusätzliche Deutung ermöglicht und so die Komplexität der Rede sowie die Gesamtanlage der Ode erfaßt. Bislang blieb ungeklärt, warum gerade der ›Held‹ das Ende der Denk- und Sprechbewegung bildet und warum er damit auch das telos dieser Bewegung
418 Eine Parallelstelle, die dieses subjektive Streben des Dichters als Nachfolge eines Helden beschreibt, findet sich in der dritten Strophe von Hölderlins Die Dioskuren: »So aber er es will, diß Eine doch / Wohin ers wollte, wagt’ ich mein Saitenspiel / Samt dem Gesange folgt ich, selbst ins / Dunkel der Tapferen ihm hinunter.« (Hölderlin, FHA V, S. 678). 419 Vgl. hierzu vor allem Hölderlins Überlegungen zur ›Poetik des Erinnerns‹, S. 115–121.
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repräsentiert. Kann die Ode tatsächlich in einer bloßen Gegenüberstellung des Helden und des poetischen Ich enden, also einer Differenz von Subjekt und Objekt? Ist gemäß der Entwicklungslogik der Rede nicht zu erwarten, daß eine Vermittlung auch dieses letzten Gegensatzes in der Sprache statthat? Es ist daher zu untersuchen, ob der syntaktische Bau der letzten beiden Verse nicht eine quasi zeugmatische Struktur aufweist, d.h. ob das letzte Kolon auch auf das erste von v. 12 bezogen werden kann, und nicht nur auf v. 11. Dies führt zu einer bislang unberücksichtigten Lesart: Das poetische Ich entwirft im Blick auf den Helden nicht nur eine ›potentielle‹ Nachfolge, die durch die Liebe gehemmt und gehalten wird, sondern es stellt sich zugleich in eine liebende Beziehung zu ›dem Helden‹. Diese Lesart gewinnt an Plausibilität, wenn man den Kasus von »dem Helden« berücksichtigt. Wie die Interpretation zeigte, besitzt der Dativ an mehreren Stellen der Ode eine entscheidende Funktion, die vornehmlich im Motiv der ›Gabe‹ Ausdruck findet. Die Dativkonstruktion »dem Helden« greift dieses Motiv in besonderer Weise auf und rückt die Aussage eng an die zuvor thematisierte Liebe. So kann das letzte Kolon als eine ›Zu-Eignung‹ an den Helden gelesen werden, als eine besondere sprachliche Handlung, die das Unausgesprochene und unnennbar Unmögliche der Gabe reflektiert und in sich dialektisch zum Ausdruck bringt. In der ›Zueignung‹ vollzieht sich nicht nur eine ›Widmung‹ und ›Hingabe‹ des poetischen Ich und seines Sprechens, sondern zugleich eine ›Aneignung‹ und Integration des Helden in die Liebesbeziehung.⁴²⁰ Entscheidend ist, daß in dieser doppelten ›Eignung‹ Subjekt wie Objekt bewahrt und gleichzeitig wechselseitig aufeinander bezogen werden. Im Moment der Zueignung wird nun die komplexe Relation des poetischen Ich zum Helden verständlich, die sich bisher als eine unüberbrückbare Differenz zeigte. Da das poetische Ich sein Sprechen (und damit sich selbst) dem Helden widmet, wird dieser als dessen movens und zugleich telos verständlich. Das Ende kehrt so zum Anfang, dem Titel der Ode zurück: es nennt ›Empedokles‹ einen ›Helden‹. Ihm nachzufolgen, motivierte die Selbstvermittlung in der vollzogenen Sprech- und Denkbewegung. Zugleich ist es allein die Liebe zum Helden, die ihn erinnernd in die Präsenz der Rede bringt und ihn damit über seine temporäre Tat und über seinen Tod hinaus überdauern läßt.
420 Vgl. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1747: »eigen machen, als ein Eigenthum in Besitz nehmen, oder geben«.
