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German Pages 425 Year 2015
Paul Michael Lützeler Publizistische Germanistik
Paul Michael Lützeler
Publizistische Germanistik Essays und Kritiken
Gedruckt mit Unterstützung der Faculty of Arts and Sciences der Washington University in St. Louis
ISBN 978-3-11-042740-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042799-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042805-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Biliana Rakocevic/iStock/Thinkstock Datenkonvertierung/Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Druck: Hubert & Co GmbH und Co KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
In memoriam Hansres Jacobi und Rolf Michaelis
Inhalt Einleitung: Literatur-Triade Kritik, Dichtung, Wissenschaft — 1 1. Gegenwartsliteratur: Roman und Poetik — 23 Christian Kracht, Peter Stephan Jungk, Uwe Timm, Uwe Wittstock, Hans Christoph Buch, Ulf Erdmann Ziegler, Christoph Hein, Walter Hinck, Ulrike Draesner, Dieter Kühn, Dieter Forte, Elisabeth Plessen, Doron Rabinovici, Norbert Niemann/Eberhard Rathgeb, Friedrich Christian Delius, Volker Hage, Juli Zeh, Bodo Morshäuser, Michael Schneider, Barbara Honigmann, Angelika Mechtel, HannsJosef Ortheil, Angela Krauß, Barbara Frischmuth, Klaus Briegleb/ Sigrid Weigel, Paul Nizon, Sten Nadolny, Thomas Anz, Gerold Späth, Gabriele Wohmann, Gert Hofmann, Silvio Blatter, Postmoderne Prosa
2. Exildichtung: Verbannung und Rückkehr — 135 Briefe an Bertolt Brecht, Hollywood-Dichter, Heinrich Detering und Hans Rudolf Vaget über Thomas Mann, Thomas Mann und die Weltdemokratie, Benno Weiser Varons und Marte Brills ExilRomane, Ruth Klügers Autobiografien, George Steiner über Pädagogik, Carl Zuckmayers Berichte und Briefe, Egon Schwarz’ Reisegeschichten, Ernestine Schlant über den verdrängten Holocaust, Simon Kronberg: ein Vergessener, Albrecht Betz und Ulrich Weinzierl über Exil in Frankreich, Hermann Brochs siegreiche Niederlagen
3. Klassik und Romantik: Von Goethe bis Heine — 227 Heinrich von Kleists Engel, Katharina Mommsen über die Goethe/SchillerFreundschaft, Verleihung der Goethe-Medaille, Siegfried Unseld über Goethe und Cotta, Schillers Europa-Dramen, Der muntere Eichendorff, Rüdiger Safranski und Gerhard Schulz über die deutsche Romantik, Heines Köln-Gedicht, Heine und Börne in Paris, Hartmut Steinecke zur Romanpoetik seit Goethe, Jochen Schmidt über den Genie-Gedanken
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Inhalt
4. Europa-Diskurs: Literatur und Politik — 273 Streit über Europas Zukunft, Die Schriftsteller und das europäische Projekt, Europäischer und amerikanischer Traum, Europa am Bosporus, Essayistische Bestandsaufnahmen, Kern-Europa, Aktuelle Debatten, Europas Universitäten, Novalis oder Napoleon, Rudolf Pannwitz und Hugo von Hofmannsthal über die europäische Krise, Europäische Mentalitätsgeschichte, Kultur-Markt Europa, Homo Europaeus Enzensbergensis
5. Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen — 339 Wilhelm Krulls Dokumentation der Weltkriegs-Literatur, China als Neue Welt, Peter Schneider über die studentische Rebellion, Der Kaiser und die Weltausstellung in St. Louis, Der B.A. in der Bologna-Reform, US-Universitäten im Vergleich mit Europa, Claudio Magris über Utopie und Entzauberung, Globalisierungs-Literatur, Das Stigma der Arbeitslosigkeit, Kultur der Postmoderne, Der postkoloniale Blick
Editorische Notiz — 397 Quellennachweis — 399 Personenregister — 403
Einleitung: Literatur-Triade Kritik, Dichtung, Wissenschaft I. Kooperationsschwierigkeiten: Zeitung, Fernsehen, Internet Was Goethe so schön über die Attraktion der Studien zu Natur und Kunst sagt, gilt – mit vergleichbarer Seltenheit – auch für die Beziehung zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft: „sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden“. Einige UniversitätsgermanistInnen steuern – mit unterschiedlicher Regelmäßigkeit – Artikel zum Feuilleton renommierter Wochen- und Tageszeitungen bei, und umgekehrt veröffentlichen LiteraturredakteurInnen Bücher zur Dichtung des 20. Jahrhunderts oder der Gegenwart, die man auf den Leselisten germanistischer oder komparatistischer Hochschulseminare findet. Die LiteraturwissenschaftlerInnen, die KritikerInnen im Nebenberuf sind, haben nicht den Ehrgeiz, mit dem Chef oder der Chefin einer Feuilletonredaktion in Konkurrenz zu treten. Sie suchen nur die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeiten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Und jene KritikerInnen aus den Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, die Bücher schreiben, die auch für die Wissenschaft von Interesse sind, formulieren ihre Arbeiten ebenfalls so, dass sie nicht lediglich für eine kleine Schar von Eingeweihten verständlich sind. Aufs Ganze gesehen ist diese Art der Doppelbegabung aber die Ausnahme, und die meisten KritikerInnen und ProfessorInnen halten sich etwas zu Gute auf die Besonderheiten ihrer Zunft, d.h. auf die Differenzen ihrer Recherchier- und Schreibweisen und auf die unterschiedlichen Traditionen ihrer Institutionen und Berufsverbände. Ja, die Abneigung gegen die jeweils andere Art der Ausein andersetzung mit dichterischen Texten kann sich bis zur Verachtung steigern, und das ist wohl einer der Gründe, warum die Grenzüberschreitung weniger oft vorkommt, als es die Sache nahelegen würde. Denn die Sache selbst, die Literatur, ist der gemeinsame Gegenstand, von dem beide Berufsgruppen fasziniert sind, dem sie sich im Wortsinne verschrieben haben. Und historisch gesehen, entspringen Literaturkritik und Germanistik dem gleichen gesellschaftlichen Strukturwandel, der mit der Emanzipationsbewegung des Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert zur stärkeren Differenzierung von Ausbildung und Arbeitswelt führte. Darauf weist auch Gunther Nickel in dem von ihm herausgegebenen Band „Kaufen statt Lesen! Literaturkritik in der Krise?“ aus dem Jahr 2005 hin. Die Expansion in den Bereichen des Buchwesens brachte neue Spezialisierungen in vielen Berufssparten mit sich: auch die Etablierung der Literaturkritik in den führenden Blättern der gebildeten Stände und die Gründung von Lehrstühlen für allgemeine Literaturwissenschaft (als Ergänzung zur Altphilologie) an den
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Universitäten. Die Einrichtung von Professuren für Germanistik als Wissenschaft von den deutschen Kulturdenkmälern verdankte sich der nationalen Bewegung vor allem im deutschen Bürgertum. In der Institution der Literaturkritik waren zunächst die Schriftsteller selbst aktiv (man denke an Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim oder Joseph Görres); an die Universitäten wurden Gelehrte wie Jakob und Wilhelm Grimm, Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Friedrich Heinrich von der Hagen berufen. Es dauerte bis ins frühe 20. Jahrhundert, bis sich im Bereich professioneller Kritik Intellektuelle behaupteten, die sich zwar auch als Schriftsteller verstanden, deren Arbeitsbereich aber vor allem die Literatur- und Kulturkritik war. Man denke an Autoren wie Maximilian Harden, Alfred Kerr und Julius Bab in Deutschland oder Hermann Bahr, Karl Kraus und Alfred Polgar in Österreich. Die Jahrzehnte nach 1945 brachten es mit ihren weiteren Ausdifferenzierungen der modernen Arbeitswelt mit sich, dass die Zeitungen und Rundfunkanstalten KritikerInnen engagierten, die sich in ihren Berufsvorstellungen von jenen der freien SchriftstellerInnen unterschieden. Bevor man sich heute für ein Arbeitsleben in der Feuilleton-Redaktion oder in der Hochschulgermanistik entscheidet, absolviert man ein Studium der Literaturgeschichte und der Ästhetik. Wenn man will, kann man an einigen Uni versitäten auch eine spezialisierte Zusatzausbildung im Gebiet der Literaturvermittlung erhalten. Darauf hat Thomas Anz in dem von ihm und Rainer Baasner herausgegebenen Sammelband „Literaturkritik“ 2004 aufmerksam gemacht. Die wenigsten der KritikerInnen haben diese Möglichkeit wahrgenommen. Die methodische Ausbildung und die Kenntnis des literarischen Kanons werden für die Vertreter beider Berufe im Universitätsseminar vermittelt (wobei die Vorlieben und Vorkenntnisse aus der Zeit des Gymnasiums nicht unterschätzt werden sollen). Aber dann trennen sich die Wege. Anders als in früheren Jahrzehnten haben die neuen RedakteurInnen nur selten eine Dissertation, geschweige denn eine Habilitation geschrieben. Die UniversitätsassistentInnen (die späteren ProfessorInnen) dagegen legen akademische Qualifikationsschriften vor, in denen sie zeigen, dass sie sich in unterschiedlichen Epochen der Literaturgeschichte auskennen und sich ein gründliches philologisches Wissen angeeignet haben. Sie setzen sich oft mit jeweils neuen Literaturtheorien auseinander, während die RedakteurInnen zuweilen ein Leben lang von der Kenntnis jener Theorien zehren, die den Methodendiskurs prägten, der in den Jahren ihres Studiums dominierte. Die AkademikerInnen beschäftigen sich primär mit der Dichtung vergangener Jahrhunderte, die FeuilletonistInnen dagegen sehen in der Diskussion und Vermittlung der aktuellen Neuerscheinungen ihre Aufgabe, wenn auch die Lektüre älterer Dichtung nicht aufgegeben werden kann, will man nicht den Maßstab, den der Kanon setzt, aus dem Auge verlieren. Sieht man von den Reklametexten
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der verlegerischen Presseabteilungen ab, sind es die KritikerInnen, die sich als erste mit einem neuen Autor oder einer neuen Autorin bzw. mit einer Erstveröffentlichung auseinandersetzen. Den Einfluss, der damit der Kritik bei der Meinungsbildung über die Gegenwartsliteratur zukommt, kann man gar nicht überschätzen. Hier werden die frühen Weichenstellungen vorgenommen, die für den künftigen Erfolg oder gar für die Kanonisierung eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin ausschlaggebend sein können. Auch die GermanistInnen, die sich oft erst Jahre später mit der längst in den Zeitungen vorgestellten neuen Literatur auseinandersetzen, sind – ob sie es wollen oder nicht und ob sie es wissen oder nicht – von dieser ersten Diskussion beeinflusst worden. Jene GermanistInnen, die auch als KritikerInnen arbeiten, haben die Chance, zu dieser primären Einschätzung beizutragen, eine Gelegenheit, die zu selten wahrgenommen wird. Stärker als die KritikerInnen aber lassen sich die HochschullehrerInnen (deren StudentInnen das erwarten) auf die neuen „turns“ in den ästhetischen und zeitkritischen Auseinandersetzungen mit Literatur ein. Vergleichbar ist die Situation der KritikerInnen insofern, als sie nicht bei ihren Vorlieben für eine bestimmte Art des Schreibens bleiben sollten, wenn die AutorInnen selbst ganz andere ästhetische Verfahren ausprobieren oder neue Akzente gesellschaft lichen Engagements setzen. Es ist sinnlos, über den Wechsel von Methodenansätzen in der Wissenschaft zu schimpfen oder den Kritikern eine Kurskorrektur im Bewertungssystem der zeitgenössischen Literatur vorzuwerfen. Die „turns“ in den Literatur- und Kulturwissenschaften sind keine 180-Grad-Wendungen oder gar „Kehren“ im Sinne eines Heideggerschen Umdenkens, sondern Zeichen des immer deutlicher werdenden Pluralismus in den „Humanities“ und den Geisteswissenschaften allgemein. Inzwischen ist ein ganzes Dutzend von „turns“ katalogisiert worden: der „interpretative“, „performante“, „rhetorische“, „postkoloniale“, „transnationale“, „raumhafte“, „visuelle“, „historische“, „ethische“, „narrative“, „philologische“ und „transkulturelle“. Diese „turns“ entwickeln sich zum Teil auseinander, können sich ergänzen, regen sich gegenseitig an oder stoßen sich voneinander ab, bezeichnen neue oder wieder aufgenommene Verfahren einer zunehmend transatlantischen, ja transkontinentalen Kulturwissenschaft. Vergleichbare Umorientierungen gibt es auch in der Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur im Feuilleton. Es ist verständlich, wenn Autoren Kritikern zuweilen vorwerfen, sie seien opportunistische Konjunkturritter. Das tat Daniel Kehlmann im April 2002, als er erzürnt konstatierte: „Dieselben, die vor ein paar Jahren mit Adornozitaten nach jedem einer Geschichte ähnlichen Absatz schleuderten, überschlagen sich heute vor Begeisterung über die einfachsten realistischen Schilderungen aus dem Alltagsleben.“ Sie würden „abwechselnd eine Avantgarde“ verteidigen, die sie nicht verstünden und „eine Tradition“, von der sie nichts wüssten. In die gleiche Kerbe hieb das Multitalent Jörg Sundermeier –
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Verleger, Autor, Kritiker – , als er im Januar 2015 dem Magazin „Buchmarkt“ ein Interview gab. Den Kritikern warf er vor, zu wenig „Haltung“ zu zeigen, weil sie ihre „Ansichten von gestern“ in der Gegenwart keineswegs „noch zu vertreten“ geneigt seien. Dagegen ist einzuwenden, dass die Kritik sich realitätsfremd verhielte, würde sie dogmatisch Präferenzen früherer Positionen verteidigen, wenn die aktuelle Literatur oder Kunst neue Konzepte entwickelt. Der Kunstkritiker Clement Greenberg ist ein Beispiel für die Verhärtung einer Hochschätzung der abstrakten Malerei in den 1960er und 1970er Jahren, als die internationale Kunstszene sich erneut zu ändern begann und mit postmoderner Gegenständlichkeit vom fotografischen Realismus bis zum Neo-Expressionismus Wege ging, die von der in den 1950er Jahren gefeierten Abstraktion fortführten. Die Kritik ist „Schatten und Begleiter“ von Literatur und Kunst, wie Volker Hage es in „Positionen der Literaturkritik“ formulierte, einem Sonderheft von „Sprache im technischen Zeitalter“, das Norbert Miller und Dieter Stolz 2002 herausgaben. Die Kritik trifft zuweilen ins Schwarze bei der aktuellen Beurteilung neuer Tendenzen, wird aber immer herausgefordert und durch künstlerische Entwicklungen widerlegt, die sich von vorhergegangenen Strömungen absetzen. Es gibt einen Bereich, der im Gebiet der Germanistik eine bedeutende, bei der Kritik jedoch kaum eine Rolle spielt: die kritische Edition. Wissenschaftlich zuverlässige Ausgaben sind zeitaufwendige Projekte, die von Gruppen oder Einzelkämpfern angegangen werden und ohne ständigen Zugang zu großen Bibliotheken oder Archiven nicht durchführbar sind. Für die schnell arbeitende Kritik ist das nicht das richtige Arbeitsgebiet. KritikerInnen können zuweilen einzelne Werke wiederentdecken, sie mit einer Einleitung versehen und auf ihre Aktualität verweisen, aber Texterstellung an sich verdankt sich durchweg der Arbeit von PhilologInnen. Der Graben, der Kritik und Wissenschaft trennt, hat auch mit der jeweils anderen Fachsprache zu tun. Wissenschaft entwickelt immer neue Termini zur Erfassung literaturhistorischer Veränderungen und ästhetischer Neuerungen. Das konnte man in den 1970er Jahren bei den Bemühungen um eine sozial geschichtliche Einordnung der Literatur erkennen, das wurde deutlich bei der Gegenbewegung im Poststrukturalismus, und das ist heute in der Narratologie zu beobachten. Die Kritik kann in ihren Rezensionen und essayistischen Überblicken zur Gegenwartsliteratur mit philologischer Fachterminologie nicht viel anfangen, denn die Zahl der LeserInnen, die sich fürs Feuilleton interessiert, würde bald auf Null hin tendieren, wenn da von „Différance“ (Jacques Derrida), „Diegesis“ (Gérard Genette) oder „Dialogizität“ (Michail Bachtin) die Rede wäre. Die Germanistik dagegen muss sich an der Bemühung um immer genauere Definitionen theoretischer Begriffe als Teil des Handwerkszeugs der Philologie beteiligen. Das ist alles andere als einfach, denn die Erkenntnisse in anderen Fächern wie
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Medienwissenschaft, Anthropologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft oder Theologie können nicht ignoriert werden. Der Gegenstand der Germanistik, die Literatur, schildert Lebensaspekte so vielfältiger Art, dass es keine einzige Wissenschaft gibt, deren Ergebnisse nicht bei der Interpretation des einen oder anderen Textes herangezogen werden könnten. Mit ihrer unterschiedlichen Terminologie kann die Hochschulgermanistik das Kollegium und die Studierenden ihres Fachs erreichen, die Kritik dagegen bedient sich einer Sprache, die ein Publikum mit Allgemeinbildung verstehen kann. Nimmt innerhalb der inter- und multidisziplinär arbeitenden Germanistik der Gegenwart die Durchlässigkeit gegenüber anderen Fächern des Systems Wissenschaft zu, kann man bei der Literaturkritik nicht von einer vergleichbaren Tendenz sprechen. Hier ist eine größere Nähe zu ihrem Objekt, zur Gegenwartsdichtung selbst festzustellen, eine Affinität, die kaum je von einem Germanisten erreicht oder auch nur angestrebt würde. Lehrstühle für Gegenwartsliteratur sind ausgesprochen selten. Rhetorisch gesehen bewegt sich Kritik mit ihrer Schreibweise in einem Dreieck von Journalismus, Wissenschaft und Literatur. Dem Journalismus ist sie mit der Bereitschaft zur raschen Stellungnahme, zur populären Formulierung und mit dem Willen zur Vermittlung von Kenntnissen an ein breites Publikum verbunden. Das ist ihr Ethos und ihre demokratische Aufgabe. Wenn man heute KritikerInnen fragt, welcher Berufsgruppe sie sich zuzählen, nennen sie meistens den Journalismus. Von der Wissenschaft haben die KritikerInnen ihre Grundausbildung erhalten, und es liegt an ihnen, wie oft sie Brücken zu ihrem Herkunftsfach oder zu anderen akademischen Disziplinen schlagen. Und die Affinität zur Literatur hat mit dem Grundzug kritischen Schreibens zu tun, der essayistisch ist. Die Rezension, die immer stark essayistische Züge aufweist, wurde früher als Königsdisziplin der Literaturkritik bezeichnet. Das ist sie heute wohl nicht mehr, denn momentan wird sie durch Interviews mit SchriftstellerInnen, durch Portraits von AutorInnen und durch Essays über literarische Tendenzen verdrängt. Aber sie wird wohl bei Gelegenheit wieder eine Renaissance erleben, bleibt sie doch eine primäre Informationsquelle bei wichtigen Neuerscheinungen. Jedenfalls fordert auch Jörg Sundermeier in dem genannten Interview die Rückkehr zur Rezension als Hauptgeschäft des Kritikers. Der Essay, wie er als literarische Gattung von Michel de Montaigne und Francis Bacon begründet wurde, hat die Kritik in Europa nachhaltig beeinflusst. In dieser Gattung kamen die ethischen Tugenden und ästhetischen Präferenzen zur Sprache, ohne die seitdem Kritik undenkbar ist. Hier wurde gezeigt, wie in einer verständlichen, nämlich der nationalen Sprache (und nicht im Latein der Wissenschaften) undogmatisch und offen neue Wirklichkeiten geschildert und alte Einstellungen in Frage gestellt werden konnten. Obwohl man sich der Volkssprache bediente, blieb die Schulung an der antiken Rhetorik bestehen. Der legen-
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därste Vertreter der essayistischen Rezension oder des Besprechungs-Essays war Sainte-Beuve, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts über zwei Dekaden hin seine „Causeries du lundi“ veröffentlichte, die Ida Overbeck 1880 auf Anregung Nietzsches hin ins Deutsche übersetzte. Stefan Zweig, der sie 1923 erneut entdeckte und edierte, war begeistert von dieser kritischen Lebensleistung, und Wolf Lepenies und Christopher Prendergast haben 1997 bzw. 2007 Monografien über Sainte-Beuve publiziert. In unserer Zeit war Reinhard Baumgart derjenige, der seine Besprechungen mit essayistisch-literarischem Anspruch veröffentlichte. Er sah sich in einer Traditionslinie, die in Deutschland von Friedrich Schlegel über Alfred Kerr bis Walter Benjamin reichte. Das ist seinem Beitrag im Band von Miller/Stolz zu entnehmen. Friedrich Schlegel ist in Deutschland eine Art Urbild der essayistischen Kritiker-Existenz, der in verschiedenen seiner aphoristischen Athenäums-Fragmente die Zielsetzung der Rezension zu umschreiben versuchte: „Die echte Rezension“, sagt er, „sollte die Auflösung einer kritischen Gleichung, das Resultat und die Darstellung eines philologischen Experiments und einer literarischen Recherche sein.“ Da werden die Genauigkeit der Mathematik, der Wagemut des wissenschaftlichen Experiments und die Mühe der Forschungsanstrengung als Voraussetzung der gelungenen Besprechung postuliert. Und an anderer Stelle formuliert Schlegel: „Kritisiren heißt einen Autor besser verstehn als er s[ich] selbst verstanden hat.“ Auch hier ist der Anspruch denkbar hoch, wird doch erwartet, dass zu den intra- auch die inter-textuellen Bezüge der Dichtung durchsichtig gemacht werden und dadurch ein Wissen vermittelt wird, das den Erkenntnishorizont des Einzelwerks transzendieren kann. Im Alltag des Besprechungswesens erinnert man sich selten an hehre Forderungen, aber wenn es um optimale Zielsetzungen neuer Gattungen geht, sind solche Postulate als Orientierungsmarken unerlässlich. Was zu einem Auseinanderdriften von Redaktions-Kritik und LehrstuhlGermanistik beigetragen hat, ist auch die zunehmende Rolle, die das Fern sehen bei der Literaturvermittlung spielt. Kann man im Feuilleton der Zeitungen und im Radio-Essay noch differenziert komplexe Sachverhalte darstellen und erläutern, ist dies bei den Literatursendungen im Fernsehen viel schwieriger. Hier erhalten solche Versuche oft den Charakter der Talk Show. Talk Shows haben nicht nur ihre Berechtigung, sondern sind in der Auseinandersetzung über aktuelle gesellschaftliche Krisenphänomene regionaler, nationaler oder globaler Art in demokratisch verfassten Gemeinwesen notwendiger Teil der öffentlichen Meinungsbildung. Schon aufgrund eigener Erfahrungen oder dank unterschiedlicher Informationsquellen verfügen die meisten Zuschauer über Kenntnisse der diskutierten politischen und sozialen Probleme. Bei Literatursendungen des Fernsehens ist das anders: Nur wenige im Publikum haben die besprochenen Bücher, über die debattiert wird, gelesen. Die zuständigen Kri-
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tiker sollen nicht nur Informationen über Werke verbreiten, die kaum jemand kennt, sondern zudem Werturteile fällen, weil die Zuschauer wissen wollen, was sich „verlohnt“ zu lesen, und was man im unübersichtlichen Angebot des Buchmarktes getrost ignorieren darf. Eine so konstruierte Sendung, sollte man meinen, kann keinen Erfolg haben. Damit sie aber doch Aufmerksamkeit findet, muss man nach den Regeln des Mediums agieren, nämlich in die Sprache der Superlative verfallen, die visuellen Erwartungen der ZuschauerInnen gestisch bedienen, d.h. Scheingefechte vom Zaun brechen, Verrisse dramatisch zelebrieren, Tote auferstehen lassen und Lebende in den Orkus verbannen, am Schluss Preise und Nieten verteilen, mit einem Wort: Unterhaltungstheater bieten. Das bekam für eine Weile Marcel Reich-Ranicki hin, der deutsche Großkritiker der 1980er und 1990er Jahre, und zwar im „Literarischen Quartett“, das vom ZDF ausgestrahlt wurde. Zwei Kritiker (Reich-Ranicki selbst, Helmut Karasek) und eine Kritikerin (Sigrid Löffler, die nach einem Skandal im vorletzten Jahr der Sendung von Iris Radisch abgelöst wurde) sowie ein wechselnder zusätzlicher Gast (meistens ebenfalls Kritiker) diskutierten alle drei Monate literarische Neuerscheinungen, vor allem Romane und Bände mit Erzählungen. Im Vordergrund standen Bücher der Gegenwartsliteratur aus den deutschsprachigen Ländern, doch wurden für wichtig befundene Veröffentlichungen aus dem Ausland, soweit sie in deutscher Übersetzung vorlagen, ebenfalls besprochen. Bei diesen Veranstaltungen wurde ein Buch entweder hochgejubelt oder radikal abgelehnt, wobei Reich-Ranicki, der sich zur „Vereinfachung“ und zur „Deutlichkeit“ in der Kritik bekannte, mit seinen Urteilen den Ausschlag gab. Wenn er den Daumen hob, strömten die ZuschauerInnen in die Buchhandlungen und der gelobte Autor oder die gefeierte Autorin konnte über Nacht reich werden, senkte er den Daumen, sah es um den Erfolg des abgekanzelten Werks weniger gut aus. Das galt jedenfalls für die frühen Jahre des „Quartetts“, für die späteren weniger. Können HochschullehrerInnen sich an dieser Art der Literaturvermittlung beteiligen? Alles spricht dagegen, denn verhielte sich eine Professorin oder ein Professor im Seminar wie der Großkritiker in der Sendung, würden die Studierenden die Flucht ergreifen und dem Germanisten ein Verweis durch den Rektor kaum erspart bleiben. Reich-Ranicki lud zuweilen als vierte Person im Quartett Germanisten ein, z.B. Dieter Borchmeyer, Peter Demetz, Helmut Koopmann, Wendelin Schmidt-Dengler und Peter von Matt. Sie fühlten sich bei der Sendung nicht sonderlich wohl, wie man ihrer Mimik und Körpersprache ansah. Ob LiteraturwissenschaftlerInnen demnächst in der Rolle der wechselnden vierten Person stärker zum Zuge kommen werden? Im Herbst 2015 wird Volker Weidermann mit Christine Westermann und Maxim Biller beim ZDF das neue „Literarische Quartett“ starten. Eine Kopie des alten soll und wird es nicht werden.
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War im Literarischen Quartett Marcel Reich-Ranickis immerhin noch Buchkritik erkennbar, reduzierte sie sich in der Nachfolgesendung auf den Buchtipp, wobei die Werbung vollends die intellektuelle Anstrengung ersetzte. Tatsache ist, dass der verkaufsfördernde Effekt in den Fernsehsendungen wesentlich größer ist als in irgendeinem anderen Medium. So ließ sich das ZDF nicht davon abbringen, eine Fortsetzungsreihe über literarische Neuerscheinungen mit einem veränderten Profil zu planen. Darauf drängte auch der deutsche Buchhandel, denn ein ersatzloses Streichen der Reich-Ranicki-Veranstaltung, in der nahezu vierhundert Titel vorgestellt worden waren, hätte sich geschäftsschädigend aus gewirkt. Schon bald war die Kritikerin und Autorin Elke Heidenreich engagiert, um die neue Sendung „Lesen!“ zu moderieren, die von Gunther Nickel satirisch als „Kaufen!“ bezeichnet wurde, weil sie allzu sehr auf die Konsumentenmentalität der Zuschauer abgestimmt war. Heidenreich wollte nach eigener Aussage „die Menschen ans Lesen bringen“. Anders als beim Quartett handelte es sich diesmal um eine „Ein-Frau-Show“, wenngleich zuweilen eine echohafte zweite Stimme zugelassen wurde. Der Ton war höflicher, und man wollte eine Konsens-Atmosphäre im Stil von „gute Freundin empfiehlt gutes Buch“ schaffen. Ihr schlichtes Lieblingsurteil blieb über Jahre hin „Ein ganz großartiges Buch!“ Auch Freundlichkeiten wie „Ein zartes Buch!“ waren nicht selten. Zudem galt als besonders großes Lob „Kein Durchhänger! Auf vierhundert Seiten kein Durchhänger!“ Die Sendung blieb – so monoton das Loben bald wirkte – ein Motor des belletristischen Marktes, und als sich die Moderatorin im Jahr 2008 mit dem ZDF verkrachte, reagierte der Buchhandel erneut nervös. Man war sich des HeidenreichEffekts wohl bewusst, und ohne ihre Fernsehvermittlung wären eine ganze Reihe von Titeln wie Blei auf den Ladentischen liegen geblieben. Es kann hier nicht auf alle Literatursendungen im Fernsehen eingegangen werden. Keine von ihnen erreichte so viele ZuschauerInnen wie „Lesen!“, eine Sendung, deren Einschaltquoten mit häufig mehr als einer Million noch über denen des „Literarischen Quartetts“ lagen. Je weniger fernseh-spektakelhaft sie inszeniert sind, desto gerechter werden diese Sendungen dem Medium Buch, aber desto geringer fallen auch die Einschaltquoten aus. Damit muss man leben. Heute sind – anders als früher – die Literatursendungen nur noch MitternachtsEreignisse. Der Vorteil ist, dass man ein interessiertes, stärker mitdenkendes Publikum erreicht. Sehenswert ist das Vorstellen von Neuerscheinungen aus der internationalen Literaturszene durch Wolfgang Herles im „Blauen Sofa“ des ZDF. Martin Lüdke leitete sechzehn Jahre lang beim Südwestrundfunk die Fernsehsendung „Literatur im Foyer“, in der der Moderator kluge Gespräche mit AutorInnen und Intellektuellen führte. In Thea Dorn fand er eine Nachfolgerin, deren Interviews ebenfalls von denkbar hohem Niveau waren. Sie benannte die Sendung um in „lesenswert“, die inzwischen abwechselnd von Felicitas von Lovenberg
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(„FAZ“) und Denis Scheck fortgesetzt wird. Auch sie verwickeln Literaten in Diskussionen, denen man gerne zuhört. „Literatur im Foyer“ und „lesenswert“ haben gezeigt, dass es sinnvolle Präsentationsformen von Dichtung auch im Medium Fernsehen geben kann. Viermal im Jahr wird „lesenswert“ als Quartett veranstaltet, an dem regelmäßig Ijoma Mangold von der „ZEIT“ und ein weiterer Kritiker teilnehmen. Hier wird man an das Reich-Ranickische Quartett erinnert, das aber weder im äußeren Stil noch in der Direktheit der Autoritätsurteile imitiert wird. Denis Scheck leitet zudem seit zwölf Jahren die inzwischen populärste Sendung dieser Art im Fernsehen: das ARD-Literaturmagazin „Druckfrisch“. Die gestische Präsenz des Moderators erinnert etwas an Reich-Ranicki. Anders aber als der Großkritiker der 1990er Jahre, der kaum AutorInnen der besprochenen Bücher in seine Sendung einlud, sind die Plaudereien mit SchriftstellerInnen das Markenzeichen von „Druckfrisch“. Das Ganze ist telegen in wechselnder Umgebung plaziert und musikalisch untermalt: Man parliert artig beim Kahnfahren auf einem See, beim Flanieren durch Metropolen der Welt oder bei einem Kaffee auf der Hotelterrasse. Doch bei all diesen Sendungen (eine Ausnahme machte früher „Literatur im Foyer“) kommt man ohne germanistische Beteiligung aus, und es hätte wenig Zweck, die Vertreter unseres Fachs auf den TV-Stil zu verpflichten. Zur weiteren Entfremdung zwischen Germanistik und Literaturkritik haben auch Veränderungen bei den Printmedien beigetragen, die auf den Siegeszug des Internets zurückzuführen sind. Auch für die Reklamewelt gilt mehr und mehr: „quod non est in internet non est in mundo“. Früher brachten die Annoncen den Zeitungen große Gewinne ein, mit denen sich ein anspruchsvolles und umfangreiches Feuilleton, zu dem viele freie Mitarbeiter beitrugen, leicht finanzieren ließ. Die ehemals so fetten Beilagen mit Anzeigen plagt inzwischen die Schwindsucht, denn die meisten Firmen ziehen es vor, für ihre Produkte im Internet Reklame zu machen. Nur bei den Todesanzeigen werden nach wie vor die gedruckten Ausgaben vorgezogen. So müssen auch ehemals finanzstarke Tagesund Wochenzeitungen Verluste hinnehmen. Die Kettenreaktion: Verkleinerung des Literaturteils, Rückrufung der teuren KulturberichterstatterInnen aus dem Ausland und selbstverständlich starke Reduktion des Stabs der freien MitarbeiterInnen, zu denen auch Hochschul-GermanistInnen gehören. Und neuerdings wird auch die – zugegebenermaßen noch stattliche – Anzahl der Literaturredakteure reduziert. „Gesundschrumpfen“ ist da ein den Sachverhalt verfälschender Euphemismus. Die Redaktion des Feuilletons bei allen Zeitungen reflektiert zudem die soziologische Tatsache, dass das Bildungsbürgertum, das es auch in Deutschland noch gibt, zusehends kleiner wird. Bildung als Distinktionsmittel, als Ausweis der Mitgliedschaft zur Elite der Nation gibt es zwar noch, spielt aber eine immer geringere Rolle beim Bemühen um gesellschaftliche Anerkennung.Bis vor etwa zwei
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Jahrzehnten waren die Buchhandlungen in Deutschland eine bildungsbürgerliche Institution, und Gespräche mit BuchhändlerInnen waren intellektuell oft anregender als die mit germanistischen KollegInnen oder mit KritikerInnen. Viele Autoren hatten am Anfang ihrer Laufbahn eine Buchhandelslehre absolviert, denn im Biotop der Buchläden fanden sich Kenner und Liebhaber der Literatur zum Austausch von Leseerfahrungen. Nicht zuletzt die hier arrangierten Dichterlesungen waren aus der Biografie der SchriftstellerInnen als Begegnungsmöglichkeit mit dem Publikum, als Anregung und Korrektiv nicht fortzudenken. Das ist Geschichte. Ähnlich dem Feuilleton erodiert auch diese Säule des literarischen Lebens. Buchhandlungen werden mehr und mehr durch Online-Vertriebssysteme ersetzt. Von ihnen ist Amazon – vor zwanzig Jahren gegründet – die größte, international unaufhaltsam expandierende Firma und einer der erfolgreichsten U.S.Aufsteiger im Internetgeschäft überhaupt. Deutschland ist für Amazon der wichtigste Auslandsmarkt. Es hat keinen Zweck, darüber zu jammern. Noch haben die Chefs von Buchhandlungen über die VerlagsvertreterInnen Einfluss auf bestimmte Titel, können einem Werk auch dann zum Erfolg verhelfen, wenn die Kritik sich über sein Erscheinen aussschwieg. Die Expertise und das Engagement dieser Buchänd lerInnen soll nicht in Frage gestellt werden. Das Verkaufspersonal aber, dem man heute in Buchläden meistens begegnet, ist entschieden weniger qualifiziert. Sieht man von wenigen Buchhandlungen als Kulturinseln in Universitätsstädten ab, macht es nur noch wenig Freude, in den Book Centers mit dem Personal zu reden. Zum Gespräch über Literatur kann es nicht kommen, denn erstens weiß es nichts und zum zweiten hat es keine Zeit. Namen von AutorInnen oder Titeln sind ihm unbekannt und man muss sie ihm vorbuchstabieren, damit sie korrekt in den Computer eingegeben werden können. Sie sind VerkäuferInnen, die genauso gelangweilt ihrem mediokren Bedienungsgeschäft in der Schuh- oder Parfümerieabteilung eines Kaufhauses nachgehen könnten. Auch dort würden sie nur stammeln: „Probieren Sie mal an!“ oder „Riechen sie mal dran!“ Kein Wunder, dass man zuhause rasch im Internet nachschaut, ob dieses oder jenes Buch beim Online-Anbieter zu haben ist. Mit dem kann man sich zwar auch nicht unterhalten, aber er fordert einen immerhin auf, Leseeindrücke mitzuteilen, was man dann aber doch unterlässt, nachdem man sich die bereits veröffentlichten Pseudo-Rezensionen angeschaut hat. Die Germanistik kann diese Veränderungen im Literatur- und Kulturbereich nicht aufhalten, aber ihr ist hier – in Verbindung mit der Medienwissenschaft – ein Forschungsgegenstand erwachsen, den sie viel stärker als bisher analysieren sollte. Der Meinung ist auch Thomas Anz in „Literaturkritik“. Wenn die Germanistik einen Weg findet, ihre Ergebnisse sprachlich so zu vermitteln, dass sie von den unterschiedlichen Medien aufgenommen werden können, mag sie an Terrain
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wiedergewinnen, was ihr im Feuilleton der Zeitungen verlorengegangen ist. Ob es im Fernsehen, dem buchfernsten Medium, geschehen kann, ist eher fraglich (wenn auch keineswegs hoffnungslos), aber in den verbliebenen Sparten der Printmedien (etwa den Literaturmagazinen und Kulturzeitschriften) sowie den Online-Versionen der Presse bestehen Chancen. Zudem könnte sie im Universitätsbereich Programme einrichten, in denen von der Wissenschaft aus Brücken zur Kritik und zur Gegenwartsliteratur geschlagen werden. Dazu will ich von einem Zentrum berichten, das ich vor dreißig Jahren gegründet habe, und das als Beispiel für eine verstärkte Kooperation zwischen Germanistik, Kritik und Gegenwartsdichtung gesehen werden kann.
II. Kooperationserfolge: Das Max Kade Zentrum in St. Louis Zwischen 1974 und 1981 erschien die von mir im Suhrkamp Verlag edierte Kommentierte Werkausgabe Hermann Broch, und 1985 publizierte ich dort die BrochBiografie, für die ich von der German Studies Association den DAAD-Preis für das beste Buch von 1985 zuerkannt bekam. Ich erlebte damals zum ersten Mal, dass meine wissenschaftlichen Arbeiten im Feuilleton der vielgelesenen Tagesund Wochenzeitungen wahrgenommen wurden, während ich bisher nur die Reaktionen der KollegInnen durch Besprechungen in Fachzeitschriften kennengelernt hatte. Und nicht nur das: ich wurde von Redakteuren, denen meine herausgeberische wie biografische Arbeit gefallen hatte, gebeten, ihnen Beiträge über Hermann Broch zu schicken. Die ersten Aufforderungen dazu kamen in den frühen 1980er Jahren von Hansres Jacobi („Neue Zürcher Zeitung“) und Rolf Michaelis („DIE ZEIT“). Die beiden Kritiker sind inzwischen verstorben, und ich habe ihnen diesen Band zur Erinnerung gewidmet. Beide waren promovierte, komparatistisch interessierte Literaturwissenschaftler und Grenzgänger zwischen Kritik und Germanistik: Jacobi ein ausgewiesener Kenner der Wiener Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (woher sein Interesse an Broch rührte); Michaelis ein Friedrich Hölderlin- sowie Gerhart Hauptmann-Experte und Uwe Johnson-Enthusiast. Ihre NachfolgerInnen Beatrice von Matt und Andrea Köhler bzw. Ulrich Greiner und Iris Radisch boten mir weiterhin die Möglichkeit, für die betreffenden Blätter zu schreiben. Es blieb aber nicht bei Einladungen zu Beiträgen über Broch. Bald folgten Aufsätze zur Exilliteratur allgemein, Besprechungen zur Gegenwartsliteratur, Artikel zum literarischen Europadiskurs, Rezensionen zu Studien über die klassische und romantische Epoche sowie Stellungnahmen zu zeitkritischen Fragen. Ich erhielt Gelegenheit, Ergebnisse meiner germanistischen Forschungen in der Sprache der Kritik einem allgemeineren Publikum bekannt zu machen und mich
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an der Diskussion über literarische Neuerscheinungen zu beteiligen. Auch der Kreis der Journale erweiterte sich im Lauf der Jahre. Rachel Salamander und Tilman Krause boten mir die Möglichkeit, in der „Literarischen Welt“ (der Samstagsbeilage der „Welt“) zu schreiben. Ina Hartwig forderte mich auf, Essays und Besprechungen für die „Frankfurter Rundschau“ zu verfassen, Gregor Dotzauer schickte mir Bücher, um sie für den Berliner „Tagesspiegel“ zu besprechen und Marcel Reich-Ranicki orderte zwei Mal Gedichtinterpretationen für seine „Frankfurter Anthologie“ in der „FAZ“. Hinzu kamen die Kulturzeitschriften „Neue Rundschau“ und „Merkur“ als Uwe Wittstock bzw. Kurt Scheel die dort verantwortlichen Redakteure waren. All diese Beiträge werden hier – nach Themen gebieten geordnet – publiziert. Die Rezensionen sind keine Verrisse, aber es werden in ihnen auch keine Bücher hochgejubelt. Es sind nüchterne Beiträge, in denen geschichtliche wie lebensweltliche Beziehungen, literarhistorische Verflechtungen und ästhetische Eigenheiten profiliert werden. Wenn es angebracht ist, wird auch mit Lob nicht gespart. Hubert Winkels hat 2006 in der „ZEIT“ den Essay „Emphatiker und Gnostiker“ publiziert. Da der Begriff „Gnostiker“ durch seine religionsgeschichtliche Bedeutung festgelegt ist, ist die Wortwahl unpassend. Gemeint ist der Gegensatz zwischen jenen Kritikern, die als „Emphatiker“ eine starke Lebensnähe der Dichtung fordern im Gegensatz zu solchen, die sich in der Orientierung an Ästhetiker auf die formalen, gattungsspezifischen und toposhaften Aspekte der Literatur konzentrieren. Winkels ist zuzustimmen, dass derartige Einseitigkeiten nicht im Interesse der Literaturkritik liegen können. Die meisten Bücher, die ich besprochen habe, wurden mir von den Redak tionen zugeschickt, doch fragte ich zuweilen auch an, ob ich eine Rezension einschicken könne. Das war zum Beispiel der Fall bei Ruth Klügers „weiter leben – eine Jugend“, ein Buch, das ich von der Autorin mit einer Widmung gleich nach Erscheinen geschenkt bekommen hatte. So war mein Beitrag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 2. Oktober 1992 (also vor der Frankfurter Buchmesse) eine der ersten Besprechungen von „weiter leben“. Den Durchbruch schaffte das Buch, als Marcel Reich-Ranicki es im Literarischen Quartett am 14. Januar 1993 überschwenglich lobte und seine Zuhörer beschwor, diese Autobiografie einer Überlebenden von Auschwitz zu lesen. Das Buch begründete den Erfolg des bis dahin unbekannten Wallstein Verlags. „weiter leben“ wurde ein Bestseller, und heute findet man den Titel nicht selten auf den Leselisten von germanistischen Seminaren weltweit. Als bei der Jahrestagung der Modern Language Association im kalifornischen San Diego Ende Dezember 2003 die anwesenden GermanistInnen eine Feier zu meinem 60. Geburtstag veranstalteten, las Ruth Klüger ein witziges Gedicht auf mich vor (acht Strophen, jeweils fünfzeilig). Sie ist zwölf Jahre älter als ich und gab mir aus ihrer eigenen Erfahrung mit der siebten Lebensdekade folgende Schlussverse mit auf den Weg: „And let me tell you from experience,;/ The
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next ten years are what I like./ The world gives you an easy clearance,/ Smiles at your work and your appearance –/ So: Happy Birthday, dearest Mike!“ Die Absicht der hier vorgelegten Publikation ist vor allem, GermanistInnen – wo immer sie lehren – zu ermutigen, den Schritt hin zur größeren Publizität in den Zeitungen und Kulturjournalen zu unternehmen. Wenn sich die Germanistik weigert, ihre publizistischen Möglichkeiten wahrzunehmen, können ihre Leistungen, d.h. ihre Beiträge zur literarischen Kultur, von der Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen werden. Das wiederum führt zu der oft beklagten Unterschätzung des Fachs, die zur Marginalisierung führt. Fortgesetzt werden sollte eine Vermittlertradition, die mit Namen wie Peter Demetz und Peter Wapnewski, Walter Hinck und Walter Hinderer, Ruth Klüger und Egon Schwarz verbunden ist. Zu den Germanisten meiner Generation, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Bedeutung publizistischen Schreibens für unser Fach erkannt haben, gehören Jörg Drews, Ernst Osterkamp, Wendelin Schmidt-Dengler und Peter von Matt. Was mir Mitte der 1980er Jahre bei den Feuilleton-Artikeln über meine Publikationen auffiel, war die Kompetenz und Eloquenz der Rezensenten, ihre Fairness und der Mut zum Lob, wenn man von verschwindend wenigen Ausnahmen absieht. Selbstverständlich war das nicht, denn in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren herrschte in einigen Feuilletons ein hämischer Ton vor. Es war keineswegs so, dass die Besprechungen sämtlich von RedakteurInnen verfasst worden wären. Man suchte oft germanistische Kollegen aus, die sich erstens auf dem Gebiet meiner Veröffentlichungen auskannten und zweitens gut schreiben konnten. Im Rückblick wird deutlich, dass der Höhepunkt der Durchlässigkeit des Feuilletons für germanistische Beiträge in die 1980er Jahre fiel. In der Zeit um 1985 erschienen eine Fülle positiver Besprechungen der Broch-Werkausgabe und der Broch-Biografie, darunter von George Steiner (damals Literaturprofessor in Genf) im „Times Literary Supplement“, von Michael Tanner (Germanist an der Cambridge University) im „Sunday Telegraph“, von Walter Hinderer aus Princeton in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, von Fritz Martini aus Stuttgart in der „Welt“, von Jürgen Manthey aus Essen in der „ZEIT“, von Hartmut Binder aus Ludwigsburg in der „NZZ“, von Helmuth Kiesel aus Tübingen in der „Stuttgarter Zeitung“, zusätzlich von dem Schriftsteller Wolfgang Hädecke in „Literatur und Kritik“. Die Übersetzung der Broch-Biografie ins Englische wurde von Angus Paul im amerikanischen „Chronicle of Higher Education“ und die ins Spanische von dem Autor und Politiker César Antonio Molina in „Diario“ besprochen (Molina war von 2007 bis 2009 Spaniens Kultusminister). Und bei der Berichterstattung über die von mir angeregten und mitorganisierten Broch-Tagungen war es nicht anders. Zu erinnern ist an eine ausführliche und positive Besprechung von Jochen Hieber in der „FAZ“, die Anfang November 1986 erschien. Anlass war
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das durch Michael Kessler und mich koordinierte Symposium zur Erinnerung an Brochs hundertsten Geburtstag in Stuttgart-Hohenheim. Zum fünfzigsten Todestag Brochs hatte ich eine Ausstellung über den Autor im Deutschen Literatur archiv zusammengestellt, die auch im Literaturhaus Berlin und im Palais Palffy in Wien gezeigt wurde. Rainer Hoffmann lobte sie in der „NZZ“ Anfang Juni 2001. Vergleichbar zustimmend fiel der Bericht von Oliver Jungen in der „FAZ“ über die Konferenz aus, die im Juli 2004 in Dortmund zum Brochschen Werkaspekt der Menschenrechte veranstaltet wurde. Mir geht es nicht darum, hier über die Rezensionen meiner Bücher, Tagungen oder Editionen in Tages- und Wochenzeitungen zu berichten. Es ist aber aufschlussreich zu sehen – und bestätigt die im ersten Teil der Einleitung konstatierte Tendenz –, wie die Zahl der Redakteure als Verfasser von Rezensionen ständig im Verhältnis zu der der Literaturwissenschaftler zunimmt. Nach dem Erscheinen meiner Monografie „Die Schriftsteller und Europa“ (1992) war das Verhältnis noch ausgeglichen: unter den Kritikern z.B. Heinrich Vormweg in der „Süddeutschen Zeitung“ und Ulrich Weinzierl in der „FAZ“ sowie von den Germanisten Gert Ueding in der „Welt“ und Albrecht Betz in den „Frankfurter Heften“. Von den in Europa bekannten Autoren meldete sich Bo Cavefors aus Schweden im „Svenska Dagbladet“ zu Wort. Aber als ich 2005 meine Studie „Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller“ publizierte, wurden von den Redaktionen keine Besprechungen mehr an Literaturwissenschaftler vergeben. Die Rezensionen blieben hausgemacht: Paul Jandl in der „NZZ“, Wend Kässens im „Norddeutschen Rundfunk“, Martin Lüdke in der „Frankfurter Rundschau“ und Ulrich Greiner in der „ZEIT“. Und das war 2009 bei meinem Buch „Bürgerkrieg global“ nicht anders: Volker Hage im „Spiegel“, Evelyn Finger in der „ZEIT“, Uwe Wittstock in der „Literarischen Welt“ und Brita Steinwendtner in „Literatur und Kritik“. Auch bei den von der Presse besonders stark beachteten Broch-Editionen wie dem Briefwechsel des Autors mit Hannah Arendt (1996), der „Psychischen Selbstbiographie“ (1999), und der Korrespondenz mit Annemarie Meier-Graefe („Der Tod im Exil“; 2001) ergab sich das gleiche Bild. „Der Tod im Exil“ schaffte es im Juli 2001 auf die Bestenliste des Südwestrundfunks. Wenn dem Auseinanderdriften von Germanistik und Literaturkritik im Feuilleton aus den genannten Gründen kaum gegengesteuert werden kann, muss man sich Wege neuer Kooperationen ausdenken. 1985 meinte ich: Wenn das Feuilleton eine solche Offenheit gegenüber der Literaturwissenschaft an den Tag legt und zudem zeigt, dass man auch Schriftsteller für germanistische Arbeiten interessieren kann: Ist es dann nicht naheliegend, auch die Germanistik der Kritik gegenüber zu öffnen und AutorInnen in unsere Seminare einzuladen? Das war der Grundgedanke, aus dem sich mein Plan entwickelte, ein Zentrum für deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu gründen. Wie in solchen Fällen üblich, muss auch an eine reale Basis gedacht werden, die das
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Ganze trägt und legitimiert. Diese Grundlage war die Schaffung der Sammlung „deutschsprachige Gegenwartsliteratur“ in der Bibliothek meiner Heimatuniversität, der Washington University in St. Louis, an der ich damals bereits seit zwölf Jahren arbeitete. 1983 war ich dort Leiter (Chairman) des German Departments geworden, und diese Position nutzte ich zur Gründung des Zentrums (übrigens auch zur Etablierung eines interdisziplinären European Studies Programs). Ich konnte zunächst die großen Literaturverlage für den Gedanken gewinnen, zum Aufbau der Sammlung Gegenwartsliteratur beizutragen: Wir würden in St. Louis die literarischen Neuerscheinungen kostenlos von ihnen zugeschickt bekommen und als Gegenleistung sollte eine Jahresbibliografie (mit Kurzinformationen zu jedem einzelnen Buch) erstellt werden, die an alle Deutschabteilungen nordamerikanischer Universitäten verteilt würde. Das geschah zuerst auf dem Postweg, anschließend über das Internet. 1985 konnten wir mit der Sammlung beginnen, und als die größten Verlage aus den deutschsprachigen Ländern für das Projekt gewonnen waren, folgten die mittleren und die kleineren Buchproduzenten nach. Bald machten über hundert Verlage im Konsortium mit, und inzwischen umfasst die Sammlung weit über zwanzigtausend Bände. Seit zwei Jahrzehnten vergeben wir jährlich Sommerstipendien an junge und etablierte GermanistInnen aus Nordamerika, damit sie die Sammlung bei ihren Arbeiten nutzen können. Finanziert wurden bzw. werden diese Stipendien von Verlagen wie Suhrkamp und Kiepenheuer & Witsch, von Stiftungen (Thyssen, Volkswagen, Bosch, Max Kade) und von der eigenen Universitätsbibliothek. 1985 begann ich auch damit, KritikerInnen und AutorInnen einzuladen. Voraussetzung dazu war der von unserer Universitätsverwaltung geäußerte Wunsch, dass eine Stiftung die Hälfte des Honorars für die Gäste zur Verfügung stellen würde. Das tat dankenswerterweise die Max Kade Stiftung in New York, wo ich den entsprechenden Antrag gestellt hatte. Diese Seminare zur Gegenwartsliteratur sind seit drei Jahrzehnten Teil des Kursangebots für die Studierenden im Graduiertenprogramm des German Departments der Washington University. So wie GermanistInnen fürs Feuilleton schreiben können, so können auch KritikerInnen Literaturseminare unterrichten. Und bei den SchriftstellerInnen ist das nicht anders. Die Herangehensweise an die Literatur ist in Germanistik, Kritik und bei den AutorInnen jeweils anders. Bei den Vertretern der Literaturkritik lernt man, wie man eine Rezension schreiben kann, welche Wertungskriterien im Feuilleton gelten, welche Zusammenhänge man zwischen Einzelwerk und bestimmten Tendenzen der Gegenwartsliteratur erkennen kann. Wie die GermanistInnen und die KritikerInnen, arbeiten auch die SchriftstellerInnen am Text, versuchen in Diskussionen ihre Leseeindrücke zu vermitteln, geben Einblick in ihre Schreibwerkstatt und berichten von literarischen Gruppierungen. Die SchriftstellerInnen behandeln Texte von anderen GegenwartsautorInnen, beziehen aber immer auch
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eines ihrer eigenen Bücher ins Unterrichtsprogramm mit ein. Die Studierenden der Germanistik an der Washington University lernen so, Texte aus der Perspektive des eigenen Fachs, des Feuilletons und der Schreibwerkstatt zu sehen. Von den KritikerInnen und den AutorInnen können die Studierenden auch lernen, sich klar, subtil, jargonfrei auszudrücken. Bei diesem durch das Seminar geschaffenen Kontakt bleibt es nicht. Die Gäste aus Kritik und Literatur erzählen über sich und ihre Arbeit auch in Vorträgen oder Lesungen, die für das German Department anberaumt werden. Zudem gehen studentische TeilnehmerInnen des Kritikerseminars nicht selten für eine Reihe von Wochen als PraktikantInnen in die Büros der RedakteurInnen, die sie als Critics in Residence kennengelernt haben. Besonders großzügig und entgegenkommend hat sich dabei Volker Weidermann bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in Berlin gezeigt. Gut verstanden hatte auch Brita Steinwendtner aus Salzburg die Idee unseres Zentrums. Sie selbst vereinigt in ihren Arbeiten als promovierte Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Schriftstellerin die drei Dimensionen, um deren Verknüpfung es uns im Zentrum zu tun ist. Im Frühjahr 2004 lud sie die neun Studierenden ihres Seminars, das sie als Max Kade Critic in Residence bei uns unterrichtet hatte, zu den Rauriser Literaturtagen ein, um ihnen dort aktive Rollen bei der Vorstellung anwesender Autorinnen zuzuweisen. Sie hatten sich als künftige GermanistInnen darauf vorbereit und lernten dort denkbar praxisnah viel über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kennen. Drei Jahre zuvor hatte sie mich in die Jury des Rauriser Literaturpreises eingeladen, und mein Vorschlag, Juli Zeh für ihren Debütroman „Adler und Engel“ den Preis zu verleihen, wurde akzeptiert. So hielt ich dort die Laudatio auf die junge Autorin. Ferner organisiert das Max Kade Zentrum (entweder in St. Louis oder in Kooperation mit Marcel Lepper und Anna Kinder am Deutschen Literaturarchiv in Marbach) seit 1999 alle zwei Jahre ein Wochenendseminar zur Gegenwartsliteratur für den nordamerikanischen germanistischen Nachwuchs, d.h. für maximal dreißig und mindestens fünfzehn Studierende in Doktorandenprogrammen und für Postdocs sowie Assistant Professors. Unterrichtet wird das Seminar jeweils von einem Germanisten oder eine Germanistin aus Deutschland oder Österreich, und an den Diskussionen nehmen auch AutorInnen teil, die zudem Vorträge halten: 1999 „Der Roman nach Thomas Bernhard“ (Wendelin Schmidt-Dengler und Josef Haslinger); 2001 „Das Drama nach Elfriede Jelinek“ (Hans-Peter Bayerdörfer); 2003: „Lyrik nach Paul Celan“ (Heinrich Detering, Durs Grünbein und Michael Hofmann); 2005: „Der Roman nach Heinrich Böll“ (Matías Martínez und Christoph Hein); 2007: „Erinnerung im zeitgenössischen Roman“ (Martina Wagner-Egelhaaf, Uwe Timm und Emine Sevgi Özdamar); 2007: „Der Familienroman der Gegenwart“ (Walter Erhart und Hans-Ulrich Treichel sowie Kathrin Schmidt);
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2011: „Poetik des Albums“ (Annegret Pelz, Wilhelm Genazino und Marcel Beyer); 2013: „Neue ostdeutsche Literatur“ (Sigrid Dahlke, Durs Grünbein, Angela Krauß); 2015: „Roman und Romanverfilmung“ (Claudia Liebrand und Bernhard Schlink). Hier zeigt sich, wie gut man in germanistische Fachseminare zur Gegenwartsliteratur das Gespräch mit AutorInnen einbauen kann. Erwähnt sei auch, dass seit 2009 Petra Hardt vom Suhrkamp Verlag bei diesen Veranstaltungen einen Vortrag über die amerikanisch-deutschen Verlagsbeziehungen im Hinblick auf die Gegenwartsliteratur hält. Die Wochenendseminare wurden von der Thyssen-, der Volkswagen- und der Bosch-Stiftung sowie dem Land Baden Württemberg finanziert. Worum es dem Max Kade Zentrum nicht zu tun ist: Es will weder aus KritikerInnen noch aus AutorInnen GermanistInnen machen, und noch weniger besteht der Ehrgeiz darin, die Studierenden zu JournalistInnen oder SchriftstellerInnen auszubilden. Wie stark der literaturwissenschaftliche Aspekt im Max Kade Zentrum ist, zeigt sich auch daran, dass wir seit fünfzehn Jahren das germanistische Jahrbuch „Gegenwartsliteratur“ edieren, das bei Stauffenburg in Tübingen erscheint. Das ist ein fachspezifisches Organ, in dem nach den Regeln der „refereed journals“ Aufsätze zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur von KollegInnen aus aller Welt erscheinen. Es ist die einzige germanistische Fachzeitschrift, die sich ausschließlich mit der Literatur der Gegenwart beschäftigt. Etwa die Hälfte jeden Bandes ist einem Thema gewidmet. Entweder ist der Schwerpunkt das Werk einer Autorin oder eines Autors (wie Günter Grass, Elfriede Jelinek, W.G. Sebald, Herta Müller, Uwe Timm, Peter Handke, Thomas Bernhard) oder ein Thema wie Multikultur, Berlin-Roman, Literatur und Film, neue ostdeutsche Literatur, Jüdisch-deutsche Dichtung oder zeitkritische Literatur von Autorinnen. Es geht im Zentrum nicht darum, die Unterschiede zwischen Wissenschaft, Kritik und Dichtung zu verwischen oder zu ignorieren. Die Absicht ist vielmehr, die drei so unterschiedlichen Literaturbereiche miteinander in Verbindung zu bringen und den intellektuellen Austausch zwischen ihnen zu intensivieren. Unter diesem Aspekt hat das Zentrum auch Kongresse zur Gegenwarts literatur veranstaltet. Das erste Symposium dieser Art fand im Frühjahr 1991 statt. Das Thema war „Spätmoderne und Postmoderne“. Es handelte sich um eine germanistische Konferenz mit Leslie Adelson, Thomas Anz, Bettina Clausen, Thomas Fox, David Roberts, Judith Ryan, Wendelin Schmidt-Dengler und Alois Wierlacher, doch hatten wir auch die Lyrikerin Ursula Krechel, den Romancier Hanns-Josef Ortheil und die beiden Kritiker Franz Josef Görtz und Volker Hage eingeladen. Der Erfolg des Trialogs zwischen Literatur, Kritik und Germanistik veranlasste mich, bei späteren Symposien den Anteil von Kritik und Literatur zu verstärken. Das Ergebnis der Tagung erschien im gleichen
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Jahr unter dem Titel des Symposiums als Fischer-Taschenbuch. Im Herbst 1991 hielt Heinrich Vormweg in der „SZ“ fest: „Das ist ein beachtenswerter Sammelband, schon weil in ihm tatsächlich versucht wird, das literarische Gespräch fortzusetzen.“ Zu dem Jubiläums-Symposium aus Anlass des zehnjährigen Bestehens im Jahr 1995 wurden alle ehemaligen „writers in residence“ eingeladen. Das waren Barbara Frischmuth, Silvio Blatter, Erica Pedretti, Paul Nizon, Jurek Becker, Sten Nadolny, Peter Schneider, Ursula Krechel, Hanns-Josef Ortheil, Yüksel Pazarkaya, Barbara Honigmann und Klaus Hoffer. Zudem waren vier VertreterInnen der internationalen Germanistik der Einladung gefolgt (Iman O. Khalil, Amy Colin, Leroy T. Hopkins und Irmgard Ackermann). Siegfried Unseld hielt den Festvortrag. Aus diesem Symposium ging der Sammelband „Schreiben zwischen den Kulturen“ hervor, der 1996 im Fischer Taschenbuch Verlag erschien. In der „FAZ“ berichtete Ulrich Weinzierl im April 1995 über die Tagung und erwähnte, dass die meisten AutorInnen sich gegenüber dem fachsprachlichen Diskurs über Multikulturalität und Postkolonialismus eher reserviert verhielten. Ansonsten schilderte er das Zentrum allgemein und wusste von den GastdozentInnen aus Literatur und Kritik, zu denen er selbst gehörte: „Die meisten erinnern sich mit Vergnügen, ja nicht ohne Sentimentalität an die Wochen in Missouri.“ Das ist in der Tat so, und fünf der ehemaligen KritikerInnen sowie fünf der ehemaligen AutorInnen haben ihre St. Louis-Erinnerungen in Essays und in autobiografischen Texten festgehalten: Reinhard Baumgart in seinen Memoiren mit dem Titel „Damals“ (2003), Jurek Becker in den „Neuigkeiten an Manfred Krug & Otti“ (1997), Barbara Honigmann im Erzählband „Am Sonntag spielt der Rabbi Fußball“ (1998), Hanns-Josef Ortheil in den „Phantasien über eine Stadt“ in der „Stuttgarter Zeitung“ (Oktober 1988), Paul Nizon im tagebuchartigen Roman „Die Innenseite des Mantels“ (1995), Brita Steinwendtner in „Literatur und Kritik“ (Juli 2003), Gregor Dotzauer im „Kursbuch“ (Dezember 2004), Franz Josef Görtz in der „Kulturchronik“ (1991), Andrea Köhler in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Mai 2005) und Beatrice von Matt ebenfalls in der „NZZ“ (Februar und April 1995). Schließlich ist Ulf Erdmann Ziegler zu erwähnen, und zwar mit dem 2007 erschienenen Roman „Hamburger Hochbahn“, dessen Handlung zu einem großen Teil in St. Louis spielt. Der Autor begleitete im Frühjahr 2002 Ina Hartwig nach St. Louis, die damals Max Kade Critic in Residence bei uns war, und er verarbeitete Erlebnisse an der Washington University, wo er Kontakt zur Abteilung für Kunstgeschichte hatte. Als ich 2010 die Banquet Speech während des Jubiläumssymposiums hielt, komponierte ich aus diesen St. Louis-Reminiszenzen einen Vortrag und stellte heraus, dass man die Texte zu einem Reiseführer durch die Stadt zusammenstellen könnte. Ich schloss die Rede ab mit einem Sonett, das Reinhard Baumgart, der 1998 unser Writer in Residence war, mir im November 2003 zum 60. Geburtstag geschickt hatte:
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Zu oft war ich schon übers Land geflogen Die unbegreiflich weiten U.S.A. Wobei auf einer Tour ich ungelogen in nur sechs Wochen dreißig Städte sah.// Sie sah, verließ, vergaß, um in Manhattan Dann im Hotel betrübt zu denken, zeig My God, mir nach so vielen Städten Mal eine etwas länger – Lieber Mike:// Vom lieben Gott bin ich verwiesen worden Auf Sie, der schrieb, im Namen der WashU Mich einlud, zweimal, und ich sagte zu// Erlebte eine Stadt, wo Süden, Norden Und West und Ost sich treffen, mittendrin Wofür ich Gott und Ihnen dankbar bin. Das Gedicht war Baumgarts Beitrag zu einer Festschrift in Briefen mit dem Titel „Dem Brückenbauer Paul Michael Lützeler“. Die Briefsammlung wurde mir 2003 zu meinem 60. Geburtstag übergeben. Alle 36 Max Kade Writers and Critics und die 34 GermanistInnen und Europa-ExpertInnen, die bis dahin von mir zu Gastdozenturen nach St. Louis eingeladen worden waren, hatten sich daran beteiligt. Zum 65. Geburtstag widmeten mir ehemalige Schülerinnen und Schüler von der Washington University eine Festschrift mit dem Titel „Über Gegenwartsliteratur/ About Contemporary Literature“, herausgegeben von Mark W. Rectanus. Die Beiträger waren durch die Aktivitäten des Max Kade Zentrums zu Arbeiten über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur angeregt worden. 1997 veranstaltete das Max Kade Zentrum die germanistische Tagung „Schriftsteller und ‚Dritte Welt‘“ (als Band ein Jahr später bei Stauffenburg erschienen). Dabei war Uwe Timm anwesend, der gerade als Max Kade Writer in Residence bei uns unterrichtete. Seinen Einleitungsvortrag „Das Nahe und das Ferne. Schreiben über fremde Welten“ nahm ich in den von mir bei Suhrkamp 1997 edierten Band „Der postkoloniale Blick“ auf. Bei dem Symposium wurde auch Uwe Timms Roman „Der Schlangenbaum“ diskutiert, und der Autor zeigte, dass er – was niemand erwartet hatte – als promovierter Geisteswissenschaftler bei differenzierten Erörterungen von Aspekten der postkolonialen Theorie mithalten konnte. 2010 bestand das Max Kade Center for Contemporary German Literature (wie es auf Englisch heißt) seit einem Vierteljahrhundert. Aus dem Anlass lud ich acht GermanistInnen, acht KritikerInnen und acht AutorInnen ein, wobei die Vertreter von Kritik und Dichtung sämtlich ehemalige Max Kade Critics and Writers waren. Der Kongress reihte acht Dreiergruppen aneinander: Im Mittelpunkt stand jeweils eine Autorin oder ein Autor. Der Kritiker oder die Kritikerin führte in einem Über-
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blicksvortrag in das Werk des Autors oder der Autorin ein. Es folgte eine Poetikvorlesung der Schriftstellerin oder des Schriftstellers, und die abschließende Analyse eines Einzelwerks durch eine Germanistin oder einen Germanisten rundete die Beiträge des Segments ab. Die Gruppen setzten sich so zusammen: 1. Michael Braun – Durs Grünbein – Heinrich Detering; 2. Ina Hartwig – Arnold Stadler – Peter Hanenberg; 3. Stephan Krass – Angela Krauss – Werner Frick; 4. Ulrich Greiner – Peter Schneider – Paul Michael Lützeler; 5. Gregor Dotzauer – Ulf Erdmann Ziegler – Mark Rectanus; 6. Andrea Köhler – Hans-Ulrich Treichel – Jennifer M. Kapczynski; 7. Hajo Steinert – Barbara Honigmann – Erin McGlothlin; 8. Evelyn Finger – Yoko Tawada – Suzuko Mousel Knott. Das Ergebnis der Konferenz war der Band „Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart“, herausgegeben von mir und meiner Kollegin Jennifer M. Kapczynski, erschienen 2011 im Wallstein Verlag. Ich hatte die Tagung paradigmatisch angelegt und der Plan ging auf: Drei Tage lang waren Germanistik, Kritik und Literatur auf lebendige Weise trialogisch verbunden. Der Erfolg stellte sich ein: Mit über hundert GermanistInnen, die aus Nordamerika und Europa angereist waren und sich an den Diskussionen beteiligten, war es eines der bestbesuchtesten und anregendsten Symposien, die in der hundertzwanzigjährigen Geschichte des German Departments der Washington University stattgefunden haben. Das wurde auch von dem deutschen Germanisten Alexander Košenina so gesehen, der im April 2010 in der „FAZ“ ausführlich über das Symposium berichtete und Werner Frick zustimmte, der bei der Tagung anmerkte, dass St. Louis die heimliche Hauptstadt der deutschen Gegenwartsliteratur sei. Ohne freundliche Hyperbeln kommt man bei den Diskussionen solcher Jubiläums-Symposien selten aus. Das ist bei Würdigungen, die man zum 60. oder 70. Geburtstag erhält, nicht anders. In der „FAZ“ veröffentlichten Renate Schostack 2003 und Volker Weidermann 2013 über mich schöne Gratulationsartikel, die das Modellhafte des Max Kade Zentrums unterstrichen. Den Modellcharakter des Zentrums möchte ich ebenfalls hervorheben. Hier ist alles auf die Intensivierung des Kontakts und des Gesprächs zwischen Literaturwissenschaft, Kritik und Dichtung abgestellt. Das ist sinnvoll, weil die drei Parteien aufeinander angewiesen sind: Ohne das wissenschaftliche Sammeln, Edieren und Unterrichten von Literatur und ohne die akademische Ausbildung von Lehrern risse das kulturelle Band, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Ohne Literaturkritik im Feuilleton (ob in den Printmedien oder Online) lernt eine Gesellschaft ihre Gegenwartsdichtung und damit sich selbst nicht kennen. Periodisch wiederkehrend ist seit langem von der Krise der Germanistik oder der Geisteswissenschaft allgemein die Rede, von abnehmender Anerkennung und von zunehmender Irrelevanz. Es ist eine Krise, die sich auch in den immer kleiner werdenden Auflagen germanistischer Bücher zeigt, und die meisten von ihnen können ohne finanzielle Unterstützung von dritter Seite schon
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nicht mehr erscheinen. Längst sind die Zeitungen auch voll von Artikeln über die Legitimationskrisen und die Minderung des Ansehens der Dichtung überhaupt. Auch hier kann die rapide Verringerung der Auflagen von Einzelwerken nicht übersehen werden. Dabei ist die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten, der Beiträge im Feuilleton sowie der Romane, Gedichte, Essays und Dramen in der Gegenwartsliteratur beeindruckend. Dieses hohe Niveau der Literatur-Triade lässt hoffen, dass ein verstärkter Trialog zwischen den drei Bereichen zur Positionssicherung in einer Öffentlichkeit beiträgt, deren Faszination durch audiovisuelle Medien seit langem im Wachsen begriffen ist. Und vielleicht kann ein intensiverer Dialog der Literatur-Triade mit den anderen Medien zu einer Vitalisierung des kulturellen Bereichs insgesamt führen. Doch zunächst muss die Literatur-Triade sehen, dass keiner ihrer Teile auf der Strecke bleibt. Kritik und Wissenschaft sind, um Volker Hage noch einmal zu zitieren, „Schatten und Begleiter“ der Literatur, und man stelle sich vor, der Dichtung käme wie dem Chamissoschen Schlemihl der Schatten oder wie dem alttestamentarischen Tobias der schützende Begleiter abhanden: ein unausdenkbarer Schaden. Im Mittelpunkt steht – wie beim St. Louis-Symposium von 2010 augenfällig vergegenwärtigt – die Dichtung selbst. Ohne eine sich neu generierende Gegenwartsliteratur, die auch immer reflektierte Auseinandersetzung mit Überlieferung ist, näherte sich unsere Gesellschaft dem kulturellen Kältetod.
1. Gegenwartsliteratur: Roman und Poetik
Christian Kracht, Imperium Die Welt/Literarische Welt (11.2.2012) Fiktionalisierte Biografien über exzentrische europäische Forschungsreisende, Glücksritter und Propheten, die unter den Bedingungen des kolonialen 19. Jahrhunderts fremde Erdteile heimsuchten, sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur keine Seltenheit. Daniel Kehlmann erinnert in der „Vermessung der Welt“ an Alexander von Humboldt in Südamerika; Alex Capus in „Munzinger Pascha“ an den Schweizer Afrika-Abenteurer Werner Munzinger; Hans Christoph Buch in „Kain und Abel in Afrika“ an Richard Kandt, den deutschen Residenten von Ruanda, und Ilija Trojanow im „Weltensammler“ an den britischen Tausendsassa Richard Francis Burton, der sich in fast allen Teilen des Commonwealth tummelte. Den in die Südsee führenden Spuren des Nürnberger Gottsuchers August Engelhardt ist nach Marc Buhl („Das Paradies des August Engelhardt“) jetzt auch Christian Kracht in seinem neuen Roman „Imperium“ gefolgt. Im Gegensatz zu Humboldt, Munzinger, Kandt oder Burton war Engelhardt an Realität nur als Startbahn zum Abheben in metaphysische Gefilde interessiert. Die Lebensreform-Bewegung um 1900 ermunterte manche Sonderlinge, neue Evangelien von Nacktwandern, Vegetarismus und Sonnenanbetung zur Überwindung der verachteten westlichen Zivilisation zu verkünden. Innerhalb dieser Strömung gab es einige Propheten, die nicht nur das irdische Glück maximieren wollten, sondern sich auch als religiöse Heilsbringer gerierten. Zu ihnen gehörte August Engelhardt. Von allen Gesundheitsaposteln, die damals in Europa (Gustav Nagel), Nordamerika (John Kellog) und Australien (Edward Halsey) vegetarische Diäten aus frommer Absicht anpriesen, war er mit Abstand der weltfremdeste. Das zeigt die Forschung über ihn, und so wird er auch von Christian Kracht geschildert. Mit seinen bisherigen Büchern hat Kracht als Reiseschriftsteller und Analytiker kultureller Konfrontationen großen Erfolg gehabt, und der wird auch bei „Imperium“, einem Meisterwerk, nicht ausbleiben. Die Figuren des Buches sind bis auf wenige Ausnahmen historische Persönlichkeiten, doch geht Kracht mit ihren Lebensläufen frei um, erfindet Begegnungen und verändert Ereignisse. Im Roman stirbt Engelhardt nicht 1919, wie die historiografische Forschung berichtet, sondern erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Solche Abweichungen haben ihren Grund nicht zuletzt in den wiederholten Hinweisen des Erzählers auf Ähnlichkeiten zwischen August Engelhardt und Adolf Hitler, die er beide in einem Erlösungswahn befangen sieht. Berichtet wird die Handlung von einem „Wir-Erzähler“, der die Hauptfigur des Romans gern „unseren Freund“ nennt. Es ist eine narrative Stimme, die
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immer präsent ist, die souverän über ein Wissen verfügt, das Vergangenes, die Gegenwart um 1900 und kommende Jahrzehnte gleichermaßen umgreift. Als Leser vollziehen „wir“ das Erzählte nach, werden gleichsam Teil der berichteten Welt, in der Engelhardt sich bewegt. Dessen erste Publikation trug den Titel „Eine sorgenfreie Zukunft“. Die heile Welt wollte er durch „nackten Kokovorismus“ herbeiführen, den er für den „Willen Gottes“ hielt. Das Paradies, „sein Zion“, war die Kolonie Deutsch-Neuguinea, genauer Kabakon, eine winzige Insel im Bismarck-Archipel, auf dem sich eine Kokospalmen-Plantage befand, die Engelhardt erwarb. Kabakon liegt in der Nähe der Insel Neupommern (später New Britain). Herbertshöhe (heute Kokopo) auf Neupommern war die Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Der Mensch, so Engelhardt, braucht nichts anderes als Sonne, Nacktheit und Kokosnüsse, um eine höhere, ja die höchste, die gottnahe Kulturstufe zu erreichen: Die Kokosnuss ist sein Gral, die Palme seine Kathedrale, die Südseeinsel sein Jerusalem, sein Rom, sein Mekka. Alle Probleme der Welt werden aus falscher Essgewohnheit und mangelnder Sonnenbestrahlung erklärt. Engelhardts fixe Idee (er ernährt sich nur von Kokosnüssen) ruiniert seine Gesundheit und führt zu Wahnzuständen, schließlich – in Krachts Roman – zu einem paranoiden Antisemitismus. Hier wird die Parallele zu Hitler erneut konturiert, der ebenfalls die Übel der Welt aus einem Punkt, dem der Rassenvermischung, heraus erklärt und das „Heil“ im Antisemitismus sieht. Hitler gehörte am Anfang seiner „Bewegung“ zu jenen Inflations-Heiligen, die in der Weimarer Republik mit „radikalen“ Mitteln, die jenen der Lebensreform-Propheten in vielem ähnelten, die große „Erlösung“ versprachen. Im Wortsinne weit vom Schuss hat der Krachtsche Roman-Engelhardt die Katastrophen von Gaskrieg und Vergasung, von militärischem Hinmetzeln und industrieller Tötung auf seiner Südsee-Insel überlebt. Dort wird er, alt und vergessen, ein kurioses Relikt aus einer anderen Welt, 1945 von amerikanischen Soldaten aufgegriffen, die seine exotische Story gleich als Film imaginieren. „Unser Freund“ erfährt Mitte 1945 vom Sieg des amerikanischen „Imperiums“ und vom Ende des „Reichs“ der Deutschen und ihrer Weltmachtambition. Engelhardt wandelt sich als Methusalem noch vom fanatischen Vegetarier zum entspannten Verzehrer von Fleischkonserven aus den USA, vom verklemmten Kokosmilchschlürfer zum fröhlichen Coca Cola-Trinker: Er ist immer noch Teil des deutschen „Wir“ und erlebt den historischen Umbruch praktisch als Reeducation. Die Stärke des Romans liegt nicht in der didaktisch-bemüht wirkenden Parallele zwischen dem relativ harmlosen Narren Engelhardt und dem kriminellen Irren Hitler. Engelhardt wollte einen „Sonnenorden“ gründen, doch war er mit allem Organisatorischen überfordert, hatte nie mehr als dreißig Jünger, die ihm zudem Angst einjagten. Das sollte – wie auch Kracht berichtet – einer seiner ersten Gefolgsleute auf Kabakon, der Berliner Musiker Max Lützow, bald erfahren und
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ihn zur Flucht aus dem kokovoristischen Garten Eden veranlassen. Hitler dagegen baute eine politische Partei auf, die über ein Vierteljahrhundert hin die Basis seiner Macht abgab und seit dem Regierungsantritt Millionen von Mitgliedern zählte. Was an „Imperium“ überzeugt, ist vor allem Krachts Schilderung sozialer Konstella tionen und zwischenmenschlich-psychologischer Entwicklungen im Kontext des wilhelminischen Platz-an-der-Sonne-Kolonialismus. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war das Deutsche Reich die drittgrößte Kolonialmacht der Welt, und der Nordosten Neuguineas das jüngste der sogenannten „Schutzgebiete“ unter der Reichsflagge. Kracht zeichnet plastisch die in diesem System agierenden Menschen und profiliert zu Tage liegende wie unterschwellige Konflikte. Streit gab es genug: zwischen Deutschen und Einheimischen, Pflanzern und Verwaltern, Händlern und Gouverneuren, Heiden und Missionaren, Ehefrauen und Konkubinen. Die kulturellen Differenzen waren oft unüberbrückbar (in Neuguinea war Kannibalismus bei der Urbevölkerung eine Selbstverständlichkeit), und die außenpolitischen Krisen (man teilte sich Neuguinea mit den Holländern und den Briten) wiederholten sich mit berechenbarer Regelmäßigkeit. Die Natur der Südsee wird ohne Klischees mit einprägsamem Realismus geschildert: die Farben von Sonne und Wolken zu den unterschiedlichen Tageszeiten, die See in Ruhe und Sturm, die Moskitos, Fische und die Vögel; die Gerüche der Menschen, der Tiere, der Palmen; das Atmosphärische bei den Schiffsfahrten und beim Anlegen in den Hafenstädten. Die Schattenseiten des Paradieses: Malaria und andere Tropenkrankheiten fordern ihre Opfer auch unter Engelhardts Anhängern. Die Literaturliebhaber kommen beim Lesen zu ihrem Recht, wenn auf Hesse, Kafka, H.P. Lovecraft, Dickens, Thoreau, Tennyson, E.T.A. Hoffmann, Büchner, Keller, Jack London, Melville und Swedenborg intertextuell angespielt wird. Einzelne Szenen sind mit ihrem Humor unvergesslich, etwa wenn die schöne „Queen Emma“ dem blassen Kokosnuss-Propheten die Insel Kabakon andreht und ihn nach allen Regeln des Kommerzes übers Ohr haut. Emma ForsaythCoe, Tochter eines amerikanischen Walfängers und einer Prinzessin aus Samoa, gehörte fast ganz Neupommern und war, was weibliche Emanzipation betrifft, ihrer Umgebung um Generationen voraus. Nicht minder einprägsam sind die ambivalenten Charakterzeichnungen von Wilhelm Solf, dem Leiter des Reichskolonialamtes in Berlin, und seinem Freund Albert Hahl, dem Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Über Hahl berichtet der Wir-Erzähler, dass er später zum Solf-Kreis gehören wird, eine – von der Witwe Wilhelm Solfs zusammengehaltene – Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, dessen Mitglieder fast alle vom Blutrichter Roland Freisler zum Tode verurteilt wurden. Christian Kracht, Imperium. Roman. Köln: Kiepenheuter & Witsch, 2012.
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Peter Stephan Jungk, Das elektrische Herz Literatur und Kritik (Juli 2011) „Wer erzählt nun unsere Geschichte? Du oder ich?“ heißt es zu Anfang von Jungks neuem Buch, und schon diese Frage legt eine originelle und raffinierte Erzähltechnik offen. Denn dass ein Erzähl-Ich sich dupliziert, sich teilt in eine reguläre Romanfigur und in dessen Herz, ist alles andere als eine Alltagserscheinung im überraschungsreichen Gebiet moderner Narratologie. Die Frage danach, wer nun „unsere Geschichte“ erzählt, wird vom Herzen des Protagonisten an ihn selbst gestellt. Manchmal sprechen die beiden sich mit „wir“ an, aber meistens bezeichnen sie den Partner als „Du“. So folgt man beim Lesen von Anfang bis Ende einem Dialog, bei dem Person und Herz sich nicht selten über die Korrektheit der Erinnerung streiten, die sie gerade festhalten. Das ist die zweite Besonderheit des Romans: Er ist mit seinen vielen Zwiegesprächen „dramatisch“ angelegt. Die Dialoge zwischen dem Romanhelden und seinem Herzen erhöhen die Spannung, verlangen aber dem Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit ab, da es nicht immer einfach ist, die beiden Stimmen auseinander zu halten. Der Protagonist heißt Max David Villanders und lebt als freischaffender Autor, als Deutsch schreibender Dramatiker in Paris, hat aber – vor allem wegen der umzugsfreudigen Eltern – auch Kindheits- und Jugendjahre in Los Angeles, Wien, Berlin und Salzburg verbracht. Wer Peter Stephan Jungks Biographie kennt, merkt bald, dass Villanders zwar keineswegs das alter ego des Autors ist, dass aber viel Erlebtes und Gesehenes in den Roman hineinspielt. Schon der Name des Helden verrät ein wenig die Nähe zwischen Autor und Erzähler, denn Villanders in Südtirol ist seit langem Jungks bevorzugter Ferienort. Aber in dem Familiennamen stecken noch weitere Hinweise auf Charakter und psychische Struktur des Protagonisten. Im Englischen heißt „to philander“ bekanntlich schäkern/flirten und den Frauen nachlaufen (hergeleitet vom altgriechischen „philandros“: der Liebende). Damit verbunden ist wohl eine Assoziation mit dem Barockautor Johann Michael Moscherosch, der seine Satiren unter dem Pseudonym Philander von Sittewalt publizierte. Seine „Gesichte“ versprachen im Titel, dass „aller Weltwesen, aller Mänschen Händel, mit ihren natürlichen Farben der Eitelkeit, Gewalts, Heucheley, Thorheit bekleidet, offentlich auff die Schau geführet, als in einem Spiegel dargestellet und gesehen werden“. So lange Titel widersprechen heutigen Marketing-Strategien im Buchhandel, doch klingt der Text auf der Innenseite des Umschlags von „Das elektrische Herz“ ähnlich. Da ist von „erotischen Verwirrungen“, von „Abwegen“ und „Liebesabenteuern“ die Rede, was an Philander von Sittewalts Kapitel über die „Venus-Narren“ und das „Weiber-Lob“ erinnert.
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Villanders klingt auch nach „viel anders“, und im Klappentext wird auf den „etwas anderen Don Giovanni“ verwiesen, um den es sich bei dem Romanhelden handelt. Die dritte Besonderheit: Der Roman schildert das Herz zum einen konventionell als Sitz des Gefühls und der irrationalen menschlichen Regungen, zum anderen aber auch rationalistisch-modern als physisches Organ, als Blutpumpe des menschlichen Körpers. Erstens erfüllt das Herz seine uralte metaphorischdichterische Aufgabe, die Emotionen von Freundschaft und Liebe, von Sehnsucht und Passion zu verstehen und zur Geltung zu bringen. Zweitens aber sieht es sich selbst so objektivistisch wie mit den Augen der Mediziner, Chirurgen, Biologen oder Chemiker, weswegen es über seine Krankheiten und Strapazen, seine Operationen und Gesundungsprozesse nüchtern Protokoll führt. Entsprechend gibt es zwei Handlungsstränge im Roman, die beide mit Herz und Schmerz zu tun haben: Wir erfahren viel von den erotischen Eskapaden eines Ehemannes, der sich paradoxerweise subjektiv als treu versteht; und zudem gibt es wohl kaum einen anderen Gegenwartsroman, der so ausführlich über Operationen am offenen Herzen berichtet, weswegen der Titel „Das elektrische Herz“ gewählt wurde. Während nämlich bei medizinischen Eingriffen in dieses Organ seine Tätigkeit stillgelegt wird, übernimmt eine elektrisch betriebene Maschine die fürs Weiterleben unerlässliche Zirkulationsfunktion. Das Herz des Max David Villanders erinnert sich an die Leidensgeschichte des Protagonisten, der sein Leben lang mit Herzproblemen zu kämpfen hat und wiederholt lange Wochen in Kliniken verbringen muss. Nicht minder lebhaft als an diese wenig erfreulichen Erfahrungen denkt es an die zahlreichen Liebschaften Villanders zurück. Gerade in dieser Hinsicht steht das Herz nie still und ist engagiert bei der Sache. Auch den neuesten, d.h. den gegenwärtigen Fall von Fremdgehen erlebt es enthusiasmiert mit: In seiner Pariser Wohnung hat Villanders Amors Pfeil getroffen, als er der Briefträgerin begegnet, der schönen Farah, die ihre Kindheit in Marokko verbrachte. Die Maxime der lebensfrohen jungen Frau lautet: „Gewissensbisse sind besser als sich Vorwürfe zu machen, man habe etwas versäumt.“ Farah und Max David sind mit anderen Lebenspartnern verheiratet, und obwohl beide nicht daran denken, ihre Ehen zu gefährden, läuft alles von Anfang an direkt auf den beglückenden Seitensprung hinaus. In der Farah-Erzählung zeigt Eros, wie er den Zugang ins Paradies der Zweisamkeit vermittelt. An anderer Stelle dagegen – und das ist der erzählerische Höhepunkt des Buches – gewährt er Einblick ins seelische Purgatorium eines sich übernehmenden „Frauensammlers“, eines Abenteurers, der sich an viele Namen auf seiner „Weiberliste“ schon nicht mehr erinnern kann. Eine der verlassenen Geliebten hat zu Villanders 50. Geburtstag eine Party zu seinen Ehren im King David Hotel in Jerusalem veranstaltet, und dort tauchen zur Überraschung, ja zum Entset-
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zen des Romanhelden fünfzig seiner früheren Freundinnen auf. Max David ist in Begleitung seiner treuen Gattin, und man kann sich die dramatische Entwicklung samt Flucht der Ehefrau leicht ausmalen. Es sieht so aus, als werde Don Giovanni ins Inferno der Verachtung, des Hasses und der Rache seiner Frau verstoßen. Aber Jungk erzählt weder den „Don Juan“ des Tirso de Molina noch Dantes „Commedia“ nach. Im Lauf der Zeit söhnen sich Ehemann und Ehefrau aus. Wenn jedoch die Gattin, die international Kunstausstellungen organisiert, zu lange beruflich unterwegs ist, animiert das Herz seinen Helden dazu, sich mit Farah einzulassen, die ihn durchschaut und trotzdem liebt. Ein wunderbar facettenreiches Buch, das auch mit seinen Reminiszenzen an die Jugendzeit Villanders in den 1960er und 1970er Jahren die Stimmungen, Verrücktheiten und Gefährdungen jener Dekaden vergegenwärtigt. Der Roman handelt im medizinischen wie psychischen Sinn von einem „offenen“ Herzen, und ein leichter Hauch von „La vie Parisienne“ à la Jacques Offenbach durchweht das Buch, dem man viele Leser wünscht. Peter Stephan Jungk, Das elektrische Herz. Roman. Wien: Zsolnay, 2011.
Peter Stephan Jungk, Der König von Amerika DIE ZEIT (29.11.2001) 1993 erschien Marc Eliots kritische Biografie über Walt Disney. Schon der sinistre Titel „Hollywood’s Dark Prince“ deutet an, dass hier jemand vorgeführt wurde, dessen Leben nicht in Kategorien erzählbar war, wie man sie mit der Lichtfigur des guten schönen Prinzen aus „Schneewittchen“ verbindet, aus einem Märchen also, dessen Zeichentrickverfilmung den weltweiten Ruhm des Filmmagnaten eigentlich erst befestigt hatte. Offizieller Informant von Edgar Hoovers FBI sei er ein Vierteljahrhundert lang gewesen und habe mit seiner antikommunistischen Subversionsparanoia während der McCarthy-Ära Karrieren von Mitarbeitern und Bekannten in Hollywood ruiniert. Eliots Biografie versuchte, Disneys Ängste und Obsessionen aus der wenig märchenhaften Herkunft des späteren FantasiaKönigs zu erklären. Peter Stephan Jungks Romanbiografie ist ohne Eliots Studie nicht denkbar, und doch ist in ihr etwas Neues gelungen: Jungk hat das Hollywood-Monster wieder in einen Menschen zurückverwandelt. Nicht dass Eliots hässlicher Frosch bei Jungk zum schönen Prinzen mutierte. Jungk bedient sich eines klugen erzählerischen Tricks, um die charismatisch-inspirierenden Züge Disneys aufleuchten zu lassen, ohne dabei seine abgründigen Charakterseiten ignorieren zu müssen. Er lässt – Privileg des Romanschriftstellers – William Dantine, einen fiktiven ehema-
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ligen Mitarbeiter Disneys, das Leben des Imperators im Reich der Populärkultur erzählen. Das Manuskript dieser Biografie schreibt Dantine als Gefängnisinsasse in St. Louis; er sitzt in Haft, weil er die Urne mit der Asche seines verstorbenen Idols entwendet hat. Die Romanhandlung umfasst die letzten drei Monate im Leben Disneys, aber Jungks Erzähler baut so viele Rückblenden ein (Geschichten, die ihm von ehemaligen Bekannten und Freundinnen Disneys berichtet wurden), dass ein reiches Biografiemosaik entsteht. Dantine war, so will es Jungks Roman, von Disney gefeuert worden, nachdem er mit anderen Kollegen gegen den Boss intrigiert hatte. Der Erzähler ist – wie fast jeder der engen Mitarbeiter Disneys – einerseits fasziniert von der Persönlichkeit dieses modernen Magiers und begehrt andererseits auf gegen die dominierende Unternehmerfigur. Dantine ist seit seiner Entlassung durch Disney wie besessen von der Vorstellung, alle Details aus dessen Leben erfahren zu müssen. Wann immer es öffentliche Auftritte des Erfinders beziehungsweise Promotors von Mickey Mouse und Donald Duck gibt, befindet Dantine sich im Tross der Fans und Journalisten. Der Roman beginnt im September 1956 mit dem Bericht über Disneys Besuch in seinem Heimatort Marceline. Das ist eine der zahllosen unscheinbaren small towns in Missouri, die sich, wie in die Prärie hineingewürfelt, zwischen St. Louis und Kansas City finden und deren Bedeutung sich vor allem darin erschöpfte, Verladestationen an einer Eisenbahnlinie zu sein. Wie Mark Twain und Harry Truman hatte auch Walt Disney seine Kindheit auf dem Land in Missouri verbracht, also im Herzen des Mittleren Westens, im geografischen Zentrum der USA. Letztlich dreht sich in Jungks Roman alles um dieses mythische Dörfchen Marceline in Missouri, das für Disney der Nabel der Welt war. In der Erinnerung vergoldete sich ihm die Kindheit, die er dort zwischen dem fünften und zehnten Jahr verbracht hatte, zur eigentlichen Glücksphase seines Lebens. Der Vater, eine gescheiterte Existenz, hatte von Chicago nach Marceline zu einem Verwandten umziehen müssen. Dort schlug er sich als Farmer durch. Aus religiösen Gründen drosch er die älteren Söhne derart inbrünstig durch, dass sie dem nicht sonderlich trauten Heim entflohen, noch bevor ihre Teenagerjahre vorüber waren. Disney hatte als jüngerer Sohn Glück: Die Prügelrationen nahmen in Proportion zum Alter des Vaters ab. Wenn es nur irgend ging, flüchtete sich der kleine Walt unter die Ulme neben dem Farmhaus und malte die Fauna, die ihn umgab. Hier hat seine Animation der Tiere ihren Ursprung, die Beseelung und fabelhafte Vermenschlichung der Mäuse (von denen es im elterlichen Haus mehr als genug gab), der Eichhörnchen, Enten, Kaninchen, Schweine und Pferde. In der Mitte des Romans hat Jungk die Begegnung zwischen dem Erzähler und Disney eingebaut. Dantine schleicht sich in den Garten der kalifornischen Milliardärsvilla ein. Dort trifft er den mit der Eisenbahn spielenden Disney und konfrontiert ihn mit den dunklen Seiten aus dessen Vita. Der vom Glück Verwöhnte,
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der weltweit bekannter ist als der Weihnachtsmann, befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Herbst 1966: Disney gehört zu den Scharfmachern während des Vietnamkriegs und hat Zutritt zum demokratischen Präsidenten Johnson, der ihm nicht militant genug ist. Er protegiert den gerade gewählten republikanischen Gouverneur von Kalifornien, Ronald Reagan, und sagt dessen spätere Wahl zum Präsidenten voraus. Disneys neues Lebensziel ist es, die Modellstadt Epcot zu bauen, eine City der Zukunft, in der all das vorhanden sein soll, was den amerikanischen Großstädten der sechziger Jahre abgeht: der Ausgleich von Natur und Kultur, Mensch und Tier, ein supertechnologisches öffentliches Verkehrsnetz usw. Schließlich ist dort auch ein Tiefkühlfriedhof für die eingefrorenen Verstorbenen geplant, die in irgendeiner Zukunft, wenn die Medizin weiter fortgeschritten ist, wieder aufgetaut und geheilt werden könnten. Disney versteht sich als Visionär eines futuristischen Amerikas, das die Erde neu gestalten und das Universum besiedeln wird. Und da bricht dieser gefeuerte kleine Angestellte in die projektschwangere Gegenwart ein, um ihn an seine dubiose Vergangenheit zu erinnern. Es kommt noch schlimmer: Wenig später wird Disney, der Kettenraucher und Whiskeytrinker, krebskrank. Das Ende: Tod eines Gutmenschen und Ausbeuters, eines Träumers und Intriganten, eines Philanthropen und Denunzianten, eines Idyllikers und Kriegstreibers. Dantine fragt einen der engsten Mitarbeiter der intimsten Freundfeinde des Meisters, was denn die positivste Eigenschaft Disneys gewesen sei. Die Antwort: Er war ein unübertrefflicher „Motivierer“. Aus seinen Angestellten habe er das Beste, ja das ihnen selbst noch unbekannte Genialische der eigenen Persönlichkeit herauszaubern können. Wer einmal aussteigen will aus einem Alltag der real existierenden Demotivation, dem sei diese gelungene und packende Romanbiografie zur Lektüre empfohlen. Peter Stephan Jungk, Der König von Amerika. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta, 2001.
Uwe Timm, Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt Der Tagesspiegel (2.2.2010) Angeregt durch englische Vorbilder wurde 1959 an der Universität in Frankfurt am Main die Institution der Poetikvorlesung geschaffen. 1959 war das Glanzjahr der Gruppe 47, und Ingeborg Bachmann, weiblicher Superstar des bundesrepublikanischen Autorennetzwerks, wurde als erste Dozentin eingeladen. In ihren Vorträgen steckte die Lyrikerin das Terrain ab, auf dem in den nächsten Jahrzehnten die wichtigsten Kontroversen zur Gegenwartsliteratur ausgetragen wurden:
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der Versuch, nach Auschwitz nicht die Sprache zu verlieren, die Abgrenzung vom Ästhetizismus, die utopische Wirkungsabsicht, das Begehen unvertrauten Geländes und die Traumdimension der Dichtung. Das Namensverzeichnis derer, die seitdem in Frankfurt Poetikvorlesungen gehalten haben, liest sich wie ein „Who is Who“ der deutschsprachigen literarischen Elite. Zum 50. Geburtstag dieser Institution wurde Uwe Timm eingeladen, eine Ehre, die ihm gebührt. Timm-Lesern sind die subtilen Hinweise auf mythologische und biblische Intertexte in seinem Erzählwerk vertraut, aber so direkt wie in „Von Anfang und Ende“ hat er bisher Geschichten des Alten bzw. Neuen Testaments und Sagen des klassischen Altertums nicht kommentiert. Dichterisches Schreiben wird in Parallele zum göttlichen Schöpfungsakt gesehen. Wie vor der Weltentstehung eine Energie existiert haben muss, die sich in einer Art „Urknall“ materialisierte, so ist nach Timm die Voraussetzung literarischen Beginnens ein „Energiegebräu“, ein „heisser Energiebrei des Anfangs“. Ohne ihn fehle der Treibsatz mit seiner Schubkraft, um aus der noch unstrukturierten und vagen Werkvorstellung das werden zu lassen, von dem man schließlich – wie nach der Welterschaffung – sagen könne, dass es „gut“ sei. Von der kreativen Energie, die allem Anfang vorausgeht und die alle Werkstadien bis zum Ende begleitet, ist vor allem die Rede. Die erste und die letzte Poetikvorlesung handeln vom alttestamentarischen Schöpfungsbeginn im Buch Mose und vom neutestamentlichen Weltende in der Offenbarung des Johannes, von Anfängen und Schlüssen in Erzählwerken von Goethe, Stifter, Camus und Grass, wobei über die jeweils dahinter stehende religiöse, private oder gesellschaftliche Energie nachgedacht wird. Im Mittelpunkt stehen Erklärungsversuche der eigenen Bücher. Welchem „Energiegebräu“ verdankten sie sich? Die „Anstöße“ sehen in jedem einzelnen Fall anders aus, haben mit alten Kindheitsträumen oder frühen Traumata zu tun, mit der Empörung über koloniale Ideologien oder eine nachwirkende Nazimentalität in der Bundesrepublik, mit Irritationen über den Realitätsverlust der Linken oder der Trauer über verstorbene Freunde. Mehrfach wird deutlich, dass zu seinem Energie-Treibsatz eine Ethik gehört, die sich mit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ umschreiben lässt. Trotz der Skepsis gegenüber den Fortschrittsverheißungen der Moderne, die er mit Walter Benjamin teilt, bekennt er sich zur Moralität der europäischen Aufklärung. Das Nachdenken darüber, was die Voraussetzungen für seine Arbeiten waren, wird begleitet von Reflexionen über Schöpfung und Zerstörung, Verheißung und Apokalypse, Mangel und Überfluss, Erinnern und Vergessen, Gedenkkultur und Denkmalsturz. Von seiner Schreiberfahrung her argumentierend definiert Uwe Timm die Möglichkeiten des Romans: Er „darf und kann alles, er kümmert sich nicht um Vorschriften und ästhetische Verbote, er ist die zeitgemäße und vitale literarische
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Form, um über uns und das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nachzudenken, und das auf lustvolle Weise.“ Timms „Von Anfang und Ende“ gehört zu den dichterisch schönsten Poetikvorlesungen, die in Frankfurt gehalten worden sind. Sie zeigen, was Poetologie leisten kann, wenn sie bildhaft konkret und gleichzeitig philosophisch präzise formuliert ist. Uwe Timm, Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt. Frankfurter Poetikvorlesung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009.
Uwe Wittstock, Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur Der Tagesspiegel (27.12.2009) In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erlebte die moderne Kunst in der Musik (Schönberg), Malerei (Picasso), Skulptur (Brancusi), Architektur (Mies van der Rohe) und Literatur (Joyce) einen Höhepunkt an Abstrahierung und Theoretisierung, wie sie einzigartig in der westlichen Kulturgeschichte ist. Bereits in den 1960er Jahren war es für Leslie Fiedler oder Susan Sontag in den USA und Hans Magnus Enzensberger in Deutschland offenkundig, dass sich inzwischen eine nach-moderne Kunstszene entwickelt hatte, die sich kaum noch mit den ästhetischen Maßstäben beurteilen ließ, wie sie Clement Greenberg und Theodor W. Adorno an den Monumenten der abstrakten Moderne entwickelt hatten. Enzensberger diagnostizierte schon 1960 die Erschöpfung der Moderne. Nichtsdestoweniger wollte man sich in Deutschland nicht vom Paradigma der Hochmoderne lösen. Uwe Wittstock schwamm als Literaturkritiker da lange gegen den Strom, wie sein provokativer Essay „Leselust“ von 1995 und seine Edition „Roman oder Leben“ von 1996 zeigen. Nun hat er der Streitschrift und der Theorie-Dokumentation zur Postmoderne einen Interpretationsband folgen lassen, der zeigt, wie wichtig es ist, den Blick für die nachmoderne Literatur in Deutschland zu schärfen. Es ist eine Vielfalt von Formen, Themen, Traditionen und Experimenten, eine „radikale Pluralität“, die Wittstock bei seinen Analysen konstatiert. Wie Lyotard betont hat, war für die Vertreter der Moderne das Bekenntnis zu einer der geschichtsphilosophischen „großen Erzählungen“ selbstevident. Wittstock zeigt, wie Heiner Müller sich vom utopischen Modernismus Brechts abwendet und zu einer Skepsis gelangt, die ihn hart bis an die Grenze postmoderner Relativierung führt. Am ehesten in der deutschen Gegenwarts-Dramatik ist Dea Loher mit Heiner Müller zu vergleichen, dessen Schülerin sie war. Mit ihren Mikroaus-
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schnitten aus aktuellen Hiobs-Viten zeigt sie eine Welt erstickender Mutlosigkeit, ein versinkendes Leben, das auf Rebellion verzichtet. Durch die Darstellung purer Groteske – etwa bei der Ehe als „scheinheiligem Treueübungsplatz“ – verweise sie indirekt auf Alternativen. Weiter entfernt von Heiner Müllers Intentionen und Ambitionen ist Wolfgang Hilbig. Dessen poetologisches Prinzip umschreibt Wittstock treffend mit „Exkommunikation“. Von einer parteilichen Perspektive kann hier keine Rede mehr sein; seine Arbeiten sind „Einladungen ins Bodenlose“. Das ist grundsätzlich nicht anders bei Christoph Ransmayr, dessen Themen und Metaphorik bestimmt sind durch Verfall, Verwesung, Verwüstung, Abschied, Agonie, Auflösung, Niedergang, Erlöschen und Tod. Die Lektüre dieser Ruinendichtung werde jedoch durch ihre „herrliche Sprachmusik“ zu einem „rhythmischen Erlebnis“. Robert Gernhardt liefert Texte, die in allem das Gegenteil der asketischen und tiefernsten Hochmoderne sind. Gernhardts Maskenspiel, Kipp figuren und Stimmenimitation haben mit ihrer Komik eine Art postmodernen Keil in die orthodox-gravitätische Tonlage der deutschen Moderneverehrung getrieben. Außerhalb jedes modernistischen Ehrgeizes sieht Wittstock auch Martin Mosebachs Werk angesiedelt. Sein Gesellschaftsroman – „eine Schule der Toleranz“ – greift auf Traditionen des 19. Jahrhunderts zurück. Ganz nach Wittstocks postmodernem Geschmack ist das Erzählwerk Daniel Kehlmanns, der publikumswirksam schreibe, auf Sprachskepsis verzichte und jenen Lesegenuss beschere, der in der Moderne als Ziel des Schreibens verachtet worden sei. In der „Vermessung der Welt“ demontiere der Autor das Idealbild eines Pioniers moderner Naturforschung. Die dunklen, zerstörerischen, manischen, ja wahnhaften Züge eines Vertreters moderner Wissenschaft werden profiliert. Abschließend enthält Wittstocks Buch ein Loblied auf den Lyriker und Essayisten Dirk von Petersdorff, dessen Philosophie sich mit „fundamentaler Fundamentlosigkeit“ umschreiben lasse. Nicht den Platz des „Absoluten“ zu bestimmen, sei der Ehrgeiz des Autors, sondern ihn offen zu halten. Das rechte Mittel dazu sei Ironie. Aber gilt das nicht auch für die Ästhetik des Modernisten Thomas Mann? Moderne und Postmoderne sind nicht durch eine Mauer voneinander getrennt, aber Wittstock hat die Tendenzen der Postmoderne in seinem neuen Essay zutreffend benannt. Uwe Wittstock, Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen: Wallstein, 2009.