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Zur Metrik von v. 12 Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden. 1221221212 Folgt man dem klassischen Schema der alkäischen Ode, so ist der Vers aus zwei Daktylen und zwei Trochäen aufgebaut. Ungeachtet der sprachlichen Realisierung des Verses ist zu überlegen, ob nicht die doppelte Spiegelung der beiden zentralen Versfüße der Ode auch formal den angestrebten Ausgleich der Gegensätze behauptet. In der herkömmlichen Gliederung wird eine bereits in der Interpretation diskutierte Lesart der ersten Vershälfte sichtbar: Hielte die Liebe mich 122122 Das Versmaß unterbricht die Rede an der Stelle, an der ›die Liebe‹ als die Bedingung der Nachfolge verstanden werden kann. Zugleich gewährt diese Strukturierung eine völlig neue Lesart, da die Zäsur des Verses nicht mehr durch das Komma gesetzt, sondern durch den metrischen Wechsel von Daktylen zu Trochäen motiviert ist: Hielte die Liebe mich | nicht(,) dem Helden. 122122p1212 Das als Parenthese lesbare erste Kolon des Verses wird metrisch um eine Silbe verkürzt, was eine komplette Sinnverschiebung zufolge hat. Denn zieht man nun die beiden Teile des Hauptsatzes zusammen, ergibt sich eine völlig neue Bedeutung der Rede. Deren Einheit wird durch das regelmäßige alternierende Versmaß verstärkt: Und folgen möcht’ ich in die Tiefe nicht dem Helden 2121212121212 Der Satz, der sich über die beiden Verse erstreckt, ist nun nicht mehr Ausdruck der potentiellen Nachfolge, sondern deren Negation: dem Helden will/kann (das Ich) nicht folgen. Diese Invertierung des Sinns schließt auch die erste Hälfte von v. 12 ein: Die Liebe wird zur Bedingung, nicht zu folgen. Angesichts des Konjunktivs bedeutet dies im Umkehrschluß: ›Wenn die Liebe mich nicht hält, will bzw. kann ich dem Helden folgen‹. In der Metrik wird so noch einmal das permanente Schwanken der Rede in jedem ihrer Entwicklungsschritte betont, und damit auch
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die komplexe und (im positiven Sinn) uneindeutige Haltung des Subjekts gegenüber dem eigenen Sprechen. Diese Analyse gibt jedoch wiederum nur die strukturelle Seite der Metrik wieder und zeigt die komplexe Auseinandersetzung mit dem abstrakten Schema. Wie sich bisher zeigte, muß das Versmaß auch in seiner Prozessualität reflektiert werden. Folgt man der sprachlichen Gliederung des Verses, weicht die Metrik vom klassischen Schema ab: Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden. 1221221p212 Durch das Komma weist der Vers einen alternativen metrischen Aufbau gegenüber der alkäischen Strophenform auf und läßt zwei ungleich große, in ihrer Struktur jedoch identische Einheiten entstehen: Beide metrischen Kola sind je für sich betrachtet spiegelsymmetrisch. Bezieht man sie aufeinander, können sie als komplementär angesehen werden.⁴²¹ Man kann dies als Ausdruck der doppelten Dialektik des subjektiv-objektiven Objekt-Subjekts lesen, das sich als telos der Rede am Ende der Ode zeigt: Zum einen sind beide metrischen Einheiten in sich reflexiv und gewinnen so über die Selbstvermittlung ihre Identität, zum anderen ist das Versmaß des gesamten Verses in seiner Einheit nur denkbar in der Wechselwirkung der beiden kontrastiven Strukturen. Wie sehr diese Vermittlung der Gegensätze in der formalen Gestalt des Verses Ausdruck findet, wird umso deutlicher, je mehr man sich auf die Feinstruktur der Metrik einläßt. So zeigt sich, daß sich der Amphibrachys des zweiten Kolons auch im Zentrum der ersten Spiegelsymmetrie wiederfindet: 1221221p212 Dadurch wird die Aufmerksamkeit auch auf die beiden übrigen Versfüße gelenkt: den Trochäus und den Jambus, die den Amphibrachys einrahmen: 1221221p212
421 Dem bestimmenden Formprinzip der ersten Vershälfte, die ihre Einheit über der Dominanz der betonten Silben an Anfang, Mitte und Ende gewinnt, steht eine metrische Figur gegenüber, die ihren Rahmen in unbetonten Silben besitzt.
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Diese Konstellation läßt sich nun so deuten, daß der mit Trochäus und Jambus gesetzte Gegensatz durch die Liebe vermittelt und zu einer Einheit gebracht wird. Metrisch gesehen ist es ein Choriambus (1 2 2 1), der durch einen Amphibrachys in seine Bestandteile differenziert wird; gleichzeitig bezieht der Amphibrachys dessen Momente aufeinander. Die Liebe ist nun aber keine unabhängige Mittlerin der gegensätzlichen Pole, sondern ist nur durch den Gegensatz ›Medium‹. Das Für-Sich-Sein des Amphibrachys (infolge des Bezugs auf den Gegensatz) wird daraufhin in der zweiten Vershälfte (»dem Helden«) als An-Sich-Sein reflektiert und abstrahiert. Dieses Verweisspiel des Amphibrachys beschränkt sich jedoch nicht auf v. 12. So besitzt auch die Anrede »o Dichter« in v. 7 diesen Versfuß, was noch einmal die enge Verbindung von ›Dichter‹ und ›Held‹ unterstreicht, die am Ende von v. 12 als komplexe Relation diskutiert wird. Diese Beziehung kann, folgt man der Metrik, ebenfalls als ›Liebe‹ verstanden werden. Zuletzt gilt die Aufmerksamkeit einem Phänomen, das zwar nicht in den Bereich der Metrik fällt, jedoch als formale Besonderheit eine singuläre Stellung innerhalb der Ode einnimmt. Denn der bereits auf verschiedenen Ebenen des Textes thematisierte Ausgleich der Gegensätze findet auch phonetisch Ausdruck. So zeigen die Vokale des letzten Verses eine auffällige Abfolge: Hielte die Liebe mich nicht dem Helden. Zum einen besitzt die Rede mit und nur zwei Vokale; zum anderen ist ihre Anordnung und Kombination sprechend. Wird die erste Vershälfte maßgeblich vom Digraph dominiert, treten die beiden Vokale in der zweiten Hälfte nur noch vereinzelt und noch dazu gruppiert (i–i–e–e–e) auf. Auch lautlich zeigt sich, daß die Liebe () nur möglich ist, wenn das poetische Ich () und der ihm gegenüberstehende Held () in ihrer ›unterschiedenen Innigkeit‹ gedacht werden.