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Hans Christoph Buch, Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand Der Tagesspiegel (14.12.2008) Es ist eine so abenteuerliche wie traurige literarische Safari, zu der Hans Christoph Buch mit seinem neuen Roman einlädt. Er ist unter den deutschen Schriftstellern der beste Kenner jener Straßen, die in die alt- und neukoloniale Welt Afrikas führen. In Reportagen und Essays, die in seinen Sammelbänden „Blut im Schuh“ (2001) und „Black Box Afrika“ (2006) erschienen sind, hat er über Bürgerkriege und Massaker, UNO-Einsätze und Flüchtlingslager auf dem Kontinent berichtet. Der Roman erinnert strukturell an sein Buch „Kain und Abel in Afrika“ (2001), das von den Folgen des Völkermords in Ruanda handelt. Wie dort gibt es auch hier einen zeitgenössischen Erzähler, der nach Afrika reist und in der zweiten Person Singular berichtet, einer in der epischen Literatur seltenen Form. Denn es geht hier nicht um die Du-Form als Anrede an den Leser, wie wir sie aus Werken von E.T.A. Hoffmann bis Italo Calvino kennen, sondern um eine Art Selbst gespräch, in der das Ich sich objektiviert. Zugleich gibt es sowohl in „Kain und Abel in Afrika“ wie in „Sansibar Blues“ Ich-Erzähler, die früheren Geschichtsphasen angehören. Eindrücke aus der Gegenwart werden mit Erfahrungen der Vergangenheit konfrontiert. So erinnert der neue Roman nicht nur der Gefühlslage und dem Thema nach, sondern auch in seinem Aufbau an einen Blues, in dem verschiedene Instrumentalstimmen sich ergänzen und korrigieren. Der Du-Erzähler ist Teil einer internationalen Reisegruppe, und das gibt Ge legenheit, auch eine ironisch-karikaturistische Komponente zum Zuge kommen zu lassen. Die Gruppe ist auf Afrikatour und besucht unter anderem die dem ostafrikanischen Festland vorgelagerte Inselgruppe Sansibar. Die IchErzähler verbrachten längere oder kürzere Zeit auf Sansibar. Da ist zunächst eine erfundene Figur namens Hans Dampf, der sich in allen Gassen des unruhigen Sansibars von 1964/65 tummeln muss. Ulbricht hat Hans Dampf als Botschafter entsandt, weil das sozialistische Sansibar gleich nach der Revolution die DDR völkerrechtlich anerkannte. Die Persönlichkeiten, die dem Ostdeutschen über den Weg laufen, sind aus der Geschichte bekannt: der in fast jeder Publikation Buchs auftauchende Che Guevara (er versucht sich gerade als Revolutionsexporteur), der amerikanische Diplomat, Politiker und Geschäftsmann Frank Carlucci (er hatte einige Jahre zuvor für die CIA im Kongo gearbeitet und brachte es später bis zum US-Verteidigungsminister) und der schon wegen seines Buches „Afrikanisches Fieber“ unvergessliche, vor zwei Jahren verstorbene polnische Schriftsteller Ryszard Kapuscinski. Hans Dampf wird schon nach drei Monaten in die
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Hauptstadt der DDR zurückbeordert, weil er allzu nahe Kontakte zum sogenannten Klassenfeind pflegte und sich zudem auf die Liaison mit einer Einheimischen eingelassen hat: das Ende einer Karriere. Zu den Ich-Erzählern gehört auch Emily Ruete. Ihr Leben dürfte der Autor aus ihren Erinnerungen „Leben im Sultanspalast. Memoiren aus dem 19. Jahrhundert“ kennen. Geboren wurde sie 1844 auf Sansibar als Sayyida Salme Prinzessin von Oman und Sansibar, und sie starb 1924 in Jena. Sie heiratete unter abenteuerlichen Umständen den Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete, mit dem sie 1867 nach Deutschland übersiedelte. Da sie zum Christentum konvertierte, wurde sie vom Sultan von Oman und Sansibar zur persona non grata erklärt und verlor alle Erbansprüche. Buch gelingt es, für sie als Privatperson Sympathie zu wecken und gleichzeitig ihren Stellenwert als politische Figur auszumachen. Wann immer Buch Begegnungen mit Bismarck erfindet – hier mit Emily Ruete –, wird es spannend. Unter Bismarck war Sansibar in die Kolonialklauen des Kaiserreichs geraten, doch sein unerfahrener Nachfolger Caprivi tauschte 1890 die Insel gegen Helgoland aus, sehr zur Freude der Engländer, die schon lange ein Auge auf das strategisch wichtige Sansibar geworfen hatten. Die dritte Stimme gehört Tippu Tipp, dem ebenfalls aus Sansibar stammenden Kaufmann. Er war durch Sklavenhandel und Geschäfte mit Elfenbein zu Reichtum und Einfluss gelangt, und sein Handelsimperium am Tanganjika-See sowie seine Kongo-Residenz in Nyangwe waren Zentren afrikanischer Politik von den 1860er bis zu den 1890er Jahren. Ihn kennt der Autor durch die Monographie „Tippu Tipp. Lebensbild eines zentralafrikanischen Despoten“ von Heinrich Brode. Buch zeigt Tipp in Kontakt mit allen bekannten Dunkelmännern und Wohlmeinenden, die damals die afrikanische Welt heimsuchten – von Henry Morton Stanley über Leopold II und Hermann Wissmann bis zu David Livingstone und Eduard Schnitzer (Emin Pascha). Das Dokudrama, das Buch vor uns entfaltet, drängt sich nie mit vorgefassten Meinungen auf und überlässt es dem Leser, die Stimmen der Gegenwart mit denen der Vergangenheit zu verbinden. Es ist eine Dichtung, die oft in den Duktus des Märchens verfällt, und in der nicht nur der Wahnsinn und die Tragik der Kolonialisierung, sondern auch ihre (oft unfreiwillige) Komik konturiert wird. Hans Christoph Buch, Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand. Roman. Frankfurt am Main: Eichborn, 2008.
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Hans Christoph Buch, Kain und Abel in Afrika (2001) Neue Zürcher Zeitung (13.6.2001) Augustinus’ vor fast 1600 Jahren geschriebenes Werk „De Civitate Dei“ ist eines der Gründungsdokumente des christlichen Altertums. Das Römische Reich verkörperte für Augustinus den alt-heidnischen Weltstaat, also den Gegensatz zum künftigen utopisch-christlichen Gottesstaat. Roms katastrophales Ende führte er auf den moralischen Fehlstart des Imperiums zurück. Die fatale Urszene von Roms Entstehung ist nach Augustinus der Brudermord des Romulus an Remus. Erster Vertreter eines Weltstaates überhaupt sei Kain gewesen, der älteste Sohn von Adam und Eva: Er hatte seinen Bruder Abel erschlagen. Über diesen Brudermord berichtet das vierte Buch der biblischen „Genesis“. In der Literatur ist der Mythos von Kain und Abel mit immer neuen Akzentsetzungen variiert worden. Die Linie zieht sich von den mittelalterlichen Osterspielen über Melanchthon, Klopstock, Coleridge und Byron bis zu Nossack. Hans Christoph Buch gehört zu den Autoren, die sich seit den siebziger Jahren immer weniger auf Theorie und Ideologie und immer stärker auf Anschauung und Erfahrung verlassen haben. Wie Uwe Timm und Peter Schneider, Hubert Fichte, Günter Grass, Hugo Loetscher und Angelika Mechtel hat er Reisen in die Dritte Welt unternommen, um die Beziehungen zwischen Nord und Süd kennenzulernen und darüber in Essays und fiktionalen Texten zu schreiben. Er ist wahrscheinlich der Schriftsteller deutscher Sprache, der die Länder der Karibik, Lateinamerikas und Afrikas am besten kennt. Oft ist er von Zeitungen und Kulturzeitschriften gebeten worden, Krisengebiete in verarmten Weltgegenden zu besuchen. Der polyglotte und resolute Buch ist bereit, sich den Strapazen und Gefahren auszusetzen, die mit solchen Aufträgen verbunden sind. Er sieht anders und anderes als die Journalisten, die Schnell-Nachrichten für Agenturen liefern. Nach seinen dokumentarischen Berichten hat der Autor nun wieder einen Roman veröffentlicht. Das Herz der Finsternis heißt hier Kigali, die Hauptstadt Ruandas. Joseph Conrad konnte Ende des 19. Jahrhunderts den europäischen Kolonialismus noch in einer einzelnen Figur typisieren. Dem postkolonialen Autor ist das nicht mehr möglich. Ihm stellt sich das Problem, divergente Strömungen und Tendenzen aus Geschichte und Gegenwart dem Leser zu veranschaulichen: die innerafrikanischen Konflikte, die regionalen Kriege, die – in sich uneinheitlichen – Interessen und Absichten westlicher Staaten und Konzerne, den privaten Wahnsinn oder Heroismus von Abenteurern, Missionaren, UNOSoldaten und Geschäftemachern. Buch hat das ästhetische Problem gut gelöst, indem er zwei Erzähler einführt: Der eine vermittelt viel von Buchs eigenen Erleb-
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nissen am Rande des Bürgerkriegs der Hutu gegen die Tutsi. Über eine Million Menschen sind in Ruanda, diesem Schlachthaus Ostafrikas, allein im Jahr 1994 ums Leben gekommen. Der andere Erzähler ist Richard Kandt. Er ist eine historische Figur, mit deren Biographie Buch dichterisch frei umgeht. Vor gut hundert Jahren erforschte Kandt die Quellen des Nils, fand sie in Ruanda und publizierte darüber 1905 den Band „Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils“. Dieses Werk und die Studie „Ruanda im Lebensbild des Afrikaforschers, Literaten und kaiserlichen Residenten Richard Kandt (1867 bis 1918)“ von Reinhard Bindseil dienten Hans Christoph Buch als Informationsgrundlagen über den deutschen Kolonialisten. Die Berichte der beiden Erzähler alternieren, und den Lesern wird der geschichtliche Grundkonflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda deutlich gemacht. Feindliche Brüder waren sie seit Jahrhunderten, denn die Tutsi, die nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, nutzten ihre kriegerische Überlegenheit, um die Hutu zu beherrschen und zu terrorisieren. Ruanda war in den drei Jahrzehnten, als das deutsche Kaiserreich Kolonien besaß, Teil von Deutsch-Ostafrika. Nach dem Ersten Weltkrieg integrierten die Belgier das Land in ihr Mandatsgebiet; den nachbarlichen Kongo hielten sie schon lange besetzt. Die europäischen Regierungen kooperierten mit der regierenden Schicht, den Tutsi. Von einer Emanzipation der Hutu konnte erst in der postkolonialen Phase ab den sechziger Jahren die Rede sein. Nun nutzten die Hutu ihre zahlenmäßige Überlegenheit, und die kriegerischen Aktionen begannen. Der Roman hat einen Prolog und einen Epilog. Im Prolog ist die Rede von einem fiktiven Bild, das den Flussgott Nil vorstellt. Aber der Betrachter erkennt, wie schwer das Gemälde zu deuten ist, dass zahlreiche Motive gegensätzliche Erklärungen zulassen. Der Prolog ist ein Meisterstück erzählerischer Verunsicherung. Er lässt durchblicken, warum der romanhaft-fiktionale Bericht der dokumentarisch-sachlichen Reportage vorzuziehen ist: Ersterer verzichtet von vornherein auf einen Objektivitätsanspruch, den Letztere für sich reklamiert, ohne ihn einlösen zu können. In „Kain und Abel in Afrika“ ist der biblische Brudermord die zentrale Metapher. Kains heuchlerische Frage „Soll ich der Hüter meines Bruders sein?“ ist nicht nur bezeichnend für das Verhalten der feindlichen Stämme Ruandas, sondern auch symptomatisch für die Einstellung der ehemaligen Kolonialländer und der afrikanischen Nachbarstaaten zum Leid im zerstörten Land. Im Flüchtlingslager Mungunga kampierten 1994 über eine Million Hutu, die von den Tutsi vertrieben worden waren. Buch nennt das Lager den „tiefsten Kreis der Hölle, ein afrikanisches Hiroshima“. Hans Christoph Buch, Kain und Abel in Afrika. Roman. Berlin: Volk & Welt, 2001.
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Ulf Erdmann Ziegler, Hamburger Hochbahn Die Welt/Literarische Welt (14.4.2007) Endlich ein Debüt-Roman aus der Generation X-Single-Golf, der nicht in den engen Parametern des Moden-und-Marken-Wohlstandskitschs verwöhnter Globetrottel verharrt. Ulf Erdmann Ziegler – seit den achtziger Jahren als kulturkritischer Essayist, als Experte in Sachen Architektur und Design, als sensibler Interpret zeitgenössischer Kunst und Spezialist in Dingen künstlerischer Fotografie bekannt – hat ihn jetzt (mit 47 Jahren nebenbei) geschrieben. Es ist ein Erzählwerk von beachtlicher Sprachbrillanz und -virtuosität, von einer Beobachtungsschärfe, wie sie sich im Umgang mit Fotografie und Design entwickelt hat, wie sie aber auch durch die Lektüre des klassischen modernen Romans und der postmodernen Literatur gewonnen wurde. Bei den Modernisten der strengen Observanz hat er in den Kategorien des Epochenromans und des Dialogischen zu denken gelernt, und die Lockerungsübungen der Postmodernisten ermutigten ihn zur essayistisch-ironischen Lässigkeit. Es gelingt ihm, mit wenigen Figuren die Post-68er Generation zu porträtieren. Ziegler webt einen Romanteppich mit einem farbenfrohen Muster. Phasen aus dem Leben seines Protagonisten Thomas Schwarz werden nicht chronologisch, sondern ineinander verschoben, parallel versetzt und alternierend berichtet: Gymnasialzeit im provinziellen Lüneburg, Studium der Architektur in Braunschweig, Beschäftigung als Kommunikator in einem Hamburger Architekturbüro, der Gastaufenthalt in St. Louis, Missouri. „Hamburger Hochbahn“ ist als Ich-Erzählung geschrieben, doch wurde für die AmerikaKapitel die Er-Form gewählt, wohl um die Distanz zu betonen, die der Atlantik schafft. Ein solches Buch kann nur schreiben, wer auf alle Aspekte des zeitlichen Ausschnitts und der räumlichen Umwelt einer durchlebten Epoche neugierig ist, sich auf sie einlässt, sie emotional umgreifen und rational verstehen will. Das Ineinander und Durcheinander von Erotik und populärer Musik, von zeitgenössischem Design und individueller Lebensplanung, von lokaler Identität und beruflicher Tätigkeit ist in einer literarischen Sprache geschildert, die aus der Gegenwart lebt und deswegen Aktuelles sichtbar machen kann. Die Diskussionen darüber sind keine willkürlich eingestreuten Reminiszenzen, sondern erhellen im jeweiligen Kontext die Orientierungskrisen, Stimmungslagen oder Entscheidungsprobleme des Romanhelden, seiner Freundinnen und Freunde. Auch an Realitätsvokabeln aus dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld ist kein Mangel. Der Erzähler, eingeübt in den Blick des Satirikers, führt uns in Komitee-Sitzungen des Hamburger Rathauses oder auf Partys der hanseatischen „Alternativen Liste“ – Thomas
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Schwarz’ Freund Claes Philip Osterkamp macht als Kandidat der Grünen politisch Karriere. Schließlich der Ausflug in den amerikanischen Westen wenige Monate nach dem 11. September 2001. Es geht ins „heart of the heart of the country“, wie William Gass die Region einmal nannte – sicher kein Herz der Finsternis, eher eines der Melancholie. In Chillicothe, einem vergessenen Nest in Ohio, hatte Thomas einmal ein Jahr als Austauschschüler verbracht. Ein Vierteljahrhundert später zerstäubt beim erneuten Besuch des Kaffs der in seiner Seelenlandschaft so fest betonierte Nostalgieblock. Anfang 2002 hat es Thomas nach St. Louis verschlagen, das Tor zum Westen. Seine Lebensgefährtin, die Künstlerin und Kunstpädagogin Elise Katz, lehrt dort für einige Wochen als Gastdozentin an der Washington University – ein halbes Jahrhundert nachdem Max Beckmann dort in vergleichbarer Funktion tätig gewesen war. Thomas hat unversehens ein Angebot von der Architekturabteilung der Universität erhalten. Sollen sie, wollen sie in Amerika bleiben? Elise und Thomas erörtern das Thema kontrovers, aber Elise, die nach Hamburg zurück will, setzt sich durch. Thomas bestaunt Eero Saarinens Bogen am Mississippi, und diese Bewunderung bildet ein Glied in der langen Kette von Gedankensplittern zur spät- und postmodernen Architektur als Sprache der Epoche, zu Gebäuden und Theorien von Marcel Breuer, Alvar Aalto, Charles Jencks, Philip Johnson und Rudolph M. Schindler. „Architektur spricht“ war ein kulturwissenschaftlicher Slogan der neunziger Jahre, und hier tut sie es so eloquent wie selten. Die Dialogform ist ein Markenzeichen dieses Romans. Die Metaphern sind kühn. Schön, dass man wieder so transrealistische Formulierungen wagt wie: „Elises Atelierkoffer öffnete sich einen Spaltbreit und wunderte sich, sich schließend, über die Verschiebung in der Zeit.“ Ulf Erdmann Ziegler, Hamburger Hochbahn. Roman. Göttingen: Wallstein, 2007.
Christoph Hein, Frau Paula Trousseau Der Tagesspiegel (21.3.2007) Das Buch beginnt wie ein Kriminalroman. In einer Provinzstadt an der Loire ist die Leiche von Paula Trousseau, einer Deutschen, gefunden worden. Der Fall ist rasch geklärt: Selbstmord. Vor dem Suizid hat Paula ihr Leben aufgezeichnet. Die Autobiografie – von einem Freund zugänglich gemacht – ist in der Ich-Form erzählt, doch werden zahlreiche retrospektive Passagen aus der Kindheit objektivierend in der dritten Person Singular berichtet. Dadurch wird erzähltechnisch
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der Graben verdeutlicht, der sich zwischen der fremdbestimmten Kindheit und dem selbstverantworteten Leben der erwachsenen Protagonistin auftut. Im Roman wird auf die Bedeutungen des französischen Wortes „Trousseau“ nicht eingegangen, doch ist seine symbolische Valenz nicht zu übersehen. Es heißt so viel wie „Ausstattung“ und „Aussteuer“, ist aber auch die Bezeichnung für eine selten gewordene Rebsorte, die noch im Jura anzutreffen ist, weil diese Landschaft von den großen Anbauflächen isoliert ist, wo modischere Weine produziert werden. Es fällt einem auch Armand Trousseau ein, der Mediziner aus dem 19. Jahrhundert, Spezialist für die Erforschung somatischer Verkrampfungen. Aber in „Trousseau“ steckt im Wortsinne noch mehr, nämlich der Name Rousseau, der an den Philosophen Jean-Jacques mit seinen zündenden Ideen von Natur und Freiheit gemahnt, doch auch an Henri erinnert, einen Vertreter der modernen Malerei. So Unterschiedliches der Portemanteau-Name „Trousseau“ auch enthält, verweist doch alles auf Eigenschaften der Protagonistin. Paulas Kindheit in der sächsischen Provinzstadt: Der kalte Krieg der Eltern zerrt an den Nerven, die Mutter wird vom fremdgehenden Vater unterdrückt, der ältere Bruder ist körperlich und seelisch schon als junger Mann zum Krüppel geworden, und die ältere Schwester übt sich ein in die emotionale Vereisung. Klavierspiel und Malen sind Freiheitszonen, die Paula während der Schulzeit entdeckt, Aktivitäten, die ihr ein Gefühl von Glück vermitteln. Der Vater, ein autoritärer Charakter und angepasster Untertan, verbietet das Klavierspiel. Es bleibt das Zeichnen, aber auch hier soll es keine Entfaltung geben: Die Eltern zwingen ihr eine Lehre als Krankenschwester auf. Aus dem Regen der familiären Hasshölle gerät sie in die Traufe der von vornherein zum Scheitern verurteilten Ehe mit dem ungeliebten Architekten Hans Trousseau. Auf die Zumutungen der Umwelt reagiert die junge Frau mit immer größerer Härte. Gegen den Willen des Mannes und der Eltern besucht sie in den frühen 1970er Jahren die Kunstakademie in Berlin. Von jetzt an nutzt sie alles, was der Verwirklichung ihres Traums, Malerin zu werden, förderlich ist. Im Scheidungsprozess legt sie keinen Wert darauf, das Erziehungsrecht für die Tochter zu erhalten, denn das Kind würde beim Studium nur stören. Sie zieht in die Villa eines ihrer Kunstprofessoren, der mehr als doppelt so alt ist wie sie; flunkert ihm etwas von Liebe vor, wo es doch nur um Protektion und Privilegien geht. Sobald ihr Studium beendet ist, verlässt sie ihn. Bindungen an Männer gibt sie auf; Momente erotischer Erfüllung und seelischer Gleichgestimmtheit erlebt sie in zwei lesbischen Freundschaften. Die Abschnitte über das Studium an der Berliner Kunstakademie gehören mit zum Besten, was in der Erzählliteratur über den akademischen Betrieb in der DDR geschrieben worden ist. Nirgendwo beherrscht man wie dort das Jonglieren mit den vielen Bällen des Offiziellen und des Offiziösen, des amtlich Gewünsch-
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ten und des persönlich Ironisierten. Die Parteilinie wird beschworen, wenn missliebige Kollegen benachteiligt oder gar vernichtet werden sollen. Ansonsten gibt man sich weltoffen und leger. Mit der Nonchalance ist es allerdings vorbei, wenn die Moderne zur Sprache kommt: „Abstrakt“ ist „westlich“ und gleichbedeutend mit einem Angriff auf das Realismus-Dogma bzw. den Sozialismus überhaupt. Ein Verirren ins Nicht-Gegenständliche muss auch bei der schönen Paula verhindert werden. Von den Zentren der Kunst isoliert, weiß sie nur wenig über neuere Entwicklungen in ihrem Gebiet. So entdeckt sie für sich selbst das monochrome Malen, das im Westen mit Bildern von Yves Klein und Raimund Girke bereits zur Avantgarde von gestern gehört und durch neue – dem Figuralen geöffnete – postmoderne Tendenzen abgelöst wird. Paulas weiße Schneelandschaft darf nicht vorgezeigt, geschweige denn ausgestellt werden. Für ihr Experiment wird sie bestraft: Mit knapper Not besteht sie die Prüfung, und ein Künstlerstipendium wird ihr verweigert. Nach ihrem Studium hat Paula als freischaffende Künstlerin nur mäßigen Erfolg. Sie hält sich mit Illustrationsaufträgen von Buchverlagen über Wasser. Die Wiedervereinigung erlebt sie als Katastrophe, weil ihre Auftraggeber Pleite machen bzw. von westdeutschen Verlagen übernommen werden, die mit ihren Bildern nichts anzufangen wissen. Die Folge ihrer Arbeitslosigkeit sind Depressionen und Todeswünsche. Heins epischer Realismus steht in ironischer Beziehung zum Realismus in der Malerei, wie ihn die DDR-Professoren im Roman so aggressiv verteidigen. Zwar fehlt bei Hein der dogmatische Gestus, aber er hat nie etwas von revolutionären formalen Versuchen gehalten: Fontane steht ihm wesentlich näher als Joyce. Damit kommt er heutigen Leseerwartungen entgegen. Zu den überraschenden Wendungen in der literarischen Rezeption gehört, dass ausgerechnet der zeitgenössische amerikanische Roman eine Aufnahmebereitschaft für die Art des Realismus von Christoph Hein verstärkt hat. Es war die Postmoderne in den USA, die ein erneutes Ausprobieren traditioneller Erzählstile begünstigte. Paula erinnert an zwei bekannte Figuren aus der DDR-Literatur: Sie ist eine entfernte Verwandte der Christa T. aus dem „Nachdenken“-Roman von Christa Wolf wie auch der Ärztin Claudia in Christoph Heins eigener Novelle „Der fremde Freund“. Paula besteht wie Christa T. auf der Erfüllung ihrer subjektiven Wünsche, folgt einem individualistischen Lebensentwurf. Christa T. jedoch ist sensibel, gehört in die Kategorie empfindsam-deutscher Frauengestalten, hat nichts von der Härte und dem rücksichtslosen Egoismus der Paula Trousseau. Mit diesen Charaktereigenschaften erinnert sie eher an Claudia im „Fremden Freund“, wenngleich auch hier die Unterschiede nicht zu übersehen sind: Claudia ist im DDR-Alltag angekommen und fühlt sich in ihm wohl – jedenfalls behauptet sie das. Paula kann ihre Künstlerexistenz – das einzig Sinngebende in ihrem Leben –
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in der DDR nur mit großen Schwierigkeiten aufrechterhalten und nach 1989 nicht fortsetzen. Nach „Willenbrock“ und „Landnahme“ hat Christoph Hein mit „Frau Paula Trousseau“ erneut einen psychologisch subtilen Gesellschaftsroman geschrieben, der Schicksale aus der DDR erfindend erkundet: Biografien, die den symptomatischen Bruch verdeutlichen, den die politische Wende herbeiführte. Christoph Hein, Frau Paula Trousseau. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
Walter Hinck, Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts Frankfurter Rundschau (20.12.2006) Nein, hier wird Günter Grass’ pedantisch strukturiertes „Mein Jahrhundert“, bei dem jedes Jahr zwischen 1900 und 1999 mit ein paar Erinnerungsseiten bedacht wird, nicht germanistisch nachgeahmt. Um eine Chronik aber handelt es sich durchaus. Walter Hinck, der Nestor der deutschen Germanistik und der ange sehenste Kritiker aus der Zunft der Literaturwissenschaft, legt – in Einzelinterpretationen – eine Geschichte des deutschsprachigen Romans im 20. Jahrhundert vor, wie man sie sich eingängiger formuliert kaum vorstellen kann. So wie es Kurzgeschichten in der Dichtung gibt, gibt es Kurzinterpretationen in der Kritik: sie müssen knapp, fesselnd, pointiert geschrieben sein. Walter Hinck ist ein Meister dieser Gattung. In seinem langen Forscherleben – in wenigen Monaten wird er seinen 85. Geburtstag feiern – hat er sich mit zahllosen Dichtungen auseinandergesetzt. Hier hat er eine Auswahl von siebenunddreißig Titeln getroffen und darauf geachtet, dass in seiner Romanchronik eine Geschichtschronik durchscheint: Alle analysierten Werke beschäftigen sich mit signifikanten sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Tendenzen im 20. Jahrhundert, und in vielen Fällen geht es um den Kulturbruch, um jene Schuld, die Krieg und Holocaust hinterlassen haben. In seiner Einleitung betont der Autor, dass er die vorgestellten Bücher nicht als Teil des Kanons sieht. Die Mehrzahl der ausgewählten Werke kann man nicht-kanonische Bücher kanonisierter Schriftsteller nennen. So kommen zwar die bekannten Namen vor, aber zum Beispiel von Heinrich Mann eben nicht „Der Untertan“, sondern „Im Schlaraffenland“, von Thomas Mann nicht der „Doktor Faustus“, sondern „Königliche Hoheit“, von Kafka nicht „Das Schloß“, sondern „Der Verschollene“, von Grass nicht „Die Blechtrommel“, sondern „Ein weites Feld“. Es ist Walter Hinck nicht darum zu tun, Kanonisches erneut zu bestätigen oder zu feiern. Das zeigt auch die Liste von Autoren, deren
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Bekanntheitsgrad zwar keineswegs gering ist, denen aber von Wissenschaft und Kritik keine Verehrungsaltäre gebaut wurden, und für deren feuilletonistische Selig- oder gar Heiligsprechung keine Literaturpäpste zu motivieren waren – man denke an Hermann Broch, Hans Fallada, Heimito von Doderer, Alfred Andersch oder Jurek Becker. Bei den behandelten Büchern dominieren zwei Grundtypen: der philosophisch-sucherische Roman (Musil, Hesse, Rilke, Böll, Frisch, Nadolny) und der zeitkritisch Position beziehende (Heinrich Mann, Schnitzler, Brecht, Fallada, Andersch, Peter Weiss), wobei es zuweilen auch – wie bei Kafka, Broch, Robert Walser, Canetti, Seghers, Christa Wolf – zu Mischformen kommt. Der erste Typus, der philosophisch-idealistische, steht in der spezifisch deutschen Tradition des Bildungsromans, der im 20. Jahrhundert allerdings oft zum Anti-Bildungsroman mutierte. Der zweite Typus, der zeitkritisch-politische, ist Teil einer europäischen Tendenz, die sich besonders im Frankreich und England des 18. Jahrhunderts durchzusetzen begann und von dort auf andere Nationalliteraturen einwirkte. Bei einem so belesenen Interpreten wie Walter Hinck hat mich bei der Lektüre vor allem die Wertung interessiert. Er gehört zu den Kritikern, die das Loben nicht verlernt haben. Warum sollte er auch an den hier vorgestellten Romanen, die sicher zu seinen Lieblingsbüchern zählen, herummäkeln wollen, statt seinem Enthusiasmus Ausdruck zu geben? Er will ja zur Lektüre dieser Werke verführen und den Lesern nicht die Freude am Gegenstand verderben. Dabei übersieht er keineswegs ideologische Befangenheiten bei dem oder jenem Autor bzw. Schwächen in der Konstruktion des einen oder anderen Romans. Hinck gefällt die Bourgeois-Satire Heinrich Manns, das Ineinander von Sexualphantasie und mathematischer Inspiration bei Musil und die Kombination von Tiefenpsychologie und Erzählen bei Schnitzler. Ihn fasziniert, wie Thomas Mann die Wunderkerzen des Märchens bei der Rettung des verarmten Prinzen durch die Milliardärstochter zündet. Auch sympathisiert er mit Robert Walsers Versuch, seinen Jakob von Gunten der uniformierten Gesellschaft, in der er sich bewegt, entkommen zu lassen, und er kann in Rilkes „Malte“ den Blick des Helden nach innen und dessen Meditationen über den Tod mitten im Pariser Trubel nachvollziehen. Kafka liest er nicht mit Gralshütermine, denn er kommt auf die groteske Komik im „Verschollenen“ zu sprechen, in dem einige Szenen ihn an die Slapstickfilme der zwanziger Jahre erinnern. Hesses fromme Bildungsbotschaften in „Narziß und Goldmund“ findet er dagegen schon etwas abgeschliffen. Bei Brochs „Schlafwandlern“ sagt ihm die spannende erzählerische Darstellung zu, während ihm die philosophischen Abschnitte zu hermetisch erscheinen. Canettis „Blendung“ ist ein Roman, bei dem die Vorbehalte des Kritikers überwiegen: die Figuren seien doch zu sehr ins Stereotype stilisiert worden. Bei Fallada nimmt er die reißerischen Elemente, die Effektdramaturgie in Kauf und meint, dass es unter den deutschen Erzäh-
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lern zu wenige Falladas gebe. Anna Seghers „Das siebte Kreuz“ – in dem die Freundeshilfe den Knotenpunkt der Handlung ausmache – hält seiner Meinung nach den Maßstäben der Weltliteratur stand. Mit der Klage über den Liebesentzug im Krieg habe Böll an die elementaren Gefühle seiner Generation gerührt. Den vergessenen „Hamlet“-Roman von Alfred Döblin will Walter Hinck wegen der darin verhandelten Frage nach politischer und persönlicher Schuld wieder gelesen wissen. Anderschs „Sansibar oder der letzte Grund“ ist ihm die eindringlichste gleichnishafte Darstellung eines zu neuer Freiheit vorstoßenden Denkens, die der deutsche Roman der Nachkriegszeit hervorgebracht habe. Zustimmung und Kritik halten sich die Waage, wenn er Thomas Bernhard den Abraham a Sancta Clara, den Strafprediger des 20. Jahrhunderts nennt. Elfriede Jelineks Roman „Die Ausgesperrten“ führe eindringlich vor Augen, wie Gewalt in der Wohlstandsgesellschaft entstehen kann. Die Ängste im Überwachungsstaat und andere traumatische Erfahrungen in der Diktatur vergegenwärtige Herta Müller in bedrängenden Bildern. Martin Walsers „Brandung“ ist ihm die schönste, von leichter Ironie in der Schwebe gehaltene Liebesgeschichte, die der Dichter vom Bodensee geschrieben habe. Beim Blick über Grass’ „Weites Feld“ bemerkt er vor allem die produktive Faszination durch Fontane. In die erste Reihe der jüngeren deutschen Romanautoren gehöre Marcel Beyer mit seinen „Flughunden“. Schließlich kommt Dieter Wellershoffs „Der Liebeswunsch“ schon deswegen gut weg, weil er psychologisch feinnervig geschrieben sei. Die Roman-Chronik ist ein Buch für passionierte Leser außerhalb wie innerhalb der Literaturwissenschaft. Man wird sie Freunden gerne schenken, weil sie zur Lektüre der interpretierten Bücher anregt und zudem ein zuverlässiger Faden im Labyrinth der Romantitel ist. Walter Hinck, Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. Köln: DuMont, 2006.
Ulrike Draesner, Spiele DIE ZEIT/ZEITliteratur (Oktober 2005) Nach vierzig Seiten ist die Leselust auf den Nullpunkt gesunken. Die ersten Abschnitte über die Kindheit der Hauptfigur Katja im München der frühen siebziger Jahre sind arg: Halbwaise mit arbeitsamem Papi, angehimmeltem Freund und traumhaft gütigem Großvater, einem wahrhaften Alm-Öhi. Man möchte der Autorin eine Metaphern-Entschlackungskur empfehlen. Über den lieben KatjaPapi heißt es: „Doch nicht Habgier trieb ihn an, eher der Versuch, ein Nest zu
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bauen für andere und sich. Gerechtigkeit sowie Heimat bildeten das Neststroh. Geld den Klebstoff, der das reichlich fragile Gebilde zusammenhielt.“ Aber dann die Überraschung. Was folgt ist wohl ein Beispiel dafür, was einige Schriftsteller aus Ulrike Draesners Generation mit „relevantem Realismus“ umschrieben haben. Die Autorin greift eines der aktuellsten Themen auf, das des global agierenden Terrorismus. In einer Kombination von Dokumentarliteratur und fiktivem Erzählen vergegenwärtigt sie die Vorgeschichte des 11. September 2001, indem sie die Geiselnahme vom 5. und 6. September 1972 während der Olympischen Spiele ins Zentrum der Romanhandlung rückt. Damals hatten palästinensische Terroristen israelische Sportler im Münchner Olympischen Dorf gefangen genommen und ermordet. Die erzählte Zeit ist die des Jahres 2002. Katja, nach wie vor in München lebend, ist Fotografin geworden: zweiundvierzig Jahre alt, freischaffend. Der Alm-Öhi ist längst verstorben, und der fabelhafte Papi hat sich als Altersgefährtin eine Schildkröte zugelegt. Die wieder aufkommende Erinnerung an Max, den Freund aus Kinder- und Jugendzeiten, sowie der Anschlag auf das World Trade Center in New York rufen bei ihr die Geschehnisse während der Olympischen Spiele wach. Max war in München Polizist geworden und wurde bei den Schusswechseln mit den Terroristen verwundet. Katja beginnt, die Ereignisse vom September 1972 zu recherchieren. Sie will nicht nur die Zusammenhänge und Hintergründe der Geiselnahme durchschauen, sondern auch herausfinden, wie es zur schweren Verletzung ihres Freundes gekommen ist. Metahistorische und philosophische Fragen nach Zusammenhängen von historischem Ereignis und individuellem Betroffensein sowie Zufall und Schicksal treiben die Protagonistin um. Dass solche Überlegungen in der Alltagssprache der Romanfiguren angestellt werden, versteht sich. Darüber hinaus irritiert und fasziniert Katja die Medialisierung eines Geschehens, das als „eigentliches“ und in seiner „Wahrheit“ ungreifbar bleibt. Die alten Zeitungsberichte und Fernsehaufzeichnungen sind Dokumentarinselchen mit immer neuen Richtungsschildern, die auf weitere Nachrichtenorte verweisen, insgesamt aber ein Verwirrspiel in Gang setzen, das mehr Probleme stellt als löst. Durch die Zeitungslektüre in der Münchner Staatsbibliothek lernt Katja den Bibliothekar Paul kennen: Geilheit auf den ersten Blick. Beide haben großen Appetit, und ihr Verhältnis wird in allen Stellungseinzelheiten geschildert; nur das Kamasutra ist ausführlicher. Ob aus Beischläferei mit Paul ein Liebesverhältnis wird, bleibt offen. Auch Paul trägt sein Scherflein zu den Terrorrecherchen bei; er vermittelt das Interview Katjas mit einem Zeitzeugen, der jetzt als Kaufmann agiert. In diesem Gespräch über den Dächern Hongkongs – einem der aufregendsten Teile des Buches – wird getan, was Romanciers vorbehalten ist, wenn den Historikern die Quellenlage zu unsicher ist: Es wird spekuliert. Diese Speku-
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lationen betreffen auch die Absprachen zwischen Regierungen, als es nach einer Flugzeugentführung im Oktober 1972 darum ging, einige der palästinensischen Attentäter freizupressen. Im Jahr der Münchner Geiselnahme, wenn auch keineswegs im Hinblick auf sie, hat George Steiner gefordert, Schriftsteller sollten zu bestimmten Zeiten „remembrencers“, Erinnerer, sein, nämlich politische Ereignisse dem Vergessen entreißen, wenn die Öffentlichkeit sie verdrängen will. Ulrike Draesners Roman erinnert daran, wie die Geschichte des internationalen Terrorismus vor über drei Jahrzehnten begann. Ulrike Draesner, Spiele. Roman. München: Luchterhand, 2005.
Dieter Kühn, Schillers Schreibtisch in Buchenwald DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Mai 2005) Über Weimar und Buchenwald recherchieren durchweg Historiker ganz unterschiedlicher Forschungsgebiete: der deutschen Klassik bzw. des Holocaust. Beide Orte bilden aber, wie Dieter Kühn zeigt, eine fatale Einheit: in ihr treffen sich zwei völlig gegensätzliche historische Perspektivlinien. Im „Bericht“ genannten neuen Buch führt er die symbiotische Verflechtung von Humanitätsstadt und locus horribilis vor Augen. Der Autor war 1999 zu einer Veranstaltung anlässlich des 250. Geburtstags Goethes nach Weimar eingeladen worden. Zufällig erfuhr er bei der Gelegenheit von Möbeln aus dem Schillerhaus, die zwischen 1942 und 1943 im Konzentrationslager Buchenwald kopiert worden waren. Das bekannteste Stück darunter: Schillers Schreibtisch. Klassik und KZ. Beim Sichern der Spuren des – von Kühn symbolisch verstandenen – Möbelstücks, entfaltete sich dem Autor der bedrückend enge Konnex zwischen Kulturmetropole und Todeslager. Die Struktur und die Sprache in „Schillers Schreibtisch in Buchenwald“ sind die eines dichterischen Textes, aber die Recherchen verdanken sich dem Wahrheitsverständnis des Historikers. Biografische Passagen über Schiller alternieren mit Episoden aus der Rezeptionsgeschichte des Klassikers im ‚Dritten Reich‘ und mit Berichten über das KZ. Der Grund, warum man eine Kopie des Schreibtischs aus dem Schillerhaus in Auftrag gab, war der Luftkrieg, über den der Autor einen Exkurs einfügt. Die Stadtoberen Weimars befürchteten, dass bei einem der immer häufigeren britischen Angriffe die Museen getroffen werden könnten. Zumindest das Inventar wollten sie vor der Zerstörung bewahren, indem sie es „bombensicher“ (wie es
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damals hieß) unterbringen wollten. Schließen mochte die Stadtverwaltung die populären Klassiker-Wallfahrtsstätten nicht, und so verfiel man auf den Gedanken der Möbel-Imitationen. Die Stadt kooperierte auf vielen Ebenen mit dem Konzentrationslager, das sogar Teil der Gemeinde Weimar wurde. Die Nachahmung der Klassikermöbel gab man beim KZ in Auftrag, wo sie von Häftlingen ausgeführt werden sollte. Weimars „Eroberung“ durch die Nationalsozialisten reichte bis in die Jahre nach dem ersten Weltkrieg zurück. Bereits 1926 hatten sie hier einen ‚Reichsparteitag‘ veranstaltet, und die NS-Prominenz gab sich seitdem im „Elephanten“ die Klinke in die Hand. 1932 – wenige Monate vor der Machtübernahme – setzte das Weimarer Nationaltheater Hitler zu Ehren eine Aufführung des Napoleonstücks „Hundert Tage“ von Mussolini auf den Spielplan. Der italienische Diktator hatte auch literarischen Ehrgeiz. Sein Bühnen-Napoleon tönte von Blutbädern, die anzurichten notwendig seien, wolle man – ein Gebot der Geschichte – Europa unterwerfen. Hier der junge Schiller auf der Flucht vor dem Despoten Carl Eugen, der ihm – unter Androhung von Festungshaft – ein Berufsverbot als Schriftsteller auferlegt hatte; dort eine politische Vereinnahmung des Autors als NS-Prophet. Das Barbarische ist das „Nichtanerkennen des Vortrefflichen“ (Goethe). So musste die Verfälschung des Klassikers sich bald selbst widerlegen. Die „Räuber“-, „Wilhelm Tell“- und „Don Carlos“-Begeisterung ließ in Regierungskreisen rasch nach. Hitler ordnete Mitte 1941 an, keine „Tell“-Aufführungen mehr zu genehmigen. Danach folgte eine Direktive über die Streichung des Freiheitsdramas von den schulischen Lehrplänen. Nicht ohne Grund nahm im Verlauf seiner Herrschaft Hitlers Furcht vor – so drückte er sich aus – „Heckenschützen“ wie Wilhelm Tell zu. Mit Recht beriefen sich die Geschwister Scholl in ihren Flugblättern auf Schiller. Der Dichter wurde nach 1940 in NS-Kreisen zwar noch rhetorisch als „heroisch“ und „nordisch“ gerühmt, aber die Theater spielten seine Stücke immer seltener. Bei „Don Carlos“-Aufführungen durften die Zeilen „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ nicht mehr rezitiert werden. Nur Maria Stuart behauptete sich auf der Bühne als schottische Verbündete im Kampf gegen das ‚falsche Albion‘. Aus Goebbels’ Tagebuch wissen wir, dass er mit Hitler im Juni 1944 auf dem Berghof über Goethe und Schiller parlierte, und dass der promovierte Germanist es bei seinem „Führer“ offenbar nicht ganz leicht hatte, den „Revolutionär“ Schiller gegen den „Fürstenknecht“ Goethe auszuspielen. Als man bei Kriegsende die sterblichen Überreste der beiden Dichter aus dem zerstörten Weimar in Sicherheit bringen wollte, hatte eine SS-Einheit sich entschlossen, die Sarkophage in die Luft zu sprengen. Dass es nicht geschah, ist nur der Zivilcourage und List eines jungen Luftschutzarztes zu verdanken.
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Dieter Kühn bemerkt bei den Abschnitten über das KZ Buchenwald, dass ihn während der Lektüre der Dokumente die Angst beschlich, im Schlamm zu versinken. Da hatten Herder und Schiller von Weimar aus Botschaften „zur Beförderung der Humanität“ und zur „ästhetischen Erziehung des Menschen“ auf den Weg gebracht, und nun wurde der Klassiker-Parnass zu einer Stadt der nationalsozialistischen ‚Bewegung‘; durch das Konzentrationslager sogar zum Ort der inhumansten Verbrechen. Kühn beruft sich auf Zeugenberichte, wenn er vermitteln will, was in Buchenwald geschah: „Eine Apokalypse, wie sie kein Hirn auszudenken und keine Feder zu beschreiben vermag.“ Unter anderem zitiert er aus Ernst Wiecherts „Der Totenwald“. Wiechert hatte während der Hitlerzeit die deutsche Jugend wiederholt beschworen, sich von den Machthabern „nicht verführen“ zu lassen. Das brachte ihm die KZ-Haft ein. Nach der Entlassung wurde er ins Propagandaministerium beordert. Goebbels hielt darüber in seinem Tagebuch im brutalen Ton der lingua tertii imperii fest: „Ich lasse mir den Schriftsteller Wiechert aus dem K.Z. vorführen. (...) Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. (...) Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung.“ Der Schreibtisch Schillers wurde in den KZ-Werkstätten unter SS-Bewachung nachgebaut von einem handwerklich besonders begabten Häftling, der es diesem Talent verdankte, die Lagerzeit zu überleben. Nach Kriegsende wurden die Originalmöbel wieder ins Schillerhaus verbracht; die Kopie des Schreibtisches auf den Boden des Rathauses. Die Imitation soll bei Klassiker-Aufführungen im Weimar der fünfziger Jahren benutzt worden sein – eine symbolische Anekdote im Hinblick auf die Schiller-Rezeption zu DDR-Zeiten. Hier bastelte man ebenfalls an einem brauchbaren Doppelgänger, an einem Klassenkämpfer Schiller, von dem Johannes R. Becher als Kulturminister wusste: „Denn er ist unser“. Kühn vereinnahmt und ideologisiert nicht, er zeichnet vielmehr die widersinnigsten kulturellen Konstellationen nach und benennt die beschämendsten historischen Verkreuzungen in der deutschen Geschichte. Man spürt beim Lesen dieses ausgezeichneten Buches, wie stark Schillers Ethos Kühn inspiriert hat und wie sehr er die Begabung des Dramatikers bewundert. Dieter Kühn, Schillers Schreibtisch in Buchenwald. Bericht. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005.
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Dieter Forte, Auf der anderen Seite der Welt Der Tagesspiegel (31.10.2004) 1970 war der Name des damals fünfunddreißigjährigen Dramatikers Dieter Forte in aller Munde. Sein Luther/Müntzer-Stück beherrschte die Theaterszene und verwandelte für einige Zeit die protestantische in eine protestierende Kirche. Weitere tabuverletzende Stücke des Autors aus den siebziger Jahren über Henry Dunant und Kaspar Hauser fanden kein annähernd vergleichbares Echo. Sein 1983 publiziertes Drama „Das Labyrinth der Träume“ über die Massenmörder Kürten und Hitler blieb ebenfalls unbeachtet, wäre aber heute neu zu entdecken. Zwischen 1992 und 1998 schrieb Forte die Romantrilogie „Das Haus auf meinen Schultern“, die zu den markantesten Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zählt und die man bereits in einem Atem nennt mit den zeitkritischen Trilogien von Heinrich Mann, Hermann Broch, Wolfgang Koeppen und Günter Grass. Nur wenige Autoren haben die traumatischen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration so einprägsam geschildert wie Forte in „Tagundnachtgleiche“, dem zweiten Trilogieteil. Der spielte während der Diskussion über Literatur und Luftkrieg eine wichtige Rolle, weil er zu jenen Texten gehört, die W.G. Sebalds These von der fehlenden Darstellung der Bombardierung deutscher Städte relativieren. „Auf der anderen Seite der Welt“ kann man als Fortsetzung der Trilogie lesen. Die Handlung reicht von 1948, also dem Beginn des sogenannten Wirtschaftswunders, bis zur Mitte der fünfziger Jahre, als Adenauer mit Keine-ExperimenteSprüchen die Restauration ausrief. Das neue Buch leistet aber mehr, als „Das Haus auf meinen Schultern“ um eine weitere Etage aufzustocken. Es ist ein Alterswerk, das die intertextuelle Auseinandersetzung mit einem der wirkungsmächtigsten Epen der Weltliteratur sucht, mit Dantes „Göttlicher Komödie“. Gleich zu Anfang von Fortes Roman wird dem Leser deutlich, dass er auf eine „Hadesfahrt“ mitgenommen wird. Schon der Titel „Auf der anderen Seite der Welt“ erinnert an jene „andere Erdhälfte“, auf der sich nach Dante das Purgatorio befindet. Bei Dante wie bei Forte ist dieser Kontinent vom Meer bedeckt. Dantes Läuterungsberg ist auf einem Eiland angesiedelt, und Forte hat eine Insel gewählt, auf der sich das „Bollwerk“ jenes Sanatoriums befindet, das den Ort der Handlung abgibt. Die mystisch-heiligen Zahlen neun und drei kommen in beiden Fällen vor. In Dantes dreiteiliger Jenseitswelt weisen Inferno, Purgatorio und Paradiso je neun Kreise auf. Fortes Roman hat neun Kapitel, wobei für Hölle, Fegefeuer und Paradies jeweils drei Kapitel vorgesehen sind. Aber anders als bei Dante sind diese Sphären innerweltlich und keineswegs streng geschieden: Die „Hölle“ hat
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Reize, die man nicht missen möchte, dem Fegefeuer wollen längst nicht alle entkommen, und vielen wird das Paradies unerträglich. Dante hat sich den Dichterkollegen Vergil zum kundigen Begleiter durch Inferno und Purgatorio erwählt. Bei Forte übernimmt der Künstler Mischa diese Rolle; er wird mit dem „treuen Vergil“, dem „klugen Führer durch die Totenwelt“ verglichen. Wie Dante identifiziert Forte beim Durchgang durch die Unterwelt die Neider, Verräter, Zornigen, Betrüger, Fälscher und Verführer. Auch die Politiker sind von den Autoren nicht vergessen worden. Bei Forte tragen sie nicht die Namen antiker Heroen und mittelalterlicher Fürsten, heißen vielmehr Heuss oder Erhard, Adenauer oder Blücher, Stalin oder Eisenhower. Als engelsgleicher tourist guide durchschwebt die platonisch verehrte Beatrice Dantes Paradiso. Fortes Beatrice heißt Lilo und ist von Beruf Prostituierte: eine große Sünderin vor dem Herrn, der auch ein Mord recht ist, wenn es darum geht, ihren Besitz zu mehren. Ihre Wunderwelt ist das Konsum-Paradies der fünfziger Jahre. Lilos Ziel ist nicht die Teilhabe am göttlichen Empyreum, sondern das Mitmischen an der allmächtigen Börse. Dantes göttliche Lichtquelle schließlich ist durch die „Persildame“, die in „strahlendem Weiß“ erscheinende „Göttin der Reinheit“, verdrängt worden: Die „Divina Commedia“ wird zur Absolut-Satire. Gespräche über das, was Hölle, Fegefeuer und Paradies in einer Welt ohne Transzendenz bedeuten, sind Teil eines literarisch-philosophischen Diskurses, wie er im modernen Roman vorgeprägt ist. Ohne Thomas Manns „Zauberberg“ und Hermann Brochs „Tod des Vergil“ ist Fortes „Auf der anderen Seite der Welt“ schwer vorstellbar. Nach Broch hat Forte wieder einen großen Roman über das Sterben, den Tod und die Macht der Toten geschrieben. Und doch fällt die neue literarische Hadesfahrt ganz anders aus. Atmosphäre, Sprache, Mentalität und soziale Konstellation des deutschen Nachkriegsjahrzehnts sind es, die Forte präzise erfasst. Der Roman ist nicht nur eine Erzählung vom Tode, sondern auch Dokument erinnerten Lebens. Er ist die richtige Lektüre, will man sich die frühen fünfziger Jahre vergegenwärtigen, wenn man wissen möchte, worüber sich die Kriegsgeschädigten und die Nachkriegsgewinnler unterhielten, und was die Versehrten und die Überlebenden, die an den Rand Gedrängten und die Karrieristen, die Jungen und die Alten umtrieb. Auch die Unterhaltungs- und Kulturszene von damals wird zum Leben erweckt: die Schlager und Filme, der Jazz, die neue Kunstszene, die Existentialisten, die Fußballweltmeisterschaft – und immer wieder steht Düsseldorf im Mittelpunkt. Was für Musil Wien, für Döblin Berlin und für Grass Danzig ist, ist Düsseldorf für Forte: ein poetischer Kosmos, der unendlich ausschreitbar bleibt. Ob der Jazz-Star Oskar Klein seine Trompeten-Solos pustet; ob der junge Grass als Waschbrett-Günter im Zwiebelkeller den Rausschmeißer spielt; ob Joseph Beuys („Dä Jupp“) den Düsseldorfern – vergeblich, versteht sich – beibringen will, dass
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„Geld“ eigentlich eine bloß fiktive Größe ist; ob Toni Turek, von „Fortunafahnen“ umweht, als „Fußballgott“ angebetet wird: immer weisen diese Reminiszenzen über Lokales hinaus und evozieren Erlebtes, Gesehenes, Gehörtes. So werden Leser zu Mitautoren. Zudem denkt der Erzähler nach über die Veränderungen im Gefühlshaushalt der Zeitgenossen: Extrovertiertheit und Gegenwartsfixierung rücken an die Stelle von Innerlichkeit und Tradition. Postmodern sind die Utopieskepsis und die ästhetische Selbstreflexion. Von Blochscher Hoffnungsphilosophie gibt es nicht einmal mehr eine Schwundstufe, und mit Perspektive und Fragment kommen narratologische Aspekte zur Sprache. Stoische Distanz kennzeichnet Fortes Altersstil. Das zeigt auch die poetisch-schöne Beschreibung des Meeres, die er am Anfang eines jeden Kapitels wiederholt: „Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schweren ruhigen Atem“ und glich einem „jahrtausendealten schwarzen Stein“, der „unter den Sternen schlief“. Dieter Forte, Auf der anderen Seite der Welt. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2004.
Elisabeth Plessen, Das Kavalierhaus DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Oktober 2004) Das Schönste am Buch ist der Schluss, und wer da beim Lesen nicht gerührt ist, dem hat Hauffs Holländer-Michel ein kaltes Herz in die Brust verhandelt. Elisabeth, die Ich-Erzählerin, geht als Achtzehnjährige durch eine Krise, die sämtliche Grenzen jugendlichen Weltschmerzes sprengt. Sie liegt im Krankenzimmer des Internats, verweigert jede Nahrungsaufnahme, wünscht ihr Ende herbei und hat die Liebe zu allem und jedem aufgekündigt, sogar zu den Pferden, den Vögeln und Bäumen. Aber da kommt – wie Isis, die Liebe und Leben spendende Göttin – ihre Vertraute, ihre Lehrerin Tana Leupold („die Leu“), mit drei Wundergaben: mit Kunst, Dichtung und Musik. Erst das dritte Mittel schlägt an. Wortlos installiert die Leu ihr Grammophon am Krankenlager, legt eine Platte mit Beethovens fünftem Klavierkonzert auf und lässt die Verzweifelte damit allein. Verführung zum Leben durch die Musik: Es ist, als ob Pegasus sich die Kranke, die heimliche Poetin, auf den Rücken schwinge und mit ihr hinausjage aus den Niederungen deprimierender Enge auf den Parnassos bis zum Sitz des Apoll: „Himmelnd, sich wiegend, stampfend und wild wiehernd wie ein Pferd, das die Freiheit wiedererlangt hatte, ungestüm, wie ein Sturm ging das Klavier mit Tatzen, Hufen, Pranken, Flügeln über mich weg.“ Die Melodien umrunden ängstlich eine „dunkle Stelle“:
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an ihrem Rand droht der Absturz. Bei der Überleitung zum dritten Satz ergreift Elisabeth erneut die Furcht vor jener „dunklen Stelle“, die diesmal noch bedrohlicher wirkt. Aber die Töne reißen sie weg, sie übersteht die Gefahr und stürzt mit der Musik „atemlos hinaus ins Offene“. „Das Kavalierhaus“ erinnert im Aufbau an eine Sonate. Psychogramm und Zeitkritik werden hier so kunstvoll kombiniert wie in ihren erfolgreichsten Büchern, wie in „Mitteilung an den Adel“, „Kohlhaas“ und „Der Knick“. „Mitteilung an den Adel“ ist einer der bekanntesten Texte über den Konflikt der Achtundsechziger mit ihrer Vätergeneration. Jetzt wird man ihn im Zusammenhang mit dem neuen Buch lesen, das die Vorgeschichte zur Protestadresse liefert. Die Lebens- und Sinnkrise ist die Folge vieler Schmerzerfahrungen der jungen Elisabeth. Nach der Kindheit auf dem holsteinischen Gut ihrer Eltern wird sie mit vierzehn Jahren auf ein süddeutsches Internat „höherer Töchter“ geschickt, wo sie bis zum Abitur die Schulbank drücken soll. Das ist in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren. Das Mädchengymnasium ist in einem ehemaligen Schloss untergebracht. Die meisten Schülerinnen wohnen im „Kavalierhaus“, also dort, wo früher adlige Herren Quartier nahmen. In der pädagogischen Provinz lauern manche „dunklen Stellen“, Gegebenheiten und Verhältnisse, die einengen, einschränken, einsperren, einmauern; oft erlebt die Ich-Erzählerin ihre Welt als Falle oder Gefängnis. Unter den Mitschülerinnen gibt es einen spionierenden und denunzierenden Kotzbrocken; eine der Lehrerinnen hätte zwanzig Jahre zuvor sicher als BDM-Führerin Karriere gemacht. Gender trouble kommt hinzu. Und die Eltern wollen in einer Art Fernkurs miterziehen. Der Vater ist ein vielschichtiger, im Überleben trainierter Charakter mit einer eigenartigen Mischung aus Vorsicht und Draufgängertum, Direktheit und Etikette, politischer Informiertheit und reaktionärer Borniertheit, Einfühlungsvermögen und diktatorischem Befehlston. Seine Leidenschaft ist die Großwildjagd: Ausflüge zum Büffelschießen nach Tansania (ausgerechnet ins ehemalige Deutsch-Ostafrika) gehören zum Lebensstil. Seiner Tochter gegenüber kehrt er den formbewussten Aristokraten heraus – paradoxerweise bis zum Jähzorn. Damit die Tochter nicht „in der Gosse“ lande, besteht er auf Umgangsformen, die aus der Erstauflage des Knigge von 1788 stammen könnten. Die Mutter will ihr Töchterchen „hoch hinaus“ verheiratet wissen; wenn schon nicht mit dem Prince of Wales, dann doch – bitte schön – zumindest mit einem künftigen Karriere-Diplomaten. Elisabeth möge Einladungen zu Bällen annehmen, wo sich die studierenden Brüder ihrer aristokratischen Mitschülerinnen vergnügen – für die Ich-Erzählerin ist das alles Zumutung und Krampf. Sie will ihren eigenen Interessen nachgehen, nicht die Träume anderer erfüllen. So viele „dunkle Stellen“ sie ängstigen, so viele Lichtblicke eröffnet ihr Eos, die Göttin der Morgenröte. Hölderlins Ruf „Komm, ins Offene, Freund!“ steht
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da prototypisch: Literatur, Musik, Sprachen, Malerei sind die Metiers, über die sie sich mit ihrer Freundin Olga, mit der Leu, mit dem verehrten Rudolf, einem jungen Pianisten, verständigt. An Momenten geschilderter Lebensfreude, der Ausgelassenheit und Komik mangelt es im Roman nicht: Anklänge an Mozarts „Zauberflöte“ gehören zum beziehungsreichen Intertext. Die Krise ihrer Jugend hat nicht zuletzt mit der jüngsten Vergangenheit, der Nazizeit, zu tun, die mit „mörderischer Wucht“ nachwirkt. Die meisten Lehrerinnen haben ihren Mann oder den Bruder im zweiten Weltkrieg verloren, und viele der Mitschülerinnen sind Halbwaisen. Über ihr Leben im ‚Dritten Reich‘ haben Elisabeths Eltern geschwiegen, jedenfalls ihrer Tochter gegenüber. Zuhause hängt bezeichnenderweise ein Bild, das Lots Frau zeigt, die bei Strafe der Erstarrung nicht ins zerstörte Sodom zurückblicken darf. Die Väter und Mütter der Schülerinnen waren Nazis oder Mitläufer oder Widerständler oder Opfer des Holocaust. In der Leu haben die Heranwachsenden eine Pädagogin gefunden, die Tabuisiertes und Verdrängtes zur Sprache bringt. Mit den Jugendlichen liest sie Werke des Exils von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht und aus der Gegenwartsliteratur Gedichte von Günter Eich und Paul Celan. Sie diskutiert mit ihnen die Aktionen der Widerstandsgruppen: der Roten Kapelle, der Weißen Rose, des Kreisauer Kreises (eine Moltke-Tochter ist Elisabeths Mitschülerin) und des Aufstands der Offiziere am 20. Juli 1944. In Jerusalem wird Eichmann, dem „großen Spediteur des Todes“, der Prozess gemacht, auch das ist Gegenstand der Gespräche. Nachdem sie einen Dokumentarfilm über die Gräuel in den Vernichtungslagern der SS gesehen haben, laufen Elisabeth und Olga heulend-verstört durch die Nacht. Die Folge sind endlose theologische Disputationen über Gott und das Böse in der Welt, über Fragen, auf die die Leu unter Berufung auf eigene Erlebnisse antwortet, auf Erfahrungen, die ihren Schülerinnen abgehen. „Das Kavalierhaus“ ist der Roman einer Jugend mit gekonntem Adagio und Allegro, kräftigem Scherzo und wunderbarem Rondo. Wer die Adenauerzeit als Teenager erlebt hat, gibt das Buch so rasch nicht aus der Hand. Manche werden es Jüngeren schenken mit dem Hinweis: „Schaut, so war’s!“ Ob die das wissen wollen, muss man sehen. Elisabeth Plessen, Das Kavalierhaus. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004.
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Doron Rabinovici, Ohnehin DIE ZEIT (29.7.2004) Große Dichtung ist lokal in ihrer kulturellen Bindung und in ihrer Wirkung universell. Wien, eine Stadt, in der kontinentale Entwicklungen aufeinandertreffen, sich reiben und verheddern, war schon immer dazu prädestiniert, eine literarische Metropole zu sein. Wie andere Weltstädte ist Wien nicht nur eine Stadt der Schriftsteller, sondern selbst Objekt dichterischer Phantasie. Die Jahre nach 1989 bedeuteten auch für Wien das Erwachen aus der Starre einer geteilten Welt, und die Umwälzungen, die die Post-Jalta-Ära mit sich gebracht hat, werden in der österreichischen Gegenwartsdichtung reflektiert. Zu den neuen Wien-Romanen zählen Barbara Frischmuths „Die Schrift des Freundes“, Josef Haslingers „Opernball“, Marlene Streeruwitz’ „Verführungen“, Robert Menasses „Die Vertreibung aus der Hölle“, Lilian Faschingers „Wiener Passion“ und eben Doron Rabinovicis „Ohnehin“. Auf dialogische Weise werden neue soziale und politische Gegebenheiten in ihrer Verflechtung mit der Vergangenheit geschildert. Die Wahlverwandtschaft zum welthaltigen postmodernen amerikanischen Roman ist erkennbar, aber auch die Tradition der österreichischen Moderne, wie Musil, Broch, Canetti und Doderer sie prägten, wird nicht verleugnet. Als 1997 „Die Suche nach M.“ erschien, war das der Durchbruch für den jungen Wiener Romancier Doron Rabinovici. Das Buch handelt von einem Vertreter der zweiten Generation jüdischer Familien, die Hitlers Vernichtungslager überlebt haben. Der Autor wurde 1961 in Tel-Aviv geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in Wien. Die österreichische Hauptstadt im Jahr 1995 ist der Ort der Handlung seines neuen Romans. Erzählt wird die Liebesgeschichte von Stefan Sandtner und Flora Dema. Stefan wohnt als junger Nervenarzt und Spezialist für Gedächtnisverlust in Wien. Bevor er Flora trifft, plagt ihn Liebeskummer, denn eine langjährige Freundin hat ihm den Laufpass gegeben. In Ex-Jugoslawien tobt der Bürgerkrieg. Flora war Filmstudentin, stammt aus dem Kosovo, ist von der Kunstakademie in Belgrad relegiert und aus Serbien verjagt worden. Beide wollen ihre unterschiedlichen Lebenskrisen meistern: Stefan nimmt einen extensiven Urlaub vom Klinikalltag, Flora dreht einen Videofilm in Wien, in dem sie die Reaktionen von Wiener Bürgern auf Flüchtlinge und Asylanten festhält. Es gibt kaum einen anderen Roman, in dem die Dialektik von Vergessen und Erinnern, Verschweigen und Reden, Verdrängen und Einbekennen so komplex und nuanciert geschildert wird wie in Rabinovicis Roman. Zudem werden Parallelen zwischen NS-Morden und Bürgerkriegsverbrechen der Gegenwart gezogen. 1995, fünfzig Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, berichten die Medien ständig über das ‚Dritte Reich‘. Stefans Wunsch: „Einmal muß Schluß sein. Genug
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der Leichenberge, fort mit Krieg und Verbrechen.“ Aus seinen Idyllenträumen vom konfliktfreien, geschichtsentsorgten Alltag wird er aufgescheucht durch die gleichzeitige Konfrontation mit den alten Gräueltaten der Deutschen wie mit den neuen der Serben und Kroaten. Ein Bekannter Stefans aus Kindertagen hat das Kurzzeitgedächtnis verloren; Stefan soll ihn behandeln. Er diagnostiziert das Korsakow-Syndrom, also Merkschwäche bei erhalten gebliebenem Altgedächtnis. Der Kranke ist der ehemalige SS-Offizier Dr. med. Herbert Kerber. Seine Erinnerung reicht nur noch bis 1945; alles was danach folgt, hat er vergessen. So ist ihm auch der Vorsatz entfallen, über die Kriegszeit zu schweigen. Jetzt spricht er von seinen Taten im Russlandfeldzug, von der Verfolgung der Juden, von sogenannten medizinischen Experimenten. Das Korsakow-Syndrom, das Vergessen der Gegenwart und die Fixierung auf die Vergangenheit, scheint – im übertragenen Sinn – für die Verfassung der Gesellschaft allgemein bezeichnend zu sein. Goran Bošković ist Floras Kameramann. Er desertierte aus der serbischen Armee. Nachts verfolgen ihn Bilder von „Leichenbergen“, wie man sie aus Dokumentationen über die Vernichtungslager der SS kennt. Gorans Alpträume sind allerdings auf Erlebnisse im Balkankrieg zurückzuführen. Er hält sich illegal in Wien auf; niemand hilft ihm. Goran wirft seiner Umgebung vor, dass sie nur die Untaten der Vergangenheit beschwöre, vor den Massenmorden der Gegenwart aber die Augen verschließe. Die Liebesbeziehung zwischen Stefan und Flora scheitert an diesem Widerspruch. Goran wird von der Wiener Fremdenpolizei abgeschoben, und es ist klar, welches Schicksal ihn, den Deserteur, in Serbien erwartet. Flora emigriert nach Paris. Stefan hat keine Sensibilität für die Nöte von Flora und Goran entwickelt, und als er sein Versäumnis begreift, ist es zu spät. Er will fatale Fehlentwicklungen der Vergangenheit ausblenden und unerträgliche Geschehnisse der Gegenwart ignorieren. Die Hauptgeschichte von Stefan und Flora ist umgeben mit einem Kranz von Nebenerzählungen. Die Berichte über diese anderen Schicksale variieren das Grundthema des Romans: den Krieg der Kulturen. Paul und Dinah Guttmann sind Überlebende des Holocaust aus der Bukowina. Nach 1945 gehören sie in Wien einer neuen Gründergeneration an, und sie entscheiden sich zu bleiben. Für sie ist die österreichische Metropole gleichzeitig Heimatstadt und Ort des Exils. Ihr Sohn Micha allerdings emigriert in den achtziger Jahren während der Waldheim-Ära nach Israel. Bärbl und Hans Kerber, die erwachsenen Kinder von Herbert Kerber, traktieren ihren hinfälligen SS-Vater mit Nazi-Methoden. Sophie Wiesen und Lew Feininger sind ein Paar (er ist jüdisch, sie nicht), das wegen seiner unterschiedlichen Herkunft nicht zusammenfindet. Theo Alexandrus und Şirin Ertekin dagegen sind Liebende, deren Familien alte Feindschaften zwischen Griechen und Türken hinter sich lassen.
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Gekonnt sind die satirischen Einlagen, etwa über ein Symposium zum Thema Antisemitismus in Osteuropa. Da werden Philosemitismus und politische Korrektheit karikiert. Gelungen ist auch die Kritik an der Spaßgesellschaft der neunziger Jahre, von der die Hauptfigur Stefan Sandtner unwissentlich ein Teil ist, und aus der er sich nur mit Mühe lösen kann. Der Autor Rabinovici ist auch Historiker, und ab und zu schweift er in seinem Roman ins Kulturgeschichtliche ab, etwa wenn er über den Wiener Naschmarkt, den Nabel dieser Romanwelt, erzählt. Die nicht selten musilesk-intellektuellen Diskussionen, die oft canettihaft-aggressiven Wortwechsel und die zuweilen brochisch-atmosphärische Dichte verleihen dem Buch das spezifische Gewicht großer österreichischer Literatur. Doron Rabinovici, Ohnehin. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. Norbert Niemann / Eberhard Rathgeb
Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb (Hg.), Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003 DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Oktober 2003) „Die Literatur paßt nicht in den Sarg eines Kanons“, heißt es programmatisch im Vorwort der Herausgeber. Die Produzenten von Kanon-Kassetten und Literaturgeschichten, so wird argumentiert, dächten nicht an den „leidenschaftlichen Leser“. Der nämlich möge weder den „radikalen Beschnitt“ durch die Kanonisten noch die germanistische „Landschaftsgärtnerei“, bei der man den poetischen Wald nicht mehr vor interpretatorischen Bäumen sehe. Stattdessen wird hier eine andere Form der Vermittlung gewählt: das Lesebuch. Äußerlich ist es so großformatig und dick wie ein Schullesebuch aus Kindertagen, aber der Inhalt hat nichts mit Pflichtlektüren von ehedem zu tun. Literatur, postulieren die Herausgeber, müsse „bleibenden schönen Schaden“ anrichten beim Aufstand gegen die „Planierungen der Realität“ im Medienalltag, beim „Wühlen durch die Zumutungen der Wirklichkeit“. Das ist der Blickwinkel, und er bestimmt die Auswahl der etwa hundert aufgenommenen Texte. Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb, ein Schriftsteller und ein Kritiker, gehören der mittleren Generation der Vierzigjährigen an; sie kommen „als Leser der Gegenwartsliteratur aus den achtziger und neunziger Jahren.“ Ein antikanonisches Lesebuch also, was nicht ausschließt, dass Texte von Nobel- oder Büchnerpreisträgern aufgenommen wurden. Ohne „Beschnitt“ geht es auch hier nicht ab. Wenn man bedenkt, dass jährlich – die Trivialliteratur nicht einberechnet – mehr als tausend Neuerscheinungen bei etablierten Verlagen der deutschsprachigen Gegenwartsdichtung publiziert werden, bekommt man eine
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Vorstellung davon, wie winzig der Ausschnitt ist, den eine Anthologie über die letzten sechs Jahrzehnte bieten kann. Die Zugänge zur Literatur sind zahllos und einen Königsweg gibt es nicht. Auch Lesebücher haben ihre Nachteile. So sind die Dichtungen – sieht man von der Lyrik ab – nie vollständig wiedergegeben. Man bekommt Kostproben vorgesetzt. Kaum ist nach drei oder vier Seiten der Appetit zum Weiterlesen angeregt, ist schon Schluss, und es folgt ein weiteres fragmentarisches Stück von einem anderen Autor. Aber das liegt in der Natur der Sache. Inventur will Hinweise geben und zur Lektüre der Romane und Dramen selbst anregen. Nicht nur Dichtungen wurden aufgenommen, sondern auch einige Briefe und Essays von zeitkritischen Stichwortgebern aus Philosophie und Soziologie wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Niklas Luhmann und Hans Blumenberg. Ergänzt wird das Anthologisierte durch Einleitungen in die Epochenabschnitte und Informationen zu den Texten. Unterteilt ist der Band in sechs Kapitel (also eines pro Jahrzehnt). In den Kapitel-Einleitungen wird an Konflikte in den Gesellschaften der deutschsprachigen Länder erinnert, Literatur also im sozialgeschichtlichen Kontext gesehen. Bei den Anmerkungen zu den Dichtungen stehen die Werkgenese beim einzelnen Autor und die ästhetische Eigenart des betreffenden Textes im Mittelpunkt. Von allen Schriftstellern wurden Porträt-Fotos veröffentlicht, und Kurzbiografien über sie finden sich im Anhang der Sammlung. Die LeserInnen werden in einen Wirbel gegensätzlicher Positionen, unterschiedlicher Schreibweisen, voneinander abweichender Stile einbezogen, auch wenn die Themenkreise sich überschneiden und durch die Zeitgeschichte vorgegeben sind. Im Abschnitt über die ersten Nachkriegsjahre mit dem Titel „In den Wohnungen des Todes“ liest man bei Ernst Jünger über die „lähmende Mutlosigkeit“, der er zu erliegen droht; Hermann Broch sinnt im unsterblich schönen Anfangskapitel vom „Tod des Vergil“ über das Sterben nach; Nelly Sachs reflektiert über die „Geretteten, aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöten schnitt“, Hans Erich Nossack hat noch „das heulende Rauschen der abgeworfenen Bomben“ im Ohr; Ernst Kreuder klagt über die „Unauffindbaren“ und „Verschwundenen“, und bei Ilse Aichinger „träumen Kinder von der Auswanderung nach Amerika.“ Nicht minder anrührende Schriften wurden aus den fünfziger Jahren zusammengestellt; von Günter Eich über die Scheinsicherheit, von der vergessenen Hertha Kräftner über den gewaltsamen Tod, von Paul Schallück über Lebenslüge und Lebenssinn. Auch die frühen Gedichte von Marie Luise Kaschnitz, Paul Celan und Rose Ausländer lassen die Zeit zurückkehren. Arno Schmidts Flüchtlingserzählung „Die Umsiedler“ von 1953 hat im Kontext der Debatte über Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ eine neue Aktualität erhalten. Heimito von Doderer definiert die „Dämonen“ als „Fangarme einer Wirklichkeit aus Wahn und Weltanschauung“,
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und Hans Henny Jahnn trauert den „ausgebrannten Sehnsüchten“, den „veraschten Freuden“ nach. Neue Aspekte bietet auch das Kapitel über die sechziger Jahre, das – nach dem Erfolgsroman von Gisela Elsner – „Die Riesenzwerge“ überschrieben ist. Für Enzensberger ist Deutschland das Land, in dem „es rückwärts aufwärts geht“, und Hannah Arendt schreibt während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem ihrem Mann von den anwesenden „Deutschen, die so philosemitisch sind, daß einen das Kotzen ankommt“. Grass ist mit einer Passage aus den „Hundejahren“ vertreten, einem abgründigen Roman, der zu wenig gelesen wird, zu sehr im Schatten der „Blechtrommel“ steht. In die Stimmen der siebziger Jahre mischt sich Gesellschaftskritik – erinnert wird an F. C. Delius’ „Unsere Siemens-Welt“ – mit neuer Irritation. Rühmkorf bekennt, daß seine „Hoffnungen“ um „einen Kopf kürzer gemacht“ worden seien. Ungewohnte Töne schlägt in der DDR Heiner Müller an, der sich jetzt „zwischen den Fronten“ sieht. In der Bundesrepublik setzt sich Rolf Dieter Brinkmann postmodern vom „ideologischen Rudelverhalten“ der Generationsgenossen ab. Der Abschnitt über die achtziger Jahre beginnt mit der Frage: „Wo sind wir jetzt?“ In der DDR gibt es die Dichter vom Prenzlauer Berg in Berlin. Da fühlt Elke Erb sich „zurückgehext in den Kleinmut der Kindheit.“ Peter Handke sucht und findet Erhabenes auf den Spuren Cézannes beim Weg zur südfranzösischen Bergkette Saint-Victoire. Rainald Götz verhöhnt die „Literatenblödel“ und fährt zum „Nullenanschauen“ nach Klagenfurt, um sich beim Bachmann-Wettbewerb seelische Wunden zu holen und physische selbst beizubringen. Unter die Haut der Leser geht vor allem Hans Wollschlägers „Tiere sehen uns an“, ein Manifest gegen die legalisierte Tierquälerei in der Viehwirtschaft sowie den Universitätslabors. Und die aktuelle Szene seit den neunziger Jahren? Thomas Kling ist mit experimenteller Lyrik vertreten; Marlene Streeruwitz thematisiert in ihren Dramen und Romanen kulissenhafte Realität; Marcel Beyer verfasst den ersten Medienroman über die NS-Zeit; Ingo Schulze beschreibt Lebensläufe im Osten Deutschlands nach dem Fall der Mauer; Durs Grünbein entdeckt die Literatur der Antike als Fundgrunde, und Ulrich Peltzer – vertraut mit der Ästhetik Brochs – will mit „Bryan Park“ einen Totalitätsroman der Gegenwart schreiben, in dem auch der 11. September 2001 vorkommt. Jeder wird in der Anthologie die Namen einiger Autoren vermissen. Aber darüber sollte man nicht vergessen, wie viel hier wiederentdeckt und neu vergegenwärtigt wurde. Trotzdem: Warum fehlen so viele Schweizer? Warum ist nichts von Adolf Muschg, Peter Bichsel, Erica Pedretti, Hugo Loetscher und manchen ihrer jüngeren KollegInnen zu finden? Da ist beim Inventurmachen einiges übersehen worden. Nichtsdestoweniger liegt hier eine Anthologie vor, die für jede Generation eine Fülle von schönen, erhellenden und provokativen Dichtungen
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versammelt. Man wünscht dem Buch viele Auflagen, wodurch in Zukunft noch einiges ergänzt werden könnte. Der Band ist auch ein gutes Argument gegen das Vorurteil von der „einfach schlechten“ oder „langweiligen“ deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Das ist ein Lesebuch, wie man es sich zur Schulzeit gewünscht hätte und das man jemandem schenken möchte, mit dem man gern über Literatur spricht. Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb (Hg.), Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003. München: Hanser, 2003.
Friedrich Christian Delius, Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer DIE ZEIT (16.10.2003) Zwischen „Wäldern und Fachwerkhäusern, Bücherregalen und Fußballplatz“ sei er aufgewachsen, schreibt Delius, und schon als Kind habe er „Dichter“ werden wollen: eine deutsche Biografie. Wälder und Ökologie, Fachwerkhäuser und Geschichte, Bücherregale und Literatur, Fußballplatz und Fritz-WalterMythos – das sind bestimmende Themen geblieben im Leben des Essayisten und Romanciers F.C. Delius. Nomen est omen: Nicht nur Geburts-, auch Namensadel verpflichtet. „Delius“, so steht es in den lateinischen Wörterbüchern, bedeutet „vates, deus Apollo“ und leitet sich vom griechischen „Delos“ her. Das ist der Geburtsort Apollons, jenes Gottes, der auf dem Parnassos die Musen anführt. „Vates“, Sänger und Seher zu sein, ist in pluralistischen Zeiten kein leichtes Geschäft, schon gar nicht, wenn im Schrecken von Wirtschaftskrisen, Terrorismus und Krieg die Musen zu verstummen drohen. Aber Apollon ist ein mächtiger Gott, der sich noch immer behauptet hat, und seine Anhänger sind nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. In Rom, gleichsam im Schatten des Apollotempels, wurde Delius geboren, und Rom hat er inzwischen als Lieblingsstadt entdeckt und zum zweiten Wohnsitz gewählt. Dem „Leitfaden“ ist die zeitweilige örtliche Distanz seines Verfassers zu deutschen Verhältnissen gut bekommen. Delius hat essayistische Kurztexte zusammengestellt, die er im Lauf der Jahre in Magazinen und Journalen veröffentlichte: Satiren, Polemiken, Stellungnahmen, Erinnerungen und Reflexionen. Er hat die Sammlung nach Stichworten alphabetisch geordnet, und so ist der Band zur kleinen Enzyklopädie deutscher Sonderbarkeiten und Fehlentwicklungen geworden, aber auch zu einer Anthologie von Kommentaren, in denen die Arbeiten von Kollegen gewürdigt werden.
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An der „fast neurotischen Unfähigkeit zu loben“, die er dem deutschen Feuilleton anlastet, krankt Delius selbst nicht. Alfred Döblin sei ein Autor, der „Zerrissenheiten“ und „Widersprüche nicht geleugnet“ habe, ein Erzähler, dessen Werk in keine germanistische „Schublade“ passe. Gerade weil der „für Ideologen unbrauchbare“ Döblin nicht „Schule“ gemacht habe, könne man von ihm lernen. Die Erinnerungen an Heiner Müller, den Delius als junger Verleger im Westen publizierte, gehören zu den schönsten Anekdoten im Buch. Delius schmuggelte in den siebziger Jahren die Texte des bewunderten Dramatikers und Whisky-Trinkers vom Osten in den Westen Berlins. So habe „das dünne Papier der Manuskripte jedesmal etwas Rückenschweiß“ abbekommen. Vorbildlich findet er auch Wolfgang Koeppens Romane „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“. Vergleichbar stark ist offenbar Heinar Kipphardts Einfluss auf ihn gewesen. Der habe sich emphatisch zur Schreib- und Leselust bekannt, weil beide Passionen gegen geistige Unterwerfung immunisieren. Mit dem Lob der Väter taten sich die 68er Autoren bekanntlich schwer, aber bei Walter Höllerer machten sie eine Ausnahme. Während der frühen sechziger Jahre, berichtet Delius, sei er sich als Germanistikstudent an der Freien Universität Berlin verloren und verlassen vorgekommen. Im Höllerer-Seminar dagegen – an Berlins Technischer Universität – hätten er und seine Kommilitonen zum ersten Mal das Gefühl gehabt, „erwünscht und willkommen“ zu sein. Höllerer habe ihnen auch gezeigt, dass es in der literarischen Werkstatt nicht bloß um das „Was“, sondern auch um das „Wie“, um Technik, Struktur und Machart gehe. Wenn Delius auf Nicolas Born zu sprechen kommt, mischt sich Trauer in die Erinnerung. Der nur fünf Jahre ältere Born starb 1979 mit 42 Jahren. Er sei der begabteste unter den zeitkritischen Autoren gewesen. Romane von der Qualität der „Fälschung“ fehlten heute, und Delius ist sicher, dass Born nicht aufgehört hätte, „uns weitere Fälschungen vorzuhalten“. Die Lektüre dieser Autoren – hinzu kommen Albert Camus, Umberto Eco, Milan Kundera, Salman Rushdie, Julio Cortázar, Carlos Fuentes – habe ihn von der produktiven Kraft des Zweifels überzeugt. „Wir Schreibenden leben vom Zweifel“ ist Delius’ Credo. Schon früh identifizierte er sich mit Friedrich Schlegels These: „Jeder Satz, jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.“ Beim Schriftsteller müsse Kritik und Zweifel durch den „universellen Blick auf die Menschen“ ergänzt werden. Das ist ein altes Postulat, das in den Ästhetiken so oder ähnlich immer wieder auftaucht. Vielleicht hat Apollon seinen Schützlingen ja tatsächlich den olympischen Blick geschenkt. Bei allem Selbstbewusstsein ist Delius die überhebliche Dichter-als-Führer-Ideologie fremd. Schon der Titel des neuen Buches spielt selbstironisch auf die „Irrtümer“ an, die in den zeitkritischen Analysen stecken. Schriftsteller wären keine Intellektuellen, wenn sie nicht warnten, tadelten, klagten. An provokativem Elan hat es in Delius’ Büchern nie gefehlt. Wie in frühe-
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ren Texten werden auch hier Missstände benannt, die in der bundesrepublikanischen Gesellschaft Anlass gaben zu Skepsis und Ärger, Unbehagen und Polemik, Depression und Revolte. Zu den Delius-Themen gehören: Arbeitslosigkeit und Globalisierung, Nazimentalität und Ausländerhass, Weltmeisterglaube und Korruption, Preußen-Nostalgie und ökonomische Ersatzreligion, Historikerstreit und Walser-Bubis-Debatte, 68er Generation und RAF, Fernsehen und neue Medien, Wiedervereinigung und Einheitsgewinnler. Was internationale Entwicklungen betrifft, ist Delius ein illusionsloser Kommentator der europäischen Erweiterung, der Situation der sog. Dritte-Welt-Länder und des elften Septembers. „Der Terror entwertet das Denken, Differenzieren und Schreiben, der Krieg ebenso“, heißt es an einer Stelle. Dort zitiert er die Anfangs- und Schlusszeile „Es kommen härtere Tage“ aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Die gestundete Zeit“. Delius gehört nicht zur „Jammerfraktion“ der deutschen Intellektuellen, und seinen Humor hat er nicht verloren. Eine ganze Reihe von Paradoxa sind wie diskursive Stolpersteine in den „Leitfaden“ eingebaut. Einige Beispiele: „Die Berliner Türken werden vielleicht die letzten Preußen sein“; „Deutschland ist mit der Vereinigung kleiner, enger geworden“; „Die neue Grenzenlosigkeit produziert immer härtere Grenzen“; „Je reicher wir werden, desto mehr Verwahrlosung“; „Die technischen Bilder erleichtern alle Versuche, die Zuschauer mit Blindheit zu schlagen“. Gut, dass es Kritiker gibt, die gegen „Gewißheitslümmel“ opponieren und sich zur Maxime „Zweifel, Liebe Hoffnung“ bekennen. Apollon sei mit ihnen. Friedrich Christian Delius, Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer. Ein Leitfaden für deutsches Denken. Berlin: Rowohlt Berlin, 2003.
Volker Hage, Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg DIE ZEIT (21.8.2003) W. G. Sebald, 1944 in einem Allgäudorf geboren, hatte keine Erinnerungen an das abendliche Alarmgeheule, diese pervertierte Zweite-Weltkriegs-Version des Gesangs der Sirenen. Sebald, einer der profiliertesten Romanciers des letzten Jahrzehnts, gehörte zur Generation der Trümmerkinder. Den Begriff „Stadt“ hat er noch lange Zeit mit dem „Ort der Ruinen“ gleichgesetzt. In Zürich hielt Sebald 1999 eine Poetikvorlesung, die bald danach unter dem Titel „Luftkrieg und Literatur“ erschien. Wie wenige andere Autoren der Trümmergeneration hat sich Sebald, der vor zwei Jahren zu früh verstarb, in seinen Romanen mit dem Schicksal der Juden zur Hitler-Zeit, mit dem ungeheuren
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Verlust beschäftigt, den der Holocaust für die Humanität bedeutete. Aber gleichzeitig ließ ihn die Frage nicht los, warum der Luftkrieg, der zwischen 1942 und 1945 die deutschen Städte gomorrhagleich verwüstete, kaum Spuren in der Literatur hinterlassen habe. Wie kann ein solches Geschehen derart verdrängt werden, dass es nicht einmal in der Dichtung, die keine Tabus kennt, erinnert und vergegenwärtigt wird? Mehr als eine halbe Million Zivilisten fielen den Bomben unmittelbar zum Opfer, und die körperlichen Verletzungen und seelischen Verwundungen der Überlebenden sind nicht quantifizierbar. Zudem wurden unersetzliche Kulturgüter zerstört. Sebald kannte einige Texte, die er als Ausnahme von der Regel betrachtete, etwa Hans Erich Nossacks Erzählung „Der Untergang“ über die Zerbombung Hamburgs Ende Juli 1943. Der Hamburger Literaturkritiker Volker Hage kommt zu einem anderen Schluss: Die Einäscherung der deutschen Städte durch alliierte Luftangriffe war und blieb Gegenstand literarischer Verarbeitung in vielen Tagebüchern, Gedichten, Essays, Romanen und Dramen. Hage entdeckte auch den Roman „Die Vergeltung“ von Gert Ledig wieder. Das Buch war erstmals 1956 erschienen, blieb damals unbeachtet, gilt aber heute als die wichtigste Dichtung zum Thema. Allerdings gibt auch Hage zu, dass es das ,große‘, das ,gültige‘ literarische Werk zum Bombenkrieg über Deutschland nicht gebe. Zudem muss er Sebald in dem Punkt Recht geben, dass die Rezeption dieser Literatur insgesamt gering war. Die Studie „Zeugen der Zerstörung“ besteht aus zwei Teilen: Zuerst referiert Hage die zahlreichen Dichtungen, in denen der Luftkrieg behandelt oder zumindest erwähnt wird. Man ist erstaunt, denn da fehlt kaum ein Name von Rang. Brecht sah „Ruinenmenschen“ in den „Ruinenstädten“, und Remarque sprach von den „ausgebombten Seelen“ in den „ausgebombten Städten“. Von Thomas Mann bis Ralph Giordano, von Borchert bis Bernhard, von Gertrud von Le Fort bis Christa Wolf diskutiert man das Leid und gleichzeitig die Schuld der Deutschen. Fast immer bleibt der Zusammenhang von Coventry und Köln, von Rotterdam und Hamburg, von London und Berlin, von Warschau und Dresden bewusst: dass nämlich der Vergeltung deutsche Luftangriffe vorangegangen waren. Noch eindrucksvoller ist der zweite Teil: Hages Interviews mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die als Kinder die Bombardierung der Städte erlebten und die in ihren Arbeiten den Zivilisationsbruch thematisierten. Wolf Biermann, Dieter Forte, Rolf Hochhuth, Walter Kempowski, Alexander Kluge, Monika Maron und Gerhard Roth – fast alle bekennen, dass ihre „Zeitheimat“ (Sebald) in jenen Kriegs- und Nachkriegsjahren angesiedelt ist, dass ohne die Kindheits-Traumata und ohne das Erleben der Not in den vernichteten Städten ihre Literatur kaum zu verstehen sei. Biermann blieb im „Weltuntergang“ des Hamburger Feuersturms gleichsam „die Lebensuhr“ stehen.
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Ständig berühren die Autoren im Gespräch über Ohnmacht und Verzweiflung, Verwundung und Tod, Scham und Schande den Zusammenhang von Krieg und Holocaust. Das ist auch in den Interviews mit Harry Mulisch, Marcel ReichRanicki und Kurt Vonnegut der Fall. Reich-Ranicki betont zu Recht, dass es für die Literatur keine Vorschriften gibt. Aber es wird doch klar, dass jenes gültige literarische Werk über die Gräuel der frühen vierziger Jahre, das Sebald wie Hage vermissen, die beiden – letztlich unfassbaren – Humanitätsverbrechen Krieg und Holocaust nicht als getrennte Phänomene gestalten müsste. Ansätze dazu finden sich in einer Reihe von Dichtungen, vor allem im Werk Alexander Kluges. Volker Hage, Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2003.
Juli Zeh, Adler und Engel Salz. Zeitschrift für Literatur (Januar 2002) Die Autorin ist fasziniert von Tabu und Tabubruch; darüber hat sie einen klugen Essay geschrieben. Erkennen wird durch Tabus behindert, und der Tabubruch ermöglicht es, neue Wirklichkeiten zu benennen. Juli Zeh ist Schriftstellerin und Juristin, und mit ihrer Doppelbegabung stellt sie Fragen, auf die Juristen nicht kommen. Tabubruch als Erkenntnismittel ist das Prinzip ihres ersten Romans. Schon die Tatsache, dass die Autorin einen männlichen Ich-Erzähler wählt, ist bemerkenswert. Auch in der Vergangenheit haben – von Dorothea Schlegel bis Ingeborg Bachmann – Autorinnen männliche Protagonisten gestaltet. Seit den siebziger Jahren war es im Kontext von Feminismus und Gender-Diskurs fast selbstverständlich geworden, dass Frauen über Frauen schreiben. Juli Zehs IchErzähler ist ein Mann. Das ist der erste Tabubruch. Die Hauptfigur von „Adler und Engel“ ist der junge Jurist Max. In den neunziger Jahren der Prototyp des Yuppie, nimmt er – agil, intelligent, sachlich, karrierebewusst – alle Chancen der Prosperität und des rasanten politischen Umbruchs in Mitteleuropa wahr. In einer Spitzen-Anwaltskanzlei ist er Experte für das sich nach Westen umorientierende Osteuropa. Er arbeitet im Wien der UNO-City und der Vertretungen anderer internationaler Organisationen. Max’ Karriere hört plötzlich auf, fällt so steil ab, wie sie hochgeschossen ist. Die Gründe sind in einer Verknäuelung privater und beruflicher Katastrophen zu finden. Der disziplinierte Aufsteiger mit der think positive Attitüde wird zum koksenden und rauchenden, trinkenden, todessüchtigen Asozialen.
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Tabubruch zwei ist, dass Max’ Frauenbeziehungen allen konventionellen Romanerwartungen zuwider laufen. Liebe und Hass, Faszination und Gleichgültigkeit, Ekel und Zuneigung, Zärtlichkeit und Ausbeutung, Hilfsbereitschaft und Mordsucht, Hoffnung und Resignation sind aufs Eigentümlichste und Widersprüchlichste miteinander vermischt. Mit den Dreierbeziehungen von Max, Jessie und Shershah sowie Clara, Max und der toten Jessie schreibt Juli Zeh ein neues Kapitel aktueller Geschlechterbeziehungen. Tabubruch drei betrifft den politischen Bereich. Die Autorin konturiert eine Grauzone korrupter Beziehungen zwischen Politikern und mafiosen Drogen- und Waffenhändlern, die in der offiziellen Berichterstattung der Medien über den Krieg in Jugoslawien viel zu wenig thematisiert worden ist. Es darf sie nicht geben, weil sie nicht in das westliche Wunschbild von demokratischen Menschenrechtsrittern im Kreuzzug gegen das Böse der Arkan-Tiger passt. Die Verbindung der privaten Liebes/Hass-Beziehungen mit den chaotischen Vorgängen im Balkankrieg ist die eigentliche zeitkritische Leistung des Romans. Die unpolitischen Yuppies werden hineingerissen in den Strudel von Politik und Verbrechen. Sich daraus zu befreien, sind sie emotional und intellektuell, seelisch wie physisch nicht in der Lage. Tabubrüche allein machen einen Roman noch nicht zu einem Solitär. Juli Zeh führt auf eindringlich-unaufdringliche Weise die Medialisierung menschlicher Beziehungen vor Augen. Gleich am Anfang des Romans schaut Max auf Clara durch den Türspion mit seinen optischen Verzerrungen. Max hat Clara durch eine Nachtsendung im Radio kennengelernt. Die wird von Clara geleitet, und in ihr kann jeder Anrufer, der es schafft, auf die Telefonliste der Moderatorin zu kommen, seelischen Sperrmüll entsorgen. Clara nimmt Kontakt zu Max auf, weil sie seine story als Soziologin/Psychologin für ihre Diplomarbeit verwerten will, d.h. ihr Interesse gilt nicht der Person, sondern deren Geschichte, die sie sich aneignet. Gespräche werden übers Telefon erledigt, und am Telefon erschießt sich Max’ Freundin Jessie. Max erzählt seine Erlebnisse Clara nicht direkt, sondern spricht sie auf Band; Clara transkribiert sie auf den Computer. Medialisierung der Gefühle und Beziehungen: dieses Sich-Hineinschieben der Medien in die intimsten Bereiche der Kommunikation ist eine der neuen Realitäten, die Juli Zeh bewusst macht. Sprachlich entführen uns andere AutorInnen, auch jüngere, oft in das Deutsch vergangener Jahrzehnte. Die Sprache des Romans „Adler und Engel“ steckt voll von Gegenwart. Das Poetische des Buches rührt von seinen teils witzig-ironischen, teils schockierenden Vergleichen. Solche anschaulichen, einpräg samen und oft gewagten Metaphern findet man nur in Büchern von AutorInnen mit einer ungewöhnlich kreativen Phantasie. Auch die Komposition überzeugt. Die Autorin zieht in ihre Romanarchitektur einen lektürefreundlichen, kriminal-
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romanhaften Spannungsbogen ein. Der hält, und nie besteht die Gefahr, dass die Leseraufmerksamkeit einbricht. Mit ihrer Kombination aus avantgardistischer Sprache und populärliterarischer Konstruktion hat Juli Zeh einen postmodernen Roman geschrieben, der – auch im internationalen Maßstab gesehen – auf der Höhe der Zeit ist. Die Handlung von „Adler und Engel“ spielt vor allem in Wien. Diejenigen, die Wien gut kennen, werden das Buch mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. Hie und da stellen sich „Dritte-Mann“-Assoziationen ein. Juli Zeh, Adler und Engel. Roman. Frankfurt am Main: Schöffling, 2001.
Bodo Morshäuser, In seinen Armen das Kind ZEIT/ZEITLiteratur (März 2002) Das Leben einer Stadt lässt sich literarisch auch mit den raffiniertesten narrativen Techniken, den repräsentativsten Figuren und den bedeutungsschwersten Metaphern in seiner Totalität nicht erfassen. Insofern gibt es so etwas wie „Berlin“-, „Paris“- oder „Wien“-Romane eigentlich gar nicht. Trotzdem ist es sinnvoll, ein Erzählwerk, dessen Handlung sich in einer Metropole abspielt, nach ihr zu benennen. Auch die Ausschnitte von Wirklichkeit, die es vermittelt, sind ohne das Ambiente, die kulturelle Konstellation, ohne Geschichte und Entwicklung jener Großstadt nicht denkbar. Berlin-Romane gibt es in Fülle. Der bekannteste unter ihnen ist Alfred Döblins Klassiker „Berlin Alexanderplatz“ von 1929. Mit ihm ist schwer zu konkurrieren. Während der Weimarer Republik erschienen aber auch Erich Kästners „Fabian“ und Franz Hessels „Heimliches Berlin“. Sie haben in Peter Schneiders und Bodo Morshäusers Romanen Nachfolger gefunden. Bei allen gravierenden Unterschieden im Detail steht bei Schneider wie bei Kästner die Kritik an sozialen und politischen Abnormitäten im Vordergrund; bei Hessel und Morshäuser dagegen gerät vor allem Privates mit seinen heimlichen und unheimlichen Zügen ins Blickfeld. Bodo Morshäuser ist ein Berliner Schriftsteller. In immer neuen Ansätzen sucht er die Innenseite der Stadt zu vermessen: keine Veränderungen auf dem Barometer ihrer Gefühlslagen will er sich entgehen lassen. Das zeigen u.a. seine Bücher „Die Berliner Simulation“, „Der weiße Wannsee“ und „Liebeserklärung an eine häßliche Stadt“, ein Text, der den Untertitel „Berliner Gefühle“ trägt. Morshäuser ist Jahrgang 1953. Was er protokolliert, sind psychische Befindlichkeiten und weltanschauliche Orientierungen seiner Generation und seiner sozialen Schicht. Er kennt die Szenen-Kneipen mit ihren Flipperspielern und der ewigen Rock-Geräuschkulisse; mit dem endlosen Palaver von Lehrlingen, Studenten und
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Kellnerinnen über Beziehungskisten, Horoskope, Esoterik und Buddhismus; mit den reihumgehenden Joints, dem veritablen Alkohol- und Nikotinkonsum, dem Austauschen von Adressen, wo sexuell Revolutionäres praktiziert wird; mit den Träumen vom Glück in Wohngemeinschaften oder Kommunen und mit den vage artikulierten Wünschen vom Aussteigen aus der Großstadtwüste. Einige Schichten dieser ideologischen und emotionalen Konstellation der siebziger/achtziger Jahre hatten sich bereits während der kulturellen Verwerfungen der 68er Studentenrevolte gebildet. In ‚Morshäuser sein Milieu‘ werden die Veränderungen sichtbar. Vorrang hat nicht mehr der Marsch durch die Institutionen, sondern die psychedelische Erweiterung des Bewusstseins; nicht der Umbau der Gesellschaft, sondern die Revolution der Intimbeziehungen; nicht die Veränderung von Politik, sondern die Erkundung des Körpers: statt Anti-Vietnamkriegs-Demonstration also Müsli-Essen, statt Kooperation mit den Arbeitern der Gang zum Heilpraktiker, statt roter Zelle Soziologie der Freundeskreis beim Drogenhändler. Morshäusers bisherige Arbeiten sind gleichsam Prolegomena zum neuen Roman „In seinen Armen das Kind“. Es ist das umfangreichste und, was Aufbau, Sprache und Stil betrifft, auch das gelungenste Prosawerk des Autors. Der IchErzähler des Buches, ein Schriftsteller, berichtet über seine Erlebnisse in der Berliner Szene der siebziger bis neunziger Jahre, vor allem über das Schicksal eines Bekannten, des Schauspielers Maik Steiner. Bei zufälligen oder verabredeten Treffen teilt Maik dem Schriftsteller seinen Lebenslauf mit: Er gehört anfänglich zu den neugierig vagierenden jungen Leuten, die sich in Berlin auf irgendeine Weise von ihrer kleinbürgerlichen Herkunft lösen wollen. Es liegt in der Logik seiner Wünsche, dass er sich in Vera verliebt, die voll abgefahren ist in die Traumwelt alternativen Lebens. In der ausgezeichneten Exposition des Romans lässt Morshäuser durchblicken, wie unter der Oberfläche von Veras herumgereichten Reizvokabeln („Gemeinschaft“, „Kreativität“, „Alternative“, „Heilung“, „Frieden“) die denkbar reaktionärsten Ideologeme von Sexismus und psychischem Terror verborgen sind. Im Lauf des Romans zeigt sich, wie die Großstadtflüchtlinge von einem durchrationalisierten Geschäftskartell dirigiert und manipuliert werden. Die Berliner Aussteiger werden aufs Land, weg nach Franken, auf leer stehende Höfe an der sogenannten Zonengrenze gelockt. Dort wird der Traum diszipliniert, das Chaos kaserniert, der Eros in Dienst genommen. Sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen, Kinderarbeit, Gehirnwäsche, Schauprozesse, Demütigungen und Zerstörungen beherrschen jetzt die so ganz andere „Szene“. Drahtzieher und Profiteur ist Hermann der Heilpraktiker: Guru, Krisenprophet und Unternehmer in einer Person. In seiner Berliner Grunewaldvilla hat er sich durch „Meditations“-Anleitung (inklusive Hypnose und Geschlechtsverkehr) ein kleines Heer von Abhängigen geschaffen, das seine – auch international vernetz-
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ten – Arbeitslager in der Provinz nach dem Grundsatz von Unzucht und Ordnung verwaltet. Maik glaubt, mit Vera einen Sohn zu haben. Sein Schauspielerberuf führt ihn von der Berliner Szene fort. Auf der Bühne wie beim Film hat er Erfolg. Immer wieder begibt er sich aber auf die Suche nach Vera und dem Sohn. Er verrennt sich in seine Berliner Vergangenheit und bezahlt das mit sozialem Abstieg. Schließlich stellt er fest, dass Hermann der Heilpraktiker der Vater seines angeblichen Sohnes ist, dass seine Beziehung zu Vera von ihr und Hermann geplant wurde, dass er bloß eine Spielfigur im Arrangement der Szene-Ausbeuter war. Ohne Folgen ist Maiks Recherche jedoch nicht: Sie trägt dazu bei, dass die PseudoIdylle von der Landkommune entlarvt wird, dass das kriminelle Unternehmen auffliegt. Der Guru und einige seiner „Eingeweihten“ werden verhaftet und hinter Gitter gebracht. Vera (Maiks ehemalige Geliebte, jetzt eine Art Lagerkommandantin) und ihr Freund Udo begehen Selbstmord, als die Polizei das Gelände der Aussteiger umstellt. Hier erinnert einiges an das Schicksal der Branch Davidian-Sekte des David Corash im texanischen Waco im Jahr 1993. Udo, so will es der Erzähler, trägt Züge des amerikanischen Sektierers Charles Manson, der 1969 durch den Mord an Sharon Tate die Öffentlichkeit schockierte. Der Titel des Buches spielt auf die letzte Zeile von Goethes Gedicht „Erlkönig“ an: „In seinen Armen das Kind war tot“. Das Kind liegt allerdings nie in Maiks Armen, und tot ist es auch nicht. Es spricht ihm – frech und dreist – gegen Ende des Romans die Vaterschaft ab. Gestorben ist etwas in Maik selbst: seine Vergangenheit und – mit dem im Wortsinne verlorenen Sohn – ein Stück Zukunft. Die Desillusion könnte größer nicht sein. Der Firnis menschenfreundlich-harmloser Joghurt-, Kräutertee- und Meditations-Gläubigkeit war rasch abgeblättert, und der Blick in die Abgründe des Kommune-Terrors hat Maik nachhaltig verstört. Eine Alternative zur viel geschmähten bürgerlichen Kultur mit Rechtssicherheit und Pluralismus, so zeigt der Roman, ist nicht auszumachen. Ganz so politisch korrekt endet das Buch allerdings nicht. Parallel zum Bericht über Maik Steiner hat Morshäuser Abschnitte eingeschaltet, die direkt vom Ich-Erzähler stammen. Das ist die Story vom Berliner Drogenhändler Tailer – Morshäuser-Lesern eine bereits vertraute Figur. Tailer, der Herr der Kokser, übersteht nicht nur alle Drogen-Razzien und Mutationen der Szene, er verbucht sogar Gewinnzunahmen: der einzige Lebenslauf in aufsteigender Linie. Bodo Morshäuser, In seinen Armen das Kind. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
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Michael Schneider, Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners DIE ZEIT (12.7.2001) Der spanische Maler Francisco de Goya war ein Zeitgenosse der Französischen Revolution. Eines seiner denkwürdigen Bilder trägt den Titel „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Das spanische Wort sueño lässt sich sowohl mit Schlaf als auch mit Traum übersetzen. Im ersten Fall sind jene Diktaturen gemeint, die entstehen, wenn eine staatliche Gemeinschaft auf Prinzipien der Vernunft verzichtet; die zweite Bedeutung bezieht sich auf die Dialektik einer Revolution, die das Gute will und doch das Böse schafft. Michael Schneiders Roman analysiert einen Vernunft-Traum, der sich zum Albtraum von Bürgerkrieg und Massenmord wandelt. Das Buch ist ein aspektereicher, spannend geschriebener, subtil argumentierender und gründlich recherchierter historischer Roman über die Französische Revolution. Hier findet man nicht nur Zugang zu einer Epoche der Vergangenheit, sondern lernt auch Zusammenhänge von Ideologie und Terror, Gewalt und Radikalisierung, Revolution und Restauration verstehen, wie sie für unsere Zeit bezeichnend waren und sind. Der historische Roman, das wusste schon Walter Scott, behandelt Fragen der Gegenwart. In Saint-Just, dem Exterminator, dem bürokratischen Schreibtischtäter und Massenmörder, wird ein Vorläufer Eichmanns erkennbar; die Verselbständigung und Eskalation der Gewalt unter Robespierre kehrt wieder im Terrorismus von Gruppen wie der Roten-Armee-Fraktion; und die Bemerkungen über die Geschäftemacher der Restaurationszeit sind wohl auf unsere Globalisierungsaktionäre gemünzt. Der Autor lässt die Geschichte seines Namensvetters Eulogius Schneider „von einem Freunde“ erzählen (wie ehedem Thomas Mann den „Doktor Faustus“). In beiden Fällen berichtet ein Jugendfreund des dämonischen Helden: dort Serenus Zeitblom über einen Tonsetzer, hier Jakob Nepomuk Brenner über einen Franziskaner und Revolutionär. Eulogius Schneider ist eine historische Figur. Während der Herrschaft der Jakobiner war er der öffentliche Ankläger beim Straßburger Revolutionstribunal. Der Ort des Geschehens wechselt zwischen Paris und dem Elsass. So entsteht ein differenziertes Bild der sich bekämpfenden politischen Parteien in Metropole und Provinz. Brenner reichert seine Erzählung mit Dokumenten an, die eine Vielfalt von Perspektiven eröffnen: Notate und Konfessionen Eulogius Schneiders, Briefe an und Zeugnisse von Zeitgenossen, Tagebucheintragungen von Sara Stamm, der späteren Frau des Protagonisten. Die Erzählung über Sara und Eulogius ist eine der bewegendsten Liebesgeschichten der
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deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sie steht in der Tradition von Goethes „Werther“. Das Buch beginnt mit Eulogius Schneiders Verhaftung im Dezember 1793 und endet mit seiner Enthauptung durch die Guillotine im April 1794. In diesen Monaten ist er ein Gefangener Robespierres in Paris. Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder und bald auch ihre Väter. Sein Zellengenosse ist Graf Merville. Die Diskussionen zwischen ihm und Eulogius gehören zum Besten, was für und wider die Französische Revolution und ihre Grundideen gesagt werden kann. Merville, der aufgeklärte Skeptiker und Antirevolutionär, hat zu jeder These des RousseauAnhängers Eulogius ein Gegenargument parat: Freiheit und Gleichheit seien in der angestrebten Koppelung nicht zu haben – eine Maximierung der einen politischen Tugend führe notwendig zur Minimierung der anderen. Merville bringt die tragische Antinomie auf den Punkt: „Ohne Terror wäre die Republik zur Beute ihrer inneren und äußeren Feinde geworden. Und mit ihm geht sie zugrunde.“ In Rückblicken berichtet der Erzähler von Eulogius’ Kindheit in Franken, der Studienzeit in Würzburg, den Jahren als Franziskaner in Bamberg, seinem Predigeramt unter dem Herzog Carl Eugen in Stuttgart, der Professur an der Universität Bonn und den Jahren zwischen 1790 und 1793 im gleichzeitig revolutionären und konservativen Straßburg, wo er zum Jakobiner wird. Die Lebensphasen des jungen Mannes verlaufen immer gleich: Sein Charakter ist antiautoritär, und so sprengt er die ihm gesetzten Grenzen. Philosophie und Literatur der Aufklärung (Voltaire, Rousseau, Klopstock, Forster, der frühe Goethe) sind sein Lebenselixier; kein Wunder, dass er als Mönch und Priester mit der katholischen Dogmatik in Konflikt gerät. Vom eigenen Vater, von den Lehrern an der Universität Würzburg wie den Oberen im Bamberger Kloster, vom württembergischen Herzog und vom Kölner Fürstbischof, vom Straßburger Bürgermeister, ja sogar von den Jakobinern wird er gemaßregelt und entlassen. Diese Strafen kulminieren 1794 im Tod auf dem Schafott. Die „Sainte Guillotine“ ist die zentrale Figur des Romans. Mit ihr reist Eulogius im Elsass über Land, um Antirevolutionäre und sogenannte Landesverräter zu töten. Damit handelt er sich den Ruf eines Tyrannen und Blutsäufers ein. König Ludwig XVI. hatte, um den Strafvollzug zu „humanisieren“, eine Köpfmaschine in Auftrag gegeben und wurde selbst im Zug der Abschaffung der Monarchie eines ihrer frühen Opfer. Die Guillotine ist ein Instrument, das jene Politiker, die sich ihrer bedienen, beherrscht und vernichtet, zunächst seelisch, dann physisch. Schneider zeigt, wie ein sensibler, literarisch gebildeter Politiker als „Gewaltidealist“ und Terrorist wider Willen in den Mahlstrom eines Geschehens gerät, dessen Entwicklung er weder voraussehen noch kontrollieren kann. Wie in Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“ bleibt der Hauptfigur vieles unerklärbar, dominiert das Empfinden, wie eine Marionette dirigiert worden zu
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sein. Und wie bei Brecht bittet der politisch schuldig gewordene Revolutionär die Nachgeborenen um Nachsicht. Michael Schneider, Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001.
Barbara Honigmann, Alles, alles Liebe! DIE ZEIT (16.11.2000) Brief und Roman sind konvergierende literarische Gattungen, denn das Dialogische und die Vielperspektivität zeichnen sowohl den Roman wie den dichterischen Briefwechsel aus. Als in der Epoche der Empfindsamkeit bei Richardson, Rousseau und Goethe der Roman zum Brief mutierte und während der Romantik die Briefe Caroline Schlegels und Rahel Varnhagens episch wurden, waren das Sternstunden der europäischen Dichtung. Gegenwartsliteratur ist immer ein Schreiben mit dem Kanon und gegen ihn. Barbara Honigmanns neues Buch „Alles, alles Liebe!“ ist ein Briefroman, der Lese-Erwartungen, die mit der ambitiösen Erzählform verbunden sind, keineswegs enttäuscht. Die Korrespondenzpartner sind zahlreicher als in den klassischen Beispielen, aber das tut der Dynamik und Dramatik der geschilderten Liebes- und Freundschaftsbeziehungen keinen Abbruch. Wie bei den Briefromanautoren des 18. Jahrhunderts liegen auch die Figuren Honigmanns im Clinch mit real existierenden Miseren. Die Botschaften tragen Orts- und Zeitangaben: Berlin, Prenzlau und Meiningen im Herbst und Winter 1975. Das war die DDR in ihrer bleiernen Zeit, in den Monaten vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns – „Scheiß-DDR! Die Enge! Die Starre! Das Unglück! Die Lügen!“, wie es einmal heißt. Anna Herzfeld, die Protagonistin des Buches, arbeitet am Theater, ist Dramaturgin und versucht sich erstmals als Regisseurin. Prenzlau im nördlichen Brandenburg, wo sie eine Anstellung findet, ist ihr seelen- und nervtötende Provinz. Die Briefe, die sie von dort an den geliebten Leon, die Freundin Eva, ihre Mutter und an Bekannte schickt, sind Teil ihrer psychischen Überlebensstrategie. Der Sommer ist vergangen, und damit die Idylle, die sie mit ihrem Berliner Freundeskreis in ländlicher „Einsiedelei“ verbracht hatte. Aber von der Wärme, die das Miteinander, Lieben und Sichaustauschen erzeugte, strahlt ein wenig ab ins kalte Prenzlauer Zimmer. Anna ventiliert die Idee einer künstlerisch-produktiven Gemeinschaftsarbeit: die „Einsiedler“ mögen doch Geschichten dichten, mit Bildern schildern und in Gedanken zanken. Die Kreativität der Sommerkommune, der Ferien-Nische, des
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Salon-Ersatzes möchte sie in einem „Album der Freunde“ dokumentieren. Kann es ein romantisches Projekt wie das „Athenaeum“ des Friedrich Schlegel oder Achim von Arnims „Zeitung für Einsiedler“ zu DDR-Zeiten noch einmal geben? Ein Tag graut wie der andere, Verzagtheit greift um sich, und der Plan vermehrt die endlose Liste unrealisierter Möglichkeiten künstlerisch-freundschaftlicher Kooperation. Allerdings sind die Briefe selbst ein Album der Freunde, das ihrem Zorn und ihren Hoffnungen Stimme gibt. Was immer Anna will, kehrt sich gegen sie: Die Liebe zu Leon, dem so schönen wie depressiv-verzweifelten Don Juan, geht in die Brüche, und als Regisseurin des Wiener Volksstücks „Der Furchtsame“ von Philipp Hafner scheitert sie. Sie wird entlassen, weil sie nicht verstehe, sich ins Prenzlauer „sozialistische Theaterkollektiv“ einzufügen. Die Furchtsamen, das sind die anderen. Ein Unternehmen klappt zumindest halbwegs. Die Berliner Freunde inszenieren in einer Privatwohnung García Lorcas „Bernarda Albas Haus“, eine Parabel von Diktatur und Tyrannei. Kein Wunder, dass die öffentliche Aufführung des Stücks verboten bleibt. In den Diskussionen über das Drama wird Thomas Braschs Gedicht über Jim Morrison zitiert. Es handelt von der „müden Trauer“ und dem „kleinen Haß“ der Zeit. Morrison war in den sechziger Jahren das globale Idol des „Summer of Love“ der Hippie- und Protestgeneration. Ost-Berlin ist nicht San Francisco. Mit zeitlicher Verzögerung erleben die alternativen „Einsiedler“ die Kurzlebigkeit ihres „Sommers der Liebe“, der kein internationales Medienereignis sein kann, sondern unter Bedingungen der inneren Emigration stattfinden muss. Das Stickige, die Ängstlichkeit, den Kleinmut der verspießerten offiziellen DDR-Kulturszene und die verhalten-unsichere Rebellion dagegen in den Monaten vor dem Biermann-Skandal – kein anderes Buch hat das atmosphärisch so bedrängend vergegenwärtigt wie Honigmanns „Alles, alles Liebe!“ Aber der Roman leistet mehr. Er bringt die spezifische Situation der jungen jüdischen Künstler im Honecker-Staat zur Sprache. Im Briefwechsel mit der Schauspielerin Eva liest man von den Anpöbelungen, denen sie als Jüdinnen ausgesetzt sind. Eva schickt Anna ihre Geschichte „Die zwei Brüder“, eine aktualisierte Variation des Grimmschen Märchens. Die beiden Brüder stehen für entgegengesetzte Möglichkeiten, als Juden zu leben. Der eine besinnt sich auf die jüdische Religion und Tradition, der andere erprobt fremde Lebensmöglichkeiten. Die Generation der Eltern hat ihre ideologische Heimat im DDR-Sozialismus gefunden. Sie waren Hitler-Flüchtlinge, sind aus dem Exil nach Deutschland remigriert und waren als leitende Funktionäre an der Gründung der DDR beteiligt. Die Mutter Annas gehört zu dieser privilegierten Gesellschaftsschicht. Sie kann nach Wien reisen, besucht dort Verwandte und Freunde und kauft „West“-Artikel für ihre Tochter. Ilana, Annas jüdische Freundin im lettischen (damals sowjetischen) Riga, entwirft ihr Leben ganz anders. Sie hat nach langem Warten ein Emigrationsvisum für Israel erhal-
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ten. Aus Jerusalem schreibt Ilana, wie froh sie ist, zum Judentum ihrer Vorfahren zurückkehren zu können und den Repressionen des Sowjetstaats entkommen zu sein. Erst in ihrer neuen Umgebung sieht sie ihre Kreativität gefordert. Anna nimmt teil an diesen unterschiedlichen Biografien, ist selbst, einer Nomadin gleich, noch auf der Suche nach einem emotionalen und intellektuellen Zuhause. Barbara Honigmann ist eine große Erzählerin. Das zeigt die künstlerisch gelungene Komposition und Anordnung der Briefe, die eine Lesespannung erzeugen, wie sie erfreulicherweise für den heutigen deutschsprachigen Roman wieder bezeichnend geworden ist. Alle Korrespondenzpartner haben ein eigenes Profil, eine individuelle Aura, vermitteln durch ihre unterschiedlichen Alltagssprachen ein nuanciertes Bild ihrer Aspirationen und Krisen. Wie auf ihren Bildern – die Autorin ist auch Malerin – sind ihre Figuren deutlich konturiert und von einprägsamer Plastizität. Es gibt einen engen biografisch-künstlerischen Zusammenhang im Werk der Autorin. Ihre Bücher leben aus den Kindheits- und Jugenderfahrungen in der DDR und ihrer Wiederentdeckung des Thora-Judentums zuerst in Berlin, dann in Straßburg, wo sie seit 1984 wohnt. So lesen sich die früheren, formal anders gearbeiteten, aber nicht minder meisterhaften Prosatexte „Roman von einem Kinde“, „Eine Liebe aus nichts“ und „Soharas Reise“ wie Vor- und Nachgeschichten von „Alles, alles Liebe!“ Barbara Honigmann, Alles, alles Liebe! Roman. München: Hanser, 2000.
Angelika Mechtel, Das kurze heldenhafte Leben des Don Roberto DIE ZEIT (17.6.1999) Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist alles andere als provinziell. Viele AutorInnen sind bis in die fernsten Winkel der Erde gereist, um sich den sprichwörtlichen Wind um die Nase wehen zu lassen, und haben in Reportagen, Tagebüchern und Dichtungen ihre Eindrücke aus der Fremde publiziert. Ermuntert wurden sie zu den Exkursionen nicht selten durch ausländische KollegInnen. Unser Lesehorizont wäre enger, hätte es zum Beispiel keinen Südamerika- und Afrika-Reisenden wie Hubert Fichte gegeben, wären der Haiti-Kenner Hans Christoph Buch, der Indienfahrer Günter Grass oder die von Puerto Rico verzauberte Angelika Mechtel zu Hause geblieben. Mechtels vielfältiges dichterisches Werk ist geprägt durch Erfahrungen der studentisch bewegten und feministisch engagierten Generation. 1993 veröffent-
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lichte sie (gemeinsam mit Gerd E. Hoffmann) das Reisebuch „Tropenzeit“. Darin erzählt sie von wiederholten Besuchen in Puerto Rico, einer der westindischen Inseln in der Nachbarschaft der Dominikanischen Republik beziehungsweise Haitis. Es ist ein Beispiel postkolonialer Kritik, in dem sie, ausgehend von persönlichen Erlebnissen im Alltag, über die puertoricanische Multikultur nachdenkt, über indianische, afrikanische, spanische und US-amerikanische Identitäten und ihr hybrides Ineinander. Puerto Rico wurde zur zweiten Heimat der Kölner Schriftstellerin, und die Bucht von Boqueron war ihr so vertraut wie die Promenade am Rheinufer. Für „Das kurze heldenhafte Leben des Don Roberto“ hat die Autorin die Form des historischen Romans gewählt. Das ist eine seit Umberto Ecos „Der Name der Rose“ favorisierte Gattung der literarischen Postmoderne. Charakteristisch für postmoderne Kunst ist unter anderem die Mischung der Ebenen des Elitären und Populären. Mechtels neues Buch steht in der Tradition des solide recherchierten, seine Quellen zitierenden Geschichtsromans; aber gleichzeitig verachtet die Autorin keineswegs die Requisiten und Handlungselemente der Massenliteratur. Wie in jedem Piratenroman kommen randgefüllte Schatzkisten, sagenumwobene Verstecke, fabelhaft schnelle Segelschiffe, brutale Schlägereien, Duelle auf Leben und Tod und durchschaubare Intrigen vor. Der Flirt mit dem Trivialen bleibt stilistisch nicht ohne Folgen. Zuweilen fallen die Beschreibungen klischeehaft aus, etwa wenn wir erfahren, dass der Busen einer Dienerin oder der Penis eines Matrosen „von beachtlichem Format“ sind. Beim Lesen fühlt man sich manchmal in jene frühen Jahre versetzt, als man mit roten Ohren die Geschichten über verwegene Korsaren wie Francis Drake, Käpt’n Kid und Henry Morgan verschlang oder sich mit Lord Byrons Corsair beziehungsweise Daniel Defoes Captain Singleton auf die hohe See anspruchsvollerer Piratenliteratur wagte. Auf diese Freibeuter aus legendärer Geschichte und historischer Legende wird in Mechtels Roman öfters angespielt. Der Titelheld Don Roberto Cofresi wächst in einer Umgebung auf, in der Piratenschmöker der niederen und gehobeneren Klasse die Rolle von Bildungsromanen übernommen haben. Don Roberto ist ein Mann Anfang Dreißig, der in die Fußtapfen des verstorbenen Vaters, eines erfolgreichen puertoricanischen Freibeuters, treten will und von dauerndem Ruhm und raschem Reichtum träumt. Man schreibt das Jahr 1823. Nach den Friedensvereinbarungen auf dem Wiener Kongress beginnen die europäischen Monarchien, das Freibeutertum zu ächten. Bis dahin hatten einige Familien (wie die Cofresis) in der spanischen Kolonie Puerto Rico das königlich verbriefte Recht, Schiffe anderer Nationen zu kapern. Nun jedoch droht Cofresi junior arbeitslos zu werden, denn außer der Piraterie bietet die Insel ehrgeizigen jungen Leuten wenig Entfaltungsmöglichkeiten. War das Freibeutertum bis gestern patriotische Pflicht, belegt man es nun
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mit der Todesstrafe. Mechtel verdeutlicht die sozialen und psychischen Auswirkungen einer plötzlich veränderten Machtkonstellation. Don Roberto wird zum unzeitgemäßen Helden, als er ohne staatliche Legitimation das Kapern weiterbetreibt. Das kann schon deswegen nicht gut gehen, weil der einflussreiche Nachbarstaat USA die Gefährdung seiner wirtschaftlichen Interessen nicht duldet. Der amerikanische Konsul in der Hauptstadt San Juan übt Druck auf die lethargischen Behörden der Insel aus. Nach zwei Jahren ist der Pirat mit Hilfe der US-Marine zur Strecke gebracht. 1825 wird Don Roberto mit seiner Mannschaft gefangengenommen und von einem puertoricanischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt – da hilft es auch nicht, dass der romantisch-edle Korsar beim Plündern der Schiffe das Leben seiner Opfer immer geschont hat. „Das kurze heldenhafte Leben des Don Roberto“ ist mehr als ein unterhaltsames Abenteuerbuch; es ist auch ein packender Liebes- und Gesellschaftsroman. An erotischen Verwicklungen hat es in der Romanhandlung keinen Mangel. Robertos Neigung gehört seiner Frau, der pragmatischen Anna, aber sein sexuelles Begehren ist auf ihre Schwester Juana gerichtet, die genussvoll geschlechtsspezifische Konventionen missachtet und gesellschaftliche Tabus bricht. Juana ihrerseits fühlt sich Don Roberto seelen- und wahlverwandt. Die Hierarchie der Kolonialgesellschaft, in der Spanier, Kreolen, Nachkommen der Arawak-Indianer und Afrikaner ganz unterschiedlich platziert sind, wird so differenziert wie nuanciert geschildert. Das gilt auch für die politische Abhängigkeit vom spanischen Mutterland und den übrigen seefahrenden Mächten, besonders den USA. Hier wird Vergangenheit als Vorgeschichte der Gegenwart erkennbar. Auch Neben figuren wie die selbstbewusste Plantagenbesitzerin Doña Cornelia Bey, die Hure und Heilerin Pastelita oder der kleine, von allen durchschaute Spion Joaquin Arroyo sind gekonnt profiliert. Zudem ist das Buch mit seinen Naturschilderungen der Karibischen See, des tropischen Wetters im tages- und jahreszeitlichen Wechsel sowie der Flora und Fauna der Insel geeignet, uns hinzulocken in die Welt der Antillen, um mit Juana Mangofrüchte zu genießen oder uns auszuruhen unter Annas Kalebassenbaum. Angelika Mechtel, Das kurze heldenhafte Leben des Don Roberto. Ein karibischer Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1999.
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Hanns-Josef Ortheil, Im Licht der Lagune DIE ZEIT (18.2.1999) Was wären deutsche Literatur, Musik und Malerei ohne die Inspirationsquelle Italien? Ganze Kunstepochen und Gattungen müsste man sich wegdenken. Neben Rom, Neapel, Florenz und Genua hat Venedig die besten literarischen Geister angelockt und angeregt – von Goethe und Schiller bis Nietzsche und Hofmannsthal, von Schnitzler und Rilke bis Hermann Hesse und Thomas Mann. In deren Dichtungen wiederum sind die Spuren von Shakespeares, Otways und Goldonis Venedig-Dramen sowie Casanovas Autobiografie unübersehbar. Guido Piovene hat Venezia einmal „eine Stadt, beladen von Literatur“ genannt. Das Befrachten geht weiter, wie Reiseberichte, Erzählungen, Romane und Gedichte von Alfred Andersch, Peter Huchel, Wolfgang Koeppen, Rose Ausländer, Peter Rosei, Herbert Rosendorfer und Eva Demski zeigen. Das riesige Archiv dichterischer Venedig-Phantasien, das einen ganzen Dogenpalast füllen würde, hat sie nicht eingeschüchtert. Auch Ortheils neues Buch, das man nicht aus der Hand gibt, hat man es zu lesen begonnen, hält den Mythos am Leben. Drei Dinge kommen in diesem Roman zusammen, die das Interesse des Lesers wachhalten: die an Goethe geschulte, aber keineswegs Goethe imitierende Erzählweise, die Handlung mit einer spannungsgeladenen Personenkonstellation und ein kunstgeschichtlicher Subtext, der dem Ganzen eine Tiefendimension verleiht. Ortheil ist ein Kenner und Verehrer Goethes, wie sein Roman „Faustinas Küsse“ (ein Buch über Goethe in Rom) zeigt. Von Goethes Sinn für Nuancen und Paradoxien wirkt hier viel nach, und dessen leserfreundliche Erzählkonstruk tionen, wie wir sie aus dem „Wilhelm Meister“ und den „Wahlverwandtschaften“ kennen, haben Ortheil offenbar beeindruckt. „Im Licht der Lagune“ ist nicht zuletzt ein großer erotischer Roman, in dem – wie schon in „Faustinas Küsse“ – etwas vom Fluidum der „Römischen Elegien“ zu spüren ist. Ortheil lädt die Leser zur romanhaften Gondelfahrt ein, versetzt sie in die Dekadenzphase des Spätrokoko und bezaubert sie durch die Romanze vom jungen Liebespaar Andrea und Caterina. In einem entlegenen Teil der Lagune findet der Conte Paolo di Barbaro während der Entenjagd den (vermeintlichen) Leichnam eines schönen jungen Mannes. Andrea, so heißt der Unbekannte, erwacht wieder zum Leben, hat aber die Erinnerung an seine Herkunft verloren. Der rätselhafte Fremde wird einmal als Heiliger verehrt, ein andermal als Spion gefürchtet. Di Barbaro ist einer der großen Sammler venezianischer Malerei, und vielleicht deutet sein Name (abgesehen von der Anspielung aufs Barbarische) hin auf den Barbarigo-Palast, der seinerzeit eine weltberühmte
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Gemäldekollektion beherbergte. Paolo nimmt Andrea in seinen Palazzo auf. Hier entdeckt der junge Fremde sein Talent als Maler; das Zeichnen nach der Natur ist seine spezielle Begabung. Für Paolo wird er zu einem Wirtschaftsfaktor: Er will die Arbeiten seines Schützlings sammeln, um sie mit Gewinn zu verkaufen. Aber es kommt alles anders. Paolo verliebt sich in die junge Tochter seines Nachbarn. Der jedoch verheiratet die schöne Caterina an Paolos jüngeren Bruder Antonio, der lediglich finanzielle Interessen hat und seine Gattin bald Richtung England verlässt. Für die Rolle des Cicisbeo, des männlichen Begleiters, wählt Caterina den geheimnisvollen jungen Fremden. Der Autor schildert subtil die zunehmenden Vertraulichkeiten zwischen Caterina und Andrea. Ortheils Andrea wird von der Vereinigung mit der Geliebten nicht durch jene Hemmungen abgehalten, wie sie für den gleichnamigen Helden des Hofmannsthalschen Andreas-Fragments bezeichnend sind. Paolos unterdrückter Eros muss sich mit Andreas Abbildern von Caterina begnügen. In Sachen sexueller Lust gleichsam am Hungertuch nagend, küsst der Conte die Zeichnungen anstelle des unerreichbaren Modells. Eines Tages entdeckt er im Atelier des Fremden Darstellungen, die nicht für sein Auge bestimmt sind: Caterina allein und mit Andrea in Ansichten und Posen, die im Wortsinne nach der Natur gezeichnet sind. Den Conte versetzen die Erotika in nahezu othellohafte Rage. Nach venezianischer Minne-Tradition sind dem Cicisbeo bei strengster Strafe alle Intimitäten mit der Verehrten untersagt. Der adlige Paolo wandelt sich zum unedlen Denunzianten, zum unehrenhaften Rächer der Ehre seiner Familie. Andrea endet im Kerker, ohne dass Caterina erfährt, was mit ihm geschehen ist. Das Ende des Romans hat mit Goethescher Geschlossenheit wenig zu tun: Was aus Andrea nach der Haftentlassung wird, bleibt offen. Die Gattungsmischung aus Künstler- und Geschichtsroman ist zu häufig erprobt worden, als dass nicht die Gefahr der Sterilität naheläge. Zum Faszinierenden an diesem Buch gehört jedoch, dass nicht erneut die Seelenkämpfe eines jungen Genies zelebriert werden. Durchsichtig gemacht wird die Entwicklungskurve moderner Kunst überhaupt. Andrea stößt in der Gefangenschaft zu einem erweiterten Naturalismus vor, wenn er Natur- und Traumlandschaften von zunehmender Abstraktion malt. In diesen Bildern wird eine Technik vorweggenommen, der im frühen 19. Jahrhundert William Turner zum Durchbruch verhalf. Darüber hinaus gelangt Andrea zu neuer Simplizität. Die Entwicklung von naturverhafteter Mimesis über Impressionismus und Abstraktion bis zu neuer Gegenständlichkeit deutet den Verlauf westlicher Kunst von der Vormoderne über die Moderne bis zur Postmoderne an. Hier wird das künstlerische Verfahren
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des Autors Ortheil selbst reflektiert: Ein Beispiel der neuen Einfachheit im Erzählen, ein Dokument nachmoderner Literaturästhetik ist auch Ortheils Roman „Im Licht der Lagune“. Hanns-Josef Ortheil, Im Licht der Lagune. Roman. München: Luchterhand. 1999
Hanns-Josef Ortheil, Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann Neue Zürcher Zeitung (13.10.1994) Hanns-Josef Ortheil ist einer der produktivsten und vielseitigsten Schriftsteller seiner Generation. In dieser – besonders beachtenswerten – Poetikvorlesung kommt seine kritisch-dichterische Doppelbegabung gut zur Geltung. „Das Element des Elephanten“ ist das Ergebnis seiner Gastdozentur vom vorigen Jahr an der Universität Paderborn. Es ist eine Mischung aus Autobiografie, Werkstattbericht und Bildungs- bzw. Künstlerroman. In sieben Ansätzen erklärt Ortheil, wie sich seine Wortversessenheit, seine Sprachfaszination, seine Schreibleidenschaft entwickelt. Stärker noch als in den anderen neueren Vorlesungen löst sich hier die Poetik im autobiografischen Text auf. Die Phasen von Kindheit, Jugend und früher Erwachsenenzeit sind Ortheil identisch mit Stationen auf dem Weg zur Schriftstellerexistenz: von der Stummheit zur Sprache, von der Sprache zur Schrift, vom Lesen zum Schreiben, von der Dichtungslektüre zur eigenen literarischen Produktion, von der Kreation zur Publikation. Indem er sich die Kindheits- und Jugenderlebnisse vergegenwärtigt, vermittelt er das Atmosphärische der fünfziger und sechziger Jahre. Der Krieg hält die Menschen der Nachkriegszeit noch in seinem Bann. Die Mutter verliert im Frühjahr 1945 ihren dreijährigen Sohn. Die Folge ist ihr völliges Verstummen, ein Schweigen, das sich auf den jüngeren Sohn überträgt. Erst kurz vor der Einschulung lernt Ortheil zu sprechen. Plastisch und humorvoll wird die Überwindung der autistischen Ich-Versenkung geschildert: Der Vater schreit ihm bei ausgedehnten Spaziergängen in Wald und Flur die Namen von Bäumen, Pflanzen und Gegenständen ins Ohr. Der längst überfällige Spracherwerb wurde vom Kind als zweite Geburt, als große Befreiung erlebt. Die Schule allerdings ist ihm ein Gefängnis, und so flieht er in gemeinsame Lesestunden mit der Mutter. Als Gesprächspartner erfindet er sich den 1945 ums Leben gekommenen Bruder als „besten und einzigen Freund“. In seiner Jugend wirkt sich die väterliche Komponente im Erziehungsprozess erneut aus. Bei Wanderungen in Süddeutschland und im Rheinland wird der
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Sohn angehalten, ausführliche Tagesberichte zu schreiben. Die Gewohnheit, alles Erlebte und Beobachtete schriftlich zu fixieren, hat der Autor bis heute beibehalten. Diese Notizen sind kein Tagebuch als subjektives Seelenprotokoll, sondern auf die Schilderung des Äußeren beschränkte Berichte. Nachhaltige Leseerlebnisse sind ihm Erzählungen von Hemingway und Thomas Mann; er identifiziert sich mit Nick Adams und Tonio Kröger. Kaum hält er das Abiturzeugnis wie einen Entlassungsschein aus dem Gefängnis in Händen, reist der junge Ortheil mit Tonio-Reminiszenzen im Kopf nach Rom. Im Glückszustand neu gewonnener Freiheit schreibt er dort einen Roman über seine Gymnasialjahre. Ein halbes Jahr dauert der Rom-Aufenthalt; dann kehrt er nach Deutschland zurück. Eine Weile versucht er sich als Filmkritiker, doch kann er dem Feuilletonistischen mit seiner Tonlage zwischen „harmlosem Plaudern und forschem Behaupten“ keinen Geschmack abgewinnen. Er nimmt das Romanmanuskript aus den Monaten in Rom wieder hervor, will es überarbeiten und stürzt bei der Lektüre in die größte Krise seines jungen Lebens. Ortheils vehement selbstkritische Äußerungen über seinen Erstling stellen alles in den Schatten, was man an Verrissen aus den Federn der Imperatoren der Literaturkritik kennt. „Es war der Text eines größenwahnsinnigen Dilettanten“, lautet die geradezu scharfrichterliche Selbstverurteilung. Ergebnis der Krise ist, dass er seinen Plan aufgibt, Schriftsteller zu werden. Statt dessen stürzt er sich in die „Fron“ eines germanistischen Studiums, an dessen Ende er eine romantheoretische Dissertation vorlegt. Bei einem Paris-Besuch sieht er zufällig Jean-Paul Sartre in einem Café. Er fühlt sich magnetisch von diesem „Urbild“ seiner frühen Tage, von dieser „Ikone des Schriftbesessenen“ angezogen. Dieses kleine Erlebnis wirkt wie eine Epiphanie: Der Autor gibt sich selbst noch einmal eine Chance, es mit dem Schreiben zu versuchen. Kurz darauf beginnt er die Arbeit an seinem Roman „Fermer“. Die autobiografischen Erinnerungen sind – wie in Poetikvorlesungen üblich – durchsetzt mit Hinweisen auf die eigene literarische Produktion. Ortheil verdeutlicht, dass seine Erzählwerke („Fermer“, „Hecke“, „Schwerenöter“, „Agenten“, „Abschied von den Kriegsteilnehmern“) biografisch motiviert sind. Er zitiert längere Passagen aus den Romanen und zeigt, wie er sich mit ihnen an Entwicklungskrisen seiner Kindheit und Jugend abarbeitet: Im Grunde sei er die Probleme seiner Nachkriegskindheit immer erneut angegangen. Der gelungenste Versuch dieser Spurensicherung ist seine postmodern-autobiografische Poetikvorlesung, in der Ortheil übrigens auch treffend die Dialekte und Mentalitäten der Bevölkerung seiner Heimat am Niederrhein und im Westerwald charakterisiert. Hanns-Josef Ortheil, Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München: Piper, 1994.
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Hanns-Josef Ortheil, Schauprozesse Neue Zürcher Zeitung (17.1.1991) „Der Ekel vor jeder Art von Wichtigtuerei sitzt bei mir am tiefsten. Daher mein Glaube an die ‚Arbeit‘, an das ruhige, vollkommen besonnene Schaffen.“ Dieser sympathische Grundsatz Ortheils hat bei seiner erstaunlichen Mehrfachbegabung als Literaturwissenschaftler, Kulturkritiker, Romanschriftsteller und Pianist bewundernswerte Früchte getragen. Noch keine vierzig Jahre alt, hat dieser poeta doctus bereits die beiden gewichtigen Zeitromane „Schwerenöter“ (1987) und „Agenten“ (1989) vorgelegt, in denen die Adenauer-Ära und die achtziger Jahre gesichtet und erdichtet werden. Was er als Kritiker leistet, zeigt die in „Schauprozesse“ dokumentierte Auswahl seiner Essays aus der letzten Dekade. Die Literatur und Kultur der achtziger Jahre wird hier mit einem philosophischen und poetologischen Instrumentarium analysiert, das auf der Höhe der Zeit ist. Ortheil kennt sich in der aktuellen amerikanischen Postmoderne-Debatte so gut aus wie in der zeitgenössischen französischen Theoriediskussion. Mit der Begriffswelt der Frankfurter Schule ist er ebenfalls vertraut. Er zeigt, dass Adorno seine Ästhetik in der Auseinandersetzung mit der Dichtung und Kunst der Moderne entwickelte; entsprechend wenig eigne sie sich zur Erfassung der postmodernen kulturellen Befindlichkeit. Ortheils Kenntnisse auf dem Gebiet des europäischen und amerikanischen Romans flößen auch den Fachvertretern der Vergleichenden Literaturwissenschaften Respekt ein. Der Auswanderer, der Deserteur, der Entdecker und der Detektiv: Ortheil nennt sie die vier Figuren mit dem spezifisch postmodernen Blick, der die Per spektive eines Großteils der Gegenwartsliteratur bezeichne. Gemeinsam ist diesen Figuren die distanzierte beziehungsweise forschende Sicht. In immer neuen Anläufen sucht der Autor den Unterschied zwischen moderner und postmoderner Literatur zu verdeutlichen. Die Vertreter des modernen Romans (wie Thomas Mann, Robert Musil und Hermann Broch) verfassten große, zielgerichtete epische Weltentwürfe, Kunstwerke für Experten, gekennzeichnet durch aristokratische Kryptik und symbolhafte Verknappung, „bis zur Grenze des Möglichen mit Sinn geladen“ (Pound). Kennzeichnend für die Prosa der Postmoderne ist dagegen die Aufdeckung von Spielmustern, die Offenheit, Unbestimmtheit und die Auflehnung gegen Allgemeinbegriffe. Zu den postmodernen deutschsprachigen Autoren werden Wolfgang Hildesheimer, Rolf-Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Gerold Späth, Gert Hofmann, Gerhard Köpf, Klaus Hoffer und der frühe Peter Handke gezählt. Ortheil selbst sieht seine Arbeit in einem Bereich zwischen Moderne und Postmoderne angesiedelt. Wie die Romanciers der Moderne hält er – darin Milan
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Kundera verwandt – an Universalitätspostulaten des Romans fest, dem er nach wie vor zutraut, Epochenerfahrungen symbolhaft zu verdichten. Zudem beruft er sich auf Ludwig Börne, den Anhänger des kritischen Zeitromans. Auch György Konráds „Antipolitik“, zu der Ortheil sich bekennt, steht in der Tradition der philosophischen Moderne. Andererseits aber hat er teil an den kulturellen „Groß erfahrungen“ der posthistoire, der Postmoderne und des Poststrukturalismus, deren Darstellung ein eigener Aufsatz gewidmet ist. Eine ausgesprochene Nähe empfindet er zu jenen „Außenbezirken der Moderne“, die bereits an die Postmoderne angrenzen: zur phänomenologischen Literatur der Beschreibung aus den zwanziger Jahren, wie wir sie vor allem von Walter Benjamin kennen. Dessen Vorstellung vom „Flaneur“ inspirierte Ortheil zu einer Studie über die heutige Stadt(un)kultur. Der Titel „Schauprozesse“ spielt auf die immer prägender werdenden visuellen Erfahrungen unseres Medienzeitalters an. Das Fernsehen unterstützte – wie Ortheil in seiner Einleitung ausführt – die Aufstände von 1989 gegen diktatorische Regierungen und ermöglichte damit die Abschaffung der diskriminierenden, pseudojuristischen Schauprozesse früherer Jahrzehnte. Die Auseinandersetzung mit den Medien (vor allem der Literatur und dem Fernsehen) ist in Ortheils Band zentral. Wie er der gegenwärtigen Literaturkritik Theoriedefizite nachweist, welche Einsichten er nach dem Besuch des Films „Shoah“ notiert, wie er seinen antipolitischen Blick auf die Staats- und Fernsehschauspieler richtet: all das ist luzide ausgeführt. Es liegt hier eine durchdringende Analyse vor, die den kulturellen Wandel in der nachmodernen Gegenwart benennt. Hanns-Josef Ortheil, Schauprozesse. Beiträge zur Kultur der 80er Jahre. München: Piper, 1990.
Angela Krauß, Sommer auf dem Eis DIE ZEIT (15.10.1998) Angela Krauß’ neues Buch ist einer der vertracktesten unter den literarischen Texten zur deutschen Wende und zu ihren Folgen, zu dem, was da nicht so recht zusammenwachsen will. Wie andere AutorInnen aus der ehemaligen DDR, wie Thomas Brussig oder Daniela Dahn, Wolfgang Hilbig und Brigitte Burmeister, Jens Sparschuh oder Helga Königsdorf berichtet auch sie von enttäuschten Hoffnungen und hoffnungslosen Getäuschten einst und jetzt im Land mit und ohne Mauer. Eine Besonderheit: Krauß lässt sich stärker auf das „neue Warten“, auf die persistente Arbeitslosigkeit ein. Die größere Sperrigkeit ihres Buches hat mit
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seiner Traumstruktur zu tun. Das Ineinander von Tagtraum und Wirklichkeit dichterisch zu vergegenwärtigen ist keine leichte Sache; kaum jemand ist es seit Hermann Broch so gut gelungen wie Angela Krauß – Literatur für Fortgeschrittene, keine simplen Stories. Ort und Zeit: Bitterfeld an einem heißen Sonntagnachmittag im September des Jahres sieben nach der Wende. Was wirtschaftlich und literarisch in den DDRJahren mit Bitterfeld assoziiert wurde (industrielle Potenz und sozialistischer Realismus à la Ulbricht), ist vergangen und vergessen. Die Ich-Erzählerin liegt auf einer Decke im Gras vor der Stadt, eine Sommerszene, die den Rahmen abgibt für Notizen über den Alltag, aphoristische Sentenzen, Kindheitserinnerungen, für Bilder- und Geschehensfolgen aus Trance- und Traumzuständen. Keine Liebesgeschichte im konventionellen Sinn, doch fehlt es nicht an Gedanken über die Liebe. Wer nach Weisheiten aus Poesiealben sucht, wird enttäuscht werden. Leser, die sich für neuere Entwicklungen der Quantentheorie interessieren, kommen eher auf ihre Kosten: In der Liebe werden zeitdehnende „multidimensionale Stränge und Schleifen“ entdeckt. Der „Geliebte“ der Erzählerin entstammt dem Illusionsbereich einer Fata Morgana. Liebe, so heißt es, ist Liebe zu Erzählungen; im Zustand der Nichtliebe bleiben die Mitteilungen der Menschen, ihre Entwürfe und identitätsmäßigen Erfindungen unzugänglich. Die Schreibbewegung des Textes verläuft vom Selbst zum anderen, vom fiktiven autobiografischen Bericht zur Sammlung fremder Lebensgeschichten. Stärker noch als in ihrer Erzählung „Die Überfliegerin“ von 1995 will die Autorin Meta-Ebenen durchsichtig machen. Die Kindheitserinnerungen der Hauptfigur sind durchzogen von Reflexionen über Zeit und Zeiterleben und zuweilen ertappt man sich während der Lektüre dabei, nach Fußnoten über Einstein oder Planck zu suchen. Doch Konkretes, Plastisches kommt nicht zu kurz. Krauß zeigt eine Gegenwart, die bis zum Rand gefüllt ist mit Vergangenheit, mit einem Gestern, das aus der Perspektive des sich ändernden Heute einen permanenten Maskenwechsel vornimmt. Kleist wollte in seinem Essay über das Marionettentheater den seelischen Schwerpunkt bezeichnen, der Sicherheit und Grazie der Erscheinung steuert. Die Erzählerin greift das dichterische Bild auf, überträgt es auf den Eislauf, auf eine Kunst, der sie sich in ihrer Kindheit verschrieben hatte. Sie zeigt, dass der Schwerpunkt des Eisläufers keine konstante Größe ist, sondern als „Resultierende aller Schwerpunkte der einzelnen Gliederteile“ vorzustellen sei. Die Figuren in „Sommer auf dem Eis“ wissen ihren seelischen Schwerpunkt nicht mehr auszumachen, bewegen sich hin auf Krise und Kollaps. Die Hauptfigur ist arbeitslos und verbringt die meiste Zeit auf dem Arbeitsamt. Krauß hat einige reportagenhaft geschriebene Dialoge von Arbeitssuchenden eingebaut, die Schlange stehen draußen vor der Tür eines Verwalters der Nichtbeschäftigung. Stärker und wirk-
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samer als in diesen Gespräch-Lakonismen lässt sich der Zusammenhang individuell-psychischer und allgemein-wirtschaftlicher Depression kaum klarmachen. Hier wird einsichtig, warum sich bei der Protagonistin so vieles ins Traum- und Trancehafte verschiebt: die Alltagsrealität mit ihren Selbstverständlichkeiten, ihren Orientierungssignalen aus Gewohnheit und Ritual zerfällt Stück für Stück, Segment für Segment, und was nachwirkt, ist der Sog des Irrealen. Nicht das Sein, sondern der Schein prägt das Bewusstsein. Gegen den seelischen Zusammenbruch hilft nichts, weder amerikanische Ratgeberbroschüren für Arbeitslose noch nostalgische Erinnerungen ans ehemalige „Leben als Arbeitskraft“. Das Ende ist Phantasmagorie. Im Schlammteich von Bitterfeld taucht ein weißes Schiff auf, ein Touristen-, Geister- und Totenschiff. Aus nahen und fernen Regionen haben sich die Reisenden, eine „Gesellschaft der Hoffenden“, versammelt, um das ökologische „Wunder im Chemiedreieck“ zu bestaunen: wie hier die Natur in einem Selbstheilverfahren die schlimmsten Umweltsünden durchgestanden und überwunden hat. So die offizielle Propaganda, deren Richtigkeit allerdings von einem Schiffsarbeiter lautstark bezweifelt wird. Steckt hinter allem nur Illusion? Streit und Panik brechen unter Mannschaft und Fahrgästen aus. „Die Frau“ – das ehemalige Erzähl-Ich und nun eine gespenstische Erscheinung am Ufer des Schlammteichs – wird als Exotin, als edle Wilde an Bord geholt. Wie eine Therapeutin verstörter Kinder lässt sie sich die Lebensgeschichten von Passagieren erzählen, wodurch wieder Ruhe an Bord einkehrt. Jene kleinen Novellen, die sich zu einem Frust-Decamerone addieren, berichten vom enervierenden Warten, von kaputtmachenden Höchstleistungen, vom vorgetäuschten Schwachsinn, mit dem man der Anpassung entgeht. Wie ein Regenbogen im Schattenland der Erzählung nimmt sich die Biografie vom exilierten russischen Eislaufpaar Protopopow/Beloussowa aus. Das Eis, auf dem sie ihre Pirouetten und Liebesspiralen drehen, ist nicht vom Einbruch bedroht; sie laufen zielgerichtet und voller Grazie den Siegen im Paradies ihrer Kunst entgegen, an dessen Pforte kein Cherub ihnen den Eingang verwehrt. Angela Krauß, Sommer auf dem Eis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998.
Angela Krauß, Die Überfliegerin Neue Rundschau 109.3 (1998) „Die Überfliegerin“ wäre ohne die historische Zäsur von 1989/90 in Deutschland und Europa so nicht geschrieben worden. „Die Russen sind fort“ ist eine leitmotivisch auftauchende Wendung in der Erzählung. Im Bild der „vergessenen“
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russischen „Offiziersmützen“ ist der Wandel vom ehemaligen Satellitenstatus zur politischen Unabhängigkeit eingefangen. Insofern hat der Text etwas gemein mit Gedichten in „Die Dresdner Kunstausübung“ von Thomas Rosenlöcher, mit der Lyrik, wie sie Karl Otto Conrady in seinem Band „Von einem Land und vom andern. Gedichte zur deutschen Wende“ gesammelt edierte; gemeinsam auch mit Prosa-Arbeiten wie denen von Thomas Brussigs „Helden wie wir“, Jens Sparschuhs „Der Zimmerspringbrunnen“ oder Reinhard Jirgls „Abschied von den Feinden“. Aber ein literarischer Text, der nur über eine spezielle historische Situation räsoniert, würde rasch veralten. Angela Krauß’ „Die Überfliegerin“ geht von der Erfahrung eines Bruchs, einer radikalen Veränderung, eines Schocks aus. All das steht mit den Veränderungen seit 1990 in Zusammenhang. Sie benutzt einprägsame Dingsymbole, die direkt mit der Wiedervereinigung nichts zu tun haben; sie flicht allgemeine Reflexionen über Entropie und Zufall ein, sie entführt in bizarre Traumbereiche, und sie hält eine kunstvolle Balance zwischen Tragik und Komik, zwischen Ernst und Satire. Die Erzählung gliedert sich in drei Teile. Die äußere Handlung des ersten Teils spielt in Leipzig, des zweiten Teils in einigen Großstädten Amerikas (Minneapolis, Madison, San Francisco), und die des dritten Teils in Moskau. In jedem der Kapitel fallen zwei Dingsymbole auf: im ersten Tapete und Sofa, im zweiten Flugzeug und Kleider und im dritten Auto und Geld. In allen drei Teilen ist es der Autorin gelungen, eine jeweils spezifische Atmosphäre zu schaffen: im ersten (Leipziger) Kapitel dominieren Bilder von Enge und Dunkelheit, im zweiten (amerikanischen) Teil Metaphern der Weite und Helligkeit und im dritten (russischen) Abschnitt vermittelt die Mischung der Sphären zwiespältige Gefühle. In jedem der drei Teile spielt das potentielle und das tatsächliche Fliegen eine Rolle. „Fliegen wäre schön“, heißt es gleich am Anfang des Leipziger Teils. Die grammatische Form des Irrealis ist bewusst gewählt. Die Erzählerin kann sich ein Erheben über die Umwelt, in die sie eingekerkert ist, nur in der Phantasie ausmalen. Die Bewegungsrichtung der Aktivitäten führt nicht in die Höhe, sondern in die Tiefe, nicht über, sondern unter die Erde, das heißt von ihrem Appartement im vierten Stock „hundertsechzehn Stufen“ hinab in den Keller. Die soziale Ordnung außerhalb ihrer vier Wände scheint der Erzählerin verschlossen. „Alle um mich herum handeln längst. Sie überholen mich alle“, stellt sie resigniert fest. „Die Zeitungen sind voll von Taten handelnder Menschen“, heißt es weiter, „ein Stau lange aufgesparter Taten ist losgebrochen, ergießt sich über das Land“. Nur die Erzählerin bleibt Beobachterin, sehnt sich nach einer Tat, allerdings nach einer „Tat“, der keine „Selbstbetäubung“ vorausgeht. Diese Selbstbetäubung ist das, was beim Ehepaar Händsch, den nachbarlichen Mietern im Haus am Leipziger Bahnhof, auffällt. Bei Frau Händsch ist die Veränderung ins Bild einer Verwundung durch Operation gefasst, eines medizinischen Eingriffs ins Gehirn.
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Herr Händsch ist vom Bahnarbeiter zum Versicherungsvertreter mutiert, und das Ehepaar drängt der Erzählerin den Abschluss einer Unfallassekuranz auf. Die Enge, das Eingesperrt- und Ausgeschlossensein, die Unsicherheit führt bei der Erzählerin zu aggressiven Ersatzhandlungen: in ihrer Wohnung reißt sie die Tapete von den Wänden und zerhackt ihr Sofa. Es handelt sich hierbei nicht nur um psychische Abreaktionen, sondern auch um Ansätze von Befreiungshandlungen: Indem sie die „Tapete“ entfernt, häutet sie gleichsam die Wohnung, wirft eine Hülle ab, die sie beengt. Mit der Tapete der Wohnung soll nicht nur – bildlich gesprochen – die Haut der DDR-Gesellschaft abgestreift werden, vielmehr löst sie „immer ältere, immer festere Papiere“ von den Wänden, „holzfreie“, „geglättete“ und „satinierte“ Tapeten, die in „vier, fünf Lagen“ seit „fünfzig, sechzig Jahren“ den „Schein von Geborgenheit“ gegeben haben. Der Kulturfirnis wird abgekratzt, gleichsam die innere Fassade der Zivilisation unseres Jahrhunderts vom äußeren Schein entblößt. Was kommt nach diesem Häutungsakt zum Vorschein? Nichts sonderlich Hoffungsfrohes: „Auf dem Putz bildeten sich (...) grünliche Wolken, Flecken, Schwären in einem Oxydgrün (...), es wuchs wie eine junge Schimmelschicht“. Zu den Handlungen, die helfen sollen, die Enge zu entgrenzen, gehört das Aufstoßen des Fensters. Aber welcher Blick bietet sich der Erzählerin in ihrer Wohnung am Bahnhof? Die „Gleise“ liegen da „wie ein Spinnennetz über dem Abgrund“. Sie schaut in „eine fremde Welt“, auf einen Bahnsteig, von dem es heißt: „Am einsamsten aber ist der hintere Querbahnsteig des Leipziger Hauptbahnhofes (...): ein weißgekachelter Tunnel mit einem Urinfleck aus dem Jahre 1912“. Es ist wohl der einzige Urinfleck in der Literatur, der datiert ist. Der Leipziger Hauptbahnhof wurde in den Jahren zwischen 1909 und 1915 gebaut. Die Regierungen und politischen Systeme kamen und gingen: „was bleibt“, ist der Urinfleck in der Bahnunterführung. Was bietet sich sonst noch beim Blick aus dem Fenster? Nachts sieht die Erzählerin den Mond. Aber auch der Mond ist in der gewendeten DDR nicht mehr das, was er bei Eichendorff oder Matthias Claudius einmal war. Er bescheint keine Zauber-, sondern „die Gerätewelt“, und er steht auch nicht still, sondern „wandert mit (...) Geschwindigkeit“, mit einer gleichsam neu-bundesrepublikanischen „Hast“, die „jeden Menschen irritieren muß“. Der zweite Aggressions- und Befreiungsakt, den die isolierte Erzählerin ausführt, ist die Zerstückelung ihres „alten grünen Sofas“. Wieder gilt ihre HausRevolte nicht lediglich dem, was sie an die Vergangenheit der DDR erinnert, sondern allem, was mit den acht Jahrzehnten Lebenszeit des Hauses zu tun hat. Die kleine Welt der Wohnung, so wird bei der Lektüre immer deutlicher, symbolisiert die deutsche Geschichte der letzten drei oder vier Generationen. Ihr kommt die Wohnung vor wie eine „Kiste, die jemand gebaut hat, um darin lebende Bilder
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zu stellen“. „Seit Anfang des Jahrhunderts“ heißt es an der Stelle, „fanden sich hier Menschen ein, die mit unbeirrbaren Gesichtern ihre Positionen einnahmen“. Vergleiche wie „lebende Bilder“ und Charakterisierungen wie „unbeirrbare Gesichter“ deuten hin auf die Dressiertheit, die Künstlichkeit, die Angestrengtheit, die Starrheit jener Kultur, von der die Erzählerin sich befreien will. Wie eine Ringkämpferin geht sie auf das Sofa als Objekt ihrer Aggression zu: „Plötzlich faßte ich mit zwei Händen das Sofa an der Rückenlehne und riß es zu Boden.“ Das Sofa ist des Deutschen liebstes Möbelstück, Zentrum eines jeden klein- und großbürgerlichen Wohnzimmers, Spiegel des Lebensstandards, ruhender Pol des Hauses. Aus den arabischen Ländern hat es sich nach Europa verirrt, und ein Hauch von Fremdheit hat ihm in deutscher Umgebung immer angehaftet. Zwischen Bank und Bett angesiedelt, ist es so gar nicht mit Fleiß und Eifer in Einklang zu bringen, mit jenen Tugenden, auf die sich die Deutschen schon immer viel zugute gehalten haben. Also weg mit diesem Symbol des Nichtstuns, der Inaktivität, der falschen Idylle. Gefragt ist jetzt die „Tat“. „Eine Tat. Das ist nicht zu übersehen“, so kommentiert die Erzählerin ihre Aktion. Sie hat das Sofa gleichsam aufs Kreuz gelegt: „Das Sofa liegt rücklings im Zimmer.“ In dieser Stellung der Hilflosigkeit sieht es aus wie eine „Puppe“, die „mit den Beinen nach oben“ liege. So hilflos wie der Kafkasche Käfer Gregor Samsa ist die Möbel-Puppe allerdings nicht. Das Zerstückeln des Sofas erinnert von ferne an das Zerfetzen des Achill durch Kleists Penthesilea: Da will die Erzählerin „die Zähne“ – gemeint sind die „Sägezähne“ des „Fuchsschwanzes“ – „entschlossener in das Gewebe drücken“, und sie stößt „die Säge mit aller Kraft wieder vor“. Die sexuellen Assoziationen dieser Art von Überwältigung bzw. Vergewaltigung sind nicht zu übersehen. „Hinein in den von mürben Gurten gehaltenen Unterbau“ heißt es da, „aus dem die verrutschte Spannfeder hängt“. Es ist ein wirklicher Kampf, auf den die Erzählerin sich da einlässt, denn ihr Zerstörungsobjekt bietet Widerstand. „Drei Stunden lang“, liest man, „habe ich meine Füße (...) in die Eingeweide gestemmt (...), da reißt der Bügel aus Holz, und ich stürze zu Boden“, blutüberströmt. Aber der Kampf ist entschieden: „Vor mir liegt es mit weit klaffendem Bauch: das Tier“. Nach diesem Sieg folgt in der „Nacht“ der Abstieg in den Keller. Das Sofa wird bis aufs „Skelett“ zerlegt und im Keller über die „Kohlen“ geschichtet. Auf diesen Kohlenberg wirft sich die Erzählerin „mit weit ausgebreiteten Armen rückwärts“ und erinnert nun selbst an die „Puppe“, die „mit den Beinen nach oben (...) lag“. In dieser Stellung erwartet sie den Geliebten. Der zweite Teil der Erzählung sprengt die Enge des ersten Teils. Endete dieser mit Metaphern von Dunkelheit (Keller, Nacht, Kohlen) und Tod (Skelett), ist der Anfang des zweiten Teils von Bildern der Weite, der Höhe und des Lichts beherrscht. Die Erzählerin katapultiert sich gleichsam unvermittelt aus der düsteren Unterwelt ihres Leipziger Kellers in die luftigen Sphären über dem Atlan-
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tik. Die letzte Erinnerung an die alte Heimat ist, dass sie „ein einziger Krampf“ gewesen sei, vergleichbar dem „abgefahrenen Rollfeld, schwarz vom Gummi der Räder“. Der erste Satz hat Signalwirkung: „Fliegen ist schön.“ Hier geht es um die Feststellung einer Tatsache, nicht bloß um den Ausdruck eines Wunsches wie im ersten Teil. Und weiter heißt es hoffnungsvoll: „Die Luft ist rein, gefüllt mit Licht, das aus den Poren des Weltalls unaufhörlich nachsickert. Ich flog auf und davon in Richtung Westen, um die Sonne einzuholen. (...) Ich flog und flog, als müßte ich die Erde an einem Tag achtzigmal umkreisen. Als wäre ich mit Flügeln auf die Welt gekommen.“ Anders als zu Jules Vernes Zeiten im 19. Jahrhundert soll nicht in achtzig Tagen einmal die Welt umkreist, sondern an einem Tag die Erde achtzigmal umrundet werden. „Es ging nach Westen“, heißt es begeistert, „auf der Bahn der Sonne, durch schneeweiße Wolkenburgen (...). Fliegen ist schön. Fliegen auf einer dichten, undurchsichtigen Wolkenschicht“ und wie „der Bodenberührung für immer enthoben“. Mit diesem Schnitt zwischen erstem und zweitem Teil schafft es die Autorin, die Depression und Finsternis einer ausweglosen Situation vergessen zu machen. Dieser Wechsel erinnert an einen vergleichbar abrupten Übergang in Goethes „Faust“, nämlich an den Wechsel von der „Kerker“-Szene zur „Anmutigen Gegend“, also an das Ende des ersten und den Anfang des zweiten Teils der Tragödie. Und wie bei Goethe Faust gleichsam in Lethes Flut eintauchen musste, um der Amnesie teilhaftig zu werden, so scheint auch die Erzählerin von aller Erinnerung an die Schrecknisse, an die Beklemmungen, die Enge, die Ängste des ersten Teils befreit zu sein. Nur im „Traum“ noch existiert ein „Rückwärtsflug“; tatsächlich aber fliegt sie immer nur „vorwärts“, das heißt nach Westen. Aber was heißt hier schon „tatsächlich“? Der Eindruck des Traumhaften, das sich als Alptraumhaftes schon bei der Lektüre des ersten Teils aufdrängte, verstärkt sich im zweiten Teil. Wer von diesem zweiten Teil eine realistische Darstellung amerikanischer Zustände erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen. Gleich zu Anfang beschreibt die Erzählerin ihr Flugerlebnis jenseits von jedem Realismus: „Nach etwa sechs bis sieben Minuten“, heißt es, „stellt sich eine genaue Wahrnehmung dafür ein, wie man mit hoher, gleichmäßiger Geschwindigkeit als ruhender Körper durch den galaktischen Raum getragen wird. Nach weiteren Minuten fühlt man die Wölbung der Erdkruste im Rücken und wie die Gravitation die Zentrifugalkräfte in Schach hält. Sogar jetzt, ohne Erdkontakt, machte ich noch ein leichtes Hohlkreuz“. Von Amerika selbst erfährt man wenig. Die Erzählerin wohnt bei Julie und David in Minneapolis, bei Lilly und Tom in Madison und bei Amy in San Francisco. Julie und David haben einen gezähmten „blauen Vogel“, der ihnen überallhin in ihre „Wälder“ folgt, die „Briefkästen haben“. Im Gegensatz zur städtischen Mietskaserne am Leipziger Hauptbahnhof steht Davids und Julies Haus in der Natur
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und ist, wie es heißt, „amerikanisch frei gebaut“. David, offenbar ein aktives Mitglied von Amnesty International, schickt Briefe an Despoten in „Arabien, wo die Märchen spielen“, Briefe, die bewerkstelligen sollen, dass „Leute in Kerkern“ befreit werden. „Gedanken in Rede zu formen“ und „die Rede in die Tat umzusetzen“, liest man, sei für David „eine Kleinigkeit“. Das meiste, was wir über Amerika erfahren, ist dadurch in eine Atmosphäre leichter Ironie gerückt, indem mit Stereotypen, mit Amerika-Klischees gespielt wird. Frühere Vorstellungen von den USA, die über das Kino vermittelt wurden, lösen sich bald in Nichts auf: kein Yul Brynner, der in der „Hitze der Sierra Madre“ davonreitet. Angespielt wird hier auf den Film „The Magnificent Seven/Die glorreichen Sieben“ von 1960. Anderes wird hier bestätigend zitiert: Das „Unwiderstehliche an den Amerikanern“ seien ihre „Freudenrufe (...) im Moment des Staunens (...). Als entdeckten sie Land“, heißt es einmal. Julie unterrichtet und bringt ihre Studenten mit nach Hause, die von der ehemaligen DDR wissen, dass es dort „kleine Autos aus Papier“ gibt und dass die Menschen in Ostdeutschland „Außerirdischen“ gleichen, weil sie „unterentwickelte Körper und überdimensionierte Köpfe“ hätten. Denn diese physischen Merkmale seien die konsequente Folge typischen Verhaltens in der DDR gewesen: „Zusammengesunkener Körper aufgrund von Muskelschwäche, weil kein Widerstand geübt wurde, schlaffe Bauchdecke, untrainierte Rückenmuskeln, dadurch destabilisierte Wirbelsäule, Mühe beim aufrechten Gang, (. . .) Konfliktbewältigung wurde ausschließlich im Kopf versucht, es kam nicht zu Handlungen“. Lilly und Tom in Madison – Leute mit „Sinn fürs Praktische“ – leben im „flachen Land“ des Mittelwestens. Lilly arbeitet „in der kartographischen Abteilung der Universitätsbibliothek“ und klärt die Besucherin über die Geographie der USA auf. „In St. Louis“ sei „nichts Aufregendes“ zu sehen, außer „ein paar Futtersilos“. (Schon an solchen Bemerkungen erkennt man, dass es nicht mehr um den Realismus geht, denn in St. Louis gibt es bekanntlich mehr zu sehen als ein paar Futtersilos.) In San Francisco bei Amy wird die „Golden Gate“-Brücke mit darüber gewölbtem „tiefblauen Himmel“ bestaunt. Amy trägt ständig „Mützen“, um ihren Kopf gegen herunterfallende Gegenstände bei einem potentiellen Erdbeben zu schützen. Würde es sich um den Versuch einer realistischen Beschreibung amerikanischer Gegebenheiten handeln, bestünde der zweite Teil der Erzählung aus zu vielen Klischees, sowohl was die Schilderung von Landschaften wie familiärer Verhältnisse betrifft. Was hier Amerika genannt wird, hat so viel und so wenig mit dem zu tun, was im ersten Teil Leipzig hieß. Von der Ästhetik eines Frühwerks wie „Das Vergnügen“ ist „Die Überfliegerin“ denkbar weit entfernt. Es geht um die transrealistische Konfrontation krasser, teils ins Karikaturistische, teils ins Traumhafte transponierter Gegensätze. Dem Eingekerkertsein steht die Befreiung aus Kerkern, der Aggression die Freundlichkeit, dem
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Grau-in-Grau die Farbenvielfalt, der Ohnmacht die Tatkraft, der Ratlosigkeit die Entschlossenheit, der Enge steht die Weite, dem Dunkel die Helligkeit, dem Mond die Sonne, der Nacht der Tag, dem Tunnel mit dem Urinfleck die Brücke mit dem verheißungsvollen Namen „Golden Gate“ gegenüber, dem Egoismus der Nachbarn die Freundlichkeit der Gastgeber, der Wohnung am Bahnhof das Haus im Wald, und so ließe sich die Reihe der Oppositionen fortführen. Wie im ersten Teil dominieren zwei Dingsymbole, mit denen ein Zustand, ein spezifisches Befinden verdeutlicht wird. Stehen der Tapetenabriss und das Zerstückeln des Sofas für die Aggression der Gefangenen, so vermitteln Flugzeug und Kleider die Erfahrung von Befreiung, Entgrenzung und Transgression. Neben dem Flugzeug nämlich ist das zweite hervorstechende Dingsymbol das Kleidungsstück. Beim Besichtigen von San Francisco wird die Erzählerin von „einem Laden voller Kleider“, einem Second Hand Shop, magnetisch angezogen. Was fasziniert, sind die „orangenen“, „moosgrünen“ und „blutroten“ Farben. Die Erzählerin lässt sich vom „süßen Duft nach Vergangenheit“ im „Kleiderkarussell“ betäuben, versinkt „bereitwillig in einem Haufen von Kleidern aus zweiter Hand“, der ihr „deutlich machte, daß die Welt wirklich unendlich ist“. Wieder folgt die Erzählung der Traumstruktur: „Ich sank und sank und wußte, daß ich hier bleiben wollte (...). Ich gab in den Knien endgültig nach und fiel durch die Galerie der Ballkleider in die zweite, dahinter verborgene Reihe“, dorthin, wo die Kleider „sämtlicher Toten der kurzen amerikanischen Geschichte“ aufbewahrt waren: Ich sank und fiel und blieb schließlich in einem Lager liegen, dessen weiche Polster (...) mich so entschieden in die Szenerie schmiegten, daß ich mich auf der Stelle vergaß“. Die Kleider der verschiedenen Generationen vermitteln einen Eindruck von der Vielfalt der Lebensmöglichkeiten, und die traumhafte Aussicht auf die permanente Verkleidung im Karussell der Moden vermittelt das Gefühl von Freiheit und Veränderung, von Spiel und Maskierung, von Karneval und Transgression. Wie wichtig der Autorin das Thema der Transgression ist, wird dadurch verdeutlicht, dass sie als Besitzer des Kleiderladens zwei Transvestiten auftreten lässt, Sally und Tabury. Die Erzählerin ist von dem Paar entzückt. Schon durch den „Aufschlag“ der „Absätze der beiden“ gerät in ihrem „Innern“ etwas „durcheinander“, wie „wenn man ein Kaleidoskop schüttelt“. Plötzlich ergebe sich „ein neues Muster, ein vollkommen neues Ornament aus den alten Bausteinen“. Die Aussicht, dass auch die Konventionen, Ordnungen, Vorschriften, Tabus, Dressurakte, die mit der Definition der Geschlechter zu tun haben, überwunden werden können, dass auch die Grenzen, die die „Schule“ als Konventionsvermittlerin gesetzt habe, zu überschreiten möglich seien, versetzen die Erzählerin in einen Freudentaumel: „Alles Flüssige in meinem Innern wogte und schwappte hin und her vor Heiterkeit, kichernd vor Erlösung“, vor Freude darüber, „die Wahl“ zu haben, wer sie sein will. Als Sally die Erzählerin im Klei-
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derhaufen entdeckt, fragt sie „Hey, wer bist denn du?“, und die Erzählerin repliziert: „Das gleiche wie du.“ Nach dieser Offenbarung ist sie, „vollkommen glücklich“, hat das Gefühl, „ins Freie“ gefunden zu haben. Die Erzählerin strebt die „Mitte“ zwischen den Geschlechtern an, will an beiden teilhaben und sich nicht auf eine der beiden gender-Definitionen festlegen und reduzieren lassen. In den USA wurde die „Queer“-Theorie entwickelt, um solche unkonventionellen Veränderungen bei den geschlechtlichen Identitäten genauer erfassen zu können. Ein erster Hinweis auf das Androgyne im Charakter der Erzählerin taucht auf, wenn Lilly aus Madison der Erzählerin gesteht: „Wenn du ein Mann wärst, würde ich sagen: Du gibst mir das Gefühl, deine erste Frau zu sein“. Der Transgressionsakt in San Francisco ist durch die Lust am Verkleiden verdeutlicht worden. In diesem Sinn ist auch die Schlussaktion zu verstehen, in der sich die Erzählerin „die Krawatten“ um den Hals schlingt, nicht ohne „vorher fachmännisch den Hemdkragen nach oben“ zu stellen. Das Traumhafte der Handlung wird erneut am Anfang des dritten Teils der Erzählung verdeutlicht. Auch hier heißt es zu Beginn „Fliegen ist schön“, auch hier ist von einem Traum die Rede: „Ich drehte mich im Schlaf um, winkelte die Beine, zog die Knie an die Brust wie im Mutterleib, und als ich mich träumend auf die andere Seite warf, kippte das Flugzeug und legte sich ebenfalls auf die Seite, ein Flügel ragte senkrecht in den Himmel. Ich träumte von zu Hause. Es war ein seltsamer Traum, ohne Einzelheiten (...). Ich träumte (...) von (...) leicht erhöhter Temperatur, wie sie bereits durch Erregung entstehen kann“. Vielleicht ist hier die politische Erregung der Bevölkerung gemeint, vielleicht die Erregung der Erzählerin über die Verhältnisse zu Hause. Auf jeden Fall besteht zu dem ehemaligen „Zuhause“ eine kaum noch überbrückbare Distanz. Ihr „früheres Leben“, meint die Erzählerin, sei „in Amerika in ein Loch gefallen“. Nichtsdestoweniger verfolgen sie Alpträume, die mit ihrer DDR-Erfahrung zu tun haben, etwa mit Warteschlangen, in denen man „nie drankommt“. Der dritte Teil der Erzählung spielt im neu-kapitalistischen Moskau. Die Hauptfiguren sind nicht ihre alte Brieffreundin Toma, deren Mann Sascha, der Chauffeur Semjon und der Automechaniker Serjosha, sondern wieder zwei Dingsymbole: das Auto (ein amerikanischer Chrysler) und das Geld (der amerikanische Dollar). Moskau im Amerikafieber. In Russland hat man andere Vorstellungen von Amerika als jene, die durch die Erzählerin im zweiten Teil vermittelt wurden. Ging es dort um menschliche Hilfe, um Gastfreundschaft, um Befreiung, verbindet man in Moskau mit Amerika nur Materialismus, Konsumlust und eine Versessenheit auf die Statussymbole der Reichen. Der Idealismus der achtziger Jahr, der Ära von Glasnost und Perestroika, ist längst Geschichte. Damals hatte Toma der Erzählerin geschrieben: „Jetzt schlagen wir ein Loch in alle Hindernisse (...), meine Seele fordert beharrlich Freiheit“. Das alte Russland wird symbolisiert durch „fünf alte Frauen“, die immer präsent
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sind, in Passivität verharren und sich aufs Beobachten verlegt haben. Sascha, der selbst „eine Bank gegründet“ hat, seine Freundinnen und Freunde spekulieren mit Wechselkursen und an der Börse. Man hofft, dass sich das „eingesetzte Geld (...) um das Doppelte vermehren“ wird. Man lebt gefährlich, denn es geht um „schwarzestes“, ja „allerschwarzestes Geld“, um „Rubel“, die nur unter „Begleitschutz“ in „Dollar umzutauschen“ sind. Alle spielen va banque. Die Devise lautet: „Wir werden untergehen oder morgen im Weltgeldkreislauf operieren“. Sascha lebt seinen Konsumententraum vom „Mobiltelefon“, von „Fernseh- und Videogeräten“ aus. Der Bank als Geldinstitution Saschas steht ironisch die Bank als Sitzgelegenheit des arbeitslosen Automechanikers Serjosha gegenüber, ein Gegenstand, dessen Benutzung er mit den fünf alten Frauen teilt. Anders als in Amerika erinnert die Erzählerin in Moskau vieles an ihre alte Heimat, etwa die „Risse im Gemäuer“ der Häuser. Sie fühlt, dass ihre „Zukunft“ wieder anfängt, sich wie „in einem Käfig im Kreis“ zu bewegen. Diese Empfindung wird noch bedrängender, als Serjoshas Großmutter – ausgerechnet vom „Sofa“ im „Keller“ her – die Heirat zwischen der Erzählerin und Serjosha arrangieren will. In einer surrealen Traumszene entkommt die Erzählerin, indem sie dem Chauffeur Semjon befielt, sie zum Flughafen zu befördern. Der Chrysler verwandelt sich dabei in ein Flugzeug, das sich „gleich einem Geschoß in die Zukunft bohrte“, es steigt „auf in die Luftkorridore“, und die Erzählerin glaubt, die „letzte Minute vor“ ihrem „Tod“ sei angebrochen. Sie ruft in „einer ganz neuen Art von Begeisterung“, dass sie „nicht sterben“ will. Die Erzählung endet mit einem vieldeutigen Ausruf, der alles offen lässt: „Achtung! (...) wir landen!“ Bezeichnend für die Erzählung sind aber nicht nur Dingsymbole und Traumsequenzen, sondern auch zahlreiche eingeschaltete Reflexionen. Die zentrieren sich sämtlich um das Thema Entropie. Die Einstellung zur Entropie ist in jedem der drei Teile unterschiedlich. Im ersten Teil, also im Leipzig-Abschnitt, überlegt die Erzählerin: „Wenn es zutrifft, daß der Kosmos im Moment des Urknalls völlig geordnet war und daß diese anfängliche Ordnung sich nach und nach in Unordnung verwandelt, nach dem Gesetz der Entropie, so trennt uns nur noch eine Tausendstel Sekunde vom kosmischen Wärmetod.“ Zu überlegen wäre, wie diese Entwicklung hin zum Chaos, zu zunehmender Unordnung „abwendbar wäre“, und „daran wäre zu arbeiten“. Gearbeitet werden sollte an der „Entdeckung des Gesetzes zur Aufhebung der Entropie“. Zurück also zur festen Ordnung, so die Sehnsucht im Leipzig-Kapitel. Ganz anders wird die Entropie im Amerika-Teil eingeschätzt. Da distanziert sich die Erzählerin von ihrer früheren Einstellung gegenüber Ordnung und Unordnung. „Von der Begrenztheit der Formen“, erinnert sie sich, habe sie „einst auf einen übersichtlichen Bauplan“ geschlossen, habe „eine leicht faßbare (...) Ordnung“, die „vorherrschte“, akzeptiert. Jeder „Anschein von Unberechenbarkeit“ des Lebens sei vermieden worden; es sei „so zugerichtet
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worden, daß es keine Verwirrung stiftete“. In Amerika erst habe sie verstanden, dass „die Welt wirklich unendlich“ sei, unberechenbar und vielfältig, keiner Ordnungsvorstellung sich fügend. Und diese Akzeptanz von zunehmender Unordnung wirkt auch im dritten Teil nach. In Moskau wird ihr klar: „Auch der Zustand der Entropie ist so reich an Erscheinungen, Formen und Figuren des Daseins, daß man ihn ohne Einschränkung Leben nennen kann.“ Sobald man aufhöre, „nach einer einzigen Bedeutung zu suchen“, würden einem die „unendlich vielfältigen Formen im Menschen“ auffallen. Der metaphorische Gebrauch des Entropie-Begriffs ist bei den Schriftstellern der Moderne (zum Beispiel bei Ralph Waldo Emerson) wie der Postmoderne (etwa bei Thomas Pynchon) verbreitet. So wie nach dem Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre gilt, dass in geschlossenen Systemen die Tendenz zunehmender Unordnung besteht – wobei die Entropie das Maß für diese Unordnung darstellt –, so setzen sich Modernisten wie Postmodernisten mit dem Problem zunehmender Fragmentierung und Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher und kultureller Systeme auseinander. In diesem übertragenen Sinne signalisiert zum Beispiel in Hermann Brochs Theorie vom „Zerfall der Werte“ aus der Romantrilogie „Die Schlafwandler“ die Entropie das Quantum der fortschreitenden Desintegration kultureller, sozialer und weltanschaulicher Gemeinsamkeit. In der Postmoderne jedoch wird die Entropie positiver eingeschätzt, wird als Voraussetzung von Vielfalt, Pluralismus, Multikultur und Demokratie gesehen. In „Die Überfliegerin“ wird Entropie im Sinne der Postmoderne gedeutet. Der Gebrauch der Entropie-Metapher ist hier insofern komplizierter, als der Übergang von der modernen (also Ordnung favorisierenden) zur postmodernen (das heißt Unordnung akzeptierenden) Auffassung sowohl reflektierend wie auch erzählend-symbolisch verdeutlicht wird. Angela Krauß’ Erzählung lebt aus den historischen Erfahrungen der Umbrüche und Veränderungen in der DDR. Aber sie hat Dingsymbole erdichtet, die auch von Lesern gedeutet werden können, die mit den spezifischen Veränderungen in der ehemaligen DDR nicht vertraut sind. Leipzig, San Francisco und Moskau, wie Angela Krauß sie erfunden hat, sind in keinem Reiseführer vermerkt. Sie bezeichnen vielmehr Orte, die in der menschlichen Psyche lokalisierbar sind. Denn mit Unfreiheit und Befreiung, mit Angst und Euphorie, mit Ordnung und Entropie hat jedes menschliche Leben zu tun. Angela Krauß, Die Überfliegerin. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995.
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Barbara Frischmuth, Die Schrift des Freundes DIE ZEIT (27.8.1998) Das Schreiben zwischen den Kulturen ist zu einem Kennzeichen der internationalen literarischen Szene geworden. Die deutschsprachige Literatur macht da keine Ausnahme. Jüdische, arabische, persische, japanische und türkische AutorInnen aus Deutschland und Österreich haben die Brüche und Synthesen, Mischungen und Trennungen geschildert, die sich ergeben, wenn Minoritäten ihre Kulturen zur Geltung bringen. Einige von ihnen haben sich weit über den Leserkreis ihrer Minderheitsgruppen hinaus einen Namen gemacht. Zu ihnen zählen Barbara Honigmann und Rafael Seligmann, Rafik Schami und Suleman Taufiq, TORKAN, Yoko Tawada, Aras Ören und Emine Sevgi Özdamar. In ihren Texten behandeln sie das heutige soziale und intellektuelle Nomadentum. Deutsche Schriftsteller sind in den letzten Jahrzehnten viel gereist, haben mit postkolonialem Blick die spannungsreiche Beziehung zwischen unterschiedlichen Zivilisationen geschildert. Kaum einer von ihnen aber brachte die kulturelle und politische Gemengelage zur Sprache, die sich aus der Präsenz türkischer Minderheiten in deutschen Großstädten ergeben hat. Eine Ausnahme macht da Sten Nadolny mit seinem Roman „Selim oder Die Gabe der Rede“ von 1990. Ein vergleichbares und doch ganz anderes Buch ist Barbara Frischmuths „Die Schrift des Freundes“. Es ist gleichzeitig Multikultur-, Hightech-, Wien-, Liebes-, Gesellschafts- und Kriminalroman, voll von neuer Alltagsrealität, ihrer intellektuellen Durchdringung und traumhaften Verarbeitung. Die Figur im Mittelpunkt der Handlung ist Anna Margotti, eine 23-jährige Wienerin, deren Vorfahren aus Norditalien stammen. Sie ist Computerspezialistin, ein Internet- und CyberspaceFreak, zudem eine begabte Geschichtenerzählerin. In Zeiten von Rezession und Arbeitslosigkeit ist sie froh, eine Stelle gefunden zu haben, bei der sich ihr Programmiertalent entfalten kann. Das Projekt, an dem sie beteiligt ist, heißt Pacidius. Bei diesem „Befriedungs“-Unternehmen geht es um eine Auftragsarbeit des Innenministeriums: Mitglieder potentiell militanter ausländischer Minderheiten im Alpenstaat sollen per Computer erfasst werden. Dass Pacidius indirekt der Bespitzelung dient, merkt die Heldin erst, als sie selbst Objekt der Überwachung wird. Anna ist die Freundin jenes Ministerialrats Haugsdorff, in dessen Ressort Pacidius fällt. Haugsdorff, ein Metternich-Beamter, den es ins 20. Jahrhundert verschlagen hat, ist ein potenter Witwer, scharf auf Anna, auf ihren Körper wie auf ihre Geschichten. Er versteht sich als „Ruhestifter“ und Protektor innerer staatlicher Sicherheit. Sein Rivale wird der geheimnisvolle Hikmet Ayverdi; er und Anna verlieben sich heillos ineinander. Hikmet gehört der türkisch-islamischen Religionsgruppe der Aleviten an, einer antidog-
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matischen Richtung, die mit sunnitischen Fundamentalisten ihres Landes im Clinch liegt. In Österreich in die Rolle des Fremden gedrängt, besinnt er sich auf seine Herkunft und lernt die arabische Schrift, wodurch ihm alte Quellen der türkischen Literatur und Philosophie zugänglich werden. Nach den ersten Begegnungen mit Anna verschwindet Hikmet plötzlich auf unerklärliche Weise. Um verfolgten alevitischen Freunden zu helfen, verleiht er seinen Pass und muss sich verstecken. Bei der Suche nach ihm macht die politisch unerfahrene junge Frau so viele Fehler, dass sie Haugsdorffs Spitzel, die Hikmet für einen illegal eingewanderten Extremisten halten, gegen ihre Absicht auf seine Spur setzt. Am Ende ist die ohnehin brüchige Freundschaft zum Ministerialrat gescheitert, und Hikmet wird durch „ruhestiftende“ Polizisten in den Tod getrieben. Neuen Halt findet Anna in der Freundschaft zu zwei in Wien lebenden türkischen Frauen, deren Männer ebenfalls Opfer im Krieg der Kulturen wurden. Diese Schlusskon stellation überlebender und sich gegenseitig helfender Frauen ist auch aus anderen Romanen der Autorin – etwa der Demeter-Trilogie – bekannt. Das Tempo des Erzählens wird durch die jeweilige Handlungssituation bestimmt: Scheherazadehaftes Fabulieren wechselt ab mit Traumsequenzen oder mit Gesprächen über die anatolisch-alevitische Kultur, über arabische Kalligraphie und die Mystik der Derwische. Das Ganze endet als Kriminalgeschichte, an deren Spannung sogar eine Agatha Christie ihre Freude gehabt hätte. Barbara Frischmuth, Die Schrift des Freundes. Roman. Salzburg: Residenz, 1998.
Barbara Frischmuth, Über die Verhältnisse Neue Zürcher Zeitung (9.10.1987) Anfang 1986 veröffentlichte Barbara Frischmuth ihre „Leseerinnerungen an Hermann Broch“. Darin kündigte sie an, dass sie ein mehrbändiges Erzählwerk mit dem Titel Demeter schreiben werde. Broch hatte 1935 begonnen, den Plan einer „Demeter“-Romantrilogie auszuführen, aber über den ersten Band, den er „Die Verzauberung“ nannte, ist sein Projekt nicht hinaus gediehen. Die Handlung von Brochs Buch spielt in einem österreichischen Alpendorf und ist durchsetzt mit gelehrten Bezügen auf die griechischen Mythen von der „Großen Mutter“ bzw. Demeter und mit zeitkritischen Anspielungen auf den „Big Brother“ Hitler. Laut Brochs Hinweisen sollten die Figuren des zweiten – nicht geschriebenen – Bandes dem städtischen Milieu angehören. Um zeitkritische Romane, in deren Handlungsmustern die Mythen um Demeter durchscheinen, handelt es sich auch bei den bisher publizierten Bänden
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der „Demeter“-Folge von Barbara Frischmuth. 1986 erschien die Erzählung „Herrin der Tiere“ und nun der Roman „Über die Verhältnisse“. Wie bei Broch spielt der erste Band „am Land“ und der zweite in der Stadt. Barbara Frischmuths Unternehmen mag durch Broch inspiriert sein, aber von einer Beeinflussung kann sicher nicht gesprochen werden. Vergleicht man „Die Verzauberung“ – Anspielungen auf diesen Titel finden sich in Frischmuths Roman mehrfach – mit „Über die Verhältnisse“, so fällt in letzterem Buch der ungleich leichtere, häufig ironische Ton auf. Eine Beziehung zwischen den Figuren von Frischmuths Roman und der griechischen Götter- bzw. Heroenwelt herzustellen ist nicht schwierig, denn die Autorin lässt es an Hinweisen nicht fehlen. Das Motto ist dem Homerischen „Hymnos auf Demeter“ entnommen, und gleich zu Anfang heißt es: „DEMETER – Figur und Person in einem. Wenn ich Demeter sage, muß ich auch Kore, Baubo, Zeus sagen.“ In „Über die Verhältnisse“ heißt Demeter „Mela“, ihre Tochter Kore (Persephone) „Frô“. Frôs Vater ist der „Chef“, ein danubischer Zeus, und ihrem geliebten „Entführer“ „Heyn“ bzw. „Ayhan“ ist die Hades-Rolle zugeschrieben. Baubo (die Freundin der trauernden Demeter in Eleusis) trägt den Namen „Borisch“. Mela, eine ehemalige Biologiestudentin aus der Provinz, betreibt in der Hauptstadt Wien mit Erfolg das Restaurant „Spanferkel“. Frequentiert wird es unter anderem vom jetzigen Regierungschef (dem „Chef“). Von ihm hat Mela die Tochter Frô, die sich in den österreichisch-türkischen Heyn bzw. Ayhan (halb Agent, halb Diplomat) verliebt und dem sie in die Türkei folgt. Melas Freundin Borisch ist nach dem ungarischen Aufstand von 1956 als junge Frau von Budapest nach Wien geflohen. Nun tröstet sie Mela und ist ihr bei der Suche nach Frô behilflich. Auch Hermes taucht auf, der Bote des Zeus bei Hades; hier heißt er „der junge Mann“. Er ist Melas Liebhaber und „hat Flügel an den Füßen, wenn es ums Ausbuchten seiner Erlebnisgrenzen geht“. An keiner Stelle hat man das Gefühl, dass die Demeter-Mythen zum Prokrustesbett der Romanhandlung werden. Im Gegenteil ist es auf – im Wortsinne – fabelhafte Weise gelungen, die überzeitliche Geltung der mythischen Geschehens- und Problemkonstellationen sichtbar werden zu lassen. Das Buch zeigt, wie in der zeitgenössischen Literatur die Dimensionen von Mythos, Geschichte und Gegenwart zusammengebracht, durchdrungen und gegenseitig erhellt werden können. Die Mela-Handlung verdeutlicht die mythische Schicht, Borischs Erlebnisse erinnern – mit so signifikanten Daten wie 1848 und 1956 – an die Geschichte Mitteleuropas, und im Dunstkreis des „Chefs“ – „kein inkarnierter SOL INVICTUS“ – spielt sich Aktuelles ab, wird nicht sonderlich rühmlich Politik gemacht. Nach Borisch ist das Schicksal Ungarns symptomatisch für Mitteleuropa: „Wo die Mitte fehlt, steigen sich die Himmelsrichtungen gegenseitig auf die
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Zehen.“ Zur mitteleuropäischen Problematik gehört auch, dass im Österreich der Zweiten Republik die sieben Jahre im „Dritten Reich“ tabuisiert wurden. An sarkastischen Bemerkungen zu den Begleitumständen bei der Wahl Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten ist Frischmuths Roman keineswegs arm: „Es hat gekracht im Land. Ein Trumm ist aus der Fassade gebrochen.“ Dem Buch vorangestellt ist die Bemerkung: „Gelegentliche Übereinstimmungen mit lebenden Personen, soweit sie den österreichischen Olymp betreffen (...), sind beabsichtigt.“ Neben Mitteleuropa und jüngster Vergangenheit wird als weiteres aktuelles Thema die Beziehung zwischen den Geschlechtern und – wie sollte es in einem Demeter-Roman anders sein – zwischen Mutter und Tochter reflektiert. Der Titel „Über die Verhältnisse“ bezieht sich sowohl auf politischgesellschaftliche wie auf intim-persönliche „Verhältnisse“. Zudem hat das Buch mit der geschilderten Liebesbeziehung zwischen einer Österreicherin und einem Türken auch eine multikulturelle Dimension, die in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur immer stärker profiliert wird. Die sprachliche Meisterschaft, die kunstvolle erzähltechnische Verknüpfung der mythischen, historischen und zeitgeschichtlichen Ebenen sowie die kritische Vehemenz machen das Buch zu einem der wichtigen Romane der achtziger Jahre und zu dem anspruchsvollsten Werk, das die Autorin bisher veröffentlicht hat. Barbara Frischmuth, Über die Verhältnisse. Roman. Salzburg: Residenz, 1987.
Klaus Briegleb, Sigrid Weigel (Hg.), Gegenwartsliteratur seit 1968 DIE ZEIT (6.11.1992) Die studentische Revolte der sechziger Jahre bestimmte für ein knappes Jahrzehnt den kulturellen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland. Kennzeichnend für ihn war ein verspäteter Antifaschismus sowie die Wiederentdeckung aufklärerisch-emanzipatorischer Denker und sozialistischer Utopisten. Zur Paradoxie dieser Jugendbewegung gehörte, dass zwar viel die Rede war von der Veränderung der gesellschaftlichen ‚Basis‘ –, dass sich aber die von ihr intendierten Umbrüche auf den ‚Überbau‘, den Bereich der Kultur, bezogen. Diese Paradoxie hatte ihre Ursache: Zum Grundkonsens der antiautoritären Generation gehörte, dass man glaubte, eine soziale Revolution durch ‚Bewusstseinsveränderungen‘ herbeiführen zu können. Wenn heute eine Geschichte der Gegenwartsliteratur erscheint, ist es angemessen, sie in den sechziger Jahren beginnen zu lassen. Die studentische
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Bewegung war auch (vielleicht sogar vor allem) eine literarische Angelegenheit, und kaum anderswo hat sie solch nachweisbare Spuren hinterlassen wie in der Dichtung. Klaus Briegleb und Sigrid Weigel haben gemeinsam mit KollegInnen eine Geschichte der Gegenwartsliteratur seit 1968 erarbeitet. „1968“ steht hier als Kürzel signalhaft für die kulturelle Zäsur in den sechziger Jahren und verweist auf die Perspektive der BeiträgerInnen, bei denen – wenngleich in selbstkritischen Brechungen – die Inspirationen von 1968 nachwirken. Ihren wissenschaftlichen Ansatz definieren die Herausgeber als Produkt der Methodendiskussionen, die die 68er Bewegung in der Literaturwissenschaft zeitigte. Diese Perspektive bringt es mit sich, dass die Literatur der sechziger und siebziger Jahre ausführlicher behandelt wird als die Dichtung der letzten Dekade. Das Interesse gilt vor allem jenen Arbeiten, die sich direkt den Denkanstößen von 1968 verdanken beziehungsweise sich als ‚Neue Subjektivität‘ noch mittelbar von ihnen ableiten. Gleich drei Beiträge referieren – mit vermeidbaren Wiederholungen und Überschneidungen – über die Reportage- und Dokumentarliteratur der unruhigen Zeit, aber über die Dichtung der Postmoderne in den 1980er Jahren erfährt man zu wenig. Im Vorwort erklären die Herausgeber, dass auf die Begrifflichkeit der Postmoderne bewusst verzichtet worden sei. Eine solche Enthaltsamkeit hat ihren Preis. Sie führt dazu, dass jene Literatur, die nicht in das Koordinatensystem des 68er Denkens passt, nicht angemessen behandelt wird und dass postmoderne Einflüsse aus den USA, Frankreich und Italien kaum beachtet werden. Im Vorwort wird postuliert, dass es sich bei diesem Band um eine Literaturgeschichtsschreibung „am Text“ handle. Einzelanalysen gibt es aber so gut wie keine; im Gegenteil werden in jedem Abschnitt eine Vielzahl von Werken pauschal abgehandelt. Die Stärke dieser Literaturgeschichte liegt in der Fülle der Beispiele, die als Beleg für Trends und Tendenzen angeführt werden. Hier liegt gleichsam ein reichhaltiges Archiv der Gegenwartsliteratur vor, das man übersichtlich mit Rubrikenaufschriften versehen hat wie „Aufbruch 1968“, „Literatur von unten“, „Literatur der Fremde“, „Literatur ehemaliger DDR-Autoren“, „Frauenliteratur“, „Literatur und Politik“, „Krise des Erzählens“, „Theorie in der Literatur“, „Subjektivität und Autobiographie“ oder „Avantgarde heute?“. Obgleich im Vorwort die Einteilung nach Gattungen als „längst überholt“ verworfen wird, finden sich nichtsdestoweniger gesonderte Kapitel über Lyrik und Hörspiel. Was fehlt, ist eine Abhandlung über den zeitgenössischen Essay als literarische Gattung. Aufschlussreich – und in herkömmlichen Literaturgeschichten selten zu finden – ist ein eigener Aufsatz über Kultur- und Literaturzeitschriften. Weniger ergiebig dagegen sind die kurzen Abschnitte über die Literatur in der Schweiz und in Österreich. Warum eine Darstellung der Literatur in der DDR fehlt, ist nicht einsichtig.
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Über Periodisierung, Aufbau und Methoden einer Literaturgeschichte lässt sich immer streiten. Bei allen Einschränkungen, die man im einzelnen vorbringen wird: Hier liegt eine der wichtigen Leistungen der zeitgenössischen Germanistik vor. Nichts ist schwieriger, als eine Geschichte der Gegenwartsliteratur zu schreiben: Kanonisiert ist wenig, und Vorbilder, die man imitieren oder gegen die man anschreiben könnte, gibt es nicht. Brieglebs eigene Beiträge zeichnen sich durch Scharfsinn, Klarheit in der Darstellung und eine immense Detailkenntnis der Politik- und Kulturgeschichte aus. In seinem einleitenden Beitrag „Literatur in der Revolte“ umschreibt er die Geburt des homo subversivus aus dem Geist der situationistischen Avantgarde. Hier wird der Verlauf der Studentenbewegung kritisch nachgezeichnet und der Anteil der Schriftsteller an ihr herausgestellt. Brieglebs zweiter Beitrag handelt davon, wie stark sich gerade die Schriftsteller mit ihren Arbeiten gegen das Vergessen, gegen die Verdrängung der NS-Verbrechen stemmen. Er vertritt die These, dass nach Auschwitz nur noch eine negative deutsch-jüdische Symbiose vorstellbar sei. Von den jüngeren Autoren habe das am klarsten Gert Hofmann erkannt, dessen Prosa auf die „Dekonstruktion der deutschen Ideologie von der politischen Symbiose mit den Juden“ hinauslaufe. Im Blick auf die Literatur jüngerer deutschsprachiger jüdischer Autorinnen wie Jeannette Lander, Lea Fleischmann und Esther Dischereit meint Briegleb, dass der Literaturbetrieb eine Verbreitung ihrer Dichtungen verhindere. Für konsequent hält Briegleb eigentlich nur Hildesheimer, der meinte, dass die Realität einer Welt, in der Auschwitz möglich war, erzählerisch nicht mehr abbildbar sei, und dass man sich daher mit „the end of fiction“ abzufinden habe. Sigrid Weigel gibt Einblick in die multikulturelle, von Angehörigen minoritärer Gruppen geschriebene „Literatur der Fremde“. Ihr Augenmerk ist dabei besonders auf die von Frauen verfasste Migrantenliteratur gerichtet, etwa von Sinasi Dikmen und Aras Ören. Weigel steuert auch eine dichte, theoretisch fundierte Studie zur Entwicklung der deutschsprachigen Frauenliteratur seit 1968 bei. Sie zeigt, wie literarische und theoretische frauenemanzipatorische Tendenzen sich zunächst getrennt voneinander entwickelten, sich dann aber seit den achtziger Jahren in Arbeiten von Elfriede Jelinek, Christa Wolf, Anne Duden, Ginka Steinwachs, Elfriede Czurda und Ria Endres berühren. Hingewiesen sei noch auf den ausgezeichneten Beitrag „Avantgarde heute?“ von Bettina Clausen und Karsten Singelmann. Von Avantgarde, heißt es dort, könne man auch heute sprechen, wenn Literatur einen Erkenntnisüberschuss hervorbringe, der sowohl auf das gesellschaftlich Reale wie auf die kunstinternen Ausdrucksmittel wirke, wenn Dichtung also weder mit alten Mitteln die Realität zu verändern suche noch auf eine bloße Revolte der Kunstmittel abziele. Allen, die überzeugt sind, dass Literaturgeschichten auch heute noch ihren Sinn haben, sei der Band empfohlen. In einem so umfangreichen Werk mit sieb-
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zehn Beiträgern mischt sich naturgemäß Brillantes mit Durchschnittlichem. Am Schluss überwiegt der positive Eindruck: Um die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kann es nicht schlecht bestellt ein, wenn sie zu einem so gewichtigen Band inspirierte. Klaus Briegleb, Sigrid Weigel (Hg.), Gegenwartsliteratur seit 1968. München: Hanser, 1992. (Band 12 von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Rolf Grimminger)
Paul Nizon, Über den Tag und durch die Jahre Neue Zürcher Zeitung (6.12.1991) Ein wichtiger Paris-Roman der Gegenwart wurde von einem Schweizer Autor geschrieben: Paul Nizon, der seit 1977 in der französischen Hauptstadt lebt, hat ihn mit „Das Jahr der Liebe“ 1981 veröffentlicht. Damals feierte ihn die französische Presse (allen voran Michel Contat in „Le Monde“) als intimen Kenner und subtilen Interpreten des Pariser Lebensgefühls. Paris ist Nizon Einsamkeitsfalle wie Rettungsanker, Gefängniszelle wie Freiheitshort, Endstation wie Möglichkeit des Neubeginns, Ort der Melancholie und der Wiedergeburt, Ursache von panischer Angst und ekstatischer Lust, ein Faszinosum, auf das man sowohl verzaubert wie auch mit Ekelanwandlungen reagiert. Der neue Essayband des Autors enthält Arbeiten aus drei Jahrzehnten. Das Buch ist ein Pendant zum „Jahr der Liebe“, geht es doch auch hier um das gegenwärtige und vergangene Paris. Eigentlich sind alle Bücher Nizons Teile eines umfassenden „Urbomanie-Projekts“, wie es der Autor in seiner Frankfurter Poetikvorlesung von 1985 nannte. Auch hier spielt die Großstadt, die Weltstadt die Hauptrolle. So wurden in diesen Band kleinere Notizen über Rom und New York aufgenommen, die sich aber blass ausnehmen neben den Erinnerungen an Paris und aktuellen Situationsbeschreibungen dieser Stadt. Im „Exkurs über die französische Frau“ stimmt Nizon das Hohelied auf das Paris seiner Jugend an als „die Stadt der hellsten Himmel und der weltlichsten Liebe“. Er begeistert sich für die „Nationalheilige“ Edith Piaf, die ein Leben besungen habe, das „sich wie nirgends in der Liebe und im Liebesschmerz“ erkenne, und er stimmt Kasimir Edschmid zu, nach dessen Diktum „die französische Frau die Seele auf der Brustwarze trage“. Delacroix’ Bild zur Revolution von 1830 sei gleichsam die Ikone der Franzosen: Hier führe „eine Frau mit nackter seelenvoller Brust“ das Volk der Freiheit entgegen. Kein Wunder, kommentiert der Autor, „daß die Männer ihr nachsteigen, nachlaufen“.
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Wie andere Bücher Nizons enthält auch dieser Band Reflexionen über seine beiden künstlerischen Leitfiguren Vincent van Gogh und Robert Walser. (Über van Gogh hat der junge Nizon eine kunsthistorische Dissertation geschrieben). In „Vincents einsamer Fall“ beschreibt der Autor das „schockartige Pariser Erlebnis“ des Malers, den „Zusammenprall mit den französischen Exponenten der Avantgarde“. Im späten 19. Jahrhundert sei Paris eine „kulturelle Lokomotive“ gewesen. Die enthusiastisch formulierten – nicht immer von Klischees freien – Jugenderinnerungen an die Place Pigalle mit ihrem „bengalisch vibrierenden Nachtleben“, mit ihrer „atemberaubenden Verkehrung der Nacht zum Tage“ stehen in denkbar schroffstem Kontrast zu den Depressionen, die ihn anwandeln, wenn er im Essay „Im dunklen Erdteil von Paris“ über den aktuellen „Rassismus in uns selber“ nachdenkt. Dies ist der aufrüttelndste Beitrag, der, ohne Beifallsgeheische, die Alltagssituation eines Europäers beschreibt, der seine Heimat im alten Paris hatte, das vor seinen Augen Stück für Stück verschwindet. Die zahllosen Migranten, zum Teil mit illusionären Versprechungen von Menschenhändlern aus den afrikanischen Armutsgebieten angelockt, arbeitslos oder ausgebeutet von kriminellen Firmen, verelenden in einer ihnen fremd bleibenden Umgebung. Der Autor beschreibt sich als der neuen „weißen Minderheit“ zugehörig und versinkt „in eine merkwürdige Art von Trauer“ angesichts der Einsicht, dass die Assimilationskraft von Paris sich hier nicht mehr bewährt. Er weiß, dass die in das gegenwärtige Paris einwandernde Dritte und Vierte Welt Afrikas lange genug „gegängelt, geprügelt, ausgepreßt worden“ ist, dass seine neuen Nachbarn verzweifelte Flüchtlinge sind. Nichtsdestoweniger will er sich nicht mit einem Leben als „verschreckter Hase in seiner Dachfestung“ abfinden, nicht mit der Tatsache, dass sich sein Pariser Stadtteil in eine Mord- und Angstszene von „Drogenhändlern und Prostituierten“ verwandelt. Die Metamorphose der Hauptstadt sieht Nizon als Zeichen europäischen Verfalls, einer Veränderung, die stimmungsmäßig bereits in „Der letzte Tango in Paris“ eingefangen worden sei, einem Film, den der Autor in diesem Band brillant analysiert. Hier sei Paris bereits zu Anfang der siebziger Jahre als „ehemalige“ Hauptstadt Europas porträtiert worden, als Ort, aus dem das früher so bezeichnende „Prickeln von Lebenslust“ und die „erotische Elektrizität“ verschwunden seien. Paul Nizon, Über den Tag und durch die Jahre. Essays, Nachrichten, Depeschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991.
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Sten Nadolny, Das Erzählen und die guten Absichten Neue Zürcher Zeitung (18.7.1991) „Ich weiß nicht, nach welchen Gesetzen wirklich Romane entstehen, ich habe das auch nicht studiert und mir nie richtig überlegt. Was ich weiß, ist nur, dass meine Schriftstellerei aus einer Liebe entsteht. Ich habe eine große Liebe zu diesem Beruf.“ Die Bescheidenheitsgeste des Literaturtheoretikers wie die Liebeserklärung des Romanciers Nadolny wirken gleichermaßen sympathisch. Im Lauf seiner Poetikvorlesung zeigt sich aber, dass er von Romanästhetik eine Menge versteht und dass er seine emotionale Beziehung zum Schriftstellerberuf rational zu begründen vermag. Auf vielfältige Weise werden ästhetische Aspekte der Produktion, Intention und Rezeption von Literatur behandelt und am Beispiel eines Romans illus triert. Da Nadolny über seinen derzeit entstehenden eigenen Roman nicht reden möchte (er sähe eine Freundschaftsbeziehung zu dem Projekt gefährdet), erfindet er einen Roman, der auf doppelte Weise fiktiv ist, weil es ihn nie geben wird. Er würde den eigenartigen Titel „Glashütte bis Hautflügler“ tragen, benannt nach dem achten Band von „Meyers Großem Konversationslexikon“ (sechste Auflage) aus dem Jahre 1908. Vergegenwärtigt werden soll damit der Geist der spielerischen Kombination heterogener Wissensteile, wie er einem Roman angemessen sei. Die kunstvolle Kombination der Reflexionen zur Ästhetik mit dem phantasievollen Bericht über Entstehung und Aufnahme von „Glashütte bis Hautflügler“ macht die Vorlesung zu einer Mischgattung aus Fiktion und Poetik. So ist der Text lesbar und lesenswert auch für jene Literaturliebhaber, die die Klärung ästhetischer Fragen normalerweise den Universitätsseminaren überlassen. Was Nadolny besonders interessiert, ist das Erzählen ganz allgemein. Er fasst es als menschliches Grundbedürfnis auf: ohne Erzählen könne man gar nicht richtig leben. „Narrativierung“ sei eine der wichtigsten Leistungen unseres Bewusstseins. Sie sei immer im Spiel, wenn auf risikoreiche Weise neue Zusammenhänge her- oder festgestellt würden, wenn man Mut zur eigenen Sicht und zur schöpferischen Produktion habe, gleichgültig in welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit. Wenn Nadolny auf das spezifisch romanhafte Erzählen zu sprechen kommt, zeigt sich, dass er mit den einschlägigen Theorien zur Erzählperspektive vertraut ist. Er weiß auch, dass der „olympische“, quasi „allwissende“ Erzähler im Gegenwartsroman nicht hoch im Kurs steht, doch will er sich die Option auf diese Perspektive nicht nehmen lassen. Als Romanautor möchte er souverän zwischen den Erzählperspektiven wählen können, will sich von Tendenzen und Trends keine Vorschriften machen lassen. Mit solchen Unabhängigkeitserklärungen hat auch der Titel des Buches zu tun. Nadolny ist gleichsam allergisch gegen
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die „guten Absichten“, die sich von außen wie Viren in ein dichterisches Projekt einschleichen können: Relevanz, Gesellschaftskritik, authentisches Bekenntnis, Allgemeinmenschliches, Antworten auf Fragen der Zeit, Kenntnisvermittlung, Soziales, Wille zur Unterhaltung, Schönschreiben, Betroffenheit – all diese Vokabeln aus dem Bereich der Verhaltensvorschriften des „erzähltechnischen Hilfswerks“, aus den Gefilden des ideologischen Gesinnungsdrucks, aus dem eingetragenen Verein der erhobenen Zeigefinger, aus den Meinungsbeständen des allgemein Akzeptierten erweisen sich als Hindernisse, die der spezifischen Wahrheit eines poetischen Textes in die Quere kommen. „Erzählen“, so hält der Autor fest, „muß immer auch Andersdenken sein dürfen, innovativ, anarchisch, funkelnd, immer neue Möglichkeiten eröffnend“, soll „fast denksportartig, mit vexierbildhafter Einladung zu mehreren Interpretationen“ angelegt sein. Hier stimmt Nadolny mit seinem Schriftstellerkollegen Hanns-Josef Ortheil überein, der diese Erzählweise als postmodern bezeichnet hat. Dass der dichterischen Phantasie durch Geschichtsfakten auch im historischen Roman keine Grenzen gesetzt sind, illustriert Nadolny an seinem eigenen Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Dieses Buch über den englischen Kapitän und Forschungsreisenden John Franklin hat dem Autor Weltruhm eingebracht. Wie eng Produktions- und Rezeptionsästhetik miteinander verknüpft sind, wird bei den Ausführungen über das „Traumbild vom idealen Leser“ deutlich, das den Romancier bei der Arbeit begleite und das Nadolny auch die „Vorstellung vom Dritten“ nennt. Um jenen imaginierten kritischen Freund des Buches handle es sich hier, der neben dem Autor selbst und der Erzählerfigur der Dritte im Bund der Romanproduktion sei. Sobald der Roman erschienen ist, hört die Existenz dieses Traumlesers auf, wird er durch die dissonanten Stimmen realer Leser verdrängt. Nadolny bedenkt ein weites Spektrum tatsächlichen Rezeptionsverhaltens. Die Stellungnahmen der Literaturkritiker versucht er, mit stoischer Gelassenheit zu ertragen. Nichtsdestoweniger haben sich ein paar Invektiven gegen die Berufskritiker eingeschlichen. So heißt es etwa: „Wir Autoren sind das Gebirge, auf dem die Kritiker herumklettern und die Ärmchen schwenken, um auf sich aufmerksam zu machen.“ Wolfgang Frühwald hat sich nicht davon abhalten lassen, die lesenswerte Einleitung zu Nadolnys Poetikvorlesung zu schreiben. Sie enthält ein prägnantes Werkporträt des Autors. Sten Nadolny, Das Erzählen und die guten Absichten. Münchner Poetikvorlesungen im Sommer 1990, eingeleitet von Wolfgang Frühwald. München: Piper, 1990.