Die ›poëtische Individualität‹
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Die ›poëtische Individualität‹ Die dritte Strophe erfüllt die Erwartung, die mit den ersten acht Versen gesetzt wurde. Sie schafft einen Ausgleich der Gegensätze auf allen Ebenen des Textes. Die Vermittlung des Ungleichgewichts der in Wechselwirkung stehenden Seiten, das in der ersten Strophe im ›Übermaß‹ des Objektiv-Stofflichen und in der zweiten Strophe (in Umkehrung dazu) des Subjektiv-Formalen besteht, betrifft dabei alle vier transzendentalen Dimensionen der Ode: a) das innersubjektive Verhältnis von Empedokles zu sich, b) das Verhältnis des poetischen Ich zum angesprochenen Du sowie das Selbstverhältnis des poetischen Ich, c) die Relation von Autor und Text sowie schließlich d) das Verhältnis des Lesers zur Ode. Wie die Interpretation zeigt, ist die gewonnene ›unterschiedene Innigkeit‹ der Gegensätze eine zweifache, da sie nicht nur die Relation von Subjekt und Objekt für das Objekt (d.h. hier: der Ode) auszugleichen hatte, sondern eine Wechselwirkung zur Darstellung bringen muß, die das darauf reflektierende Subjekt mit einschließt. Am Ende kann daher nicht nur ein Subjektiv-Objektives bzw. Objektiv-Subjektives stehen, sondern eine Beziehung der beiden Seiten aufeinander, die das Selbstverhältnis des Subjekts nur vermittels des ihm entgegengesetzten Objekts begreift, und letzteres selbst in seiner entsprechend dialektischen Verfaßtheit erkennt: am Ende steht ein subjektiv-objektiv Objektiv-Subjektives. Die ›unterschiedene Innigkeit‹ der Gegensätze kommt in der dritten Strophe über das Verhältnis von ›Dichter‹, ›Held‹ und ›Liebe‹ zum Ausdruck. Damit werden mit der Kontrastierung der beiden fundamentalen Lebensformen (der vita contemplativa und der vita activa), die im gleichen ›Streben‹ (nach Vermittlung der Gegensätze im ›Harmonischentgegengesetzten‹) ihr tertium besitzen, weitere Aspekte der Wechselwirkung gleichgestellter Seiten thematisiert. Diese beiden Lebensformen verbinden sich für das poetische Ich im angesprochenen Du bzw. Empedokles, was wiederum den Anlaß seiner Bezugnahme auf dieses Gegenüber erklärt. Indem sich das poetische Ich Empedokles in seiner zueignenden wie aneignenden Rede widmet, kann es sein eigenes Streben in der poetischen Selbstvermittlung reflektieren. Empedokles wird movens und telos einer transzendentalen Sprach- und Denkbewegung. Die ›Liebe‹ ist dabei nicht nur die verbindende Mitte der beiden Subjekte, sondern die Bedingung der dialogischen Vermittlung. Zudem nennt sie das Ziel der transzendentalen Bewegung: die ›unterschiedene Innigkeit‹.⁴²² Die ›Liebe‹ ist die ›Gabe‹, die Selbstheit und
422 Es ist zu überlegen, ob mit ›Liebe‹ und ihrer vermittelnden Funktion zwischen Dichter und Held und damit auch zwischen poetischem Ich und dem angesprochenen Du bzw. Empedokles nicht auch das zum Ausdruck kommt, was Hölderlin mit der Vorstellung einer ›transcendenta-
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Interpretation
Individualität erst ermöglicht, die das Streben nach einem ›absoluten Ich‹ mäßigt und so Subjekt und Objekt in harmonischer Entgegensetzung ›hält‹.⁴²³ Welche Bedeutung die in der Ode angelegten Motive für die Poetologie Hölderlins besitzen, zeigt sich letztlich auch an der Entwurfshandschrift von Empedokles. Im Kommentar der Edition habe ich bereits darauf hingewiesen, daß auch die Vorderseite von H1 für die Interpretation der Ode von Bedeutung ist. Hölderlin notiert dort einen Entwurf des Gedichts Buonaparte. In den ersten drei Versen werden dort die Worte enggeführt, die auch entscheidende Aspekte in der Sprach- und Denkbewegung der Empedokles-Ode benennen:⁴²⁴