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Thomas Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur Neue Zürcher Zeitung (13.9.1989) Die deutschsprachige Literatur der letzten fünfzehn Jahre legt ein eminentes Interesse an Krankheit und Tod, Diagnostik und Therapeutik, Pathologie und Diätetik an den Tag. Das hat sie mit der literarischen Moderne überhaupt gemein. In der Gegenwartsliteratur begann, wie Thomas Anz zeigt, die erneute Diskussion um Gesundheit und Krankheit mit Karin Strucks „Klassenliebe“ (1973). Das Buch verdeutlicht die Verschiebungen im Engagement der 68er Generation insofern, als mit ihm die Figur des Kranken die Position einzunehmen beginnt, die vorher mit dem Arbeiter als Helden besetzt gewesen war: beide leiden an den Institutionen einer kranken Gesellschaft. Mit Strucks autobiografischem Roman kündigte sich eine Springflut von Pathografien, Selbsterfahrungs-, Therapie- und Verständigungstexten an, und Anz spricht mit Recht vom Krankheitsthema als einer „literarischen Mode“. Physische und psychische Erkrankungen werden hier als Symptome von Berufsund Ehekrisen, falscher Erziehung, gestörter Kommunikation, ruinierter Umwelt oder als Ergebnis einer Kollektivkrankheit diagnostiziert. Texte von Dieter Kühn, Thomas Bernhard, Brigitte Schwaiger, Fritz Zorn, Maria Erlenberger, Hermann Burger, Anne Duden, Claudia Storz, Heinar Kipphardt, Christa Wolf, Peter Sloterdijk oder Martin Walser sind hier zu nennen. Der gemeinsame Nenner dieser Bücher scheint die These zu sein, dass der bürgerliche Sozialisationsprozess krank mache. Unter den zahlreichen Detailinterpretationen, die Anz vorlegt, besticht besonders jene über die Autopathografie „Mars“ des Schweizer Autors Fritz Zorn. Zorn hielt seine Krankheit zum Tode für die Folge eines sozialen Milieus, dessen lebensfeindliche Normen und Werte den Einzelnen neurotisieren und letztlich zerstören: Der Kranke ist das bewunderungswürdige Opfer pathogener Verhältnisse. Wie in vergleichbaren Büchern wird hier der Bürgerlichkeit und ihrer angeblich lebensfeindlichen Moral der Krieg erklärt. Nicht minder aktuell als die physischen Defekte sind die Geisteskrankheiten, etwa in den Büchern jener Schriftsteller, die durch eine psychiatrische Ausbildung gegangen sind: Rainald Goetz, Günter Steffens und Ernst Augustin. Insistiert wird hier auf der expressiven Wahrhaftigkeit einer anarchischen Vitalität des Wahnsinnigen. Der Schizophrene ist der neue Held, der Märtyrer und die Jesusfigur, die diffamiert und verfolgt wird. Im Zusammenhang damit sind Texte von Peter Schneider, Christa Wolf und Peter Weiss zu nennen, die von „problematischen“ Dichtern wie Lenz, Kleist und Hölderlin handeln – eine Aufwertung des
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Wahnsinns als „das andere der männlichen Vernunft“. Auf die Problematik der Polarisierungen von „Männlich“ und „Weiblich“ geht Anz ausführlich ein. Die Studie von Thomas Anz ist eine vorzügliche, so kritische wie informationsreiche Analyse eines dominanten Themas der Gegenwartsliteratur. Darüber hinaus vermittelt er in der etwa fünfzigseitigen Einleitung einen lesenswerten Überblick über die Verkreuzungen der medizinischen und ästhetischen Diskurse seit dem 18. Jahrhundert. Am Fall des Erzählfragments „Lenz“ von Büchner zeigt Anz, wie die aufgeklärt-empfindsame Einstellung zur Krankheit (Krankheit als Sanktion für normwidriges Verhalten) unterlaufen wird, indem nicht dem Individuum, sondern den sozialen Verhältnissen die Schuld angelastet wird. Während in der Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts die Vorstellung dominierte, dass Affekte und sinnliche Triebe, die sich moralisch-vernünftiger Disziplinierung entziehen, krank machen, setzt sich in der Moderne umgekehrt die Vorstellung durch, dass die vernunftbetonte Disziplinierung von Leidenschaften pathogene Wirkungen zeitigte. Thomas Anz, Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler, 1989.
Gerold Späth, Barbarswila DIE ZEIT (14.10.1988) „Er hatte seinen kleinen Tick, er war davon überzeugt, daß unter unserer Stadt, unter der ganzen Gegend eine Gegenstadt, eine Gegengegend sei, kein Spiegelbild, sondern das Gegenteil dessen, was oben ist.“ Dieses Zitat aus Gerold Späths Buch Commedia würde sich gut als Unterschrift zur Umschlagsillustration seines neuen Romans machen: Da stimmt uns ein friedlich-liebliches, sonnig-heiteres Biedermeier-Bildchen von einer Kleinstadt-Idylle am See mit malerischer Alpenkulisse nostalgisch ein auf Poetisch-Romantisches, aufs Positiv-Gefühlig-Erwärmende, aufs Lebenshelferisch-Bejahende, aufs literarisch Gute-Wahre-Schöne des 19. Jahrhunderts. Nichts davon ist im Roman zu finden. Der Leser wird gleich von einem Erzählfluss umspült, der ihn nicht nach Arcadia-Utopia-Harmonia zurückträgt, sondern ihn entführt in die Unterwelt einer „Gegenstadt“, deren Bewohner von nichts anderem bewegt werden als von Gelüsten nach Macht, Geld, Mord und – das vor allem – Geschlechtsgenuss. Gerold Späth wurde in den siebziger Jahren mit den Romanen „Unschlecht“ (1970), „Stimmgänge“ (1972) und „Balzapf“ (1977) als Vertreter des zeitgenössischen pikaresken Romans bekannt. Mit dem Begriff Schelmenroman waren diese
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Bücher einigermaßen richtig etikettiert, wenngleich sich seit „Stimmgänge“ die Tendenz zur Abschaffung des zentralen Helden ankündigte, die dann in aller Radikalität in Späths „Commedia“ (1980), seinem bisher wichtigsten Buch, erfolgte. Mit ihm schrieb der Autor sich frei von Vorbildern und verwirrte die Literaturkritik, die plötzlich von ihrem Klischee „Grimmelshausen der Gegenwart“ oder „Blechtrommler der siebziger Jahre“ abrücken musste. Den Bruch mit den herkömmlichen Erzählmitteln hat Späth in den folgenden Prosabänden „Sacramento“ (1983) und „Sindbadland“ (1984) nicht durchgehalten. Hier mischt sich Traditionelles mit Modernem und Postmodernem. Die etwa zweihundert Abenteuer, die in „Sindbadland“ berichtet werden, sind ein Pendant zum ersten Teil der „Commedia“. Auch hier setzt sich ein Welt- als Schreckbild mosaikhaft aus Erlebnis- und Realitätssplittern zusammen. Dem trist-grauen Provinzpanorama steht ein düster-exotisches Bild gegenüber, in dessen Horizont allerdings hie und da einige freundliche Farbtupfer eingepinselt sind. In „Barbarswila“ ist es jetzt vorbei mit allem Positiven. Vordergründig betrachtet, ähnelt das Buch Späths Erstlingsroman „Unschlecht“. In Rapperswil am Oberen Zürichsee wurde der Autor 1939 geboren, dort lebt und schreibt er, und diese Schweizer Kleinstadt taucht – fiktionalisiert unter verschiedenen Namen – in vielen Arbeiten des Autors auf. Wie in „Unschlecht“ ist diese Stadt der Romankosmos. Ansonsten aber ist alles anders: mit der Hauptfigur verschwinden dessen abenteuerliche Grundeinstellung und die Fülle seiner Welterfahrungen. Der Protagonist wird durch Dutzende von Nebenfiguren abgelöst, und statt einer durchgehenden Handlung schieben sich Parallelhandlungen ineinander. Die Schimpfreden eifern in Fäkalgegeifer aus, das Grobianische ist durch das Zynische ersetzt, das Autoritäre durchs Brutale abgelöst, das Erotische durch krude Sexualität verdrängt und Antipathie zu Hass und Mordgier gesteigert. Es ist eine Wahnwelt und in jeder Hinsicht das Leben in einer erdichteten „Gegenstadt“, mit dem Späth uns konfrontiert. Die Einseitigkeiten und Übersteigerungen bei der Personendarstellung sind derart groß, dass sie zuweilen bloß witzig-karikaturistisch oder klischeehaft wirken: Der Fischer Beck („alter Rammel“) ist auf Nixenjagd und möchte seine Frau Rosa („Reibeisen“) umbringen; der Casanovatyp Casagrande („pomadige Pflaume“) treibt es mit Isabella Hess, der Frau des August Hess („überbezahlter Beamtengockel“); der Prokurist Habersack („dienstiger Lackel“) und der Bademeister Josef Haug haben Affären mit der nymphomanen Erna Goll, Gattin eines gelähmten Bildhauers, der ehemals seine Tochter liebte; der Apotheker Rüegg hat nichts gegen Giftmorde, was seine Gemahlin zum Suizid veranlasst; Doktor Amsteg ist sozusagen professioneller Fremdgänger und übernimmt sich dabei („beim Rammeln aus getrampelt“); der ledige Lehrer Ramseier („verklemmter Sauhund“) liebt den Gruppensex; die Witwe Julia Stollberg-Kayser will die ganze Stadt vergiften; die
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sechzigjährige Wirtin „Zur Steilen Aussicht“ streicht den Gästen gegenüber gerne ihre Geschlechtsbereitschaft heraus; Titina, die Frau des Apothekers Rüegg jun., will „Geld wie Heu verdienen“ und landet als „junge Hysterikerin“ in der Irrenanstalt. Sexualphantastischer Realismus wäre eine angemessene Gattungsbezeichnung für die hier von Späth vorgelegte Literatur. Dank der virtuosen Sprachartistik des Autors wird das Buch zu einem ungewöhnlichen Lesevergnügen. Ein passender Titel für den Roman wäre auch „Pleite“ gewesen. Kaum eine Firma im Buch, die nicht bankrott macht (und die Beutegeier anlockt), kaum eine Beziehung, die nicht ihr Ende erreicht hat, kaum eine Figur, die nicht am Null- und Tiefstpunkt angelangt ist und deren Angst nicht in Aggression und Zerstörungswut umschlägt. Es ist eine todverfallene Hasshölle, die sich in Barbarswila auftut, der Stadt der Barbarei, in der der Tod als das „große Glück“ gelobt wird. Einmal scheint ein Licht in diese trostlose Horror-Monster-Show zu fallen, als die Studentin und Jobberin Anneliese auftaucht. Aber auch von ihr vernimmt man nicht viel mehr als „Shitshitshit“, und sie nimmt sich schließlich wie eine vom Erzähler vergessene Figur, eine Art blindes Motiv aus. Zuweilen überlässt der Erzähler seinen Figuren das Berichten und kommt dann selbstironisch auf sein zeitweiliges Verschwinden zu sprechen: „Dabei hatte ich gemeint, ich falle nicht besonders auf, man sehe mich gar nicht.“ Ab und zu klingen romantische Reminiszenzen an: Der Fischer Beck jagt seine Nixe, aber statt einer Fouquéschen Undine bekommt er die ertrunkene „schöne Helen“ an die Angel, die aus Angst ins Wasser gegangen ist. Die betulich-freundlich formulierten Inhaltsangaben zu den Kapitelüberschriften erinnern an die Praxis bei Achim von Arnim oder E.T.A. Hoffmann. Das Buch endet mit der Erwähnung eines prächtigen Sonnenaufgangs, wie wir ihn aus den Romananfängen bei Eichendorff kennen. Späth spielt intertextuell auf die Romantiker an: Die Literatur des utopielosen Zynismus erinnert an ihren denkbar größten Gegensatz: die Hadeswelt von Barbarswila zeigt „das Gegenteil dessen, was oben ist“. Gerold Späth, Barbarswila. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer 1988.
Gabriele Wohmann, Der Flötenton DIE ZEIT (4.3.1988) Alter, Tod und Kulturpessimismus sind die beherrschenden Themen in Gabriele Wohmanns Roman Der Flötenton. Subtil und offen, unsentimental und einfühlsam wird das Leben alter Menschen geschildert: ihre Empfindlichkeiten, ihre
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spleens, ihre Robustheit, ihre Todesnähe und Todesängste, ihre Lebensferne und Lebensanhänglichkeit, ihre körperlichen Gebrechen, ihre psychischen Auf- und Abschwünge, ihr Überleben in der Isolation und die Art ihrer Geselligkeit, die Metamorphosen ihrer Erinnerungen, das heißt die durchweg tragikomische, entschlussarme Lebensform eines versuchten und kaum noch möglichen Weitermachens im Bisherigen. Richard Kast, ein Schriftsteller mit zunehmendem Gedächtnisverlust, der emeritierte Theologieprofessor Hinholz, Frau Asper, die Witwe eines erfolglosen spätexpressionistischen Lyrikers und ihre unverheiratete Schwester, sie alle sind um die Achtzig und kämpfen die täglichen Kleingefechte gegen ihr Altersbewusstsein vom geistigen und physischen Verfall. „Vom Alter versteht sie rein gar nichts“, mokiert sich Frau Asper über die Freundin ihres Sohnes Anton, die Fernsehjournalistin Lydia Tulpen. „Die hat neulich eine ganz widerwärtige Sendung über uns Alte gemacht. Je älter man wird, desto intensiver lebt man, einen ähnlichen Unsinn hat sie behauptet. Alles wird immer schöner und schöner und wichtiger und wertvoller.“ Handlungskargheit, filmische Schnitt-Technik, dramenhafte Monologe und Dialoge: das sind die Markenzeichen der Wohmannschen Prosa. Wenig erfährt man über Anton Aspers Alltagsarbeit, viel hingegen über seinen Pessimismus und seine Kontaktscheu. Bei einer Geschäftsreise nach Lissabon stolpert er in eine Beziehung hinein zu der genussfreudigen und redseligen Sandra Hinholz, einer Lehrerin für Blockflöte. Als „Künstlerin“, „Mutter“ und „Schutzhafen“ ist sie der Gegensatz zur Journalistin und „Totalfeministin“ Lydia Tulpen. Dem im Roman geschilderten Verhältnis zwischen Sandra und Anton mangelt es zwar nicht an gefühlslogischer Plausibilität, wohl aber an sinnlicher Anschaulichkeit. Über eines ihrer ersten Rendezvous heißt es: „Mit geschlossenen Augen sah er eine sanfte, ergebene Kuh, große, mit Geduld getragene Euter, hilfsbereit“ – Vorhang zu. Die Große Mutter Sandra hat ein weites Herz, in dem neben der Familie mit Ehemann Knut (einem arbeitslosen Lehrer), den beiden Kindern, neben einer Freundin und einem Gelegenheitsgeliebten auch Platz für den achtzehnjährigen Anton Asper ist. Den aber zieht es nur halb in die SandraSphäre, eine vita activa naiv-optimistischer Quirligkeit. Eher schon droht er dem Sog einer fatalistischen Endzeitstimmung zu erliegen, die Züge von Menschenscheu und Sterilität aufweist. Sandras Flötenton dringt aus einem abgezirkelten Klein-Arkadien an Antons Ohr, aus einer Inselwelt des Wohlwollens und der Lebensfreude, aus einem Platz an der Sonne emotionaler Spontaneität, die jedoch um den Preis der Blindheit gegenüber potentiellen globalen Katastrophen erkauft ist. Fragt man nach literarischen Vorfahren Anton Aspers, fällt einem – schon der Vorname ist ein Hinweis – Anton Reiser ein, der Held des ersten deutschen
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Anti-Bildungsromans. Wie bei Karl Philipp Moritz gibt es keine Problemlösungen, wie bei ihm steht der deprimierte Held am Schluss vor dem Nichts. Der Nachname Asper (lat. asper: rau, traurig, wild) ist geradezu programmatisch dem anpassungsbereiten Goetheschen Bildungs-Meister entgegengesetzt. „Die gute alte Bildung. An unserer Generation klebt sie noch“, geht es Anton Asper einmal durch den Kopf. Die eigentliche Hauptfigur des Buches ist gar keine Person, sondern ein Ereignis: die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Jener fatalen Ausstrahlung anderer Art, die von diesem negativen Helden ausgeht, vermag sich keine der zahlreichen Romanprotagonisten zu entziehen. In seiner Firma gilt Anton Asper als „der Kollege mit dem Tschernobyl-Syndrom“. Für Sandra ist „dieser Atomkram“ bald vergessen, und bei Politikern im Wahlkampf wie in Antons Umgebung wird abgewiegelt: „Machen Sie sich keine Sorgen. Unsere deutschen Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt. Und für den Fall, daß ein Störfall sich tatsächlich ereignet, würde bei uns alles wie am Schnürchen klappen, Evakuierung, zack, zack, haben wir voll im Griff. Lassen Sie sich doch von diesen Panikmachern nicht anstecken.“ Anton aber nährt weiter seine „Endzeitwut“ und eckt mit Kassandrarufen an. Eigentlich alle Personen im Buch ahnen zumindest momenthaft das Ausmaß der Gefahren, die man mit dem Namen der ukrainischen Stadt Tschernobyl verbindet. Aber die meisten weben willig – unterstützt durch Politik und Medien – mit am Vergessensschleier, der allmählich die Katastrophe unsichtbar macht. Alter und Endzeitbewusstsein, die Angst und die Furcht vor der Todesnähe im persönlichen wie im menschheitlichen Schicksal werden von der Autorin im Zusammenhang gesehen. Beim Leben auf dem Vulkan möchte man Sandras Flötentöne nicht missen und schon gar nicht diesen vielschichtigen und ratlosen, offenen und unentschiedenen, also im besten Sinne postmodernen Roman. Gabriele Wohmann, Der Flötenton. Roman. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1987.
Gert Hofmann, Unsere Vergesslichkeit Neue Zürcher Zeitung (3.4.1987) „Von den Massenmedien der Aufgabe enthoben, zu informieren und zu zerstreuen, an Kühnheit von den Erfindungen der Technik und an Phantasie von der Wirklichkeit übertroffen, durch die Wissenschaften der Pflicht enthoben, die Gesellschaft zu analysieren, in Konkurrenz mit Reportagen, Bekenntnissen,
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Tatsachenberichten, von den Lesern selbst verlassen…“ – so lautet die kritische Diagnose über die Aussichten des Romans in „Unsere Vergesslichkeit“ von Gert Hofmann. Die Reflexion auf das eigene Medium ist eine Tendenz, die sich im Roman schon seit der Romantik beobachten lässt, und sie ist hier geradezu unüberbietbar radikalisiert: Hofmanns neuer Roman ist vor allem ein Dokument literarischer Selbstreflexion; ist romanhafte Kritik am Roman; ist Roman des Romans – eine Art Meta-Roman. Wie macht man das: einen Roman zu schreiben, der gleichzeitig mehr und auch weniger als ein Roman ist? Ein Ich-Erzähler wird konstruiert, der nicht einen Roman erzählt, sondern – auf melancholisch-ironische Weise – über einen Roman berichtet. Über die äußere (grotesk-komische) Handlung des Buches ist rasch berichtet: Der Held bzw. Unheld ist ein Masseur, der seine Praxis vernachlässigt und sich immer mehr aufs Schreiben verlegt. Zufällig trifft er den alten Schulfreund Quatember, einen Verlagslektor. Das erste Viertel des Buches schildert die Schwierigkeiten des Masseur-Schriftstellers bei seinen wirklichen und imaginierten Gesprächen mit dem Lektor. Quatember will Rechtfertigungen, Gründe, Absichten des Romans formuliert bekommen, doch damit kann der Erzähler nicht aufwarten. „Ich kann mich nicht erinnern“, meint er, „daß ich beim Schreiben irgendwelche Absichten, Botschaften, Philosophien hineingesteckt hätte, die man nun hinausziehen könnte.“ Wie ein Echo der negativen Ästhetik Hermann Brochs klingen Eingeständnisse wie jene: „Überhaupt ist so ein Roman, besonders in dieser Zeit, ja eine Narretei. Und jetzt mußt du diese Narretei noch nach Gründen und Hintergründen untersuchen.“ In der Stadt F. erkundigt sich der Held (das Manuskript des Romans „Unsere Vergesslichkeit“ in der Tasche) nach dem Weg zum Verlag. Jetzt wird die Szene vollends surreal: Der folgende Hauptteil des Buches handelt vom Gespräch zwischen dem älteren Passanten Reisser, der nach dem Weg gefragt wurde, und dem Erzähler. Dabei erfährt der Leser einerseits etwas über den Inhalt des Romanmanuskripts, und andererseits lernt er in Reisser die einzige Figur des Buches kennen, die kein Opfer der allgemein verbreiteten Vergesslichkeitsinfektion geworden ist. Der Roman im Roman handelt von Fuhlrott, dem Angestellten in der Werbeabteilung eines Warenhauses. Fuhlrott heiratet, zeugt einen Sohn und lässt sich scheiden. Interessanter als dieser Nukleus-Roman, der sich wie die Parodie auf einen Trivialroman liest, ist die Rahmenhandlung. In den Gesprächen zwischen Reisser und dem Erzähler konturiert sich so etwas wie die Ästhetik des postmodernen Romans. „Erinnerung“ war bisher als eine der vornehmsten Aufgaben des modernen Romans betrachtet worden. George Steiner sprach im Hinblick auf diese Funktion einmal vom „Writer as Remembrancer“ (vom Dichter als Erinnerer). Bei Gert Hofmann aber geht es um das Gegenteil von Erinnerung: um Vergessen und Vergesslichkeit. Fuhlrott ist ein Mensch, der alles vergisst und
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infolgedessen immer weniger wahrnimmt, immer wirklichkeitsfremder wird. Nur Reisser hat die Vergangenheit, die Nazi-Zeit und den Krieg mit all den Opfern nicht vergessen. Ohne Erinnern kein Roman. Über das Vergessen – das demons triert Hofmann mit der komplizierten Konstruktion dieses Un-Romans – lässt sich kein Roman schreiben. Im Medium des Romans lässt sich höchstens „unsere Vergesslichkeit“ reflektierend vergegenwärtigen. Die Krise des Erinnerns zieht auch die Krise des Romans nach sich. Was in Hofmanns Büchern eigentlich nie fehlt, ist der Streit zwischen den Generationen. Auch diesmal ist ein veritabler Vater-Sohn-Konflikt eingebaut. Der Vater des Erzählers macht dem dichtenden Sohn klar, dass er andere Probleme und Sorgen habe als jene, die in seinem „Vergesslichkeits“-Roman ausgebreitet werden, und er rät ihm, lieber an der Erweiterung seiner Masseurpraxis zu arbeiten, statt seine Kraft in ein Schriftstellerprojekt zu investieren, das ohnehin scheitern werde. Dass der Vater ein typischer „Vergesser“ und „Verdränger“ ist (seine Lieblingslektüre sind die Todesanzeigen in der Zeitung), versteht sich für den Hofmann-Kenner fast von selbst. Dies ist kein Feierabendbuch, keine Ferienlektüre. Der Sinn des Buches will erarbeitet sein wie Erinnerung selbst, verlangt eine intellektuelle Anstrengung vergleichbar jener, mit der man sich gegen das Vergessen geschichtlicher Erfahrung wehrt. „Vielleicht“, so meint der Lektor Quatember im Buch, „hast du den Roman unserer Zeit geschrieben, der so dringend nötig ist und den alle von dir erwarten.“ Die Antwort des Erzählers lautet: „Ich hatte die ganze Zeit den Eindruck, daß niemand auf ihn warte und er, weil keiner mehr liest, ganz überflüssig sei.“ „Unsere Vergesslichkeit“ ist mit ihrer komplizierten Konstruktion zu wenig „eingängig“ geschrieben, um „der Roman unserer Zeit“ werden zu können; überflüssig aber ist das Buch mit der Erinnerung an Vergessenes und an das Vergessenwollen keineswegs. Gert Hofmann, einer der begabtesten deutschsprachigen Romanciers der achtziger Jahre, hat nach „Auf dem Turm“, „Der Blindensturz“ und „Veilchenfeld“ erneut ein hintergründiges und originelles Buch geschrieben. Man darf gespannt sein, wie er nach dieser romanhaften Selbstreflexion, nach dieser Kritik des Romans im Roman weiterschreiben wird. Gert Hofmann, Unsere Vergesslichkeit. Roman. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1987.
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Gert Hofmann, Veilchenfeld DIE ZEIT (4.7.1986) „Die Wirklichkeit als grausiges Gerücht, das in unserer Stadt umgeht, sagt der Vater zur Mutter, als ich ihnen erzähle, was Frau Schellenbaum im Milchladen erzählt hat. Sie sagt, in unserem Rathaus gäbe es einen Keller, in dem manche Leute, damit sie aus dem Verkehr sind, eingesperrt und geschlagen werden. Manchmal nachts, wenn sie nicht schlafen kann, kann sie sie schreien hören. (...) Nun, sagt Frau Schellenbaum, vielleicht täusche ich mich, vielleicht stelle ich es mir bloß vor. So etwas Schreckliches sollte man sich nicht vorstellen, sagt Frau Übeleis, und Frau Schellenbaum sagt: Weiß Gott nicht!, und wir sagen auf Wiedersehen und gehen mit der Milch hinaus.“ Was zu Tage liegt, will man nicht wahrhaben, die Ohren verstopft, die Augen fest geschlossen – aus Angst, aus Gleichgültigkeit oder heimlicher Freude am Leid der Verfolgten. Während der „Friedenjahre“ des Dritten Reiches funktioniert vieles perfekt: die Massensuggestion, die Aufrüstung, vor allem der individualund massenpsychologische Verdrängungsmechanismus. Gert Hofmann hat eine Erzählung geschrieben, in der dieser Mechanismus der eigentliche, der negative, aber siegreiche Held ist. Nach dem Opfer der Handlung nennt er das Buch „Veilchenfeld“. Hofmann rührt an ein Trauma der Deutschen, wenn er den sukzessiven Abbau menschlicher Kommunikation, die allmähliche Isolierung und zunehmende Terrorisierung eines einzelnen im nationalsozialistischen Alltag in bedrängenden Bildern und Szenen vergegenwärtigt. Er ruft nicht zu kollektiver Trauerarbeit auf; alles Pathos, alles Prophetenhaft-Geißelnde, jede Art direkter Anklage fehlt. Es ist ein auf unheimliche Weise stilles Buch, welches das moralische Vakuum, von dem es handelt, beim Lesen geradezu physisch spürbar macht. Es ist aus der Sicht eines Kindes geschrieben, das alles, was es wahrnimmt, ohne Tabus und Rücksichten benennt, das selbst die Zusammenhänge nicht begreift und dem Leser Kontextbildung und Analyse überlässt. Nur scheinbar ist es eine schlichte Erzählung; die kunstvolle Komposition, die gewählte Erzählperspektive und die abgestufte Vielfalt geschilderter Verhaltensweisen bewahren Hofmann vor dem Scheitern an diesem wohl schwierigsten Thema der deutschen Gegenwartsliteratur. Gert Hofmanns Bücher zählten zu den bekanntesten unter den literarischen Geheimtipps; er war der älteste unter den Nachwuchsautoren und der – mit Bachmann- und Döblin-Preis ausgezeichnet – erfolgreichste jener von den Medien wenig beachteten Schriftstellern. Bezeichnend für ihn war der fast unmerkliche Eintritt in die erste Autorenriege der Bundesrepublik. Kein Auffallen durch
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Polemik bei einer Literaturtagung, keine Auftritte bei Großveranstaltungen, keine Selbstverstümmelung beim Wettlesen um einen Preis. Die Anfänge von Hofmanns Schriftstellerkarriere lagen – wörtlich – im Unsichtbaren: er begann mit Hörspielen. So war seine Autorenstimme zwar schon seit Langem vernehmbar, aber die meisten unter den Literaturkundigen wissen von ihm erst seit dem Erscheinen seiner ersten Erzählung. Das war 1979. Gert Hofmann ist nicht nur einer der begabtesten, sondern auch einer der produktivsten Erzähler deutscher Sprache. Über zwanzig Jahre lang (von 1961 bis 1983) lehrte er im Ausland, in England, Schottland, den USA und Jugoslawien als einer jener Kulturkärrner, die der Deutsche Akademische Austauschdienst als Sprach- und Literaturlektoren in alle Welt exportiert. Die Außenperspektive, die Trennung von der Bundesrepublik, die Erfahrung mit dem Bild von den Deutschen in den verschiedenen Teilen der Welt haben seinen Blick geschärft für deutsche Idiosynkrasien, psychologische Konstella tionen und Komplexe. Hofmann kehrte 1983 in die Bundesrepublik zurück. Danach lebte er als freier Schriftsteller in Erding bei München. Inzwischen wird sein Name in einem Atem mit dem von Thomas Bernhard, Beckett und Canetti genannt – Dichter, von denen Hofmann lernte und sich emanzipierte. Wie der die Judenverfolgung und den Holocaust betreffende Verdrängungsmechanismus funktionierte, hat Hofmann bereits in seiner ersten Novelle „Die Denunziation“ (1979) gezeigt. Wilhelm, der Bruder des Erzählers, hält dort die Erinnerung daran fest, wie die Existenz des Ehepaares Silberstein in einer deutschen Kleinstadt vernichtet wurde. Schon hier beruhigt sich die Mutter des Erzählers mit Scheingründen über die Verhaftung Silbersteins, schon hier hoffen die Bürger heimlich auf einen Selbstmord des Verfolgten. Der Erzähler wundert sich darüber, dass jene „soweit zurückliegenden und so verblaßten Ereignisse so schwer auf seinem Bruder“ lasten. „Und so lange! Ich bin da anders. Für mich heißt es: Weggelegt in das Gedächtnis der Natur!“ Der Erzähler empfindet, denkt und argumentiert in den eingeschliffenen Bahnen der Verdrängung, die er in der Kindheit zu begehen lernte. Ähnliches liest man über die ehemaligen Mitschüler Denkstein, Frisch und Ziegel im Roman „Unsere Eroberung“ (1984): In der Klasse und in der Familie wird das Verschwinden der Schüler „nie erwähnt“. Was in den bisherigen Prosaarbeiten Hofmanns Nebenmotiv war, ist in „Veilchenfeld“ das zentrale Thema. Der jüdische Philosophieprofessor Veilchenfeld ist von der Universität Leipzig relegiert worden. Er zieht in eine sächsische Kleinstadt unweit von Chemnitz. Das ist im Sommer 1938. Die anfängliche Sympathie mit dem Entrechteten im Elternhaus des Erzählers kühlt rasch ab. Zu Beginn lädt man ihn zum Essen ein, aber die Kinder dürfen niemandem erzählen, dass Veilchenfeld als Gast im Haus war. Er soll auch nicht mehr gegrüßt werden, und bald schlägt Isolierung in offene Feindschaft, in Terror um. Veilchenfeld wird
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zusammengeschlagen, die ärztliche Betreuung wird untersagt. Der Verstoßene und Verfolgte schließt sich in seiner Wohnung ein, redet mit niemandem mehr. Er will emigrieren, aber die Behörden schikanieren ihn und verhindern seine Auswanderung, indem sie ihm die Staatsbürgerschaft aberkennen. Das aus Vereinsamung, Drangsalierung und Gewalt geknüpfte Netz wird immer enger gezogen; seine Deportation (die in der Sprachregelung des Verdrängungsmechanismus „Verlegung“ heißt) ist angekündigt. Ihr entgeht Veilchenfeld durch Selbstmord, den Freitod zu nennen ein Zynismus wäre. Die Erzählung ist aber mehr als die literarische Bewusstmachung des Verdrängungsmechanismus während der Diktatur des Dritten Reiches. Der Autor arbeitet mit Hilfe der Kinderperspektive den Unterschied zwischen dem aktiven Vergessenwollen der Erwachsenen und dem naiven Unbeteiligtsein der Kinder heraus. Die Erzählung handelt auch von einem dramatischen Generationenkonflikt. Hofmann zeigt, wie die Minderjährigen im Dritten Reich in eine nationale Schuldverstrickung von unfassbaren Dimensionen gestoßen werden. In „Veilchenfeld“ erzählt der Autor nicht nur gleichnishaft die Geschichte des Holocaust, sondern auch eine Parabel vom verstoßenen Sohn. Hofmann lässt sie einen sadistischen NS-Lehrer dessen Schülern beibringen, und ihr Kernsatz lautet: „Der Vater muß den Sohn abschütteln (...) ihm einen Stoß geben.“ Die Geschichte der von den Eltern verstoßenen Kinder haben die Brüder Grimm im Märchen „Hänsel und Gretel“ überliefert. Deren Namen tragen in „Veilchenfeld“ der Erzähler und seine Schwester. Auf das Grimmsche Märchen spielt Hofmann mehrfach an, und die Parallele wird deutlich: Wie Hänsel und Gretel im Märchen den schuldigen Vater suchen, so könnte die Generation von Hitler’s Children ihre Parabel vom verlorenen Vater erfinden. Nur eine „Märchen“-hafte Möglichkeit? Hofmanns Erzählung ist jedenfalls beides: Gleichnis vom verstoßenen Sohn und Parabel vom verlorenen Vater. Der Vater-Sohn-Konflikt, der in dieser jüngsten Erzählung nur verklausuliert zur Sprache kommt, ist in frühen Arbeiten Hofmanns in aller Schärfe formuliert worden. „Veilchenfeld“ am nächsten steht „Die Denunziation“, die den sensiblen Bruder des ignoranten Erzählers bei der „Vaterfindung“ zeigt, die seiner „Selbstfindung“ vorausgeht. Die Spannung fast aller Bücher Hofmanns lebt aus fundamentalen archaisch-familiären Kämpfen. Das ganze Personal der Urkonflikte ist hier versammelt: „Große Mutter“, der „Big Brother“, der Vater als unnahbarer Gott und die Gatten im permanenten Ehekrieg. In der „Denunziation“ läuft dem Problemstrang Bruder-Isolierung der Motivkomplex der Sohnbeschimpfung parallel: Der rebellierende, studentisch bewegte Sohn wird vom Vater als „Fanatiker“ abqualifiziert. Am härtesten und präzisesten ist die Vater-Sohn-Feindschaft in der Erzählung „Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga“
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geschildert. Diese Geschichte aus dem Band „Gespräch über Balzacs Pferd“ (1981) – sprachlich ein Meisterwerk – ist eine der packendsten Novellen der deutschen Literatur. Sie zeugt von einer Schulung an Kleist, auf dessen Werk sich übrigens öfters Anspielungen in der Prosa Hofmanns finden. Ausgerechnet der von Amts wegen zur christlichen Nächstenliebe verpflichtete Vater Lenz, der als Generalsuperintendent von Livland Hirte über eine ansehnliche Herde von Christen ist, und der bei zahllosen Gelegenheiten väterliche Sohnesliebe am Beispiel der berühmten Jesus-Parabel gepredigt hat, ausgerechnet er verstößt seinen Sohn. Warum Lenz eine Kultfigur der Studentengeneration der sechziger und siebziger Jahre wurde, wird durch Hofmanns Novelle deutlich. Damals wurde der Generationenkonflikt zwischen den im Dritten Reich Geborenen und ihren Eltern offen ausgetragen. Literarisch zeigt sich das an den zahlreichen Vater- und Mutter-Büchern (Bernward Vesper, Peter Henisch, Elisabeth Plessen, Roland Lang, Barbara Bronnen, Christoph Meckel, Brigitte Schwaiger, Jutta Schutting). Hofmann hat auch das Zeug zu einem Komödiendichter. In seiner Novelle „Casanova und die Figurantin“ (aus dem Band „Gespräch über Balzacs Pferd“) gewinnt er dem Thema des Mutter-Sohn-Hasses komische Seiten ab. Der alternde Casanova stellt einer Dame nach, die sich als seine Mutter entpuppt, und sie liest als steinerner Gast mit wächsernem Herzen dem verkommenen Sohn, dem „größten Ferkel Europas“, die Leviten. Die Dialogstruktur der Novelle legt eine Bearbeitung für das Theater nahe. „Auf dem Turm“ (1982) ist der gewichtigste Roman, den Hofmann vorlegte, und er ist es, der seinen internationalen Ruf als Romancier begründet hat. Das Ehepaar, das es auf einer Ferienreise in ein sterbendes Dorf der zona morta Siziliens verschlagen hat, zermürbt sich durch Demütigungen und Beleidigungen. Ein eher harmloses Boulevardstück ist Edward Albees „Who’s Afraid of Virginia Woolf?“ von 1962 gegen Hofmanns Roman, der sich allerdings nicht auf die Vorführung eines Ehekrieges beschränkt. Eine Prosaarbeit ohne archaisch-familiäre Konflikte ist der Roman „Unsere Eroberung“ (1984), und vielleicht deswegen ist es das zähflüssigste Buch geworden, das der Autor veröffentlicht hat. Die fehlende Spannung wird auch nicht durch das neuartige Experiment aufgewogen, einen Wir-Erzähler einzuführen. Kinder erleben am 8. Mai 1945 das Ende des Dritten Reiches, „ihre“ Eroberung durch die Amerikaner. Das Minimum an Handlung und geschildertem Erlebten, das höchstens für die Bündelung einer kurzen Erzählung reicht, wird auf Romanlänge gestreckt. In seiner Erzählung „Der Blindensturz“ (1985) hat Hofmann nochmals einen Wir-Erzähler gewählt, aber diesmal mit größerer ästhetischer Berechtigung. Zum „Blindensturz“ hat er sich inspirieren lassen durch das 1568 entstandene gleichnamige Bild Pieter Breughels. Der hatte hier das aus dem Matthäus-Evangelium
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bekannte Gleichnis vom Blinden gestaltet, der den anderen Blinden leitet – auf dass beide in die Grube fallen. Hofmanns Blinde – auch sie verstoßene Söhne – haben kaum noch Teil an der menschlichen Gemeinschaft, müssen zum Leben erst erweckt werden, irren torkelnd sinn- und orientierungslos, vergessen und verlassen durch die Landschaft, drehen sich im Kreis oder treten auf der Stelle, ohne es zu merken. Im „Blindensturz“ hat Hofmann sich – wie in „Unsere Eroberung“ – aus der Verkettung in die Problematik familialer Urkonflikte gelöst. Aber anders als in dem Roman von 1984 liegt hier eine Parabel vor, in der die produktive Skepsis einer Generation zum Ausdruck kommt, die vor potentiell globalen Katastrophen steht. Mit „Veilchenfeld“, „Der Blindensturz“, „Auf dem Turm“ und „Gespräch über Balzacs Pferd“ liegen postmoderne Prosaarbeiten vor, die wegen ihrer Erzählkraft, Komplexität und Intensität zu den faszinierendsten deutschsprachigen literarischen Leistungen der Gegenwart zählen. Gert Hofmann, Veilchenfeld. Erzählung. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1986.
Silvio Blatter, Wassermann DIE ZEIT (17.10.1986) Rilke diagnostizierte als einer der ersten die Krise des Erzählens, die in den folgenden Jahrzehnten Dichtung, Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung gleichermaßen schüttelte. „Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören“, heißt es 1910 in den „Aufzeichnungen des Laurids Malte Brigge“. Ganze Krisenstäbe in Germanistik und Historiographie haben seither in tiefschürfenden Narrativitätstheo rien geprüft, ob Erzählen noch einen Erkenntnisgewinn abwerfen könne, und die Ergebnisse dieser professoralen Mühen sind so unterschiedlich wie kontrovers. Gegen die Skeptiker unter den Narratologen setzen sich momentan die Vertreter eines neuen Erzähl-Optimismus, eines neuen erzählerischen Selbstbewusstseins durch. Silvio Blatter, der Literatur und Geschichte studiert hat, teilt dieses Selbstbewusstsein; unter den Schriftstellern der jüngeren Generation ist er einer der begabtesten Erzähler. Erzählen ist sein Beruf, und er geht dieser Profession mit Leidenschaft, Ausdauer und Erfolg nach. Wenn er auch ein erzählerisches Naturtalent sein mag, so ist seine Produktion alles andere als ein unreflektiertes Drauflosschreiben. Wie sehr ihm die Theorie des Erzählens vertraut ist, hat
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er schon mit seinem (vergriffenen) Frühwerk „Mary Long“ (1973) bewiesen, das gleichzeitig ein Roman wie die launige Reflexion über die Genesis literarischer Fiktion ist. Das Erzähl-Ich aus „Wassermann“ verdankt seine Erfahrungen und Denkanstöße vor allem dem Leben an und mit Flüssen: Die Limmat in Zürich, die Reuß im Schweizer Aargau und der afrikanische Nil sind die heimlichen Helden der drei Romanteile. Diese Flüsse begleiten den Lebenslauf der Figuren, haben Einfluss auf den Strom der entwickelten Gedanken, auf das Orts- u nd Zeitgefühl der geschilderten Personen, vor allem des Ich-Erzählers selbst – eines alter ego des Autors. Der erste Teil des neuen Buches, das Limmat-Kapitel, ist ein StadtRoman, ein Zeitroman über das Leben im Zürich der 1980er Jahre; der zweite Teil, der Reuß-Abschnitt, ein Erinnerungswerk, in dem der Erzähler über seine Kindheit in Bremgarten, im schweizerischen Freiamt berichtet; den Schluss bildet der dritte Teil, das Nilbuch, weniger ein Werk über Ägypten als eine Sammlung von Betrachtungen, Überlegungen. Am besten gelungen ist der mittlere Teil. Der Autor setzt hier bis zu einem gewissen Grade die beiden Freiamt-Romane „Zunehmendes Heimweh“ und „Kein schöner Land“ fort. „Jede Geschichte, die ich erzähle“, heißt es in „Wassermann“, „springt mit störrischem Gleichmut in das verlorene Freiamt. Unausweichlich (...) komme ich auf das gottverlassene Nest Bremgarten zu sprechen.“ Wann immer Blatter von seiner Kindheits-Heimat, vom Freiamt im Schweizer Kanton Aargau, erzählt, erhalten seine Figuren Plastizität und Konkretheit, werden seine Beschreibungen anschaulich und einprägsam. Im Freiamt-Kapitel von „Wassermann“ wird beim Rückblick auf die 1950er Jahre, bei der Besinnung auf die Kindheit, ein Humor bemerkbar, der sich abhebt vom herben, fast melancholischen Ernst der Freiamt-Romane. Die Geschich ten vom Großvater, der „haarsträubende Lügengeschichten“ auftischt, der von „periodisch auftretendem Fernweh“ geplagt wird und zaubern kann, sind Gipfelpunkte Blatterschen Fabulierens. Der Reiz dieses mittleren Kapitels besteht nicht zuletzt in den literarischen Anspielungen auf Romane von Eichendorff, Gottfried Keller, Charles Dickens, Mark Twain, Hermann Hesse und Heinrich Böll. Böll ist für Blatter ein – allerdings nicht imitiertes – Vorbild, ein Lehrer, von dem man lernt, um sich von ihm zu emanzipieren. Wie Böll reibt sich Blatter am Katholizismus, an dessen Dogmen und Institutionen. Im Reußteil wird die Erinnerung an die katholische Kindheit zurückgerufen: Die Maiandacht wird besucht, „um gegen den Kommunismus zu beten“, und „wegen der Onanie“, heißt es, „ging ich ungern zur Beichte“. Silvio Blatter vermittelt in diesem Buchkapitel ein Stück eigener Biographie. In Bremgarten/Freiamt wurde er vor vierzig Jahren geboren, und dort verlebte er seine Kindheit. Nach dem Schulbesuch studierte er Pädagogik und unterrichtete als Lehrer mehrere Jahre im heimischen Aarau. Während der frühen siebziger
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Jahre verdiente er sein Geld als Maschinenarbeiter in der Metall- und Kunststoffindustrie. Damals schrieb er Arbeiterliteratur. Im Gegensatz zu vielem, was seinerzeit unter dieser Kategorie veröffentlicht wurde, sind Blatters Protokolle heute noch lesbar: Die Erzählungen „Schaltfehler“ und „Genormte Tage, verschüttete Zeit“ bestechen durch einen anteilnehmenden Realismus, der sich durch Ideologien keine Vorgaben machen lässt. Seine literarischen Arbeiten suchte der junge Blatter durch ein Germanistikstudium in Zürich zu vertiefen, aber die damals populären linguistischen und strukturalistischen Methoden verdarben ihm den Appetit an der Literaturwissenschaft, deren Studium er nach sechs Semestern aufgab. Sein Brot verdiente er dann als Funkregisseur und Journalist. Seit zehn Jahren lebt er als freischaffender Schriftsteller in Zürich; 1984 wurde er zum Präsidenten des deutsch-schweizerischen PEN-Clubs gewählt. Das Buch, das den damals 32 Jahre alten Autor als einen der talentiertesten Erzähler seiner Generation auswies, war der 1978 erschienene umfangreiche Roman „Zunehmendes Heimweh“. Wie in fast allen Büchern Blatters durchzieht die Spannung von Fern- und Heimweh auch dieses Werk. Fremde, und Heimat, Auswanderung und Heimkehr sind die Gegenpole, in deren Magnetfeld seine Romanfiguren sich bewegen. Für Blatter ist „Heimat“ eine so umfassende wie zentrale Kategorie. Sie wird bei ihm weder verschnulzt wie in den niederen Regionen dieses Genres, noch abgewertet wie in den Anti-Heimatromanen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Die Alternative der Emigration wird bei Blatter immer mitgedacht und mitgestaltet. Was Blatter in „Zunehmendes Heimweh“ und in der Fortsetzung „Kein schöner Land“ unternommen hat, ist etwas, was es in der Literatur der jüngeren Schriftstellergeneration kaum noch gibt. Indem er sich auf Geschichte und Gegenwart eines Ortes in der Provinz konzentriert, gelingt es ihm, exemplarisch das Denken und Empfinden, die Hoffnungen und die Ängste mehrerer Generationen einzufangen. Durch Rückblicke, Einblenden und Exkurse werden die Konflikte der Vergangenheit zu den Problemen der Gegenwart mit ihren Revolten und Anpassungen in Beziehung gesetzt. Blatters Freiamt-Bücher sind gesellschaftskritische Heimat-, Geschichts- und Zeitromane. Es sind kleine epische Meisterwerke. Zwischen die drei Bände der Freiamt-Trilogie schob der Autor andere Erzählwerke ein: vor sechs Jahren „Love Me Tender“, vor fünf Jahren „Die Schneefalle“ und nun „Wassermann“. Diese Bücher reichen an das Niveau der Freiamt-Romane nicht heran. Das schwächste von ihnen ist „Die Schneefalle“, die kaum einen der bewährten Vorzüge des Erzähltalents Blatter aufweist. Und der Roman „Wassermann“? Auch diesmal steht die Dialektik von Ferne und Heimat, die Interrelation von Fernweh nach Heimat und Heimweh nach der Fremde im Mittelpunkt. Aber nur der erwähnte zweite Teil, das Reuß-Kapitel, erreicht in Dichte und Eingängigkeit die beiden Freiamt-Romane. Das erste Kapitel, der Zürich-Roman, schil-
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dert den gegenwärtigen Alltag eines Intellektuellen in der Schweizer Metropole. Manches (familiärer Kleinkrieg, Umweltprobleme, Macht der Bürokratie) ist in den vergangenen Jahren zu oft beschrieben worden, als dass die wiederholte literarische Beschwerdeführung noch viel Neues erbrächte. Schwierigkeiten dürfte mancher Leser vor allem mit dem dritten Teil haben. Philosophische Vagheiten über Leben, Liebe, Glück, Wiedergeburt, Zeit und Zeitlosigkeit werden hier zum besten gegeben. Hie und da wird man bei geduldiger Lektüre wohl ein Goldkorn im Gedankenfluss entdecken, aber allzu oft begegnet man blassen Allge meinheiten. Der Ausflug an den Nil ist dem Erzähler Silvio Blatter offenbar nicht gut bekommen; Ägyptens Inspirationskraft scheint vor allem seine mäßig entwickelte philosophische Begabung angesprochen zu haben. Silvio Blatter, Wassermann. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986. Postmoderne Prosa
Postmoderne Konstellationen in der Erzählliteratur der Gegenwart Neue Rundschau 104.1 (1993) Thomas S. Kuhn hat in seiner Studie über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt, wie man in der Forschung innerhalb eines Paradigma genannten Konsensus arbeitet, der so lange Theorie und Experiment bestimmt, bis in einer Konsensus-Krise das alte Paradigma zugunsten eines neuen aufgegeben wird. In den Geisteswissenschaften erfolgen die Paradigmenwechsel nicht mit jener revolutionären Abruptheit, nicht mit einer so deutlichen Zäsur wie in den Naturwissenschaften. Die dominanten Paradigmen sind hier schwieriger auszumachen, herrscht doch ein Neben-, Mit-, Gegen- und Durcheinander von älteren, erneuerten und neueren Richtungen, Schulen und Theorieansätzen. Trotz der für die Geisteswissenschaften typischen Methodenvielfalt zeichnet sich in der kulturtheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte deutlich ein nachmodernes, ein postmodernes Paradigma ab. Beginnend mit einzelnen Angriffen in den sechziger Jahren auf Konventionen der modernen Literatur und Kunst hat sich der Postmoderne-Diskurs zu einer allgemeinen Kulturkritik erweitert und fast alle Gebiete der Geistes- und Sozialwissenschaften erreicht. Wichtige Beiträge zum Thema Postmoderne kamen zunächst aus den USA, dann aus Frankreich und Italien und schließlich (zögernd, spät und weniger entschieden) aus Deutschland. An der Postmodernediskussion sind VertreterInnen aus Kunstgeschichte, Architektur, Kulturkritik, Feminismus, Philosophie, Literaturwissenschaft und Filmtheorie gleichermaßen beteiligt. Fiedler, Jencks, Hassan,
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Huyssen, Newman, Calinescu, McHale, Hutcheon, Hoesterey, Fokkema, Lyotard, Vattimo, Le Rider, Scherpe, Koslowski, Ortheil, Bürger, Welsch, Kemper, Renner sind hier zu nennen. Die Theoretiker der Postmoderne versuchen, die gegenwärtigen kulturellen Gegebenheiten, Verhältnisse und Befindlichkeiten zu beschreiben und sie abzugrenzen von der Kultur der Moderne früherer Jahrzehnte. So vielfältig und unterschiedlich die einschlägigen Studien auch sind, lassen sich doch bestimmte Tendenzen, Richtungsänderungen und Merkmale erkennen, die die Differenzen zwischen Moderne und Postmoderne markieren. Manches, was zu Kennzeichen der Postmoderne erklärt wird, war bereits als Selbstkritik in der Moderne angelegt, d. h. die Postmoderne verhilft manchen kritischen Inspirationen der Moderne erst zum Durchbruch. So ist keineswegs alles in der Postmoderne als neue Bewegung gegen die Moderne zu begreifen. Hassan betonte, dass es – metaphorisch gesprochen – keine Chinesische Mauer, keinen Eisernen Vorhang zwischen Moderne und Postmoderne gebe, und Welsch hat bereits im Titel seines Buches „Unsere postmoderne Moderne“ auf ihre enge Beziehung verwiesen. Die Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne lassen sich am besten als Bewegung von einem Zustand zu einem anderen beschreiben, als Bewegungen, in denen sich letztlich Demokratisierungsprozesse spiegeln. Die sich wandelnden Verhältnisse seien entsprechend in drei Bereichen gekennzeichnet. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich lassen sich die Veränderungen so umschreiben: Von Ideologien eines auf Entscheidungskämpfe drängenden Entweder-Oder zu Einstellungen abwägender Kompromissbereitschaft; von einem Argumentieren in Dichotomien und strikten Gegensätzen wie rechts und links, Fortschritt und Reaktion, Rationalismus und Irrationalismus, Patriarchat und Matriarchat zu einer Akzeptanz der Mischungen und Übergänge; von einem Denken in Freund-Feind-Bildern zu einem differenzierten Blick für Interdependenzen; von einer Ideologie des unbegrenzten ökonomischen Wachstums zu einem Bewusstsein von der Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen; von einem technischen Fortschrittsglauben zu einem Wissen um die Fragilität der Umwelt; von einer Vormachtstellung großbürgerlichen Denkens zu einem Dominantwerden kleinbürgerlicher Vorstellungen als Folge der Bildungsexpansion; von einer patriarchal strukturierten Gesellschaft zu Verhältnissen, die immer stärker von Frauen mitgeprägt werden; von einer westlichen bzw. eurozentristischen Einstellung zu einer multi-kulturellen Identität bzw., allgemeiner gefasst, von einer dominanten und zentristischen kulturellen Präferenz zu pluralistischen und polyzentristischen Auffassungen mit einem ausgeprägten Verständnis für die Kulturen ethnischer Minderheiten und von Marginalisierten. Auf weltanschaulich-philosophischem Gebiet lassen sich die Verschiebungen so charakterisieren: Von einer Betonung des Allgemeinen zu einer Präferenz
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des Besonderen; von der Eröffnung von Totalitätsperspektiven zu einem Blick aufs Lokale und Regionale; von monistischen Erklärungen zu einer Pluralität von Deutungsversuchen; von Unifikationsperspektiven zu Strategien der Diversifizierung; von Einheitsbestrebungen zu einer Bevorzugung der Vielfalt von Sprach-, Denk- und Lebensformen; von der Orientierung an universalistischen MetaErzählungen zu einer Bevorzugung vielfältiger Klein-Erzählungen; vom Glauben an historische Kontinuitäten im Sinne geschichtsphilosophischer Teleologie zu einem Überzeugtsein von historischer Diskontinuität; von einem vorrangig utopischen Denken zu einem Dialog mit der Geschichte. Die Utopie-Skepsis hat mit zu den Umbrüchen im Europa von 1989 beigetragen und sich seitdem noch verstärkt. Auf der Ebene von Architektur, Kunst und Literatur lassen sich ebenfalls Änderungen konstatieren: Von der Präferenz für bloß funktionale Schönheit zur Freude am Anarchismus der Stile und an der Wiederkehr des Ornaments; vom international normierten Einheitsstil der modernen Architektur zu einer Berücksichtigung lokaler und regionaler Bautraditionen; von einem entschiedenen Ernst künstlerischer Intentionen zu spielerischen, pastichehaften und ironischparodistischen Verfahrensweisen; von der Präferenz elitärer Kunst und der Fixierung auf die kulturellen Großleistungen zu einer Bevorzugung der Mischformen von Hoch- und Alltagskultur; von der Eindeutigkeit zu Doppel- und Mehrfachkodierungen; von avantgardistischem Originalitätszwang und von einem Wunsch nach permanenter Innovation zu Syntheseversuchen mit überlieferten Stilen; von der Bevorzugung eines singulären Stils und von Stilreinheit zu einer Aufwertung des Eklektizismus und zur Präferenz gleichzeitig gegenwärtiger unterschiedlicher Kulturelemente; vom Antihistorismus zur Sinnvergewisserung durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Hatten wir es, so könnte man resümieren, bei der Moderne tendenziell mit einer Kultur der kämpferischen Utopien und hochgesinnten Manifeste zu tun, so erweist sich die Postmoderne als eine kulturelle Befindlichkeit der redlich eingestandenen Unsicherheit, des Kompromisses, des Dialogs mit der Geschichte und einer als offen verstandenen Zukunft. Die Postmoderne-Theorie greift nur in Bezug auf die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der westlichen Welt. Sie auf Gegebenheiten in den Schwellenländern oder auf Staaten der Dritten Welt anzuwenden, die sich erst am Anfang des Modernisierungsprozesses befinden, hat wenig Sinn. Die Kenntnis der Postmoderne-Diskussion ist für diese Länder jedoch nicht unwichtig, lernen sie durch sie doch die Moderne im Zustand ihrer Selbstkritik kennen. Die Postmoderne problematisiert die Grundannahmen sowohl der zivilisatorischen wie der ästhetischen Moderne, um eine Unterscheidung von Thomas Anz aufzugreifen. Die zivilisatorische Moderne steht im Zeichen der Aufklärung,
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und die ästhetische Moderne ist jene Avantgardebewegung, deren Anfänge im 19. Jahrhundert auf Mallarmé und Cézanne zurückgehen. Die zivilisatorische Moderne wurde in den vierziger Jahren bereits in Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ problematisiert, und die ästhetische Moderne hat seit ihrer Infragestellung durch Leslie Fiedler in den sechziger Jahren einen schweren Stand. Beide Moderne-Richtungen haben mit Habermas und Jameson bzw. Adorno und Greenberg vehemente Verteidiger gegen ihre Problematisierer gefunden. Greenberg sieht von der kalten Höhe des malerischen Abstraktismus, den er als Gipfelpunkt der Kunst versteht, voll Verachtung herab auf die Niederungen gegenständlicher bzw. populärer Kunst, in der sich die Postmodernen tummeln, und Adorno verfocht in seiner ästhetischen Theorie die These, dass nur die Negativität der modernen Literatur vor der falschen Versöhnung mit der gesellschaftlichen Misere im Spätkapitalismus bewahre. Die zivilisatorische Moderne meinen Hegel und Marx verpflichtete Theoretiker wie Habermas und Jameson gegen die Vertreter der Postmoderne in Schutz nehmen zu müssen. Jameson kann sich von Lukácsschen Totalitätsvorstellungen nicht trennen, und Habermas warnt vor einem angeblich antiaufklärerischen Irrationalismus der Postmoderne. Habermas ist mit dem universalistischen Grundansatz seines dialektischen Denkens der Moderne verhaftet. Seine Theorie des kommunikativen Handelns aber weist (ungeachtet der Kritik Lyotards an der Habermas schen Fixierung auf Konsensbildung) in Richtung eines Pluralismus, einer dialogischen Offenheit und damit eines Demokratieverständnisses, wie es für die Vertreter der Postmoderne bezeichnend ist. Fukuyama schließlich kann man als letzten Modernisten sehen, glaubt er doch mit Hegel an eine geschichtliche Teleologie, die in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft ihre Bestimmung und ihre endgültige Erfüllung findet. Lukács’ „Theorie des Romans“ (erstmals 1916 publiziert) war gleichzeitig der Schwanengesang der romantisch-idealistischen Ästhetik und Ankündigung des modernen Romans. Frühromantische Vorstellungen aufgreifend, postulierte Lukács, dass der Roman im Zeitalter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ jene Sinntotalität neu zu stiften habe, die ehemals durch eine mythische bzw. religiöse Kosmologie vermittelt worden sei. Der klassische moderne Roman, wie er in den folgenden Jahren und Jahrzehnten von Joyce, Gide, Kafka, Thomas Mann, Döblin, Musil und Broch geschrieben wurde, wollte und konnte diesem Postulat zwar nicht entsprechen, doch drückte sich in seinen – häufig monumentalen – Weltentwürfen die gleiche Trauer über den Verlust an Werteinheit aus, wie sie dem poetologischen Essay des jungen Lukács zu entnehmen war. Die Literatur der Moderne ist von Hassan und Lyotard ganz allgemein als eine Dichtung verstanden worden, für die diese Trauer über den Wertzerfall, über den Verlust der kulturellen Einheit, charakteristisch gewesen sei. Das Ende der Trauerphase bezeichnet eine
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der Grenzlinien zwischen moderner und postmoderner Literatur. Das Merkmal der postmodernen Kondition ist die endgültige Einsicht in die Unwiederbringbarkeit geschlossener, auf Totalitätsvorstellungen basierender Weltbilder, die alle Teile einer Kultur umgreifen und als sinnvoll zu erklären versuchen. Die Trauerarbeit nach dem Hinscheiden solcher Kosmologien, deren Wiederbelebung in der Romantik vergeblich versucht worden war, ist in der modernen Literatur geleistet worden, und die Autoren der Postmodere haben einen weltanschaulichen und gesellschaftlichen Pluralismus akzeptiert, der ein Lamentieren über den Zerfall der Werteinheit ausschließt. Sie sehen sich nicht mehr als verhinderte Sinnstifter, sondern als Teilnehmer am literarischen Diskurs, an einem Diskurs, der sich im Wettbewerb der zahlreichen anderen Diskurse einer pluralistischen Gesellschaft zu behaupten versucht. So kann es auch einen Lukács des postmodernen Romans nicht geben. Denn eine fixierende Definition postmoderner Poetologie wäre ein Widerspruch in sich. Die postmoderne Literatur ist gekennzeichnet durch Pluralismus, und so wird ihre Poetik offen sein müssen. Sie kann versuchen, eine Reihe von Merkmalen zu konstatieren und zu interpretieren, aber eine von Totalitätsvorstellungen ausgehende „Theorie des postmodernen Romans“ wird es nicht geben. Die Autoren und Autorinnen der Gegenwart – besonders aus dem deutschen Sprachbereich – haben sich selbst (direkt und indirekt) zu dieser neuen Bescheidenheit in Sachen Ästhetik bekannt. Ihre Poetikvorlesungen nämlich sind zu einem markanten Bestandteil postmoderner Literatur geworden. An den Universitäten in Frankfurt, München, Paderborn und Graz wurden die Poetikvorlesungen zu einer von den Germanistik-Studenten vielbeachteten Institution. Die Anfänge einer Ästhetik der postmodernen Literatur in den sechziger Jahren (zu denken ist an die Essays von Leslie Fiedler) und der Beginn der Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main fallen zeitlich zusammen. Die Literaturprofessoren an den genannten Universitäten reagierten angemessen, wenn sie, statt mit überholten Kategorien die Gegenwartsliteratur auf einen ästhetischen Nenner zu bringen, die Schriftsteller selbst zu Wort kommen ließen und sie baten, ihre individuellen Werkstatt-Poetiken zu erläutern. Nicht dass sich jeder Verfasser einer Poetikvorlesung als postmoderner Schriftsteller sehen würde. Aber die Tatsache, dass diese neue ästhetische Gattung bei Literaturkennern und -liebhabern so populär werden konnte, hat durchaus mit der postmodernen Konstellation zu tun. Die Poetikvorlesungen vermitteln ein adäquates Bild von der postmodernen Literatur allgemein; sie zeigen, dass sie weniger ambitiös und angestrengt, weniger totalitätssüchtig, weniger utopieversessen und manifesthaft, weniger ideologisch entschieden, weniger hermetisch und dunkel, weniger referentiell und repräsentativ, weniger stilrein und hochkulturell ist als die Literatur der Moderne. Dagegen kommt das Spielerische, das Exzentrische und Periphere, das – häufig als Kritik am Kanon gemeinte – Parodistische, das Selbstreferentielle und Selbstreflexive,
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das Pastichehafte, die Mischung von Hoch- und Alltagskultur, das Geschichtliche und Autobiographische stärker zum Ausdruck. Mit der kritischen Einstellung zum Kanon hängt das unverkrampfte Verhältnis postmoderner Autoren zur Trivialliteratur zusammen. Während der Modernist Broch den Kitsch als das Böse im Wertsystem der Kunst identifizierte, ist man in der Postmoderne bereit, Anregungen aus populären Gattungen und Formen aufzugreifen. Der Massenkultur wird seit Fiedler und Susan Sontag eine Chance gegenüber der abgewerteten elitären Höhenkamm-Literatur eingeräumt. Das Paradebeispiel für eine gelungene Fusion von hochkultureller und populärer Literatur ist nach wie vor Ecos Roman „Der Name der Rose“, der nicht nur von den immensen Kenntnissen seines Autors auf dem Gebiet mittelalterlicher Kulturgeschichte zeugt, sondern auch vor keinen Klischees der Trivialliteratur (geheime Räume, gewundene Gänge, verschlüsselte Botschaften, unsichtbare Tinte, nächtliche Verfolgungen, Giftmorde etc.) zurückschreckt. Zumindest so wichtig wie die hochkulturell-populäre Synthese ist ein anderes, ebenfalls mit der Infragestellung des Kanons zusammenhängendes Phänomen in der postmodernen Literatur: das der Bevorzugung des Peripheren gegenüber dem Zentrum. „Things fall apart; the centre cannot hold“ dichtete W. B. Yeats in seinem Poem „The Second Coming“. Als Modernist konnte er sich mit dem Zerfall des kulturellen Zentralwertes nicht abfinden, und wie Broch war er der Überzeugung, dass eine Offenbarung, die dem drohenden Chaos ein Ende bereiten werde, nahe sein müsse. Die Modernisten starrten gebannt auf das wankende Kulturzentrum wie das Kaninchen auf die Schlange. Formal und thematisch hat die postmoderne Literatur die Präferenz fürs Zentrale aufgegeben. Das dezentrierte, nicht-lineare Erzählen, für das die Bilder des Labyrinths, des Mäanders und des Rhizoms gefunden worden sind (Ortheil, Deleuze, Guattari), setzt sich immer mehr durch. Im deutschsprachigen Bereich ist hier an Autoren wie Heiner Müller, Herta Müller, Andreas Neumeister oder Urs Richle zu erinnern. Und thematisiert wird das Ausspielen des Exzentrischen gegen das Zentrum z. B. in Handkes „Langsamer Heimkehr“ und in Ransmayrs Romanen. Handkes Sorger erreicht nie das als Zentrum imaginierte Europa. In Ransmayrs Buch „Die letzte Welt“ strebt der Handlungsverlauf vom Zentrum Rom weg zur Peripherie des Weltreichs. Brochs „Der Tod des Vergil“ fungiert hier als Teil des Intertextes. Die Abgrenzung zur Handlung in Brochs Roman wird deutlich, denn dort wird die Heimfahrt des kranken Dichters aus Griechenland nach Rom und seine Begegnung mit dem Cäsar – dem Zentrum des Zentrums – geschildert. Den marginalisierten Frauen in einer patriarchal strukturierten Gesellschaft leihen vor allem Christa Wolf und Elfriede Jelinek ihre Stimmen. Und von den inhumansten Ausgrenzungen und Marginalisierungen, von Antisemitismus und Holocaust, handeln Romane Jurek Beckers und Edgar Hilsenraths. Viele dieser
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Bücher gehören zwar mit ihren Themen der postmodernen Konstellation an, ohne jedoch, was ihre Erzähltechnik und Struktur betrifft, den Bereich modernistischer Romanästhetik zu verlassen; ja zuweilen fällt man, was die literarischen Verfahren betrifft, sogar hinter die Neuerungen der klassischen Moderne zurück auf das Niveau des literarischen Realismus vormoderner Prägung. Zwar ist der Ästhetik der postmodernen Dichtung – im Gegensatz zur Situation in den späten sechziger Jahren – keine Rede mehr vom Tod der Literatur an sich; um so mehr aber begegnet man Auslassungen über den Tod des Autors, des Subjekts und des Helden. Die Nachrichten über den Tod dieser poetologischen Instanzen sind jedoch, um Mark Twain abzuwandeln, übertrieben. Roland Barthes gehörte zu jenen Theoretikern, die von der Intertextualitätsästhetik her die Originalitätsleistung des Autors abwerteten. Barthes pulverisierte in seinem Beitrag „La mort de l’auteur“ den literarischen Text, der selbst immer Teil von umfassenden Zeichensystemen ist, in ein Netzwerk von zahllosen Signalen. Der Autor liege gleichsam an der Kette der Signifikanten, sei ein Spielball der Sprache und werde erst durch den Text geboren. Der Entthronung des Autors entsprach bei Barthes die Inthronisierung des Lesers. Nicht der Autor, sondern der Leser sei die einheitsstiftende Instanz bei der Schaffung des literarischen Textes: Der wahre Ort des Schreibens sei das Lesen, denn es sei der Leser, der das Spiel der Codes und der Bedeutungen in Gang bringe; erst der Leser setze die emanzipatorische Aktivität des Ästhetischen frei. Barthes nahm die Verschiebung von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik vorweg, die sich um 1970 in den Arbeiten von Iser und Jauss abzeichnete. Von der einseitigen Parteinahme für den Leser und gegen den Autor als Schlüsselfigur kreativer Prozesse, d. h. von der eindimensionalen Sicht der Autor-Leser-Beziehung mit ihrer überholten Thronmetaphorik, ist man inzwischen abgerückt. Dazu haben nicht zuletzt die Schriftsteller mit ihren Poetikvorlesungen beigetragen, die den Blick schärfen für den Anteil des Autors am literarischen Geschehen. Sten Nadolny setzte in seiner Poetikvorlesung „Das Erzählen und die guten Absichten“ ganz andere Akzente als Barthes, wenn er als Autor das „Traumbild vom idealen Leser“ als das eines imaginierten kritischen Freundes entwarf, der beim Schreiben des Textes neben dem Autor selbst und der Erzählerfigur der Dritte im Bunde sei. Sobald der Roman erscheine, höre die Existenz dieses Traumlesers auf und werde durch die Vielzahl der dissonanten Stimmen realer Leser verdrängt. Als Allegorie des postmodernen Autors kann man Hermes bzw. Merkur verstehen, der in seiner Unbeständigkeit mit immer neuen Botschaften unterwegs ist und der sein diebisches Vergnügen hat an Eklektizismus, Pastiche, Aneignung, Nachahmung, Anspielung und Zitat, was sich technisch umsetzt in Collage und Bricolage. Wenn Barthes auch zu vorschnell seine Anzeige über den Tod des Autors verschickt hatte, bleibt doch sein Verdienst, die modernistische Originali-
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tätsästhetik in Frage gestellt zu haben. Das Pastiche kann nur in Zeiten favorisiert werden, in denen man wenig von Geniehaftigkeit und Originalitätszwang hält. Die beiden international erfolgreichsten Romane der achtziger Jahre, Ecos „Der Name der Rose“ und Süskinds „Das Parfüm“, waren Bücher, in denen die Autoren sich als Meister des Pastiches erwiesen. Dass das Verhältnis zwischen Autor und Leser sich gewandelt hat, dass die aktive Teilnahme des Lesers an der Schaffung des Textes immer stärker herausgefordert ist, wird besonders deutlich beim Blick auf den Helden bzw. die Heldin des postmodernen Romans. Drei Grundtypen zeichnen sich ab: erstens der Held als Entdecker, Erkunder, Wanderer und Detektiv, zweitens der Held als exzentrische und marginalisierte Figur und drittens die Entlassung des Helden aus dem Erzählkontext überhaupt. Dem ersten Typus ist der forschende, neugierige, unbefangene Blick eigen. In den Büchern von Eco, Calvino, Nadolny und Pynchon geht der Leser mit diesen Helden auf die abenteuerliche Suche nach Sinnangeboten, um nicht mehr zu lernen, als dass das Leben eine Mixtur von beliebigen Zufällen, unvorhersehbaren Entwicklungen und unberechenbaren Konstellationen ist. Ortheil hat sich in seiner Essaysammlung „Schauprozesse“ mit dem spezifisch postmodernen Blick dieser Helden beschäftigt. Der zweite Typus ist der exzentrische Held. Während der Held im Roman der klassischen Moderne Prousts, Joyces, Thomas Manns, Musils, Döblins und Brochs in Großstädten wie Paris, Dublin, Venedig, Wien, Berlin oder Rom, also in den Kulturzentren Europas, zu lokalisieren ist, befinden sich die Helden Nadolnys, Ransmayrs, Bernhards, Grass’, Frischmuths oder Späths in polaren Gefilden, in der Dritten Welt, an der Peripherie des Römischen Reiches oder in der Provinz Österreichs und der Schweiz. Die Peripherieperspektive trägt dazu bei, Verfestigtes zu verflüssigen, zwingt zum Umdenken, führt zu Unsicherheiten und zur Infragestellung von Konventionen und Traditionen. Zu diesem Typus gehören auch die Figuren des Außenseiters, des Neurotikers und des Psychiatrisierten, die Hubert Winkels („Einschnitte“) und Thomas Anz („Gesund oder krank?“) in ihren Studien über den Zusammenhang von Körper und Text in der Literatur der achtziger Jahre analysiert haben. Der dritte Typus ist eigentlich gar kein Typus mehr. Hier wird jene Vorstellung vom Helden ad absurdum geführt, wie man sie aus der Ästhetik des Bildungsromans oder der realistischen Literatur kennt und wie sie in zahlreichen Romanen auftraten, die von Vertretern der Gruppe-47-Generation verfasst wurden. Schon im modernen Roman unseres Jahrhunderts wurden die Protagonisten destabilisiert, hatte man die Idee von einem Helden verabschiedet, der sich zu einem einheitlichen Subjekt entwickelt und als solcher – mit Lukács zu sprechen – eine Synthese des Allgemeinen und des Besonderen der Gesellschaft seiner Epoche verkörpert. Von entelechischen Entwicklungen und reprä-
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sentativen Eigenschaften der Romanhelden ist im modernen Roman wenig und im postmodernen Roman nichts mehr zu finden. In Handkes „Langsamer Heimkehr“ sind Erzähler und Protagonist zunächst getrennt, doch vollzieht sich über die Änderungen des Helden Sorger von der dritten über die zweite zur ersten Person ihre Synthese. Sorgers Einsicht, dass Form nichts Statisches ist, sondern permanenten Metamorphosen unterliegt, wird gleichsam an ihm selbst als Institution des Erzählvorgangs exemplifiziert. Das Ineinander und schließliche Verschwinden von Erzähler und Held ist auch in Hildesheimers „Tynset“ und „Masante“ sowie in der absoluten Prosa Heißenbüttels („Textbücher 1–6“) zu konstatieren. Die Metamorphose ist der eigentliche Held in Ransmayrs „Die letzte Welt“. Ihrem Gesetz unterliegen auch die Protagonisten, die als Personen sich nicht entwickeln, sondern verflüchtigen, wie bereits an einigen ihrer Namen (Echo, Fama) zu erkennen ist. Auch Cotta – auf den ersten Blick die Hauptfigur des Romans – besteht aus mehreren „Selbst“ und löst sich als Subjekt auf, hört sich aus der Ferne und berichtet über sich aus der Vogelperspektive. Die Relativierung der Bedeutung des Helden wird auch in Grass’ „Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“ und in Michael Krügers „Das Ende des Romans“ vor Augen geführt. Auf metadichterische Weise wird hier in ironischen, selbstreferentiellen Brechungen gezeigt, wie sehr die geschilderten Figuren konstruierte Fiktionalitäten des auktorialen Erzählens sind. Gleichzeitig wird dadurch der Leser zur produktiven Weiterarbeit am Text inspiriert, da immer mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben werden. Murau in Thomas Bernhards „Auslöschung“ führt den Prozess der Zerstörung, der „Auslöschung“ des Subjekts vor Augen, ja erscheint gar als eine Art Nicht-Subjekt. Die Schwäche des Subjekts wird auch am Helden in Süskinds Erzählung „Die Geschichte von Herrn Sommer“ vorgeführt. Und in Kunderas „Unsterblichkeit“ ist die eigentliche Heldin nicht eine Figur, sondern eine Geste, eine als „unsterblich“ apostrophierte Armbewegung, die am Anfang des Romans geschildert wird. Ganz ohne zentrale Helden kommen Gerold Späth in „Commedia“ und Andreas Neumeister in „Salz im Blut“ aus. Schon Späths Titel deutet an, dass es in ihm keinen eigentlichen Helden (im Sinne von Heros) geben wird. Zum einen reiht er dort kurze Lebensläufe von unbekannten Personen aus dem Alltag aneinander, und danach schickt er eine Gruppe von touristischen Protagonisten ins Museum, in dessen Verlies sie verschwinden. Eine deutlichere Metapher für das Ende des Romanrequisits „Held“ kann man sich kaum vorstellen. Allerdings entgeht eine Touristin der Museumsfalle, womit die Idee von der Protagonistenabschaffung ansatzweise unterlaufen wird. Neumeisters Texte können vom Anfang, von der Mitte, vom Ende oder von irgendeiner Stelle her gelesen werden, denn einen Beginn, ein Zentrum und einen Schluss gibt es hier nicht. Autobiographische Erinnerungen, historische Reminiszenzen, surreale Szenen, Sprachspiele und
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ideologiekritische Reflexionen wechseln miteinander ab. Was nicht angestrebt wird, ist die Konstruktion eines Helden als Kern einer zusammenhängenden Geschichte. Die Problematisierung, die Spaltung, die Schwächung oder gar das Verschwinden des Romanhelden ist im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über das Subjekt zu sehen. Descartes’ Subjekttheorie war der Keim, aus dem sich in der Aufklärung die Ideen von der Autonomie des Subjekts, einer vom Einzel-Ich ausgehenden Ethik und von der Emanzipation des Individuums von religiösen und weltlichen Autoritäten herleiten ließen. In der idealistischen Philosophie verstand man das Subjekt als Ort der Sinndeutung und Sinnbildung, als Medium des Weltgeistes, als eine Art Monade mit den Eigenschaften der Freiheit, Vernunft, Konsistenz, Folgerichtigkeit, Harmonie, Totalität und Perfektibilität. Nietzsches massive Angriffe auf den Universalitätsanspruch der Hegelschen Vernunft hatten eine Dezentrierung, Demystifizierung und Per spektivierung des Subjekts zur Folge. Er unternahm es, das traditionelle Subjekt zu annullieren, indem er versuchte, die Fiktivität seiner Konstruktion nachzuweisen. Nicht minder folgenreich waren die Attacken, die von marxistischer, phänomenologischer, psychologischer, existentialistischer, feministischer und ideologiekritischer Seite aus gegen den idealistischen Subjektbegriff geritten wurden. Hier löste sich der ehemals feste Subjekt-Nukleus bei Marx, Husserl, Freud, Jung, Heidegger, de Beauvoir und Habermas in der Säure gesellschaftlicher, triebstruktureller, archetypischer, logischer, seinshafter, geschlechtlicher und kommunikationstheoretischer Lösungen auf. Die poststrukturalistische Theorie des Subjekts, die sich vor allem der Diskursanalyse Foucaults verdankt und entscheidende Anregungen durch Nietzsche erhielt, geht davon aus, dass ein durch Sprache konstituiertes Subjekt nicht autonom sein kann. Bei Foucault, Barthes, Deleuze, Guattari, Lyotard, Lacan, Derrida und Kristeva ist das Subjekt diffus und unentschieden lokalisiert in einem ständig weitergehenden Strom des Diskurses. Dieser bestimmt den Blick des Subjekts auf die Welt; in der diskursiven Formation der Epoche ist seine Wahrnehmung vorstrukturiert. Das Subjekt konstituiert sich nicht wie bei Descartes aus sich selbst im Sinne des „Cogito“, sondern erblickt sich qua Diskursteilnahme durch den Spiegel des Anderen, auf den sein – letztlich unerfüllbares – Begehren gerichtet bleibt. Bei all dem geht es nicht um die Todeserklärung des Subjekts, sondern um die Infragestellung seiner Autonomie, um seine Historisierung, um den Nachweis seiner Konditionierung, Fragmentierung oder gar Pulverisierung, Flexibilität und Metamorphosebereitschaft. Von einer subjektorientierten Wahrheitsdiskussion hat sich bei und mit Foucault das Interesse auf die Analyse der Diskurse, d. h. das Aufdecken geschichtlicher Voraussetzungen alternativer Erkenntnisformen mittels einer Archäologie des Wissens verlagert.
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Die für die postmoderne Konstellation allgemein bezeichnende UtopieSkepsis kommt auch in der Gegenwartsliteratur zum Vorschein. Die hier zum Ausdruck gebrachten Präferenzen für Entropie, Chaos, Karneval und Geschichte lassen wenig Raum für Utopie. Darin besteht der Hauptgegensatz zur kulturellen Situation in den sechziger und siebziger Jahren. Während Utopien Bilder besserer künftiger Ordnungen einer mangelhaften Ordnung der Gegenwart entgegensetzen, geht es bei Karneval und Entropie um die momenthafte oder langfristige Auflösung gegebener Strukturen, ohne dass alternative Modelle geboten würden. Der Begriff der Entropie, ein Terminus aus der Thermodynamik, wurde (in der Bedeutung von zunehmender Unordnung) erstmals von dem amerikanischen Autor Thomas Pynchon als Merkmal postmodernen Denkens charakterisiert. Dass er auch zur Kennzeichnung deutscher Gegenwartsliteratur gebraucht werden kann, zeigen vor allem die Arbeiten aus den achtziger Jahren, die von einer Präferenz des Anarchischen zeugen, etwa bei Hans Magnus Enzensberger („Ach Europa!“), Grass („Kopfgeburten“) und Gerold Späth („Barbarswila“). Heiner Müller bekannte sich in „Jenseits der Nation“ zum Karnevalesken, das er als Revolte der Volkskultur gegen die staatlichen und kirchlichen Autoritäten verstand. Das Karnevaleske wurde bestimmendes Moment der postmodernen Aura. Die Auslassungen über den Karneval, wie sie Michail Bachtin in seiner Dostojewski-Studie vorgelegt hatte, wurden international aufgegriffen, diskutiert und popularisiert. Bachtin beschrieb den Karneval als episodisches Aussetzen eines hierarchisch strukturierten sozialen Systems und der damit verbundenen zeitweiligen Aufkündigung von Furcht, Scheu, Frömmigkeit und Etikette. Entropie und Karneval werden in der postmodernen Literatur als Alternativen zu einer paranoischen Ordnungsvorstellung betrachtet, wie sie mit der übertechnisierten, überorganisierten, überperfektionierten und nichtsdestoweniger auf Katastrophen hintreibenden Industriekultur verbunden werden. Die Schriftsteller der Gegenwart entziehen den Utopien der Moderne, seien sie wissenschaftlicher oder gesellschaftlicher Art, das Vertrauen. Die Weltkriege, der Holocaust, die Umweltkatastrophe (besonders Tschernobyl), der Terror der kommunistischen Systeme, all das wird als geschichtliche Lehre in der Dichtung verarbeitet. In seinem Buch über die Titanic lässt Enzensberger diesen Dinosaurier einer technischen Utopie erneut untergehen, absinken ins Meer der verfehlten Zukunftsentwürfe. Als Chiffre des zivilisatorischen Endes ist auch Ransmayrs „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ zu lesen, in dem von einer österreichischen Polarexpedition gegen Ende des 19. Jahrhunderts berichtet wird, deren Bestimmung der Tod im Eis ist. Um vergleichbar kritische Blicke auf die Kultur der Moderne geht es in Sten Nadolnys „Selim oder Die Gabe der Rede“, Dieter Kühns „Beethoven und der schwarze Geiger“, Hans Christoph Buchs „Die Hochzeit von Port-au-Prince“ sowie „Haiti Cherie“ und Günter Grass’ „Zunge zeigen“. Dies sind
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Bücher, die Teil des postkolonialen Diskurses der Postmoderne sind, die zur Entkolonialisierung und Entimperialisierung europäischer Identität beitragen. Die Autoren versetzen sich in den Außenstandpunkt einer anderen Kultur, wodurch sich der Blick auf die westliche Industriegesellschaft im Wortsinne entfremdet. In Handkes „Langsamer Heimkehr“ ist die Einsicht zentral, dass die Wissenschaft der Moderne einer Kultur der Vergangenheit angehört. Wie Enzensbergers Titanic ist auch Bernhards Festung Wolfsegg in „Auslöschung“ eine Metapher für die Irrwege der Moderne. Der entschiedene Antitraditionalismus der Avantgarde, die Zukunftsbesessenheit der Moderne, ihre Tendenz, nicht nur die Vergangenheit zu verachten, sondern auch die Gegenwart zu vergessen, ist das kulturkritische Thema in Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“. Das Monströse an den Utopien der Moderne benennt Christa Wolfs „Störfall“, die ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen Tschernobyl darstellt. Als Intertext fungiert hier Joseph Conrads „Heart of Darkness“, ein frühes Beispiel für den postkolonialen Diskurs in der Literatur, in dem die inhumanen Begleiterscheinungen des westlichen Fortschritts benannt werden. Von einer vergleichbar kulturkritischen Position geht auch Grass in „Die Rättin“ aus. Die Fortschrittsutopien allgemein wie die Utopie vom vereinigten Europa, von einer durch Brüssel gelenkten Europäischen Union, unterzieht Enzensberger in „Ach Europa!“ einer dezidierten Kritik. Organische Schlamperei wird gegen disziplinierte Organisation, Vielfalt gegen Einheit ausgespielt. Nicht den effizienten Ländern der EG gehört danach die Zukunft, sondern dem chaotischen Italien als einem Laboratorium der Postmoderne. Den fortschrittsoptimistischen Utopien sucht Enzensberger hier die Legitimität zu entziehen, indem er die Geschichtsphilosophien Hegelscher und Marxscher Provenienz verwirft und Geschichte als stochastischen, den Zufällen überlassenen Prozess hinstellt. An den wissenschaftlichen Denkmodellen der Moderne, für die ein „totalitärer Begradigungsdrang“ kennzeichnend sei, übt Botho Strauß in seinem essayistischen Werk „Beginnlosigkeit“ Kritik. Der Utopieskepsis entspricht ein neues Sicheinlassen auf Geschichte. Was das aktuelle historische Interesse betrifft, sind drei Aspekte zu unterscheiden: erstens die Übernahme bzw. Kombination von Themen aus der Literaturgeschichte, historischer Gattungsformen und Erzählweisen; zweitens eine Beschäftigung mit Problemen des fiktiven und historiografischen Erzählens; drittens das Thematisieren geschichtlicher Ereignisse. Mit dem Betreten des Archivs der Literaturgeschichte sind wir beim Thema Intertextualität. Interdiskursivität und Intertextualität sind zwar Begriffe aus der poststrukturalistischen Theoriebildung, aber sie bezeichnen etwas, das es in der Dichtung schon immer gegeben hat: die Teilnahme eines neuen künstlerischen Textes am tradierten Diskurs, speziell am literarischen und allgemein am kulturellen, wobei der Bezug auf frühere Texte deutlich wird. Die Art und Weise, wie
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dieser Bezug hergestellt wird, ist in der Literatur der Moderne und Postmoderne tendenziell verschieden. Wenn T.S. Eliot z. B. in „The Waste Land“ sich auf Dante oder Hermann Broch sich in „Der Tod des Vergil“ auf den römischen Dichter beziehen, glauben sie, eine Verbindung im Sinne einer Traditionsfortsetzung herzustellen. Dazu sehen sie sich durch die Annahme einer historischen Parallelsituation legitimiert. Unmittelbare Affinitäten zu vergangenen Geschichtsphasen werden in der postmodernen Literatur nicht ausgedrückt. In ihr, etwa bei Umberto Eco, Milan Kundera, Jorge Semprun, Thomas Bernhard, Gert Hofmann, Patrick Süskind oder Christoph Ransmayr, geht es bei den intertextuellen Anspielungen um die Unterschiede bei allen Ähnlichkeiten, um die Diskontinuität in der Kontinuität. Nicht um die Identifikation mit dem geschichtlichen Vorbild, nicht um historische Analogie ist es den Autoren zu tun, sondern um die ironische Brechung in der Anspielung, um den Nachweis der Distanz und der Fremde. Die Vergangenheit – auch in der Literatur – kann nur mit Ironie, nicht mit Unschuld ins Auge gefasst werden, wie Eco in der „Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘“ hervorhebt. Nicht Nachahmung, Anlehnung, Affirmation, Fortsetzung, sondern Begriffe wie Korrektur, Palinodie, Zurücknahme, Dekomposition und Parodie bezeichnen das postmoderne Verhältnis zur Tradition. Nicht sinnsetzende Rückkoppelungen sind beabsichtigt, sondern subversive Anspielungen. Nicht um die Feier des zitierten Originals geht es, sondern um die Verstörung des kanonisch Überlieferten. Die bewusste Intertextualität, der gewollte Bezug zur Tradition lässt auch die andere Einstellung zu Originalität und Authentizität in der Postmoderne erkennen. Während die Literatur der Moderne sich als avantgardistisch verstand und Originalität als conditio sine qua non ihrer Legitimität betrachtete, spielt die Originalitätsästhetik in der Postmoderne kaum noch eine Rolle. Originalität wird als unhaltbarer Anspruch einer überholten Genieästhetik empfunden: denn Bücher beziehen sich immer auf andere Bücher; Textualität ohne Intertextualität kann es nicht geben. Verabschiedet werden Vorstellungen von der Einheit und Abgeschlossenheit eines Werkes. Die Ideologie der Originalität wird abgelöst durch die Überzeugung, dass neues Schreiben eigentlich immer nur Neuschreiben ist. Dass eine solche Überzeugung auch die Vorstellung eines literarischen Kanons ins Wanken bringt, der beansprucht, Texte maximaler Originalität zu benennen, versteht sich. Den Übergang von der Literatur der Moderne zur Postmoderne hat McHale als Schritt von einer epistemologischen zu einer ontologischen Intention umschrieben. Während in der Dichtung der Moderne die Frage nach dem Wie der Weltinterpretation im Vordergrund steht, dominiert in der Literatur der Postmoderne die Frage nach dem Was der Welt, die uns umgibt. Die epistemologische Ausrichtung (Broch nannte seine „Schlafwandler“ einen erkenntnistheoretischen
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Roman) führte in der Literatur der Moderne zur Überprüfung der Erzählmittel, zur Reflexion auf die Erzähltechniken, was die Revolutionierung des Erzählens überhaupt nach sich zog, wie den Romanen eines Joyce, Faulkner, Döblin oder Broch zu entnehmen ist. In der Postmoderne verschärft sich die epistemologische zur ontologischen Fragestellung: Nicht nur das Mittel des Erzählens, sondern das Erzählen selbst wird überprüft, d.h. die Existenzweise eines Textes, seine Legitimation und Funktion, wird im Text Gegenstand der Reflexion. Diese Überprüfung führt zuweilen – wie bei Hildesheimer – zur Einsicht, dass die Wirklichkeit nicht mehr erzählt werden kann. Hutcheon hat angesichts des im postmodernen Roman artikulierten historischen Interesses die Erzählliteratur der Gegenwart als „historiographic metafiction“, als historiografische Meta-Dichtung gekennzeichnet. Das Erzählen in der Literatur wird hier erstens als genuin fiktiv, zweitens angesichts der behandelten historischen Themen als historiografisch und drittens – womit die Meta-Ebene angezeigt ist – als selbstreflexiv bezeichnet. Hayden White hat in „Metahistory“ die fließenden Übergänge von Fiktion und Historiografie am Beispiel der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert erläutert. Deutlich wird hier, dass weder eine völlige Trennung von Fiktion und Historiografie noch ihre gänzliche Identifikation möglich ist. In der postmodernen Literatur geht es nicht um eine Konkurrenz zur Historiografie. Anders als letztere bekennt sie sich offen zu ihrem fiktionalen Anteil. Was die Historiografie von ihr lernen könnte, wäre das Offenlegen der Karten beim Geschichte(n)-Erzählen. Kein Subjekt kennt die Vergangenheit mit Sicherheit. Dem wird in der postmodernen Literatur dadurch Rechnung getragen, dass das Einschreiben der Subjektivität in die Geschichte während des Erzählvorganges problematisiert wird. Die Frage ist, wie und auf welche Weise man den jeweils gewählten Ausschnitt aus der Geschichte kennen kann. Hier geht es gerade nicht um das Verstecken des interpretativen Aktes hinter der Pseudo-Objektivität und Pseudo-Neutralität eines anscheinend allwissenden Erzählers. So benutzt die Gegenwartsliteratur zwar Formen traditionellen historiografischen Erzählens, stellt sie aber gleichzeitig durch Selbstreflexion in Frage. Im Zug dieser Selbstreflexion werden geschichtsphilosophische Voraussetzungen – etwa Progression, Kontinuität und Teleologie – als Konstruktionen demaskiert. Es wird dabei eine kritische Absicht fortgesetzt, wie sie in Nietzsches Befragung der Prämissen von Geschichtsschreibung in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ begonnen wurde. Ganz anders als bei Nietzsche herrscht hier jedoch keineswegs die Meinung, dass ein Übermaß an Geschichte dem Leben schade. Worum es geht, ist die Öffnung der Geschichte auf die Gegenwart hin, ist die Herstellung eines Dialogs zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Beispielhaft für den problematisierenden literarischen Umgang mit der Geschichte ist das Erzählwerk von Carlos Fuentes („Terra Nostra“), E.L. Doctorow
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(„Ragtime“) und Salman Rushdie („Midnight’s Children“). Im deutschsprachigen Bereich sind Grass’ „Kopfgeburten“, Handkes „Versuch über die Jukebox“, Christa Wolfs „Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra“, Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung“, die Arbeiten Dieter Kühns, Heiner Müllers und Christoph Ransmayrs als Beispiele von Werken zu nennen, in denen die Spannung von Gegenwart (als komplexe Verständnisstruktur verschiedener Gegenwarten) und Vergangenheit (als Netzwerk unterschiedlicher Erinnerungen) gleichermaßen reflektiert und gestaltet wird. Schauen wir uns schließlich nach Romanen um, in denen auf herkömmlichrealistische Weise Geschichte thematisiert wird. Nadolny hat in seiner Poetikvorlesung betont, dass er sich unter den vielen Erzählermöglichkeiten die Option für den sogenannten allwissenden Erzähler offenhält. Zur postmodernen Kon stellation gehört auch das Verfügenkönnen über Erzählperspektiven. Die Brechungen und Infragestellungen geschehen hier nicht mittels direkt eingeschalteter Reflexionen des Erzählers, sondern durch die Mixtur von Gattungen, durch die Konfrontation von Geschichte und Mythos, durch Perspektivenwechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, durch die herausgearbeiteten Gegensätze der Protagonisten etc. Bezeichnend für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist das rückblickende Sezieren von historischen Fehlentwicklungen ebenso wie der Aufweis von geschichtlichen Alternativen, ist sowohl die Trauerarbeit wie das Benennen hoffnungsträchtiger Augenblicke. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, besonders mit der Hitlerzeit, ist dringlich, nachdem die JaltaTeilung Europas und Deutschlands überwunden ist und sich Gefahren neuer Trennungen abzeichnen.
2. Exildichtung: Verbannung und Rückkehr
Briefe im Exil: Botschaften an Bertolt Brecht Der Tagesspiegel (12.4.2015) Was für eine grandiose editorische und verlegerische Leistung: Das Sammeln, die Texterstellung, die Kommentierung, die Registerarbeit – all das hat Jahre geduldiger literaturwissenschaftlicher Anstrengung gekostet, und der Verlag hat ohne Aussichten auf große Gewinne wunderbar gedruckte Bände publiziert. Thomas Mann, Hermann Broch und Bertolt Brecht waren die drei Autoren im amerikanischen Exil, auf die ständig neue, zuweilen bedrohliche Wellen einer Korrespondenzflut zukamen. Hermann Haarmann und Christoph Hesse haben die Botschaften, die Brecht in der Verbannung erreichten, zusammengestellt: etwa 1600 Briefe aus 16 Jahren, und sie ergeben (verteilt auf drei Bände) einen Umfang von zweitausend Seiten. Die Erläuterungen der beiden Herausgeber zu Namen, Daten, Begriffen, Ereignissen, die in den Briefzeugnissen erwähnt werden, machen etwa ein Viertel der Gesamtedition aus, und ohne sie wäre die Lektüre weniger ergiebig. In Zeiten einer eiligen Stotter-und-Kürzel-Kommunikation kommen einem die Dokumente gedanklich ungewohnt ernsthaft und stilistisch geradezu geschliffen vor. Das gilt auch und besonders für die Briefe von Elisabeth Hauptmann, die Brecht Anfang 1948 um Rat bittet in Sachen Remigration aus den USA nach Europa. Die meisten der Nachrichten, die Brecht zugestellt erhielt, kamen von gleichgesinnten Schriftstellerkollegen wie Lion Feuchtwanger, Johannes R. Becher, Arnold Zweig, Fritz Erpenbeck und Wieland Herzfelde, doch zuweilen auch von Antagonisten wie Thomas Mann. Mann schickte Brecht, der ihm geschrieben hatte, Ende 1943 eine längere Mitteilung darüber, dass er wohl falsch über seinen Vortrag „The New Humanism“ unterrichtet worden sei: Er habe nicht behauptet, dass alle Deutschen Nationalsozialisten seien. „Nicht Deutschland oder das deutsche Volk“, schreibt Thomas Mann ihm, „sei zu vernichten“, sondern „die schuldbeladene Machtkombination von Junkern, Militär und Großindustrie, die für zwei Weltkriege die Verantwortung trage.“ Offenbar wollte der großbürgerliche Autor hier eine Position beziehen, die ihn nahe an die Vorstellungen seines Briefpartners rückte. Von den Theaterleuten sind Erwin Piscator und Herbert Ihering zu nennen, von den Verlegern vor allem Fritz Wreede und Peter Suhrkamp, von den Gesellschaftskritikern Walter Benjamin. Einmal meldet sich auch Hannah Arendt bei Brecht: 1946 fragte sie ihn, ob er wisse, an wen sie sich wenden könne wegen der Rechte für die Edition eines von ihr geplanten Bandes mit Essays von Walter Benjamin. Unter den Musikern schrieben an Brecht nach wie vor Kurt Weill und Hanns Eisler; von den Malern blieb George Grosz mit dem Autor in Kontakt. Der
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Herausgeber Hermann Haarmann schafft es in seiner fünfzig Seiten langen Einführung, die Dokumente jeweils den biografischen Stationen von Brechts Exil zuzuordnen, die literaturtheoretischen Diskussionen – etwa die Expressionismusdebatte – in Erinnerung zu rufen, das Festhalten Brechts am Konzept des epischen Theaters zu vergegenwärtigen und die sich ändernden Beziehungen zu den Korrespondenzpartnern verstehbar zu machen. Es sind „Briefe aus der Verbannung“ , wie man auf Deutsch Ovids „Tristia: Epistolae ex ponto“ nennt. Im Brief mischen sich zwar Sachliches und Persönliches, aber er ist unbestritten die subjektivste Form schriftlicher Kommunikation. Die persönliche Seite wird in den Exilbriefen noch verstärkt. Hier versichert man sich der Freundschaft und der Solidarität des Adressaten. Erwin Piscator etwa teilte 1939 aus dem New Yorker Exil Brecht mit, wie sehr er die früheren Gespräche vermisse und erwähnte mit keinem Wort die alte Gegnerschaft. Piscator beschreibt seine Vereinsamung in einem New York, das so gut wie nichts mit der Kultur im Berlin der 1920er Jahre gemein habe. Es ist ein Klageton, der tatsächlich an Ovid erinnert. Bernard von Brentano schilderte im Schweizer Exil einige Jahre zuvor sarkastisch die Lage in der Sowjetunion. Die Stalinistischen Prozesse hätten dazu geführt, dass die sozialistischen Parteien sich verhielten „wie dressierte Hunde, welche jede fremde Gewalt anbellen, aber vor der eigenen winseln.“ Brechts Leben im Exil (besonders in den USA) fehlten jene Erfolge, die er während der Weimarer Republik (vor allem mit der „Dreigroschenoper“) in Deutschland errungen hatte. Das lag nicht zuletzt an seiner Auffassung vom epischen Theater. In Amerika hatte man es mit Schauspielern zu tun, in deren Ausbildung gerade die von Brecht bekämpfte Einfühlung wichtig war. Auch bei den Exilanten in der Sowjetunion kam Brecht mit den Vorstellungen vom epischen, d.h. auf intellektuelle Distanz gehenden Theaters nicht an. Das ist Fritz Erpenbecks Briefen zu entnehmen, der auch als Chefdramaturg der Berliner Volksbühne nach dem Krieg sich von Brecht nicht überzeugen ließ. Er blieb Anhänger des überlieferten „dramatischen“ Theaters. Nur am Zürcher Schauspielhaus hatte Brecht in den 1930er Jahren seine Vorstellungen unter dem Regisseur Leopold Lindtberg annähernd verwirklichen können. In den USA war immerhin die Aufführung des „Galileo Galilei“ mit Charles Laughton für den Dramatiker der Beweis, dass auch hier sein Konzept verwirklichbar sei. Natürlich gab es zuweilen auch unfreundliche Korrespondenzpartner. Den Briefwechsel mit seinen Verlegern fand Brecht anstrengend. Fritz Wreede vom Theaterverlag Felix Bloch Erben wies ihn im Juni 1933 darauf hin, dass er sich nicht mehr wie früher „auf unsere Kosten ein sehr luxuriöses“ Leben gestatten könne. Das wusste Brecht auch selbst, der gleich nach dem Reichstagsbrand aus Berlin nach Prag geflohen war. In der Nachkriegszeit vertraute der Autor sein
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Werk dem neuen Suhrkamp Verlag an, bestand aber darauf, dass der Verleger die Erlaubnis zur Aufführung an die Verpflichtung auf die Brechtsche Ästhetik binden solle: keine leichte Aufgabe. Brechts Ziel war damals „Ideologiezertrümmerung“, eine Entwertung und Auflösung nationalsozialistischer Überzeugungen. Carl Zuckmayer, dessen Stück „Des Teufels General“ außerordentlich erfolgreich war, ging ihm da nicht weit genug. Die hier publizierten Dokumente sind Reflexe historischer Erfahrung und Imaginationen der Hoffnung auf bessere Zeiten wie sie auch in Brechts spätem Gedicht „An die Nachgeborenen“ aufscheinen: „Gedenkt/ Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht/ Auch der finsteren Zeit/ Der ihr entronnen seid. [...]/ Gedenkt unsrer/ Mit Nachsicht.“ Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933–1949). Band 1: 1933–1936; Band 2: 1937– 1945; Band 3: 1946–1949. Hg. v. Hermann Haarmann und Christoph Hesse. Berlin und Boston: De Gruyter, 2014.
Fluchtpunkt Hollywood: Schriftsteller und Filmindustrie Die Welt/Literarische Welt (12.1.2013) Die Einleitung der Herausgeber liest sich wie ein Filmskript über die Rettung jüdischer Schriftsteller während der Nazizeit. Dabei wird Paul Kohner die Hauptrolle zugedacht und für seinen Mentor Carl Laemmle ist – wie es Prominenten zusteht – ein Cameo-Auftritt vorgesehen. Laemmle wurde 1912 zum legendären Gründerboss der Universal Pictures und damit zum Vater der Traumfabrik Hollywood. Seine Kindheit und Jugend hatte er im schwäbischen Laupheim als Mitglied der dortigen jüdischen Gemeinde (der größten Württembergs) verbracht. Mit siebzehn Jahren wanderte er 1884 in die Vereinigten Staaten aus. Er war noch keine vierzig, als er sein Geld, das er sich als Bürovorsteher verdient hatte, im jungen Filmgeschäft investierte. Nach Hitlers Regierungsantritt verhalf er mit seinen Bürgschaften über dreihundert jüdischen Familien aus Deutschland, vor allem aus Laupheim, zur Emigration in die Vereinigten Staaten. Laemmle hatte 1920 bei einer Europareise den Prager Journalisten Paul Kohner kennengelernt, der sich für alles, was den Film betraf, interessierte. Ein Jahr später folgte Kohner der Einladung nach Hollywood, und Laemmle ernannte ihn zum Chef der EuropaAbteilung seines Studios. 1938 starb Laemmle. Paul Kohner machte sich im gleichen Jahr selbständig und gründete die Paul Kohner Talent Agency. Damals war er sechsunddreißig Jahre alt. Er vermittelte Autoren und Autorinnen von Filmskripts, Schauspielerinnen und Schauspieler
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sowie Regisseure an die führenden Filmstudios und war damit so erfolgreich, dass er der Agent unter anderem von Marlene Dietrich, Greta Garbo, Liv Ullmann, Maurice Chevalier, Erich von Stroheim, Billy Wilder und Ingmar Bergman wurde. Die Hilfsaktionen seines Mentors setzte er fort, indem er – ebenfalls 1938 – den „European Film Fund“ etablierte. Er sorgte dafür, dass die Filmstudios Arbeitsverträge für Verfolgte aus Europa abschlossen, damit sie Visa zur Einreise in die USA ausgestellt bekamen. Dazu fanden sich die meisten Produzenten bereit und unterschrieben auf ein Jahr befristete Abmachungen über ein Gehalt von hundert Dollar pro Woche. Sie wussten durchaus, dass im Endeffekt sich nur wenig Verwertbares unter den abgelieferten Entwürfen, Synopsen, Szenarien, Handlungsschemata, Erzählungen und Skripts finden würde. Kohner war noch zu Zeiten der Donaumonarchie in Böhmen aufgewachsen und hatte Freunde und Bekannte unter den deutschsprachigen Schriftstellern in Prag, Budapest und Wien. Als Hitler 1938 Österreich annektierte, wandten sich viele Autoren – besonders jüdischer Herkunft – in ihrer Not an ihn, und das war zwei Jahre später, nach dem Fall Frankreichs, nicht anders. Als Rettungsmaßnahme war der European Film Fund ein großer Erfolg, und Paul Kohner kann auf ein ehrendes Gedenken rechnen, wozu der vorliegende Band, der eigentlich seinen Namen im Titel hätte führen müssen, beiträgt. Aber sind die hier versammelten Filmerzählungen es wert, publiziert zu werden, auch wenn sie zum Teil von berühmten Autoren wie Heinrich Mann, Klaus Mann oder Joseph Roth geschrieben wurden? Den Beitrag der exilierten Schriftsteller zum amerikanischen Film sollte man nicht unterschätzen. Die Herausgeber weisen in ihrer kenntnisreichen filmhistorischen Einleitung darauf hin, dass Autoren wie Alfred Neumann, Friedrich Torberg, George Froeschel, Jan Lustig, Walter Reisch, Fritz Kortner und Bertolt Brecht dem Anti-Nazi-Film Hollywoods zündende Ideen lieferten, und dass Salka Viertel, Gina Kaus, Victoria Wolff, Hans Kafka und Curt Siodmak mit ihrem Witz den amerikanischen Unterhaltungsfilm belebten. Aber bei den hier vorliegenden Dokumenten aus der Sammlung „Paul Kohner Agency“ in der Deutschen Kinemathek in Berlin handelt es sich ausschließlich um abgelehnte Texte. Filmerzählungen sind etwas anderes als Novellen und Kurzgeschichten, die nicht im Hinblick auf eine künftige Umsetzung in das andere Medium geschrieben werden. Heinrich Mann oder Joseph Roth hätten Ausgefeilteres geliefert, wären sie um Novellen für literarische Zeitschriften gebeten worden. Die skeptische Vorstellung von dem, was Hollywood kann und erwartet, beeinflusste das ästhetische, ethische und zeitkritische Engagement der Autoren. Einige der bekanntesten Erzähler waren davon überzeugt, dass sich Hollywood nicht für ihre Arbeiten interessieren würde. Alfred Döblin, der in dem vorliegenden Band nicht vertreten ist (und von dem Skripts akzeptiert und verfilmt wurden), brachte den Pessimis-
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mus auf den Punkt: „Die ‚storys‘, die man für den Film schreibt, werden wohl kaum hier überhaupt gelesen; es ist eine fantastische Überproduktion darin, au fond hoffnungslos für outsiders wie wir.“ Die hier gedruckten Filmtexte sind nur selten miserabel, aber sie reichen qualitativ nie an jene Erzählwerke heran, die von den Autoren in den 1930er oder 1940er Jahren publiziert wurden. Heinrich Manns Story „Das blinde Schicksal“ ist von der Komplexität seines Gesellschaftsromans „Empfang bei der Welt“ weit entfernt; Klaus Manns Exposé „The United States of Europe“ schneidet im Vergleich mit „Mephisto“ nicht gut ab; und Joseph Roths Filmnovelle „Der letzte Karneval von Wien“ hat nichts vom geschichtlichen Anspielungsreichtum der „Kapuzinergruft“. Heinrich Manns Entwurf gehört zu den im Exil häufig anzutreffenden antifaschistischen Texten mit satirischem Einschlag. Die Nazifiguren Hitler, Göring, Goebbels und Himmler, die hier Namen und Titel wie „der Herrscher“, „Marschall Scherz“, „Staatsrat Hacke“ und „Scharführer Schreck“ tragen, bewerkstelligen am Ende des verloren gehenden Krieges den Zusammenbruch ihres eigenen Gewaltsystems. Inzwischen läuft die nach außen gerichtete Mordmaschinerie erneut (wie schon 1934) in den eigenen Reihen an. Ihr erstes Opfer ist Hacke, den der Herrscher erschießen lässt. Die große Konfrontation zwischen Herrscher und Marschall bahnt sich an und der Scharführer lauert auf den Ausgang, der vielleicht kurzfristig zu seinen Gunsten ausfallen wird. Mit anderen Figuren wie dem „Magnaten Lasalle“ oder der „Spionin Thusnelda Lichterloh“ wird auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte von unterschiedlicher Bedeutung angespielt, nämlich auf Fritz Thyssen und Stefanie Hohenlohe, die sich nicht mehr wie früher auf dem herrscherlichen Schachbrett herumschieben lassen. Anders schauen die antifaschistischen Absichten aus, die einem Text von Heinrich Manns Neffen Klaus Mann zugrunde liegen. Er möchte Hollywood für das Europathema gewinnen. Am Beispiel der verfeindeten Brüder Bruno und Ernst (sie erinnern an Bruno und Ernst Salomon) führt er zwei gegensätzliche deutsche Einstellungen vor Augen. Bruno vertritt eine postnationale Idee von der Integration der künftigen „Vereinigten Staaten von Europa“; Ernst aber propagiert eine nationalistische Ideologie, nach der Europa nur als künftiger Machtbereich deutscher Dominanz vorstellbar ist. Ernst ist jedoch entsetzt über die Rechtsbrüche, die antisemitische Verfolgungspolitik und die Kriegstreiberei während der Hitler-Diktatur, womit seine Annäherung an die Position Brunos beginnt. Klaus Mann nimmt hier das Motto vom „europäischen Deutschland“ vorweg, mit dem sein Vater Thomas Mann sich wenige Jahre später gegen Hitlers Ziel vom „deutschen Europa“ wenden wird. Als Klaus Mann sein Manuskript 1939 an Paul Kohner schickte, war angesichts der Nazipolitik die Position Brunos unglaubwürdig geworden. Nicht im Amerika der Gegenwart, sondern im Deutschland der späten zwanziger Jahre hätte der Film Wirkung entfalten können.
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Und Joseph Roth? Seine Feuilletons in der „Frankfurter Zeitung“ und der „Literarischen Welt“ zeigen, dass er sich gut in der Literatur- und Filmszene auskannte. Alteuropäer, der er war, traute er sich aber eine eigenständige Kinoerzählung fürs amerikanische Publikum nicht zu. Er zog im Pariser Exil seinen Kollegen und Schicksalsgenossen Leo Mittler aus Wien zu Rate, denn der war der Vertreter von Paramount Pictures in Frankreich. 1938 bastelten sie gemeinsam an zwei Erzählungen mit altösterreichischen Sujets. In „Der letzte Karneval von Wien“ kommt New York vor, aber zunächst als negativer Gegensatz zu einem Wien, das offenbar auch im Februar 1938 noch als nostalgisches Rückzugsgelände gilt. Da begegnet man einer monarchistisch gesonnenen alten Aristokratin als Seele eines konservativen Zirkels und einem jungen Wiener Dirigenten. Der hat in Amerika Karriere gemacht, ist dort aber psychisch und physisch erkrankt. Beim Aufenthalt in der österreichischen Hauptstadt erholt er sich von seinen Depressionen. Die kaisertreue Adlige stellt die Verbindung zur vergessenen Geliebten des Dirigenten her, von der er, ohne dass er es wusste, einen inzwischen zwölf Jahre alten Sohn hat: ebenfalls ein Musikgenie, versteht sich. Der Dirigent gewinnt beim Karnevals-Walzer in einem netten Maskeradenspiel die verlorene Geliebte zurück. Bald nach dem Aschermittwoch von 1938 rücken Hitlers Truppen in Wien ein. Die doppelmonarchische alte Dame rettet die Ehre ihres Standes durch Selbstmord, und eine bis dahin unbekannte Komposition Beethovens mit dem Titel „An die Freiheit“ geht in Flammen auf: ebenfalls ein Opfer der einfallenden Barbaren. Der an Alt-Wien gesundete Dirigent aber entdeckt erneut die Vorteile Amerikas, wohin er sich in letzter Minute samt genialem Sohn und künftiger Gattin absetzt. Zwanzig Jahre später hätte man aus „Der letzte Karneval von Wien“ im Schlepptau des Erfolgs der „Trapp-Familie“ (1956) einen europäischen Kassenschlager machen können. Noch konstruierter ist die zweite Filmerzählung, die sich dem team work von Roth und Mittler verdankt: In „Kinder des Bösen“ verliebt sich der Sohn eines fiktiven Adjutanten des Erzherzogs Franz Ferdinand in die Schwester des Sarajewo-Attentäters, der im Juni 1914 (so will es das Skript) nicht nur den Thronfolger, sondern auch dessen Adjutanten erschossen hat. Die verfeindeten Familien von Opfer und Täter schwören einander Rache, und man kann sich das tragische Romeo-und-Julia-Schicksal der Liebenden zwischen solchen Fronten ausmalen. Kohner hielt auch dieses Manuskript unter Verschluss, weil er offenbar daran zweifelte, einen Shakespeare unter den Regisseuren der HollywoodStudios zu finden, der aus der trivialen Vorlage einen Welterfolg hätte zaubern können. Zuweilen machten es sich Berühmtheiten wie Vicki Baum zu leicht. Sie kramte in Hollywoods Traumkiste und zog ein paar populäre Klischees heraus, die sie auf zwei oder drei Seiten ausbreitete und mit Ausrufezeichen-Titeln versah wie „Der große Ausverkauf“ und „Heute Nacht gehörst du mir“. Auch Raoul
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Auernheimers „Gestatten, Hitler“, Ralph Benatzkys „Das Hündchen“ und Alfred H. Ungers „Die Insel der Liebenden“ waren missglückte Versuche im Genre der leichten Unterhaltung. Verständlich, dass solche Texte unmittelbar in der Ablage als dem Ideenfriedhof begraben wurden. Von einem Engel, der beim Flug zur Erde eine Bruchlandung macht und sich dabei in einen irdischen Flugzeugpiloten verwandelt, erzählen in der Manier des magischen Realismus die Ko-Autoren Luis Trenker und Massimo Bontempelli. Es ist eine Gemeinschaftsarbeit, die blass, abstrakt und weltfremd wirkt. Auch die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte förderte selten filmisch Brauchbares zutage. Bei Julius Marx wird der Heroismus eines „Juden im Krieg“ (so der Titel) zwischen 1914 und 1918 verherrlicht. Der Protagonist versteht nicht, dass er als deutscher Patriot und dekoriert mit militärischen Tapferkeitsmedaillen zwei Jahrzehnte später von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen wird. Aber Filme wie „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque waren gerade wegen ihrer Kritik am überholten Kriegsheroismus in Amerika erfolgreich gewesen. Schade war es um die gekonnt geschriebene Synopsis „Straße des Propheten Hiob Haus no. 5“ von A. Ben-Ikar (Viktor Bauer). Sie handelt vom Schicksal jüdischer Auswanderer nach Palästina im Jahr 1939. Geschildert wird eine dramatische Odyssee von Hitlerflüchtlingen, wie sie sich zur Zeit des britischen Palästina-Mandats auf Schiffen im Mittelmeerraum mehrfach wiederholte. Die vergebliche Flucht einer Schauspielerin vor Goebbels und Hitler schildern Fritz Kortner und Josef Than in „Hitlers Frauen“. Der „Führer“ wird hier als eine dämonische Figur porträtiert, der es vor allem darum geht, das Leben von Frauen zu ruinieren, wobei ihm der Propagandaminister Schauspielerinnen zuführen soll. Die melodramatische Erzählung ist von einer solchen propagandistischen Schlichtheit, dass man Kohners Ablehnung versteht. Im Gegensatz dazu schrieb der bereits erwähnte Leo Mittler zusammen mit dem amerikanischen Filmprofi Jimmy Bloodworth die Geschichte „Das Wunder“. Die handelt von den Radio-Evangelists in den Vereinigten Staaten. Praktizierte christliche Nächstenliebe und der Missbrauch von Religion in den profitablen Predigersendungen werden hier einander entgegengesetzt. Man bräuchte nach den Skandalen der TV-Evangelists in den 1990er Jahren die Erzählung nur wenig umzuschreiben, um daraus einen Film zu machen, der beim heutigen amerikanischen Publikum ankäme. All dies sind relativ rasch geschriebene, nicht für ein Lesepublikum gedachte Geschichten. Sie sollten lediglich Vorlagen sein, aus denen die kreative Fantasie von Drehbuchautoren, Regisseuren und Schauspielern Filme hätten schaffen können. Das ist nie passiert. Die Filmerzählungen wurden von Kohners Agentur aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt: Einmal kamen sie zu spät, ein andermal zu früh, manchmal wurden sie als übertrieben amerikanisch, zuweilen als
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penetrant europäisch eingestuft. Wer sich fürs Auf und Ab der Filmgeschichte und die zuweilen irritierenden Schnittstellen von Literatur und Kino interessiert und wer vor allem an den Exilschicksalen von jüdischen Autoren und Nazigegnern Anteil nimmt, der wird den Band gerne lesen. Die ausführlichen Kommentare der Herausgeberin und des Herausgebers tragen zur Attraktion dieser Sammlung entscheidend bei. In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood von Vicki Baum, Ralph Benatzky, Fritz Kortner, Joseph Roth sowie Heinrich und Klaus Mann u.a. Hg. v. Wolfgang Jacobsen und Heike Klapdor. Übersetzungen aus dem Englischen von Gesine Schröder. Berlin: Aufbau, 2013.
Religion im Exil: Der Unitarier Thomas Mann Die Welt/Literarische Welt (1.12.2012) Der bewährte Thomas Mann-Experte Heinrich Detering hat eine Entdeckung gemacht. Was noch keinem Biografen aufgefallen ist, weist er unwiderlegbar nach: Dass nämlich der prominenteste deutsche Dichter im amerikanischen Exil zu einem aktiven Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Unitarier wurde. Und er zeigt auch, wie Thomas Mann deren religiöse Auffassungen schon in den 1920er und 1930er Jahren teilte, ohne dass er sie damals als „unitarisch“ bezeichnet hätte. Detering fragt sich, warum dieses Kapitel im Leben Thomas Manns bisher nicht erforscht worden ist. Vielleicht sei das Defizit der Sekundärliteratur mit der „kulturellen Indifferenz“ der Germanisten gegenüber dieser spezifisch amerikanischen Religionsform zu erklären. Es ist ein weiter intellektueller Weg, den Thomas Mann von seinen Anfängen bis zum Spätwerk zurücklegte. In den frühen Phasen seiner Entwicklung als Erzähler war er fasziniert von Richard Wagners Kunstreligion, Schopenhauers Todesmetaphysik und Nietzsches Kritik am Christentum. Aber in den „Josephs“Romanen und den vielen politischen Essays im Exil stand nicht mehr die ästhetische Seite des Religiösen im Vordergrund, sondern ihre moralische Valenz; nicht die Vergänglichkeitsidee, sondern ein innerweltlicher Humanismus; nicht die Überwindung christlicher Ethik, sondern ihre Anerkennung als Zentrum politischer Praxis. Allerdings blieben die Grenzen zwischen Früh- und Alterswerk fließend. Bezeichnend waren eher unterschiedliche Gewichtungen als krasse Gegensätze. Im Roman „Der Zauberberg“ stellte er ironisch-provokativ in Frage, was während der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg kulturkritisch tonangebend gewesen war.
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Nichtsdestoweniger gab es im Hinblick auf die politische Positionierung eine Zäsur. Weniger der Erste Weltkrieg als die Etablierung der Republik war für Thomas Mann das entscheidende politisch-soziale Erlebnis. Detering spricht zu Recht von der „Wende“, die die Rede „Von deutscher Republik“ aus dem Jahr 1922 in Manns Leben markiert. In diesem Bekenntnis zur Weimarer Verfassung war es, wo er Walt Whitman als Dichter der Demokratie feierte. Thomas Mann las den amerikanischen Autor während der 1920er Jahre in der Übersetzung von Hans Reisiger. Die Gedichtsammlung „Leaves of Grass“ mit ihrer Antizipation einer panerotischen Menschheitsverbrüderung und eines humanistisch erneuerten Christentums wirkte auf den Autor so befreiend wie inspirierend. In den essayistischen „Democratic Vistas“ Whitmans steht die Vision des selbstbestimmten, vollentfalteten Menschen im Mittelpunkt. Das ist im Werk von Ralph Waldo Emerson ähnlich. Der Zugang zu Emerson wurde dem deutschen Romancier erleichtert, fand er doch hier Individualismus- und Bildungsideen wieder, die durch Goethe beeinflusst waren. Whitman gehörte nicht der Unitarian Church an, doch teilte er viele Auffassungen dieser Religion. Emerson aber entstammte einer unitarischen Familie und hat seine frühe Prägung nie verleugnet. Ihm waren die amerikanische „Declaration of Independence“ und die „Bill of Rights“ Fundamente einer „Civil Religion“. In seinem Essay „Self-Reliance“ hat er sich gegen jeden Konformitätszwang ausgesprochen. Durch die Lektüre Whitmans und Emersons näherte sich Thomas Mann Auffassungen von amerikanischer Demokratie und Humanität, Individualismus und Menschenrecht, wie er sie dann im Exil bei den Unitariern ausgeprägt fand. Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der USA, stand dem Unitarismus nahe, und das war auch bei Abraham Lincoln der Fall. In den Vereinigten Staaten sind sowohl nach Jefferson wie nach Lincoln eine Reihe unitarischer Gemeinden benannt worden. Die Ursprünge des Unitarismus gehen auf Reformbewegungen im Europa des 16. Jahrhunderts zurück. Die erste amerikanische Kongretation wurde in Boston wenige Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg gegründet. Wie einige andere protestantische Filiationen des christlichen Glaubens in den Vereinigten Staaten ist auch der Unitarismus keine auf Einheit bedachte Bewegung oder Kirche. Es gibt zwei Hauptrichtungen: eine ältere theologische, die monotheistisch in dem Sinne ist, dass sie die Lehre von der Trinität ablehnt, sich ansonsten aber christlich nennt und auf die Bibel beruft. Daneben existiert eine neuere Richtung, die sich nicht als ausschließlich christlich versteht, sondern auch andere religiöse Weisheiten (etwa aus dem Buddhismus) aufnimmt. Beiden gemeinsam aber ist die Betonung tätiger Nächstenliebe, praktizierter Tugenden, die Christus nach den Berichten der Evangelien vorgelebt hat.
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Theologische Spitzfindigkeiten waren Thomas Manns Sache nicht. Hingegen schätzte er es, wenn sich christliche Gesinnung in soziales Verhalten, in aktive Hilfe für Mitmenschen umsetzte. Seine Abneigung gegenüber allem Dogmatismus wurde erneut deutlich, als Stefan Zweig 1936 sein Buch „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“ veröffentlichte. Das war ein historischer Roman mit antifaschistischer Tendenz. Michel Servet, der sich im 16. Jahrhundert zu theologischen Meinungen bekannte, wie sie auch die Unitarier vertreten, wird hier ein tödliches Opfer der Intoleranz von Jean Calvin. Servet hatte das Recht auf Häresie eingeklagt und wurde damit ein Gründungspatron des Unitarismus. Thomas Mann schrieb Stefan Zweig, den er bisher nicht sonderlich geschätzt hatte, einen zustimmenden Brief. Immer stärker wurde dem Autor des „Zauberbergs“ Mitte der 1930er Jahre bewusst, dass der Widerstand gegen die nationalsozialistische Ideologie vor allem aus einem religiös verankerten Humanismus kommen müsse. Entscheidender noch als die Lektüreeindrücke waren für Thomas Manns Hinwendung zur unitarischen Kirche persönliche Erfahrungen. Als Mitte 1940 Hitler Frankreich besetzen ließ, waren es Anhänger dieser Glaubensgruppe (man denke an Varian Fry), die – in Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen – Netzwerke zur Rettung von tausenden von Flüchtlingen aufbauten. Heinrich Mann und Golo Mann verdankten dem „Unitarian Service Committee“ ihr Entkommen in die USA. 1940 war Thomas Mann von Princeton nach Kalifornien umgezogen, wo er nun bis 1952 wohnte. Er nahm Kontakt auf zur First Unitarian Church of Los Angeles und machte die Bekanntschaft mit Ernest Caldecott, dem dort amtierenden Pfarrer. Caldecott war ein Vertreter der neueren Richtung seiner Kirche. Ihm ging es, wie seine Zeitschrift „The New Humanist“ zeigte, um einen integrativen Humanismus, der die Zusammenarbeit von Christen mit Andersgläubigen, vor allem mit Juden, förderte. Thomas Mann erkannte in der Unitarian Church einen humanistischen Abkömmling des Christentums, eine religiöse Gemeinschaft, die sich nicht mehr auf dogmatische Fundamente stützte. Das war eine Konfession nach seinem Geschmack. Er sorgte dafür, dass sein Enkel Frido und seine Enkelin Angelica im Frühjahr 1942 nach unitarischem Ritus getauft wurden, wobei er selbst als Pate fungierte. Nach dieser Zeremonie hielt er in seinem Tagebuch fest, dass es „die angenehmste kirchliche Erfahrung, die ich gemacht habe“, sei. Das Interesse am Unitarismus steigerte sich bei Thomas Mann noch während des folgenden Jahrzehnts. In der ersten Hälfte der 1940er Jahre nahm er durch Vortragsreisen und Radioansprachen aktiv am publizistischen Kampf gegen Hitler-Deutschland teil. 1942 veröffentlichte er das Buch „Order of the Day“, eine Sammlung seiner politischen Essays und Reden aus den letzten Jahren. Es sind Beiträge, in denen er den Zusammenhängen von Politik und Religion, von Demokratie und Christentum nachgeht und dabei häufig Ralph Waldo Emerson
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und Walt Whitman zustimmend zitiert. Detering zeigt, dass Thomas Mann in der Nachfolge seiner amerikanischen Vorbilder selbst zum poet of democracy wurde. Nie war Thomas Manns Einstellung gegenüber Amerika so positiv wie 1945 und 1946: Der Krieg gegen Hitler war durch die USA entschieden worden, und der Kalte Krieg hatte noch nicht begonnen. Zu Thanksgiving 1946, als sich Studenten mit Fragen an ihn wandten, formulierte der Autor eine Art politisches Credo, das in seinen Grundzügen mit denen des Unitarismus übereinstimmt. Da wird die „diesseitige Bestimmung des Menschen“ betont und die „Berufung zu persönlicher und sozialer Selbstvervollkommnung“. Auf diesen Überzeugungen gründe sich sein Glaube an ein liberales und kosmopolitisches Amerika, das man, wie es schon die Puritaner gesehen hätten, als eine Art von „Gelobtem Land“ betrachten könne. Daher seien die USA nicht irgendeine Nation, sondern stünden für einen postnationalen Kosmopolitismus mit einer weltpolitischen Aufgabe. Dieser Optimismus lag schon 1940 seiner Arbeit als Spiritus Rector an dem Projekt „The City of Man“ zugrunde, als er gemeinsam mit einer Reihe prominenter amerikanischer Intellektueller und europäischer Exilanten Pläne für eine Weltdemokratie nach dem Krieg schmiedete. Einer seiner Mitarbeiter dabei war übrigens der Unitarier Lewis Mumford. Detering bestimmt die Stellung Thomas Manns im Spektrum des unitarischen Denkens in den USA und kommt zu dem Schluss, dass die First Unitarian Church of Los Angeles eine neue „humanistische Religiosität“ anstrebte, während Thomas Mann einen neuen „christlichen Humanismus“ vertrat. Der Autor betonte die Christlichkeit seines Humanismus und stand damit der älteren Richtung des Unitarismus näher als der neueren. Das gilt für die theologische Position. Was die Praxis eines gelebten Unitarismus betrifft, war er Anhänger beider Richtungen, die im Krieg an publizistischen Aktionen gegen den Nationalsozialismus teilnahmen und während der McCarthy-Ära die Übergriffe des House Committee on Un-American Activities bloßstellten. Ein zuverlässiger Mitstreiter Thomas Manns war dabei Stephen Fritchman, der Nachfolger Caldecotts im Amt des Pfarrers an der First Unitarian Church of Los Angeles. Er wurde zu einem Freund des Autors im Exil. Gemeinsam protestierten beide 1947 öffentlich gegen die Verhaftung der „Hollywood Ten“. Die Filmstudios entließen hunderte von Schauspielern und Regisseuren, die des „Kommunismus“ verdächtigt wurden, und diese Hexenjagd zwang auch so berühmte Stars wie Charlie Chaplin zur Remigration nach Europa. Als 1950 der Abgeordnete Harold Levering in Kalifornien ein Gesetz durchbrachte, das den religiösen Einrichtungen einen anti-kommunistischen Loyalitätseid abverlangte, nahm Stephen Fritchman – zur Freude von Thomas Mann und unterstützt durch zahlreiche andere Unitarier – den Kampf gegen diese Vorschrift auf. Er konnte sich dabei auf das in der amerikanischen Konstitution verbriefte Recht der Gewissensfreiheit und auf die dort eben-
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falls verankerte Trennung von Kirche und Staat berufen. Damit hatte er Erfolg, wenn es auch acht Jahre dauerte bis der sogenannte „Levering Act“ vom Supreme Court der Vereinigten Staaten als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Als Leitmotiv taucht in Deterings Darstellung Lessings „Ringparabel“ aus dem „Nathan“ auf. Religiöse Toleranz und die Überzeugung, dass sich der Wert einer Religion primär an den Taten ihrer Anhänger ablesen lasse, war der eigentliche Grund für Thomas Manns Mitgliedschaft in der unitarischen Kirche. 1951 wurde Thomas Mann als „Trittbrettfahrer“ des Kommunismus in den USA diffamiert. In Fritchman fand er einen Verteidiger, der ihm im März jenes Jahres die Kanzel der First Unitarian Church of Los Angeles zur Verfügung stellte, damit er dort seine politisch-ethischen und religiös-humanistischen Überzeugungen darlegen könne. Der Autor nahm das Angebot an und bekannte vor über achthundert Zuhörern, dass er zwar seiner Herkunft nach Lutheraner sei, dass er aber noch nie ein so kämpferisches Interesse an einer religiösen Gruppe entwickelt habe wie an der unitarischen. Als Thomas Mann ein Jahr später die USA verließ, um in die Schweiz zurückzukehren, riss der Kontakt zu den kalifornischen Unitariern nicht ab, denn er verstand sich weiterhin als Mitglied ihrer Kirche und unterstützte sie finanziell. Im August 1955 starb der Autor in Zürich. Fritchman hielt in Los Angeles eine Trauerrede, in der er den deutschen Literatur-Nobelpreisträger mit den Propheten des Alten Testaments verglich. Die aufgeklärte Toleranz und die umgesetzte christliche Ethik der Unitarier waren für Thomas Mann Ausdruck einer amerikanischen Demokratie, der er eine internationale Ausstrahlung zutraute. Heinrich Detering legt mehr vor als eine eingängig geschriebene und vorzüglich recherchierte germanistische Studie: „Thomas Manns amerikanische Religion“ ist eine neuartige kulturgeschichtliche Arbeit, die einen Einblick in die Rolle der Unitarier im Jahrhundert Amerikas bietet und auch die Gründe dafür erhellt, warum der Repräsentant des literarischen Deutschlands im Exil sich dem Unitarismus so eng verbunden fühlte. Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Mit einem Essay von Frido Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.
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Der Dichterfürst in Amerika: Thomas Mann Die Welt/Literarische Welt (13.8.2011) Biografisch-zeithistorische Studien wie das neue Thomas Mann-Buch von Hans Rudolf Vaget haben in der Germanistik Seltenheitswert, denn hier liegt ein Buch vor, das sich nicht nur an den Kreis der literaturwissenschaftlichen Experten wendet. Die Monographie über die vierzehn Jahre im amerikanischen Exil enthält viele neue Details aus dem Leben des Romanciers und eine genaue Nachzeichnung seiner politischen wie literarischen Entwicklung. Der elegante Erzählstil des verehrten Meisters ist nicht ohne Einfluss auf die Darstellungskünste des Germanisten geblieben, der aus seiner Bewunderung für Leben und Werk Thomas Manns kein Geheimnis macht. Vaget emigrierte vor vier Jahrzehnten in die USA, wo er lange am Smith College in Northampton, Massachusetts, deutsche Literatur und Kultur lehrte. So ist er mit den Besonderheiten des Landes vertraut und kann bei der Vergegenwärtigung der Exilstationen Thomas Manns deren Bedingungen und Umstände anschaulich kontextualisieren. Die auf gründlichen Archivarbeiten basierenden biografischen Darstellungen wie die historischen Einzelanalysen (samt Illustrationen) verdienen höchstes Lob. In drei Teilen werden jeweils unterschiedliche Konstellationen beschrieben. Sie haben erstens mit Annäherungen, zweitens mit Auseinandersetzungen und drittens mit Distanzierungen zu tun, die den Komplex amerikanischer Erfahrungen des Exilautors betreffen. Als Hitler im Frühjahr 1938 Österreich annektierte, befand sich Thomas Mann auf einer Vortragsreise in den USA. Er hatte damals noch in der Schweiz sein Domizil, entschloss sich aber wegen der abzusehenden militanten Expansion des nunmehrigen „Großdeutschen Reiches“ in die USA zu emigrieren. Er betrachtete damals Amerika als ein „kosmopolitisches Universum“, in dem er publizistisch gegen Hitler Krieg führen könne. Das tat er vor allem durch seine Radiosendungen „Deutsche Hörer“, die zwischen 1940 und 1945 ausgestrahlt wurden. Als er im September 1938 mit dem Schiff New York erreichte und ihn amerikanische Journalisten über Deutschland befragten, war die stolze Antwort: „Wo ich bin, ist Deutschland“. Das war eine Replik, die in wenigen Worten seine Vorstellung von zwei unterschiedlichen Vaterländern ausdrückte: von einem üblen Hitler-Deutschland und einem „anderen“ oder „besseren“ bzw. „eigentlichen“ Deutschland im Exil, als dessen Repräsentant er sich sah und – wenn auch nicht uneingeschränkt – gesehen wurde. In Thomas Manns Augen war der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt eine politische Lichtgestalt, fast schon eine literarische Metapher jenseits politischer Kritik, die er – wie den „gesegneten“ Joseph seiner RomanTetralogie – mit einer Verehrungsgloriole umgab. Die Sozial- und Arbeitsbe-
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schaffungs-Programme des New Deal fanden die Zustimmung des Autors, aber vor allem erkannte er in Roosevelt, den er einmal „Rollstuhl-Cäsar“ nannte, den einzigen Politiker, der in der Lage sein würde, die kriegerische Niederlage Hitlers herbeizuführen. Dem Romancier war es vergönnt, Roosevelt drei Mal zu treffen. Nicht, dass es zu einem Meinungsaustausch gekommen wäre, aber dem Exilautor war es wichtig zu wissen, dass der Präsident in ihm einen Gesinnungsgenossen sah, dass er bis in die höchste Staatsebene hinein eine Anerkennung fand, die sich in jeder Hinsicht unterschied von dem Hass und der Verfolgungswut, die ihm in Hitler-Deutschland entgegengeschlagen war. In seinem Roman „Joseph, der Ernährer“ trägt der Protagonist, der unschwer als „New Dealer“ zu erkennen ist, Züge des amerikanischen Politikers. Auch öffentliche Anerkennung bedarf der Organisation. Thomas Mann verdankte seine Erfolge in den USA bis zu einem hohen Grad der prominenten Journalistin Agnes E. Meyer. Sie entstammte einer deutsch-amerikanischen Familie und war mit dem jüdischen Herausgeber der einflussreichen Tageszeitung „The Washington Post“ verheiratet. Sie hatte sich – man unterschätze nie die Macht der Literatur – nach der Lektüre der „Joseph“-Romane, die sie im Original lesen konnte, in den Romancier verliebt. Obgleich der für Frauenaffären nicht zu haben war und daher konkrete Avancen abwies, blieb sie ihm zugetan und agierte für ihn hinter den Kulissen von Wissenschaft, Literatur und Politik. Und das tat sie, obwohl Thomas Mann sich öffentlich zu Roosevelt und den Plänen der Demokraten bekannte, sie jedoch Anhängerin der Republikanischen Partei und erklärte Gegnerin des Präsidenten war. Ihre Loyalität honorierte der Autor, indem er gleich zwei Romanfiguren Züge seiner Wohltäterin verlieh: Vaget weist auf die Ähnlichkeiten zu Thamar („die Entschlossene“) in „Joseph, der Ernährer“ und zu Frau von Tolna („die Unsichtbare“) im „Doktor Faustus“ hin. Eine schöne kulturhistorische Vignette gelingt Vaget mit dem Kapitel „Unterwegs in Amerika“. Da wird Thomas Mann bei seinen langen Eisenbahnfahrten im luxuriösen „Pullman als zweitem Zuhause“ beobachtet. Zwischen 1938 und 1943 unternahm der Autor fünf große Vortragsreisen durch die Vereinigten Staaten, in denen er vom kommenden Sieg der Demokratie und von der künftigen Niederlage der faschistischen Diktaturen sprach. Thomas Mann galt als der bedeutendste lebende Autor überhaupt, und man war gewillt, große Summen für seine Vorträge zu zahlen. Hier wie bei den vielen Ehrendoktoraten (Princeton, Columbia, Harvard, Yale etc.) hatte Agnes Meyer nicht selten ihre Hand im Spiel. Als Thomas Manns Romane durch den Book of the Month Club vertrieben wurden, konnte er sich wegen der Bestseller-Auflagen als Günstling der Götter betrachten, dem es nach Vertreibung und Flucht auch im Exil an nichts mangelte. Anfänglich residierte er in Princeton, wo ihm Agnes Meyer eine UniversitätsStelle als „Lecturer in the Humanities“ mit geringen Verpflichtungen und gutem
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Salär vermittelt hatte. Dann zog es ihn nach Kalifornien, wo man sich schon deswegen wohlfühlte, weil vieles an die französische Riviera erinnerte. Die Nähe Hollywoods führte zu Kontakten mit den Bossen der großen Studios. Beinahe wäre es zu Verfilmungen seiner Joseph-Romane gekommen (Robert Montgomery war schon als Darsteller vorgesehen), aber dann zerschlug sich der Plan, was seine Gründe hatte. Mit dem Beginn des Kalten Krieges im Jahr 1947 wurde die Kommunismus-Hysterie in den USA immer unerträglicher. Thomas Mann – seit einigen Jahren US-Staatsbürger – musste einsehen, dass „sein“ Roosevelt-Amerika nun Geschichte war. Er wurde observiert, fiel unter den Verdacht, sich „unamerikanisch“ zu verhalten, wurde in der Presse als ehemals deutscher Nationalist angegriffen (man kramte die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ hervor), vor allem aber sah man in ihm einen „nützlichen Idioten“ des Weltkommunismus. 1952 ließ er die Koffer packen und ging in die Schweiz. Auch die öffentliche Auseinandersetzung mit den selbsternannten Wortführern der Inneren Emigration waren für ihn deprimierend. Immer mehr rückte er von der Zwei-Deutschland-These ab. So konnte es auch mit Walter von Molo, Frank Thiess und Otto Flake keine Verständigung geben, denn die beanspruchten – bestimmt nicht zu Recht – für sich als Vertreter der „Inneren Emigration“, das „andere Deutschland“ während der Naziherrschaft sogar auf noch überzeugendere Weise vertreten zu haben als die Schriftsteller im Exil. Abschließend versucht Vaget klar zu machen, dass Thomas Mann mit seiner Einschätzung des Nationalsozialismus, des Holocaust und der deutschen Verantwortung seiner Zeit voraus war. Heute seien dessen Positionen unter Historikern und im Selbstverständnis der Deutschen konsensfähig. Denn erstens habe der Autor den Nationalsozialismus nicht für einen Betriebsunfall in der Entwicklung Deutschlands gehalten, zweitens habe er den Glauben an ein „gutes Deutschland“ zur Chimäre erklärt, drittens habe er die Zerstörung des Landes im Luftkrieg nicht als fremdverschuldet verstanden („wer Wind sät, wird Sturm ernten“), und viertens habe er die uneingeschränkte Kenntnisnahme von Krieg und Rassenpolitik gefordert sowie den Kampf gegen die Leugnung von Holocaust und Genozid als die Voraussetzung einer möglichen Aussöhnung mit den Verfolgten begriffen. Was die beiden letzten Punkte betrifft, ist Vaget zuzustimmen, aber im Hinblick auf die ersten zwei Thesen ist doch zu berücksichtigen, dass Thomas Mann in seiner Meinung oft schwankte. Das gilt besonders für seine Sicht des Widerstands gegen Hitler. Der Autor hatte eine ziemlich genaue Kenntnis vom studentischen Protest der Weißen Rose, wusste aber zu wenig über die Hintergründe des 20. Juli, den er – wie viele Exulanten – lediglich als verspäteten Putsch der Militärs einschätzte. Die Figur des Erzählers Zeitblom im „Doktor Faustus“ zeigt wiederum, dass Thomas Mann die Idee des „anderen Deutschlands“ nie ganz
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aufgegeben hat. Vaget gibt zu, dass der Exilautor hier den wirklichen (nicht den vorgeblichen) Repräsentanten der „inneren Emigration“ ein Denkmal gesetzt hat. Alle großen Bücher fordern neben Zustimmung auch Kritik heraus. Thomas Mann war 1939 der Initiator und Schirmherr eines „Committee on Europe“, für das er mit dem Prestige des Nobelpreisträgers führende amerikanische Intellektuelle und Exulanten aus Europa gewann. Der Plan war eine Gemeinschaftspublikation, die zum einen die Notwendigkeit eines Kriegseintritts der USA plausibel machte, die aber darüber hinaus auch die Vision einer künftigen Demokratie vor allem für die atlantische Welt entwarf, die Errungenschaften demokratischer Freiheiten betonte, gleichzeitig aber auch eine soziale Demokratie im Sinne des New Deal propagierte. Zudem sollte bereits die Zeit nach dem amerikanischen Sieg über den Aggressor Hitler ins Auge gefasst und umrisshaft die Idee einer Pax Americana entworfen werden. Das Ergebnis erschien 1940 unter dem Titel „The City of Man. A Declaration on World Democracy“. Es ist das überzeugendste Resultat einer Kooperation amerikanischer und exilierter Intellektueller während der 1940er Jahre. Es erfüllte die Erwartungen Thomas Manns. „The City of Man“ verdient, immer erneut studiert zu werden. Hier wurde das Bild einer Demokratie für das 20. Jahrhundert entworfen, auf die man als Maßstab auch heute noch zurückgreifen kann. Vaget nennt zwar den Titel des Buches und erwähnt auch, dass Thomas Mann es an Anne Eleanor Roosevelt zur eventuellen Weiterleitung an den Präsidenten mit einer persönlichen Widmung geschickt habe, aber in seiner Studie wird nicht klar, worum es sich bei dieser Publikation handelt, und es werden nur wenige Mitarbeiter genannt. Thomas Mann war zudem davon überzeugt, dass in Zukunft deutsche Identität nicht mehr im Gegensatz zur übergreifenden europäischen stehen dürfe. Das hat er u.a. in Reden wie „Achtung, Europa!“ und „Dieser Friede“ (beide erschienen 1938), in seiner Radiosendung „Europäische Hörer“ von 1943 und in seinem Roman „Doktor Faustus“ von 1947 überdeutlich gefordert. Die Formel vom „europäischen Deutschland“, das an die Stelle der Hitlerschen Phantasie vom „deutschen Europa“ zu treten habe, kommt in der Europa-Sendung vor und wird dann wörtlich von Zeitblom im „Doktor Faustus“ wiederholt. Im Zusammenhang damit ist auch zu erwähnen, dass die Manns als Exil-Familie (also inklusive der beiden „Europäer“ Klaus Mann und Heinrich Mann) nicht profiliert werden. Man bekommt den Eindruck, dass Vaget mit dem Europadiskurs im Allgemeinen wie dem Thomas Manns im Besonderen nichts anzufangen weiß. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2011.
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Weltdemokratie: Thomas Manns transatlantisches Intellektuellenkonzil von 1940 Der Tagesspiegel (2.8.2011) Die Verschuldung der Staatshaushalte führt in den Ländern Europas zur Gefahr des Staatsbankrotts, zur Infragestellung der gemeinsamen Währung. In den USA droht sie die gesamte politische Maschinerie sowie die föderale Verwaltung zu lähmen. Auf beiden Seiten des Atlantiks verhindern Zinszahlungen das Wirtschaftswachstum, das die Voraussetzung für einen Abbau der astronomischen Verschuldung wäre. Die Länder des transatlantischen Westens sitzen, was ihre Budgetdefizite betrifft, im gleichen Boot. Wird kein Weg aus der Krise gefunden, droht dem nordatlantischen Teil der Welt – über Jahrhunderte hin die Lokomotive der Weltwirtschaft – eine Verarmung. Dabei müsste man auch politische Rückschläge hinnehmen, denn von sozialen Katastrophen profitieren vor allem antidemokratische Gruppen. Das wäre schon deswegen fatal, weil neue demokratische Bewegungen im Nahen Osten und Nordafrika die Unterstützung funktionierender westlicher Staaten benötigen. Wo bleiben in dieser Situation die Intellektuellen? Es fehlt nicht an Talkshows und Symposien, in denen sich die wissenschaftlich trainierten Erinnerer und Prognostiker, Analytiker und Warner versammeln. Aber da steht Ansicht gegen Ansicht, Einsicht gegen Einsicht und zuweilen Dummheit gegen Dummheit. Wichtiger wäre, dass weder von Medien noch von Parteien vereinnahmte Intellektuelle sich gemeinsam den zentralen Fragen von Wirtschaft und Politik widmeten und sie im Geist der Demokratie und des sozialen Gemeinwohls angingen. Vor gut sieben Jahrzehnten, im Jahr 1940, gab es einen Fall, den man sich zum Vorbild nehmen könnte. Damals entwickelten amerikanische und emigrierte europäische Intellektuelle Perspektiven für eine globale Demokratisierung. Das war mitten in einer der größten weltpolitischen Krisen des 20. Jahrhunderts. Thomas Mann, der seit Herbst 1938 im Princetoner Exil lebte, war der spiritus rector des Unternehmens. Mit seinem Prestige als Nobelpreisträger und seinen Kontakten, die bis ins Weiße Haus reichten, gelang es ihm, hervorragende Köpfe um sich zu einer Art Intellektuellen-Konzil zu versammeln. Man entwarf ein Buch, in dem politische, ökonomische, juristische, edukatorische und theologische Argumente versammelt sein sollten, die man Nationalsozialismus, Faschismus und Bolschewismus (es war die Zeit des Hitler-Stalin-Pakts) entgegensetzen konnte. Gleichzeitig wollte man die Bevölkerung der USA von der Notwendigkeit eines Krieges gegen Nazi-Deutschland überzeugen. Roosevelt, so war man sicher, würde Hitler besiegen – nicht nur militärisch, sondern, als Präsident der mäch-
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tigsten Demokratie der Welt, im Sinne eines Kampfes zwischen Humanität und Barbarei. Thomas Mann gewann 16 Intellektuelle, wobei ihm der italienische Exilant Giuseppe Antonio Borgese, der künftige Gatte von Manns jüngster Tochter Elisabeth, eine unerlässliche Hilfe war. Entstehen sollte eine Gemeinschaftspublikation aus einem Guss. Auf amerikanischer Seite hatte Thomas Mann elf Männer und Frauen, dazu fünf prominente europäische Exilanten für das Projekt gewonnen. Der Publizist und Historiker Herbert Agar hatte 1934 für sein Buch „The People’s Choice: A Critical Look of the American Presidency“ den Pulitzer-Preis erhalten. Es wurde ein Lieblingsbuch von John F. Kennedy. Frank Aydelotte war ein Anglist und Erziehungswissenschaftler, Präsident des Swarthmore College und Präsident des Institute for Advanced Study in Princeton. Van Wyck Brooks war Literaturkritiker und Historiker. Für seine Buchserie „Makers and Finders“ hatte er ebenfalls den Pulitzer-Preis bekommen. Ada Louise Comstock setzte 1943 als Präsidentin der American Association of University Women durch, dass an der Harvard University auch Frauen studieren dürfen. William Yandell Elliott war dort Historiker und politischer Berater von sechs amerikanischen Präsidenten – sowohl demokratischen wie republikanischen. Er gehörte zum brain trust Präsident Roosevelts. Dorothy Canfield Fisher brachte die Montessori-Erziehung in die USA, war eine Pionierin der Erwachsenenbildung, sprach fünf Sprachen und publizierte viel gelesene autobiografische Romane. Christian Gauss war Literaturwissenschaftler und Dekan in Princeton. Alvin Johnson war von Hause aus Wirtschaftswissenschaftler, machte sich als Gründer der New Yorker New School for Social Research einen Namen. Er schuf dort die University in Exile, die für Dutzende von Intellektuellen, die vor Hitler geflohen waren, Stellen einrichtete, unter anderem für Hannah Arendt. Lewis Mumford, ursprünglich Literaturkritiker und Historiker, entwickelte sich nicht zuletzt durch die Freundschaft mit Frank Lloyd Wright zu einem weitsichtigen Städteplaner und Architekturtheoretiker. William Allan Neilson, ein Shakespeare-Spezialist, war Präsident des Smith College. Reinhold Niebuhr entstammte einem deutsch-amerikanischen Pfarrhaus. Seit 1928 lehrte er am Union Theological Seminary an der New York University. Unter den Emigranten waren Antonio Giuseppe Borgese und Hermann Broch die Engagiertesten. Borgese war ein italienischer Literaturkritiker, Historiker und Schriftsteller, gehörte, als Mussolini von den italienischen Professoren den faschistischen Eid verlangte, unter 2000 Kollegen zu den 13, die den Schwur verweigerten. 1931 floh er in die USA, wo er an der University of Chicago eine Professur für Politische Wissenschaft erhielt. 1937 hatte er sein Buch „The March of Fascism“ publiziert, eine der klarsichtigsten Analysen des Mussolini-Regimes. Er wurde Sekretär des „Committee to Frame a World Constitution“. 1947 veröffent-
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lichte er den „Entwurf einer Weltverfassung“. Hermann Broch war ein österreichischer Romancier („Die Schlafwandler“), der einer jüdischen Wiener Familie entstammte. Schon vor der Flucht in die USA im Jahr 1938 hatte er mit seiner „Völkerbund-Resolution“ eine Streitschrift für die Beachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde verfasst. Damals arbeitete Broch an seiner „Massenwahntheorie“. Der ungarisch-jüdische Historiker Oscar Jászi war als junger Mann Zionist. 1925 emigrierte er in die USA, wo er als Historiker am Oberlin College unterrichtete und mit „The Dissolution of the Habsburg Monarchy“ auf sich aufmerksam machte. Auch der in Prag aufgewachsene Hans Kohn war Zionist, verbrachte einige Jahre in Palästina und wanderte 1934 in die USA aus, wo er am Smith College Politische Wissenschaft lehrte. Bekannt wurde er als Historiker des Panslawismus. Gaetano Salvemini schließlich, ursprünglich Publizist, Historiker und Parlamentarier, litt unter den Pressionen Mussolinis. 1925 verhaftet, gelang ihm die Flucht nach Paris, wo er sich einer Widerstandsgruppe anschloss. 1934 ging er ins amerikanische Exil und bekam an der Harvard University eine Professur für italienische Geschichte. Diese Gruppe traf sich zu zwei Arbeitstagungen vom 24. bis 26. Mai 1940 in Atlantic City (New Jersey) und vom 24. bis 25. August 1940 in Sharon (Connecticut). Den Sitzungen gingen Einladungen mit genauen Arbeitsplänen voraus, ihnen folgten briefliche und telefonische Abstimmungen. Im November 1940 erschien das Ergebnis, „The City of Man. A Declaration on World Democracy“, bei der Viking Press in New York. Noch in Atlantic City erfuhr man, dass Hitler den Frankreichfeldzug gewonnen hatte. Wie Thomas Manns Tagebuch zu entnehmen ist, drohte der Autor in Depression zu verfallen, aber die Gruppe wurde noch stärker motiviert. Was sind die Forderungen der „City of Man“? Die USA, heißt es, müssten mit ihrer demokratischen Staatsform eine humane Alternative zum Terror Hitlers bieten. Wie jene Europas, befinde sich aber auch die Demokratie Amerikas in einer tiefen Krise, und nur eine erneuerte Demokratie sei in der Lage, dem Totalitarismus entgegenzutreten. Amerika solle sich für folgende Ziele einsetzen: Im Gegensatz zur Kriegsverherrlichung der Nationalsozialisten sei das Postulat des universalen Friedens zu verteidigen. „Die Demokratie lehrt“, heißt es, „dass alles durch, nichts gegen und nichts außerhalb der Menschlichkeit zu geschehen hat. Die Diktatur der Humanität auf der Basis des Gesetzes zum Schutz der Menschenwürde ist die einzige Herrschaft, von der die Hoffnung für unser eigenes Leben ausgeht, und von der die Wiedererstehung jener Nationen zu erwarten ist, die sich an der Humanität vergingen“. Die Aufgabe der USA bestehe darin, die Welt für eine neue Ordnung zu gewinnen. Freilich könne das jetzige Amerika diese Rolle noch nicht übernehmen. Zu den „Fehlern, welche die Erfüllung ihrer Aufgaben gefährden“, werden gezählt:
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„die geringgeschätzte Bildung, die korrupte Politik und die öde Effizienz der Spekulanten“. Amerika müsse sich besinnen: „Die amerikanische Verfassung muss Wirklichkeit werden“. In diesem Zusammenhang wird postuliert: Erstens müssten in einer Verfassungsreform die Rechte und Pflichten des Einzelnen dem Staate und des Staates dem Einzelnen gegenüber genauer formuliert werden. Zweitens sei die Trennung von Kirche und Staat klarer herauszustellen. Drittens seien Wirtschaftsreformen anzustreben, um die Ansätze des New Deal weiterzuführen. Viertens sei ein internationales Gesetzbuch auszuarbeiten. Nach diesen Reformen könne, sobald Hitler besiegt sei, auch das Projekt einer Weltdemokratie mit einer Weltverfassung angestrebt werden. Das war ein Lieblingsgedanke Borgeses. Die Wirkung einzelner Bücher ist schwer einzuschätzen. Jedenfalls leistete dieses Intellektuellen-Konzil von 1940 etwas, dem man Realitätstüchtigkeit nicht absprechen kann: Es trug mit dazu bei, in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Bereitschaft zu schaffen, militärisch gegen Hitler vorzugehen und nach dem Krieg die demokratische Staatsform im europäischen Einflussbereich der USA durchzusetzen. Mit seinen universalistischen Perspektiven wurde bereits fünf Jahre vor der Etablierung der Vereinten Nationen und acht Jahre vor der Verkündung der Internationalen Menschenrechte die globale Durchsetzung demokratischer Grundsätze ins Auge gefasst. Es war eine Pionierarbeit. Thomas Manns Beispiel sollte in der heutigen Krise Schule machen.
Benno Weiser Varon erzählt von der Flucht ins Exil Die Welt/Literarische Welt (10.1.2009) Zwei Germanisten aus dem amerikanischen St. Louis sind als Schatzsucher fündig geworden. Sie haben den Roman eines Autors entdeckt, der als Jude 1938 – im Jahr des „Anschlusses“ – aus Wien ins südamerikanische Ecuador floh. Damals war Benno Weiser 25 Jahre alt. Schon vor Beginn seines Exils hatte er Spanisch gelernt, und kaum war er in Quito, der Hauptstadt des kleinen Andenstaates, angelangt, konnte er wegen seiner ausgezeichneten Sprachkenntnisse gleich Journalist und bald sogar der Herausgeber seiner eigenen Wochenzeitung werden, der er den Namen „La Defensa“ gab. Mit seinen Artikeln und der Zeitung wollte er die Ecuadorianer über das Terrorsystem der Nationalsozialisten aufklären und während des Krieges die Sache der Alliierten unterstützen. In „La Defensa“ veröffentlichte er 1942 in Fortsetzungen seinen autobiographischen Roman „Yo era europeo“ („Ich war Europäer“), und 1943, also vor einem Menschenalter, erschien er in Buchform.
Benno Weiser Varons und Marte Brills Exil-Romane
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„Ich war Europäer“ erlitt das Schicksal vieler Emigrationsdichtungen: in den deutschsprachigen Ländern nicht wahrgenommen zu werden. Der junge Exilforscher Reinhard Andress und Egon Schwarz, der Nestor der amerikanischen Germanistik, haben das Buch gemeinsam ins Deutsche übersetzt und damit vor dem Vergessen bewahrt. Schnell wird deutlich, was für ein literarisches Talent Benno Weiser war, der mit „Ich war Europäer“ sein erstes und leider zugleich letztes dichterisches Werk vorlegte. Egon Schwarz, ein Jahrzehnt jünger als Benno Weiser, kannte den Autor bereits aus Wien: Weiser war 1938 sein erster Spanischlehrer, und er traf ihn wieder, weil es auch Schwarz ins ecuadorianische Exil verschlug. Die Übersetzung ist eine Meisterleistung, vermittelt sie doch die Leiden und Abenteuer, die Kommentare und Bekenntnisse des Helden in einer packenden Sprache, deren Klarheit und Prägnanz besticht. Es ist ein Buch im Stil jener Dokumentarromane, die Selbsterlebtes vermitteln, und für die es in der Exilliteratur prominente Beispiele gibt. Man denke an die zwischen 1939 und 1944 erschienenen autobiographisch gefärbten Erzählwerke von Klaus Mann, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque und Anna Seghers. Mit ihnen kann sich das Buch durchaus messen, ja es mutet streckenweise sogar moderner an, werden doch Techniken der Avantgarde wie narrative Selbstreflexion, der kalkulierte Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit sowie Techniken des Bewusstseinsstroms und der erlebten Rede eingesetzt. Weiser war so sehr von den ihm zugefallenen publizistischen und politischen Aufgaben durchdrungen, dass ihm nach der Veröffentlichung seines Debütromans für Literarisches keine Zeit mehr blieb. Nur einmal noch hat er im Alter ein vergleichbares Buch geschrieben, seine romanhaft anmutende Autobiographie. Mit 80 Jahren publizierte er sie auf Englisch unter dem Titel „Professions of a Lucky Jew“, ein Buch, das unbedingt ins Deutsche übersetzt werden sollte. Das Jugendkapitel zeigt, dass der Erzähler von „Ich war Europäer“ mit seinem Autor fast identisch war. Nach dem Zweiten Weltkrieg warb Weiser als Zionist in politischen Kreisen Lateinamerikas für die Unterstützung der Idee, einen eigenständigen israelischen Staat zu gründen. Die Tatsache, dass die UNO Ende 1947 die „Palestine Partition Resolution“ verabschiedete, verdankte sich nicht zuletzt Weisers Bemühungen. Später wurde er selbst israelischer Bürger, nahm den Namen Benjamin Weiser Varon an, arbeitete als Botschafter Israels in Ländern Südamerikas und der Karibik sowie als Mitglied der UNO-Delegation seines Staates. Er krönte seine berufliche Laufbahn mit der Professur für Judaic Studies an einer Universität in Neuengland. Heute lebt er, inzwischen 95 Jahre alt, in Boston. „Ich war Europäer“ entstand zwischen Ende 1938 und Ende 1941. Der Roman behandelt – sieht man von kurzen Rückblicken auf Kindheit und Schulzeit ab – vor allem die Studienjahre des Ich-Erzählers an der Universität Wien von 1933 bis
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1938, die sechs Monate nach dem „Anschluss“, als er ums Überleben kämpfte, und die Flucht über Holland nach Übersee zwischen September und November 1938. Der Bericht über die Zeit bis zur Emigration steht zwar im Mittelpunkt, aber oft schaltet der Erzähler auch Kommentare zu historischen Ereignissen nach der Flucht ein, wie etwa zum Beginn des Zweiten Weltkrieges mit dem Überfall auf Polen, zur Niederlage Frankreichs und zum Luftkrieg Englands gegen Deutschland. Die Stellungnahmen des Erzählers weisen nie – auch nicht angesichts überraschender nationalsozialistischer Siege – eine Tonlage der Hoffnungslosigkeit auf, und nicht selten enthalten sie Prophezeiungen, die später durch den Kriegsverlauf bestätigt werden sollten. Der Ich-Erzähler studiert in Wien Medizin. Lange vor dem Frühjahr 1938, so liest man, war die Universität der Stadt bereits „angeschlossen“, hatte sich zu einer „uneinnehmbaren Festung“ Hitlers entwickelt. Eine geradezu absurde Situation: ausgerechnet dem antiintellektuellsten Politiker ergab sich die geistige Bastion als erste. Die Kämpfe an der Medizinischen Fakultät zwischen den Nationalsozialisten und ihren Gegnern werden detailliert geschildert. Man konnte froh sein, die Hörsaalschlachten lebend zu überstehen. Rufe wie „Heil Hitler!“ und „Juda verrecke!“ begleiteten wie verbale Peitschenhiebe die Prügelorgien. Das Gefühl dominierte, sich am Rand eines Kraters zu bewegen, in den man jeden Augenblick abstürzen konnte. Plastisch wie es nur in der Dichtung möglich ist, werden die Stimmungsumschwünge, Befürchtungen und Illusionen der österreichischen Bevölkerung vor, während und nach dem „Anschluss“ erfasst. Wer gestern noch das Abzeichen mit dem Kruckenkreuz am Revers trug, reißt nun vor der Hakenkreuzfahne die Hand hoch zum „deutschen Gruß“. Der Begeisterung über die Aufnahme in die „Herrenrasse“, dem Sadismus bei der Demütigung der Juden und den Raubzügen durch ihre Geschäfte folgt bald Ernüchterung und Angst. Die Militarisierung mit ihren Einberufungsbefehlen, die nächtliche Verdunkelung der Stadt und der Bau von Luftschutzkellern als Proben und Vorbereitungen für den „Ernstfall“, die Herabstufung des Staates Österreich zur Provinz „Ostmark“, die Einschränkung der Reisemöglichkeiten: all das führt dazu, schreibt der Autor, dass sich in Wien nicht nur die Verfolgten wie in einem Käfig vorkamen. Die „Arier“ begannen bereits, die Juden um ihre Emigrationsmöglichkeiten zu beneiden. Wiederholt betont Weiser, dass die Juden nur die ersten seien, die die Versklavung und Rechtlosigkeit zu spüren bekämen, dass es aber in der Logik des Nationalsozialismus liege, die Menschenrechte für alle Bürger in ihrem Herrschaftsbereich abzuschaffen, und dass es niemanden gebe, der vor der Willkür Hitlers sicher sei. Als der Erzähler Ende 1938 in Ecuador eintrifft, stellt er euphorisch fest: „Es schien, als gehöre jeder Mensch einer anderen Rasse an, jeder Name einer anderen Nationalität. Hier lebten alle zusammen, eher vereint als getrennt durch
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ihre Unterschiede. (…) Hier lebten sie in Gleichheit, Harmonie und Frieden.“ Das war sicher eine Täuschung, aber im Vergleich zu dem, was ihm in Wien an Rassenhass und bürgerkriegsmäßigen Konflikten begegnete, war Quito eine Stadt, in der man, wie Weiser es an sich selbst erlebte, seine Talente entfalten konnte. Auch gelang es dem Erzähler (wie seinem Autor) schon nach wenigen Wochen, für seine Eltern, seine Schwester und seine Freundin Visa zur Einreise in Ecuador zu beschaffen. Als Fazit seiner Erlebnisse in Österreich bzw. Europa und Südamerika hält der Erzähler 1941, also mitten im Krieg, fest: „Mit Opfern und Leiden bezahlt die Welt von heute für die Gleichgültigkeit von gestern.“ Menschen- und Bürgerrechte müssen immer gegen Übergriffe des Staates geschützt werden, und so kann man der Mahnung des jungen Exilautors auch heute Aktualität nicht absprechen. Benno Weiser Varon, Ich war Europäer. Roman einer Generation. Aus dem Spanischen übersetzt von Reinhard Andress und Egon Schwarz, mit einem Nachwort von Reinhard Andress. Wien: Picus, 2008.
Marte Brills autobiografischer Exilroman „Der Schmelztiegel“ Frankfurter Rundschau (15.07.2003) Ein „Genie der Zerstörung“ nennt Marte Brill in ihrem Roman „Der Schmelztiegel“ Adolf Hitler einmal. Als Jüdin bekam sie bereits Anfang 1933 dessen Vernichtungswillen zu spüren. Brill gehörte zur Generation der selbstbewussten und erfolgreichen jungen Frauen, die in der Weimarer Republik die Berufschancen wahrnehmen, die ihnen eine relativ offene und modernisierte Gesellschaft bot. Sie war 38 Jahre alt, als sie unmittelbar nach Hitlers „Machtergreifung“ zur Emigration gezwungen wurde: Man hatte ihr die Stelle einer Redakteurin beim Hamburger Rundfunk gekündigt. Dabei war sie eine der beliebtesten Reisejournalistinnen ihrer Zeit, die sich mit Reportagen etwa über den Nahen Osten in Deutschland einen Namen gemacht hatte. Im rechtsradikalen Spektrum hatte sie Feinde, denn sie bekannte sich in ihren Sendungen und Artikeln zu sozialistischen und kosmopolitischen Zielen. Im ersten Jahr ihrer Flucht waren die Exilstationen Mallorca, Italien und die Niederlande. Sie erkannte früh Hitlers europäische Ambitionen und floh im April 1934 nach Brasilien. Begleitet wurde sie von ihrer kleinen Tochter Alice. Ihr ist es zu verdanken, dass „Der Schmelztiegel“, den Brill zu Lebzeiten nicht publizierte, doch noch – mit einer Verspätung von sechzig Jahren – erscheinen konnte. Der äußere Anlass für die Niederschrift war ein Preisausschreiben, das die Ameri-
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can Guild for German Cultural Freedom im Frühjahr 1938 veranstaltet hatte. Die „Guild“ – gegründet von Hubertus Prinz zu Löwenstein und Volkmar von Zühlsdorff – war eine besonders effektive Hilfsorganisation für Hitlerflüchtlinge. Der beste Exilroman sollte ausgezeichnet und auf Englisch von einem renommierten amerikanischen Verlag publiziert werden; Thomas Mann war Vorsitzender des Preiskomitees. Marte Brills Manuskript machte damals nicht das Rennen, einfach deshalb, weil sie es erst 1942, also viel zu spät, fertigstellte. Im übrigen machte sie aus der Not eine Tugend: Zur journalistischen Arbeit bot sich kaum noch Gelegenheit, und um den Alltagsnöten des Exils eine Stimme zu geben, um das epochale Ereignis von Verbannung und Flucht festzuhalten, wechselte sie ins literarische Fach. „Der Schmelztiegel“, zur hybriden Gattung des autobiographischen Romans zählend, schildert Erlebnisse und Begegnungen, die sich während Brills Flucht ereignet haben. Hier schreibt eine Autorin, die bewusst fiktionale Elemente einbezieht, die sich poetische Lizenzen bei der Typisierung und Synthetisierung von Figuren und Schicksalen genehmigt. So ist ein packendes Werk entstanden, das sich nicht bloß einreiht in die Memoirenliteratur der Vertriebenen, sondern das dichterisch die Alltagswirklichkeiten im brasilianischen Exil festhält. Andere Brasilien-Emigranten wie Stefan Zweig, Frank Arnau und Paul Frischauer haben sich zu den Zukunftsträumen des Landes geäußert bzw. kritisch oder affirmativ zur Politik des Diktators Getulio Vargas Stellung genommen. „Der Schmelztiegel“ dagegen vergegenwärtigt den Mikrokosmos des täglichen Überlebenskampfes, und er tut es in einer jedes Pathos vermeidenden neu-sachlichen Sprache. Drei Erzählebenen: Erstens handelt es sich um ein kulturhistorisches Buch, d.h. man erfährt zahlreiche Details über die Zivilisation der Gastländer. Zweitens erarbeitet die Autorin sich die Geschichte des Judentums in den Staaten und Regionen, die sie auf der Flucht kennenlernt. Dabei stellt sie Beziehungen zwischen den Pogromen früherer Jahrhunderte und der Judenverfolgung in ihrer Gegenwart her. Und drittens brechen als Zeitungs- und Briefnachrichten immer neue Schreckensbotschaften aus Deutschland in die Welt der Emigranten ein, denen klar wird, dass sie ihre Heimat für immer verloren haben. Man lernt so eine Enzyklopädie der Verhaltensmöglichkeiten im Exil kennen. Dass Brill über eine Intimkenntnis vieler Lebensläufe verfügte, hatte mit ihrer Arbeit während des Brasilienaufenthalts zu tun: Sie leitete in São Paulo die Beratungs- und Hilfsstelle für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland. So war sie vertraut mit dem Horror und der Hoffnung, dem Absturz und dem Aufstieg, der Depression und der Euphorie der Verbannten. Sie ermunterte und vermittelte, kaschierte Defizite und förderte Talente, wurde Bittstellerin für andere, war Berufsberaterin und Sozialpsychologin. Mit anderen Worten, sie war Managerin eines einzigartigen Begabungsreservoirs und Erwartungspotentials.
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Ohne diese Erfahrung hätte jene Realitätsnähe gefehlt, die einen schon bei der Lektüre der ersten Seiten für das Buch einnimmt. Mit ihrer Tätigkeit hat auch der Titel des Romans zu tun. Die brasilianische Metropole São Paulo ist für Brill ein Schmelztiegel, der die Emigranten aufnimmt und verändert. Die Autorin macht klar, wie viel Anpassung die Stadt den neu Angekommenen abverlangt, und dass jene untergehen, die dogmatisch auf den Besonderheiten ihrer Herkunft bestehen. Aber in einen Schmelztiegel gehen auch neue Ingredienzen ein, und so bleibt das Leben der Großstadt durch die immer zahlreicher werdenden Flüchtlinge keineswegs unberührt. Der Schmelztiegel in Aktion mit seinem Geben und Nehmen, dem Anpassen und Mitbestimmen – das ist, was Brill in erste Linie interessiert: Geschichten vom gefeierten Maler, über dessen Bilder die brasilianischen Zeitungen glänzende Feuilletons bringen, der aber kein einziges Werk verkauft; von der schönen Journalistin, der ganz Rio zu Füßen liegt, die sich aber vor Heimweh nach Deutschland verzehrt; vom Kolonnenführer, der als Maurer einen Neuanfang sucht und sich zu Tode arbeitet; vom Philologen, der seine professionelle Arroganz nicht ablegen kann und im Selbstmord endet; vom Metzger, der ein wohlhabender Unternehmer werden könnte, wenn er nicht der Spielleidenschaft verfallen wäre; vom Intellektuellen, der zu verkommen droht und plötzlich sein Talent als Kunsthändler entdeckt; vom Rechtsanwalt, der einen Bauernhof übernimmt und einen Grafen beschäftigt, der die Milch ausfährt. „Der Schmelztiegel“ ist ein faszinierendes Buch über das Exil der dreißiger Jahre im Besonderen und über die menschliche Tragikomödie im Allgemeinen. Marte Brill, Der Schmelztiegel. Hg. v. Reinhard Andress. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg, 2002.
Ruth Klüger: Amerikanische Jahre im Rückblick Die Welt / Literarische Welt (23.8.2008) Das ist ein dichterisch-schöner Anfang: das vorangestellte Motto von Herta Müller und der erste Satz des Buches. Zwei Wörter aus den Zeilen von Herta Müllers Vers „einmal ging ich unterwegs verloren / einmal kam ich an wo ich nicht war“ sind für den Titel gewählt worden, und sie passen so gut zu dem Buch, als seien sie eigens dafür geschrieben worden. „Mit dem Älterwerden weichen auch die Gespenster zurück“, heißt es gleich zu Beginn der Erinnerungen von Ruth Klüger. Unter „Gespenstern“ versteht sie dabei nicht nur früh verstorbene Verwandte, die unser Gedenken fordern, vielmehr umschreibt sie mit dem Wort „die ungelöste,
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unerlöste Vergangenheit“ allgemein. So ist das Buch eine Gespensterbeschwörung, die prägende existenzielle, familiäre, berufliche und politische Erlebnisse und Konstellationen aufruft. Bei der Auswahl der reflektierten Ereignisse wird deutlich, wie tief die seelischen Wunden waren, die in ihrer Kindheit und frühen Jugend der manifeste Judenhass des Nationalsozialismus schlug. Darüber hat Ruth Klüger, die als Kind Auschwitz-Häftling war, ihr erstes autobiographisches Buch „weiter leben“ geschrieben, ein Bestseller mit einer Auflage von etwa 250.000 Exemplaren. Der Fortsetzung ist ein vergleichbarer Erfolg zu wünschen, nicht nur wegen ihrer direkten, packenden, metaphernreichen Sprache, sondern vor allem, weil es sich um ein kämpferisches Buch handelt, das – ausgehend von persönlichen Erfahrungen – den fortbestehenden latenten Antisemitismus anprangert und beschämende Folgen von Frauenfeindlichkeit dokumentiert. Da ist zunächst die Ehe, die sie mit einem angehenden Historiker eingeht. Die beiden heiraten noch während des Studiums, aber als sich Nachwuchs einstellt, flieht der Gatte „vor der Verantwortung der Vaterschaft“. Sich lediglich als „Krückstock für seine Karriere“ zu sehen, ist nicht vorgesehen im Lebensplan der selbstbewussten jungen Frau, die sich nach einigen Jahren wieder scheiden lässt. „Am Ende der Ehe“, so heißt es über ihre erstrittene neue Freiheit, „kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen“. Lesenswert sind auch die atmosphärisch treffend festgehaltenen kulturellen und politischen Impressionen aus jenen Jahren: Wie Zukunft in der Luft lag, als in den USA die Bürgerrechtsbewegung ihre ersten Erfolge zeitigte, die Beat Generation von sich Reden machte und die Free Speech-Bewegung die Studentenrevolte auslöste. Bei der Nachricht vom Tod Präsident Kennedys standen auf dem Universitätscampus „kleine Gruppen beisammen“, als „müssten sich die Menschen aneinanderklammern“. Schon früh will sie einen Doktorgrad erwerben, doch wird die junge Studentin der Germanistik an der University of California in Berkeley von einem antisemitischen Professor aus dem Seminar geekelt. Der Schock sitzt so tief, dass es ein ganzes Jahrzehnt braucht, bis sie sich erneut aufrafft, ihr geliebtes Philosophiestudium fortzusetzen. Jetzt erfährt sie Ermutigung durch Heinz Politzer, selbst ein jüdischer Emigrant. Allerdings hält sich sein Engagement für den weiblichen Germanistik-Nachwuchs in Grenzen, weil er von seinen patriarchalischen Vorurteilen nicht wegkommt. Ruth Klüger gehört jener Frauengeneration an, die sich die Gleichberechtigung im akademischen Bereich noch erkämpfen musste. Frauen bekamen schlechtere Stellenangebote und niedrigere Gehälter als Männer. In der Profession wurde sie bald mit Arbeiten zur Barockforschung, zu Lessing und Kleist bekannt, auch als erfolgreiche Herausgeberin der germanistischen Zeitschrift „The German Quarterly“. So war es auch nur eine Frage der Zeit, sollte
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man meinen, bis sie von einer Eliteuniversität berufen wurde. Die Princeton University machte ihr ein Angebot, doch hatte das, wie die Autorin betont, mit der Erfüllung der Frauenquote zu tun. Wegen der arroganten, zum Teil beleidigenden Behandlung durch die männlichen Mitglieder des German Departments war sie dort unglücklich und erlaubte sich einmal einen „weiblich-professoralen Wutanfall“. Danach ging sie zurück an jene legendär schöne kalifornische Universität in Irvine, wo sie schon vorher unterrichtet hatte, und wo sie heute Emerita ist. Göttingen, die alte Universitätsstadt, wurde fast zu etwas wie einer zweiten Heimat für sie. Dort leitete sie ein Studienprogramm für Studentinnen und Studenten aus Kalifornien und schrieb ihr Buch „weiter leben“, das 1992 bei einem Göttinger Verlag erschien, „mit einer Unmenge von Druckfehlern“, wie sie festhält, was dem Erfolg allerdings keinen Abbruch tat. In Göttingen erhielt sie den Ehrendoktor der Universität, und die Dankesrede mit einer Laudatio auf die Stadt findet sich in „unterwegs verloren“ abgedruckt. Auch in Göttingen gab es unangenehme Erlebnisse. Nicht nur, dass sie bei einem „geselligen“ Abend einmal angepöbelt wurde; ihr Göttinger Bankberater entpuppte sich als Krimineller – er räumte ihr Konto ab. Aber was sind solche Unannehmlichkeiten verglichen mit dem öffentlichen Lob, das ihr Buch „weiter leben“ 1993 in Marcel Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ erhielt? Der Band wurde wegen dieser Fernsehsendung zum populären Weihnachtsgeschenk des Jahres. Der Erfolg machte sie bekannt, und man lud sie oft als Gastprofessorin und Zeitzeugin ein. Mit ihren Essays zum Thema „Frauen lesen anders“ und zum Kitsch nahm sie Einfluss auf ästhetische Diskussionen in Kritik und Hochschule. Streitbar blieb Ruth Klüger auch in Deutschland. Sie schaltete sich mit ihrem Frankfurter-Rundschau-Beitrag in die Kontroverse um Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ ein. Walser war ihr ältester Freund in Deutschland, doch nun kam es zum Bruch. Sie deckte den antisemitischen Grundzug in der Darstellung der Hauptfigur, des jüdischen Kritikers, auf: Walser folge einem „klassischen Muster der Diskriminierung“, wie man es bereits im deutschen Roman des 19. Jahrhunderts erkennen könne, etwa in Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“. „unterwegs verloren“ erscheint in einem Wiener Verlag. Das ist gut so, denn gerade in der Vaterstadt sollte man das Buch der verstoßenen Tochter lesen. Ruth Klüger, unterwegs verloren: Erinnerungen. Wien: Zsolnay, 2008.
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Ruth Klüger über ihre Jugend in Todes- und Arbeitslagern Neue Zürcher Zeitung (2.10.1992) Bücher von Augenzeugen über Theresienstadt von H. G. Adler und über Auschwitz von Primo Levi haben eine Ahnung vom Inferno des Holocaust vermittelt. Das tun auf komplexe und differenzierte Weise auch Ruth Klügers Erinnerungen. Aber darüber hinaus ist ihre Autobiographie ein Dialog mit ihren deutschen Leserinnen und Lesern über die Vernichtung der Juden und den Krieg, über eine Vergangenheit, die nicht vergehen kann. Ruth Klüger, Jahrgang 1931, ist eine in Fachkreisen – besonders bei Lessing- und Kleist-Spezialisten – anerkannte Germanistin, die an einer Reihe von ausgezeichneten amerikanischen Universitäten gelehrt hat. Ihr lyrisches Werk ist nur wenigen bekannt. Die literarische Begabung kam ihr bei der Niederschrift ihrer Biographie zugute. Ruth Klüger war ein Kind, als Hitler Österreich annektierte, und als Kind erlebte sie die Terrorisierung und Versklavung der Juden in Wien. Der Vater, ein Arzt, konnte fliehen, doch ereilte ihn im besetzten Frankreich das Schicksal der Verschleppung in den Auschwitz-Tod. Zusammen mit ihrer Mutter wurde sie im September 1942 nach Theresienstadt, der Vorhölle des Holocaust, gebracht, in den „Stall, der zum Schlachthof gehörte“. Trotz aller durch die Deutschen erfahrenen Drangsalierung und Not gelang es den in Theresienstadt inhaftierten Juden, ein Minimum an sozialen Kontakten zu pflegen und den Kindern und Heranwachsenden etwas aus ihrer alten Bildungswelt zu vermitteln. Im Frühjahr 1944 wurde die Autorin mit ihrer Mutter in einem der berüchtigten Viehwaggons unter unmenschlichen Bedingungen ins Todeslager Auschwitz-Birkenau abtransportiert. Die für Hitler-Deutschland ungünstige Kriegslage rettete Mutter und Tochter das Leben: Eine Reihe von Mädchen und Frauen wurden von Auschwitz in Arbeitslager der Rüstungsindustrie verbracht. Ruth Klüger arbeitete im schlesischen Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Im Februar 1945 drang die Rote Armee vor. Als die KZ-Insassen nach Westen transportiert wurden, setzten sich die Autorin, ihre Mutter und eine Freundin ab. Es begann eine abenteuerliche Flucht auf eigene Faust. Die Odyssee, während der Verfolgung und Hilfestellung durch Deutsche einander abwechselten, endete im bayrischen Straubing, in das die Amerikaner einrückten. Ruth Klüger verbrachte anschließend zweieinhalb Jahre in Deutschland und wurde Studentin der Philosophie und Geschichte in Regensburg. Hier sei, schreibt sie, die Voraussetzung geschaffen worden für die Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Geschichte und für die Verbindung mit den Deutschen der Nachkriegsgeneration. Anschließend emigrierte sie mit ihrer Mutter in
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die USA, wo sie zunächst Bibliothekswissenschaften in New York, später Germanistik in Berkeley studierte. Mir ist keine vergleichbare Biografie bekannt, in der mit solcher kritischen Offenheit und mit einer dichterisch zu nennenden Subtilität auch die Nuancen extremer Gefühle aus Situationen vergegenwärtigt werden, in denen man dem seelischen Sterben und physischen Tod nahe war. Ruth Klüger berichtet aber keineswegs nur über seelische Verwundungen. Was ihr Buch auch auszeichnet, ist das Ineinanderblenden verschiedener Zeit- und Erfahrungsebenen, sind die Reflexionen über sich als weibliche Schreibende, über die Beziehungen zu den Deutschen und zu Amerika heute. Schonungslos benennt sie die anti- wie philosemitischen Verdrängungsmechanismen im gegenwärtigen Deutschland. Und immer wieder kommt sie auf die im wörtlichen Sinne lebensrettende Bedeutung der Lyrik zu sprechen. Von ihren eigenen Gedichten hat sie einige in die Biographie übernommen, weil sich gerade in ihnen ihre Lebensstationen dokumentieren. Eine Überlebenshilfe waren ihr in den Lagern auch Gedichte von Schiller und Goethe. Ihre Biographie zeigt, von welch existentieller Bedeutung es sein konnte, in und nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Ihr Schicksal vergleicht Ruth Klüger mehrmals mit dem des lieben Augustin, des Symbols der Lebensbejahung in katastrophalen Zeiten. Der liebe Augustin aus Wien fiel in eine Pestgrube, schlief unter Leichen und kam doch heil davon. „Erschüttern“, betont die Autorin, will sie mit ihrer Biographie niemanden. Das Buch ist nicht zuletzt ein Dokument der Lebensbejahung, weshalb auch der Titel „weiter leben“ gewählt wurde. Die Bewunderung der Leserinnen und Leser wird aber nicht nur diesem Lebenswillen gelten, sondern auch der intellektuellen Integrität der Autorin und der literarischen Qualität dieses Buches. Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein, 1992.
George Steiner: Pädagogischer Eros und charismatische Aura Die Welt/Literarische Welt (18.12.2004) Unter den heutigen Literatur- und Kulturwissenschaftlern ist der Komparatist George Steiner einer der gelehrtesten und wortmächtigsten. Bei der Lektüre seiner Bücher können wir die dichterischen und denkerischen Entwicklungen nachvollziehen, wie sie von der Antike bis zur Gegenwart verlaufen. Ob es um Homer, Dante, Shakespeare oder Kafka geht: Steiner lenkt unsere Aufmerksamkeit rasch auf die zentralen Aspekte im Werk großer Meister. Er ist nicht nur ein prominenter Buchautor, sondern auch ein begnadeter Pädagoge. Jahrzehnte lang hat er
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an den besten Universitäten Europas und Amerikas gelehrt. Nun legt er einen essayistischen Band vor, in dem er fragt, was das Besondere, das Einzigartige des akademischen Unterrichts ausmacht, was es auf sich hat mit der Beziehung des Meisters zu seinen Jüngern, des Professors zu seinen Studenten. Steiner denkt nach über die typologischen, psychologischen, historischen und literarischen Seiten der Meister-Jünger-Beziehung. Er beschreibt drei Grundtypen: erstens den geglückten intellektuellen Austausch, der in wechselseitigem Vertrauen und im Glauben an die gleiche Sache stattfindet; zweitens eine Art vampirisches Verhältnis, in dem der Lehrende den Lernenden abhängig macht, ihn ausbeutet und psychisch zerstört; drittens den Verrat des Schülers am Lehrer, wobei der Meister gestürzt und zugrunde gerichtet wird. Innerhalb dieses Spektrums gibt es alle denkbaren Mischformen, nicht selten kommen alle drei Typen in einer geistigen Kommunikationsgemeinschaft vor, etwa im George-Kreis und in der Freud-Schule. Beim „echten Lehren“ wird nach Steiner eigentlich ein „göttlicher Enthüllungsakt“ nachgeahmt. Modell aller Pädagogik sei – auch in der säkularisierten Moderne – der Auslegungsakt religiöser Schriften: der Thora, des Neuen Testaments, des Korans. Zudem aber sei das Unterrichten auch Aufführung und somit dramaturgischen Bedingungen unterworfen. Der Professor lehrt durch seine eigene Existenz, denn er führt den Studenten sein persönliches Verständnis eines Sachverhalts oder einer Überzeugung vor. Dabei greift er in das Innerste seiner Schüler ein: Ihre geistig-seelische Entwicklung wird durch ihn beeinflusst, zuweilen radikal verändert. Hier ist die vielschichtige psychische Wechselwirkung gemeint, für die Schiller den Begriff des „pädagogischen Eros“ prägte. Damit ist der erste Typus des Meister-Jünger-Verhältnisses angesprochen: Die erotische Seite dieser Beziehung – inklusive des eifersüchtigen Ringens um besondere Aufmerksamkeit – fasziniert Steiner am meisten. Häufig kommt er darauf mit Beispielen aus der Religions-, Philosophie- und Literaturgeschichte zu sprechen. Platons „Gastmahl“ zufolge verliebte sich der junge Alkibiades in den asketischen Sokrates; nach dem Evangelium des Johannes hatte Jesus einen Jünger, dem sein besonderes Vertrauen galt; Abaelards und Heloises gegenseitige Zuneigung ist in ihrem Briefwechsel dokumentiert und überhöht; und der Marburger Professor Martin Heidegger kann den Reizen der Studentin Hannah Arendt nicht widerstehen, wie ihre Korrespondenz belegt. Der Eros des Intellekts, meint Steiner, sei heftiger als jeder andere. Das mag ein professorales Vorurteil sein, aber sicher ist, dass der Zauber des geistigen Austausches eine erotische Dimension hat, die vergleichbar in anderen Situationen zwischenmenschlicher Beziehungen nicht erfahrbar ist. Pfingstartige Erlebnisse sind mögliche, aber selten gewordene Gipfelpunkte in der Praxis des akademischen Unterrichtsbetriebs. Unsere an Charisma so arme
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Zeit hat nach Steiner nur ein einziges Lehrgenie vom Rang des Sokrates hervorgebracht: die Französin Nadia Boulanger. Sie habe im 20. Jahrhundert die besten Komponisten und Musikinterpreten ausgebildet. Dass man heute nicht selten den pädagogischen Eros mit Strafprozessen wegen „Belästigung“ vertreibe oder gar exekutiere, ist Steiner ein pathologisches Symptom – womit er selbstverständlich nicht die sexuelle Ausnutzung von Abhängigkeiten in Schutz nimmt. Was sich da als puritanische Korrektheit auf dem Campus breitmache, ziehe Angst und Krampf nach sich, und das könne nur zu schlechter Lehre führen. Die wiederum sei eine Versündigung am Geist der Pädagogik, sei mit ihrer Leere und Langeweile „buchstäblich mörderisch“. Der zweite Steinersche Typus handelt von den Vampiren unter den Meistern. Von ihnen können viele ehemalige Lehrlinge in Handwerksbetrieben oder wissenschaftliche Assistenten an Universitäten Klagelieder singen. Ausbeutung ist immer zu verwerfen, und wer ihr Opfer wurde, ist nicht unbedingt zum Freiheitspropheten prädestiniert, setzt vielmehr häufig die Unterjochung fort. Der Autor erinnert an das Verhältnis zwischen Tycho Brahe und Johannes Kepler sowie an den Fall Karl Popper/Joseph Agassi. In beiden Fällen hatten die Schüler (Kepler und Agassi) sich ihre Ausbildung entschieden hilfreicher und fruchtbringender vorgestellt. Trotz oder wegen ihrer Enttäuschung gelingt hier nichtsdestoweniger die vom Jünger intendierte Ausbildung zum Meister. Zum dritten Typus: Der Autor zitiert zwei eklatante Verratsakte von Jüngern. Da wird theologisch-hermeneutisch reflektiert über die Art und Weise, wie Jesus beim letzten Abendmahl den Apostel Judas als Abtrünnigen identifiziert. Nicht weniger ausführlich wird die Abkehr Heideggers von seinem jüdischen Lehrer Edmund Husserl geschildert. Heidegger verhielt sich nach der Machtergreifung Hitlers wie ein Nationalsozialist und vergaß die schlichtesten Regeln des Anstands und der Dankbarkeit. Husserl hatte seinem Lieblingsschüler den Weg zu einer glänzenden Professorenkarriere geebnet, sogar durchgesetzt, dass er sein Nachfolger in Freiburg wurde. Heidegger aber wandte sich von seinem verfolgten Lehrer ab und hielt als neuer Rektor eine Rede, mit der er sich als „Führer des Führers“ etablieren wollte. Steiners essayistisches Schreiben zeichnet eine intellektuelle Verve aus, die wir auch von seinen Vorträgen her kennen. Das gesprochene Wort ist ihm wichtig, und sein Buch enthält luzide Passagen über die inspirierende Kraft der freien Rede. Aber gleichzeitig ist er ein Verehrer des Textes. Wenn er die diasporeske jüdische Identität erklärt, definiert er: „Das jüdische Heimatland ist der Text.“ Am schönsten sind die aphoristischen Formulierungen, in denen die Emanzipation des Jüngers vom Meister als Teil der Lehre selbst gefordert wird. So schreibt er einmal: „Groß zu lehren heißt, im Schüler Zweifel zu wecken,
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ihn zum Andersdenkenden auszubilden. Es heißt, den Jünger für die Abreise zu schulen.“ George Steiner, Der Meister und seine Schüler. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München: Hanser, 2004.
Carl Zuckmayers Deutschlandberichte von 1947 Die Welt/Literarische Welt (23.10.2004) Die meisten Emigranten, die vor Hitler in die USA geflohen waren, hatten es verständlicherweise nach Kriegsende nicht eilig, in das zerstörte Deutschland zu reisen. Carl Zuckmayer, vom Naziregime aus rassistischen und politischen Gründen verfolgt, aber brannte darauf, seine Freunde und Verwandten in der alten Heimat zu besuchen. Im November 1946 war es so weit: Er konnte auf Kosten der amerikanischen Regierung für fünf Monate durch die US-Besatzungszonen in Deutschland und Österreich fahren und sogar einen Abstecher in die Schweiz unternehmen. Während des Aufenthalts in Zürich feierte er am 27. Dezember 1946 seinen 50. Geburtstag. Es gab noch einen anderen Grund zum Feiern: Am Schauspielhaus Zürich hatte zwei Wochen zuvor die stark beachtete Premiere von „Des Teufels General“ stattgefunden. Elf Monate später folgten Aufführungen in Hamburg und Frankfurt – das Stück wurde eines der meistgespielten Dramen auf der deutschen Nachkriegsbühne. Die amerikanischen Besatzungsbehörden waren – als Teil der Armee – dem United States Department of War in Washington unterstellt. In der Film & Theater Reorientation Branch, die das Ministerium für die besetzten Länder geschaffen hatte, brauchte man fachmännische Berater, und zu ihnen gehörte Zuckmayer. Er bekam einen auf zwölf Monate befristeten Vertrag als ziviler Angestellter. Dass Emigranten wie Thomas Mann, Brecht und Remarque – aus unterschiedlichen Gründen – die Augen rollten, die Stirnen runzelten, die Nasen rümpften, als sie von „Zucks“ politischer Mission hörten, störte ihn nicht. In der für ihn bezeichnenden Art quittierte er die Bedenken mit dem Götz-Zitat. Seine Aufgabe bestand darin, eine Inspektionsreise durch die amerikanischen Besatzungszonen zu unternehmen. Danach sollte er einen Bericht über die Theater- und Filmsituation abliefern. Zuckmayers Ansprechpartner während der Tour waren die Kontrolloffiziere der amerikanischen Militärregierung, die in den deutschen und österreichischen Städten für Theater- und Filmbelange zuständig waren. Als Zuckmayer den „Report“ im Frühjahr 1947 in Washington ablieferte, war sein Vorgesetzter gerade entlassen worden. Der Kalte Krieg hatte begonnen, und
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viele liberal Gesonnene wurden – besonders in der Verwaltung der besetzten Länder – durch sog. Patrioten ersetzt. Der neue Chef interessierte sich nicht für die Empfehlungen des Schriftstellers, und so verschwanden sie in den Aktenschränken. Dank germanistischer Findigkeit erscheint der Text jetzt – kundig kommentiert und eingeleitet – im Wallstein Verlag, zu dessen Verdiensten die Publikation von Exildokumenten zählt. Zuckmayer konstatiert einen Verlust an Talenten und künstlerischer Qualität im Vergleich zu den zwanziger Jahren. Er ist aber beeindruckt davon, dass bereits fünfzehn Monate nach Kriegsende die Theater wieder geöffnet sind, dass Intendanten und Direktoren wie Karlheinz Martin in Berlin, Karl Heinz Stroux in Wiesbaden und Erich Engel in München ein hohes Spielniveau halten. Auch freut er sich über den Erfolg von Thornton Wilders „Wir sind noch einmal davon gekommen“ – schon der Titel drückte die Befindlichkeit der Zuschauer aus. Seine Vorschläge: Die Amerikaner sollten sich sowohl an den Russen wie den Engländern ein Beispiel nehmen und Mittel für den Wiederaufbau von Theatern bewilligen. Wenn man bei den Deutschen eine Reorientierung – weg von der Nazimentalität hin zu demokratischen Vorstellungen – erreichen wolle, dürfe man ihnen nicht mit amerikanischer Propaganda kommen, sondern müsse Streifen drehen und Stücke aufführen, mit deren Helden sich das Publikum identifizieren könne. Emphatisch verlangt er, dass Dokumentarfilme über den deutschen Widerstand gedreht werden. Zuckmayer kannte einige Mitglieder des Kreisauer Kreises persönlich. Er war ein Freund Carlo Mierendorffs gewesen und ein Bekannter Helmuth James Graf von Moltkes, Wilhelm Leuschners und Ulrich von Hassels. Über die Geschichte der Weißen Rose, über den Protest der Münchner Studentengruppe um die Geschwister Scholl, solle ein Spielfilm produziert werden. „Ich bin der festen Überzeugung“, hält Zuckmayer fest, „dass wir einen schlimmen Fehler machen, wenn wir die Themen des deutschen inneren Widerstands gegen Hitler vernachlässigen. Die Jugendlichen müssen wissen und sich daran erinnern, dass Deutsche für die Idee der Freiheit gestorben sind.“ Diese Vorschläge blieben unrealisiert. Der Produzent Erich Pommer (auch er ein Hitlerflüchtling) war der leitende Kontrolloffizier für Filmbelange, und er empfand Zuckmayers Inspektion als lästige Einmischung. Das meiste Geld seines Budgets wurde für den Dokumentarfilm über die Nürnberger Prozesse ausgegeben. Zuckmayer hielt wenig von dem Film, weil er ganz aus der Perspektive der Sieger gedreht worden war, und weil er die Leistung des Widerstands nicht würdigte. Der Autor fand die Reise so aufregend, ja aufwühlend, dass er sich mit einer Expertise über die Theater- und Filmsituation nicht begnügen mochte. Er war Schriftsteller und wollte Geschichten erzählen über seine Erlebnisse im daniederliegenden Deutschland. Seine Tour fiel in die Zeit des kalten, langen Winters von 1946/47, als die materielle Not besonders groß war. So entstand neben dem
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kürzeren, offiziellen Bericht für das Kriegsministerium noch ein längeres, dichterisch-essayistisches Manuskript allgemeinerer Art. Zuckmayer hätte dieses Dokument gerne dem neuen amerikanischen Außenminister George Marshall zukommen lassen, aber das scheiterte an mangelnden politischen Kontakten. Unter Marshall, den der Autor außerordentlich schätzte, war das European Recovery Program (ERP) ausgearbeitet worden, das im Juni 1947 offiziell verkündet wurde und als Marshall-Plan in die Geschichte einging. Das Projekt entsprang der Einsicht, dass die Demokratien in Europa nur eine Chance hätten, wenn sie wirtschaftlich prosperierten. In gekürzter Fassung erschien Zuckmayers Text Mitte September 1947 in „Life“, der auflagenstärksten Illustrierten Amerikas in den vierziger Jahren. Eine Übersetzung des Artikels wurde zudem zwei Monate später im Berliner „Tagesspiegel“ veröffentlicht. Erst in der vorliegenden neuen Edition wird dieser zweite „Report“ ganz abgedruckt. Es gab vorher schon eine Reihe vergleichbarer Berichte bzw. Stellnahmen: von AmerikanerInnen wie John Dos Passos und Dorothy Thompson und von Emigranten wie Hermann Broch und Volkmar von Zühlsdorff. Aber Zuckmayers Text ist der plastischste. Er hat jenen unnachahmlichen Ton des Autors, diese Mischung aus lebenszugewandter Empathie, Eros, Witz, Sinn fürs Traurig-Absurde und für das Glückhaft-Optimistische. Zuckmayer berichtet von Begegnungen mit Inge Scholl, Freya von Moltke, Marion Gräfin Yorck, Inge von Hassel. Er bejaht die innen- wie außenpolitischen Ziele des Kreisauer Kreises: Menschenwürde und Menschenrecht sind anzuerkennen, der Rechtsstaat ist wiederherzustellen, eine demokratische Regierung soll geschaffen werden, die NS-Verbrecher sind zu bestrafen, und Deutschland werde in Zukunft Teil eines europäischen Staatenverbundes sein. Für Zuckmayer ist die Nazizeit in der Geschichte der Deutschen wegen der Kriegsgräuel, der Ermordung der Juden und anderer Verbrechen eine Phase furchtbarer schuldhafter Verirrung, nicht jedoch ein Zielpunkt, auf den die deutsche Historie mit Notwendigkeit hat zusteuern müssen. Deswegen ist er zuversichtlich, dass die Entwicklung in Deutschland eine positive Wendung nehmen könne, und diese Zuversicht erklärt die Magnanimitas, die aus jeder Zeile seiner Aufzeichnungen spricht. Der Autor erzählt anrührende Geschichten darüber, wie Günther Weisenborn und Peter Suhrkamp Zuchthaus und Konzentrationslager überstanden haben. Im Mittelpunkt stehen Anekdoten über unbekannte Zeitgenossen, die er auf seiner Deutschlandreise kennengelernt hat. Das sind vor allem junge Leute, die sich in den Ruinen neue Existenzen aufzubauen versuchen: der bildungshungrige Zahnarzt in Berlin; der Schwarzmarkthändler in Frankfurt, der hofft, bald wieder als solider Handwerker sein Geld verdienen zu können; die samariterhafte RoteKreuz-Schwester in einem Großstadtbahnhof, die sich der ausgesetzten Babys annimmt; die skeptisch-ernsthaften jungen Leute bei einer SPD-Versammlung in
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Heidelberg. Angesteckt vom Optimismus Zuckmayers sagt ihm – allem Elend zum Trotz – ein junger Mann in Frankfurt: „Wir kommen aus dem Dreck heraus“. Der Autor betreibt keine Schönfärberei. Das Grauen des Hungerwinters von 1946/47, die Armut der Hinterbliebenen von Widerstandskämpfern und der Reichtum von Kriegsgewinnlern, die kriminellen Seiten des Schwarzmarkts mit Prostitution und Kinderhandel, die Not der displaced persons und das Entkommen von NS-Verbrechern: All das wird nicht verschwiegen. Scharf geht Zuckmayer mit der Praxis der Entnazifizierung ins Gericht. Statt schematisch Millionen von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in endlosen Verfahren zu überprüfen, solle man sich auf die Verfolgung der NS-Funktionsträger konzentrieren. Unbedingt müsse man die Prozesse gegen die Naziführer ergänzen durch die Förderung der Überlebenden des Kreisauer Kreises und anderer Widerstandsgruppen. „München ist in der Tat eine der deprimierendsten Städte, vielleicht weil sie früher eine der heitersten war“, heißt es einmal. Inmitten der Ruinen und des Schutts von Berlin und Mainz, Frankfurt und Darmstadt, München und Salzburg, Linz und Wien kommt ihm seine Reise manchmal irreal vor: als ob er von ihr „in einer alten Sage gelesen oder in einer Ballade gehört hätte“. Aber was er sieht, ist Realität, und was er empfiehlt, ist zukunftsträchtig. Hilfe, Unterstützung, Ermutigung für Deutschland und Österreich: das ist es, wofür der Autor bei seinen amerikanischen Mitbürgern wirbt. Hinzuweisen ist auch auf den vorzüglich edierten und kommentierten Briefwechsel Zuckmayers mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer. Die Nachkriegsjahre sind gut dokumentiert, und die Briefe aus dieser Zeit komplettieren den Eindruck, den die Deutschlandberichte vermitteln. Carl Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Hg. v. Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener. Göttingen: Wallstein, 2004. Carl Zuckmayer – Gottfried Bermann Fischer. Briefwechsel. Mit den Briefen von Alice Herdan-Zuckmayer und Brigitte Bermann Fischer. Band I: Briefe 1935–1977; Band II: Kommentar. Hg. v. Irene Nawrocka. Göttingen: Wallstein, 2004.
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Der Briefwechsel zwischen Carl Zuckmayer und Annemarie Seidel Die Welt/Literarische Welt (7.6.2003) „Ich empfing euch völlig nackt, indem ich mich auf der Landstrasse in Schwimmbewegungen dem Auto bäuchlings entgegenschnellte … Ihr hattet mir zwei Schlangen mitgebracht, die Du mit taschenspielerhaften und gleichzeitig etwas obszönen Gesten aus dem Busen zogst“, so schildert Carl Zuckmayer der Freundin Annemarie Seidel im April 1935 seinen Traum. Die erotische Beziehung zwischen Zuckmayer und Seidel lag da bereits fünfzehn Jahre zurück. Sie war die nie vergessene Voraussetzung einer lebenslangen Freundschaft. Seidel hatte 1922 einen ihrer alten Verehrer, den holländischen Anthony van Hoboken, geheiratet. Gleich danach schrieb Zuckmayer ihr, er wisse bestimmt, „dass wir uns nie ganz verlieren werden“. So war es. Von Träumen ist sonst wenig die Rede in dieser den Realitäten zugewandten Korrespondenz, die der Herausgeber Gunther Nickel zu Recht den „schönsten Briefwechsel“ des Autors nennt. Nickel hat in allen nur denkbaren Archiven recherchiert, und sein ausführlicher und kenntnisreicher Kommentar lässt keine Wünsche offen. Kennen gelernt hatte der junge Autor die gleichaltrige Schauspielerin 1920 in Berlin, als sein erstes Drama „Der Kreuzweg“ uraufgeführt wurde, in dem Seidel die weibliche Hauptrolle übernommen hatte. Es funkte gleich zwischen Autor und Aktrice. So verknallt sind wohl beide nie mehr gewesen, obwohl es in der Folge an Affären und ehelichen Bindungen weder bei Mirl noch bei Carlchen – wie sie sich nannten – mangelte. Als Zuckmayers Karriere begann, hörte die Seidels auf: Nach der millionenschweren Heirat verließ sie die Bühne. Die Ehe mit van Hoboken hielt ein Jahrzehnt; 1935 heiratete sie Peter Suhrkamp. Schon zu ihren Lebzeiten waren ihre frühen Theatererfolge vergessen, und so kannte man sie vor allem als Schwester der Schriftstellerin Ina Seidel. „Du bist ja Diskreteste der Diskreten“, lobt Zuckmayer seine Freundin einmal. Ihr kann er anvertrauen, wofür er bei seiner Gattin Alice wenig Verständnis fände: Seitensprünge, Bordellbesuche, Sauftouren. Schade, dass so viele Briefe Annemarie Seidels verloren gegangen sind. Vielleicht parierte sie seine Bekenntnisse und Geständnisse mit vergleichbaren Geschichtchen – in einem späten Brief erinnert sie an eine gemeinsame Bekannte, die gerade verstorben war: eine „kurzlebige Orchidee des Sumpfbodens, deren Abendbrot aus Luminal, das Frühstück aus Morphium Kokain Opium und ein wenig Pyramidon bestand, auf einem Schälchen garniert. Dazu die vielen Verehrer die allnächtlich nach Jesus schrien“. Wenn Zuckmayer reist, lässt er nie aus, neben Kathedralen und Museen auch die
Carl Zuckmayers Berichte und Briefe
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Rotlichtdistrikte zu besuchen. 1930 ist er in Marseille und nimmt nachts „Urlaub“ von seiner „leise knurrenden“ Gattin, um „in der Puffstrasse hinterm Hotel de Ville“ junge Tunesierinnen zu besuchen. Und im amerikanischen Exil erklärt er „die Sprungfedermatratze“ zur „einzig praktischen Sprachschule“. Während der Überfahrt freut sich Zuckmayer darüber, dass „der Kapitän“ nicht „nur literarisch sehr beschlagen ist, sondern auch trinkt“, und nach seiner Ankunft in den USA verliebt er sich in eine amerikanische Filmschauspielerin, mit der er den Sommer 1939 in Hollywood verbringt. Der Briefwechsel erschöpft sich aber nicht in Schilderungen der schönen Seiten des Lebens. In den frühen dreißiger Jahren wohnt der Autor in Henndorf bei Salzburg. Nach dem „Anschluss“ Österreichs emigriert er in die Schweiz. Von dort vertraut er Seidel Anfang 1939 an, wie ihn die politische Situation bedrückt: „Diese Abende“, heißt es da, „kommen jetzt immer mit einer barbarischen, einer urweltlichen Traurigkeit. Und was geschieht mit den Menschen, jeden Tag, und was wird überall Scheußliches getan und gesonnen, und welche Berge von Schuld und Jammer türmen sich auf. Es muss ja etwas ganz Furchtbares geschehen, mir ist als spüre ich es in jeder Faser voraus.“ Kein Wunder, dass er New York, die erste Station seines amerikanischen Exils, als große Befreiung erlebt. „Mirl“, heißt es im Juni 1939 begeistert, „wir sind seit drei Tagen in New York, – und es ist großartig, herrlich, überwältigend, hinreißend! Keine Beschreibung, kein Film gibt auch nur eine Ahnung davon. Ich bin wie besoffen von dieser Stadt, – von ihrer Landschaft und ihrer Kraft“. Gleich im ersten Jahr nutzt er die Gelegenheit, durch das Land zu reisen: „durch Texas, New Mexico, Arizona nach Californien“. Zuckmayer kann und will während des Krieges nicht schreiben. Auf einer Farm in Vermont schlägt er sich mit seiner Frau recht und schlecht durch. Sein Amerika-Enthusiasmus hält trotz der widrigen Umstände an. Ein Jahr nach Kriegsende heißt es: „Amerika ganz zu verlassen“ würde „eine neue Emigration bedeuten“. Dabei ist die Existenz als Farmer überhaupt nicht idyllisch, und er klagt über die „Schinderei“, die sie bedeutet habe: „Holzschlagen, Melken, Stallreinigen, Säckeschleppen“. Die meisten erhaltenen Briefe Annemarie Seidels stammen aus den Jahren nach 1945. Sie vergegenwärtigen auf bedrängende Weise die Not im zerstörten Berlin. Die Stadt, berichtet sie Zuckmayer im ersten Nachkriegsherbst, sehe „zum Händeringen aus, ein starrendes Skelett, eine einzige Wunde mit verkohlten Wundrändern, und in den Bahnen trampeln sich die Leute tot“. Ein anderes Mal fragt sie ihn: „Kannst Du es Dir vorstellen, versuche es, dass vom ganzen Tiergarten kein Baum mehr steht?“ Der Autor ist hilfsbereit und versorgt seine Freundin und Peter Suhrkamp mit Care-Paketen. Er würdigt die Opfer des Widerstands gegen Hitler und betont 1946, dass das Vermächtnis des 20. Juli „die Grundlage aller zukünftigen Zielsetzung“ in Deutschland sein solle.
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Der Briefwechsel ist über das Private und Zeitgeschichtliche hinaus auch literaturhistorisch interessant. Von berühmten und vergessenen Dichtungen Zuckmayers ist die Rede. Der Autor will erklären, warum ihn der „Hauptmann von Köpenick“ interessiert, und wie er sich in die deutsche Situation der Kriegsjahre zu versetzen suchte, als er im Exil „Des Teufels General“ schrieb. Lesenswert auch, wenn er sich kritisch über die Ideologien und bewundernd über die Begabungen zeitgenössischer Autoren wie Brecht oder Jünger äußert. 1947 besucht er die amerikanischen Zonen in Deutschland und Österreich, um sich ein Bild von der Film- und Theatersituation zu machen. Er ist Kulturberater der US-Militärverwaltung. Für die Arbeit – so erklärt er in einem Brief vom Juli 1946 – habe er sich vorgenommen: „Ich werde und will mit den ,Fällen‘ (Verbieten oder Zulassen und Entscheiden wer mehr oder weniger böse war) nichts zu tun haben – ich bin ja kein Gott und auch kein Staatsanwalt.“ Aber ein bisschen Gott und ein bisschen Staatsanwalt spielt er dann doch in seinem „Geheimreport“ für die amerikanische Besatzung. Da teilt er seinen Bekanntenkreis in Kategorien ein: Voll-, Halb-, Fast-, Nicht- und Anti-Nazis. Aber davon hat er seiner Freundin nichts berichtet. 1957 nahm Zuckmayer Abschied von seinem (vielleicht doch nicht so innig) geliebten Amerika, um sich im schweizerischen Saas-Fee niederzulassen. Zu diesem Zeitpunkt hört der Briefwechsel mit seiner Freundin auf. Annemarie Seidel starb zwei Jahre später an den Folgen ihrer Trunksucht. Nach der Lektüre der Korrespondenz kommen einem die Briefpartner wie gute Bekannte vor. Als wär‘s ein Stück mit ihr und von ihm – und in toto ergibt sich ein Bild der menschlichen Tragikomödie. Carl Zuckmayer – Annemarie Seidel. Briefwechsel. Hg. v. Gunther Nickel. Göttingen: Wallstein, 2003.