len Empfindung‹ zu fassen versucht. Die ›Liebe‹ ist »weder bloßes Bewußtseyn, bloße Reflexion […], noch bloße Harmonie, wie die intellectuale Anschauung«; sie ist eine Empfindung, »welche darum transcendental ist und diß allein seyn kann, weil sie in Vereinigung und Wechselwirkung« besteht (Hölderlin, FHA XIV, S. 317 f.). In der ›Liebe‹ findet keine (für Hölderlin unzulässige) Trennung von »Vorstellung und Empfindung und Räsonnement« (Hölderlin, FHA XVI, S. 411) statt, sie stiftet vielmehr deren Beziehung untereinander. 423 Die Konstellation von ›Dichter‹, ›Held‹ und ›Liebe‹ verweist auf das triadische Denken Hölderlins, das in verschiedener Form eine zentrale Stellung in seinen poetologischen Überlegungen besitzt. Sei es der Anspruch an die Dichtung, über die an die antike Seelenlehre angelehnte Trias ›Empfindung‹, ›Leidenschaft‹ und ›Phantasie‹ den ›ganzen Menschen‹ zur Darstellung zu bringen, seien es die drei Modalkategorien ›Wirklichkeit‹, ›Möglichkeit‹ und ›Notwendigkeit‹ in Hölderlins Seyn Urtheil Möglichkeit, die Momente ›Kraft‹, ›Gestalt‹ und ›Geist‹, die Hölderlins Mythenbegriff wesentlich konstituieren (vgl. Gerhard Buhr, Hölderlins Mythenbegriff. Eine Untersuchung zu den Fragmenten ›Über Religion‹ und ›Das Werden im Vergehen‹, Frankfurt a. M. 1972, S. 83 und 404) oder seien es – am prominentesten – der Wechsel der [drei] Töne ›naiv‹, ›heroisch‹ und ›idealisch‹. Besonders die letztgenannten dichtungstheoretischen Überlegungen zur Tonfolge gaben immer wieder Anlaß, Hölderlins poetische Texte daraufhin zu untersuchen und zu interpretieren (am differenziertesten noch immer bei Lawrence J. Ryan [Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne] und Herta Schwarz [Vom Strom der Sprache. Schreibart und »Tonart« in Hölderlins Donau-Hymnen, Stuttgart, Weimar 1994]. Alle Versuche, Hölderlins Dichtungstheorie am Text zu verifizieren, müssen jedoch konstatieren, daß sich an keiner Stelle in Hölderlins Ausführungen eine eindeutige Definition findet, was unter ›naiv‹, ›heroisch‹ und ›idealisch‹ genau zu denken ist. In jeder Applikation der ›Töne‹ auf einen poetischen Text bleibt somit ein Rest von Vagheit zurück, die meines Erachtens dem Sprachverständnis Hölderlins und der Verfaßtheit seiner Texte geschuldet ist. So sind auch alle theoretischen Äußerungen Hölderlins als poetisches Sprechen zu verstehen – einem Sprechen, das sich bewußt einer begrifflichen Fixierung seines Inhalts widersetzt. Eine eingehende Analyse von Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… oder Seyn Urtheil Möglichkeit könnte zeigen, daß der Gegenstand der Rede nicht von der Darstellungsweise abstrahiert werden kann. Was jedoch aus den Überlegungen zum Triadischen in Hölderlins Denken für die Interpretation der Empedokles-Ode gewonnen werden kann, ist die konstitutive Wechselwirkung der Trias ›Dichter‹, ›Held‹ und ›Liebe‹, die im Stoff der Ode und als strukturierendes Prinzip des Textes deutlich wurde. 424 Vgl. Hölderlin, FHA V, S. 418 – Neutranskription von ME.