Egon Schwarz erzählt vom Reisen Frankfurter Rundschau (13.6.2002) Wenn er nicht gerade unterwegs ist zu Vorträgen auf einem anderen Kontinent, lebt der bald achtzigjährige Egon Schwarz als emeritierter Germanistikprofessor im amerikanischen St. Louis. Reisen als Passion, Nomadentum als Existenz: Er ist der Peregrinus unter den Germanisten. Als sechzehnjähriger jüdischer Gymnasiast erlebte er 1938 in Wien den „Anschluss“ Österreichs. Mit seinen Eltern gelang ihm die abenteuerliche Flucht nach Frankreich. Bolivien war das einzige Land, das den Verfolgten eine Aufenthaltsgenehmigung gewährte, und so schiffte sich die Familie von La Rochelle-Pallice aus nach Südamerika ein. Die Schiffsreise
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über den Atlantik wurde für ihn – so traurig ihr Anlass auch war – eine Entdeckungsreise besonderer Art. Auf dem alten Dampfer absolvierte er nicht nur einen Schnellkurs in Menschenkenntnis, sondern machte sich auch mit der spanischen Sprache vertraut. Was folgte, war ein Jahrzehnt der Wanderjahre durch verschiedene Länder Lateinamerikas. Die dort gesammelten Erfahrungen in Staaten der sog. „Dritten Welt“ haben ihn geprägt. Es gibt nur wenige Literaturwissenschaftler, die wie er den Globus so extensiv bereist haben und die sich gleichsam überall zu Hause fühlen. Mit seiner Empathie und seinem Einfühlungsvermögen ist er an den Universitäten der ärmsten Länder wie an den Akademien reicher Metropolen willkommen, und gerne erinnert man sich an die Gespräche mit ihm, dem Kosmopoliten, dem im Wortsinne in so vielem Bewanderten, dessen Engagement und Weisheit alle, die ihn kennengelernt haben, zu schätzen wissen. Gewaltsame Kulturkonfrontationen, die uns heute erneut beunruhigen, hat Egon Schwarz als rassisch Verfolgter schon in seiner Jugend erlebt. Toleranz statt Fanatismus, Anerkennung statt Ausschluss, Dialog statt Feindschaft, Humor statt Verbitterung, Bereitschaft zur Selbstkritik statt Hybris sind die Tugenden, die er für sich als richtig erkannt hat, die sich bei seinen Reisen um den Erdball bewährten, und die das Erkenntnisinteresse bei seinen Studien zu Eichendorff, Hofmannsthal, Rilke, Thomas Mann und Schnitzler geleitet haben. Wer dieses Reisebuch gelesen hat, wird mehr über Egon Schwarz wissen wollen, und so sei auf seine Autobiographie „Keine Zeit für Eichendorff“ von 1979 verwiesen. Von seiner Lebenszugewandtheit und Menschenfreundlichkeit strahlt auch sein neues Buch viel aus. Der Autor ist nicht nur häufig unterwegs, er teilt die Erlebnisse seiner Exkursionen auch gerne mit. In seinen „ungewöhnlichen Reisegeschichten“ erzählt er von Fahrten durch Latein- und Nordamerika, durch Europa, Asien und Australien bzw. Neuseeland. Die Titelgeschichte „Die japanische Mauer“ hält eine bezeichnende Episode fest. Wie oft bei seinen Besuchen fremder Länder, befand sich der Autor auch in Japan auf den Spuren eines Schriftstellers. Er wollte eine der Stätten besuchen, wo man die Erinnerung an Lafcadio Hearn wachhält. Der Europäer und Amerikaner Hearn hatte schon hundert Jahre zuvor gezeigt, dass Goethe mit seiner Auffassung von Weltliteratur recht hatte: dass es nämlich keine unüberwindlichen Mauern zwischen den Kulturen gibt, dass man, Zeit und Interesse vorausgesetzt, die unterschiedlichsten Zivilisationsformen studieren und erlebend begreifen kann. Wenige haben für das westliche Verständnis der japanischen Kultur in der Zeit um 1900 so viel getan wie Lafcadio Hearn. Der ehemalige Berichterstatter für „Harper’s Magazine“ hatte für sich den ‚Japanese Way of Life‘ entdeckt. Die Überwindung einer Mauer nahm nun ausgerechnet bei diesem Ausflug so konkrete
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wie komische Züge an. Hier scheint, wie oft in diesem an Anekdoten so reichen Buch, Schwarzens Selbstironie durch. Seine Frau Dorle und er stehen in Matsué vor einem märchenhaft zu nennenden Schloss, aber die Besuchszeit ist bereits abgelaufen. Kurzerhand entscheiden sich die beiden, die hohe Mauer, die das Kastell umgibt, zu erklettern. So gelangen sie in den Burghof und werden mit dem Blick auf ungeahnte architektonische Schönheiten und fabelhafte Gärten belohnt. Alleine flanieren sie durch die Anlagen; es wird dunkel, und die hohe Mauer erneut zu überwinden, erweist sich als riskant. Sie pochen an Türen und Fenster und sehen einen Beamten, der, in Alarmstimmung versetzt, heftig gestikulierend telefoniert. Statt ihnen das Tor zu öffnen, ruft er die Polizei. Die beiden – nicht mehr ganz jungen – illegalen Besucher fliehen über die Mauer und können mit Not den Schlossbezirk verlassen. Kaum sind sie am äußeren Tor angekommen, rast auch schon mit Sirenengeheul ein Polizeiauto heran. Die Beamten fragen die älteren Herrschaften, ob sie nicht verdächtige Gestalten beim Übersteigen der Mauer gesehen hätten. Dem Buch vorangestellt ist eine Einleitung mit dem Titel „Grenzüberschreitungen“, ein Bericht, in dem sich eine stille Wut des Autors über den „tyrannischen Firlefanz der Grenzen“ Luft macht. Ein Katalog absurder Erlebnisse an Staatsgrenzen in aller Welt wird ausgebreitet, und man versteht das Résumée des Autors, dass „in unserem Jahrhundert ein Wesen ohne Reisepass eigentlich nicht mehr als Mensch gilt“. Bei diesem Urteil wirken traumatische Erlebnisse seiner Jugend nach, als mit dem Übergriff Hitlers auf Österreich und die Tschechoslowakei nur die illegale Grenzüberschreitung ihm das Leben rettete. Ab und zu jedoch trifft er an irgendeiner Grenze unverhofft einen Beamten, der widersinnige Bestimmungen außer Kraft setzt. Solche Lichtblicke werden auch erwähnt. Als positiv vermerkt der Autor zudem die neuen Reiseerleichterungen in der Europäischen Union. Es ist ein wunderbares Lesebuch: Egon Schwarz während der fünfziger Jahre auf seiner ersten Schiffsreise über den Atlantik Richtung Europa zu folgen, als man sich für die Fahrt von New York nach Bremen noch Zeit nahm; ihn auf den Wanderungen und abenteuerlichen Autofahrten durch Ecuador oder den amerikanischen Westen zu beobachten; die Strapazen einer Fahrt durch den menschenleersten Teil Islands nachzuerleben oder ihm durch das dicht besiedelte Bombay zu folgen; ihn zu beobachten, wie er es schafft, trotz arabischer Stempel im Reisepass Israel zu besuchen und sich dort kurz vor dem Sechstagekrieg von 1967 Jerusalem mit der Muße eines Touristen anzuschauen; ihm zuzuhören bei seinen Erzählungen über das Spanien der fünfziger Jahre, das ihm, der inzwischen Amerikaner geworden war, wie die Welt von Vorgestern vorkommt; mit ihm in den sechziger Jahren die Indio-Dörfer von Chiapas zu besuchen, also einen Teil Mexikos kennenzulernen, den es so heute nicht mehr gibt; sich mit ihm über ita-
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lienische Gastfreundschaft zu freuen und über italienische Bürokratie zu ärgern; schließlich seinen Enthusiasmus über Neuseeland verstehen zu lernen: all das lohnt die Lektüre. Das Buch ist nicht nur lebhaft und plastisch erzählt, es macht auch erneut Mut, sich gegen den grassierenden Fremdenhass zu wenden, und steigert die Lust, an anderen Lebensweisen teilzuhaben. Egon Schwarz, Die japanische Mauer. Ungewöhnliche Reisegeschichten. Siegen: Carl Böschen, 2002.
Ernestine Schlant über die deutsche Literatur und den Holocaust Neue Zürcher Zeitung (31. Januar 2002) Am Anfang ihres Buches weist Ernestine Schlant auf ein unspektakuläres, selten erwähntes Holocaust-Denkmal hin, über das es keine landesweite oder gar internationale Kontroverse gab, das aber in seiner Aussagekraft die Autorin berührt haben muss: das Mahnmal vor der Station Grunewald in Berlin, vor jenem Bahnhof, von dem aus die Deportationszüge nach Auschwitz fuhren. Es ist eine Mauer, aus der die Konturen menschlicher Gestalten, die sich in Richtung Bahnhof bewegen, ausgespart sind. Die hier verdeutlichte Anwesenheit der Abwesenheit der verschleppten und ermordeten Juden ist nach Schlant ein Signum der deutschen Literatur seit 1945: Hier sei das Schweigen über den Holocaust das auffallendste Merkmal. Schlants Untersuchung ist als Beitrag der Literaturwissenschaft zum Thema Holocaust eine der wichtigsten neuen germanistischen Arbeiten. Die Autorin erforscht Romane bundesrepublikanischer Schriftsteller, in denen Krieg und Holocaust vorkommen. Sie entdeckt, dass viele Romanciers sich an einer Strategie des Schweigens beteiligten, wie sie allgemein bezeichnend war für die deutsche Nachkriegszeit. Schlant benutzt als Erklärungs- und Wertungsgrundlage das psychopolitische Modell von Alexander und Margarete Mitscherlich, wie sie es in „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) entwickelt haben. Der Selbstschutzmechanismus, wie er dort beschrieben wird, habe die Deutschen zwar vor Melancholie bewahrt, ihre Trauerarbeit aber verhindert. Die massenpsychische Verdrängungsmanie war nach Schlant so stark, dass sie auch ihre Wirkung auf die Autoren der Gruppe 47 nicht verfehlte. Sie hätten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, über kein ausreichend kritisch-dichterisches Potenzial verfügt, um den Kordon des Schweigens zu durchbrechen und den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) zu benennen. In ihrer Literatur sei entweder primär von den Deutschen
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als Opfern während des Krieges im Trümmer-Deutschland die Rede (bei Böll und Grass sowie dem Außenseiter Hermann Lenz), oder es handle sich um philosemitische Konstruktionen, die beim Leser keine emotionale Identifikation mit dem jüdischen Protagonisten zuließen (so bei Andersch). Schlant übersieht aber keineswegs jene Autoren, welche die HolocaustVerbrechen benannten und das Verschweigen thematisierten. Hier nennt sie Wolfgang Koeppen und vor allem jüngere Schriftsteller wie Gert Hofmann, Peter Schneider und W. G. Sebald. Mit ihren Romanen hätten sie die von den Mitscherlichs eingeklagte Trauerarbeit geleistet. Die Bücher dieser Romanciers werden subtil analysiert; genaues Lesen wird gekonnt mit kulturgeschichtlichem Kontextualisieren verbunden. Die Interpretation von Koeppens „Tod in Rom“ gehört zu den überzeugendsten Arbeiten, die bisher über den Autor veröffentlich wurden. Schlant attestiert ihm einen objektiven Blick für die Inhumanitäten der Nazizeit und für die Flucht aus der Verantwortung während der Adenauer-Ära. Sie führt seine Unbestechlichkeit darauf zurück, dass der Autor seine literarische Sozialisierung noch während der Zeit der Weimarer Republik erfahren habe. Koeppen ist für sie ein Sonderfall in der literarischen Szene der frühen Bundesrepublik. Die ausbleibende Rezeption und sein frühes Verstummen haben, wie Schlant betont, mit der Schonungslosigkeit seiner Zeitkritik zu tun. Die Interpretation von Gert Hofmanns „Veilchenfeld“ führt ebenfalls ins Zentrum der Problematik, des Verschweigens des Holocaust. Hofmann zeigt, wie der Verdrängungsmechanismus, das Nichtwissenwollen um die Verbrechen an den Juden, bereits mitten in der Nazizeit begann und dass das Schweigen nach 1945 die Fortsetzung eines eingeschliffenen Verhaltens war. Ein eigenes Kapitel hat die Autorin jenen neusubjektiven Väter- und Mütter-Romanen gewidmet, in denen die Nachgeborenen Verstrickungen der Elterngeneration zur Sprache bringen. Hier wurde, etwa bei Elisabeth Plessen, Bernward Vesper und HannsJosef Ortheil, das bleierne Schweigen gebrochen. Überzeugend ist auch die Argumentation im Kapitel über Peter Schneiders „Paarungen“. Schneider sei es gelungen, den Umgang junger Deutscher mit jüdischen Freunden als Teil einer neuen kulturellen Befindlichkeit zu vergegenwärtigen. Die Enttabuisierung werde bei Schneider nicht bloß als moralische Anstrengung oder als aggressiver Akt im Kampf der Generationen, sondern als gelebter Alltag beschrieben. Souverän fallen auch Schlants zusammenfassende Darstellungen am Schluss des Buches aus. Da werden die verschiedenen Kontroversen, den Holocaust speziell und die Hitlerzeit allgemein betreffend, analysiert: Bitburg-Skandal, Historikerstreit, Fassbinder-Debatte, Jenninger-Rede, Wiedervereinigungsdiskussion. Literatur arbeitet bekanntlich nicht mit mathematisch eindeutigen Formeln, sie ist immer offen für neue Deutungen. Bei der Lektüre von Schlants Studie drängen sich auch Fragen auf. Werden in Bölls Erzählung „Über die Brücke“ oder
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im Roman „Neue Zeit“ von Hermann Lenz nicht Metaphern gefunden und Erzählweisen ausprobiert, um die neue Inhumanität, das Schweigen über die Verbrechen der NS-Zeit, zu verdeutlichen? Wird der Holocaust dort vielleicht deswegen nicht erwähnt, weil das Schweigen über ihn selbst das Thema ist? Was „Die Unfähigkeit zu trauern“ als Maßstab betrifft: Könnte man nicht die Mitscherlichsche Massenpsychologie und die behandelten Romane dialektisch aufeinander beziehen? Die Autorin betont die seismographische Fähigkeit der Dichtung. Kann also Literatur nicht auch zur Kritik theoretischer Modelle herangezogen werden? Relativiert nicht Hofmanns „Veilchenfeld“ die These der Mitscherlichs, dass der deutsche Verdrängungsmechanismus durch die blockierte Trauer über den Tod des „Führers“ ausgelöst worden sei? Schlants Buch ist kein Abschluss, sondern ein Anfang. Durch ihre exemplarischen Studien zum Thema Schweigen über den Holocaust wird auch deutlich, wie viel Literatur unter diesem Aspekt neu zu lesen ist: über den von ihr behandelten Erzählbereich hinaus in den übrigen Dichtungsgattungen und aus den anderen deutschsprachigen Literaturen. Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens: Deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck, 2001.
Simon Kronberg, ein vergessener Exilautor Neue Zürcher Zeitung (12./13.3.1994) Es gibt Autoren, deren Werk zwar kaum noch gelesen wird, deren Namen aber nichtsdestoweniger in Literaturgeschichten und -lexika genannt werden. Aus der expressionistischen Generation sind z.B. René Schickele, Carl Einstein und Rudolf Pannwitz zu nennen, denen ein solches Schicksal widerfahren ist. Will es die Gunst der Stunde, gelingt ihre Wiederentdeckung durch die Herausgabe eines Einzelwerkes oder einer Gesamtausgabe. Dass aber an einen expressionistischen Autor erinnert wird, der gänzlich vergessen ist, der in kaum einem der einschlägigen Handbücher auch nur dem Namen nach erwähnt wäre, ist eine außerordentliche Seltenheit. Simon Kronberg ist ein solcher Fall: Er gehört zu den vergessenen und verkannten Autoren der expressionistischen Generation. Außer Carl Otten – ehemals selbst ein expressionistischer Autor – hat niemand mehr an das Werk Kronbergs erinnert. Otten nahm 1959 in seine Expressionismus-Anthologie „Schrei und Bekenntnis“ Kronbergs „Schismen in der Stille“ auf. Der Klagenfurter Germanist Armin A. Wallas hat nun das Gesamtwerk Simon Kronbergs, das zum größten Teil aus dem Nachlass ediert werden musste, in zwei Bänden vorgelegt.
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Wallas ist den wenigen Spuren, die noch nicht verwischt waren, nachgegangen und ist auf ein Werk gestoßen, dessen erneute oder erstmalige Veröffentlichung sich in der Tat lohnt. Kronberg stammte aus einer jüdischen Familie Wiens, aber anders als seine Altersgenossen Hermann Broch und Stefan Zweig wuchs er nicht in einer akkulturierten jüdischen Familie des Wiener Großbürgertums auf. Kronbergs Eltern lebten bei seiner Geburt nicht im ersten, sondern im zweiten Bezirk Wiens, also in der Leopoldstadt, wo vor allem die sogenannten Ostjuden wohnten. So stammte Kronberg aus denkbar ärmlichen Verhältnissen. Seine Eltern waren aus Galizien nach Wien gekommen, wo sich ihr Austrian dream (in der Gründerzeit durchaus vergleichbar mit dem American Dream von Wohlstand und Unabhängigkeit) nicht erfüllte. Sein Vater blieb ein armer Hausierer, der seinen Kindern nichts vermachen konnte. Der Vater starb Ende der zwanziger Jahre, und die Mutter wurde 1942 von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt verschleppt, wo sie noch im gleichen Jahr starb. Um seinen Kindern die Akkulturierung zu erleichtern, änderte der Vater im Jahr 1900 seinen Namen von Arzt in Kronberg um. Der Sohn Simon konnte eine Realschule besuchen und studierte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an der Universität Wien, um sich auf das Realschul-Lehramt vorzubereiten. In der Universitätsumgebung konnte der junge Mann seine Begabungen kennenlernen und seinen Interessen folgen. Seine Lehramtspläne gibt er bald auf. Theater, Tanz, Literatur ziehen ihn in ihren Bann. Er geht nach Hellerau, in die Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus von Emile Jacques-Dalcroze, danach – das ist bereits 1915 – zur Hochschule für Bühnenkunst des Düsseldorfer Schauspielhauses. Die nächste Station ist Berlin, wo er in Franz Pfemferts expressionistischer Zeitschrift „Die Aktion“ seine ersten Gedichte veröffentlicht. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet er als Angestellter nacheinander bei der Post, der Stadtverwaltung und bei einer Versicherungsgesellschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg lernt er Hermann Kasack, Edlef Köppen, Oskar Loerke und den Verleger Gustav Kiepenheuer kennen. Kronberg gehört damals zum Kreis der von Wolf Przygode herausgegebenen Zeitschrift Die Dichtung. Seit Mitte der zwanziger Jahre ist Kronberg engagiert beim Jung-Jüdischen Wanderbund. 1934 emigriert er nach Palästina, wo er als Schuster in einem Kibbuz arbeitet. Von 1937 bis zu seinem Tod im Jahre 1947 lebt er in Haifa. In über drei Jahrzehnten ist Simon Kronbergs literarisches Werk entstanden. Am Anfang ist er ein unverkennbar expressionistischer Autor, dessen exklamatorisch-pathetischer Stil sich nur wenig von dem anderer „Aktion“-Autoren unterscheidet. Wie bei ihnen ist auch bei Kronberg die Lyrik durchsetzt mit religiöser Metaphorik. Das Besondere bei den expressionistischen Dichtungen Kronbergs ist aber, dass seine Bilder und Vergleiche sowohl der christlichen wie der jüdischen Religion entnommen sind
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und dass die jüdische Thematik im Lauf seiner dichterischen Entwicklung immer dominanter wird. Ja, man kann gleichsam von einer gegenläufigen Bewegung seiner Literatur zur kulturellen Verfassung der zwanziger und dreißiger Jahre sprechen: Je stärker der Faschismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus die literarische Szene beeinflussen, desto intensiver und ausschließlicher wird Kronbergs dichterische Wiederaneignung der jüdischen Religion und Tradition. Von den frühen Gedichten wie „Erdbeben“, „Kaddisch“, „Notturno“ und „Dämmerungs-Psalm“ in „Aktion und Dichtung“ über die großen Prosaarbeiten der zwanziger Jahre wie „Chamlam“, „Chasan“, „Erre Vawusche. Roman eines Juden“ bis zu den Chorspielen und Dramen der dreißiger und vierziger Jahre wie „Wir klagen dieses Volk an!“, „Wien 1936“, „Ehud. Ein Richter in Israel“, „Nittel oder Der Tod im Hafen“ ist ein Wille zu erkennen, in der deutschen Sprache eine Kultur lebendig zu erhalten und zu verteidigen, die immer stärker an die Peripherie gedrängt wird und die schließlich nach dem Willen der Nationalsozialisten gänzlich vernichtet und dem Vergessen anheimgegeben werden sollte. In diesem Kampf gegen die Tendenzen der Zeit wachsen Kronbergs literarische Kräfte. Seine Sprache, anfangs kaum von der anderer Expressionisten zu unterscheiden, wird präziser, direkter, individueller, schärfer und plastischer. Kronbergs erstes „Aktions“-Gedicht von 1916 war „Nacht“ betitelt, und wenn der Name des Autors nicht bekannt wäre, könnte man es irgendeinem seiner expressionistischen Kollegen zuschreiben: „Totenlampen lauern / im Gewölbe Nacht – / Steinerne Mauern trauern / um Särge von Geräusch – Verbranntes Lachen liegt in den Gassen.“ Wie anders als diese abstrakte Bildlichkeit dagegen die packende Sprache in den späteren Dramen wie „Nittel“, in dem es um den wachsenden Konflikt zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung geht, der in einem Judenpogrom gipfelt. Bei der Lektüre der Kronbergschen Texte bietet sich – in Form und Inhalt – das Bild einer ganz besonderen literarischen Symbiose dar, in der nämlich nicht das deutsch-europäische, sondern das jüdische Kulturerbe immer stärker in den Vordergrund tritt. Kronbergs Leben und Werk kennt drei Phasen: seine Kindheit und Jugend in Wien, seine Entwicklung zum literarischen Expressionisten im Berlin des Ersten Weltkriegs und der zwanziger Jahre und schließlich sein Leben in Palästina. Diese letzte Lebensphase ist gleichzeitig Exil und nicht Exil. Um ein Exil handelt es sich insofern, als Kronberg an der deutschen Sprache als Medium seiner Literatur in einer nichtdeutschsprachigen Umgebung festhält; aber Palästina war für ihn kein beliebiges Emigrationsland, in das man flieht, um sein Leben zu retten, sondern Ziel und Aufgabe. Nach zwei Jahren Arbeit im Kibbuz notierte Kronberg 1936: „Überzeugt von der Notwendigkeit des Lebensumbaus: Rückwandlung zum jüdischen Menschen.“ Aber auch in Palästina war Kronberg ein relativ isolierter
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Einzelgänger; auch hier blieb der Dichter an der Peripherie der Kultur des Landes, in dem er lebte. In der Gegnerschaft zu den Faschisten und Nationalsozialisten hatte Kronberg sich zunehmend politisiert. Während seine früheren Dichtungen von psychologischen Konflikten (mit dem Vater, der Mutter, dem Freund usw.) und der Beschwörung mythologischer und religiöser Themen lebten, sind seine dramatischen Arbeiten der dreißiger Jahre als Teil der antifaschistischen Literatur zu bewerten. Dabei greift er entweder direkt Themen aus dem Zeitgeschehen auf, oder er verdeutlicht seinen Standpunkt, indem er heroische Figuren aus der jüdischen Geschichte ins Zentrum seiner Dichtung rückt. In „Wir klagen dieses Volk an!“ rekapituliert Kronberg die internationale Diskussion um die Gründung eines neuen jüdischen Staates, und in „Wien 1936“ nimmt er Partei für die österreichischen Arbeiter in ihrem Kampf von 1934 gegen die Regierung. In „Ehud“ greift er die Geschichte des alttestamentarischen Richters auf, der den Moabiterkönig Eglon ermordet und Israel von der Fremdherrschaft befreit. Die vorliegende Edition ist aus vielen Gründen lobenswert. Nicht nur, dass Kronbergs Werk vor dem Vergessen bewahrt wird: Die – schon äußerlich sehr ansprechende – Ausgabe enthält auch einen instruktiven Kommentarteil, einen tabellarischen Lebenslauf des Autors und einen reichlich illustrierten, ausführlichen Aufsatz des Herausgebers Armin A. Wallas über Biographie und Werk von Simon Kronberg. Werkausgaben von einer solchen Qualität sind eine Seltenheit geworden. Simon Kronberg, Werke. Hg. v. Armin A. Wallas. München: Boer, 1993, 2 Bände.
Albrecht Betz über das Exil im Frankreich der 1930er Jahre Neue Zürcher Zeitung (3./4. Januar 1987) Das Buch „Exil und Engagement“ von Albrecht Betz ist mehr als eine Studie über die Situation der exilierten deutschsprachigen Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre. Es ist ein – flüssig geschriebenes – Buch über die Wechselbeziehungen von Literatur und Politik im Jahrzehnt 1930 bis 1940 in Frankreich und Deutschland. Die zeitlichen Begrenzungspole markieren die Wendepunkte des politisch-sozialen Gesamtklimas in Deutschland (1930) und in Frankreich (1940). Mit atemberaubender Geschwindigkeit schlägt nach der Weltwirtschaftskrise im Deutschen Reich des Jahres 1930 die liberale kulturelle Grundstimmung der Weimarer Republik um ins Völkisch-Militante und Dogmatische. Nicht mehr Schriftsteller wie Heinrich oder Thomas Mann und Politiker wie Stresemann ver-
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körpern den Geist der Zeit, sondern Autoren wie Ernst Jünger und Volkstribune wie Hitler avancieren zu den Schlüsselfiguren des gesellschaftlichen Geschehens. Die „Machtergreifung“, so wird bei Betz erneut deutlich, wurde unter Jüngers Stichwort „Totale Mobilmachung“ eingeleitet. Damals wird auch der „briandistische“ Geist der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland verabschiedet. In Büchern wie jenen von Friedrich Sieburg wird von nun an die deutsche „Kraft“ und „Dynamik“ gegen die französische „Schwäche“ und „Dekadenz“ ausgespielt. Nicht mehr die Leitgedanken der Französischen Revolution, nicht mehr die demokratischen „Ideen von 1789“ sind die Orientierungspunkte in den Debatten, sondern die Lebensphilosophien eines Nietzsche und Spengler bilden die Basis der diktatorischen „Herren“-Ideologien. Schon 1930 zeichnet sich ab, wie wenige Jahre später die Grenze zwischen faschistischen Propagandisten, Angepassten und Exilierten verlaufen wird. Indem Betz immer die zeitlich parallel laufenden Vorgänge in Frankreich mit jenen in Deutschland vergleicht, wird die historische Folie deutlich, von der sich die unterschiedlichen Positionen der Exilierten zwischen 1933 und 1940 abheben. Die Hintergrundinformation wird auch diachronisch verstärkt durch eingeblendete historische Exkurse über die wechselseitigen Emigrationen von Deutschen und Franzosen in das jeweilige Nachbarland seit der Zeit Ludwigs XIV: 1685 ziehen 30 000 Hugenotten, 1789 100 000 Geistliche und Adelige in die deutschen Länder; umgekehrt wächst die Zahl der Deutschen in Frankreich während der Restaurationszeit zwischen 1830 und 1848 auf 170 000 an, und nach 1933 fliehen 55 000 Personen aus dem Deutschen Reich nach Frankreich. Um die Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens im Exil zu verdeutlichen, skizziert Betz die literarisch-kulturelle Szene im Frankreich der zwanziger und dreißiger Jahre mit ihren „Unpolitischen“ wie Valéry, ihren Nonkonformisten wie Denis de Rougemont, den „Europäern“ wie Romain Rolland und den profaschistischen Anhängern des „neuen Deutschland“ wie Drieu La Rochelle. Mit seiner Streitschrift „Der Hass“ / „La Haine“ wird Heinrich Mann zum führenden Kopf der antifaschistischen Emigration in Frankreich, und diese führende Position baut er zur Zeit der Volksfront noch aus. Sein Neffe Klaus Mann erweist sich als militanter Kampfgefährte. Eine wichtige Rolle spielt innerhalb der Strategie der „Verteidigung der Kultur“ im Namen der „Ideen von 1789“ der Kongress vom Juni 1935 in der Pariser Mutualité. Zwei prominente – parteilich nicht gebundene – Intellektuelle dominieren den Kongress: André Gide und André Malraux. Am stärksten akklamiert wird Heinrich Mann, der bei allem Engagement für die Volksfront ein Einzelkämpfer bleibt. Das Bestechende an Betzens Darstellung ist, dass er die Verflechtung der politischen Vorgänge mit den Positionsveränderungen im kulturell-literarischen Bereich plausibel und mit großer Detailkenntnis analysiert. Der französisch-
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sowjetische Pakt von 1936 ist für die Volksfront-orientierten Emigranten so förderlich, wie der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 für sie fatal sein wird. André Gides Reisebericht „Zurück aus Sowjetrussland“ (1936) schlug unter den Exilierten ein wie eine Bombe. Betz schreibt, dass die „Affäre Gide“ in ihren Auswirkungen kaum zu überschätzen sei. Vom Standpunkt einer an den „Ideen von 1789“ orientierten politischen Moral aus kritisierte Gide den Dogmatismus, die Bürokratisierung und den Stalinkult in der Sowjetunion. Schon mit diesem Bruch begann die Umorientierung der linken, kritischen Intelligenz. Trotz oder wegen der unerbittlichen Ablehnung von Gides Schrift durch die kommunistischen Emigrantengruppen blieb sie von nachhaltiger Wirkung. Ab 1937 mehrt sich die Zahl jener emigrierten Schriftsteller, die in den beiden Diktaturen Hitlers und Stalins „Zwillingsbrüder“ sehen und nach einem „dritten Weg“ Ausschau halten. Ihnen schwebt ein mehr individuelles, zu jeglicher Parteipolitik auf Distanz gehendes Engagement vor. Zu den Verfechtern des „dritten Weges“ gehörten damals Ernst Erich Noth und Siegfried Marck. Etwas ausführlicher hätte man sich das Kapitel über den historischen Roman gewünscht, wie er im französischen Exil geschrieben wurde. Prominentes Beispiel ist Heinrich Manns „Henri Quatre“, und der Abschnitt über dieses Buch stellt eher eine Zusammenfassung bisheriger Forschungen als einen originellen Beitrag dar. Die Ausführungen über den „Fall“ von Paris im Jahre 1940 sind von bestechender Prägnanz. Hitlers Chefideologe Rosenberg verkündet in der besetzten französischen Hauptstadt den Sieg des „Mythus“ über die „Ideen von 1789“. Die zweite Wende wird geschildert: der Beginn der Kollaboration, das Ende der Emigration und die Anfänge der Résistance. In Jahren rasch wechselnder Moden relativ beliebiger Interpretationsverfahren stellt die historiographisch ausgerichtete Studie von Albrecht Betz mit ihrem hohen Informationswert, ihrer Objektivität und Solidarität das germanistische Muster einer Synthese von literarischer, kultureller und politischer Geschichtsschreibung dar. Albrecht Betz, Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der dreißiger Jahre. München: Edition Text + Kritik, 1986.
Ulrich Weinzierl dokumentiert das österreichische Exil in Frankreich Neue Zürcher Zeitung (14.2.1985) „Gar so natürlich ist es nicht, keines Landes Inländer und aller Länder Ausländer zu sein“, repliziert Werfels mit allen Emigrationswassern gewaschener
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Jacobowsky, als ihn ein Brigadier bei der Ausweiskontrolle anraunzt: „Ausländer natürlich!“. Werfel wusste, wovon er sprach. Er selbst hatte den Leidenskelch des Exils bis zur Neige getrunken: Als Jude aus dem von Hitler annektierten Österreich nach Frankreich vertrieben, folgte wenige Jahre später die lebensgefährliche Flucht über Spanien in die USA. Werfels Schicksal ist in mancher Hinsicht charakteristisch für die Stationen und Erfahrungen von Hitlerflüchtlingen aus Österreich. Die Besonderheit des österreichischen Exils und seiner Literatur wird erneut deutlich durch die von Ulrich Weinzierl herausgegebene Dokumentation über Österreicher im französischen Exil. Der Band enthält eine kurze, aber präzise Einleitung von Kristina Schewig-Pfoser und Ernst Schwager über die Asylpraxis, die politischen Gruppen, über Literatur und Kunst sowie die Beteiligung von Österreichern an der Résistance in Frankreich zwischen 1938 bzw. 1940 und 1945. Initiiert wurde dieses Buch durch Herbert Steiner, den Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Steiner hatte bereits 1975 – gemeinsam mit Viktor Suchy – ein internationales und interdisziplinäres Symposium zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945 in Wien einberufen. Weinzierls Dokumentation kann als Fortsetzung dieser Tagung gesehen werden. Es wird hier nicht die umfassende Geschichte des österreichischen Exils in Frankreich geschrieben, aber es werden wichtige Materialien zu einer solchen Arbeit zusammengetragen. Deutlich wird, wie Paris vom März 1938 an zu einer Art Hauptstadt der österreichischen Emigration wird; für viele Deutsche war sie es schon seit 1933. Den Österreichern wurde die Flucht nach Frankreich erschwert: Mit dem Sturz der Volksfrontregierung unter Léon Blum im April 1938 änderte sich die französische Asylpolitik zu Ungunsten der Exilierten, und das neue Kabinett Daladier ordnete die Ahndung auch der kleinsten Verstöße gegen die nun verschärften Immigrations- und Aufenthaltsparagraphen an. Hermann Broch z.B. war im April 1938 noch ein französisches Visum erteilt worden, doch nach dem Wechsel der Regierung erhielt er es in Wien nicht mehr ausgehändigt. Nur mit Mühe konnte er im letzten Augenblick englische Ausreisepapiere erhalten, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrten. An persönlicher Hilfsbereitschaft mangelte es in Frankreich nicht, und hatte man einmal die Grenze passiert, ließ sich vieles einrichten. Dies nicht zuletzt wegen der verschiedenen österreichischen Exilorganisationen, die sich Ende 1938 zu einer „Zentralvereinigung österreichischer Emigranten“ (ZV) zusammenschlossen. Als Hitler ein Dreivierteljahr später den Zweiten Weltkrieg entfesselte, begann die erste Internierung der Emigranten in Sammellagern, und die zweite Internierungswelle setzte im Mai 1940 nach dem Einfall der Deutschen in Belgien ein. Das Elend in diesen Lagern war unbeschreiblich; eine Ahnung davon erhält man beim Lesen der Berichte, die Weinzierl in seine
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Dokumentation aufgenommen hat. Hier findet sich auch ein Gedicht des – dann 1942 in Auschwitz ermordeten – österreichischen Arbeiterdichters Adolf Unger abgedruckt. Sein Titel ist „Gurs“ (Gurs war eines der berüchtigtsten Internierungslager): „Sie liegen wie Klötze aus Schlamm, / Auf Säcken mit Stroh gefüllt. / Gegen ihr Leid ist kein Damm / Gebaut, Not wird nicht gestillt. / Sie hoffen und beten nicht mehr. / So liegen und warten sie auch. / Ihr Leben ist schal und leer, / Ein Nichts, ein Hauch. / Manchmal schrecken sie auf, / Gedrückt vom Alb der Nacht. / So liegen sie da, zu Hauf. / Was hat man aus ihnen gemacht.“ Im französischen Exil versuchten die verschiedenen politischen österreichischen Parteien, ihre Arbeit irgendwie fortzusetzen. Die Sozialisten hingen trotz der Hitlerischen Annexion weiterhin an ihren „Heim ins Reich“-Vorstellungen. Sie verloren allerdings in Otto Bauer, der am 7. Juli 1938 in Paris starb, ihren profiliertesten Kopf und erfahrensten Politiker. Die Kommunisten gaben sich betont patriotisch und strebten für die Zukunft wieder ein unabhängiges Österreich an. Hierin – und nur hierin – trafen sie sich mit den Legitimisten, die Otto Habsburg als Haupt einer restaurierten Monarchie in Österreich bzw. in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Kaiserreiches sahen. Alle diese Gruppen besaßen ihre eigenen Publikationsorgane: die Legitimisten die „Österreichische Post“, die Kommunisten die „Nouvelles d’Autriche“. Ferner gab es kulturelle Exilvereinigungen wie die „Liga für das geistige Österreich“, der es darum ging, das österreichische Nationalbewusstsein zu pflegen bzw. zu wecken. Elisabeth Freundlich, Alfred Polgar, Joseph Roth und Franz Werfel waren in der „Liga“ aktiv. Insgesamt hielten sich im Mai 1940 etwa 24.000 österreichische Flüchtlinge in Frankreich auf. Die österreichische Exilliteratur ist vielgestaltig: Sie umfasst jene Dichtungen, die von deutschen Hitlerflüchtlingen zwischen 1933 und 1938 in Österreich als dem Gastland geschrieben wurden; genannt seien Autoren wie Ulrich Becher, Bruno Frank, Oskar Maria Graf, Wieland Herzfelde, Walter Mehring, Jesse Thoor, Friedrich Wolf, Hedda Zinner und Carl Zuckmayer. Allerdings war Österreich für sie nur Durchgangsstation – „Transitania“, wie Werfel das nannte. Zur österreichischen Exilliteratur gehören ferner die Werke österreichischer Remigranten, die 1933 Hitlerdeutschland verließen, um nach Wien zurückzukehren (wie Ferdinand Bruckner, Albert Ehrenstein, Julius Hay, Ödön von Horváth, Robert Musil, Hermynia zur Mühlen, Hertha Pauli und Alfred Polgar). Und zu ihr zählt vor allem die Literatur der 1938 aus ihrer Heimat vertriebenen Schriftsteller: Richard BeerHofmann, Felix Braun, Hermann Broch, Elias Canetti, Hans Flesch, Erich Fried, Theodor Kramer, Ernst Lothar, Adrienne Thomas, Friedrich Torberg, Johannes Urzidil, Ernst Waldinger, Franz Werfel, Martina Wied, Guido Zernatto sowie die erwähnten Remigranten. Diese Autoren verschlug es in die Schweiz, nach Frankreich, England, in die USA oder sonst wohin.
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Die Situation der österreichischen Exilliteratur wird noch dadurch verkompliziert, dass Österreich selbst ein Land war, das seit 1934 von vielen Schriftstellern gemieden wurde und in dem eine Reihe von Daheimgebliebenen (wie Hermann Broch und Robert Musil) in die Isolation gerieten. Nicht nur sozialistische Politiker verließen den austro-faschistisch regierten Staat, auch Robert Neumann, Hilde Spiel und Stefan Zweig gingen ins Ausland. Der Emigrantenzustrom nach Österreich wurde seit 1934 merklich kleiner. Immerhin aber siedelte ein Teil des S. Fischer-Verlags unter Gottfried Bermann Fischer im Sommer 1936 nach Wien um. Einer der bedeutendsten Exilverlage hatte somit für zwei Jahre sein Domizil in der österreichischen Metropole. Die österreichische Exilliteratur ist reich an historischer und menschlicher Erfahrung, und wem das europäische Schicksal nicht gleichgültig ist, sei ihre Lektüre empfohlen. Da ist Stefan Zweigs 1936 in Zürich erschienener historischer Bericht „Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt“, in dem von der „Machtergreifung Calvins“ die Rede ist. Es ist keine Schrift gegen den Calvinismus, sondern gegen die Intoleranz der Tyrannei eines Alleinherrschers; eine indirekte Kampfschrift gegen den Faschismus. Es fallen einem Hermann Brochs Bücher ein: sein Roman „Die Verzauberung“ (1935), in dem eine Hitlerfigur den Massenwahn auslöst; seine antifaschistische „Völkerbund-Resolution“ von 1937 und sein Buch „Der Tod des Vergil“ (1945), in dem der Sinn von Kunst und Dichtung in einer Phase des Kulturtodes in Frage gestellt wird. Zu nennen ist Robert Neumanns Epos vom Judentum „An den Wassern von Babylon“, 1939 auf Englisch erschienen. Man denkt an Friedrich Torbergs meisterhaften Roman „Hier bin ich, mein Vater“ (1948), dessen Grundproblem das „Phantom des Führers“ ist, der einer Generation „den eigenen Vater ersetzt“ und dessen „Phantom einer höheren Gemeinschaft“ an die Stelle der „eigenen Moral“ tritt. Dazu gehört auch Ödön von Horváths Roman „Ein Kind unserer Zeit“, 1938 in Amsterdam bei Allert de Lange verlegt, ein Buch, in dem ein deutscher Hauptmann erkennt: „Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber.“ Soma Morgensterns zu Unrecht vergessener Roman „Der Sohn des verlorenen Sohnes“ (1935) war als erster Band einer Reihe gedacht, die das jüdische Schicksal zum Gegenstand haben sollte. Ferdinand Bruckners Drama „Die Rassen“ (Oprecht & Helbing, Zürich 1934) spielt in einer deutschen Universitätsstadt im März und April 1933; hier wird Hitlers Rassenideologie ad absurdum geführt. (Die Uraufführung des Stückes fand bereits am 30. November 1933 im Schauspielhaus Zürich statt.) In Robert Musils Essay „Über die Dummheit“ – 1937 bei Bermann Fischer in Wien erschienen – heißt es unmissverständlich: „Namentlich ein gewisser unterer Mittelstand des Geistes und der Seele ist dem Überhebungsbedürfnis gegenüber völlig schamlos, sobald er im Schutz der Partei, Nation, Sekte oder Kunstrichtung auftritt und Wir statt Ich sagen darf.“ Polgar ist Geistesverwandter
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Brochs, wenn er in seinem Buch „In der Zwischenzeit“ fragt: „Ist es heute nicht aufreizend, zu betrachten und zu erörtern, zu erfinden und zu phantasieren, […] wo so vielen die Sprache genommen und ein Schweigen auferlegt wurde, in dem Seele und Geist ersticken?“ Franz Werfel hat uns mit seiner „Komödie einer Tragödie“ mit dem Titel „Jacobowsky und der Oberst“ (deutschsprachige Uraufführung im Stadttheater Basel am 17. Oktober 1944) eines der aktuellsten und spielbarsten modernen Theaterstücke hinterlassen. Hier wird nicht nur eine vielschichtige Überwindung faschistischen Wahns vorgeführt, hier finden sich – aus der Enttäuschung über die Appeasement-Politik der westlichen Staaten heraus – auch harsche Worte über die Demokratie, wenn sie definiert wird als jene Ordnung, in der „die Politiker gute Geschäfte machen und die Geschäftsleute schlechte Politik“ bzw. als „die Korruption der Einen dividiert (…) durch die Korruption der Anderen“. Werfel hat auch in einer Reihe von zeitkritischen Gedichten die Erfahrung seiner Generation verarbeitet. Erinnert sei an „Der größte Deutsche aller Zeiten“ von 1938. 1942 erschien in der Pazifischen Presse von Los Angeles seine Erzählung „Die wahre Geschichte vom wiederhergestellten Kreuz“, die während der Tage des „Anschlusses“ spielt. In Julius Hays Tragödie „Gerichtstag“ von 1944 heißt es „Vorne Hiob, hinten Attila. – Im Familientheater der Modernen Zeit ist uns Deutschen diese Doppelrolle zugefallen. Und wir spielen sie, ohne ein einziges Mal aus der Rolle zu fallen. Von Lüttich 1914 bis Compiègne 1918; von Versailles 1919 bis München 1938; von Wien 1938 bis Stalingrad 1943.“ Erwähnt seien schließlich Elias Canettis und Hermann Brochs politologische bzw. psychologische Studien zum Phänomen des Massenwahns. Ulrich Weinzierls Edition ist ein Stück Vorarbeit zu einer künftigen Darstellung der österreichischen Exilliteratur zwischen 1933/34 und 1945. „Den Jubel, mit dem man Herrn Hitler empfing, können Sie in jeder Wochenschau sehen“, hielt ein Franzose Hertha Pauli nach ihrer Flucht aus Wien im März 1938 entgegen. „Vom Schicksal der Nichtjubelnden sah und hörte man nichts“, erinnert sie sich in ihrer Autobiographie „Der Riß der Zeit geht durch mein Herz“. Die Geschichte jener Nichtjubelnden zu schreiben, ist eine zeitige Aufgabe. Bruno Kreiskys Geleitwort zu Weinzierls Dokumentation kann man nur zustimmen: „Nicht durch die Verdrängung, sondern durch Aufhellung der Zusammenhänge können wir für die Zukunft lernen, können – in Abwandlung eines BurckhardtWortes – zwar nicht weise, aber klug für ein andermal werden.“ Österreicher im Exil. Frankreich 1938–1945. Eine Dokumentation. Hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Auswahl und Bearbeitung Ulrich Weinzierl; mit Beiträgen von Kristina Schewig-Pfoser und Ernst Schwager. Wien: Österreichischer Bundesverlag, 1984.
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Exil und Widerstand: Der Briefwechsel zwischen Broch und Vietta Die Welt/Literarische Welt (31.3.2012) Hermann Broch wurde in Literaturkreisen zwischen 1930 und 1932 mit seiner Romantrilogie Die Schlafwandler bekannt. Berühmte Autorenkollegen wie Hermann Hesse, Alfred Döblin, Thomas Mann, Aldous Huxley und Thornton Wilder attestierten dem bisher unbekannten Schriftsteller, dass ihm mit dieser dichterischen Analyse der Epoche zwischen 1888 und 1918 ein großer Wurf gelungen sei. Zu den enthusiasmierten Lesern des Buches zählte Egon Vietta – siebzehn Jahre jünger als Broch –, der in Berlin aufgewachsen war und dort Jura (dazu Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte) studiert hatte. Vietta entdeckte nach dem Erscheinen von „Sein und Zeit“ die Philosophie Heideggers und meinte Beziehungen zwischen Heideggers „Seinsvergessenheit“ und Brochs Zeitkritik erkennen zu können. Vietta, ein junger Jurist beim badischen Oberversicherungsamt, schrieb in der Freizeit Romane und Dramen. Er sah sich in diesem Doppelberuf durch Broch bestätigt, der schon über vierzig Jahre alt gewesen war, als er das Amt des Fabrikdirektors aufgegeben hatte, um freier Schriftsteller zu werden. Im August 1933 erhielt Broch den ersten Brief Viettas und merkte gleich, dass ihm hier ein Nachwuchsautor schrieb, der von der Ideologie und Politik der Nationalsozialisten nichts wissen wollte. Der Kontakt war wichtig, weil Broch, der einer jüdischen Familie aus Wien entstammte, nach Hitlers Regierungsantritt seine Leser in Deutschland verloren hatte. Angelegentlich diskutierte er mit ihm seine Romane, Vorträge und Essays, ging auf die Pläne Viettas ein und tauschte sich mit ihm über James Joyce, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Thomas Mann und Elias Canetti aus: Joyce war damals Brochs Vorbild, dessen zunehmende Unverständlichkeit ihn jedoch bald irritierte. Bei Brecht waren sich beide einig, dass er in der Theaterpraxis revolutionär, in seiner Theorie jedoch zu dogmatisch sei. Vietta fühlte sich von Benns Gedichten und Essays angezogen, Broch dagegen bemerkte, dass ihm Benns „positivistisch-biologische Haltung“ ein ausgesprochenes „Unbehagen“ bereite: die Einstellung Benns führe unweigerlich zur „Annäherung an das Böse“. Von Thomas Manns „Josephs“-Romanen war Broch wegen des neuartigen Umgangs mit dem Mythos begeistert; mit Canettis „Blendung“ aber kam er „nicht zurecht“. Broch und Vietta schätzten „Die literarische Welt“ von Willy Haas und waren unglücklich, als diese kosmopolitische Zeitschrift infolge des national sozialistischen Verbots ihr Erscheinen einstellte. Durch Brochs Flucht in die USA im Jahr 1938 und durch den Kriegsausbruch brach der Briefwechsel für sieben Jahre ab. Vietta war zwar Mitglied der NSDAP
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geworden, schloss sich aber während des Krieges dem Hamburger Widerstand an. Das war eine Gruppe, die mit der Weißen Rose in München die gleichen Ziele teilte. Seiner Verhaftung entging Vietta 1944 durch die Flucht nach Italien, wo er sich von den Engländern internieren ließ. Broch half Vietta bei der sogenannten „Entnazifizierung“ und attestierte ihm, dass er ein „Anti-Nazi“ und „guter Demokrat“ gewesen sei. Im westlichen Nachkriegs-Deutschland reüssierte Vietta mit Essays und Theaterstücken und schrieb regelmäßig für „Die Welt“ und „DIE ZEIT“, in denen er auch Artikel über Broch platzierte, die im Anhang des Briefwechsels abgedruckt sind: Er setzte sich für Brochs Exilroman „Der Tod des Vergil“ ein, den er bewunderte. Es ergab sich ein pragmatischer transatlantischer Austausch: Vietta schickte an Broch neue Bücher von Heidegger, Jaspers, Kasack, Langgässer, Bense und Binder; Broch dagegen sandte an Viettas notleidende Familie „Fleischkonserven“ in CARE-Paketen. Broch diskutierte mit seinem Korrespondenzpartner die Unterstützung jener Persönlichkeiten, die am Widerstand gegen Hitler teilgenommen hatten. Auch die Heidegger-Diskussion ging weiter: Broch tadelte scharf die Anpassung des Philosophen an die NS-Ideologie, rang sich aber im Fall des „Briefes über den ‚Humanismus‘“ ein Lob ab. Erfreulich, dass dieses Dokument des Exils und des Widerstands vorliegt. Der Briefwechsel wurde gut und ausführlich von den Herausgebern kommentiert. Was man allerdings vermisst, ist etwas, das in keinem Briefwechsel fehlen darf: ein Namensverzeichnis am Schluss. Silvio Vietta und Roberto Rizzo (Hg.), „Sich an den Tod heranpürschen“. Hermann Broch und Egon Vietta im Briefwechsel 1933–1951. Göttingen: Wallstein, 2012.
Hermann Broch. Zum 50. Todestag des Autors DIE ZEIT (23.5.2001) „Gestern Nacht erschien mir ein Geist in Gestalt einer Dame der neunziger Jahre (die merkwürdigerweise an Claire Goll erinnerte), und sie präsentierte mir zwei brennende Kerzen: ,Du kannst sie nach deiner Wahl als Wunschtraum oder als Angsttraum benützen, aber nicht beides zusammen.‘ Da wußte ich, daß sie im ersten Fall zwei Penisse, im zweiten (Totenkerzen) zwei letzte Lebensjahre bedeuteten; ich entschied mich zu letzterem und werde demnach, wie ich mit Schrecken feststellte, Ende 1951 zu sterben haben.“ Broch teilte diesen Traum Anfang März 1950 Erich von Kahler mit, seinem Freund und Gefährten im amerikanischen Exil. In vielen Briefen dieser Monate spricht der Autor von seinem körperlichen Verfall und seinen Depressionen. Er
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führte ein, wie er es nannte, „unterproletarisches Dasein“, hatte kaum genug zum Überleben, wohnte in einem winzigen Appartement auf der Grenze zum Slum von New Haven. Alles ging über seine Kräfte: die selbst auferlegten theoretischen und dichterischen Arbeiten, die zeitraubende Korrespondenz und die nicht nachlassenden Ansprüche an seinen Eros wie an seine legendäre Hilfsbereitschaft. Der Autor starb 64-jährig nicht erst Ende 1951, wie er erwartet hatte, sondern bereits ein halbes Jahr früher, am 30. Mai. Das war vor fünfzig Jahren. Seitdem ist Broch gleichzeitig bekannt und unbekannt. Fast jeder literarisch Interessierte hat einmal von seinen Romanen „Die Schlafwandler“ oder „Der Tod des Vergil“ gehört, aber ein Lesebuchautor oder ein Schriftsteller, über dessen Werk an germanistischen Instituten regelmäßig Seminare gehalten würden, ist er nicht. Als Broch die zitierten Zeilen an seinen Freund schickte, wurde er gerade von europäischen und amerikanischen Schriftstellerkollegen für den Nobelpreis vorgeschlagen. Das Nobelpreiskomitee in Stockholm wendete sich (so die glaubwürdige Legende) mit der Bitte um Information und Bewertung auch an die Akademie der Wissenschaften in Wien. Die Antwort war so kurz, dass sie auf einer Postkarte Platz hatte; sie lautet dahingehend, dass ein Dichter mit dem Namen Hermann Broch in Wien nicht bekannt sei. Dreißig Jahre später erhielt Elias Canetti, einer der Wiener Freunde Hermann Brochs, den Nobelpreis für Literatur. In seiner Dankesrede würdigte Canetti jene Dichter aus dem österreichischen Kulturkreis, die ihn beeinflusst hatten: Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Broch. Canetti betonte, dass er die Auszeichnung stellvertretend für diese vier Schriftsteller entgegen nähme, an die der Nobelpreis nicht verliehen worden war. Das wollte mehr sein als eine noble Geste; es war die Reverenz vor Autoren, die zu ihren Lebzeiten kaum Anerkennung gefunden hatten und ohne die ein literarisches Werk wie das Canettis sich anders entwickelt hätte. Broch war es, der Elias Canetti als erster protegierte. Schon 1933, zwei Jahre bevor Canettis Erstlingswerk „Die Blendung“ publiziert wurde, stellte Broch den 28-jährigen, noch unbekannten Autor dem Wiener Publikum als eine der Hoffnungen der österreichischen Gegenwartsliteratur vor. Damals, 1933, diskutierten die beiden jüdischen Autoren gemeinsam, was Intellektuelle gegen den faschistischen Massenwahn unternehmen könnten. Aus diesen Gesprächen entwickelten sich die Pläne zu ihren Büchern „Massenwahntheorie“ bzw. „Masse und Macht“, die während des Zweiten Weltkriegs in der Emigration entstanden. Canetti, Broch, Musil und Kafka ist nicht nur der altösterreichische kulturelle Hintergrund gemeinsam; sie teilen auch das Schicksal, erst spät entdeckt worden zu sein. Kafka war zu seinen Lebzeiten nur einem kleinen Kreis von Literaturkennern in Prag und Wien ein Begriff; Musils Verbitterung über die Resonanzlosig-
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keit seines „Mannes ohne Eigenschaften“ ist bekannt; Hermann Brochs Entdeckung begann erst nach seinem Tode, und Canetti war bereits in den Sechzigern, als sein Ruhm begann. Bei Broch ist die verstärkte Rezeption in den deutschsprachigen Ländern nicht denkbar ohne die Resonanz, die seine Bücher vorher in den angelsächsischen Ländern erlebt hatten. In England setzte sich Aldous Huxley für ihn ein; er bezeichnete Broch 1932 als den einzigen ernst zu nehmenden Autor deutscher Sprache. In den USA war es zur gleichen Zeit der junge Thorton Wilder, der nicht müde wurde, seine amerikanischen Freunde von der Qualität der „Schlafwandler“-Trilogie zu überzeugen. Und amerikanische bzw. nach Amerika emigrierte Intellektuelle editierten die erste Broch-Ausgabe in den fünfziger Jahren: Hannah Arendt, Erich von Kahler, Robert Pick und Hermann J. Weigand. In den fünfziger und sechziger Jahren erkannte die Literaturwissenschaft die zentrale Rolle, die Broch für den modernen Roman gespielt hatte; im Rückblick lokalisierte die Germanistik den Standort des Romanciers Broch in einer Gruppe avantgardistischer Autoren. Man sah Broch jetzt als Verwandten von James Joyce, André Gide, Aldous Huxley, Robert Musil und Alfred Döblin. Seit Mitte der siebziger Jahre werden bis in die Spitzen der internationalen Politik die Menschenrechte erneut diskutiert und propagiert. In diese Diskussion wurden nun auch Brochs Beiträge zur Menschenrechtstheorie einbezogen, die bisher gänzlich unbeachtet geblieben waren. Es meldeten sich Politologen wie Anton Pelinka und Publizisten bzw. Schriftsteller wie Harry Pross und Villy Sørensen zu Wort, die auf die Bedeutung dieser Studien hinwiesen. Auch solche Teile seines Werks fanden jetzt ein Publikum, die bisher ignoriert worden waren, z.B. seine beiden Dramen. 1932 schrieb Broch sein erstes Stück, dem er den Titel „Die Entsühnung“ gab. Es ist ein sozialkritisches Drama, in dem geschildert wird, wie ein deutscher Großunternehmer während der Wirtschaftskrise von 1930 mit kommerziellen Tricks mittelgroße Betriebe sich durch Konkurrenz gegenseitig aufreiben lässt, um sie dann mit Gewinn seinem Konzern einzufügen. Brochs „Entsühnung“ steht in der Tradition der Wirtschafts- und Industriedramen der so genannten Neuen Sachlichkeit, hat aber gleichzeitig einen expressionistisch-utopischen Schluss. Interessant, wie Broch Männer- und Frauenwelt konfrontiert: Die Männer sind Ideologien verfallen und können, im Gegensatz zu den Frauen, zu keiner Synthese von Vernunft, Verstand und Gefühl gelangen. 1994 – sechzig Jahre nach der Zürcher Uraufführung – stand Brochs „Entsühnung“ erneut in Zürich auf dem Spielplan. In beiden Fällen fanden die Aufführungen Beifall. 1934 schrieb Broch eine Komödie, in der er den gleichen Stoff wie in der Tragödie behandelt: Es geht wieder um fragwürdige Wirtschaftsmanipulationen und Börsenmanöver. Der Titel lautet „Aus der Luft gegriffen oder Die Geschäfte des
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Baron Laborde“. Der Baron Laborde ist ein genialer Hochstapler. Es gelingt ihm, die Gründung einer Ölgesellschaft vorzutäuschen. Mit nie geförderten Petroleum macht er die windigsten Geschäfte. Auch dieses Stück zeugt von Brochs Theatertalent. Zu seinen Lebzeiten ist diese Komödie nicht gespielt worden; in den achtziger und neunziger Jahren aber ist sie mit Erfolg in Wien, Berlin und Paris aufgeführt worden. Ein internationaler Theatererfolg war in den achtziger Jahren auch „Die Erzählung der Magd Zerline“ aus dem Novellenroman „Die Schuldlosen“. Diese monologische Erzählung lässt sich leicht zum Einakter umarbeiten. Jeanne Moreau brillierte in der Rolle der Zerline. Sie gastierte damit in fast allen Metropolen der westlichen Welt. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte sie die weibliche Hauptrolle in Antonionis Film „La Notte“ („Die Nacht“) von 1961 gespielt. Das Mittelstück dieses Films zeigt die Party bei der Millionärsfamilie Gherardini in Mailand. Darin fungierte Brochs Roman „I Sonnambuli“ („Die Schlafwandler“) als Leitmotiv. Das sich entfremdende Ehepaar Pontano wird gespielt von Marcello Mastroianni (als Giovanni) und Jeanne Moreau (als Lidia). Der Verlust menschlicher Beziehungen, das Gefühl der Entfremdung, die Leere des städtischen Alltags, die Isoliertheit des Intellektuellen: all das sind Themen, die Brochs Romantrilogie und Antonionis Film gemeinsam haben. Eine vergleichbar direkte, wenn auch ironisch gebrochene Anspielung auf Brochs „Schlafwandler“ findet sich in einem der bekanntesten amerikanischen Romane der Gegenwart, in William Gaddis’ umfangreichen Buch „JR“ von 1975. Eine Randfigur dort ist der Bildhauer und Maler Schepperman, ein psychisch labiler Künstler, vor dessen unvorhersehbaren Aggressionen er wie seine Mitmenschen geschützt werden müssen. Während eines Tobsuchtsanfalls Scheppermans, so berichtet ein Freund, habe er ihm aus Hermann Brochs „The Sleepwalkers“ vorgelesen: das einzige Mittel, mit dem der schwierige Künstler habe zur Ruhe gebracht werden können. Um eine als Kompliment gemeinte Anspielung handelt es sich bei Thomas Bernhards „Auslöschung“. Da wird der zweite Teil der Trilogie („Esch oder die Anarchie“) zu den Büchern gerechnet, auf die der Erzähler nicht verzichten könnte. Peter Handke hat mit der Figur des Esch in der Erzählung „Langsame Heimkehr“ eine Verbindung zu Broch hergestellt. Hier wie dort spielt das Thema der Erlösung eine zentrale Rolle. Albert Einstein und C. G. Jung haben sich in Briefen darüber geäußert, wie existenziell sie vom „Tod des Vergil“ berührt worden seien. In den fünfziger Jahren entdeckte der einflussreiche Pariser Kritiker Maurice Blanchot den „Tod des Vergil“ für die Avantgarde der französischen intellektuellen Jugend. Erinnert sei an Blanchots Buch „Der Gesang der Sirenen“, das ein Kapitel über Broch enthält. Mit seiner Begeisterung für den „Tod des Vergil“ steckte Blanchot seine jungen Freunde Michel Foucault und Jean Barraqué an. Der avantgardis-
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tische Komponist Barraqué beschäftigte sich ein Leben lang mit dem „Tod des Vergil“. Sein fragmentarisches Werk „Le temps restitué“, das als sein wichtigstes gilt, wurde durch Brochs Roman inspiriert. Auch bei Foucault war das Interesse am „Tod des Vergil“ außerordentlich. Wenn es in Foucaults „Fall Ellen West“ um einen Menschen geht, der dem Sterben und dem Tod verfallen ist, so sind die Reflexe der Broch-Lektüre unverkennbar. Eine interessante Anspielung auf Brochs „Tod des Vergil“ findet sich in dem Roman „The Enigma of Arrival“ („Das Rätsel der Ankunft“) bei V. S. Naipaul. Dieser postkoloniale Autor, Sohn einer indischen Familie auf Trinidad, lebt seit 1950 in England. Im zweiten Kapitel („Die Reise“) schildert er, wie er einmal vorhatte, eine traumhafte Geschichte zu schreiben, die angeregt war durch ein frühes surrealistisches Gemälde von Giorgio de Chirico mit dem Titel „Das Rätsel der Ankunft“. Auf diesem Bild sind in halb antiken, halb modernen Umgebungen klassisch-römische, mediterrane Motive zu finden. Angeregt durch Chirico sollte Naipauls Geschichte zur Zeit der Antike im Mittelmeerraum angesiedelt sein. Sie würde die Ankunft einer Person auf einem Schiff in einem Hafen voller Trostlosigkeit schildern. Der Reisende drohe vom Leben und Lärm der Stadt verschlungen zu werden; ihn würde ein Gefühl von Panik und Sinnlosigkeit, von Qual und Tod überkommen. Anregungen zu den Themen von Reise und Meer würde er, schreibt Naipaul, sicher bei Vergil finden. Ist Naipauls Idee ohne Brochs „Tod des Vergil“, dessen erstes Kapitel „Wasser – Die Ankunft“ lautet, denkbar? Eine überraschende Koinzidenz: Auch Broch schätzte Chirico, kannte wahrscheinlich dessen „Rätsel der Ankunft“ und wünschte sich 1946 ein Bild Chiricos für den Umschlag der europäischen Ausgabe seines Vergil-Romans. Sozialwissenschaftler und Historiker wie Eric W. Voegelin und Gordon A. Craig haben auf die Relevanz der „Schlafwandler“ zum Verständnis der modernen europäischen Geschichte hingewiesen. Das Interesse an diesen Büchern ist unvermindert groß. Eine Reihe bekannter Autoren wie der Mexikaner Carlos Fuentes, die Amerikanerin Susan Sontag, der Inder Khushwant Singh, der in Frankreich lebende Exiltscheche Milan Kundera und die Österreicherin Barbara Frischmuth haben betont, dass sie durch Brochs Romane Impulse für ihr eigenes dichterisches Schaffen erhalten haben. Frischmuth ist zu ihrer Demeter-Trilogie durch Brochs Demeter-Roman „Die Verzauberung“ angeregt worden. Milan Kundera ließ in den achtziger Jahren kaum eine Gelegenheit aus, auf Broch als einen der wichtigsten Autoren unseres Jahrhunderts hinzuweisen. In ErnstWilhelm Händlers Roman „Fall“ von 1997 wird Broch häufig genannt und seine Beziehung zu Musil und Canetti erörtert. Wie sehr das dichterische und das politische Engagement bei Broch mitein ander verflochten sind, zeigen alle seine Arbeiten. Literatur war Broch nie ein Selbstzweck. Kulturkritik, Dichtung, Briefe, politische Essayistik und Massen-
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psychologie werden gleichzeitig unter dem Aspekt ethischer Wirkung eingesetzt. Wichtig waren ihm, dem rassisch und politisch Verfolgten, Gerechtigkeit, Etablierung und Schutz der Menschenrechte, friedliche Konfliktlösungen und die Verhinderung von dem, was er „historische Fehlsituationen“ nannte. Solche Fehlsituationen hatten sich durch den Nationalsozialismus und Stalinismus ergeben. Wegen ihrer Weitsicht, Klarheit und ethischen Ausrichtung sind die politischen Arbeiten Brochs nach wie vor lesenswert. Das zeigte sich erneut nach dem Ende des Kosovokrieges, als die junge serbische Dramatikerin Ana Miljanović ein Drama schrieb und in Belgrad aufführte, das auf dem Briefwechsel 1945 bis 1949 zwischen Hermann Broch und Volkmar von Zühlsdorff basiert. Milanović erkennt eine Parallele zwischen der Schuldverstrickung und der Isolierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und Serbiens nach dem Krieg auf dem Balkan. Auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist Brochs Werk noch zu wenig bekannt. Seinen Ruhm begründeten die Romane, die Studien zu Themen wie Kitsch und Mythos und zu Autoren wie James Joyce und Hugo von Hofmannsthal. Noch zu entdecken ist sein Nachlasswerk, die „Massenwahntheorie“. Dort beschreibt Broch, wie die Demokratien sich gegen totalitäre politische Strömungen zur Wehr setzen müssen. Es ist eine Studie, die in Zeiten zunehmender Gewalt von rechts wenig an Aktualität eingebüßt hat.
Hermann Brochs siegreiche Niederlagen LiteraturMagazin 30 (1992) Von Schreibskrupeln und Publikationshemmungen geplagt, vertraute der vierzigjährige Hermann Broch seine geheimen Wünsche (und was deren Erfüllung im Wege stand) der Freud-Schülerin Hedwig Schaxel an. Das war 1927. Von außen betrachtet gab Broch damals das Bild einer gescheiterten Existenz ab: Den immer nur lustlos wahrgenommenen Posten eines Fabrikdirektors der familieneigenen Spinnerei in Teesdorf bei Wien hatte er gerade an den Nagel gehängt und die Firma verkauft. Seit einigen Jahren schon studierte er Mathematik und Philosophie an der Wiener Universität. Seine Kenntnisse auf Teilgebieten dieser Fächer waren inzwischen beträchtlich, aber eine reguläre Hochschullaufbahn (samt Dissertation, Habilitation, dem Gerangel um eine Professur, Lehrstuhlverpflichtungen und Aktivität in akademischer Selbstverwaltung) hätte er als Einschränkung seiner gerade erst mühsam gewonnenen Unabhängigkeit betrachtet. Danach, vom Regen der Fabrikverwaltung in die Traufe eines österreichischen Beamtenlebens zu geraten, stand ihm nicht der Sinn. Hedwig Schaxel legte in geduldigen Gesprächen mit ihrem ratlos und verloren wirkenden Patienten die literarische
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Talentschicht frei, die durch jahrzehntelange Pflichtaskese verdeckt bzw. durch ein wissenschaftliches Über-Ich unterdrückt worden war. Der desorientierte, midlife-crisis-geplagte Broch erhob sich von der Couch der Psychoanalytikerin wie neugeboren: Einmal enthemmt, war seine literarische Produktion – jedenfalls vorläufig – nicht mehr zu bremsen. In relativ kurzer Zeit schrieb er mit der „Schlafwandler“-Trilogie (1930–32) einen der gewichtigen Romane der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im amerikanischen Exil hatte Broch die zwei Jahrzehnte jüngere Schriftstellerin Fanny Rogers kennengelernt. Nachdem in den frühen vierziger Jahren zwei Romane von ihr erschienen waren, galt sie als vielversprechendes literarisches Talent. In der Nachkriegszeit war sie von Schreibhemmungen geplagt und bat Broch um Rat. Der Autor missverstand die Anfrage. Er glaubte, es fehle der Freundin lediglich an Stoff für einen neuen Roman. So betätigte er sich als Ideenlieferant, indem er ihr die Inhaltsangabe, das Handlungsgerüst zu einem potentiell von ihr zu schreibenden Buch schickte. Diese Inhaltsskizze war mit der oxymoronhaften Überschrift „Victorious Defeat“ („Siegreiche Niederlage“) versehen. Der Entwurf hat kaum verhüllten autobiographischen Charakter, scheint doch an allen Stellen Brochs eigene Entwicklungsgeschichte durch. „Siegreiche Niederlage“ wäre der angemessene Titel einer Brochschen Selbstbiographie gewesen: Jeder Neubeginn und Durchbruch in seinem Leben war mit Niederlagen und Scheitern erkauft oder von ihnen begleitet. Das gilt für seinen Lebenslauf allgemein wie auch speziell für die Rezeption seines literarischen und theoretischen Werkes. Schon seine Kindheit stand unter keinem guten Stern: Er war der ungeliebte zweier Söhne; er wurde vom Links- zum Rechtshänder dressiert; er wollte ein humanistisches Gymnasium besuchen und an der Universität studieren, doch wurde er – so befahl es die väterliche Autorität – auf das Realgymnasium geschickt und an einer Ingenieur-Fachschule eingeschrieben. In seinen Talenten nicht gefördert, machte er als Heranwachsender den Eindruck, mit zwei linken Füßen zur Welt gekommen zu sein. Bei allem, was er später unternahm, schien er sich selbst im Wege gewesen zu sein. Eva von Allesch, seine langjährige Freundin aus den zwanziger Jahren, nannte ihn einen „Selbstschädiger“. Der Charme, den Broch im privaten Kreis zu verbreiten vermochte, brachte ihm zahlreiche Frauenfreundschaften ein, doch wollte er keine dauerhafte Liebesbindung eingehen. Seine Ehe, die er als junger Mann mit einer Fabrikantentochter schloss, endete bald in Zerwürfnis und Scheidung; erst im Alter konnte er sich entschließen, erneut eine Ehe einzugehen. Selbst von legendärer Hilfsbereitschaft, erbat er für sich von niemandem etwas. Die Freunde schilderten ihn als ruhelos und gehetzt. Elias Canetti beschreibt Broch im „Augenspiel“ (der Titel bezieht sich auf das Augenspiel zwischen Broch und Anna Mahler) als immer in Eile, als „Selbst-
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zweifler“, als „großen schönen Vogel mit gestutzten Flügeln“, der sich vergeblich „zum Flug erheben möchte“. Dieser Vergleich ist keine Erfindung Canettis. In Wiener Kaffeehauskreisen hatte Berthold Viertel Broch scherzhaft einmal einen „ausrangierten Menagerie-Adler“ genannt; ein Wort, das dann die Runde machte. So sehr das Werk insgesamt oder in Teilen geglückt sein mochte: Was immer er als Schriftsteller anpackte, es wurde entweder zur unrechten Zeit (zu früh oder zu spät) publiziert bzw. nicht vom rechten Verlag herausgebracht, oder es blieb nach Abbruch als Fragment in der Schublade liegen. „Die Schlafwandler“ erschienen in den Wendejahren 1930 bis 1932, als der Rechtsradikalismus von der Weltwirtschaftskrise profitierte. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestanden für Juden wie Broch kaum noch Publikationsmöglichkeiten in Deutschland. Ein neues Romanprojekt („Filsmann“) blieb unausgeführt. Das Thema des Buches wurde allerdings im Drama „Die Entsühnung“ aufgegriffen, das im Frühjahr 1934 nach wenigen Aufführungen im Zürcher Schauspielhaus vom Spielplan abgesetzt wurde. Von der geplanten „Demeter“-Trilogie wurde 1935 nur die erste Fassung des ersten Bandes fertiggestellt, und der blieb zu Brochs Lebzeiten unveröffentlicht. Die Publikation seines Exilromans „Der Tod des Vergil“ wäre beinahe an der ausbleibenden Subskription gescheitert. Als das Buch 1945 auf deutsch und englisch erschien, gab es in Deutschland noch kein funktionierendes Buchhandels- und Vertriebssystem, und so blieb der Roman in den ersten Nachkriegsjahren in Deutschland so gut wie unbekannt. In Amerika erschien eine Reihe von positiven Kritiken zum Vergil-Roman, doch die von der Wirkung her potentiell wichtigste unter ihnen – die in der „New York Times Book Review“ – wurde ausgerechnet in jener Nummer veröffentlicht, die wegen eines Streiks nicht ausgeliefert werden konnte. In Amerika wurde das Buch nur von ein paar Intellektuellen wahrgenommen. Die amerikanische Bevölkerung interessierte sich nach dem gewonnenen Krieg nicht für ein so introvertiert wirkendes und sperrig geschriebenes, dunkel anmutendes, kompliziert strukturiertes, symbolüberfrachtetes und selbstkritisches Buch. Die „Massenwahntheorie“, ebenfalls ein Produkt des amerikanischen Exils, blieb ein umfangreiches unveröffentlichtes Fragment, das vollständig erst nach vier Jahrzehnten im Rahmen der Kommentierten Werkausgabe bekannt wurde. „Die Schuldlosen“, Brochs letzter publizierter Roman, erschien 1950, zu spät, um noch als Beitrag zur in den Nachkriegsjahren geführten Schuld-Diskussion wahrgenommen zu werden. Ähnlich erfolglos blieb Broch in jenen Fällen, wenn er (unterstützt von Freunden) literarische Auszeichnungen wie den Kleist- oder den Nobelpreis anstrebte. Und die Ausführung seines letzten Unternehmens, das er so lange geplant und vorbereitet hatte, nämlich die Rückkehr nach Europa, wurde 1951 durch den Tod verhindert. Es war allerdings nicht lediglich eine mit sich im Widerstreit und auf siegreiche Niederlagen konditionierte Psyche, es war nicht nur ein persönliches Pech,
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das den Autor zu verfolgen schien („wenn doch nur einmal etwas glatt ginge“ war ein in seinen Briefen häufig wiederholter Stoßseufzer), und es waren auch nicht nur die ungünstigen Zeitumstände, die eine größere Wirkung, eine enthusiastischere Aufnahme seiner Bücher verhinderten. Der Hauptgrund von Brochs Scheitern als Schriftsteller lag in seinen überaus hohen Ansprüchen an die Literatur seiner Zeit und damit auch an sich als Romancier. In noch höherem Maße als andere Modernisten im Gebiet des Romans – James Joyce, sein Über-Ich zur Zeit der Niederschrift der „Schlafwandler“, und wie sein „Konkurrent“ Robert Musil – überforderte er die Gattung des Romans, indem er ihr Leistungen abverlangte und in ihre Rezeption Erwartungen setzte, die unerfüllt bleiben mussten. Als Broch „Die Schlafwandler“ zu schreiben begann, hatte er sich gerade enttäuscht von der Philosophie abgewandt. Als Kulturphilosoph hatte der Autor sich in den zwanziger Jahren vorgenommen, mit Hilfe seiner neukantianisch inspirierten Werttheorie die geistige Krise Europas zu analysieren und einen Beitrag zu ihrer Überwindung zu liefern. Seit dem sensationellen Erfolg von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ hatte es an Versuchen nicht gefehlt, die europä ische Kulturkrise intellektuell zu durchdringen und philosophische Angebote zu ihrer Kurierung zu unterbreiten. Von solchen denkerischen Großprojekten mochte man allerdings in Brochs geistiger Umgebung nichts wissen. Dort dominierte in den zwanziger Jahren der Neopositivismus des Wiener Kreises, und Broch besuchte die Seminare ihrer führenden Vertreter wie Moritz Schlick und Rudolf Carnap. Hier hatte man die alten metaphysischen Fragestellungen der Philosophie als unfruchtbare und unbeantwortbare Scheinprobleme ausgeklammert und sich auf den Bereich logischer und erkenntnistheoretischer Themen beschränkt. Broch akzeptierte diese Selbstbescheidung nur halbherzig. Er gab zwar einerseits zu, dass die Philosophie nicht mehr die rechte Disziplin sei, um in ihr die Fahndung nach dem neuen metaphysischen Zentralwert der europäischen Kultur aufzunehmen, aber andererseits wollte er keineswegs diese werttheoretische Gralssuche aufgeben. Jenes Gebiet, dem er nun die Auseinandersetzung mit den von der neopositivistischen Philosophie verabschiedeten Fragen zutraute, war das der Dichtung, speziell das des modernen Romans. Broch machte als Denker gleichsam die umgekehrte Entwicklung durch wie jene, die bei Oswald Spengler zu beobachten war. Beiden ging es letztlich um Diagnose und Therapie der abendländischen bzw. europäischen Kulturkrise. Spengler kam von der Dichtung her: seine frühen unpublizierten literarischen Fragmente sind im SpenglerArchiv aufbewahrt worden. In seiner Kulturmorphologie kam er zu dem Schluss, dass das Abendland des 20. Jahrhunderts sich in der zivilisatorischen Winterzeit befinde, also in einer Phase, die mit jener des Römischen Reichs unter den Cäsaren zu vergleichen sei. In einer solchen Kulturphase habe die Stunde der Kolonisatoren, der Ingenieure, der Bauherren, Kaufleute, Verwaltungsgenies und
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der großen Politiker geschlagen. Für Kunst und Dichtung sei eine solche Epoche ganz ungünstig; hier könne nur Epigonales geleistet werden. So sei es ganz falsch, in der Winterphase einer Kultur seine Kräfte an die Dichtung zu verschwenden. Broch aber hatte gerade jene Sphäre des Kaufmännischen und der Verwaltung verlassen, die Spengler zu den fruchtbarsten seiner Zeit rechnete, hatte ausgerechnet im Literarischen jenes Gebiet entdeckt, im dem die Epoche in ihrer Komplexität und Totalität erfasst werden könne. Dass Broch – im Gegensatz zum Kulturtheoretiker Spengler – dem Roman so hohe Erkenntnisleistungen zutraute, war keineswegs eine bloß subjektive Marotte, sondern hatte mit der Geschichte dieser Gattung und ihrer Ästhetik zu tun. Spätestens seit Goethe begann der Roman sich von der Dominanz des Dramas zu emanzipieren, und er gewann zunehmend bei seinen Theoretikern an Ansehen, wie den Traktaten von Friedrich von Blankenburgs „Versuch über den Roman“ (1774) bis zu Georg Lukács’ „Theorie des Romans“ (1916) zu entnehmen ist. Lukács und Broch waren 1920 mehrfach in Wien einander begegnet. In Lukács’ „Theorie des Romans“ fand Broch das vorformuliert, was er zur „Schlafwandler“-Zeit als eigene Theorie skizzierte: die Erwartung nämlich, dass der Roman in der Lage sein werde, in einer Epoche der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) die Vorstellung einer neuen kulturellen Einheit zu vermitteln. Lukács meint eine solche mythische Dimension im Werk Dostojewskis zu erkennen. Seine Vorstellung von der Aufgabe des modernen Romans, seine Idee, dass im Roman die neue Kultureinheit sichtbar werden könne, machte Broch sich in der Zeit um 1930 zu eigen. Ob man vom ,neuen Menschen‘ träumte, die neue sozialistisch-kommunistische Gesellschaft erhoffte, ob man einer Ideologie vom erneuerten Europa anhing oder vom Aufbruch der Nation schwärmte: Überall ging es bei der expressionistischen Generation, der Broch und Lukács angehörten, um die radikale Alternative zum Bestehenden, um entschiedene Abgrenzungen von anderen „Lagern“, um totale und universale Lösungen, um auf die Spitze getriebene Forderungen: das alles mit einem heute kaum noch verständlichen Pathos vorgetragen. In diesem Klima äußerst hochgespannter geistiger Erwartungen sind jene Selbstkommentare Brochs zu den „Schlafwandlern“ geschrieben worden, mit denen der Autor fanfarenhaft die Postulate und Maximen seines Erstlingsromans ankündigte. Da geht es um nichts Geringeres als um „Erlösung“, „Rettung“, „Lebenssinn“, „neues Ethos“ und die neue „europäische Werthaltung“. Dergleichen Anforderungen waren „Die Schlafwandler“ nicht gewachsen. Broch wusste, dass ein Roman ohne Unterhaltungswert kein Publikum finden werde, und so plagte er sich, die philosophischen Teile des Romans, die Essayfolge „Zerfall der Werte“, einigermaßen mit der Handlung zu verbinden und sie partienweise in das Gesamtgewebe des Romans einzufügen. Brochs Verleger Daniel Brody, der das Lesepublikum besser als sein Autor kannte, meldete Bedenken gegen den Einbau der Werttheo-
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rie in den Roman an, doch vergebens. Broch war eigentlich nicht konsequent, wenn er, der dem romanhaften Erzählen eine höhere Erkenntniskraft zugebilligt hatte als der Philosophie, nun seine Trilogie in Traktathaftem gipfeln ließ. So wurde die Aussage des Werks nicht in narrativer, sondern in theoretisierender Form zusammengefasst. Broch ging es, mit Jean-François Lyotard zu sprechen, um die Erkundung einer neuen Meta-Erzählung nach der permanenten Ausdifferenzierung der Wertgebiete in immer kleinere autonome Einheiten im Prozess der europäischen Moderne. Wie Ihab Hassan zeigt, gehörte Broch zu jenen Modernisten, die sich der Pluralität der Weltanschauungen, der Aufteilung der Lebensbereiche in immer speziellere Entitäten bewusst sind, die aber diesen Prozess mit Sorge betrachten und frühere Zeiten beneiden, von denen sie annehmen, dass Mythos, Religion oder philosophisch fundierte Meta-Erzählung die Diskursklammern abgaben, die der europäischen Kultur Kohäsion verliehen. Hassan – wie andere Theoretiker der Postmoderne – setzt dagegen auf die Akzeptanz eines Pluralismus, der auf die Zukunftsprojektion einer neuen kulturellen Einheit verzichtet und die Vielfalt eines multikulturellen Nebeneinanders bejaht. Vielleicht aber sollte man Broch beim Wort nehmen und die Theoriepassagen im letzten Teil der „Schlafwandler“ nicht überschätzen, sie nur als eine mögliche Ausdrucksform innerhalb der Polyvalenz des Romans deuten. Man muss den „Zerfall der Werte“ ja nicht als Deutung des Romangeschehens verstehen, sondern kann die eingestreuten philosophischen Passagen in ständiger Konfrontation mit den Erzählpartien lesen. Dann merkt man bald, dass die Erzählebene des Romans sich mit der werttheoretischen Essayfolge keineswegs verrechnen lässt. Die Hoffnung auf den erneuten Wertzusammenschluss der Kultur wird nämlich durch die Erzählung nicht bestätigt, wie der „Sieg“ Huguenaus, des Vertreters einer bindungslosen Logik von Partialwertsystemen, demonstriert. So gesehen, deutet sich eine postmoderne Dekonstruktion des philosophischen Einheitspostulats der Modernisten auf der narrativen Ebene der Trilogie an. Eine bewusste Widerlegung der eigenen Theorie liegt hier aber wohl nicht vor. Was im Roman deutlich wurde, war der gescheiterte Versuch, mit rein erzählerischen Mitteln das zu leisten, was Broch sich vorgenommen hat: den Wegweiser zu einer nach-modernen Werteinheit aufzustellen. Diesen Vorsatz hatte er nicht aufgegeben, als der Publikumserfolg der „Schlafwandler“ ausblieb. Er unternahm einen erneuten Versuch in der gleichen Richtung mit seinem 1935/36 geschriebenen Roman „Die Verzauberung“. Diesmal verzichtete er jedoch auf philosophische Hilfskrücken und verließ sich ganz auf die erzählerische Aussagekraft. Inzwischen hatte er sich mit Mythologie und Mythosforschung beschäftigt, wobei er nicht unberührt blieb von Studien, die damals im Umkreis der C. G. Jung-Schule erschienen und die von seinem Verleger Daniel Brody gefördert und – in den „Eranos-Jahrbüchern“ – publiziert wurden.
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Das Denken in mythischen Kategorien war in den dreißiger Jahren verbreitet. Vielleicht, so spekulierte Broch, war die neue Werteinheit nicht auf theoretischreflexive Weise aufweisbar, vielleicht werde sie – wie einst in der Antike – als erzählter Mythos neu manifestiert werden. Broch glaubte sich berufen, im Roman zumindest eine Ahnung vom neuen Mythos zu vermitteln, der die Wertzersplitterung aufheben und die neue Kultureinheit herbeiführen werde. Wieder waren es übergroße Anforderungen, die er an sich stellte, als er den Demeter-Mythos für die Zeit des Totalitarismus neu erzählen wollte. Er setzte – wie schon in seinem Drama „Die Entsühnung“ von 1932 – auf Frauen und Mütter als Hoffnungsträger in einer Zeit, in der die Männerwelt in Politik und Wirtschaft dabei war, die europäische Gesellschaft in immer neue Krisen, ja in den Abgrund zu peitschen. In der „Verzauberung“ ist Mutter Gisson eine ins 20. Jahrhundert versetzte Demeter gestalt, die dem negativen Helden des Romans, der faschistischen Führerfigur Marius Ratti, entgegengesetzt wird. Broch erkannte bald, dass er sich mit seinem romanhaften Mythosprojekt übernommen hatte, und er verzweifelte geradezu an der selbstgestellten Aufgabe. 1937 brach er die Arbeit an diesem Buch ab. 1937 ist für Broch das große Krisenjahr als Schriftsteller. Er merkte, dass er sich als Romancier etwas vorgenommen hatte, das schlicht undurchführbar war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seine Bemühungen um die romanhafte Auffindung einer neuen Meta-Erzählung von Anfang an eine politische Ausrichtung hatte. Broch wusste um die Gefahren, die von Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus ausgingen, und er wollte eine Art humanen Gegenmythos schreiben, in dem implizit und explizit die Inhumanität des Totalitarismus aufgedeckt werden sollte. 1936 sah Broch ein, dass mit den Mitteln des Romans gegen die in Europa überhand nehmenden totalitaristischen Tendenzen nichts mehr auszurichten war. Enttäuscht wandte er sich vom Romanschreiben ab. Seine zahlreichen brieflichen poetologischen Reflexionen aus der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre summieren sich zu einer negativen Ästhetik, zu einer Anklageschrift gegen die Literatur, der vorgeworfen wird, dass sie weder zu geschichtsphilosophischer Vision noch zu grundlegender politischer Kritik tauge. Direktere Mittel, politische Theorie und Essayistik, meinte der Autor damals, seien jetzt an der Tagesordnung. So schrieb er 1936/37 seine umfangreiche „Völkerbund-Resolution“, in der er eine internationale Vereinigung forderte, der Mittel gegen den Emigrationszwang und die politische und rassische Verfolgung zur Verfügung gestellt werden sollten. Aber auch diese Aktion war zum Scheitern verurteilt. Broch versuchte, bekannte europäische Intellektuelle, Friedensnobelpreisträger und Friedensorganisationen für seine Resolution zu gewinnen. Politisch unerfahren, wie er war, hatte er auch auf dem Gebiet der politischen Publizistik und Organisation seine Möglichkeiten falsch eingeschätzt. Thomas Mann
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erwog zwar, die Resolution in seiner neuen Exilzeitschrift „Maß und Wert“ zu veröffentlichen, doch konnte er sich letztendlich doch nicht dazu entschließen. Als diese Aktion sich als Schlag ins Wasser erwiesen hatte, kehrte Broch zum Medium des Romans zurück. Doch er tat es auf eine Weise, dass seine Enttäuschung über die Grenzen romanhafter Möglichkeiten deutlich wurde. Er begann 1937 die Arbeit am „Tod des Vergil“ mit dem Vorsatz, seine negative Ästhetik in diesem Buch zu veranschaulichen. Er konzipierte den Roman von Anfang an als selbstkritisches Gericht der Dichtung über die Dichtung. Nicht die Möglichkeit einer Rückführung zur Werteinheit wurde betont, sondern die Unzulänglichkeit alles Literarischen und Ästhetischen angesichts solcher Forderungen, die Broch nach wie vor als dringlich empfand. Wo immer man diesen Roman aufschlägt, begegnet man Stellen, die seiner Enttäuschung über, ja seinen Zweifeln an Dichtung und Kunst Ausdruck geben. Broch projizierte seine negative Ästhetik auf die Anschauungen seines Romanprotagonisten Vergil. Er unterstellte dem römischen Dichter, dass er sein Hauptwerk, die „Aeneis“, vernichten wolle, weil dieser die Dichtung als unzulängliches Medium der Mythenschöpfung erkannt habe. Broch glaubte, sich – wie Vergil – an einer Zeitenwende zu befinden. Die mittelalterlichen Vergil-Interpreten hatten die vierte Ekloge des Dichters mit ihrem Hinweis auf die Jungfrau mit dem Kind christlich gedeutet. Broch stand noch im Bann dieser Fehlinterpretation. Vergil hatte die Augusteische Friedenszeit mit dem Topos der Hoffnung auf den Beginn eines Goldenen Zeitalters verbunden. Der selbstkritische Vergil meinte zuweilen, dass sein groß angelegtes Epos seinen hohen ästhetischen Ansprüchen nicht genüge, weswegen er sich – so will es die Legende – mit dem Gedanken trug, das Werk abzubrechen oder gar zu vernichten. Broch führte – eine Art Dante des 20. Jahrhunderts – den Autor der „Aeneis“ durch das Purgatorium der negativen Ästhetik: Zwar sieht Vergil auf Bitten seines Freundes Cäsar Augustus hin von der Vernichtung des Werks ab, aber er selber distanziert sich in seiner Todesstunde von ihm, wie seinen Selbstvorwürfen zu entnehmen ist. Nicht die über sie hinausweisenden Potenzen der Dichtung werden herausgestellt, sondern die Grenzen der Möglichkeiten markiert, d.h. ihr Scheitern an der Aufgabe, religions- bzw. mythosbildend zu wirken, wird als entscheidendes Manko bezeichnet. Broch hat in seinen brieflichen Selbstkommentaren herausgestellt, dass er den „Tod des Vergil“ als private Aufzeichnung verstanden hat, als persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Dichtung im Zeitbruch. Die private Dimension hatte vor allem mit der Schilderung seines Todeserlebnisses zu tun. Broch koppelte das Thema Scheitern als Dichter mit dem der Darstellung jener Nähe zum Tod, wie er sie nach der Verhaftung durch die Nationalsozialisten 1938 während der drei Wochen im Gefängnis von Bad Aussee erlebt hatte. Wenn Dichtung – so Brochs Gedankengang – auch nicht in der Lage war, die
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Totalität des Epochenbruchs zu vermitteln, d.h. den Übergang von der alten Kulturphase in eine neue Menschheitsepoche zu erfassen, wenn also Literatur auf geschichtsphilosophischer Ebene versagte, so bliebe ihr doch die Möglichkeit, diesen Zeitbruch durch die auslotende Mikro-Analyse der Psyche eines Dichters zu erfassen, der den Epochenschnitt am denkbar intensivsten und gleichsam stellvertretend für die ganze Generation durchlebte. Broch arbeitete sieben Jahre lang, von 1938 bis 1945, an der Umsetzung seines persönlichen Todeserlebnisses in literarische Metaphorik, an der Projektion seiner eigenen Leiderfahrung, die er als Symptom des Kulturzerfalls deutete, in die von ihm geschilderten Todesstunden des Vergil. Erneut stellte er sich mit der Gestaltung dieses Grenzerlebnisses eine kaum bewältigbare Aufgabe. Gegeben war ein dreifacher Anspruch: Nicht nur musste das Vergilsche Todeserlebnis psychologisch überzeugend gefasst werden, sondern der Roman sollte auch den Übergang von der Antike zum Christentum angemessen gestalten und zudem parabelhaft auf den Kulturzerfall in der eigenen Zeit des Totalitarismus verweisen. Broch gab im „Tod des Vergil“ zwar das Postulat von der Religions- bzw. Mythossuche qua Dichtung auf, doch blieb er bei der alten Forderung, dass der Roman den Kulturzerfall darzustellen habe. In vielen Briefen aus der Zeit nach 1945 hat der Autor versichert, dass er mit dem „Tod des Vergil“ sein literarisches Werk zum Abschluss gebracht habe, dass er dieses Buch gleichsam als Schwanengesang des modernen Romans verstand. Vom Standpunkt des Literaturhistorikers aus betrachtet, war das ein Fehlurteil, doch lag Brochs Entschluss, seine dichterischen Arbeiten einzustellen, in der Logik seiner Ästhetik. Dass Broch ausgerechnet diesen komplizierten, dunklen, verrätselten und ausgesprochen schwer lesbaren Vergil-Roman als eine Art Volksbuch den Deutschen der Nachkriegszeit zur Lektüre empfehlen wollte, gehört zu den Paradoxien in Brochs Dichterleben. Er empfahl den amerikanischen Besatzungsbehörden, das Buch als Instrument der Re-Education in Massenauflage in Deutschland zu verbreiten. Dass die Vertreter der US-Militärbehörden auf dieses Ansinnen nicht eingehen wollten, ist verständlich. Ursprünglich hatte Broch ein ganz anderes Buch bis Kriegsende fertig stellen wollen: seine groß angelegte „Massenwahntheorie“. Gedacht war sie als kritische Analyse des Totalitarismus im Allgemeinen und des Nationalsozialismus im Besonderen sowie als Theorie der Demokratie. Im Lauf der Arbeit verlegte der Autor den Schwerpunkt der Studie. Anfänglich (Broch begann mit dem Werk schon 1938) war die „Massenwahntheorie“ für ein amerikanisches Publikum gedacht und sollte helfen, eine Verbreitung totalitärer Anschauungen in den USA zu verhindern. Während des Krieges dann schien es dem Autor wichtiger, das Buch als Theorie der Demokratie für ein besiegtes Nachkriegsdeutschland zu schreiben, dem bei seinem Neubeginn gleichsam demokratische Nachhilfestun-
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den gegeben werden müssten. Die Umkonzipierungen (und die Unterbrechungen durch die Arbeit am Vergil-Roman) verhinderten den rechtzeitigen Abschluss der Studie. Es blieb ein Torso, und als er mit vierzigjähriger Verspätung erstmals in Gänze erschien, wurde die Studie als historisches Dokument der Exilliteratur zur Kenntnis genommen. Zentraler Aspekt des umfangreichen Werks ist der Versuch, eine Ethik der Demokratie zu skizzieren. Auch hier kam Broch von seiner alten Vorstellung nicht los, dass es in einer politischen Gemeinschaft einen von allen Mitgliedern akzeptierten Zentralwert geben müsse. Ausführliche Kapitel hat Broch diesem von ihm als „irdisch-absolut“ bezeichneten Zentralwert der Demokratie gewidmet. Ausgangspunkt ist ihm dabei die Erfahrung der systematischen Versklavung und der Vernichtung von Menschen in den Arbeits- und Todeslagern der Nationalsozialisten. Das Verbot der Versklavung und der Vernichtung menschlichen Lebens müsse nach Auschwitz als „irdisch-absolut“ anerkannt werden und als Grundsatz demokratischer Ethik international Geltung gewinnen. Es ist zu bedauern, dass diese Thesen in den politischen Diskurs der Nachkriegszeit in Deutschland keinen Eingang fanden. Als 1950 eine essayistische Kurzfassung von Brochs Theorie der Demokratie unter dem Titel „Trotzdem: Humane Politik“ in der „Neuen Rundschau“ erschien, beherrschte der Ost-WestGegensatz mit dem Vokabular des kalten Krieges bereits die Szene, und eine politische Ethik, die von der Auschwitz-Erfahrung ausging, konnte im restaurativen Klima der frühen fünfziger Jahre nicht auf große Resonanz hoffen. Wieder einmal war Broch mit einem Projekt gescheitert, in das er die Arbeit von Jahren gesteckt hatte. Den Vorsatz, seine Tätigkeit als Romanschriftsteller nicht fortzusetzen, gab Broch in der Nachkriegszeit bald wieder auf, als er – schon aus finanziellen Gründen – auf die Bitte des Münchner Verlegers Willi Weismann einging, seine alten Novellen aus den dreißiger Jahren publizieren zu dürfen. Bei Durchsicht dieser Erzählungen entschloss Broch sich, sie durch neue Novellen zu ergänzen und das Buch als „Roman in elf Erzählungen“ zu konzipieren. Der Titel des neuen Buches lautete „Die Schuldlosen“. Broch wollte dem deutschen Lesepublikum einen kritischen Spiegel vorhalten und die Schuld der sich für schuldlos haltenden Bevölkerung verdeutlichen, die sich nach Broch in der Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid manifestiert hatte. Der Roman ist allerdings so vielgestaltig und vieldeutig, dass die von Broch intendierte Selbstkritik und Wandlung des Lesers keineswegs zwingend war. Ungeschickt war auch, dass der Autor dem Publikum eine ausführliche Interpretation und die gewünschte Rezeptionshaltung auf dem Umschlag des Romans gleich mitteilte. Kein Leser lässt sich das Verstehen eines Buches vom Autor vorschreiben. „Die Schuldlosen“ mit der Parabel-Erzählung, den zeitkritischen Gedichtzyklen und den Novellen sind ein interessantes, von Broch als „methodisch-konstruiert“ verstandenes literarisches
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Experiment, aber die Autor-Intention wird auch hier durch die Erzählpraxis dekonstruiert. Das war Brochs Dilemma: Statt sich auf die Erkenntniskraft dichterischen Erzählens zu verlassen, glaubte er ständig, der Literatur alle möglichen philosophischen, religiösen, mythischen oder politischen Leistungen abfordern zu müssen. Es ist sicher so, dass die Theorien und Utopien ihn zu den großen Konzepten, zu den imposanten methodischen Konstruktionen seiner Romane anregten, aber sie hemmten auch seine literarische Produktivität, ja letztlich gefährdeten sie seine Entfaltung als Schriftsteller, wie seine negative Ästhetik belegt. Aus der Distanz betrachtet erweist Broch sich mit seinem auf Totalität, Zentrum, Einheit und Verbindlichkeit abzielenden Theorien noch ganz als Kind der Moderne. Wäre seine Dichtung nichts als literarisch umgesetzte Theorie, wäre sein Werk bereits vergessen. Das Besondere, ja der Reiz an Brochs Romanen besteht jedoch in der Spannung von theoretischem Konzept und literarischer Ausführung. Beim Blick auf diese Spannung erkennt man immer wieder, wie die sich verselbstständigende Dichtung der Theorie gleichsam davonläuft, sie überholt oder auch geradewegs widerlegt. Dem theoretischen Modernisten Broch kam gleichsam der literarische Postmodernist in ihm ständig in die Quere. Broch war sozusagen ein Postmodernist wider Willen, um die bekannte Designation Hannah Arendts (Broch als Dichter wider Willen) abzuwandeln. Dem Postmodernisten Broch gelang es, die Vielfalt, das Inkommensurable, Problematisierende, Widersprüchliche, Esoterische, Marginale, Nichtaufrechenbare und theoretisch nicht Auflösbare in immer neuen literarischen Experimenten zu verdeutlichen. Die siegreiche Niederlage des Schriftstellers Broch besteht darin, dass er als Theoretiker mit zu kurz greifenden modernistischen Theorien an der Komplexität der Lebenspraxis seiner Zeit scheitern musste, dass er aber in der Auseinandersetzung, ja letztlich Überwindung seiner theoretischen Konzepte als einer der ersten deutschsprachigen Autoren postmodernes Neuland betrat, was ihm auch von den Theoretikern der Postmoderne wie Hassan, Calinescu und Lyotard bestätigt wird. Mit seiner Wert-, seiner Massenwahn- und seiner Demokratie-Theorie hat Broch bisher wenig bewirken können, doch hat sein dichterisches Werk international immer mehr Bewunderer gefunden.
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Die Sprache der Opfer: Ein Exilgedicht von Hermann Broch Frankfurter Allgemeine Zeitung/Frankfurter Anthologie (1.10.1988) Diejenigen, die im kalten Schweiß der Hinrichtung täglich, nächtlich erbleichten, die höllenhaft Fiebernden hätten heute ein Recht zu singen, und wenn sie es täten, sie täten es in fürchterlich neuer Sprache, in der kein Wort dem andern mehr ähnelt. Aber sie schweigen; sie tragen den Knebel des Schicksals weiter in ihren Mündern zwischen den schmerzenden Kiefern, denn was sie zu sagen hätten, wäre uns stumm, ein schrilles Glucksen der Zerstörung; darum hat uns, die wir es hören müßten, das Schicksal die Ohren verstopft. Wir starren sie an, sie starren uns an: die Augen, die ihren, die unsern, vermögen noch zu blicken und sich vorzulügen, daß sie Menschengestalt sehen. Wehe, wenn einer spricht. New York 1940: Zwei Jahre war es her, dass Broch – trotz anfänglicher Haft – aus dem anschlussberauschten Wien nach England und wenige Monate später in die Vereinigten Staaten entkommen konnte. Über die Todesängste und die Verzweiflung, die ihn während seiner Gefängniszeit und der Fluchtvorbereitung überkamen, hat er nur in Andeutungen berichtet, aber sein gesamtes Exilwerk ist indirekter und direkter Ausdruck davon, sich dieser Ängste und – das vor allem – ihrer Ursache zu erwehren. Dieses Gedicht entstand Jahre vor Auschwitz und spricht doch schon vom Holocaust. Broch hatte seit 1933 vorausgesehen, worauf Hitlers Politik hinauslief. Das zeigen nicht nur seine Briefe, sondern auch sein Roman „Die Verzauberung“ (1935) und seine „Völkerbund-Resolution“ (1936/37). Seit Mitte der dreißiger
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Jahre befand er sich in dem Dilemma, als Schriftsteller zu erkennen, dass Literatur und Kunst unangemessene Mittel im Kampf gegen den Hitlerismus waren (daher seine zahlreichen Arbeiten zur Theorie der Demokratie, zum Massenwahn des Faschismus, zu den Menschenrechten). Aber gleichzeitig weiß er, dass nur die dichterische Sprache in der Lage wäre, den Schmerz, die Verzweiflung, das bisher ganz unvorstellbare Grauen in Hitlers Kerkern und Konzentrationslagern auszudrücken. Nur in der authentischen Sprache der Dichtung vermag man – mit Broch zu sprechen – die „neuen Realitäten“ zu artikulieren, Realitäten, denen mit zweckrationalen Sprachmitteln (etwa denen der Wissenschaft) nicht beizukommen ist. Doch gelangt auch die Dichtung angesichts des Terrors und des Mords der Hitlerzeit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. „Aber sie schweigen“: Die Ängste und Qualen der Hingerichteten können von den Lebenden oder den Überlebenden niemals vermittelt werden. Brochs Gedicht erinnert an die Opfer. Er sucht nicht, das Unsagbare ihrer Leiden sprachlich „angemessen“ zum Ausdruck zu bringen. Das „Wehe, wenn einer spricht“ am Schluss ist doppelsinnig: Es bezieht sich auf die Opfer, deren Sprache den Lebenden unerträglich wäre, aber es meint auch die Versuche der Überlebenden, die Leiden der Opfer dichterisch fassbar zu machen. Seinen Todesängsten hat Broch im Roman „Der Tod des Vergil“ Ausdruck verliehen, aber er hätte es als vermessen bezeichnet, die Sprache der hingerichteten Opfer sprechen zu wollen. Dantes „Inferno“ ist Literatur einer vergangenen Zeit. Anspielungen darauf in diesem Gedicht wie auch im „Tod des Vergil“ vermögen nicht annähernd zu verdeutlichen, was eine Sprache ist, „in der kein Wort dem andern / mehr ähnelt“. Es ist wohl nur Paul Celan gelungen, die Stimmen der Toten des Holocaust zu hören und eine Ahnung ihrer „fürchterlich neuen Sprache“ zu vermitteln. Wer sich darauf mit seiner ganzen Existenz einlässt, wird zum Grenzgänger zwischen Tod und Leben, steht in der ständigen Gefahr, „sich vorlügen“ zu müssen, den Menschen noch in „Menschengestalt“ zu sehen. Hermann Broch, Gedichte. Kommentierte Werkausgabe. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Bd. 8., S. 49. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.
Zum 100. Geburtstag Hermann Brochs Neue Zürcher Zeitung (1./2.11.1986) „Nachdem ich den unlesbaren, unveröffentlichbaren und unübersetzbaren ,Vergil‘ fertiggestellt habe (…), habe ich das Geschichtenerzählen aufgegeben,
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weil mir davor graust. Sie wissen, dass ich seit Hitler in zunehmendem Maße gegen diese Tätigkeit gewesen bin, überzeugt, dass es für unsere Generation (…) keine andere Aufgabe als die der Pestbekämpfung gibt. Und da ich als Flieger nebbich eine schlechte Figur machen würde, habe ich nachgesonnen, ob ich etwas anderes halbwegs Nützliches zusammenbringen könnte. Und da ist mir noch drüben der Charakter der psychischen Seuchen aufgegangen. Und ich konnte mir sogar eine recht handfeste Theorie dazu konstruieren“ – so begründete Hermann Broch Anfang Januar 1943 im amerikanischen Exil seinem Freund und Schriftstellerkollegen Friedrich Torberg gegenüber den Abschied von der Literatur. Dichter, Schriftsteller, Literat, Poet im engeren Sinne war Broch nur knappe fünf Jahre lang geblieben: von 1928 bis 1933. Mit solcher Leidenschaft, Produktivität und Lust an der Literatur ist er weder in den Jahren davor noch in denen danach Autor gewesen. Bis 1928 – und damals war er bereits über vierzig – hatte Broch selbst nicht gewusst, dass er einmal Romane schreiben werde. Wert- und Geschichtstheorie, Mathematik und Epistemologie hatte er ein Jahrzehnt hindurch betrieben, anfänglich als autodidaktischer Schüler des Neukantianismus, dann als Student im Wiener Kreis an der Universität. Die Fabrik seiner Familie hatte er 1927 verkauft, zum Promovieren fehlten ihm die Akademikermentalität und das große Latinum. Aussicht auf eine Wissenschaftlerlaufbahn bestand also nicht, und so summierte sich seine Ratlosigkeit am Ende der zwanziger Jahre zu dem, was man heute mit midlife-crisis umschreibt. Die wurde damals im großbürgerlichen und intellektuellen Wien dadurch gemeistert, dass man sich bei Sigmund Freud oder einem seiner Jünger auf die Couch legte. So geschah es. Eine Freud-Schülerin nahm sich der Psyche Hermann Brochs an, sezierte seine zu Tage liegenden Pflichtkomplexe sowie die verdeckten Begehrensbereiche und ließ ihren Patienten im Lauf der Analyse selbst den geheimen Lebens- und Lustnerv, den der literarischen Produktion, freilegen. Innerhalb von drei Jahren erschienen zwischen 1930 und 1932 seine Romantrilogie „Die Schlafwandler“ und der Roman „Die Unbekannte Größe“; er schreibt das Drama „Die Entsühnung“, verfasst zahlreiche Gedichte, hält Vorträge – etwa über Joyce –, publiziert eine Reihe von Novellen und veröffentlicht Aufsätze zu dichtungstheoretischen Fragen. Was Broch schreibt, erscheint im Deutschen Reich: „Die Schlafwandler“ im Münchner Rhein-Verlag (der in Zürich ein Zweigstelle hatte), „Die Unbekannte Größe“ bei S. Fischer in Berlin, die Novellen in Zeitschriften wie „Neue Rundschau“, „Berliner Börsen-Courier“, „Frankfurter Zeitung“, Gedichte und Essays in der „Literarischen Welt“. 1933 fiel mit diesen Publikationsorten für den jüdischen und antifaschistischen Autor Broch der größte Teil des gerade gewonnenen Leserkreises fort. Seit 1934 war auch Österreich kein demokratisch regierter Staat mehr, und bürgerlich-
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liberale Autoren wie Musil und Broch wurden an die Peripherie des öffentlichen Lebens gedrängt. Die Zeit im Österreich der Jahre zwischen 1934 und 1938 bedeutete für Broch eine Art Vor-Exil. Er wurde zu einem Fremden im eigenen Land. Die Einladungen zu Vorträgen hörten auf, und die Publikationsmöglichkeiten in Wien waren für ihn minimal. Nicht die kosmopolitische Moderne, sondern Patriotisch-Heimatliches, Historisch-Heroisches standen hoch im Kurs. Schon 1934 durchlebte Broch eine schwere Krise in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller. Bis 1933 war er ein Verehrer des Werkes von James Joyce gewesen, aber in der Krise von 1934 kamen ihm Zweifel am Sinn des Modernismus, der zunehmend esoterisch, hermetisch, unverständlich und publikumsfremd geworden war. Mit „Finnegans Wake“ von Joyce konnte sich Broch nicht mehr befreunden. 1934 war ihm klar, dass die Nationalsozialisten ihre innenund außenpolitische Macht konsolidierten und somit eine Bedrohung für ganz Europa bedeuteten. Von seinem ethischen Standpunkt aus verurteilte Broch nun die gesellschaftsferne Esoterik, in die Joyce sich immer mehr steigerte. Wie viele assimilierte, akkulturierte jüdische Intellektuelle aus den deutschsprachigen Ländern – Hermann Cohen war einer der prominentesten Vertreter – fand auch Broch in der formalen Kantschen Ethik einen kosmopolitischweltanschaulichen Ort. Kein Denker wie Kant – sowohl als Ethiker wie als Erkenntnistheoretiker – prägte Broch so stark, und keine philosophische Richtung wie die des Neukantianismus beeinflusste ihn so nachhaltig. Ethik und Erkenntnis waren die Pole, zwischen denen Brochs dichterisch-denkerisches Gesamtwerk sich spannte. In ihrem Namen hatte er sich der Dichtung zugewandt, und mit ethisch-erkenntnismäßigen Argumenten nahm er auch Abschied von ihr. Diese Trennung von der Literatur vollzog sich sukzessive. Zunächst wandte er sich angesichts der Situation nach Hitlers Machtübernahme der engagierten Dichtung zu, und ihr Resultat war der 1935 geschriebene Roman „Die Verzauberung“. Mit seinen politischen Aspekten gehört das Buch zu den antifaschistischen Romanen der dreißiger Jahre. Aber kaum hatte Broch das Werk 1936 abgeschlossen, verschärfte sich seine Schriftstellerkrise erneut. Er veröffentlichte das Buch nicht und brach die Arbeit an einer in Angriff genommenen zweiten Fassung ab. Hatte Broch zwischen 1930 und 1933 teilgenommen an den aktuellen Literaturdebatten jener Jahre, hatte er damals versucht, Beiträge zu einer positiven Ästhetik zu liefern, machte er nun eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad und wurde zum streitbaren Vertreter einer negativen Ästhetik, d.h. zu einem Dichter, der sein Handwerk verachtet und aufgibt, zu einem Richter, der den Stab bricht über das Gewerbe der Poeten, zu einem Ikonoklasten im Bildersaal der Literatur. Dichtung wurde nun angesichts der politischen Verhältnisse in zahllosen seiner Briefe zum „unmoralischen Spiel“ erklärt und die Arbeiten von Joyce oder Thomas Mann als „Atavismen“ bzw. „Plüschsofa“ abqualifiziert.
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In Österreich hatte als erster Karl Kraus sich zum Wortführer der negativen Ästhetik gemacht, hatte in der „Fackel“ vom Juli 1934 seine Überzeugung ausgedrückt, dass literarische Opposition gegenüber dem Nationalsozialismus sinnlos sei. „Dieser Bewegung“, so schrieb Kraus, die „zum erstenmal der politischen Phrase die Tat, dem Schlagwort den Schlag entbunden“ habe, sei es unmöglich, „im Schutz der Metapher […] die Stirn zu bieten“. Statt an der „Verzauberung“ weiter zu arbeiten, verfasste Broch 1936/37 eine umfangreiche politische Resolution, die er an den Völkerbund richtete. Mit dieser Aktion schloss er sich den vielfältigen Bemühungen verschiedener politischer Gruppen an, die durch eine Stärkung des Völkerbundes der Kriegstreiberei und dem Emigrationszwang in Deutschland wehren wollten. Allerdings kannte Broch sich im politischen Alltag internationaler Politik nicht aus, und so blieb seine Resolution wirkungslos. In dem Augenblick, als er 1937 die Vergeblichkeit seiner Bemühungen in Sachen „Völkerbund-Resolution“ erkannte, kehrte Broch zu seinem Autorenschreibtisch zurück. Das bedeutete aber keineswegs die Rückkehr zur positiven Ästhetik. Was Broch in seinem nun entstehenden Roman „Der Tod des Vergil“ unternahm, war etwas Paradoxes und in der Geschichte der Literatur wohl Einmaliges: dass nämlich ein modernistischer Roman vom Standpunkt der negativen Ästhetik geschrieben wurde – eine Dichtung gegen die Dichtung. Hier wurde die wirkungsmäßige Ohnmacht und die – gemäß Broch – ethische Schwäche der Literatur enthüllt. Wo immer man den Roman aufschlägt, fallen einem Stellen ins Auge wie jene, an denen Rede ist vom „Absturz in die Pöbelhaftigkeit und dorthin, wo sie am ärgsten ist, ins Literatentum“. Vergil geißelte sich mit Selbstvorwürfen wie solchen: „Ja, das war das Ergebnis: der Erkenntnislose als Erkenntnisbringer für die Erkenntnisunwilligen, […] der Lahme als Lehrer der Torkelnden.“ Broch betrieb während des amerikanischen Exils seit Oktober 1938 die Fortführung des Vergil-Romans mit schlechtem Gewissen. Er konnte das entstehende Buch – so auch im Brief an Friedrich Torberg – nur als privates Protokoll seiner Dichtungskrise rechtfertigen. Die weitaus meiste Arbeit investierte er in seine politologischen, juristischen und massenpsychologischen Projekte. Seit 1940 arbeitete er an einer Theorie der Demokratie, verfasste (im Hinblick auf die Gründung der UNO) Traktate zum internationalen Menschenrecht und (aus Anlass der Etablierung der UNESCO) Denkschriften zur Universitätsreform, in deren Zentrum Kosmopolitismus und Internationalismus standen. Und schließlich schrieb er ein Jahrzehnt lang an seinem umfangreichen Werk „Massenwahntheorie“, dessen Grundidee die „Bekehrung“ der Massen zur Demokratie ist. Hinzu kamen praktische Hilfeleistungen bei Rettungsaktionen für Flüchtlinge aus dem von Hitler besetzten Europa. Beim Blick auf die Rezeption von Brochs Schriften zeigt sich eine paradoxe Situation: Gerade jene Werkteile, deren Wirkung der Autor selbst die geringste
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Bedeutung beigemessen hatte – nämlich seine Romane, Dramen und Erzählungen –, haben seinen Ruhm begründet und einen weiten Leserkreis gefunden. „Die Schlafwandler“ und „Der Tod des Vergil“, diese beiden Meisterwerke modernistischer Literatur, erschienen und erscheinen in immer neuen Auflagen, sind in fast alle Kultursprachen der Welt übersetzt worden. Auch seine Stücke „Die Entsühnung“ und „Aus der Luft gegriffen“ sind inzwischen für die Bühne entdeckt worden. Aber wer liest Brochs „Massenwahntheorie“? Bisher hat die Fachwissenschaft das Buch nicht zur Kenntnis genommen, und es hat auch keine Wirkung in der Öffentlichkeit gehabt. Dabei hatte Broch sich für dieses Werk Millionen von Lesern gewünscht. Seine demokratietheoretischen und menschenrechtlichen Studien haben zwar bei engagierten Intellektuellen wie Villy Sørensen in Dänemark und Harry Pross in der Bundesrepublik Deutschland Beifall gefunden, aber auch hier blieb es bei vereinzelter Zustimmung, auch hier kann von einer Breitenwirkung kaum die Rede sein. Wo immer Broch heute im Gespräch ist, sei es in Europa, Asien oder Amerika – es ist immer der Dichter Broch, der fasziniert und Leser findet. Ob Milan Kundera, Carlos Fuentes, ob Barbara Frischmuth, Silvio Blatter oder Paul Nizon, sie alle wurden durch Brochs Romane inspiriert. War also Brochs politisch-theoretische Arbeit, die seine schöpferische Kraft ganz in Anspruch nahm, vergeblich? Hat Hitler die Zerstörung von Brochs dichterischer Kreativität auf dem Gewissen? Mancher mag Brochs Abwendung von der Literatur in den dreißiger Jahren als tragische Konsequenz seiner ethischen Grundauffassung deuten. Man kann es aber auch anders sehen: Broch durchlebte die historische Epoche, in die er hinein geboren wurde, in aller Intensität. Er wollte und musste auf die Herausforderung Hitler die ihm gemäßen Antworten finden. Erst als er sich in den politischen, juristischen, edukatorischen und psychologischen Bereichen seiner alternativen Positionen sicher war, erlaubte er sich die dichterische Gestaltung seiner eigenen existentiellen Probleme. Ohne sein reflektiertes Engagement als humanitär gesinnter Zeitgenosse seiner Epoche hätte er Romane mit Tiefendimensionen, wie sie in „Der Tod des Vergil“ oder „Die Schuldlosen“ erkennbar werden, nicht schreiben können. Brochs Romane waren polyhistorische Dichtungen auch in dem Sinne, dass die selbstgewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Disziplinen auf indirekte Weise in sie eingingen. Was sowohl die literarischen wie die theoretischen Schriften von Hermann Broch heute noch so lesenswert macht, ist die spürbar werdende Gleichzeitigkeit von epochaler Problemstellung und persönlichem Lösungsversuch, sind die in einer interdisziplinären Multiperspektivik gefundenen Antworten auf die Fragen seiner Zeit.
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Hermann Broch und der Nationalsozialismus. Zum 100. Geburtstag des Autors DIE ZEIT (7.11.1986) Ein vertriebener, vergessener Dichter deutscher Sprache, ein moderner Klassiker: Jetzt, zum 100. Geburtstag Hermann Brochs, wird sein Werk – ein Spiegel der europäischen Katastrophe wie kaum ein anderes – wieder gelesen und diskutiert. Wenig beachtet wurde das politische Werk Brochs. Den „Blutsauger Hitler bereits im Nacken spürend“, war der Dichter 1938 in die Vereinigten Staaten geflohen. Von hier aus kämpfte er schreibend gegen den Diktator, mit einer Hartnäckigkeit, die keiner dem scheuen, gütig-unmilitanten Mann zugetraut hätte. „Daß ich Hitlers Sturz habe erleben dürfen, erscheint mir wie ein Wunder, wie eine unverhoffte Gnade“, schrieb Hermann Broch im August 1945 aus der amerikanischen Emigration an seinen Schweizer Freund Carl Seelig. Es gab kein Zeitgeschehen, das wie Hitlers Rassenpolitik die Biographie des jüdischen Schriftstellers bestimmt, keine Ideologie, die wie Hitlers Nationalsozialismus den Ethiker Broch herausgefordert hat. Erst 1928 beginnt der ehemalige Textilindustrielle Hermann Broch mit einundvierzig Jahren sein Leben als Schriftsteller. Schon sein erstes Werk, die Romantrilogie „Die Schlafwandler“ zeigt ihn als einen der großen Prosaisten unseres Jahrhunderts. Es geht Broch um die dichterische Erfassung des europäischen Kulturverfalls, den er an Protagonisten aus der Wilhelminischen Zeit verdeutlicht. Als er 1932 die Trilogie fertigstellt, fügt er am Schluss (im Epilog zum „Zerfall der Werte“) Hinweise auf die aktuelle „Sehnsucht nach dem Führer“, dem „Heilsbringer“ ein. Broch meint, das „Wunder bliebe aus“, wenn „der Führer käme“; das „Hoffen“ auf ihn sei „vergeblich“. Zur gleichen Zeit spricht er in einem Beitrag für die „Literarische Welt“ vom „verbrecherischen Charakter dieser Zeit“, die „das Rationale aus seiner Führerstelle verdränge“. In einer Atmosphäre des kollektiven Führerrausches und nationalistischer Erneuerungsfantasien hatte man im Deutschland des Jahres 1932 kein Gehör für Thesen vom Wertzerfall und für Vernunftplädoyers. „Die Schlafwandler“ fanden kaum Leser, und besorgt schreibt Broch Mitte 1932 seinem englischen Übersetzer: „Die Deutschen werden ja wirklich nichts mehr lesen, höchstens die Biographie Hitlers. Sie können sich keine Vorstellung von den deutschen Verhältnissen machen; ein verbitterter Hexenkessel.“ Ein Buch wie „Mein Kampf“ würde Broch nicht in die Hand genommen haben, wäre Hitler nicht Anfang der dreißiger Jahre zur Schlüsselfigur in Deutschland avanciert. Nach dessen Wahl zum Reichskanzler sagt Broch gleich den Polizeistaat, das Ende des öffentlichen kulturellen Lebens im deutschen Reich und den großen europäischen Krieg voraus. Im Februar 1933 schreibt er
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an einen Freund: „Das Erschreckendste ist ja die Enge der Bewegung; was halbwegs nach geistiger Produktion ausschaut, wird zweifelsohne als Kulturbolschewismus behandelt werden. (…) Diese hysterische Mischung von Gewalttätigkeit und Sentimentalität, die immer wieder durchbricht und die dabei für das ganze europäische Schicksal bedeutungsvoll sein wird, hat mich völlig aus der Fassung gebracht. Man kann doch nicht bloß ästhetischer Zuschauer bleiben! Menschen wie Sie, wie ich, müssen schließlich eine feste Stellung beziehen.“ Die feste Stellung wurde bezogen. Broch ist Österreicher, und obwohl er im Ständestaat von Dollfuß und Schuschnigg in die Isolation gerät, bleibt ihm in Wien ein Freiraum, den er nutzt. 1935 entsteht sein Anti-Hitler-Buch, der Roman „Die Verzauberung“. Hitler ist ihm der „sichtbarste Exponent“ des Wertzerfalls, der „Vorläufer eines Nichts“, der „Feind und Vernichter aller Freiheit“. Religionsersatz und Massenwahn sind die Kategorien, in denen er den Nationalsozialismus deutet. In einem Selbstkommentar zu dem Buch heißt es: „Innerhalb des Massenpsychischen ist der Einzelmensch ohneweiters bereit, die plumpsten Lügen als Wahrheit zu nehmen, sind Männer von großer Nüchternheit und Selbstkritik für die phantastischsten Unternehmungen zu gewinnen, brechen archaische Tendenzen auf, die man längst in dem Abgrund der Zeit gedacht hat.“ „Die Verzauberung“ ist die literarische Parabel von der Verfallenheit der Masse an eine diktatorische Führerfigur. Hitler bereitet den Krieg vor. Das weiß Broch. 1935 lässt er den Helden seines Filmskripts „Das Unbekannte X“ sagen: „Wehe einer Wissenschaft, die man national machen will, denn die Abgeschlossenheit und die Geheimnisse, die man in sie hineinträgt, sind (…) die künstlichen der Rüstungsindustrie, mit denen ein Volk das andere vernichten will.“ 1936 heißt es in Elias Canettis Rede zu Brochs 50. Geburtstag: „Hermann Brochs Werk steht zwischen Krieg und Krieg, zwischen Gaskrieg und Gaskrieg. (…) Er erstickt schon heute am Gas, das uns anderen, wer weiß wann erst, den Atem nehmen wird.“ In seinen antifaschistischen Projekten wurde Broch ständig durch die Entwicklung im nationalsozialistischen Deutschland überholt. Anfang 1936 kommt bei ihm die seit langem schwelende Schaffens- und Existenzkrise zum Durchbruch. Er stellt resigniert fest: „Jeder Schritt in die Welt zeigt, wie überflüssig diese Art Tätigkeit des Romanschreibens ist, wie absolut weltfremd, wenn auch nicht lebensfremd.“ Jetzt reißen in seiner Korrespondenz die negativen Äußerungen über Kunst und Literatur nicht mehr ab. Im Zeitalter des Faschismus hält Broch die dichterische Arbeit für „Vormärz“, für „überflüssig“, für „ein unmoralisches Spiel“. Er ist überzeugt, dass literarisches Engagement allein etwas Hilfloses ist, und er meint mit Karl Kraus, dass es keinen Zweck habe, Hitler „im Schutz der Metapher die Stirn zu bieten“. 1936 gibt er vorläufig das Romanschreiben auf und arbeitet ein Jahr lang an einer antifaschistischen „Völkerbund-Resolution“. Mit ihr will er die Genfer
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Organisation dazu bewegen, gegen den Emigrationszwang, die Rassendiskriminierung und die Kriegstreiberei in Deutschland einzuschreiten. Er korrespondiert darüber mit prominenten europäischen Intellektuellen, findet aber nicht genügend Unterstützung, und so bleibt die Aktion unausgeführt. Broch gibt sie auch deswegen auf, weil er einsieht, dass man von Genf aus immer weniger Einfluss auf das politische Geschehen in Europa hat, dass der Völkerbund nicht in der Lage sein wird, den Krieg zu verhindern. In dem Augenblick, als er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen in Sachen „Völkerbund-Resolution“ einsieht, kehrt Broch an den Autorenschreibtisch zurück. Anfänglich ist der nun entstehende Roman „Der Tod des Vergil“ mit den Anspielungen auf die Bücherverbrennung, mit den Hinweisen auf den Massenwahn und mit der offensichtlichen Parallele zwischen dem Cäsar und dem Diktator zwar durchaus als antifaschistisches Buch gedacht, aber die politische Dimension steht nicht immer im Mittelpunkt. Mit dem Vergil-Buch kehrt Broch zwar zum Medium Literatur zurück, aber er tut es vor allem, um dessen Ohnmacht und – wie er es sieht – „ethische Schwächen“ aufzudecken. Broch schrieb acht Jahre lang am Vergil-Roman, aber die Arbeit an diesem Buch schob er immer nur ein zwischen politologischen und massenpsychologischen Untersuchungen, die ihm mehr auf den Nägeln brannten. Als Broch 1938 in die USA emigrierte, vertraute er einem Freund an, dass „er den Blutsauger Hitler bereits im Nacken spüre“. Es gebe für ihn keine andere Aufgabe als die der „Pestbekämpfung“ heißt es jetzt in zahllosen seiner Briefe. 1939/40 organisiert er gemeinsam mit Giuseppe Antonio Borgese eine Gruppe von amerikanischen Intellektuellen der Ostküste und europäischen Exilierten, die ein Buch mit dem Titel „The City of Man“ publiziert. Hier wird dem Hitlerschen Kriegs- und Unterwerfungskonzept die Utopie einer globalen, am Frieden und den Menschenrechten orientierten Demokratie entgegen gesetzt. Das Buch favorisiert Roosevelts antiisolationistische Politik. Brochs theoretische (politologische, juristische, massenpsychologische) Arbeiten der vierziger Jahre sind gekennzeichnet durch die Doppelstrategie der Widerlegung von Hitlers Ideologie und der Skizzierung einer internationalen demokratischen Ordnung für die Nachkriegszeit. Auftrieb gab Broch damals die Vorbereitung zur Gründung der UNO, und im Hinblick darauf hat er seine rechtsphilosophischen Schriften verfasst. Zwischen 1939 und 1945 schrieb Broch mehrere Arbeiten zum Thema Menschenrechte, in deren Mittelpunkt ein „Gesetz zum Schutz der Menschenwürde“ steht. Wie Hitler die „Nürnberger Rassengesetze zum Kernstück, ja zum Symbol der ganzen Nazi-Moral gemacht“ habe, so soll Brochs „Gesetz zum Schutz der Menschenwürde“ das „genaue Gegenstück“ zu den Rassengesetzen werden. „Und wenn mit diesen die Erziehung zur Barbarei und Enthumanisierung angehoben hat“, argumentiert er, „so kann jenes der Beginn der Wieder-Humanisierung“
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bedeuten. Sein groß angelegtes Buch „Massenwahntheorie“, an dem er von 1939 bis 1948 schreibt, ist der Versuch, die Wurzeln der nationalsozialistischen Verirrung freizulegen und Wege zu zeigen, wie eine moderne Massengesellschaft für die Demokratie gewonnen werden kann. 1940 hatte Broch Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ gelesen. Er hielt die Aussagen des Buchs für relativ authentisch, und die Lektüre gab ihm Anstoß zu einer ausführlichen Analyse von Hitlers Ideologie und Politik. Den Nationalsozialismus, meint Broch, brauche der Machiavellist Hitler „lediglich als Vorspann zur Durchsetzung seines Versklavungs-Weltbildes“, zur Realisierung seines Wunschtraumes von der Weltherrschaft des „edlen“ bzw. „reinen“ Blutes: Der Begriff der „Reinheit“ spiele in Hitlers Rassismus eine zentrale Rolle. Die Sklaverei, die aus der Diktatur der „Herrennation“ über das „unreine Blut“ resultiere, beschreibt Broch Anfang 1940 so: „Konzentrationslager, in denen bereits Hunderttausende von Sklaven schmachten, eine Arbeitsarmee, die zu ihrer Fron hingeprügelt wird, künstlich vertierte Roboter, denen man jeglichen Rest von Menschentum austreibt, die man auf Lebenszeit aus jedem Menschenverbande ausschließt, um sie letztlich zu Tausenden zu Tode zu quälen.“ Damals, 1940, verfasst Broch eine ideologiekritische Rezension über den Film „Vom Winde verweht“, über einen Streifen also, der in den USA außerordentlich populär war und ist. Broch wies dem Film – und der Romanvorlage – faschistische Tendenzen nach wegen der nur mühsam verschleierten Sympathie mit dem Sklavenhalterstaat. Was Broch nicht wissen konnte: „Vom Winde verweht“ gehörte zu den Lieblingsfilmen Hitlers. Wenn er schon dichtete – was er nur mit schlechtem Gewissen tat –, dann sollte dies im Zusammenhang mit seinen theoretischen Arbeiten stehen, die er höher einschätzte. Der einzig literarische Text Brochs, in dem es ausschließlich und unmittelbar um die Person Hitlers geht, ist die im Sommer 1944 entstandene fiktive Radio-Ansprache „Letzter Ausbruch eines Größenwahnes. Hitlers Abschiedsrede“. (Sie erschien im gleichen Jahr in der „Saturday Review of Literature“.) Wahrscheinlich hatte Joseph Görres’ Schrift „Napoleons Proklamation an die Völker Europas vor seinem Abzug auf die Insel Elba“ von 1814 Pate gestanden. Hitler gibt sich hier als eine Art Anti-Christ zu erkennen. Die Rede gipfelt in einem Irrsinns-Stakkato des Diktators, in dem der Hass als die entscheidende menschliche Triebkraft gefeiert wird. 1945 war ein großes Jahr für Broch: Hitlers Ende fiel zeitlich zusammen mit der Gründung der UNO, und in den gleichen Wochen veröffentlichte der Schriftsteller sein zweites Hauptwerk, den Roman „Der Tod des Vergil“, ein Buch, das in Amerika durchaus beachtet wurde. Zur bloßen Dichterexistenz kehrte Broch auch nach dem Krieg nicht mehr zurück. Er schrieb eine Denkschrift für die ReEducation in Deutschland, in der er die Mitglieder des Widerstandes im Dritten
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Reich als seine Brüder bezeichnet, er verfasste eine Eingabe an die UNESCO über die Erziehung der Jugend zur Internationalität und Humanität, und er analysierte 1947 unter dem Titel „Strategischer Imperialismus“ Hitlers gescheiterte Weltmachtpläne. Dabei kommt er auch auf das Verhältnis des Diktators zur katholischen Kirche zu sprechen: „Der Papst hätte sich“ bei einem Sieg Hitlers „auf einen Existenzkampf gefaßt machen müssen, gegen den die mittelalterlichen Zwistigkeiten mit den Kaisern heitere Scharmützel gewesen wären.“ Die Studie „Hofmannsthal und seine Zeiten“ von 1948 ist Brochs kulturhistorische und kulturkritische Auseinandersetzung mit dem Wien der Jahrhundertwende. Dieses Wien war nach Broch das „Zentrum des europäischen Wert-Vakuums“, und Hitler, der hier seine ideologische Lehrzeit absolvierte, ihr unrühmliches Produkt. Brochs letzter Roman „Die Schuldlosen“ (1950), behandelt die Jahrzehnte zwischen 1913 und 1933. An Einzelschicksalen möchte er verdeutlichen, wie Gleichgültigkeit im persönlichen zu Deformierungen im politischen Bereich führt. Er wollte, wie er einem Freund schrieb, mit dem Buch „jene Grundstimmung“ erfassen, die „das Hochkommen Hitlers ermöglicht hat“. 1951 starb Broch im amerikanischen Exil in New Haven (Connecticut). Nach Hitlers Selbstmord hatte der Autor davon gesprochen, dass ein „neuer Weltentag“ anbreche. Er hoffte, für die neue Epoche „einen Baustein“ geliefert zu haben, einen Stein zur theoretischen Fundierung einer zukünftigen humanen Politik. Jene Politik sollte im Zeichen des Schutzes der Menschenrechte stehen. Diese Utopie, die mit ihrem Freiheitspostulat das Gegenteil von Hitlers Versklavungsplänen darstellt, ist Brochs Vermächtnis. Daran wird in diesem Jahr auch mit den Broch-Symposien in Warschau, Budapest, Stuttgart, Paris und New Haven erinnert.
Hermann Brochs Roman „Die Verzauberung“ entstand vor 50 Jahren Neue Zürcher Zeitung (30.11./1.12.1985) „Hier hätte ich nun einen idealen Arbeitsplatz. Völlige Abgeschiedenheit, völlige Einsamkeit, ich ganz allein in einem Bauernhaus, und von meinem Fenster aus übersehe ich das 600 m unter mir liegende Inntal in seiner ganzen Länge bis zum Arlberg, links die Ötztäler und Pilztaler Alpen, rechts das Karwendel- und Wettersteingebirge. Es ist so unbeschreiblich schön, dass ich beinahe fürchte, immerzu nur zum Fenster hinauszuschauen und nichts zu arbeiten“, schrieb Broch am 8. September 1935 an Daisy Brody, die Frau seines Verlegers Daniel Brody, Chef
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des Rhein-Verlags in Zürich. Das neue Domizil, in das der Autor sich einrichtete, war das kleine Bergnest Mösern bei Seefeld in Tirol. Seit einem Jahr arbeitete Broch an einem neuen Roman, den er „Die Verzauberung“ nennen wollte, und dieses Buch war als erster Band einer Trilogie gedacht, für die er den Titel „Demeter“ vorgesehen hatte. Aus dem Trilogieplan wurde nichts, denn der erste Band entwickelte eine Eigengesetzlichkeit, wie sie vom Autor nicht vorausgesehen worden war. Eine entwurfsmäßige – verloren gegangene – Urfassung hatte Broch schon Mitte 1935 beendet; seitdem arbeitete er an der uns bekannten ersten Version des Buches. Baden, Wien, Laxenburg und München waren die Orte, an denen Broch bisher am Roman geschrieben hatte. Da die Handlung der „Verzauberung“ in einem Gebirgsdorf spielt, zog es Broch in eine Umgebung, von der er sich versprach, dass ihre Atmosphäre inspirierend auf ihn wirken würde: Er fand sie in Mösern. Die Arbeit am Buch machte gute Fortschritte, und Broch schloss es innerhalb von vier Monaten zwischen September und Dezember 1935 ab. Als Daniel Brody im Januar 1936 das ganze Manuskript las, war er begeistert und wollte gleich mit der Drucklegung beginnen – Broch aber meinte plötzlich, er müsse den Roman nochmals vollständig überarbeiten. Zu einem nicht geringen Teil war daran Mösern schuld. Immer mehr nämlich ließ Broch sich auf diese Gebirgswelt ein, in der er jetzt lebte, und er fand, dass die Naturbeschreibungen in seinem Roman bisher zu wünschen übrig ließen. Es waren vor allem die Schilderungen naturhafter Phänomene – Meteorologisches und der Wechsel der Jahreszeiten –, die in der zweiten Fassung eindringlicher und nuancenreicher ausfielen. Ein eigenartiges Werk – was wollte Broch mit ihm erreichen? Sicherlich zu viel auf einmal, und der Abbruch der zweiten Fassung nach einem weiteren Jahr konzentrierter Arbeit hat wohl damit zu tun, dass sich die verschiedenen Intentionen nicht mehr überzeugend miteinander verbinden ließen. Denn wie kriegt man das zustande: ein Buch zu schreiben, das gleichzeitig ein politischer, ein religiöser, ein mythischer und ein Heimatroman ist, und nicht nur das – ein Buch, in dem sich Politisches und Antipolitisches, Religiöses und Antireligiöses, Mythisches und Geschichtliches, Provinzielles und Antiheimatliches so kompliziert miteinander vermischen? Ruft man sich die politische Situation in Erinnerung, schaut man sich die literaturgeschichtliche Konstellation an und lässt man sich auf Brochs Wirkungsabsichten ein, entwirren sich die verschlungenen Fäden ein wenig, und Brochs geradezu heroischer Versuch, im Roman auf symbolische Weise die epochalen Veränderungen seiner Zeit einzufangen, zu reflektieren und bewusst zu machen, nötigt Respekt und Bewunderung ab. Die politische Ebene des Buches ist wohl die zugänglichste. Broch war als österreichischer Staatsbürger 1935 zwar noch kein Emigrant, aber als jüdischer
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und antifaschistischer Autor glich seine Situation in manchem bereits jener der von Hitler verbannten Schriftsteller. Mit ihren politischen Aspekten gehört „Die Verzauberung“ zu den antifaschistischen (Exil-)Romanen der dreißiger und vierziger Jahre, in denen die Diktaturen mit symbolisch-parabelhaften Erzählmitteln analysiert werden, wie z.B. in Walter Mehrings „Die Nacht des Tyrannen“, Fritz von Unruhs „Der nie verlor“, Thomas Manns „Doktor Faustus“ und Hermann Kestens „Die Zwillinge von Nürnberg“. Der negative Held in Brochs Roman ist Marius Ratti. Dessen Blut-und-BodenIdeologie, seine nazihaften Helferfiguren, die Wiedereinführung heidnischer Kulte, der Aufbau paramilitärischer Gruppen, der inszenierte Massenwahn, das Versprechen „goldener Berge“, die Verfolgung von Minderheiten – all das lässt den Leser an die zeitgeschichtlichen Vorgänge im damaligen Deutschland denken. Broch wollte es aber bei diesen vordergründigen Anspielungen nicht belassen. Für ihn waren Hitler und Nationalsozialismus die extremen Symptome eines europäischen Kulturverfalls, den er auf romanhafte Weise bereits in der „Schlafwandler“-Trilogie von 1930/32 zu deuten versucht hatte. Broch war überzeugt, dass eine kulturelle Regeneration Europas erst möglich sei, wenn sich nach dem Wertzerfall eine „neue Religion“ etabliert habe, eine Religion, die wieder alle Lebensgebiete integrieren könne. Das klingt nach konservativer Ideologie der Romantik und nach Mittelaltersehnsucht. Im Gegensatz zu den Romantikern wollte Broch aber nicht hinter die Aufklärung zurück; die „neue Religion“ sollte vielmehr eine innerweltliche sein, eine Humanitätsreligion, in deren Mittelpunkt ein „Irdisch-Absolutes“ steht. Was immer man als Religionshistoriker von diesen Vorstellungen halten mag, als Leser der „Verzauberung“ stellen wir fest, dass sie Anlage und Struktur dieses Romans bestimmt. Hitler/Ratti war für Broch ein falscher Prophet, der, statt den Weg zur neuen Humanität zu weisen, auf die niedrigsten Stufen menschheitlicher Entwicklung zurückführte. Brochs Buch ist kein realistisch-zeithistorischer Roman, sondern symbolisch-parabelhaft angelegt. So geht es nicht um direkte Ähnlichkeiten zwischen Hitler und Ratti, sondern um die Herausarbeitung struktureller Parallelen in Ideologie und Verhalten. Schwieriger als das negative Bild Rattis war das der Mutter Gisson, seiner komplexen Gegenfigur, zu zeichnen. Im Rahmen des Alpendorfmodells ist sie eine „grosse Mutter“, eine Demeter-Figur. Sie trägt schwer an den ihr von Broch aufgeladenen Lasten, und man merkt es ihr an. Sie steht nicht nur für die altüberlieferte Kultur, für die Synthese von Antike und Christentum, für eine Kultur, die sich in der Defensive befindet; sie soll auch gleichzeitig bereits eine Andeutung dessen vermitteln, was nach der Überwindung des Rattischen Atavismus sich an „neuer Religion“ entfalten wird. Nicht nur das: Als Demeter steht sie für Matriarchalisches, vertritt sie die positive Gegenwelt zu dem, was sich in Ratti
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als inhuman gewordenem Patriarchat verkörpert. Wird die „neue Humanität“, die „neue Religion“ nach Brochs Vorstellung mehr weiblich als männlich geprägt sein? Vieles in seinem Werk deutet darauf hin, etwa das drei Jahre zuvor geschriebene Drama „Die Entsühnung“. Im Roman wird deutlich, dass Marius Ratti und Mutter Gisson als Repräsentanten des Patriarchats bzw. des Matriarchats unversöhnliche Gegensätze darstellen. Broch hatte sich mit den Mutter- und Demeter-Mythen der Antike vertraut gemacht. Unter anderem las er Johann Jakob Bachofens, Ludwig Klages’ und Albert Dieterichs einschlägige Untersuchungen zum Thema. Mit ihren „religiösen“ Aspekten ist „Die Verzauberung“ bis zu einem gewissen Grad mit Dichtungen verwandt, wie sie damals von Gertrud von Le Fort, Elisabeth Langgässer, Werner Bergengruen und Reinhold Schneider verfasst wurden, wenn Broch auch, im Unterschied zu ihnen, keine Konfessionsliteratur schrieb. Von der „Verzauberung“ sprach Broch in seinen Briefen als dem „Berg roman“, dem „Landarzt-Buch“ oder dem „Bauernroman“. Bewusst griff er auf eine Gattung zurück, die sich in den dreißiger Jahren einer etwas zweifelhaften Beliebtheit erfreute: auf die Gattung des Heimat-, Berg- und Bauernromans. Sie erreichte damals in Österreich einen Produktions- und Verbreitungshöhepunkt, was nicht zuletzt auf die forcierte Förderung des Genres durch die Kulturpolitiker des Ständestaates zurückzuführen war. Zu den vielgelesenen österreichischen Autoren zählten Maria Grengg („Der murrende Berg“, 1936), Karl Heinrich Waggerl („Schweres Blut“, 1931), Fanny Wibmer-Pedit („Über den Berg“, 1931) und Richard Billinger („Lehren aus Gottes Hand“, 1935). Guido Zernatto, Staatssekretär und Minister der Regierung Schuschnigg, veröffentlichte 1934 einen Roman mit dem einschlägigen Titel „Sinnlose Stadt“. Broch benutzte zwar die populäre Gattung, aber er schrieb an gegen die agrarromantische, rückwärtsgewandte und verklärend-harmonisierende Sicht des Land- und Berglebens jener Autoren. Damit wurde „Die Verzauberung“ zu einem Vorläufer des Anti-Heimatromans, wie er sich in den sechziger und siebziger Jahren mit Autoren wie Thomas Bernhard, Gerhard Fritsch und Franz Innerhofer in Österreich durchsetzte. Was Broch hier schilderte, war alles andere als ein sinnvolles, ausgeglichenes, der Hektik und Leerheit des städtischen „Getriebes“ entgegensetzbares Dorfleben. Das Schema des gängigen Heimatromans der Zeit wurde ad absurdum geführt. Bei den Dörflern machte sich eine Zerrissenheit, eine Unruhe und ein Chaos breit, das an nichts weniger als an heile Welt erinnert. Wer ist die Hauptfigur in diesem Buch? Auf den ersten Blick scheint es entweder Marius Ratti oder Mutter Gisson zu sein. Aber im Mittelpunkt der „Verzauberung“ steht eigentlich ihr Erzähler, ein Landarzt. Auch ihn kennen wir zur Genüge aus den einschlägigen Heimatromanen, und auch diese Figur hat Broch „umfunktioniert“. Was wir als Leser miterleben, ist der vielfältige Lernprozess
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dieses Arztes, ein Prozess, der nicht abgeschlossen wird und über den er sich als Erzähler erst klar werden will. Die Romanform, die Broch wählte, ist ein Zwischending zwischen Tagebuch und Autobiographie. Der erzählende Landarzt schreibt nachträglich über die geschilderten Vorfälle im Dorf, und dabei entfaltet er ein Stück eigener Biographie. Schreibend will sich der Erzähler klar werden über seine Berufsentscheidung, über ein zurückliegendes Liebeserlebnis und über seine Situation im Dorf zwischen Marius Ratti und Mutter Gisson. Dabei bemüht er sich um Distanz, nicht nur zu den anderen Personen, sondern auch zu sich selbst. Beim Massenwahn, so erfahren wir, wird auch er von der Rattischen Inszenierung eines heidnischen Menschenopfers mitgerissen, vermag auch er dem Sog des Irrationalismus nicht zu widerstehen. In seiner eigenen Psyche registriert der Erzähler die Reaktionen, welche die äußeren Vorgänge bei ihm hervorrufen, beobachtet, wie er sie verarbeitet und zu klären versucht. Erst die Erfahrung der Inhumanität, erst das Erlebnis der Verlockung atavistischer Tendenzen, erst ihre empfindungsmäßige und rationale Durchdringung macht ihn gefeit gegen den Zauber und die Verzauberung Rattis, macht ihn offen für das, was Broch die „neue Religion“ nannte. Nicht in der Nachfolge, nicht in der Imitation kann nach Broch die „neue Religion“ entstehen, sondern nur in der sich selbst findenden Seele des Einzelmenschen. Selbstfindung und Selbsterkenntnis werden von Broch als Geburtsstunde der „neuen Humanität“ verstanden. Im Prozess der Selbstfindung gesteht Broch der Meditation in der Natur eine besondere Rolle zu: die Natur wird als Lehrerin verehrt. Eine Art Lehrzeit durchläuft der Landarzt im Umgang mit Mutter Gisson, der Heilkundlerin und Vertrauten der Natur. Wichtige Stationen innerhalb des Erkenntnisprozesses sind die Meditationen des Erzählers, sein Sich-Versenken in den Anblick der Landschaft. Brochs erklärter Wunsch war, seine Leser durch den Nachvollzug der Erlebnisse, Reflexionen und Meditationen des Erzählers zur Selbstfindung zu führen, sie für religiöse Elementarerlebnisse zu sensibilisieren. Damit war das Romanschifflein wohl überfrachtet, und es wurde zu Brochs Lebzeiten nicht auf seine Seetüchtigkeit hin erprobt. Ein drittes Mal machte sich der Autor Anfang 1951 an eine weitere Überarbeitung. Als er im Mai jenes Jahres starb, hatte er von dieser letzten Fassung noch nicht die Hälfte fertiggestellt. Die einzige abgeschlossene Version ist die erste von 1935. Gerade aus der Distanz von einem halben Jahrhundert betrachtet, ist „Die Verzauberung“ ein faszinierendes Werk. Das, was Broch sich an zeitkritischer und metaphysischer Wirkung von dem Buch erwartet hatte, ist heute von geringerem Interesse. Wenn man aber – wie Broch selbst bei der Niederschrift des Romans – sich in die Berge zurück zieht und „immerzu nur zum Fenster hinausschauen und nichts arbeiten“ möchte, dann ist man in der rechten Stimmung,
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die Rätselhaftigkeit und die Schönheit des Buches auf sich wirken zu lassen. Was Broch zu Beginn des Romans den Erzähler äußern lässt, trifft eigentlich auf „Die Verzauberung“ selbst zu: „Unser Schiff wird immer schwerer, je mehr es sich dem Hafen nähert, kaum mehr ein Schiff, sondern nur mehr Fracht, kaum mehr in Fahrt, sondern unbewegt auf dem ruhenden Spiegel des Abends, so läuft es ein, gewichtlos trotz übergrosser Ladung (…) aber wir kennen nicht die Fracht, wir kennen nicht den Hafen, unergründlich ist das Gewässer, das wir befahren haben, unergründlich der Himmel, der sich darüber wölbt.“
Hermann Broch als Dramatiker Neue Zürcher Zeitung (17./18.3.1984) „Ich bin noch immer sehr benommen und besoffen: in 4 Wochen habe ich die ganze Rohschrift des Dramas zu Stande gebracht, gestern den dritten Akt abgeschlossen. Bleibt nur noch der Epilog, der heute fertig werden soll.“ Aus einem für ihn bezeichnenden Schaffensrausch heraus berichtet Broch am 30. August 1932 Daisy Brody, der Gattin seines Zürcher Verlegers, über den Fortgang der Arbeit an seinem Drama „Die Entsühnung“. Daniel Brody hatte 1929 den Rhein-Verlag gekauft, einen Verlag, der sich einen Namen gemacht hatte mit Büchern von Italo Svevo, C.F. Ramuz, Ilja Ehrenburg, Ivan Goll und René Schickele und dessen prominentester Autor James Joyce war. Broch war der erste Schriftsteller, den Brody selbst dem Rhein-Verlag zuführte, und als Verleger des ins Deutsche übersetzten Werks von Joyce hatte er Broch leicht für sein Programm gewinnen können. Denn sein erstes Buch, die „Schlafwandler“-Trilogie (1930–1932), schrieb Broch als Avantgardist des modernen Romans, einer Gattung, die – nach Brochs Ansicht – damals im „Ulysses“ von James Joyce einen Höhepunkt erreicht hatte. Broch hatte mit den „Schlafwandlern“ Phasen des kulturellen Verfalls in der Wilhelminischen Ära zwischen 1888 und 1918 romanhaft erfassen und vergegenwärtigen wollen. Jetzt plante er eine Fortsetzung, in der es um die Gegenwart, um das Deutschland von 1930 ging. Im Mittelpunkt des neuen Romans sollte die Industriellenfamilie Filsmann figurieren, und als abstrakte „Hauptfigur“ war die Wirtschaftskrise jener Jahre vorgesehen. Bald entdeckt Broch, dass sich der Stoff besser für ein Drama als für eine romanhafte Behandlung eignet. Getragen von der internationalen Anerkennung, die sein Erstlingsbuch bei den Kritikern gefunden hat, und gedrängt von dem Zwang nach finanziellen Erfolgen, die im Fall der „Schlafwandler“ ausblieben, befindet Broch sich im Sommer 1932 in einer äußerst produktiven und schaffensfreudigen Phase. Um sich ganz auf das neue
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Projekt konzentrieren zu können, zieht er sich aus Wien zurück nach Schachen bei Gössl am Grundlsee im steirischen Salzkammergut. Hier haust er in einer winzigen Hütte und schreibt bei Petroleumlicht innerhalb weniger verregneter Sommerwochen das Filsmann-Drama, dem er den Titel „Die Entsühnung“ gibt. Diese Tragödie ist so gut wie unbekannt, aber äußerst spielbar, kaum im Gespräch, aber durchaus aktuell. Damals wollte niemand so recht an das Stück heran: es war zu gesellschaftskritisch, um 1933 in Deutschland aufgeführt werden zu können, und zudem war sein Verfasser ein jüdischer Schriftsteller. Auch in Wien konnte sich wegen des politischen Gehalts kein Regisseur dafür erwärmen. Nur in der Schweiz fand sich ein Theaterleiter, der die Qualität des Stücks erkannte und den Mut aufbrachte, eine Tragödie von Broch, der ja als Dramatiker keinen Namen hatte, spielen zu lassen. Gustav Hartung war Intendant des Landestheaters Darmstadt gewesen. 1933 kehrte er Hitler-Deutschland den Rücken und arbeitete seitdem als Regisseur am Schauspielhaus Zürich (später ging er nach Basel). Vor fünfzig Jahren, am 15. März 1934, fand die Uraufführung der „Entsühnung“ in Zürich statt. Von den Künstlern, die bei der Premiere mitspielten, ist heute nur noch Leonard Steckel bekannt. Die Uraufführung war ein Erfolg; das ist auch der Rezension zu entnehmen, die Carl Seelig damals im „Neuen Wiener Abendblatt“ veröffentlichte. Nur an einem einzigen Theater wurde das Drama seitdem wieder aufgeführt: an den Städtischen Bühnen Osnabrück, wo die Premiere am 3. Juni 1982 stattfand. Vier Aspekte sind für das Verständnis von Brochs erstem Drama wichtig: der biografische, gesellschaftlich-politische, der literarhistorische und der ästhetische. Im Zentrum der Handlung steht eine Firma – die Aktiengesellschaft Filsmann-Werke – deren Juniorchef der vierzig Jahre alte Herbert Filsmann ist. Er muss einen Dreifrontenkrieg führen, um die Existenz seines Unternehmens zu retten: Einerseits ist er in einen Kampf mit den Arbeitnehmern verwickelt, die sich die Entlassungen nicht gefallen lassen wollen; weiter muss er sich seines Konkurrenten erwehren, und schließlich sträubt er sich gegen die Übernahme des Betriebs durch einen Großkonzern, weil er dann nicht mehr Herr im eigenen Hause sein wird. Herbert Filsmann verliert sämtliche Schlachten: Die Arbeiter revoltieren, sein Konkurrent erweist sich als überlegen, und zudem werden die Filsmann-Werke von einem mit allen Wassern gewaschenen Industriekapitän in einen Konzern übergeführt. Filsmann kann diese Niederlagen nicht verkraften und begeht Selbstmord. Broch beginnt mit der Niederschrift seines Dramas in jenen Wochen, als sein Jugendfreund Felix Wolf, Chef der Wiener Firma Lederer und Wolf, gerade Selbstmord begangen hat. Wolf war im Herbst 1930 – also genau zu der Zeit, in der Broch sein Drama spielen lässt – wegen der allgemeinen Wirtschaftskrise in Zahlungsschwierigkeiten geraten, war nicht mehr konkurrenzfähig und musste 1932
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Konkurs anmelden. Seine Firmen wurden von einem Konzern übernommen. Fünf Jahre zuvor hatte Felix Wolf Brochs eigene Spinnfabrik in Teesdorf bei Wien aufgekauft. Das Schicksal der Wolfschen Firma und vor allem der Tod seines Freundes dürften den entscheidenden Anstoß zur Niederschrift des Dramas gegeben haben. Aufgrund seiner zwanzigjährigen Berufspraxis als Textilfabrikant kannte Broch das Industrieellenmilieu, seine Mechanismen und Machtkämpfe als Insider. Broch lässt das Drama nicht in Österreich spielen, sondern im Deutschen Reich, und zwar in einer größeren südwestdeutschen Industriestadt. Die angegebene Zeit (September/Oktober 1930) ist die der Brüningschen Notverordnungen, der wachsenden Arbeitslosigkeit, der Massenentlassungen, Lohnkürzungen und Arbeitskämpfe, zudem auch der politischen Polarisierung, des rapiden Aufstiegs der radikalen politischen Parteien. Broch versucht, einen sozialen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft von 1930 zu vermitteln. Vorgestellt wird eine Arbeitswelt von den Konzernherren, Fabrikunternehmern und Präsidenten von Aktiengesellschaften über die abgestufte Hierarchie der Angestelltenwelt bis zu den Arbeitnehmervertretern unterschiedlichster ideologischer Richtungen. Hinzu kommen typische Einzelfiguren wie ein völkischer Aktivist oder ein politisch neutraler Journalist. Gegeneinander abgesetzt wird die – positiv gesehene – Welt der Frauen von der – negativ gewerteten – Welt der Männer. Man merkt dem Stück an, dass Broch sein selbst auferlegtes Gebot dichterischer Totalitätsgestaltung ernst nimmt, und wenn in einem Drama der frühen dreißiger Jahre ein gesellschaftlicher Querschnitt von Deutschland am Ende der Weimarer Republik vermittelt wird, dann sicherlich hier. Ausschlaggebend für die Wahl des Sujets dürfte schließlich die Lektüre eines der seinerzeit erfolgreichsten neusachlichen Industrieromane gewesen sein: Erik Regers „Union der festen Hand“, ein Werk, das 1931 erschienen war und das Broch im Februar 1932 ein „Buch von Format“ nennt. Reger schreibt über die Ruhrgebiets-Industrie – vornehmlich den Krupp-Konzern – in den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise, und wie bei Broch sind die Themen durch die historischen Entwicklungen mit ihren ökonomischen Krisen (Pleiten, Arbeitskämpfen, Konzernbildungen, Verflechtung von Industrie und Politik) vorgegeben. Carl Zuckmayer war es, der als Vertrauensmann der KleistStiftung den Kleist-Preis 1931 zu gleichen Teilen Erik Reger für dessen Roman und Ödön von Horváth für seine dramatischen Dichtungen zuerkannte. Als Horváth den Preis erhielt, war gerade sein jüngstes Volksstück „Italienische Nacht“ in aller Munde, denn in Berlin war es im Theater am Kurfürstendamm am 20. März 1931 unter Polizeischutz aufgeführt worden. Das war nötig, weil die Nationalsozialisten gegen dieses antifaschistische Stück im Wortsinne Sturm liefen. Auch Horváths Drama spielt 1930 in einer süddeutschen Stadt, und auch
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hier geht es um eine Konfrontation der gesellschaftlichen Kräfte zwischen Links und Rechts. Es ist keine Frage, dass Broch das Drama kannte, denn nach jener Kleist-Preisverleihung vom März 1931 strebte er selbst die begehrte Auszeichnung an, und bat seinen Verleger, „Die Schlafwandler“ an die Jury zu schicken. Aber damals wurden Else Lasker-Schüler und Richard Billinger damit geehrt, und 1933 wurde der Kleist-Preis aus politischen Gründen nicht mehr vergeben. Im Programmheft der Zürcher Aufführung veröffentlichte Broch einen kleinen Essay mit dem Titel „Erneuerung des Theaters?“. Hier führt er aus, dass es ihm um eine Kombination von naturalistischer Tragödie und Stildrama gehe. Den „Umschlag“ vom „Naturalismus ins Abstrakt-Stilistische“ hat Broch in seinem Stück vor allem im Epilog gestaltet. Hier wechselt er abrupt von der realistisch geschriebenen Aufsichtsratsszene zur expressionistisch anmutenden Totenklage der Mütter. Ermutigt durch den Premierenerfolg seiner Tragödie, schrieb Broch im Sommer 1934 eine Komödie mit dem Titel „Aus der Luft gegriffen oder die Geschäfte des Baron Laborde“. Die entstand in der Villa seiner Freundin Anja Herzog in Wien-Sievering. Das Stück stellt die satirische Kehrseite zur Tragödie „Die Entsühnung“ dar. Held der Komödie ist Baron André Laborde, ein mit den Tricks des internationalen Finanzkapitals vertrauter Hochstapler, ein Dieb, Scheckfälscher und betrügerischer Börsenspekulant. Der Tragödienverlauf der „Entsühnung“ wird hier umgekehrt: Während nämlich das Trauerspiel mit Tatkraft und Optimismus beginnt und mit dem Tod bzw. Selbstmord verschiedener Protagonisten endet, steht in der Komödie der missglückte Suizid am Anfang, und an ihrem Ende löst sich alles in Lustspielharmonie auf. Was der solide, aber unerfahrene Kaufmann Ruthart einbrockt, bringt der Abenteurer- und Hochstapler Laborde wieder ins Lot. Sowohl im Trauerspiel wie in der Komödie geht es um die Bloßstellung des mechanischen Leerlaufs im Ökonomischen, eines – mit Broch zu sprechen – „Partialwertsystems“, dem seine ganze Abneigung gilt. Gemeinsam mit seinem Sohn verfasste Broch zur gleichen Zeit auch einen Schwank, dem der Titel „Es bleibt alles beim Alten“ gegeben wurde. Dieser Schwank ist ohne Witz; zähflüssig fließt die alberne Handlung von Szene zu Szene – er ist unaufführbar und wird es bleiben. Mit „Aus der Luft gegriffen“ aber hat Broch die an Komödien arme deutsche Literatur um ein spielbares Lustspiel bereichert. Das konnte man bei der Uraufführung des Stücks am 6. Oktober 1981 an den Städtischen Bühnen Osnabrück beobachten, und das zeigte sich noch deutlicher bei der glänzenden österreichischen Premiere im Wiener Akademietheater am 25. Juni 1983, bei der Michael Heltau und Maresa Hörbiger die Hauptrollen übernommen hatten. Hier sorgten Fred Berndt und Klemens Renoldner für eine werkgetreue und doch zeitnahe Interpretation, wie man sie sich besser nicht vorstellen kann.
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Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Broch geradezu verzweifelt versucht, einen Regisseur für das Stück in Wien zu finden. Er hatte es mit Hinblick auf eine mögliche Aufführung im Josefstädter Theater geschrieben. Otto Preminger, der damals noch keine dreißig Jahre alte Direktor des Theaters, lehnte die Komödie ab als „zu kalt und zu literarisch“. Auch das Burgtheater gab Broch im Frühjahr 1935 Bescheid, dass es sich zu einer Aufführung nicht entschließen könne. Enttäuscht berichtete Broch seinem Freund Frank Thiess im November 1935: „Dass es mit dem Burgtheater nichts wird, ist ärgerlich und bedauerlich und überdies für das Theater ein objektiver Schade; aber dort führt man eben lieber Sassmann auf, da lässt sich nichts machen.“ Der mediokre Theaterdichter Hanns Sassmann hatte 1934 zwei Dramen über Maria Theresia und Prinz Eugen verfasst, die dem patriotischen Zeitgeschmack entsprachen. Broch befand sich damals in finanziellen Nöten, und Theatertantiemen hätten ihm eine willkommene Erleichterung bedeutet. Da es zu keiner weiteren Aufführung der „Entsühnung“ kam und sich die Theaterintendanten weder für die Komödie noch den Schwank erwärmen konnten, gab Broch schon vor dem Exil, das 1938 begann, alle Dramenpläne auf. Aber wie stark ihn noch Mitte der dreißiger Jahre Theaterprojekte beschäftigten und bis in den Schlaf hinein verfolgten, zeigt seine Traumaufzeichnung vom 23. November 1935: „Wie ich eben daran bin, mich aufzuwecken, fällt mir das Wort ,Nicht nur, sondern auch‘ ein und dass dies ein großartiger Titel für ein Lustspiel wäre, das ich Zsolnay anbieten könnte, obwohl mir dabei klar ist, dass man ihm nichts anbieten kann. Also beschließe ich weiterzuträumen, allerdings mit dem schlechten Gewissen, dass ein Schwank ,Nicht nur, sondern auch‘ unter meiner Würde wäre, und darüber wache ich wirklich auf.“
3. Klassik und Romantik: Von Goethe bis Heine
Heinrich von Kleists Engel
Irdische Engel. Zum 200. Todestag Heinrich von Kleists DIE ZEIT (17.11.2011) Engel sind in. Es ‚engelt‘ gleichsam an allen Ecken und Enden in den unterschiedlichsten Abteilungen des Kulturbetriebs. Ob Filme von Wim Wenders oder Peter Hall, ob Fotobände von Isolde Ohlbaum oder ein Roman von Paulo Coelho, ob kulturkritische Reflexionen von Harold Bloom, ob theologiegeschichtliche Darstellungen von Giorgio Agamben und Johann Ev. Hafner: wann immer etwas zum Thema der geflügelten Außerirdischen erscheint, kann man mit Aufmerksamkeit rechnen. Zweidrittel der Menschen in Deutschland bekennen, dass sie an einen Schutzengel glauben, und so wächst in dieser krisengebeutelten Zeit innerhalb der Engelliteratur der Anteil der Trostbücher. Titel über Heinrich von Kleist wird man da jedoch vergeblich suchen. Wie wenige Schriftsteller der Romantiker-Generation setzte sich Heinrich von Kleist den Umbrüchen seiner Zeit aus, erlebte direkter und beschrieb schonungsloser als andere die moralischen, religiösen und politischen Erdbeben der Epoche. Das Engelsthema klingt bei ihm häufig an, denn als Kenner der Bibel schöpfte er aus ihren Mythen, Gleichnissen und Bildern, ohne doch ihre religiösen Botschaften als Glaubenslehren zu akzeptieren. Bei Kleist gibt es keinen Blick ins Paradies ohne vorausgehende oder folgende Höllenqualen. Ein glückliches Ende kommt nur selten vor. Auch wenn es vorübergehend so aussehen mag, als ob himmlische Mächte auf Seiten der Protagonisten stünden: am Ende von Kleists Novellen und Dramen rollen meistens die Köpfe. Es sind vier biblische Engelsgeschichten, die bei ihm auf kunstvolle Weise variiert und problematisiert werden: Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies in der „Genesis“, der englische Gruß Gabriels an Maria sowie die Auferstehungsgeschichte vom leeren Grab Christi aus den Evangelien und schließlich der Kampf Michaels gegen Luzifer aus der „Offenbarung des Johannes“. Da übernehmen Engel jene administrativen, militärischen und botenmäßigen Funktionen wie sie bei Agambens „Beamten des Himmels“ und in Hafners „Angelologie“ beschrieben werden. In Kleists berühmten Essay „Über das Marionettentheater“ verwickelt ein Ich-Erzähler den ersten Tänzer der Oper, Herrn C., beim abendlichen Gang durch den öffentlichen Garten einer Stadt in ein Gespräch über einen verschlossenen Garten, genauer: über den Verlust von menschlicher Grazie nach dem Sündenfall im Paradies. Der erneute Zugang zum Garten Eden soll durch eine Hintertür erfolgen, wo kein Cherub wacht. Als Schlüssel zu dieser Pforte preist Herr C. das „unendliche Bewusstsein“ an. Nicht nur Gott, sondern auch dem Menschen soll „unendliches Bewusstsein“ zukommen. Der Ich-Erzähler begreift jedoch, dass
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diese Rückkehr ins Paradies ein nochmaliges Essen vom „Baum der Erkenntnis“ voraussetzt. Erst wenn der Mensch „Gott“ gleich sei, werde „das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“ im Sinne realisierter paradiesischer Utopie beginnen. Unausgesprochen setzt der Tänzer an die Stelle der christlich-transzendenten Erlösungsvorstellung die innerweltliche durch den zum Gott gewordenen Menschen. Auch in seiner Komödie „Der zerbrochne Krug“ verbleibt der Autor im Anspielungsbereich des Sündenfalls. Hier macht sich ebenfalls das Kleistsche poetologische Prinzip bemerkbar, Botschaften alter Mythen zu verkehren. Nicht Eve/Eva, sondern Adam wird in eine assoziative Nähe zum Teufel gerückt. Das liegt nahe, denn das Sündenregister des Dorfrichters Adam – man hat hier den Bock zum Gärtner gemacht – ist beträchtlich: Es geht um Rechtsbeugung, Erpressung und sexuelle Nötigung. Die übergeordnete Instanz, Gerichtsrat Walther, übernimmt die Rolle des „Herrn“, der den notorischen Regelbrecher aus der Justizbehörde jagt. Als Cherub mit dem flammenden Schwert fungiert sein Urteil der Amtsenthebung. Adam nimmt Reißaus als warteten „Rad und Galgen“ auf ihn. Aber wie in der Genesis, wo der strafende Gott das erste Menschenpaar aus dem Paradies ins Leben entlässt, lautet auch hier das Urteil nicht auf Todes-, sondern auf Lebensstrafe – außerhalb des traumhaft schönen Gartens, versteht sich. Ins Paradies zurückversetzt fühlen sich dagegen Jeronimo und Josephe in der Novelle „Das Erdbeben in Chili“, als sie – wie umschirmt von „allen Engeln des Himmels“ – die Katastrophen von Verfolgung und Erdbeben vorläufig überstanden haben. Aber der locus amoenus wandelt sich bald zum locus horribilis. Kein Engel weit und breit, wenn das junge Liebespaar in der christlichen Kirche, die eigentlich den Bedrängten Schutz bieten sollte, zum Opfer einer gewalttätigen Massenhysterie wird. Im Ritterschauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ kommt ein weiterer Cherub vor, diesmal als Bote und Schutzengel, was eigentlich seiner hohen Stellung an Gottes Thron nicht entspricht. Doch Katharina ist eine Kaisertochter, und das erklärt seine Sondermission. Zunächst erscheint er im gemeinsamen Traum des Grafen vom Strahl und Käthchens. Hier wird die eheliche Verbindung der beiden angebahnt und gesichert. Zudem greift der Cherub lebensrettend ein, als Käthchen in den Flammen des Schlosses der teuflischen Nebenbuhlerin Kunigunde von Thurneck zu verbrennen droht. Aber nach der Heirat wird die Reise des strahlenden Helden und seiner schönen Gemahlin nicht in ein paradiesisches Märchenland führen, sondern der alte Konflikt zwischen den Häusern Strahl und Thurneck entbrennt erst richtig, wenn Kunigunde droht: „Pest, Tod und Rache!“ Wie anders bei Kleists bekanntester Frauenfigur, der Marquise von O... . Nachdem ihre Schwangerschaft diagnostiziert worden ist, führt die Marquise ein erregtes Gespräch mit der Hebamme. Ihr Zustand kommt eher der Verzweiflung
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als guter Hoffnung gleich, weil sie sich an keinen Beischlaf erinnert, der zu ihren Umständen geführt haben könnte. So fragt sie, ob denn im Bereich der „Natur“ die „Möglichkeit einer unwissentlichen Empfängnis“ bestehe. Worauf die Hebamme antwortet, dass „dies, außer der heiligen Jungfrau, noch keinem Weibe auf Erden zugestoßen“ sei. Zitiert wird die Verkündigung des Engels Gabriel, der nach dem Lukas-Evangelium Maria die Botschaft überbringt, dass sie den Gottessohn gebären werde. Einem „Engel des Himmels“ glaubt auch die Marquise begegnet zu sein: Graf F. hat sie vor einer Rotte lüsterner Soldaten beschützt und in ihrer Erinnerung verfestigt sich das Bild des Retters zu einer Engelsikone. Entsetzt muss sie einsehen, dass es sich bei ihrem Heros um einen „Teufel“ handelt, der ihre Ohnmacht ausnutzte, um die Vergewaltigung selbst zu begehen. Anders als die gefallenen Engel der Bibel bereut Graf F. seine Tat, übt Wiedergutmachung und erbringt so viele Beweise seiner Liebe zur Marquise, dass sie ihn schließlich als Gatten akzeptiert. Diese Kleistsche Novelle ist ausnahmsweise eine, die glücklich endet. Kein Engelsthema ist bei Kleist so dominant wie das des Engelsturzes, von dem die „Offenbarung des Johannes“, die sogenannte Apokalypse, berichtet. Die theologischen Interpreten nennen den Stolz Satans als Grund für seinen Aufstand gegen den Herrn: Luzifer, von Gott erhöht, war „der herrlichste der Engel“, dem jedoch die bevorzugte Stellung zu Kopf stieg, woraufhin Gott ihn durch den Erzengel Michael und dessen Heer aus dem Himmel vertreiben ließ. Im „Findling“ wie in der „Verlobung in St. Domingo“ hat Kleist menschliche Konstellationen beschrieben, die in Anlehnung an den Sturz Luzifers gestaltet sind. In beiden Novellen rebellieren ehemals Abhängige gegen einen Herrn, der sie mit Wohl taten überhäuft hat. Der Erzengel Michael spielt außerdem als Namenspatron des Michael Kohlhaas eine Rolle. Wenn der Rosshändler sich zum „Statthalter Michaels, des Erzengels“ erklärt, kann diese Anmaßung im Heiligen Römischen Reich, dessen Schutzpatron der Erzengel ist, nicht toleriert werden. In den Augen der Machthaber gleicht er eher dem „Drachen“ als dessen Bezwinger und so wird er wegen Hybris und Friedensbruch durch den Kaiser als Gott und dessen Kurfürsten als Erzengel zu Fall gebracht. Glimpflicher kommen die Bilderstürmer in der „Heiligen Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ davon. Trotz ihrer aufwieglerischen Taten entgehen sie der Bestrafung, doch leben sie seit ihrem gescheiterten Aufstand in der Wahnvorstellung allnächtlich das „Gloria in excelsis deo“ singen zu müssen. Das ist jener Text, den die Engel nach dem Lukas-Evangelium bei der Geburt Christi sprachen und der in der italienischen Messe gesungen wurde. Die Musik dieser Messe erschütterte die jungen Bilderstürmer so stark, dass sie in den Schoß der alten Kirche zurückkehrten. Die Nachahmung der Engelsstimmen klingt bei ihnen allerdings
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Klassik und Romantik: Von Goethe bis Heine
animalisch-grässlich. Dieses ästhetischen Mangels sind sie sich nicht bewusst und üben ihre eigenartige Kunst aus, bis sie altersschwach friedlich entschlafen. Kleist hatte im Gedicht „Der Engel am Grabe des Herrn“ die Begegnung des Auferstehungsengels mit den „drei Marien“ geschildert und dabei dichterisch frei auf den Osterbericht im Markus-Evangelium zurückgegriffen. Das leere Grab, vor dem den trauernden Frauen ein Engel erscheint, bezeugt die Auferstehung Christi, seine Erlösungsleistung. Sie verleiht dem Liebesgebot göttliche Autorität. Vergleichbar erinnern „Prinz Friedrich von Homburg“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ an die Grabesszene. Da erleben die männlichen Protagonisten, die todkrank darniederliegen oder innerlich bereits mit dem Leben abgeschlossen haben, ihre Gesundung als irdische Auferstehung. In beiden Fällen ist es die Liebe zu einer engelsgleichen Frau, die sie vor Melancholie und Tod bewahrt. Dem Dichter selbst war eine solch lebensfördernde und Melancholie vertreibende Liebesbegegnung nicht vergönnt. Vor dem Freitod sang Kleist Choräle mit Henriette Vogel, und sie schrieben einander hymnische Prosagedichte, die sich zu einer säkularisierten „Lauretanischen Litanei“ ergänzten. Kleist betete seine Verehrte als „Schutzengel“, „Cherub“ und „Seraph“ an, und Henriette Vogel besang den Freund als „Himmelsleiter“, als „Schutz und Schirm“. Das waren überschwängliche Anrufungen zweier verzweifelter Seelen und fast schon erdenthobener Wesen, die sich dem Todesengel anvertrauten. „Ach, nur einen Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden“ seufzte Kleist in einem Brief vom Mai 1801 an seine Verlobte. Anders als die romantischen Konvertiten Friedrich Schlegel und Adam Müller, die Mittelalterfans von Wackenroder bis Novalis oder der fromme Dichter Joseph von Eichendorff war Kleist radikaler Modernist. Seine Engel sind Bilder für sehr irdische Wünsche und Irrtümer, Träume und Leidenschaften: keine Gesandten überirdischer Mächte, die wohlwollend oder strafend eingreifen. So ist sein Beitrag zur Engelskunde für viele heutige Leser ernüchternd, für andere aber gerade deswegen faszinierend.
Katharina Mommsen über die Freundschaft Goethes und Schillers Die Welt/Literarische Welt (24.12.2010) Eine der schönsten Reden, die je zum Gedächtnis eines Dichterkollegen gehalten wurde, ist der „Versuch über Schiller“ von Thomas Mann aus dem Jahr 1955. Damals gedachte man des 200. Geburtstags des Klassikers. Vermächtnishaft klang es, als der Autor aus Lübeck zum Schluss die geteilte deutsche Nation auf-
Katharina Mommsen über die Goethe/Schiller-Freundschaft
Katharina Mommsen über die Goethe/Schiller-Freundschaft
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forderte, in Schillers Namen „eins“ zu sein, sich zu besinnen auf die „innere Freiheit“ und „Gesittung“, die aus dessen Werk spreche, mit ihm auch den „Kulturschwund der unheimlichsten Art“ als Folge der nationalsozialistischen Diktatur zu überwinden. Thomas Mann ging dort auch so ausführlich wie einfühlsam auf die Beziehung zwischen Goethe und Schiller ein. Er zeigte, wie Schiller der Werbende gewesen sei und wie Goethe sich immer mehr auf den Freundschaftsbund eingelassen habe, ohne doch zu Lebzeiten Schillers eine innere Distanz aufgeben zu können. Das habe seinen Grund in Goethes Skepsis gegenüber der Theorielastigkeit des Freundes gehabt. Allerdings sei bei Goethe eine nachgetragene Liebe und lange Trauer zu konstatieren: Nach Schillers Tod habe er begriffen, wie unvergleichlich und unwiederholbar das Freundschaftsjahrzehnt gewesen sei. Im Gegensatz zu den meisten Interpreten geht Thomas Mann dabei kaum auf den Goethe-Schiller-Briefwechsel ein, sondern zitiert einige Gedichte und Dramenstellen, die auf den ersten Blick nichts über die Sympathie der beiden Freunde füreinander auszusagen scheinen. Er wagt den Blick hinter die Kulissen, wenn er Schillers Gedicht „Das Glück“ zitiert, das von einem Liebling der Götter handelt. Das sei ein persönlich an Goethe gerichtetes „Liebesgedicht des Geistes“ gewesen. Katharina Mommsen ist eine international berühmte Kapazität auf dem Gebiet der Forschung zur deutschen Klassik. Zurecht stellt sie die Besonderheit der Goethe-Schiller-Beziehung heraus, da es in der Literaturgeschichte sonst kaum vorgekommen sei, dass sich zwei gleichzeitig lebende Dichter von Rang so eng miteinander verbunden hätten. Sie beruft sich in ihrer neuen Studie auf Thomas Manns Einschätzung von „Das Glück“ und breitet viele weitere indirekte Belege von Freundschafts-, ja Liebesbekundungen aus, wie sie sich verstreut in den dichterischen Werken der beiden Weimarer finden. Die Literaturwissenschaftlerin arbeitet hier wie eine Detektivin, die ihre Schlüsse mit Indizien begründet. Nicht jeder Germanist wird ihr immer zustimmen, aber das Ergebnis ist respektabel. Nie wird eine spekulative These ohne nachvollziehbare, plausible Argumentation aufgestellt. Dabei kommt sie – anders als Thomas Mann – zu dem Schluss, dass mit Beginn der Freundschaft im Jahr 1794 die Zuneigung auf beiden Seiten von Anfang an gleich groß gewesen sei. Nicht das Kampf- und Zweckbündnis der beiden Klassiker gegen andere Literatur- und Kunstrichtungen (etwa gegen die Romantik) steht im Vordergrund der Untersuchung, sondern eine entente cordiale im wörtlichen Sinne, d.h. die platonische Liebe der beiden Autoren zueinander. Schiller und Goethe befanden sich zu Anfang der 1790er Jahre in dichterischen Schaffenskrisen. Schiller war als Kantianer stark ins Theoretische abgedriftet und Goethe hatte sich durch seine naturwissenschaftlichen Studien von seinem poetischen Hauptgeschäft entfernt. Der Dialog, die Kooperation und Inspiration brachte Schiller zu seinen Dramenprojekten und Goethe zu
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seinen Roman- und Eposplänen zurück, und gemeinsam produzierten sie Xenien und Balladen. Schiller wie Goethe, so belegt Katharina Mommsen, beteiligten sich schon in jungen Jahren am Freundschaftskult der Zeit. Der Mythos von Castor und Pollux beflügelte früh ihre Fantasie von unauflösbarer Männerfreundschaft. Schillers Gedicht „Klage der Ceres“ erinnere verklausuliert an das Schicksal der beiden unzertrennlichen antiken Helden, und mit ihm habe er Goethe seine Zuneigung verdeutlichen wollen. „Klage der Ceres“ sei die Antwort auf Goethes „Alexis und Dora“ gewesen, ein Poem, das als Liebesgedicht an Schiller gelesen wird. Die Autorin benutzt den Begriff der Erlebnisdichtung wieder völlig unbefangen und kann sich dafür auf Goethes Selbstverständnis als Lyriker berufen. Vor zwanzig Jahren, auf dem Höhepunkt der poststrukturalistischen Intertextualitätsdebatte, wäre sie damit auf wenig Verständnis bei den germanistischen Kollegen gestoßen, aber inzwischen hat sich die Einstellung zur biografischen Forschung mit ihrer Konturierung von Erlebnishintergründen wieder entspannt. Goethe habe mit seinem Gedicht „Nähe des Geliebten“ Schiller (und keineswegs einer Frau aus seinem Bekanntenkreis) seine Verehrung signalisieren wollen. Da stehen die bekannten Zeilen, die man früher nicht mit Schiller in Verbindung gebracht hat: „Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,/ Du bist mir nah!“ Nach außen hin hätten die beiden Autoren Distanz gewahrt, sich auch im – für die Nachwelt bestimmten – Briefwechsel zu keinen Gefühlsergüssen hinreißen lassen, doch in der Tarnungssprache der Lyrik sei es ihnen gelungen, verschlüsselte Botschaften der Freundschaft und Liebe zu übermitteln. So bedankte sich Schiller 1797 für „Alexis und Dora“ und erwies sich mit dem Gedicht „Das Geheimnis“ erkenntlich, wo es heißt: „Daß ja die Menschen nie es hören,/ Wie treue Lieb’ uns still beglückt!/ Sie können nur die Freude stören,/ Weil Freude nie sie selbst entzückt.“ Nach Schillers Tod habe Goethe seiner Trauer über den Verstorbenen sowohl in der Bühnendichtung „Pandora“ wie in seinem Roman „Die Wahlverwandtschaften“ Ausdruck verliehen. Beide Dichtungen drücken nach Goethe „das schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus“, ein Verlustempfinden, das ihn immer wieder bei der Erinnerung an Schiller überkam. Als Goethe 1788 aus Rom nach Weimar zurückkehrte, feierte man in Deutschland Schiller als den Autor der „Räuber“. Goethe, beeinflusst durch Winckelmann, hatte bereits ein Jahrzehnt zuvor „Iphigenie“ geschrieben, und der Italienaufenthalt hatte ihn in seiner Hochschätzung antiker Formen und Themen bestärkt. So musste er Schiller als Antipoden, als Widersacher ansehen. Ganz anders jedoch 1797 als Schiller selbst längst ein enthusiasmierter Verehrer antiker Kultur geworden war. Goethe wollte in dem Jahr wieder nach Rom fahren, reiste auch bis in die Schweiz, kehrte aber dann plötzlich nach Deutschland zurück. Katharina Mommsen erklärt diese Entscheidung damit, dass Goethe den kranken
Verleihung der Goethe-Medaille
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Freund nicht allein lassen wollte. Eigentlich habe Goethe sich nach dem Leben in Roms Künstlerkreisen gesehnt, und so versteht die Autorin die Heimkehr nach Weimar als Opfer, das Schiller gebracht wurde. Nicht nur das: Goethe interessierte sich seit Jahr und Tag für die Wilhelm-Tell-Sage als Schweizer Gründungsmythos. Nach diesem neuen Aufenthalt in den Alpen hatte er genügend Material beisammen, um über Tell ein Epos zu schreiben. Mommsen erinnert daran, wie Goethe den Stoff und seine Ideen dazu Schiller für ein Drama überließ und auf die Ausführung des eigenen Werks verzichtete. Sein Freundschaftsdienst wurde belohnt: Schiller schuf – kurz bevor er seiner Krankheit erlag – ein Meisterwerk. Die gegenseitige Hochachtung feuerte beide Autoren an. Am Anfang ihrer Freundschaft hatte Schiller gegenüber Goethe bekannt, „dass es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe“. Goethe griff in den „Wahlverwandtschaften“ den Ausspruch auf, und so finden wir Schiller indirekt und abgewandelt in Ottiliens Tagebuch zitiert: „Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe“. Der zweite Teil des Zitats bildet den Titel des hier besprochenen Buches. Wer die Freundschaftsbeziehung zwischen Schiller und Goethe über die bekannten Briefzeugnisse hinaus kennenlernen will, wird sich gerne der literarischen Spurensuche von Katharina Mommsen anschließen. Der klare, an Goethe geschulte Stil ihrer Prosa macht das Buch zu einem Lesevergnügen. Katharina Mommsen, Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen. Göttingen: Wallstein, 2010.
Dankwort anlässlich der Verleihung der Goethe-Medaille Goethe Institut (22.3.2004) Ehrungen haben Seltenheitswert, und das, was selten ist, schätzt man. Also freue ich mich über die Goethe-Medaille. Ich danke der Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach, für die Verleihungsfeier, ich danke Inge Schwerdtfeger, der Vorsitzenden des Komitees, das mit der Auswahl der Medaillisten betraut wurde, sowie allen Mitgliedern dieses Komitees, besonders den germanistischen Kollegen Heinrich Detering, Eberhard Lämmert und Conrad Wiedemann; ich danke Karin Wolff vom Goethe-Institut für ihre Fürsorge, und ich danke (nicht zuletzt) Franziska Augstein für die schöne Laudatio, dies umso mehr, als ich ihre publizistischen (und nun natürlich auch laudatorischen) Arbeiten sehr schätze. In Weimar nicht von Goethe zu sprechen fällt jedem schwer, mir auch. Heute will ich aber nichts tun, was mir schwerfällt, also spreche ich von Goethe. Goethe
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war schon immer da. Goethe war Trumpf, wenn wir als Kinder das Dichterquartett spielten. Auf der Volksschule lernten wir den Herbst von anderen Jahreszeiten zu unterscheiden mit Goethe-Zeilen wie „Bunt sind schon die Wälder / Gelb die Stoppelfelder“. In der Handelsschule lasen wir, wohl zur Stabilisierung bürgerlicher Moral, „Hermann und Dorothea“. Das war interessanter als Übungen in doppelter Buchführung. Zwanzig Jahre später habe ich einen germanistischen Aufsatz über „Hermann und Dorothea“ geschrieben: als Dank an Goethe, der mir half, die öden Phasen dieser Schulzeit zu ertragen, aber auch als Geschenk an meine Frau. Aus Anlass unseres zehnten Hochzeitstages schrieb ich über das Liebespaar Hermann und Dorothea. Keine Schullektüre waren „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Die las ich während meiner eigenen (kaufmännischen) Lehrjahre zur Erholung von der Tristesse nie enden wollender Bürostunden. Zu den Werken, die unser bescheidener Bücherschrank zu Hause aufwies, gehörte eine zwölfbändige neue Goethe-Ausgabe, die sich mein ältester Bruder, ein poetischer junger Mann, besorgt hatte. Mariane und Philine in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ waren für den Heranwachsenden noch keine Seminar- und Vorlesungsfiguren, sondern junge Frauen, die einen an Mädchen aus dem Bekanntenkreis erinnerten. Bei der Vorbereitung auf das Abitur im zweiten Bildungsweg war „Iphigenie auf Tauris“ Pflichtlektüre. Heute lese ich mit gemischten Gefühlen in dem alten Reclam-Heft meine unverschämt sarkastischen Randbemerkungen zum Edelmut der Iphigenie. Die ironische Distanz war groß. Da half es auch nicht, das Stück mit Bernhard Minetti als Thoas im Stadttheater zu sehen. Minettis eigenartigen Tonfall ahmten wir noch Tage hindurch mit großem Lacherfolg nach. Es hat lange gedauert, bis ich das Drama zu schätzen anfing. In Berlin, an der FU, begann im Herbst 1965 mein Germanistikstudium. Im ersten Semester besuchte ich Wilhelm Emrichs Goethe-Vorlesung. Emrich hatte es unternommen, die Symbolik von „Faust II“ zu enträtseln, Grund genug, auf seine Ausführungen neugierig zu sein. Am interessantesten waren die Vorlesungsstunden über „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Wenn Wilhelm Emrich über Wilhelm Meister sprach, war bald nicht mehr auszumachen, um welchen Wilhelm es dabei ging. Ansteckend war diese identifizierende Lektüre schon nicht mehr. Wir übten den kritischen Blick, indem wir Philosophen der Frankfurter Schule lasen. Es rumorte bereits im universitären Untergrund, und bald war die schöne Zeit des nicht-„relevanten“ Lesens vorbei. Emrich verdankte ich den Hinweis auf Hermann Broch, mit dem er 1950 einmal korrespondiert hatte. Broch, der jüdische Emigrant, der vor den Nazis von Wien nach New York geflohen war, wurde für mich so etwas wie der Goethe des 20. Jahrhunderts. Er war vergleichbar umfassend gebildet, und wie Goethe hatte er Erfahrungen im Alltag von Verwaltung und Diplomatie gewonnen. Mit der Trilogie „Die Schlafwandler“ und dem Roman „Der Tod des Vergil“ sind ihm Werke geglückt, die wohl die Zeiten überdauern werden. Hermann Broch war – wie
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sollte es anders sein – ein Kenner und Verehrer Goethes. Wie schön, dass Brochs Werk vom Suhrkamp Verlag betreut wird. Ein anderes Forschungsgebiet von mir ist seit langem – Frau Augstein erwähnte es – das Thema „Die Schriftsteller und Europa“. Kürzlich schrieb ich einen Aufsatz „Goethe und Europa – Europa und Goethe“. Dabei stellte ich fest, dass Joseph Goebbels 1936 einen Erlass herausgegeben hatte, mit dem verboten wurde, im sogenannten „Dritten Reich“ vom „Europäer Goethe“ zu sprechen. Die aktuelle Kulturtheorie dagegen knüpft an Goethes Ideen zur europäischen und zur Weltliteratur an. Der Kosmopolit Goethe hat einmal gesagt: „Wo ich mich bilde, da ist mein Vaterland.“ Das ist mein Goethesches Lieblingszitat. Wenn man es ernst nimmt, relativiert sich auch das Goethe-Wort „Amerika, du hast es besser“. Damit wir es in Amerika besser haben, lade ich jedes Jahr Goethe-Nachfolger, also Schriftsteller und Kritiker, ein, an der Washington University zu unterrichten: Weimar am Mississippi? Der Verwirklichung einer solchen Utopie waren wir nahegekommen, als unser Max-Kade-Zentrum für Gegenwartsliteratur in den achtziger und neunziger Jahren mit dem Goethe-Institut St. Louis zusammenarbeiten konnte. Die gemeinsamen Initiativen mit seinen beiden Direktoren Otto Steinmetz und Manfred von Hoesslin gehören zu den besten Erlebnissen in unserem imaginären Weimar am Mississippi. Leider wurde das schöne wie effiziente Goethe-In stitut St. Louis wieder aufgelöst: Sparmaßnahmen des Auswärtigen Amtes. Jedes Goethe-Institut, das geschlossen wird, bedeutet für die Deutschen, Freunde im Ausland zu verlieren. Jede Stadt, die ein Goethe-Institut beherbergt, kann sich glücklich schätzen, jede Stadt, die ein Goethe-Institut verliert, wirkt um merkliche Schattierungen grauer. Es ist ein Dankwort: Der Dank gilt meinen Eltern und Geschwistern, meiner Frau, meinen Lehrern, meinen Freunden und Schülern, meinen Kollegen und Kolleginnen. Danken möchte ich auch meinen Verlegern und Verlegerinnen in Deutschland und den USA, den Stiftungen, die unsere Arbeiten unterstützen, und den Leitern von Goethe-Instituten auf allen Kontinenten, mit denen ich im Lauf der Jahrzehnte habe kooperieren können. Schließlich nochmals Dank an den verehrten Namensgeber von Institut und Medaille, an Goethe, der immer schon da war.
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„Lakonisch, imperativ, prägnant“: Siegfried Unseld über Goethe und Cotta DIE ZEIT (10.4.1992) „Ein Mann wie Goethe, der in Jahrhunderten kaum einmal lebt, ist eine zu kostbare Akquisition, als daß man ihn nicht, um welchen Preis es auch sey, erkaufen sollte.“ Wer hier so angelegentlich den Markenartikel „Goethe“ seinem schwäbischen Landsmann, Freund und Verleger Johann Friedrich Cotta aus Tübingen anpries, wer hier den Kurswert des Weimarer Kollegen und Mitstreiters an der Buchhandelsbörse in die Höhe zu treiben suchte, war der in geistigen Belangen idealistisch argumentierende, in literaturpolitischen Dingen jedoch kühl berechnende Dichter Friedrich Schiller. Die Schläge, die er auf seiner Werbetrommel rührte, verhallten nicht ungehört: Der junge Verleger lauschte ihnen wie verzaubert, wünschte er sich doch nichts sehnlicher als die Reichtum und Ruhm verheißende „Akquisition“ des Autors von „Werthers Leiden“. Mit Namen wie Schiller und Goethe im Programm, so kalkulierte Cotta richtig, wären auch andere Größen aus Literatur und Philosophie für den Verlag zu gewinnen. Die Rechnung ging auf: Schiller leistete vorzügliche Vermittlerdienste, Goethe ließ sich – nach angemessener Hofierung durch den Verleger – auf den Kontrakt einer Werkausgabe ein, und Cotta wurde im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts der bedeutendste und wohlhabendste literarische Verleger im deutschen Sprachgebiet. Seine steile Karriere verlief parallel zu der Napoleons, und seine Zeitgenossen nannten ihn in einer Mischung aus Neid, Kritik und Anerkennung den „Napoleon des Buches“. Passender wäre wohl der Vergleich mit Metternich gewesen, denn auf so selbstmörderische und größenwahnsinnige Abenteuer wie der Korse ließ sich der vorsichtige Schwabe nicht ein. Wie der österreichische Erzkanzler war Cotta ein großer Diplomat, ein Mann mit dem Blick für das Opportune und einem guten Gespür für möglichst risikofreien Machtzuwachs. Anders als im Fall Napoleons fiel Cottas Erfolgskurve 1814/15 nicht steil ab, vielmehr erklomm sie in der Restaurationszeit neue Höhen. Cotta verdiente mit seinen Büchern, Journalen und Almanachen so viel Geld, dass er einen Mischkonzern mit Papierfabriken und Druckereien, mit Großgrundbesitz und Beteiligungen an zahlreichen Firmen unterschiedlicher Branchen (inklusive Ballon- und Dampfschifffahrt) aufbauen konnte. Zudem war Cotta ein aktiver Abgeordneter des Württembergischen Landtags, in dem er 1819 zum Vizepräsidenten der Zweiten Kammer gewählt wurde. Die Nobilitierung blieb nicht aus. Wenn er es auch keineswegs wie seine Zeitgenossen Napoleon oder Metternich bis zum Imperator bzw. Fürsten brachte, so durfte er seinen Briefkopf während der Metternich-Ära mit dem (erblichen) Titel eines Freiherren Cotta von Cottendorf schmücken.
Siegfried Unseld über Goethe und Cotta
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Lebten wir noch im frühen 19. Jahrhundert, hieße der Chef des Suhrkamp Verlages längst Freiherr Unseld von Unseldsdorf. Im demokratischen Zeitalter hat er sich, was die Anerkennung von offiziell-staatlicher Seite betrifft, mit dem (nichterblichen) Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland begnügen müssen. Die Motivation am Buch über Goethe und seine Verleger hatte sicher nicht nur mit der Verehrung für die klassische deutsche Dichtung, sondern auch mit der Affinität zu Cotta, mit der Bewunderung für dessen Lebenswerk zu tun. Nicht, dass er seinem berühmten Kollegen und Vorbild völlig unkritisch gegenüber stünde: die politischen Ambitionen Cottas sieht Unseld als dem Verlegergeschäft abträglich an, und von den Ausflügen in branchenfremde kommerzielle Bereiche hält er nicht viel. Das ist freilich vom Standpunkt unserer Zeit aus geurteilt, in der Arbeitsteilung, Spezialisierung und Ausdifferenzierung das Bild jeder Profession bestimmen. So wie Goethes „Lebenskunstwerk“ fachliche Einseitigkeiten ausschloss und Dichtung, Theaterleitung, ministeriale Arbeit und naturwissenschaftliche Studien umfasste, so verstand auch Cotta sich in einem weiten Sinne als Unternehmer, bei dem der ererbte Verlag zwar im Mittelpunkt seines Interesses stand, der es aber als Einschränkung empfunden hätte, nichts als Buchgeschäfte machen zu dürfen. Alles in allem nützten seine politischen Aktivitäten und die verstreuten Investitionen seinem Verlag sicher mehr, als sie ihm schadeten. Ansonsten macht Unseld aus seinem Respekt vor dem schwäbischen Landsmann Cotta keinen Hehl. Suhrkamp wird oft als Verlag der „Klassiker der Moderne“ bezeichnet, und wenn Unseld seinem Kollegen das Kompliment macht, „der Verleger der ,Klassiker der Moderne‘ jener Jahre“ gewesen zu sein, deutet er die Nähe an, die er zum „Napoleon des Buches“ empfindet. Sie wird auch spürbar, wenn es mit dem Ausdruck wahlverwandschaftlicher Sympathie heißt: „Cotta haftete von Jugend etwas Entscheidungsfreudiges, etwas Bestimmtes, etwas Offizierhaftes an“; wenn er charakterisiert wird als „genauer Rechner und Kalkulator“, als „fleißig, betriebsam, dynamisch“. „Er liebte beides“, schreibt Unseld anerkennend, „Geist und Geld, er liebte die Ware Buch in ihrer Doppelheit: vom Autor als geistiges Produkt entworfen, vom Verleger […] in Ware verwandelt und in die Hand des Lesers wieder zurückverwandelt in geistiges Gut.“ Als Positivum wird verbucht, dass Cotta „faire Honorare“ zahlte und damit angemessen reagierte auf das „Ende der Bescheidenheit“, das an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzte, als die Schriftsteller nicht nur frei sein, sondern für ihre Arbeiten auch gut bezahlt werden wollten. Cotta war Goethes wichtigster Verleger: Er edierte nach zwei Goethe-Gesamtausgaben die „Ausgabe letzter Hand“, und er leitete die Edition „Goethe’s Nachgelaßene Werke“ ein, wovon er das Erscheinen der ersten Bandes noch erlebte. Goethe und Cotta starben im gleichen Jahr 1832. Ihre mehr als drei Jahrzehnte währende Zusammenarbeit ist für die Rezeption der deutschen Klassik und für
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die Geschichte des deutschen Buchhandels von zentraler Bedeutung, und sie wird von Unseld – der sich hier auf die solide Edition des Goethe-Cotta-Briefwechsels von Dorothea Kühn stützen konnte – eingängig, ja packend beschrieben. Trotz zahlreicher Verstimmungen, trotz (oder auch wegen) Goethes grundsätzlicher Vorsicht, Reserve, ja Abneigung gegenüber Verlegern, blieb es bei der produktiven Zusammenarbeit. „Die Buchhändler sind alle des Teufels“, äußerte der alte Goethe einmal gegenüber dem befreundeten Kanzler von Müller. Ihre schwerste Probe musste die Kooperation zwischen Verleger und Autor bestehen, als Goethe den Plan seiner „Ausgabe letzter Hand“ verwirklichte. Wie auf einer Versteigerung bot er die Edition dem meistbietenden Verlag an. Cotta musste sich auf einen für beide Partner unwürdigen Nervenkrieg einlassen. Goethe umschrieb seine Prämissen als Geschäftsmann 1825 so: „Geschäfte müssen abstract, nicht menschlich mit Neigung oder Abneigung […] behandelt werden. […] Laconisch, imperativ, prägnant.“ Mit der Bemerkung, dass „man immer wieder von Goethe lernen“ könne, kommentiert Unseld dieses Zitat. „Lakonisch, imperativ, prägnant“ ist das häufig zitierte Leitmotiv in Unselds Monographie: diese Goethesche Maxime hat er zu seiner eigenen gemacht. Schließlich gewann Cotta das Rennen im Wettstreit um die „Ausgabe letzter Hand“, aber er, der mit allen Wassern gewaschen war, hatte größte Mühe, eigene Vorstellungen zumindest partiell gegenüber den alles andere als bescheidenen Forderungen Goethes durchsetzen zu können. Wie fast immer bediente Goethe sich bei Verlagsverhandlungen eines Mittelsmannes. In solcher Rolle bewährte sich diesmal der mit Goethe befreundete Kölner Kunstsammler Sulpiz Boisserée. Von den ersten Publikationsversuchen Goethes bis zur „Ausgabe letzter Hand“ war es ein langer Weg. Am Anfang stand die Absage. Für sein Frühwerk „Die Mitschuldigen“ suchte der junge Autor 1769 vergebens einen Verleger. Weniger glänzend als der schließliche Erfolg des „Götz“ war dessen Erstveröffentlichung: das Drama erschien 1773 in ein paar hundert Exemplaren im Selbstverlag. Mit Sammeleditionen von Goethes Werken war zu dessen Lebzeiten das große Geld nicht zu machen. Das musste Göschen schmerzlich erfahren, der die erste Gesamtausgabe veröffentlichte. Mehr Glück hatten die Verleger mit ein paar Einzelpublikationen: Weygand mit dem „Werther“ (einem der größten Erfolge der Buchhandelsgeschichte), Unger mit dem „Wilhelm Meister“ und Vieweg mit „Hermann und Dorothea“. Die erste Gesamtausgabe bei Göschen dagegen war ein ausgesprochener Reinfall: Nur 692 Subskribenten fanden sich dafür. Selbstverständlich lastete der selbstbewusste Dichter das Fiasko dem Verleger an, und so brauchte es für den Wechsel zu Cotta nur des Anstoßes und der Vermittlung Schillers. Unselds Studie ist eine biografische Arbeit im doppelten Sinne. Zum einen wird jener Abschnitt des Goetheschen „Lebenskunstwerks“ deutlich, der mit
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dem Bereich seiner Veröffentlichungspolitik zu tun hat; und zum anderen wird hier die Erfahrung des eigenen Verlegerlebens reflektiert. Es fiele nicht schwer, aus dieser umfangreichen Abhandlung eine Fülle von Zitaten zu exzerpieren, die man unter dem Titel „Komplex-beladene Autor-Verleger-Beziehungen“ als eigenständigen Essay veröffentlichen könnte. Unseld stimmt Eissler zu, wenn der die Genialität eines Schriftstellers wie Goethe „als eine besondere Art der Psychopathologie“ ansieht und bemerkt: „Das deckt sich mit meiner heutigen Erfahrung als Verleger.“ Wie Cotta hatte auch Unseld Schwierigkeiten mit hauseigenen literarischen Zeitschriften. Erwähnt wird Enzensbergers „Kursbuch“, dessen Konzeption von zu vielen Autoren des Verlags nicht befürwortet worden sei. Das Buch hält mehr als sein Titel verspricht: Es ist nicht nur die lesbarste, vollständigste und dichteste Darstellung zum Thema „Goethe und seine Verleger“; es enthält auch eine Vielzahl von Exkursen zu Goethes Biografie und zur Geschichte des Verlagswesens. Relativ ausführlich etwa werden Goethes Verhältnisse zu Frau von Stein und Christiane Vulpius rekapituliert, die Freundschaft Goethes zu Schiller in Erinnerung gebracht, über Goethes Begegnung mit Napoleon nachgedacht, die Beziehung zum Sohn August verdeutlicht und der Mitarbeiterstab des alten Goethe (Riemer, Eckermann etc.) vorgestellt. Aufschlussreich sind die Einblicke, die in die Geschichte der Raub- und Nachdrucke gewährt werden, und den Literaturwissenschaftler gehen die praxisorientierten Bemerkungen zur Konzeption von Goethe-Ausgaben an (in Unselds Deutschem Klassiker Verlag erscheint eine wichtige Ausgabe; in den USA publizierte er eine neue englischsprachige Goethe-Edition, die zwölf Bände umfasst). Vor sieben Jahren hielt Siegfried Unseld erstmals während eines Goethe-Symposiums an der Washington University in St. Louis den Vortrag „Goethe und seine Verleger“, den er ein Jahr später anlässlich seiner Ehrenpromotion an der nach Goethe benannten Universität in Frankfurt am Main wiederholte. Seitdem hat sich dieser essayistische Keimling zu einem weit ausladenden Baum mit starkem Geäst und dichtem Blattwerk entfaltet. Vielleicht hat bei der Arbeit an diesem Buch auch inspirierend gewirkt, dass Anton Kippenberg, Unselds bedeutendster Vorgänger als Chef des Insel-Verlags, Goetheforscher und Sammler von Goetheana war. Kippenberg machte, wie Unseld schreibt, „Goethes Begriff der ,Weltliteratur‘ zum Inhalt seines Verlagsprogramms“. So gesehen lag es für Unseld, der in Kategorien historischer Kontinuität denkt, nahe, seine Publikationen mit einem Goethe-Buch im eigenen Insel-Verlag zu krönen. Der Deutsche Gelehrtenkalender ist nach einem Kürschner benannt, und so glauben zu viele der dort aufgeführten Zunftgenossen, sie müssten ihre Traktate in lederner Sprache abfassen. Der schon von Madame de Staël an deutschen Wissenschaftlern gerügte dunkel-schwerfällige Stil ist Unselds Sache nicht. Das
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anschaulich geschriebene Buch ist allen zu empfehlen, die sich für neue Literatur zu Goethe und für deutsche Verlagsgeschichte interessieren. Siegfried Unseld, Goethe und seine Verleger. Frankfurt am Main: Insel, 1991.
Das europäische Gleichgewicht als Thema in Schillers Dramen Euro Journal 6.2–3 (2005) Schiller hat – im Gegensatz zu den eine Generation jüngeren Romantikern – keinen Essay veröffentlicht, der bereits im Titel auf ,Europa‘ verweist. Aber vor Novalis und Chateaubriand, vor Coleridge und Görres, vor Wordsworth und Hugo hat er in seinen Schriften jene Probleme behandelt, die seit der Romantik im Mittelpunkt des Europadiskurses stehen: die Frage nach der Bedeutung von Freiheit innerhalb der europäischen Identität und das Problem der kontinentalen Friedensordnung. Stein des Anstoßes bei den Romantikern war das Phänomen Napoleon. Der erste Konsul und spätere Kaiser bedeutete für die schriftstellerische Intelligenz Europas eine doppelte Herausforderung: Unter Napoleon wurde alles Französische zur ,Leitkultur‘ und Paris zur ,Kulturhauptstadt‘ des Kontinents, ja sogar der Welt erklärt. Die Unifikation Europas sollte nach dem Willen Napoleons auf dem Weg des Eroberungskrieges und durch französische Vorherrschaft herbeigeführt werden. Die Romantiker protestierten im Namen nationaler Eigenständigkeit gegen die Machtanmaßung eines Einzelstaates. Dabei wurden nicht wenige ehemals kosmopolitische Autoren zu Nationalisten. Schiller erlag dieser Gefahr nicht. Er entwickelte kosmopolitische Friedensvorstellungen und Ideen des 18. Jahrhunderts; er setzte sie zur Zeit der französischen Revolution fort und hielt an ihnen auch während der frühen Phase der Napoleonischen Ära fest. Schiller hat sich mehrfach zur spezifischen Gemengelage europäischer Kultur geäußert. Er versteht sie als offene, sich wandelnde Zivilisation, in die unterschiedliche, ja gegensätzliche Elemente eingegangen sind, die sich dann zu einer komplexen Einheit verbinden, zu einer Einheit, die dialogisch, d.h. widersprüchlich bleibt. Da sind in historischer Abfolge das doppelte antike Erbe und die doppelte Religion zu nennen. Die doppelte Antike ist jene von Hellas und Rom, wobei diese beiden Kulturen wiederum zwei Gesichter tragen. Hellas bedeutete sowohl Sparta wie Athen, d.h. – vereinfacht gesagt – Diktatur zum einen und Demokratie zum anderen. Athens Philosophie kannte mit Platon und Aristoteles wiederum zwei Hauptrichtungen: eine tendenziell transzendente und eine tendenziell immanente. Auch Rom steuerte Widersprüchliches zum europäischen Kulturgemisch bei. Da gab es einerseits die republikanische Geschichte Roms,
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andererseits die cäsaristische Tradition. Das römische Recht, das in die Erbmasse des Abendlands einging, wurde durch beide politische Richtungen geprägt. Mit dem Christentum verbreitete sich eine doppelte Religion im Abendland, versinnbildlicht in ihren beiden Testamenten: mit dem Mosaischen Gesetz im Alten und der christlichen Lehre von der Nächstenliebe im Neuen Testament. Schiller wertete die unterschiedlichen Bestandteile der unio multiplex europäischer Kultur durchaus kritisch. Er ist keineswegs der Meinung, dass man alles Überkommene gutheißen müsse. Diejenigen kulturellen Traditionen will er beerbt sehen, die dem Einzelnen ein Maximum an Freiheit und an Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb politischer Gemeinwesen garantieren. In dem frühen Aufsatz „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ vergleicht er die Verfassungen von Sparta und Athen. Dabei wird klar, welche Kulturtendenzen der Antike er schätzt und welche er verwirft. Schiller geht es hier um die Alternative zwischen spartanischer „Tyrannei“ und athenischer „Demokratie“. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, welche dieser beiden Regierungsformen er für zukunftsträchtig hält. In Sparta, so bedauert er, habe die erzwungene „gleiche Lebensweise“ für alle sowohl der Kunst wie dem Handel den Garaus macht. Die Folge sei eine „tiefe Unwissenheit in Kunst und Wissenschaft“ gewesen. Lykurgs Konstitution für Sparta sei „im höchsten Grade verwerflich“, weil sie „gegen den Zweck der Menschheit“ gerichtet sei. Dieser Menschheitszweck, so weiß der aufgeklärte Pädagoge und Rousseau-Leser Schiller, sei die „Ausbildung aller Kräfte des Menschen“, und „die Fortschreitung des Geistes“ mache das Zentrum der Bildung aus. Zudem habe die spartanische Egalität zur Abschaffung der Familie geführt. Die Zerstörung der „ehelichen Liebe“ und der „Mutterliebe“ brandmarkt Schiller als „Attentat gegen die Menschheit“. Ferner findet er die „Sklaverei“ in Sparta „barbarisch“: durch sie sei „die Menschheit“ auf eine „empörende Art […] verspottet“ worden. Jene „Constitution“ hingegen, die Solon den Athenern gegeben habe, sei aus dem „Geist der Democratie“ und der „Freiheit“ geschaffen worden; sie sei einer „Republik“ würdig gewesen. Während Lykurgus den Spartanern die Entwicklungsmöglichkeiten „vermauerte“, habe Solon „dem Genie und den Fleiß“ der Athener „alle möglichen Bahnen“ aufgeschlossen. Was auffällt, ist der differenzierende und wertende Blick auf die verfassungsmäßigen Grundlagen der griechischen Antike. Er hilft Schiller, auch die rechtlichen und politischen Gegebenheiten seiner eigenen Zeit zu beurteilen. „Fiesco“, „Don Karlos“ und „Wilhelm Tell“ sind Zeitdramen, in denen im historischen Gewand Tyrannei und Widerstand, politische Freiheit und Absolutismus thematisiert werden. Hier bildet die frühe Verfassungsdiskussion die Folie für das Pro und Kontra der verhandelten Positionen. Überholt sind diese grundsätzlichen Anmerkungen zu den beiden konträren Konstitutionen im alten Hellas bis heute nicht. Sie helfen auch bei der Scheidung der Geister, wenn es um das Urteil über die jüngere
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Geschichte des Kontinents geht. Die faschistischen Regierungen – und vor allem die nationalsozialistische – schlossen bewusst an spartanisch-diktatorische Vorstellungen an und verachteten die athenisch-demokratische Verfassung. Wann immer Schiller in seinem Werk positiv auf die griechische Antike zu sprechen kommt, ist die athenische Kultur gemeint. So auch im Gedicht „Die Götter Griechenlands“, das er 1788 publizierte. Im Sinne der Winckelmannschen Klassikvorstellungen wird Athen idealisiert als positive Gegenwelt zu den unfreieren, kulturell dürftigeren Verhältnissen im christlichen Europa. Athen biete das Bild einer utopisch „schönen Welt“, die sich „an der Freude leichtem Gängelband“ entfaltet. Die „Freude“ – so wissen wir aus seiner bekannten Ode – ist es, die nach Schillers Anthropologie „die Räder in der großen Weltenuhr“ treibt. Himmlisches und Menschliches, Literatur und Philosophie stehen, so sieht es Schiller, in der athenischen Welt noch in einem sich gegenseitig ergänzenden Austauschverhältnis. Mit dem Gott der Christen, der Olympier entthront, schwinden „alle Farben“ und „alles Schöne“ aus dem Abendland; „finstrer Ernst und trauriges Entsagen“ halten ihren Einzug. Schiller stimmt ein in den „Kehre wieder“-Ruf der Klassik-Nostalgiker seiner Generation. Er hat jedoch später in dem Gedicht „Die vier Weltalter“ eine Korrektur an der Botschaft der „Götter Griechenlands“ vorgenommen. Im Weltalter-Gedicht wird das Christentum nicht antipodisch zur Antike gesehen, sondern als eine Ära, die kulturell ein vergleichbares Gewicht hat und (zumindest partiell) athenische Vorzüge beerbt und fortsetzt. Die Antike wird jetzt als „frohe Jugendwelt“ abendländischer Kultur verstanden. Bezeichnend für diese seien „üppiger Reiz“ und „flüchtige Lust“ gewesen, die mit der Adoleszenz vergangen seien. Das Mittelalter versteht Schiller hier als Erwachsenwerden europäischer Zivilisation. Wenn es auch (im Vergleich zu Hellas) „finster und wild“ gewesen sei, habe es doch aus der Antike die Verehrung für „Liebe“ und „Lied“, für „Minne“ und „Gesang“, also für Eros und Dichtung übernommen und tradiert. Dadurch habe sich der „Jugendschein“ der Antike bis in die Gegenwart Europas erhalten. Das Christentum ist auch nach Schiller ohne das Judentum, aus dem es hervorging, nicht denkbar. In dem Essay „Die Sendung des Moses“ charakterisiert er die Juden mit ihrer „Lehre von dem Einigen Gott“ als „universalhistorisches Volk“ und führt dazu aus: „Zwey Religionen, welche den größten Theil der bewohnten Erde beherrschen, das Christenthum und der Islamismus, stützen sich beide auf die Religion der Hebräer, und ohne diese würde es niemals weder ein Christen thum noch einen Koran gegeben haben.“ Der jüdischen Gottesauffassung verdanke das Abendland „einen großen Theil der Aufklärung“: das sei „unwiderleglich wahr“. Schiller denkt nicht nur über die Eigenart europäischer Kultur und Identität nach. Er untersucht auch als Politologe avant la lettre, wie große kontinentale
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Kriege der Vergangenheit zustande kamen und wie vergleichbare Konflikte in der Zukunft zu vermeiden wären. Als politischer Analytiker ist er besonders an der Funktion des europäischen Gleichgewichts als Friedensfaktor interessiert. Das zeigen seine Dramen, und das zeigt seine Vorlesung über die „Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs“ von 1790. Dort widmet er der Mächtebalance seine besondere Aufmerksamkeit. Diese Vorlesung ist die erste deutsche Friedensschrift der 1790er Jahre: Kant („Zum ewigen Frieden“; 1795), Friedrich Schlegel („Versuch über den Begriff des Republikanismus“; 1796), Fichte („Zum ewigen Frieden“; 1796), Görres („Der allgemeine Friede, ein Ideal“; 1798) und Novalis („Die Christenheit oder Europa“; 1799): Das alles waren Traktate über den Frieden, doch sind sie im Gegensatz zu Schillers Vorlesung nicht historisch fundiert, sondern postulativ-philosophisch bzw. mythisch oder zeitkritisch ausgerichtet. Im 15. Jahrhundert hatte das Denken der großen Dynastien in Kategorien des Gleichgewichts bereits begonnen. Die Missachtung des Equilibriums der Mächte zog notwendigerweise Kriege nach sich. Schiller hat die staatsphilosophische Denkfigur der Machtbalance der Länder Europas keineswegs erfunden, aber er ist einer der wenigen Schriftsteller, die ihr mit Leidenschaft anhängen; er wird nicht müde, sich in ihre komplizierte Arithmetik hineinzudenken. Dabei entdeckt er bestimmte europäische Grundkonflikte, die im Lauf von Jahrhunderten immer wieder aufbrechen, und zu deren Befriedung es der Allianzen mehrerer Länder bedarf. Man kann die Grenzen zwischen den europäischen Staaten mit jenen Trennlinien vergleichen, an denen auf dem Globus die Erdplatten aneinanderstoßen: dort sind Erdbeben zu gewärtigen. Die Dramen Schillers spielen in verschiedenen europäischen Ländern: „Die Räuber“, „Kabale und Liebe“ und „Wallenstein“ in Deutschland, „Fiesco“ in Italien, „Don Karlos“ in Spanien, „Maria Stuart“ in England, „Die Jungfrau von Orleans“ in Frankreich, „Die Braut von Messina“ in Sizilien, „Wilhelm Tell“ in der Schweiz und „Demetrius“ in Polen und Russland. In Schillers europäischer Dramaturgie, wenn man sie so nennen will, lebt die Spannung der Stücke davon, dass der Autor die Zusammenstöße der Protagonistinnen und Protagonisten verstärkt durch die Einbeziehung der kontinentalen Grundkonflikte. Schiller benennt drei Grundkonflikte zwischen europäischen Großmächten, die mit der Erhaltung der Mächtebalance in direktem Zusammenhang stehen: erstens den Konflikt zwischen England und Frankreich („Die Jungfrau von Orleans“; „Maria Stuart“), zweitens den zwischen England und Spanien („Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande“; „Don Karlos“) und drittens den zwischen Frankreich und Deutschland („Geschichte des Dreissigjährigen Kriegs“; „Wallenstein“). Derjenige Monarch, der sich vorgenommen habe, das „Gleichgewicht der Macht“ in Europa gegen „das Habsburgische Geschlecht zu bewachen“, sei Henri IV. gewesen, der erste Bourbone auf dem französischen Thron. Henri IV.