Die ›poëtische Individualität‹
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Buonaparte. [¿]Heilige Gefäße sind die Dichter, 2 1 Wori der Wein des Lebens, [der Geist] Der [G]Helden sich aufbewahrt,
Daraus können mehrere Fragen abgeleitet werden: Ist die Empedokles-Ode wirklich die ›Rückseite‹ von Buonaparte? Ist das dort geforderte poetische Erinnerungsgeschehen, das den »Geist / Der Helden« aufbewahren soll und in den folgenden Versen problematisiert wird, die »Essenz« des Lebens? Und wenn man im Umschlagen der Seite eine Entwicklung dieser Gedanken sieht: Ist es in der Ode Empedokles schließlich gelungen, den in der (und für die) Welt gestorbenen Helden im Gedicht ›leben‹ und ›bleiben‹ zu lassen? Kann in der ›freien Wahl des Objekts‹ ein Grund dafür gesehen werden, daß nun nicht mehr – mit Hegels Worten – der ›Weltgeist zu Pferde‹ den Gegenstand der Dichtung darstellt? Durfte deswegen für Empedokles die Mahnung überhört werden, daß der Dichter bzw. das poetische ›Gefäß‹ den Geist des Helden unberührt lassen soll? Ist die Ode das Gefäß, indem sich der ›Geist‹ von Empedokles – im doppelten Wortsinn – ›erhält‹? Und ist die ›Liebe‹ das poetologische Prinzip, das die nötige Mäßigung bewirkt, damit das poetische Sprechen nicht ›zersprengt‹? Antworten auf diese Fragen und fundierte Aussagen über das Verhältnis der beiden Gedichte könnten erst nach einer genauen Lektüre und Interpretation von Buonaparte geleistet werden. Ich möchte zum Abschluß den eben skizzierten Ausgleich der Gegensätze in der dritten Strophe mit bereits zuvor diskutierten poetologischen und dichtungstheoretischen Überlegungen Hölderlins verbinden und damit auf den Titel meiner Untersuchung zurückkommen: die ›poëtische Individualität‹. In den Zwischenkapiteln Zur Poetik des Erinnerns und Der Ausgleich der Gegensätze hatte ich den Versuch unternommen, Hölderlins Gedanken der ›poëtischen Individualität‹ aus dem Verlauf der Ode heraus zu begreifen und so Momente zu beleuchten, die für die Sprach- und Denkbewegung des Textes von zentraler Bedeutung sind. Dabei zeigte sich, daß die ›poëtische Individualität‹ nicht auf die Äußerungen in Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig… beschränkt bleibt, sondern auch auf Hölderlins transzendentalphilosophisches Denken in Seyn Urtheil Möglichkeit übertragen werden kann. Die ›poëtische Individualität‹ ist das vermittelnde Zwischen von ›Sein‹ und ›Urteil‹, da sie beide
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in einer dynamischen Einheit aufeinander bezieht, ohne dabei die ›urteilende‹ Trennung der ›Seiten‹ zu wiederholen. Für die erste Strophe wurde die ›poëtische Individualität‹ an der besonderen Zeitlogik der Rede thematisch, der Konfusion und Diffusion der Zeitebenen: Das poetische Ich spricht im Präsens ein in der Vergangenheit liegendes und bereits gestorbenes Subjekt an. Diese Zeitlogik läßt sich im Zusammenhang mit Hölderlins Gedanken zum ›Erinnern‹ verstehen, das den ›zeitlichen Mangel‹ der transzendentalen Selbstvermittlung in poetischer Form auszugleichen versucht. Die Zeit muß als Bedingung von Individualität und Identität begriffen und im Sprechen reflektiert und ausgedrückt werden. Zwar ist für Hölderlin die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, Gegenwärtigem und Vergangenem notwendig für das Erinnern, gleichzeitig müssen die Gegensätze aber in einer dynamischen Einheit der transzendentalen Bewegung präsentisch miteinander vermittelt werden – dies ist für Hölderlin jedoch allein im poetischem Sprechen möglich. Die Vermittlung der Gegensätze wird in v. 1–4 noch dadurch potenziert, daß das Objekt der Rede selbst ein Subjekt (›Empedokles‹) ist, d.h. daß alle Überlegungen zur subjektiven Identität des Ich auch auf das angesprochene Du bezogen werden müssen. Die zweite Strophe schließt an diese Aspekte poetischen Erinnerns an und greift das Spannungsverhältnis auf, das sich am Ende des vierten Verses mit der Nennung des Todes im Ätna eröffnete: das Verhältnis von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Vers 4 formuliert das Paradox, das die Erinnerungslogik fundiert: Das poetische Ich kann seine subjektive Selbstvermittlung nur über ein ›frei gewähltes Objekt‹ leisten. Dies hat in der ersten Strophe Folgen für den Modus der Rede. Alle Aussagen über das fremde Subjekt (Empedokles) erfolgen als eigentliches Sprechen, will das poetische Ich hingegen direkt auf sich Bezug nehmen, kann es dies nur in einer uneigentlichen, metaphorischen Weise leisten. Die Verse 5–8 thematisieren diese für die poetische Verfahrensweise konstitutive Spannung nun direkt, indem bereits mit den ersten Worten (»So schmelzt’ im Weine Perlen…«) das komplexe Verhältnis von Vergleich und Metapher als solches zur Darstellung gebracht wird, das die gesamte Strophe prägt. Mit dem Wort ›Dichter‹ eröffnet sich zudem eine weitere poetologische Ebene, die den Reflexionsprozeß des Schreibens betrifft. Mit ›Dichter‹ wird nicht nur das angesprochene Du näher bestimmt, sondern zugleich das Verhältnis von Autor zum Text thematisch. Folglich können zwei Reflexionen unterschieden werden: die ›objektive‹ Reflexion der beiden Subjekte auf der Textebene, d.h. das intersubjektive Verhältnis des poetischen Ich zu Empedokles bzw. zum Du, und eine ›subjektive‹ Reflexion des schreibenden Subjekts auf sein Geschriebenes, die ent-äußerte Rede. Beide Reflexionen bedingen sich wechselseitig und sind in der Einheit der ›poetischen Individualität‹ miteinander vermittelt.
Die ›poëtische Individualität‹
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Die Relation der beiden Strophen läßt sich folglich so beschreiben, daß Strophe 1 die stofflich-objektive Seite der Ode betont, Strophe 2 dagegen die subjektiv-formale Seite in den Vordergrund rückt, die zuvor zu unbestimmt blieb. Der jeweilige ›Mangel der Darstellung‹, der durch diesen Kontrast sichtbar wird, ließ für die dritte Strophe erwarten, daß sie einen Ausgleich dieses Ungleichgewichts herstellt. Nur dann ist ein Abschluß der transzendentalen Bewegung der poetischen Rede im Sinne einer ›poëtischen Individualität‹ erreicht. Wie sich in der Interpretation zeigte, hat sich dieser Anspruch in der dritten Strophe erfüllt. Die Rede führt nicht nur die in Strophe 1 und 2 etablierten Formen der Wechselwirkung zu einer ›harmonischentgegengesetzten‹ Einheit, sondern fügt weitere Aspekte hinzu. So werden mit dem Wort ›heilig‹ und den mit ihm in Verbindung stehenden Formulierungen »in schauderndem Verlangen« (v. 3) und »kühner Getödteter« (v. 10) zwei Sprachauffassungen berührt, die die Interpretation zu diskutieren hatte: Hölderlin inszeniert mit den Äußerungen (die beide das ›Heilige‹ bezeichnen sollen) einerseits eine Sprachauffassung (»heilig«), die von einer einfachen Relation von Zeichen und Bezeichnetem ausgeht. Andererseits erweist sich die Rede des poetischen Ich aber auch als differentiell konstituiert (»in schauderndem Verlangen«). Hölderlin stellt diese beiden Auffassungen nebeneinander, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Man kann daraus ableiten, daß es ihm darauf ankam, mit diesem Gegensatz auf der Textebene auf eine vergleichbare sprachliche Spannung hinzuweisen, die für ihn poetisches Sprechen allgemein bestimmt: Einerseits bedarf es des nennenden Verweises auf das objektive Material des Stofflichen außerhalb der Sprache (in der Ode der Bezug auf die historischen Person ›Empedokles von Akragas‹ und dessen Todesumstände), andererseits gewinnt dieses Stoffliche erst innerhalb einer sprachlichen Umsetzung und ›Bearbeitung‹ durch das Subjekt seine Bedeutung und seinen Wert für die poetische Aussage (und für das Subjekt, das dieses Objektive frei wählt).⁴²⁵ Erst in dieser Vermittlung ist die Sprache das ›Medium‹, in dem sich die ›poëtische Individualität‹ realisiert. An diesen Ergebnissen der Interpretation wird deutlich, wie sehr Hölderlins Dichtung allgemein und insbesondere die Empedokles-Ode von der Konzeption der ›poëtischen Individualtiät‹ geprägt sind. Bislang lag der Fokus jedoch zu einseitig auf ihrer vermittelnden, verbindenden Funktion. Zwar ist die ›poëtische Individualität‹ tatsächlich nur zu denken im Zugleich der Gegensätze, doch wird damit zu
425 Vgl. Hölderlin, FHA XIV, S. 304: »Der Stoff muß nemlich auch, wie der Geist, vom Dichter zu eigen gemacht, und vestgehalten werden, […] für den Zwek, daß der Geist sich in sich selber und in anderen reproducire.«
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Interpretation
stark die Einheit gegenüber der Unterschiedenheit ihrer Momente betont. Sie ist zwar »an sich, kein Ich«⁴²⁶, jedoch ermöglicht sie dessen Identität und Individualität. Wenn also einerseits »das Ich sich in poëtischer Individualität« erkennt, so muß mit Hölderlin noch einmal gefragt werden, »welches Resultat […] daraus für die poetische Darstellung [entspringt]«⁴²⁷. Meines Erachtens müssen die Attribute, die hier dem Subjekt zukommen, auch dem Objekt zugesprochen werden. Die ›poëtische Individualität‹ beschränkt sich nicht darauf, die Identität des Subjekts in dessen Selbstbewußtsein herzustellen, sondern sie konstituiert auch die Identität und Individualität des Objekts, des poetischen Textes. Die beiden Prinzipien, die für die ›poëtische Individualität‹ beider Seiten verantwortlich sind, sind die, die den Ausgang meiner methodischen Überlegungen bildeten und die gesamte Interpretation der Ode leiteten: Prozeß und Struktur. Durch den »schönen Fortschritt und Wechsel« und das »Zugleichseyn aller Theile«⁴²⁸ sowie ihre »Zusammenstimmung«⁴²⁹ ergibt sich eine gleich zweifache Selbstbestimmung: Der poetische Text konstituiert sich nach und nach als dynamische Einheit seiner Einzelmomente, und das Subjekt (der Autor wie der Rezipient) bestimmt sich selbst in Reflexion auf diese Verfaßtheit des sprachlichen Gegenstandes. So ›löst‹ sich »jener Widerstreit zwischen geistigem Gehalt (zwischen der Verwandschaft aller Theile) und geistiger Form (dem Wechsel aller Theile), zwischen dem Verweilen und Fortstreben des Geistes«⁴³⁰. Die Selbstbestimmung ist demnach nicht allein als die des Subjekts in Beziehung auf ein frei gewähltes Objekt zu denken; auch die Identität des Objekts stellt sich erst durch das Subjekt her, das die Wechselwirkung von Prozeß und Struktur im poetischen Sprechen (nach)vollzieht. Beide Seiten ›entsprechen‹ einander in ihrer dialogischen Einheit. Man kann mit Hölderlin behaupten, daß die zweifache ›poëtische Individualität‹ nur in der Zeit, in der utopischen, nicht fixierbaren Präsenz des Sprachvollzugs besteht. Subjekt und Objekt werden nur in der dynamischen Wechselwirkung der poetischen Rede aufeinander und durcheinander bestimmt – außerhalb der Sprache besitzen weder das Subjekt noch das Objekt ihre Identität und Individualität.
426 Hölderlin, FHA XIX, S. 112. 427 Hölderlin, FHA XIV, S. 313. 428 Hölderlin, FHA XIV, S. 303. 429 Hölderlin, FHA XIV, S. 321. 430 Hölderlin, FHA XIV, S. 303.
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