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aber fiel – gerade als er auf dem Weg war, den Krieg gegen die Habsburger zu beginnen – 1610 einem Attentat zum Opfer. Richelieu und Mazarin, so zeigt Schiller, setzten die intendierte Politik Henri IV. während des Dreißigjährigen Krieges faktisch fort. Wallensteins Fehler besteht nach Schiller darin, dass er mit seiner Machtbesessenheit blind wird für das Gleichgewicht als erster Maxime europäischer Politik. Ausgerechnet als Generalissimus des Kaisers glaubt er, den Grundkonflikt zwischen Bourbonen und Habsburgern ignorieren zu können. Er beginnt, mit den Schweden zu paktieren, mit einem Feind, dessen Aktionen ohne die Rückendeckung durch Frankreich nicht denkbar sind. In Schillers Werk ist die Frage nach der Sicherung des europäischen Friedens zentral. Während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Herrschaft sieht er jenen Frieden gefährdet, den er bis dahin für dauerhaft gehalten hat. Gemeint ist der epochale Vertrag, der 1648 nach dem Dreißigjährigen Krieg abgeschlossen wurde. „Was für ein Riesenwerk es war, diesen, unter dem Namen des Westphälischen berühmten, unverletzlichen und heiligen Frieden zu schließen“, schreibt Schiller bewundernd am Ende seiner „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. Schiller feiert diesen Vertrag als „das interessanteste und charaktervollste Werk der menschlichen Weisheit und Leidenschaft“. Dieses Dokument war das Ergebnis der Verhandlungen von Politikern, die in den Kategorien des Gleichgewichts der europäischen Großmächte dachten. Aber dieser Friede wurde hundertfünfzig Jahre später, zu Schillers Zeit, durch die Französische Revolution und die Erfolge ihres Generals Bonaparte in Frage gestellt. Frieden und Freiheit sind die zentralen Themen in Schillers Werk. Wenn es um Freiheit geht, denkt er die Entwicklung der europäischen Identität mit ihrem athenischen sowie christlich-jüdischen Erbe mit, und wenn er den Frieden Europas thematisiert, erweist er sich als Kenner der europäischen politischen Faktizität: Er weiß um die Grundkonflikte und um das Gesetz des Equilibriums der Mächte, eine Regel, die theoretisch einleuchtet, deren praktische Handhabung aber nur den begabtesten und weitsichtigsten Politikern gegeben ist. Die Freiheit als Mittelpunkt der europäischen Identität zu verstehen sowie den Frieden als europäische Anstrengung zu begreifen: das sind die Aufgaben, die sich auch heute in Europa stellen. Im Zeitalter der Globalisierung ist das Thema des politischen Gleichgewichts und der politischen Freiheit aktueller denn je. Nur geht es nicht mehr primär um das innere europäische Gleichgewicht, sondern um das Equilibrium der Weltmächte. Vieles, was Schiller über das europäische Gleichgewicht schrieb, gilt heute analog für die Weltsituation.
Der muntere Eichendorff
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„Hüte Dich, bleib wach und munter!“ Zum 150. Todestag Eichendorffs Die Welt/Literarische Welt (24.11.2007) Weltfremd war er nicht. Eichendorff hatte die Hand am Puls der Zeit, als er seine Erzählungen und Romane reichlich mit lyrischen Einlagen ausstattete. Sein Nachruhm basiert vor allem auf den vertonten Gedichten, die als romantische Lieder weltbekannt wurden. Wie es dazu kam? Ende 1808 hatte Carl Friedrich Zelter, Direktor der Sing-Akademie zu Berlin, die erste Liedertafel begründet, und der Erfolg stellte sich rasch ein. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte organisierten sich Liedertafeln, -kreise und -kränze überall in den deutschsprachigen Ländern, denn das Chorsingen wurde zur populärsten Freizeitbeschäftigung. Bei solcher Sangesfreude nahm der Bedarf an vertonbarer Lyrik schnell zu, und bald war der beachtliche Vorrat an Goethe-Versen und an Poesie aus Arnim/Brentanos „Des Knaben Wunderhorn“ erschöpft. Auf Eichendorffs Gedichte und auf die von Heinrich Heine und Eduard Mörike griffen in der Folge die angesehensten Lieder-Komponisten zurück. Der Kritiker August Kahlert urteilte 1835 über Eichendorff: „Seine Lieder atmen Musik; sie sehnen sich danach, und die Tonsetzer können kaum glücklichere Texte finden, als jene Schriften darbieten.“ Der Vorsitzende der Tübinger Akademischen Liedertafel, Friedrich Silcher, setzte einiges von Eichendorff in Musik, etwa „Das zerbrochene Ringlein“ mit den legendären Anfangszeilen „In einem kühlen Grunde/ Da geht ein Mühlenrad,/ Mein Liebste ist verschwunden,/ Die dort gewohnet hat“. Nachdem Eichendorff 1837 seine Gedichte in einem Band publiziert hatte, wurden die anderen Tonsetzer durch Robert Schumann, den neuen Fixstern am Himmel der Liedkomposition, überstrahlt. Schumann, der bisher der Vokalmusik nur wenig Geschmack abgewonnen hatte, passte sich ebenfalls der Mode an. Im Mai 1840 schuf er den Liederkreis Op. 39, bei dem es sich um die Vertonung von zwölf Eichendorff-Gedichten handelt. Es war eine Art Urszene des deutschen Liedes, als Schumann im Frühjahr 1840 mit seiner Verlobten Clara Wieck und dem befreundeten Lehrer Felix Mendelssohn-Bartholdy in Berlin zusammenkam: Mendelssohn-Bartholdy selbst sang die Lieder des Freundes und Clara Wieck begleitete ihn am Klavier. Nicht nur Schumann, auch Mendelssohn-Bartholdy, Johannes Brahms, Hans Pfitzner, Hugo Wolf, Richard Strauss, Bruno Walter, Othmar Schoeck und andere haben sich durch Eichendorff zu Liedkompositionen inspirieren lassen. Die Männergesangvereine sind auch nicht mehr, was sie einmal waren, d.h. sie haben Nachwuchsschwierigkeiten. Immerhin: die gemischten Chöre können darüber nicht klagen, und so wird Eichendorff nach wie vor gesungen. Zur Popu-
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larität von Dichter und Komponist hat im Zeitalter der Schallplatten und CDs beigetragen, dass die gefeiertsten Stimmen Eichendorfflieder in ihrem Repertoire haben. „Mondnacht“ war beim Lesepublikum schon immer ein Favorit unter den Gedichten Eichendorffs, und gerade in diesem Fall ist Schumann eine der wunderbarsten Synthesen von Lyrik und Musik gelungen. Die erste Strophe entwirft ein kosmisches Zauberbild: „Es war, als hätt der Himmel/ Die Erde still geküßt,/ Daß sie im Blütenschimmer/ Von ihm nun träumen müßt.“ Und am Schluss entspricht der naturhaften Entgrenzung die psychische Öffnung des Ich: „Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus,/ Flog durch die stillen Lande,/ Als flöge sie nach Haus.“ Schumann wusste, dass Eichendorff alles andere als eine „Singvogelnatur“ war. Mit diesem Etikett überklebte Theodor Mundt im 19. Jahrhundert die Dissonanzen und Widersprüche im Werk des Autors. In seinen Zyklus nahm der Komponist auch das Gedicht „Zwielicht“ auf, in dem es um alles andere als um Harmonisches geht. Wieder beginnt Eichendorff mit einem Naturbild. das jetzt aber bedrohlich wirkt: „Dämmrung will die Flügel spreiten,/ Schaurig rühren sich die Bäume,/ Wolken ziehn wie schwere Träume –/ Was will dieses Graun bedeuten?“ Die dritte Strophe kommt manchem befremdlich vor, ist aber für die Komplexität des Dichters bezeichnend: „Hast du einen Freund hienieden,/ Trau ihm nicht zu dieser Stunde,/ Freundlich wohl mit Aug und Munde,/ Sinnt er Krieg im tückschen Frieden.“ Und das Ganze endet mit der Warnung: „Hüte dich, bleib wach und munter!“ Adorno meinte vor fünfzig Jahren im Vortrag „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ – und er bezog sich dabei auch auf „Zwielicht“ –, der Autor sei „kein Dichter der Heimat sondern der des Heimwehs, im Sinne des Novalis“. Als Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff 1788 auf Schloss Lubowitz bei Ratibor in Oberschlesien geboren wurde, hatte sich der französische König gerade durch seinen Finanzminister Necker (Vater der Madame de Staël) die Ausmaße des Staatsbankrotts erklären lassen. 1789 war ein Menetekel für alle adligen Häuser in Europa, auch für Mitglieder des oberschlesischen Kleinadels. Der junge Eichendorff wuchs zur Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Eroberungszüge auf. Am Befreiungskrieg von 1813 nahm er – wie Theodor Körner – im Lützowschen Freicorps teil. Das väterliche Schloss (übrigens ein stattliches, fast burgartiges Anwesen) und die dazu gehörigen Liegenschaften waren wegen der hohen Verschuldung nicht zu halten. Die beiden Söhne Joseph und Wilhelm mussten Jura studieren und einen bürgerlichen Beruf ergreifen: Wilhelm ging in österreichische, Joseph in preußische Dienste. Bei Joseph zeigte sich bald, dass er deutlich mehr an Literatur als an juristischen Dingen interessiert war. In Heidelberg belegte er die Vorlesungen von Joseph Görres, war mit dem Schriftsteller Otto Heinrich Graf von Loeben befreundet und vertiefte sich in die Lektüre von „Des Knaben Wunderhorn“, das Arnim
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und Brentano kurz zuvor publiziert hatten. In Heidelberg wurde der Grund für seine künftige Lyrik mit ihrem so bezeichnenden Volksliedton gelegt. Dieser Ton herrscht zum Beispiel in dem erwähnten Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“ vor, das durch die Verse „Müllers Abschied“ im „Wunderhorn“ angeregt wurde. In der Vorlage heißt es: „Da unten in jenem Tale/ Da treibt das Wasser ein Rad,/ Das treibet nichts als Liebe/ Vom Abend bis wieder an Tag;// Das Rad, das ist gebrochen,/ Die Liebe, die hat ein End,/ Und wenn zwei Liebende scheiden,/ Sie reichen einander die Händ.“ Eichendorff ist der jüngste unter den Romantikern. Während seiner Studienjahre ist er gleichsam auf der Walz, ein Handwerksbursche im Fach der Poesie. Seine Lehrjahre absolviert er in Heidelberg, seine Gesellenzeit in Berlin, wo er u.a. Adam Müller, Heinrich von Kleist und Friedrich de la Motte Fouqué trifft, sowie in Wien bei Friedrich und Dorothea Schlegel, mit deren Sohn, dem Nazarener-Maler Philipp Veit, er sich anfreundet. Er nimmt alle nur denkbaren Strömungen der zeitgenössischen Dichtung auf, und wie alle Romantiker lernt auch er von Goethe als dem maßstabsetzenden Autor der Epoche. Aus seinen katholischen Wertvorstellungen macht Eichendorff nie einen Hehl, was Görres und Brentano, die seine religiöse Herkunft teilen, sympathisch ist. Friedrich und Dorothea Schlegel, Philipp Veit und Adam Müller sind vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert: ein romantischer Trend. Die katholischen Romantiker zieht es zum Teil nach München, wohin Görres abwandert, vor allem aber nach Wien, wohin auch Adam Müller umsiedelt. Die Doppelexistenz als juristischer Verwaltungsbeamter und Schriftsteller ist für Eichendorff alles andere als einfach durchzuhalten. Der höchste Stehkragen-Titel, den er trägt (und dieses „Glück“ dauert nur drei Jahre) ist der eines „Geheimen Regierungsrats“. Von einer Karriere im Staatsdienst kann keine Rede sein. Er wird oft unbezahlt angestellt, ist über längere Strecken hin arbeitslos, und schließlich lässt er sich – gekränkt und erkrankt – vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Das Ergebnis von Eichendorffs Lehr- und Wanderjahren lässt sich so zusammenfassen: Er will gleichsam Fouqué und Kleist, Novalis und Arnim, Brentano und E.T.A. Hoffmann in seinem Werk vereinigen. So baut er in die Erzählungen und Romane Polaritäten ein, die er als schroffe Gegensätze bei seinen Vorbildern konturiert findet. Das zeigt sich etwa in der Erzählung „Das Marmorbild“. Dort wird die Hauptfigur, der junge Florio, mit Kontrastreihen umgeben: Abend und Morgen, Nacht und Tag, Mond und Sonne, Stein und Leben, Palast und Landhaus, Ruine und Stadt, Zauber und Klarheit, Verlockung und Sehnsucht, Erotik und Einfalt, Dämon und Engel, Venus und Madonna. Die Erzählung verdeutlicht, dass die europäische Kultur aus der Interrelation von antiker Herkunft und christlicher Gegenwart lebt, und dass die Auseinandersetzung mit diesen zivilisatorischen Basiselementen notwendiger Teil der Bildung des Helden ist. Der
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entscheidet sich am Ende für die fromme Bianka und gegen eine TannhäuserExistenz im Venusberg. Ohne die Begegnung mit der Liebesgöttin wäre er jedoch der Naiv-Unentschiedene geblieben, der er am Anfang der Novelle war. Solche Polaritäten sind in anderen Fällen Heimat und Fremde bzw. Europa und Amerika („Ahnung und Gegenwart“), Kreativität und Philistertum bzw. Muße und Routine („Aus dem Leben eines Taugenichts“), Deutschland und Italien bzw. Natur und Geschichte („Dichter und ihre Gesellen“), Revolution und Kontinuität bzw. Hass und Liebe („Das Schloss Dürande“). Die europäische Dimension in Eichendorffs Werk ist nicht zu unterschätzen. Dem Autor verdanken wir die erste kongeniale Übersetzung von Calderóns „Großem Welttheater“, die Hofmannsthal bei seiner neuen Bearbeitung des Dramas mitbenutzte. Wenn wir ein Gedicht wie „Sehnsucht“ aus dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“ lesen: was ist es dann, das uns am „Eichendorff-Sound“ so fasziniert? „Es schienen so golden die Sterne,/ Am Fenster ich einsam stand/ Und hörte aus weiter Ferne/ Ein Posthorn im stillen Land./ Das Herz mir im Leib entbrennte,/ Da hab ich mir heimlich gedacht:/ Ach, wer da mitreisen könnte/ In der prächtigen Sommernacht!“ Was hier angesprochen wird, sind Erinnerungen an unsere frühe Jugendphase mit ihren diffusen Wünschen und Träumen, die über den Horizont der Kindheit hinausweisen und noch nicht durch das Realitätsprinzip der Erwachsenenwelt zensiert werden. Es ist die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, nach dem aufregend Unbekannten, und Eichendorff hat es verstanden, diese Jugendgefühle der Erwartung und Offenheit in uns wieder aufleben zu lassen. Niemand hat den Wald mit solcher Inbrunst besungen wie Eichendorff. Man denke nur an die erste Strophe von „Der Jäger Abschied“: „Wer hat dich, du schöner Wald,/ Aufgebaut so hoch da droben?/ Wohl den Meister will ich loben,/ So lang noch mein Stimm erschallt./ Lebe wohl,/ Lebe wohl, du schöner Wald!“. Wen wundert’s, dass Eichendorff heute unter Ökologen und Naturschützern neue Verehrer gefunden hat, und dass die internationale Germanistik ihn seit einiger Zeit in Seminaren behandelt, die den Begriff „Ecocriticism“ im Titel führen? Es gibt, was die Rezeption von Eichendorff betrifft, nicht nur Erfreuliches zu berichten. Die Nationalsozialisten suchten auch ihn zu vereinnahmen, obgleich sie nicht im mindesten daran dachten, romantische Aussteiger und Taugenichtse, die sich ihrem terroristischen Drill entzogen, zu tolerieren. Man wollte zur Zeit des sog. Großdeutschen Reiches Ortsnamen slawischer Herkunft in Oberschlesien „eindeutschen“, und so wurde für kurze Zeit aus Bresnitz ein absurd klingendes „Eichendorffmühl“. Ein Lieblingsbuch seiner Leserinnen und Leser, eine Ikone romantischer Italienzuneigung ist nach wie vor die Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Schon Theodor Fontane und Thomas Mann schwärmten von ihr, und literarische Nachfahren des Eichendorffschen Helden finden sich u.a. bei Hermann Hesse.
Rüdiger Safranski und Gerhard Schulz über die deutsche Romantik
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Auf dem Weg durch die Weltliteratur ist der „Taugenichts“ weit herumgekommen, wie die vielen Übersetzungen in fremde Sprachen belegen. Die Dichtung war übrigens in der DDR 1972, also während der kurzen Tauwetterperiode am Anfang von Honeckers Regierungszeit, unter der Regie von Celino Bleiweiß verfilmt worden: mit Dean Reed, dem „Roten Elvis“, in der Hauptrolle. Eine ziemliche Klamotte, versteht sich. Zum 150. Todestag ist die Novelle mit Illustrationen von Hans Traxler, einem der Mitbegründer der satirischen Zeitschrift „Titanic“, erneut aufgelegt worden. Das Wichtigste von Eichendorff ist heute in Klassikerausgaben und vieles in Taschenbüchern greifbar, so auch Kulturhistorisches wie „Der Adel und die Revolution“. Hier zeigte sich der Romantiker als kritischer Analytiker der Aristokratie vor dem Ausbruch der Französischen Revolution, also der Epoche des „Prinz Rokoko“. Christoph Meckel hat die Schrift – mit einer Einleitung versehen – wieder zugänglich gemacht. Lesenswert ist auch Eichendorffs literaturgeschichtliche Abhandlung „Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland“ von 1847. Man sollte sie parallel zur fünfzehn Jahre früher veröffentlichten und so denkbar gegensätzlichen „Romantischen Schule“ von Heinrich Heine lesen. Beide Studien wurden von Insidern geschrieben und zeigten schon zu ihrer Zeit, auf wie unterschiedliche Weise diese Ära intellektuell vermessen werden kann. Auch Parodien sind in der Literatur ein Beweis für anhaltende Wirkung. Peter Rühmdorfs komisch-satirische Umdichtung von Eichendorffs „Das zerbrochene Ringlein“ trägt den Titel „Auf eine Weise des Joseph Freiherrn von Eichendorff“. Sie stammt aus dem Jahr 1962 und beginnt so: „In meinem Knochenkopfe/ da geht ein Kollergang,/ der mahlet meine Gedanken ganz außer Zusammenhang.“ Anzunehmen ist, dass die gemischten Chöre beim Original bleiben werden.
Rüdiger Safranski über die Romantik als „deutsche Affäre“ Die Welt/Literarische Welt (1.9.2007) Wer möchte sie schon missen, die fabelhaft eingängig geschriebenen Bücher über Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche oder Schiller, die Rüdiger Safranski in den beiden letzten Jahrzehnten vorgelegt hat? Er ist einer der kompetentesten und bekanntesten Historiker deutscher Ideen- und Kulturgeschichte, und es ist abzusehen, dass auch seine neue Studie zur Romantik ein Bestseller werden wird. Kluge und klar formulierte Analysen, informative politik- und sozialgeschichtliche Erläuterungen und erhellende Anekdoten wechseln einander ab. Diese
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Mischung erleichtert dem Leser den Zugang zu einer Materie, die gewöhnlich im akademischen Sperrbezirk der Hochschulen fachsprachlich eingezäunt wird. Wer die romantische Generation verstehen will, muss ihre Väter kennen, und so beginnt das Buch sinnvollerweise mit Kapiteln über Herder, Goethe und Schiller. Herder wertet im Gegenzug zu Rousseau die Kultur gegenüber der Natur wieder auf, eine Botschaft, die gut ankommt, wenn Rousseaus Einfluss auch nach wie vor anhält. Und es ist Herder, der dichterische Dokumente der Völker sammelt, womit er die Heidelberger Romantiker Arnim und Brentano dazu anregt, ihre Liederanthologie „Des Knaben Wunderhorn“ (1806–1808) zusammenzustellen. Auch die Märchenedition der Brüder Grimm, die wenige Jahre später erscheint, verdankt sich den Anstößen Herders. Die Auseinandersetzung mit Goethe und Schiller beginnt schon während der Französischen Revolution. Die Frühromantiker in Jena erwarten während der späten 1790er Jahre von den etablierten Autoren ästhetisch Revolutionäres, literarisch Neues. Goethe kommt da zunächst gut weg, denn der junge Friedrich Schlegel zählt „Wilhelm Meister“ zu den „großen Tendenzen“ des Zeitalters, nennt diesen Roman in einem Atemzug mit der Französischen Revolution selbst und mit Fichtes „Wissenschaftslehre“. Fichte macht als Hochschullehrer in Jena großen Eindruck mit seiner Ich-Philosophie, in der es um individuelle Freiheitsverwirklichung, um die Realisierung imaginierter Möglichkeiten geht. Sowohl bei Goethe wie bei den Frühromantikern – und bei seinen Studenten ohnehin – findet er Beifall. Im Kapitel über Fichte ist Safranski in seinem Element. Hier zeigt sich seine philosophische Schulung und seine Gabe, schwierige Theorien zu erklären. Im Jenaer Salon der Caroline Schlegel, der Gattin August Wilhelm Schlegels, will man dem Prozess der Entzauberung der Welt mittels neuer Verzauberung, sprich Romantisierung, beikommen. Zum Freundeskreis in Jena gehört Novalis, der „Romantisieren“ als geistige Tätigkeit definiert, die „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein“ verleiht. Diese Formulierung zielt abgrenzend auf Goethe, an dessen „Wilhelm Meister“ jetzt ein poetisches Defizit beanstandet wird. Friedrich Schlegel ist von einem ähnlichen Ehrgeiz getrieben wie Novalis, wenn er „das Leben und die Gesellschaft poetisch machen“ möchte. Er wartet mit einer „Universalpoesie“ genannten neuen Romanästhetik auf, nach der im romantischen Buch nicht nur alle Literaturgattungen, sondern auch alle Wissenschaften zusammengeführt werden sollen. Zudem will er im romantischen Roman, der eben kein Roman im herkömmlichen Sinne mehr ist, durch Ironie alle Begriffe „ins Schweben“ bringen und nichts in irgendeinem intellektuellen Bereich als fest bestehende Wahrheit gelten lassen. Das sind schwer zu erfüllende Postulate. Safranski meint, dass Ludwig Tieck in seinen frühen Arbeiten, z.B. im „Gestie-
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felten Kater“, Schlegels Forderungen entsprochen habe. Was die Gattungsmischung und das ironische Spiel im Spiel anbelangt, trifft das zu, aber Schlegels Erwartungen zielen auch auf die Einbringung aller Wissenschaften in den Roman ab. Das waren Vorstellungen, die weder von Schlegel und seinen Freunden selbst, noch später von den experimentierfreudigen Verfassern moderner Romane im 20. Jahrhundert realisiert werden konnten. Jedenfalls wirbeln die ästhetischen Postulate, Theorien, Thesen und Visionen in Friedrich Schlegels Zeitschrift „Athenäum“ so viel Staub auf, dass Goethe und Schiller ins Husten geraten. Schiller ist in den Augen der aufmüpfigen jungen Leute zu stark der bürgerlichen Prosa der Verhältnisse verhaftet, und eine Rezitation seiner „Glocke“ gestaltet sich in ihrem Kreis zur Lachnummer. Der Theologe Schleiermacher hält sich schon von Berufs wegen ans Unendliche. Inspiriert durch die Jenaer Freunde definiert er Religion als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ und rückt von christlicher Dogmatik, ja vom Offenbarungsglauben überhaupt ab. Damit befindet er sich in einer Positionsnähe zu Fichte, dem seine Offenbarungsskepsis im sog. Atheismusstreit die Jenaer Professur kostet. Schleiermacher schafft es, sich trotz seiner Abgrenzungen von Lutherischer Orthodoxie im Netzwerk der preußisch-protestantischen Elite zu behaupten. Friedrich Schlegel und sein Jenaer Kreis sind besessen von der Idee, einen neuen Mythos zu kreieren, eine neue Religion zu stiften. Da fehlt dann aber doch beides: sowohl die Prophetengabe wie der Kreis der Gläubigen. Die politischen Ereignisse fordern die Romantiker mehrfach heraus. Nach der Französischen Revolution ist es das Phänomen Napoleon, von dem man zuerst fasziniert, dann angeekelt ist. Als Frankreich 1806 Preußen besiegt, schießen die literarisch-politischen Hassblüten nur so ins Kraut, vor allem in den poetischen Gärten Ernst Moritz Arndts und Heinrich von Kleists. Kleists Propagandaschriften werden bei Safranski ohne Beschönigungen als das bezeichnet, was sie sind: Hasstiraden und literarisierte Tötungsphantasien. Bei Ernst Moritz Arndt mutieren die franzosenfeindlichen Wutexplosionen bald zu antijüdischen Schmähreden, die während der Zeit des Nationalsozialismus erneut propagandistisch genutzt werden. Die Berliner Romantik steht zwischen 1806 und 1814 im Zeichen des anti-napoleonischen Engagements, wobei Fichte mit seinen „Reden an die Deutsche Nation“ erneut hervortritt. Zu den herausragenden Autoren der Restaurationsepoche nach 1815 gehören E.T.A. Hoffmann und Joseph von Eichendorff. Auch Hoffmann verweigert sich in seinen Dichtungen dem bürgerlichen Zwang zur traumvergessenen Nützlichkeit und widmet sich dem Ungewöhnlichen, Zauber- und Märchenhaften. Safranski, der sein erstes Buch über diesen Autor geschrieben hat, nennt den „GespensterHoffmann“ einen „Romantiker des ,Als ob‘“: ,als ob‘, weil ihm, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, Verankerungen in einem philosophischen System
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oder einer religiösen Überzeugung fehlen. Der Lebensimpuls des Spielers Hoffmann ist die unerschöpfliche literarisch-musikalische Phantasie, und deren Produkte werden von Safranski mit Sympathie und Empathie analysiert. Eichendorff scheint mit seinem poetischen Christentum in die politische Landschaft der Heiligen Allianz zu passen, doch unterläuft er deren Erwartungen durch seine Aufbruchsmotive im „Taugenichts“. Dieser Romanheld – ein Tagträumer, Arbeitsverweigerer und Landstreicher – ist nicht gerade die Personifikation bürgerlicher Leitkultur nach dem Geschmack Metternichs. Im zweiten Teil seiner Studie diskutiert Safranski das „Romantische“, das im Gegensatz zum Epochenbegriff „Romantik“ eine allgemeine Einstellung, einen Lebensstil, eine Ideologie bezeichnet. Das Romantische als Weltanschauung sei in der Ära der Romantik ausgebildet worden. Der Autor will zeigen, wie „das Romantische“ sich in den Phasen deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ausgewirkt hat. Ob bei den Jungdeutschen wie Heinrich Heine, ob bei Karl Marx oder Richard Wagner, bei Friedrich Nietzsche und der Jugendbewegung um 1900, ob beim Wilhelminismus mit dem Flottenbau-Ehrgeiz und den Ideen von 1914, ob bei der Wiener Moderne oder bei Stefan George, ob bei Ernst Jünger, Franz Jung und den Inflationsheiligen in den 1920er Jahren, ob bei Martin Heidegger oder Adolf Hitler, bei Thomas Mann im Exil oder bei Herbert Marcuse während der 68er Revolte: überall versucht Safranski, den Anteil des „Romantischen“ bzw. des „Romantizismus“ an den Weltanschauungen der Vor- und Meisterdenker, der Schriftsteller und Demagogen herauszustellen. Dabei wird das „Romantische“ widersprüchlich gleichgesetzt mit unpolitischer Weltfremdheit (das vor allem), mit Irrationalismus, Mystik und Mythos, der Kombination von Liebe und Tod, der Wendung nach innen, dann aber auch mit der Tendenz zum Abenteuer in der großen Welt, mit Quietismus und Massenwahn, mit Sehnsucht nach dem einfachen Leben und nach der Bewährung im Krieg. So fällt es schwer, die Beziehung des transhistorischen Begriffs „das Romantische“ zur Romantik als Epoche zu erkennen. Perioden der Weltflucht, Zeiten des Mystischen, religiöser Orientierung und des Hungers nach dem Mythos, Phasen einer Begeisterung für klösterlich-eremitenhaftes Leben oder aber für eine heroisch-kriegerische Existenz hat es in der Geschichte Europas und der Welt oft gegeben, und das Thema vom Liebestod ist so alt wie die Literatur selbst. Wichtig ist Safranski auch, sich auf die Verbindung zwischen dem „Romantischen“ und der Ideologie und Praxis im sog. Großdeutschen Reich einzulassen. Er behauptet nicht, dass Hitlers Weltanschauung auf „Romantizismus“ reduziert werden könne, doch habe die „romantische Geisteshaltung“ zur „Vorgeschichte“ des Nationalsozialismus gehört und einen entscheidenden Anteil an dessen Erfolg gehabt. Zur Vorgeschichte der HitlerBewegung, so lässt sich einwenden, ist dann auch die Aufklärung zu rechnen, gegen deren technische Rationalität und Disziplinierung sich die Romantiker
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wandten. Seit Adorno/Horkheimer und Michel Foucault ist man sich der „Dialektik“ dieser Epoche bewusst. Fragen stellen sich auch bei der Lektüre der Epochenanalyse. Waren die Romantiker politisch weltfremd? Immerhin hat ihre Generation in Preußen die nachhaltigsten sozialen Reformen in der Geschichte des Landes durchgesetzt. Romantische Malerei und Musik kommen in Safranskis Studie kaum vor, und ganz selten werden Verbindungslinien zu den Werken von Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern angedeutet. Die kunstmetaphysisch gestimmten Romantiker pilgerten begeistert zu Gemäldegalerien, frequentierten Konzertsäle, und Künstlerfiguren bevölkern ihr Erzählwerk. Auch Beethoven und Carl Maria von Weber werden nur flüchtig erwähnt. Die Werke der Frauen der Romantik, d.h. die Bücher von Dorothea Schlegel, Karoline von Günderrode, Bettina von Arnim, Caroline Fouqué wurden in den 1970er und 1980er Jahren neu entdeckt, sind aber hier schon wieder vergessen. Auch den Königinnen der romantischen Salons wird zu wenig Reverenz erwiesen. Der Name der Rahel Levin taucht nirgendwo auf, und Caroline Schlegel und Henriette Herz werden nur en passant als Statistinnen erwähnt. Über die Romane ihrer aus Paris verbannten Kollegin, der Madame de Staël, Mittlerin zwischen deutscher und französischer Kultur und Freundin August Wilhelm Schlegels, sagt der Autor nichts. Und der Salon, den sie in ihrem Haus im schweizerischen Coppet führte, ein geistiger Treffpunkt Europas, ein intellektuell vibrierender Ort romantischer Konversation, wird mit Schweigen übergangen. Die Grundthese, dass die Romantik „eine deutsche Affäre“ sei, überzeugt nicht. Safranski schreibt abschliessend: „Die Romantik ist eine glänzende Epoche des deutschen Geistes, mit großer Ausstrahlung auf andere Nationalkulturen.“ Richtiger müsste es heißen: „Die Romantik ist eine glänzende Epoche des europäischen Geistes mit großer Ausstrahlung auf die Kulturen anderer Kontinente.“ Chateaubriand, der Vater der französischen Romantik, schrieb den „Geist des Christentums“ etwa zur gleichen Zeit wie Novalis „Die Christenheit oder Europa“, nur mit dem Unterschied, dass der Franzose sein Buch publizierte – es wurde ein Bestseller –, während der Essay des Novalis erst mit einem Vierteljahrhundert Verspätung erschien. Sicher war das Christentum, das Novalis meinte, nicht identisch mit dem päpstlichen, das Chateaubriand glorifizierte, aber auf seine Zeitgenossen, auch auf Friedrich Schlegel und andere Konvertiten, hatte Chateaubriand einen stärkeren Einfluss als Novalis. Die englischen Romantiker waren – man denke an Coleridge und Wordsworth – am literarischen Kampf gegen Napoleon früher und effektiver beteiligt als Kleist, der nichts von seinen politischen Gedichten, Streitschriften und Dramen gedruckt bzw. aufgeführt bekam. Byron war nicht minder „griechisch“ gestimmt als Hölderlin. Nach einer neuen Mythologie fahndete auch der Dichter-Maler William
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Blake. Die Volksliedbegeisterung, die Entdeckung des nationalen Erbes, poetologische Neuorientierungen, die Vorliebe fürs Geheimnisvolle und Unheimliche: das alles ist auch in den Schriften von Keats und Shelley gegenwärtig. Mary Shelley hat mit ihrem Frankenstein-Roman europaweit, ja weltweit, mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als E.T.A. Hoffmann mit den „Elixieren des Teufels“, wie ja die deutschen Schauerromane im Schatten der englischen Gothic Novel verblieben. Walter Scott war als Autor historischer Romane international viel prägender als Arnim, Fouqué oder Tieck. In Italien schrieb Ugo Foscolo überzeugender gegen Napoleon als Ernst Moritz Arndt in Deutschland. Alessandro Manzoni hat mit den „Verlobten“ einen Liebesroman geschrieben, dem man auf deutsch-romantischer Seite nichts an die Seite stellen konnte. Puschkin war in Russland der größte romantische Lyriker. Sieht man von den Gedichten des Außenseiters Hölderlin ab, wird man wiederum in Deutschland nur schwer etwas so Komplexes und Tiefsinniges finden wie die Gedichte des russischen Poeten. Von all dem erfährt man bei Safranski nichts. Sicher lässt sich ein Buch über deutsche Romantiker schreiben, das nicht gleichzeitig eines über die europäische Romantik insgesamt ist. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, als sei Romantik an sich etwas spezifisch und einmalig Deutsches, als hätte sich da etwas in Deutschland getan, was es vergleichbar bei anderen Nationen nicht gegeben hätte. Was hier fehlt, ist die europäische Kontextualisierung der deutschen Autoren in ihrer Epoche. Die Romantiker, auch die deutschen, hatten zwar ein spezielles Interesse an nationalen Belangen, aber ihr kultureller Horizont war europäisch. Sie nahmen Teil an einem Dialog über politische Grenzen hinweg. Nicht nur, dass deutsche Romantiker Shakespeare, Cervantes und Dante neu entdeckten bzw. übersetzten, sie waren auch bekannt mit Werken und Tendenzen der zeitgenössischen Literaturen anderer Länder in Europa. Zuweilen machten sie sogar weltliterarische Ausflüge in die Dichtung Asiens, etwa wenn der junge Friedrich Schlegel – wie auch sein Bruder August Wilhelm – begann, sich für die „Sprache und Weisheit der Indier“ zu interessieren. Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser, 2007.
Gerhard Schulz über die deutsche Romantik Neue Zürcher Zeitung (21.3.1990) Es gab eine Phase in der deutschen Literaturgeschichte, in der Arnold Winkelried aus Unterwalden es an Berühmtheit mit Hermann dem Cherusker und Martin Luther aufnehmen konnte. Wie sich nämlich der Schweizer Freiheits-
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kämpfer 1386 in der Schlacht bei Sempach voll Todesverachtung in die Spieße der Österreicher geworfen haben soll, um die den Sieg herbeiführende Lücke in die Kampfordnung der Gegner zu treiben: das galt den deutschen Dichtern in den Befreiungskriegen als vorbildliche Tat, die zu besingen sie nicht müde wurden. Vom Widerstand der Schriftsteller und Philosophen gegen Napoleon handeln die ersten Abschnitte des zweiten Bandes der Literaturgeschichte von Gerhard Schulz. Der Band setzt ein mit dem Jahr 1806, das mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches einen historischen und mit dem beginnenden Kampf der Dichter gegen den französischen Kaiser auch einen kulturgeschichtlichen Einschnitt darstellt. Eine Literaturgeschichte zu schreiben gehört heute zu den schwierigsten Aufgaben, die man sich als Germanist stellen kann. Die wissenschaftsgeschichtliche Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass erstens die Kenntnisse nicht mehr auf die Autoren des Kanons beschränkt sind, dass zweitens metahistorische Reflexionen und Rezeptionstheorien das Geschäft des Historiographen verkompliziert haben und dass drittens die Erwartungen postmoderner Leser auf Klarheit und Eingängigkeit der Darstellung zielen. Gerhard Schulz zeigt sich diesen Anforderungen gewachsen: Hier liegt eine Literaturgeschichte vor, die bisher zu wenig beachtete Literatursparten (wie Dichtungen von Frauen, Gattungen wie Briefwechsel, Romane der Trivialliteratur oder Grenzgebiete von Dichtung und Philosophie) beachtet, die von einem hohen Grad an Methodenreflexion zeugt und die schließlich sowohl für Nicht-Germanisten wie für Fachwissenschaftler mit Gewinn und Spannung zu lesen ist. Der alte Goethe nannte die hier behandelte Phase der deutschsprachigen Literatur im Rückblick eine reiche Zeit, „eine Epoche, die so bald nicht wiederkehrt“. Zu den besonderen Leistungen des Bandes gehört, dass die literaturgeschichtlichen Darstellungen der Romantiker ausführlich referiert werden. Dabei wird deutlich, dass die Wiener Vorlesungen August Wilhelm Schlegels „Über dramatische Kunst und Literatur“ von 1808 für Schulz in vieler Hinsicht vorbildlich geworden sind. Dort nämlich ist Dichtung erstmals umfassend aus gesellschaftlicher Perspektive geschildert worden, so dass sich eine neuartige Synthese von Kultur- und Gattungsgeschichte ergab. Heute nennt man eine solche Vorgehensweise interdisziplinär, und man kann Schulz bescheinigen, dass seine guten Kenntnisse der Politik- und der Sozialgeschichte es ihm ermöglichten, Literaturgeschichte zu kontextualisieren. Der Band ist gegliedert in zwei Hauptteile: im ersten steht die gesamtkulturelle Situation im Vordergrund, und im zweiten geht es um literarische Gattungsgeschichte im engeren Sinne. Dabei ist das schwerfällig-kausalisierende Ableiten des Textes aus dem Kontext vermieden, jenes Systemgerassel, das die sozialhistorischen Darstellungen der frühen siebziger Jahre so unerträg-
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lich machte. Vielmehr werden die unterschiedlichen kulturellen Diskurse von Politik-, Ideen- und Gattungsgeschichte subtil in ihrer Vernetzung und ihrem Ineinander gezeigt. Mit der Auffächerung der Widerstandstheorien in der Napoleonischen Zeit, mit der Untersuchung des sich steigernden Nationalismus in dieser Phase, mit der Analyse des Antisemitismus der Zeit der Romantik und mit der Chronik der Restaurationszeit wird Literaturhistorie als Kultur- und Gesellschaftsgeschichte geschrieben. Das Jahr 1815 markiert eine Bruchstelle deutscher Geschichte, und Schulz beschreibt, wie damals „vieles Angefangene in der Politik nun nicht mehr weiterkam und wie alles Wachsende, dessen natürliche Entwicklung gewaltsam behandelt wurde, Misswuchs und Abnormitäten bildete“. Bei der Lektüre des Buches bekommt man wieder Lust, politische Texte von Arndt, dichterische von Eichendorff, theoretische von Solger oder Sammlungen der Brüder Grimm anzuschauen. Ein unterschätzter Autor wie Achim von Arnim erhält ein neues, schärferes, insgesamt positiveres Profil. Verdienstlich ist, dass Werke von Dichterinnen wie Caroline Fouqué und Johanna Schopenhauer vorgestellt werden, die – sieht man von den jüngsten feministischen Spezialunter suchungen ab – in Literaturgeschichten allzu oft übergangen wurden. Besonders gelungen sind die Abschnitte über Kleist und Goethe, was bei der Flut der Sekundärliteratur eine Leistung ist. Glänzend parallelisiert Schulz die Herr-KnechtKonstellation in Goethes „Faust“ und in Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Erfreulich ist schließlich, dass auch die Geschichte der Germanistik in ihren Anfängen mit den Brüdern Grimm, Friedrich von der Hagen und Gustav Gottlieb Büsching referiert wird. Literaturgeschichte ist die hohe Kunst der Germanistik. Nicht Lehrlinge und Gesellen sollten sie schreiben, sondern jene alten Meister des Fachs, von denen Gerhard Schulz einer der gelehrtesten ist. Gerhard Schulz, Die deutsche Literaturgeschichte zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil: 1806–1830. München: Beck, 1989.
Heinrich Heine, „Im Rhein, im schönen Strome“ Frankfurter Allgemeine Zeitung/Frankfurter Anthologie (12.4.1997) Im Rhein, im schönen Strome, Da spiegelt sich in den Welln, Mit seinem großen Dome, Das große, heilige Köln.
Heines Köln-Gedicht
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Im Dom da steht das Bildnis, Auf goldenem Leder gemalt; in meines Lebens Wildnis Hats freundlich hineingestrahlt. Es schweben Blumen und Englein Um unsre liebe Frau; Die Augen, die Lippen, die Wänglein, Die gleichen der Liebsten genau. Etwas allzu larmoyant hatte Schiller in seinem Gedicht „Die Götter Griechenlands“ sein Leid über den Verlust von Sinnenfreude, Schönheit, Grazie geklagt: all das sei mit dem Untergang der weltfrohen hellenistischen Götterwelt dahin, all das habe vor der düster-ernsten Jammertal-Religion des Christentums weichen müssen. Schiller gab sich als Kind von schicksalhafter Traurigkeit: „Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne,/ alles Hohe nahmen sie mit fort,/ Alle Farben, alle Lebenstöne,/ Und uns blieb nur das entseelte Wort.“ Als Rheinländer, Jude und Protestant mit Aufenthalten im weltstädtischen Hamburg und Besuchen in Berliner Salons wie dem der Rahel Levin erlebte schon der frühe Heine einen Kosmopolitismus, den sich der junge Schiller, Zögling einer schwäbisch-militärischen Pflanzschule, nur literarisch imaginieren konnte. Heines kurze Verse scheinen Schillers langes Gedicht widerlegen zu wollen. Der Rhein ist „schön“, der Dom ist „groß“, und Köln ist „heilig“. Hat sich antikisch Schönes, Hohes in die rheinische Metropole verirrt? Oder hat es sich dort erhalten? Immerhin war sie jahrhundertelang Hauptstadt einer römischen Provinz. Gibt es gar farbige Lebenstöne im Dom der Christen? Das „Bildnis“ dort strahlt „freundlich“ in des „Lebens Wildnis“. Und auch „Blumen und Englein“ symbolisieren nicht gerade „das entseelte Wort“. Der Dom, der Rhein, die Wellen, die Madonnen sind Gemeinplätze in den Versen der Zeit; die hätten auch fromme Nazarener und rheinbegeisterte Romantiker besingen können. Bei einem Eichendorff oder Brentano spalten sich Christentum und Antike in Reihungen wie Heiliges und Sinnliches, Keusches und Nacktes, Jungfrau und Venus, Altarikone und Marmorstatue. Heine jedoch bringt all das (Schiller zum Trotz) wieder zusammen: Das Bild „unsrer lieben Frau“ ist auf „meines Lebens Wildnis“ bezogen; Göttliches und Animalisches kommen in der Verbindung vom „goldenen Leder“ zusammen, und „die Augen, die Lippen, die Wänglein“ der Madonna „gleichen genau“ denen „der Liebsten“. Die Geliebte hat etwas gemein mit der Madonna, und die „liebe Frau“ wirkt so erotisch, dass sie mit der „Liebsten“ assoziiert wird.
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Heine hat hier von der europäischen Kultursymbiose wohl mehr erfasst als seine zeitgenössischen Aufspalter. Vielleicht wollte er mit dem Gedicht auch an die christliche „Frohe Botschaft“ erinnern, die davon weiß, dass Göttliches menschlich und Menschliches göttlich wird. Dazu hätte das Gemälde, auf das er anspielt, anregen können. Stefan Lochners „Dombild“ (übrigens auf Holz, nicht auf Leder gemalt) von 1450, das offiziell „Altar der Stadtpatrone“ heißt, befindet sich seit 1810 im Kölner Dom. Sind die beiden Seitenflügel aufgeklappt, zeigt sich das berühmte Bild der Schutzheiligen der Stadt – samt Gefolge und „Englein“ – und die in der Mitte thronende, unnahbar wirkende Himmelskönigin mit dem Jesuskind. Das Dombild hat aber noch eine entschieden weltlichere Version der „lieben Frau“ in petto. Bei zugeklappten Altarflügeln sieht man das Außenbild, eine „Verkündigung Mariä“: Auf der rechten Tafel hält der (mit kühn gespreizten Flügeln ausgestattete) Engel Gabriel brav sein Spruchband hoch, auf dem man das gratia plena entziffert; die linke Tafel zeigt jene Schöne, auf die sich die Verse beziehen dürften. Lochner stellt sie dar mit hüftlangem, wallendem Haar. Zu seiner „lieben Frau“ waren vor Heine schon Dürer und Goethe gepilgert. Das Pilgern hat nicht aufgehört. Immer noch soll es Wallfahrer geben, die in Köln das „Bildnis“ und die „Liebste“ aufsuchen.
Jüdische Schriftsteller und Europa. Heinrich Heine und Ludwig Börne Das Jüdische Echo 45.10 (1996) Zu den deutschsprachigen jüdischen Schriftstellern, die sich in unserem Jahrhundert essayistisch über Europa geäußert haben, gehören Ferdinand Lion, Alfred Döblin, Kurt Hiller, Hermann Broch, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig und Rudolf Borchardt. Ihnen allen ging es in ihren Beiträgen um ein Verstehen europäischer Identität und um die Frage, wie eine kulturelle Gemeinsamkeit ihre politische Entsprechung finden könnte, d.h. wie und auf welche Weise sich Europa einigen könnte, um sich vor einer Selbstzerstörung durch weitere Kriege zu bewahren. Die Autoren waren sich über die Bedeutung des jüdischen Anteils an der europäischen Kultursymbiose im Klaren, wussten, welch fatale Folgen die Zerstörung der kulturellen Grundlage des Kontinents, wie sie von den Nationalsozialisten betrieben wurde, haben musste. Das Herausbrechen des jüdischen Anteils an der europäischen Kultur war bei den Nationalsozialisten ja nur der Anfang der Zerstörung der abendländischen kulturellen Basis. Gleichzeitig wurde im Dritten Reich gezeigt, dass man von römischem Rechtsdenken nichts hielt, dass die Gegner-
Heine und Börne in Paris
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schaft zum Christentum programmatisch war und dass man von der griechischen Kultur ein banausenhaft verengtes Verständnis hatte. Vor allem den jüdischen Autoren war bewusst, dass die europäische Kultur als Ganzes verteidigt werden musste, dass sie verloren war, wollte man aus der griechisch-römisch-jüdischchristlichen Kultursymbiose eine ihrer Säulen entfernen. Die Art und Weise, wie diese Autoren die europäische Zivilisation verteidigen wollten, war unterschiedlich. Rudolf Borchardt setzte auf eine intellektuelle Elite, Kurt Hiller auf den europäischen Sozialismus und Hermann Broch auf Menschenrechte; Stefan Zweig plädierte für eine Stärkung des europäischen Humanismus im Sinne des Erasmus von Rotterdam, Kurt Tucholsky forderte die Intensivierung der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, Alfred Döblin setzte sich für eine Stärkung der Demokratie in den europäischen Ländern ein, und Ferdinand Lion gehörte zu den ersten intellektuellen Befürwortern der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Aber lange bevor der exzessive Nationalismus bzw. der antisemitische Nationalsozialismus mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zur Zerstörung des Kontinents führten und sich die Gefahr eines (von Hermann Broch schon 1932 in seiner „Schlafwandler“-Trilogie analysierten) Zusammenbruchs der europäischen Werte abzeichnete, hatten jüdische Schriftsteller über europäische Identität und europäische Einheit nachgedacht. Zu den prominentesten deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts, denen an einem Frieden auf dem Kontinent, an einer konstruktiven Zusammenarbeit der europäischen Länder gelegen war, gehörten Heinrich Heine und Ludwig Börne. Weil damals Krieg und Frieden, Wohl und Wehe des Kontinents vor allem von einer Kooperation der alten Antagonisten Frankreich und Deutschland abhing, stand bei beiden Autoren die Zusammenarbeit dieser zwei Länder im Vordergrund. Da der Konflikt zwischen diesen beiden kontinentaleuropäischen Mächten zu den katastrophalen Kriegen zwischen 1870 und 1939 führte, seien hier paradigmatisch die Europa-Ideen von Börne und Heine aus der Zeit nach der Revolution von 1830 vergegenwärtigt. Wie ein Magnet zog die Revolution von 1830 deutsche Schriftsteller und Publizisten in die französische Hauptstadt. Den Pilgern zum Mekka der politischen Freiheit gesellten sich Ludwig Börne und Heinrich Heine hinzu. In ihren Vorstellungen machte Frankreich schon lange die Avantgarde der europäischen Gegenwartsentwicklung aus. Börne traf im September 1830 und Heine im Mai des folgenden Jahres in der französischen Metropole ein. Die Juli-Revolution selbst hatten sie nicht miterlebt; was sie beobachten konnten, waren die Macht- und Stimmungskämpfe während der jungen Herrschaft des Bürgerkönigs Louis Philippe. Börne kannte, im Gegensatz zu Heine, Paris bereits; schon 1819 hatte er die Stadt für längere Zeit besucht. Die Gemeinsamkeiten und Verwandtschaften zwischen Börne und Heine waren nicht zu übersehen: Beide stammten aus
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wohlhabenden Bürgerfamilien – in Frankfurt bzw. Düsseldorf – und hatten ein – wirtschaftswissenschaftliches bzw. juristisches – Studium absolviert, beide waren zum protestantischen Christentum konvertierte Juden, beide verstanden sich als kosmopolitische Publizisten und Schriftsteller, die politische Prinzipien in Anlehnung an die aufklärerisch-revolutionäre Tradition vertraten, bei beiden stand der Begriff der Freiheit im Zentrum des Denkens, und beide setzten ihre Prosa als Zweckform im Dienst der Zeit- und Ideenbewegungen ein, bekannten sich also zu einer Ästhetik, die auf den Abschied von der Goetheschen Kunstperiode hinauslief. Heine und Börne waren seit Jahren miteinander bekannt, und es war selbstverständlich, dass man sich in Paris zu Gesprächen verabredete. Ein Jahr nach Börnes Ankunft begegneten sie sich wieder – bezeichnenderweise im Hôtel de l’Europe, wo Börne Logis genommen hatte. Bei diesem Treffen unterbreitete Börne dem elf Jahre jüngeren Kollegen den Plan, gemeinsam ein Journal herauszugeben. Heine fand das Angebot offenbar nicht sehr verlockend. Das Agitatorische, radikal Apostelhafte an dem Haupt der in Paris versammelten deutschen Republikaner ließ Heine auf Distanz gehen. Ein halbes Jahr später hatte sich das Verhältnis der beiden bereits so verschlechtert, dass an eine Kooperation nicht zu denken war. Börne führte seinen Journalplan erst 1836 mit der in französischer Sprache erscheinenden „La Balance“ durch, von der allerdings nur zwei Hefte erschienen. Er setzte sich in der „Balance“ für die Verbrüderung Deutschlands und Frankreichs ein. In der „Einleitung“ zu dieser Zeitschrift schrieb er: „Der wäre ein geschickter Diplomat, dem es gelänge, den Frieden zwischen beiden Nationen zu vermitteln, dadurch, dass man sie bewegte, ein neues gleichartiges Ganzes zu bilden, ohne ihre bezeichnenden Eigenschaften aufzuopfern“. Als Demokratien vereint, würden die beiden Länder das Schicksal Europas und damit der Welt bestimmen. Der Titel „Balance“ war im Hinblick auf einen möglichen Ausgleich zwischen Frankreich und Deutschland gedacht: das DestruktivRevolutionäre der Franzosen sollte ergänzt werden durch Konstruktiv-Evolutionäres aus Deutschland. Börnes demokratische Vorstellungen orientierten sich dabei am Begriff der Volkssouveränität, wie er von Félicité Robert de Lamennais vertreten wurde. Mit dem Journal „L’Avenir“ hatte der Abbé Lamennais 1830 seine ehemals katholisch-klerikale Position verlassen. Jetzt forderte er die Demokratisierung der Gesellschaft, die Trennung von Kirche und Staat sowie die Religionsfreiheit für alle Bekenntnisse, woraufhin die Schriften des ehemaligen römischen Günstlings mit dem päpstlichen Bann belegt wurden. Geschieden wurden Börne und Heine durch die weltanschaulich-politischen Fronten, die gleichsam quer durch das liberale Paris verliefen. Börne nämlich war von Lamennais als Prophet der Demokratie und des christlichen Sozialismus fasziniert und übersetzte die 1833 erschienenen „Paroles d’un croyant“ des
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streitbaren Theologen ins Deutsche. Heine dagegen hatte sich der Position des utopischen Sozialismus der Saint-Simonisten angenähert. Während Heine 1832 die konstitutionelle Monarchie als Staatsform favorisierte, tendierte Börne zum antimonarchischen Republikanismus. Börne brachte erneut seine Abneigung gegenüber Napoleon zum Ausdruck. Heine erkannte in ihm nun einen saintsimonistischen Kaiser. Heine war Hegel-Anhänger, Börne verachtete Hegel als „Knechtsphilosophen“. Börne war beim Hambacher Fest 1832 anwesend und setzte große Hoffnungen auf die kommende Revolution in Deutschland, Heine dagegen war skeptisch und gab den Hambachern keine Chance. Heine glaubte an die Mission Russlands, für Börne dagegen verkörperte der Zar die Reaktion schlechthin. In dem halben Jahr zwischen Herbst 1831 und Frühjahr 1832 verkehrte man miteinander und sprach unter anderem über die damals erscheinenden „Briefe aus Paris“ Börnes und die „Französischen Zustände“ Heines. Börnes Werk hätte man auch „Europäische Briefe“ und Heines Buch „Europäische Zustände“ nennen können. Das Mittelstück der „Briefe aus Paris“, nämlich die Aufzeichnungen von September 1831 bis März 1832, erschien ursprünglich unter dem aus Zensurgründen gewählten, aber keineswegs unpassenden Titel „Mit theilungen aus dem Gebiete der Länder- und Völkerkunde“ 1833 zweibändig bei dem fingierten Verlag L. Brunet in Offenbach, wobei es sich – wie bei den ersten zwei Bänden – um Hoffmann & Campe in Hamburg handelte. Heine hob in der Vorrede zu den „Französischen Zuständen“ hervor, dass die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, in der seine Zustandsbeschreibungen 1832 erschienen, „die ,Allgemeine Zeitung‘ von Europa“ genannt werden könne. Paris war ihnen beiden eine Art Hochsitz, von dem aus die europäischen Geschehnisse und Verhältnisse überblickt werden konnten. „Hier ist man im Mittelpunkte“, schrieb Börne an Jeanette Wohl, die Adressatin seiner Briefe, „Europa hat die Augen auf Paris gerichtet, man sieht den Begebenheiten in das Angesicht“. Und Heine, der in Paris das neue Jerusalem der Freiheitsreligion sah, feierte in den „Französischen Zuständen“ diese „Stadt der Freiheit, der Begeisterung und des Martyrtums“ als „Heilandstadt, die für die weltliche Erlösung der Menschheit schon so viel gelitten“. Was die Analyse der politischen Vorgänge in der Hauptstadt betraf, fällt auf, dass Börne nur sehr allgemein urteilte, während Heine versuchte, dem Leser Durchblick durch die Parteikämpfe im bürgerköniglichen Frankreich zu vermitteln. Gleich zu Anfang seiner Briefe verdeutlichte Börne, dass er mit den Erwartungen eines deutschen Jakobiners an die Seine geeilt sei, eines Revolutionärs, der hoffte, dass der Umbruch von 1789 eine erneute Chance der geschichtlichen Bewährung erhalten werde. Als er in Kehl die „erste französische Kokarde“ sah, „entzückte“ ihn der „Anblick“. „Er erschien mir“, heißt es, „wie ein kleiner Regen-
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bogen nach der Sintflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes“. Ähnlich enthusiasmierte ihn das nationale Symbol der Trikolore: „Das Herz“, bekannte er, „pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern.“ Im Hinblick auf die deutschen Verhältnisse fügte er hinzu: „Gott! könnte ich doch auch einmal unter dieser Fahne streiten“. Schon auf diesen ersten Seiten wird deutlich, dass das revolutionäre Frankreich in den Augen Börnes das Modell für die übrigen Länder Europas abgibt, besonders für Deutschland. Börne erkannte bald, dass die Revolution von 1830 wenig mit der von 1789 gemein hatte. An den Geschehnissen von 1789 gemessen, handelte es sich nach Börne bei den Juli-Vorfällen eigentlich gar nicht um eine Revolution; die sei vielmehr noch zu erwarten. „Da nun die letzte Revolution“, schrieb er, „ihren Zweck nicht erreicht hat (denn die jetzigen Machthaber wollen darin nur eine Veränderung der Dynastie sehen) und man den Franzosen nicht freiwillig gibt, um das sie gekämpft haben, wird eine neue Revolution nötig werden; und die bleibt gewiß nicht aus“. Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht, und am Ende des Buches drückte Börne seine verlorenen Illusionen im post- bzw. pseudorevolutionären Paris aus: „Die Julirevolution, ein Zornvulkan, von dem Himmel selbst geladen, damit die Könige zu schrecken und zu strafen, ist ein wasserspeiender Berg geworden, den Völkern zum Verdrusse und den Fürsten zum Gespötte!“. Sarkastischer noch äußerte Börne sich über die „Erfolge“ dieser Revolution in den deutschen Ländern. Er hielt sie in sechs Punkten fest: „1. Die Cholera. 2. In Braunschweig hatten sie sonst einen Fürsten, der wenigsten nicht mit dem Adel hielt; jetzt haben sie einen, der sich vom Adel gängeln läßt. 3. Die Sachsen haben statt einem Fürsten jetzt zwei. 4. Die Hessen haben statt der alten fürstlichen Mäträsse eine junge bekommen. 5. In Baden konnte man früher Zeitung schreiben ohne Kaution, jetzt muß man eine leisten. 6. Wer in Bayern Könige beleidigte, mußte früher vor dessen Ölbilde Abbitte tun; jetzt kommt der Beleidiger auf fünf Jahre ins Zuchthaus“ . Heine beobachtete mit Argusaugen das Lavieren des neuen Königs in Frankreich sowie seines Premierministers Casimir Périer zwischen den Legitimisten und Liberalen, Republikanern und Konstitutionalisten. Ein schier unerschöpfliches Repertoire an literarischen und mythologischen Anspielungen stand dem Autor zur Verfügung. Ende 1831 wurde Giacomo Meyerbeers Oper „Robert le diable“ mit großem Erfolg in Paris uraufgeführt, und so verglich er Louis Philippe beziehungsreich mit Robert dem Teufel: „Von dem Geiste seines Vaters zum Bösen, zur Revolution, und von dem Geiste seiner Mutter zum guten, zum alten Regime hingezogen, in seinem Gemüte kämpfen die beiden angeborenen Naturen, er schwebt in der Mitte zwischen den beiden Prinzipien, er ist Justemilieu“. Seine Erwartungen formulierte Heine in einer Art Königsspiegel, doch dachte der Adressat nicht im Traum daran, sich ihn vorzuhalten: „Ludwig Philipp
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mußte an die Spitze der europäischen Freiheit treten, die Interessen derselben mit seiner eigenen verschmelzen, sich selbst und die Freiheit identifizieren, und wie einer seiner Vorgänger ein kühnes ,L’Etat c’est moi!‘ aussprach, so mußte er mit noch größerem Selbstbewußtsein ausrufen: ,La liberté c’est moi‘“. Aber Louis Philippe hatte weder die politische Statur eines Sonnenkönigs oder eines Grafen Mirabeau noch die eines europäisch dimensionierten Herrschers wie Karl der Große, und so konnte er auch keine Mischung der drei Aristokraten abgeben, eine Kombination, wie Heine sie für die ideale Persönlichkeit des konstitutionellen Monarchen vor Augen schwebte. Am Ende der „Französischen Zustände“ bezweifelt er, ob Louis Philippe „als der erste Bürgerkönig“ der „Stifter eines neuen Herrschertums“ – also der konstitutionellen Monarchie – werden könne. Die Bedingung wäre: „wenn er Thron und ehrliche Gesinnung bewahrt“, doch gerade das sei „ja eben die große Frage“. Wie die Herren, so die Knechte. Périer, der die Republikaner im Kreis um den Marquis de La Fayette düpiert hatte, wurde als „verkehrter Prometheus“ tituliert, der „den Menschen das Licht“ stehle, „um es den Göttern wiederzugeben“. Kein Wunder, dass Heine nach Périers Tod dem Politiker einen allen rhetorischen Gepflogenheiten widersprechenden Nachruf schrieb, in dem er hervorhob, dass dem Premier die „Börsenkurse“ wichtiger als „die Freiheit von Europa“ gewesen seien, dass „die Fahne der Freiheit“ durch „seine Schuld so viele Beleidigungen erlitten“ habe. Périer war, mit Heine zu sprechen, in allem das genaue Gegenteil des Prometheus und Freiheitspropheten Napoleon. Die „grande révolution“ von 1789 hatte den großen Napoleon und die kleine Revolution von 1830 den mittelmäßigen Périer hervorgebracht. Bei aller Ernüchterung über die Verhältnisse im Justemilieu des Frankreich zu Anfang der dreißiger Jahre waren Heine und Börne doch der Meinung, dass Paris jedem anderen Aufenthaltsort in Europa vorzuziehen sei. „Man ist hier“, schrieb Heine, „de facto seines Leibes und Eigentums immer noch sicherer als im übrigen Europa, mit Ausnahme Englands und Hollands. Obgleich Kriegsgerichte instituiert sind, herrscht hier noch immer mehr faktische Preßfreiheit, und die Journalisten schreiben hier über die Maßregeln der Regierung noch immer viel freier, als in manchen Staaten des Kontinents, wo die Preßfreiheit durch papierne Gesetze sanktioniert ist“. Von einer engeren Verbindung Frankreichs und Deutschlands würden letztlich beide Länder profitieren. Wie Harald Weinrich zeigt, schwebte Heine das Gedanken-Tat-Modell vor Augen, dem zufolge Frankreich die politische Avantgarde und Deutschland den geistigen Fortschritt in Europa vertraten: Wie auf die französische Gedankenperiode der Aufklärung die Tat der Revolution von 1789 gefolgt sei, so werde auch in Deutschland nach der Geistesepoche von klassisch-romantischer Literatur und idealistischer Philosophie eine Ära der politisch-gesellschaftlichen Aktion ein-
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treten. Darauf könnten die Deutschen vorbereitet werden, indem man sie in die Schule der gegenwärtigen französischen Umbruchszeit schicke. Heine selbst sah sich in der Vermittlerrolle zwischen den beiden Ländern. Den Deutschen gedachte er mit den „Französischen Zuständen“ politische Lektionen zu erteilen, und den Franzosen wollte er deutsche Geistigkeit nahebringen, unter anderem mit der im Pariser „L’Europe littéraire“ abgedruckten Artikelserie „Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland“, die später zur „Romantischen Schule“ erweitert wurde. Schon nach einem Jahr Paris-Aufenthalt glaubte Heine, eine positive Zwischenbilanz ziehen zu können: „Wir haben beide, Franzosen und Deutsche, in der jüngsten Zeit viel voneinander gelernt; jene haben viel deutsche Philosophie und Poesie angenommen, wir dagegen die politischen Erfahrungen und den praktischen Sinn der Franzosen“. Was bei den politischen Nachhilfestunden für die Deutschen herausschauen sollte, waren nach Heines Auffassung aber nicht Revolution und Republik wie bei Börne (jedenfalls nicht als realisierbare Nahziele), sondern konstitutionell-monarchische Verfassungen. „Ich glaube nicht so bald an eine deutsche Revolution“, bekannte er, „und noch viel weniger an eine deutsche Republik; letztere erlebe ich auf keinen Fall“. Zur Begründung wies Heine auf die Autoritätsgläubigkeit der Deutschen hin. „Deutschland“, schrieb er, „kann keine Republik sein, weil es seinem Wesen nach royalistisch ist“. „Der Glaube an Autoritäten“, fuhr er fort, sei bei den Deutschen noch nicht „erloschen, und nichts Wesentliches drängt sie zur republikanischen Regierungsform. Sie sind dem Royalismus nicht entwachsen“. Das „konstitutionelle Königtum“ dagegen sei für die Deutschen die zeitgemäße Verfassung, werde „von der Gegenwart, von Uns in Deutschland, verlangt“. Heine prophezeite das Scheitern der revolutionären Bewegung, wie sie von deutschen Republikanern wie Philipp Jacob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth im Umkreis des Hambacher Festes von 1832 in Gang gesetzt worden war. Anspielend auf die Aktivitäten des Revolutionärs Wirth meinte er in Verkehrung des bekannten Sprichworts: „Armer Wirth! du hast die Rechnung ohne die Gäste gemacht!“. Zweifellos räumte Heine dem Republikanismus in Frankreich eine viel größere Chance ein als in Deutschland. Aber auch hier hatte er beobachten müssen, dass die Republikaner die großen Verlierer der Revolution von 1830 gewesen waren. Im Grunde hielt er – wiederum im Gegensatz zu Börne – die konstitutionelle Monarchie auch für die adäquate politische Repräsentationsform Frankreichs. Diese Verfassung existierte bisher mehr in der Idee als in der Wirklichkeit, unter dem Bürgerkönig war sie noch keineswegs durchgesetzt worden. Nur England kannte eine alte Praxis, die sich diesem Ideal zumindest näherte. Dort ermöglichte sie liberalen, ausgesprochen antiabsolutistischen Politikern wie dem von Heine verehrten George Canning ein erfolgreiches Wirken. Dem langjährigen britischen Außenminister (als solcher unterstützte er den Befreiungskampf
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der Griechen) gewährte Heine sogar die Ehre des Vergleichs mit Napoleon. Beim Studium der Revolution von 1789, wie er sie damals betrieb, gelangte Heine zu der Auffassung, dass der Konstitutionalist Mirabeau „der eigentliche Repräsentant seiner Zeit“ gewesen sei, „daß Mirabeau seine Zeit am tiefsten begriffen“ habe, „daß er nicht sowohl niederzureißen als auch aufzubauen wußte“. An Präzision ließ Heine es nicht fehlen, wenn er die konstitutionelle Monarchie definierte. „Indem ich das Wesen des Absolutismus dadurch bezeichne“, dozierte er, „daß in der absoluten Monarchie der Selbstwille des Königs regiert, bezeichne ich das Wesen der repräsentativen, der konstitutionellen Monarchie um so leichter, wenn ich sage: diese unterscheidet sich von jener dadurch, daß an die Stelle des königlichen Selbstwillens die Institution getreten ist“, also „ein System von Staatsgrundsätzen, die unveränderlich sind“. Börne stimmte mit Heine darin überein, dass Deutschland zur Beförderung des politischen Fortschritts im Sinne wachsender bürgerlicher Freiheiten eine Schulung an und Bekanntschaften mit französischen Zuständen nur guttun könnte. In den „Briefen aus Paris“ begann er aber gegen Heine als milden, unsicheren Ästheten zu sticheln, sah sich als „Geschichtstreiber“ im Gegensatz zum bloßen „Geschichtsschreiber“ Heine. Solche Abgrenzungen klangen wenig überzeugend. Milde politische Urteile hätten die Regierung Metternich nicht veranlasst, Heine soviel Scherereien zu bereiten. Ähnlich wie Heine schon in den „Reisebildern“ fragte auch Börne in den „Briefen aus Paris“: „Liegt Frankreich in dem nämlichen Europa, in dem auch Deutschland liegt? Ein Fluß, über den jeder Hase schwimmt, kann er die Freiheit von der Tyrannei abhalten oder Sklaven, herüberzukommen?“ Während Frankreich „seit vierzig Jahren der Krater Europas“ sei, der „Feuer“ werde, zittere man östlich des Rheins, „wenn einige Franzosen mit liberalen Reden in ihrer Maultasche durch Deutschland reisen“, und schreie „entsetzt: Propaganda, Propaganda!“ Die Vorstellung, dass Frankreich von einem Philosophieimport aus Deutschland profitieren könne, war bei Börne weniger ausgeprägt als bei Heine. Ihm ging es vor allem um eine Vermittlung revolutionären, demokratischen, republikanischen Denkens aus Frankreich nach Deutschland. Wenn irgend möglich, sollte der politische Fortschritt der Franzosen den Deutschen zugutekommen. Eine Konföderation der beiden Staaten propagierte Börne auch aus einem außenpolitischen Grund: Nur ein geeintes Europa werde sich vor den Übergriffen Russlands schützen können. Eine solche Vereinigung dachte Börne sich als Nahziel. Er verzichtete beim Vorschlag dieses Projektes auf die republikanische Staatsform und schlug – nicht ohne revolutionäre Hintergedanken – statt dessen die konstitutionelle Monarchie vor. Er führte dazu aus: „Wir haben nämlich den Plan gemacht, Frankreich und Deutschland wieder zu einem großen fränkischen Reiche zu vereinigen. Zwar soll jedes Land seinen eigenen König behalten, aber
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beide Länder eine gemeinschaftliche Nationalversammlung haben. Der französische König soll wie früher in Paris thronen, der deutsche in unserem Frankfurt und die Nationalversammlung jedes Jahr abwechselnd in Paris oder in Frankfurt gehalten werden“. Dass Börne mit dieser Idee nicht durchdringen werde, muss ihm selbst klar gewesen sein. Er schloss damit an die Europa-Utopie Saint-Simons und Thierrys an, die ebenfalls von einem Nukleus-Europa als Voraussetzung der künftigen Vereinigung des Kontinents ausgegangen waren. Hatten sie die Kombination Frankreich – England vorgeschlagen, ging Börne von der französisch-deutschen Union aus; hatten Saint-Simon und Thierry auf die in beiden Ländern existierende demokratische Tradition verwiesen und als Verfassungstheoretiker argumentiert, brachte Börne als Historiker die ehemals existierende Einheit der zwei Völker im karolingischen Reich ins Spiel. „In wenigen Jahren wird es ein Jahrtausend“, schrieb er, „daß Frankreich und Deutschland, die früher ein Reich bildeten, getrennt wurden. Dieser dumme Streich wurde, gleich allen dummen Streichen in der Politik, auf einem Kongresse beschlossen, zu Verdun im Jahre 843“. Mit den ausgearbeiteten Europaplänen Saint-Pierres oder Saint-Simons lassen sich die eingestreuten Ideen zur Unifikation bzw. Pazifizierung des Kontinents bei Börne und Heine nicht vergleichen. Beide verstanden ihre publizistisch-literarische Arbeit als Propädeutik einer politischen Kunst der Vereinigung Europas. Auch Heine bekannte sich zum Bündnis der beiden Völker bzw. der europäischen Völker allgemein. Er führte zum Thema aus: „Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen, das große Völkerbündnis, die Heilige Allianz der Nationen, kommt zu Stande, wir brauchen aus wechselseitigem Mißtrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freiheit. Dieser Wirksamkeit bleibt mein ganzes Leben gewidmet; es ist mein Amt“. Selten schlug Heine einen feierlich-ernsteren Ton an. Hier verdeutlichte er mit Nachdruck, dass die Kombination von Freiheit, Einheit und Friede auf dem Kontinent das Telos seiner schriftstellerischen Arbeiten ausmachte. Er entwarf hier im Gegenzug zur equilibristischen Machtpolitik der Restauration das Bild eines freiheitlichen, entmilitarisierten, unifizierten und pazifizierten Europas, einer im Wortsinne „Heiligen Allianz der Nationen“. Dass man bei dieser Propädeutik nicht nur die Rolle des Lehrenden, sondern auch die des Lernenden einnahm, nicht nur den Status des Wissenden, sondern auch den des unsicheren Erkunders innehatte, zeigt eine Stelle in Börnes Briefen, in der es heißt: „Ich kann es Ihnen nicht länger verschweigen, daß die europäischen Angelegenheiten, die ich, wie Sie wissen, so gut auswendig kannte als
Hartmut Steinecke zur Romanpoetik seit Goethe
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das Einmaleins, anfangen, mir über den Kopf zu steigen. Anfänglich hielt ich sie unter mir, indem ich mich auf den höchsten Stuhl der Betrachtung stellte; aber da sind sie mir bald nachgekommen, und ich kann jetzt nicht höher“. Dass sie es als jüdische Kosmopoliten es für ihre Aufgabe hielten, gegen nationale Beschränkungen anzukämpfen und für die Vereinigung der Völker zu streiten, wurde von Börne direkt ausgesprochen. Der Kampf des Judentums um Emanzipation wurde Heine wie Börne zum Paradigma der Befreiung des Menschen allgemein. Börne bekannte: „Ja, weil ich als Knecht geboren, darum liebe ich die Freiheit mehr als ihr. Ja, weil ich die Sklaverei gelernt, darum verstehe ich die Freiheit besser als ihr. Ja, weil ich in keinem Vaterlande geboren, darum wünsche ich ein Vaterland heißer als ihr“. Dieses Vaterland wünschten Börne und Heine sich als ein europäisches und kosmopolitisches.
Hartmut Steinecke über Romanpoetik seit Goethe Neue Zürcher Zeitung (5./6.3.1988) Romanpoetik – wen außer ein paar Studenten und Professoren der Germanistik beschäftigt das schon? Wissenschaftliche Solidität und Verständlichkeit, Spezialisierung in der Forschung und Behandlung allgemein interessierender Fragen, so zeigt diese Studie erneut, schließen einander keineswegs aus. Hartmut Steinecke hat ein anregendes und informationsreiches Buch geschrieben, das mehr enthält, als sein Titel verspricht. Es ist eine Art kleiner deutscher Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, in der – ausgehend vom Roman und seiner Poetik – die jene Zeit bewegenden Themen und beherrschenden Tendenzen in der Konstellation Gesellschaft-Individuum-Geschichte vergegenwärtigt werden. Der Roman war im 19. Jahrhundert in ganz Europa das mit Abstand wichtigste literarische Medium, und von dem Ausmaß der damaligen Romanindustrie kann man sich heute kaum noch ein Bild machen. Steinecke behandelt lediglich die sogenannte Höhenkamm-Literatur und ihre Ästhetik, und was den Trivialroman, der damals die Masse der Produktion ausmachte, betrifft, so bleibt es bei Hinweisen. Aber das liegt bei einer Arbeit, in der es um Romanpoetik geht, in der Natur der Sache. Drei Romantypen sind es, mit deren Struktur, Intention und Rezeption sich Steinecke auseinandersetzt: der Individualroman (bzw. Bildungsroman) in der Art von Goethes „Wilhelm Meister“, der „demokratische Roman“ (bzw. Zeit-, d.h. Gegenwartsroman) der Jungdeutschen und des – von Steinecke neu entdeckten – Charles Sealsfield sowie der historische Roman von Alexis bis Fontane, der ohne das Paradigma „Waverley“ von Walter Scott nicht denkbar ist. Zu den Vorzügen dieser Studie gehört nicht zuletzt, dass gängige Schemata und
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zum Klischee erstarrte Klassifizierungen nicht übernommen werden. Der Autor weist darauf hin, dass die erwähnten Romantypologien heuristischen Charakter haben und dass eine Vielzahl von Romanen Züge des Individual-, des Zeit- und des historischen Romans aufweisen. Weder ist die Schilderung wirkungsmächtiger gesellschaftlicher Kräfte im Individualroman noch ist die ausschlaggebende Rolle von Einzelhelden in einer Reihe von historischen Romanen zu übersehen. Steinecke meistert die schwierige Aufgabe, die Entwicklung des Romans sowohl in ihrer Verflechtung mit den soziopolitischen Gegebenheiten wie auch im Kontext der Entfaltung der Gattung in Europa vor Augen zu führen und durchsichtig zu machen. Goethes Entscheidung für einen Roman, dessen Mittelpunkt nicht gesellschaftliche Veränderung, sondern die Bildung einer einzelnen Persönlichkeit ausmacht, hing, wie er selbst betonte, von der spezifischen geschichtlichen Situation Deutschlands ab, in der er sich befand. Und wenn die Jungdeutschen nach der Revolution von 1830 den Zeit- bzw. Demokratieroman favorisieren und sich aggressiv von allem Goetheanisch-Individuellen absetzen, so wird auch hier das Ineinander von Politik und Kunst deutlich. Ausführlich geht Steinecke auf die Wirkung Walter Scotts auf den deutschen historischen Roman von Willibald Alexis bis Theodor Fontane ein. Allerdings hat er dabei ausschließlich den Romantypus „Waverley“ im Auge, d.h. einen historischen Roman, der eine ausgesprochene Nähe zum Zeitroman aufweist. Der – auch in Deutschland – nicht minder einflussreiche Scottsche „Ivanhoe“-Typus, also der historische Roman im eigentlichen Sinne, der ein Jahrhunderte zurückliegendes Geschehen behandelt, bleibt dabei unberücksichtigt. Thomas Mann ist der Erbe dieser vielschichtigen und vielgesichtigen deutschen Romankunst des 19. Jahrhunderts, die nicht ohne die Wirkungen des englischen, französischen und russischen Romans und nicht ohne den Einfluss der amerikanischen Demokratie zu denken ist. Steineckes Arbeit ist nicht nur eine gescheite Analyse der Romanpoetik, sondern macht mit ihren vielen Hinweisen auf zum Teil vergessene Bücher wieder Lust aufs Lesen, aufs Schmökern in den Romanregalen mit den Signaturen von A wie Alexis bis Z wie Zola. Hartmut Steinecke, Romanpoetik von Goethe bis Thomas Mann. Entwicklungen und Probleme der ‚demokratischen‘ Kunstform in Deutschland. München: Fink, 1987.
Jochen Schmidt über den Genie-Gedanken
Jochen Schmidt über den Genie-Gedanken
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Jochen Schmidt über den Genie-Gedanken seit dem 18. Jahrhundert Neue Zürcher Zeitung (2./3.11.1985) Eine achthundertseitige Abhandlung kann man nur zu einem Gegenstand verfassen, der einen gepackt und lange nicht losgelassen hat. Jochen Schmidts Studie über „Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945“ merkt man die Faszination an, die das Thema auf ihn ausgeübt hat, und diese Faszination überträgt sich auf den Leser. Fast wäre man geneigt, von einem „genialen“ Wurf zu sprechen, würde der Begriff der Genialität nicht gerade durch Schmidt problematisiert. Hier liegt eine gründliche und – bei aller Gelehrsamkeit – eingängig geschriebene Arbeit vor. Der Tübinger Germanist legt eine Kulturgeschichte des Genie-Gedankens in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert vor, aber dabei bezieht er eine Reihe nicht-deutschsprachiger – vor allem französischer und englischer – Autoren mit ein. Die Grenzen germanistischer Forschungsansätze werden gesprengt: Es ist eine ausgezeichnete interdisziplinäre und komparatistische Untersuchung, in der geistes- und sozialgeschichtliche Methoden sinnvoll kombiniert wurden. Genau besehen hat Schmidt zwei Bücher miteinander verbunden: Eingebettet in die großangelegte Studie, findet sich eine Spezialarbeit von Buchumfang über Goethe und den Genie-Gedanken. Schmidt zeigt, wie sich die Genievorstellungen vom frühen Goethe des Sturm und Drangs („Wandrers Sturmlied“) bis zum Alterswerk („Wilhelm Meisters Wanderjahre“) ändern. Pindar war es, der vom jungen Goethe (und seinen Freunden) zum Paradigma des Genies erhoben worden war; ihm strebt er in seinen frühen Oden und Hymnen nach. Im „Faust“ leidet der Held am unschöpferischen, nichtauthentischen Dasein. Über „Clavigo“, „Werther“ und „Tasso“ wird aber deutlich, dass Goethe die ehemals gepriesene Autonomie, die Verneinung aller gesellschaftlichen Normen suspekt wird. In den „Wanderjahren“ schließlich erteilt er der Idee des autonomen Künstlers und der verabsolutierten Subjektivität eine Absage. Schmidt untersucht die Verflechtung von Geniekult und Emanzipation im 18. Jahrhundert. Die „Geniezeit“ in Deutschland (1760 bis 1775) ist jene Epoche, in der sich der Schriftsteller sowohl aus den höfischen Bindungen wie von den Verpflichtungen des Gelehrtenstandes emanzipiert. Man will nicht mehr im horazischen Sinne Ergötzliches oder Belehrendes dem Fürsten und der Hofgesellschaft bieten, vielmehr wird auf Originalität und Unabhängigkeit gepocht. Die Entwicklung eines bürgerlichen Lesepublikums ermöglicht die Distanzierung vom Hof. Es dauert eine Weile, bis die Genie-Zeitler die neuen Schranken und Abhängigkeiten erkennen, die der literarische Markt mit sich bringt. Zur Symbolfigur der
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Ablehnung traditioneller Autorität wird Prometheus gewählt, und im Gebiet des Dramas avanciert Shakespeare zur paradigmatischen Gestalt des dichterischen Genies. Die Entwicklung auf diese Umbruchsituation hin hat Schmidt erhellend und ausführlich nachgezeichnet: Der Streit zwischen den Anhängern der antiken und der modernen Kunst im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die Wendung Gottscheds gegen die Barockliteratur, die Kritik Bodmers, Breitingers, Lessings und der Stürmer und Dränger an Gottsched als Hörigem der französischen Klassizisten und ihrer Regelpoetik – all dies wird unter dem Aspekt der Geniedebatte dargelegt. Aufschlussreich ist auch die Linie, die Schmidt von der Aufklärung über den Idealismus bis zur Romantik verfolgt. Für Kant ist jeder, der etwas erfindet, ein Genie. Bei Schelling steht nicht das Genie selbst im Mittelpunkt, sondern das dichterische Kunstwerk als Genieprodukt, als Manifest und Repräsentant des Absoluten. Jean Paul wird das Geniale bereits wieder fragwürdig: seinen „Titan“ versteht er als Anti-Titanen. Noch bei Thomas Mann und Musil spielt – wenn auch ironisch gebrochen – die Idee vom genialischen Dichter eine Rolle; erst Hermann Broch meldet diesbezüglich im „Tod des Vergil“ radikale Skepsis an. Lehrreich ist ferner Schmidts Analyse der politischen Genie-Ideologie und des Führerkultes von Nietzsche bis Hitler. Ähnlich präzise entfaltet er in einem vorausgehenden Kapitel die Verblendungszusammenhänge bei der Verehrung des „Genius“ Napoleon während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2 Bände. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985.
4. Europa-Diskurs: Literatur und Politik
Streit über Europas Zukunft DIE ZEIT (24.7.2014) In der ZEIT vom 10. Juli forderte der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, dass man den „Wahn“ von der europäischen „Vereinigung“ endlich aufgeben und stattdessen „im Überlebensinteresse aller europäischen Nationen“ ein „Bündnis“ schaffen sollte, das neben dem „ökonomischen“ auch das „militärpolitische“ Interesse des Kontinents in Rechnung stellte. Für die Vertretung dieser beiden Interessen gibt es bereits zwei Institutionen: die Europäische Union und die NATO. Auch aus Bohrers nationaler Perspektive gesehen existiert eigentlich kein Grund, die EU zu zerstören, denn Brüssel ist von dem unterstellten „utopischen“ Einigungswahn denkbar weit entfernt. Es handelt sich um eine föderal strukturierte Organisation, in der im Machtdreieck von Kommission, Europäischem Rat und EU-Parlament die nationalen und die gemeinschaftlichen Ziele verhandelt werden. Die EU ist deshalb schon jetzt jenes von Bohrer geforderte „Bündnis“, das die wirtschaftliche Integration befördert. Und nun will ausgerechnet der EU-feindliche Karl Heinz Bohrer ein kontinentales Bündnis aus dem Hut zaubern, das sich auch noch die Aufgabe der militärischen Verteidigung aufbürdet. Gleichzeitig möchte er alle nationalen Empfindlichkeiten, alle kulturellen Differenzen der Mitgliedsstaaten bis in die sprachlichen Unterschiede hinein berücksichtigt wissen. Wie soll das ausgerechnet in einem militärischen Bündnis möglich sein? Die meisten Staaten der EU sind Mitglied des Nordatlantischen Vereinigungsbündnisses und wollen es bleiben. Sicher könnte man sich eine Europäische Union vorstellen, die auch militärische Kompetenzen besitzt. Solche Innovationen bekommt man aber nicht dadurch hin, dass man, wie Karl Heinz Bohrer es tut, Deutschland auffordert, den „Willen zur Macht“ innerhalb der neuen, von ihm inaugurierten Europa-Allianz von Wirtschaft und Militär herauszukehren. Es lässt sich leicht vorstellen, was Frankreich und England, Italien und Spanien davon halten würden. Auch der intellektuelle Europa-Diskurs wird von Bohrer entstellend zitiert, wenn er behauptet, „Europa“ sei ein „seit 150 Jahren etabliertes Phantasma“. Man unterscheidet im Europa-Diskurs, der viel älter als 150 Jahre ist, zwischen den institutionellen Plänen einer Föderation und den kulturellen Überlegungen zur kontinentalen Identität. Eine klare Trennung der beiden Varianten hat es nie gegeben. Ideen einer europäischen Wertegemeinschaft standen im Hintergrund der institutionellen Projekte, und Gedanken zur kulturellen Erneuerung kamen nur selten ohne Hinweis auf politisch-föderale Konstrukte aus. Es waren französische Denker und Praktiker, die den institutionellen Diskurs etablierten. Während und nach großen Kriegen haben sie die Idee föderaler Strukturen in Europa ven-
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tiliert, um weitere Verwüstungen zu verhindern. Man denke an den Herzog von Sully (mitten im Dreißigjährigen Krieg), an den Abbé de Saint-Pierre (nach dem Spanischen Erbfolgekrieg), an Jean-Jacques Rousseau (im French and Indian War), an Claude Henri de Saint-Simon (nach den Napoleonischen Feldzügen), an Victor Hugo (nach der 1848er-Revolution). Hugo inspirierte Bertha von Suttner zu Plänen einer europäischen Wirtschaftsunion (nach einer Serie von Kriegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), und ihr Schüler Richard CoudenhoveKalergi setzte den Diskurs mit seinem Buch und der paneuropäischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg fort. Die Pläne Coudenhove-Kalergis waren ausgesprochen pragmatisch: Sein Stufenplan sah als realistisches Nahziel die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor. Das war für die europäische Rechte bereits ein Sakrileg. Die Gründer der Montanunion und der EWG aber verdankten ihm als Ideengeber viel. Parallel dazu entwickelte sich seit der Frühromantik ein kultureller EuropaDiskurs, an dem Novalis und Chateaubriand, Giuseppe Mazzini, Adam Mickiewicz und Heinrich Heine beteiligt waren, der aber im 19. Jahrhundert in allen Ländern Europas durch die nationalen Diskurse verdrängt wurde. Erneut belebt wurde er durch Nietzsche, den Vertreter einer militanten Idee des „guten Europäers“. Nach den beiden Weltkriegen erfuhr der Diskus eine Renaissance, was verständlich ist, denn die nationalen Gegensätze hatten Europa materiell und intellektuell nicht nur an, sondern in den Abgrund geführt. Da ist an Namen zu erinnern wie Romain Rolland, Stefan Zweig, Thomas Mann, José Ortega y Gasset, Hugo von Hofmannsthal, André Gide, T. S. Eliot, Ernst Jünger und Reinhold Schneider. In den achtziger Jahren, als die Länder hinter dem Eisernen Vorhang ihre Befreiung von der Sowjetunion unter der Devise „Zurück nach Europa!“ vorbereiteten, gab es eine Mitteleuropa-Debatte, die unvergessen bleiben wird und mit Namen wie György Konrád, Milan Kundera und Václav Havel verbunden ist. In den deutschsprachigen Ländern ist an aktuelle und kontroverse Beiträge von Hans Magnus Enzensberger und Peter Schneider aus der Bundesrepublik, Adolf Muschg aus der Schweiz, Barbara Frischmuth und Robert Menasse aus Österreich zu erinnern. Diesen Autoren und Autorinnen kann man nicht vorwerfen, dass ihre Essays Dokumente intellektueller „Einebnungen“ und realitätsferner „Utopien“ seien. Wenn man die Quintessenz der vielen Beiträge zusammenfassen will, sind drei Einsichten zu nennen: Erstens wird „Europa“ nicht als eine Idee vorgestellt, der ein Alleinvertretungsanspruch zugesprochen würde. Andere kollektive Identitäten wie die der Familie, der Stadt, der Region und der Nation werden in ihren Eigenheiten profiliert. Aber diese Teilidentitäten summieren sich noch nicht zu einer europäischen Identität. Die wird vielmehr in kulturhistorischen Analysen herausgearbeitet als etwas Gemeinsames, an dem die Nationen partizipieren.
Streit über Europas Zukunft
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In Zeiten eines zerstörerischen Nationalismus konnte so – mit Hofmannsthal zu sprechen – an die europäischen „Gemeinbürgschaften“ als Voraussetzung einer Politik des Ausgleichs und des Friedens erinnert werden. Zweitens haben die kontinentalen Gemeinsamkeiten mit kulturellen Institutionen zu tun, die sich im Lauf von Jahrhunderten in Europa durchgesetzt haben und die man vor allem dem griechisch-antiken Erbe verdankt. Ihr dialogisches Zusammenspiel ist eine europäische Besonderheit. Da sind der Tempel, das Theater, die Agora, die Akademie und das Gymnasium. Für diese Institutionen ist seit der Antike die Koexistenz bezeichnend, das heißt, keine von ihnen kann auf Dauer alle anderen dominieren, keine die Fragen der anderen beantworten. Theokratie ist so uneuropäisch wie eine Politik, die nur dem Markt gehorcht, oder eine Universität, die zur ideologischen Indoktrinierung dient. Drittens gibt es auf dem Kontinent geschichtliche Prägungen, die es in dieser Konstellation in anderen Kulturen nicht gegeben hat, womit Faktisches in Erinnerung gebracht, nicht aber ein Werturteil gefällt wird. Neben der doppelten Antike mit Athen und Rom wirkt auch eine doppelte Religion nach, die christliche, zu deren Grundtexten das jüdische Alte Testament gehört. Zu den historischen Einschnitten, die ganz Europa betreffen, gehört die Akzeptanz des Christentums im Römischen Reich unter Kaiser Konstantin, gehören die Friktionen zwischen Kirche und Staat im Mittelalter, gehört das Auseinanderdriften von lateinischer und orthodoxer Christenheit, zählen die Renaissance und der Humanismus als Wiederentdeckung der Antike, zählt die jahrhundertelange Konfrontation mit dem Osmanischen Reich, zählen die europäische Kolonisierung ganzer Weltteile sowie der Prozess der Dekolonisierung, gehört die Reformation wie die Gegenreformation, gehören die Bauernkriege und der Dreißigjährige Krieg, zählen die Aufklärung wie die Französische Revolution, die Romantik wie die Restauration und in Reaktion auf letztere die europäischen Revolutionen von 1830 und 1848. Zu nennen sind fürs 20. Jahrhundert vor allem der Erste und der Zweite Weltkrieg, die beide als europäische Kriege begannen. Zu erinnern ist an den Holocaust als Kulturbruch, an die Teilung des Kontinents nach der Konferenz von Jalta und seine Wiedervereinigung nach dem Fall der Berliner Mauer, woraus sich neue kulturelle Verwerfungen, ökonomische Krisen und politische Konfrontationen ergeben haben. In zahllosen Essays haben die Intellektuellen des Kontinents über die europäischen Besonderheiten und die Gemeinsamkeiten nachgedacht und oft genug einen politischen, wirtschaftlichen und juristischen Rahmen gefordert, der die Gemeinsamkeit zum Ausdruck bringt und schützt. Insofern ist die Europäische Gemeinschaft mit all ihren Schwächen durchaus ein Ergebnis europäischer Ratio nalität und Pragmatik. Als solche bedarf sie permanenter Kritik, aber was man nicht braucht, sind leichtfertige Plädoyers für ihre Auflösung, Vorschläge, die zudem so vage sind, dass sie in der Praxis nicht berücksichtigt werden können.
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Die Schriftsteller und das europäische Projekt Merkur 65.1 (2011) Breisach ist eine deutsche Stadt an der französischen Grenze, zum Elsass hin auf halbem Weg zwischen Freiburg und Colmar gelegen. Dort wurde am 9. Juli 1950 ein europaweites Probereferendum über einen demokratischen europäischen Bundesstaat veranstaltet. Es handelte sich um eine Initiative Eugen Kogons, der damals erster Präsident der Europa-Union Deutschland geworden war. Eine solche selektive Volksbefragung erfolgte gleichzeitig in zwei anderen deutschen Städten, und überall war die Abstimmung mit über 90 Prozent Ja-Stimmen ein großer Erfolg. Seit 1950 nennt sich Breisach „Europastadt“. In Erinnerung an jene Abstimmung bat der Bürgermeister von Breisach ein halbes Jahrhundert später den Freiburger Bildhauer Helmut Lutz, eine Europaskulptur zu schaffen. Die steht nun seit zehn Jahren auf dem Münsterplatz der Stadt und trägt den Titel Europa greift nach den Sternen. Gezeigt wird die Entführung der mythischen Europa durch Zeus als Stier. Der ist auf gegenständliche Weise aus schwarzem griechischen Marmor gearbeitet, und seine Mühen, sich durch die Wellen zu kämpfen, die hier mit aufgewühlten Pflastersteinen verbildlicht werden, sind ihm anzumerken. Fast hat man den Eindruck, er bleibe auf dem Weg zu seinem Ziel stecken. Auf seinem Rücken steht oder tanzt eine abstrakte weibliche Figur aus Bronze, die sich schlank zu einem Stern streckt, der in der Luft zu schweben scheint. Das Denkmal sei erwähnt, weil es an die beiden Hauptrichtungen des Europadiskurses erinnert, an die Vertreter der institutionalistischen Richtung zum einen, an die Repräsentanten der kulturalistischen Gruppe zum anderen. Der erdgebundene Stier von Breisach symbolisiert gleichsam die Anstrengungen der Institutionalisten, praktikable Einheitspläne zu schmieden; und die luftleichte Europa steht für die Imaginationen der Kulturkritiker mit ihren Rekursen auf Mythos, Religion, Ethik oder Geschichtsphilosophie. Zudem hat Helmut Lutz auf der anderen Seite des Rheins, im französischen Neuf-Brisach, mit der künstlerischen Gestaltung des ehemaligen Festungssterns ein weiteres Europadenkmal errichtet, und so wird auch hier an die Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich erinnert, wie sie in den beiden Richtungen des Europadiskurses immer wieder verdeutlicht wird. Erinnert aber sei an das Probereferendum in Breisach vor sechzig Jahren auch deswegen, weil hier ein europäischer Bundesstaat gefordert wurde: ein Projekt, das bei einem heutigen Referendum wohl keine Chance hätte. Über die Jahrhunderte hin haben Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaftsschichten aus vielen europäischen Ländern zum Europadiskurs beigetragen:
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Schriftsteller, Politiker, Philosophen, Vertreter der Kirchen und der Wissenschaft. Dieser Diskurs war vor allem ein Friedensdiskurs, der seine ethische Energie aus der Opposition zu großen Kriegen bezog. Er schuf Imaginationen, die als Erinnerungen Zeiten der Stabilität und der Harmonie beschworen und die als Utopien Vorstellungen von einem künftigen Europa schufen, das Institutionen bauen sollte, um Kriege zu verhindern. Dieser Europadiskurs als Friedensdiskurs reicht von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart: ein Dialog über die Jahrhunderte hin. Der deutsch-französische Antagonismus wie auch die deutsch-französische Freundschaft waren besonders wichtige Antriebskräfte der Europa-Essayistik. Man kann eine Genealogie dieses Diskurses rekonstruieren. Sie reicht vom „Großen Plan“ des Herzogs von Sully bis zu Giscard d’Estaings Verfassungsvertrag für die Europäische Union, von Novalis’ Europavorstellungen bis zu Adolf Muschgs Essay „Was ist europäisch?“. Innerhalb dieses Europadiskurses gibt es zwei Grundrichtungen, eine politisch-pragmatische und eine philosophischkulturelle: Entwürfe für verwaltungsmäßige Institutionen, ohne die das Projekt eines europäischen Staatenverbundes nicht funktionieren kann; Religiöses und Ethisches, also die kulturelle Basis eines kontinentalen Gemeinwesens. Der politisch-pragmatische Essay wurde vor allem von Politikern und Publizisten verfasst und dominierte in Frankreich, der religiöse bzw. ethische, auf gemeinsame zivilisatorische Werte ausgerichtete Europa-Essay wurde von Schriftstellern beigesteuert und herrschte in Deutschland vor. Die Vertreter beider Richtungen waren Visionäre, denn die Art von neuer europäischer Friedensordnung, die inauguriert wurde, hatte in der faktischen Geschichte vergleichbar noch nicht existiert. Der pragmatische und der ideelle Europadiskurs blieben durch die Jahrhunderte hin aufeinander bezogen: immer kritisch, zuweilen konstruktiv, weil man in den Zielen übereinstimmte, nicht selten auch destruktiv, weil kulturelle Werte vertreten wurden, die sich mit den Plänen und Aktionen der Projektemacher nicht vereinbaren ließen. In chronologischer Folge seien einige besonders gewichtige Beiträge zum europäischen Einheits- als Friedensdiskurs vorgestellt. Während der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts, also mitten im Dreißigjährigen Krieg, schrieb Maximilien de Béthune, besser bekannt unter dem Namen des Herzogs von Sully, seine Memoiren. Er war die rechte Hand und der mächtigste Minister des französischen Königs Henri IV. gewesen. Im Zentrum seiner Erinnerungen steht der „Große Plan“, eine europäische Konföderation von fünfzehn Staaten. Niemand vor Sully hat einen so detaillierten, auf Aktion bedachten Vereinigungsentwurf für Europa vorgelegt, und man kann ihm den Titel eines Gründungsdokuments des neuzeitlichen institutionalistischen Europadiskurses nicht absprechen. Kein Wunder, dass noch dreihundert Jahre später der bekennende Europäer Heinrich
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Mann dem Herzog von Sully und noch mehr dessen König Henri IV. ein Denkmal in einem der wirkungsmächtigsten Exilromane errichtete. Hätte Sully nicht die kontinentale Kriegskatastrophe vor Augen gehabt, wäre der „Große Plan“ wahrscheinlich nicht verfasst worden. Hätte er nicht miterlebt, wohin Religionskriege führen können, hätte er vielleicht nicht so vehement für die Toleranz der Konfessionen plädiert. Wäre er nicht durch den Kriegsverlauf davon überzeugt worden, dass das Haus Habsburg als einziger Dauerteilnehmer an diesem Krieg die große, den Frieden gefährdende Macht auf dem Kontinent sei, hätte er nicht so massiv auf der Entmachtung der Kaiserdynastie, das heißt auf der Entflechtung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bestanden. Und hätte er schließlich nicht die Expansionskriege des Osmanischen Reiches vor Augen gehabt, das immer größere Teile Europas annektierte, hätte ein weiterer entscheidender Anstoß für die Niederschrift der Imagination eines konföderierten Europa gefehlt. Sullys Plan ist nicht etwa lediglich ein Beitrag zum Kampf zweier Dynastien – Bourbon und Habsburg – um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Sein „Großer Plan“ bedeutete vielmehr den entscheidenden Paradigmenwechsel vom mittelalterlich-karolingisch-universalistischen Herrschaftskonzept hin zu einem neuzeitlichen Gemeinschaftsdenken. Dieses Denken umgriff erstens die Idee der Mächtebalance der Großmächte und der Souveränität der Nationen Europas, zweitens aber auch eine kollektive supranationale und mit schiedsrichterlicher Kraft ausgestattete Institution, die Sully den „Allgemeinen Europarat“ oder die „Konföderation der Herrscher“ nannte. Diese Institution sollte den Ausbruch kriegerischer Konflikte innerhalb Europas verhindern. Zwischen den Teilnehmern am visionären Europadiskurs des Herzogs von Sully und dem Schriftsteller Novalis liegen Welten: Ersterer gab sich als Praktiker und Institutionalist, Letzterer ist Idealist und Religionsphilosoph. Gottfried Wilhelm Leibniz war beides: Er kannte die politischen, ökonomischen und juristischen Verhältnisse der Zeit so gut wie wenige, und gleichzeitig fügten sich seine Kenntnisse über die Fakten in ein Weltbild, das ohne religiöse Zukunftsvorstellung nicht auskam. Mit dem Argument des Equilibriums der Nationen stand Leibniz bis zu einem gewissen Grad der Sullyschen Position nahe. Sully war die Mächtebalance zur Sicherung des Friedens aber keineswegs genug, und Leibniz war nicht bereit, ihm in die Richtung einer europäischen Konföderation zu folgen. Da war zunächst ein pragmatischer Grund: Leibniz glaubte nicht, dass die europäischen Großmächte sich von einer übergeordneten höchstrichterlichen Instanz Teile ihrer Souveränität beschneiden lassen würden. Zudem hatte er weltanschauliche Gründe: Er lehnte den Europarat auch deswegen ab, weil er an der Rolle des Kaisers als weltlichem Oberhaupt der Christenheit festhielt und diese Funktion nicht in ein solches Staatenbündnis eingeordnet werden konnte.
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In aller Schärfe konturierten sich diese Gegensätze, als der Abbé de SaintPierre zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein umfangreiches Projekt zum Thema des dauerhaften Friedens in Europa verfasste. Saint-Pierre hatte den Spanischen Erbfolgekrieg erlebt und wurde bei den Friedensverhandlungen im niederländischen Utrecht 1713 Berater der französischen Delegation. Dieser Krieg hatte die Spätphase der Herrschaft Ludwigs XIV. überschattet und den französischen Staat an den Rand des Ruins geführt. Erneut waren das Haus Bourbon und das Haus Habsburg in einen kontinentalen Konflikt verwickelt gewesen. Der Grund des Streits war die Thronfolge in Madrid. Der Abbé de Saint-Pierre diskutierte in seinem Buch die inzwischen über siebzig Jahre alten Vorschläge Sullys und baute sie aus. Auch Saint-Pierres vorgeschlagene Konföderation kannte einen Europäischen Rat bzw. Senat, ein Europäisches Sekretariat und einen Schiedsgerichtshof. Der Senat sollte Einfluss auf die Truppenstärke eines jeden Staates haben, doch wären durch ihn auch die wirtschaftlichen Beziehungen der Länder untereinander geregelt worden. Angestrebt war zunächst eine Union der mächtigsten zweiundzwanzig europäischen Staaten. Schon bevor das mehrbändige Projekt in den Jahren 1712/13 zu erscheinen begann, hatte Saint-Pierre darüber mit einer Reihe von Diplomaten und Gelehrten korrespondiert, auch mit Leibniz. An dessen Unterstützung lag ihm schon deswegen viel, weil der Deutsche in Kreisen der politischen Elite Europas hohes Ansehen genoss. Die erhoffte Rückendeckung durch Leibniz blieb jedoch aus. Wie Sully forderte auch Saint-Pierre die Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Es sollte in unabhängige Einzelstaaten aufgeteilt werden, wobei einige Teile an fremde Mächte – Hannover an England, Sachsen an Polen – fallen sollten. Das Paradoxe bei Saint-Pierre war, dass er das Heilige Römische Reich mit seiner praktizierten Koexistenz und Pluralität an sich als ein Modell für das geeinte Europa ansah. Was Saint-Pierre jedoch am Reich störte, war der nach wie vor große Einfluss des kaiserlichen Hauses in Wien. Nur durch die Zerstörung der Reichsstruktur, durch die Beseitigung der kaiserlichen Funktionen würde Österreich ein Land wie jedes andere in Europa werden. Diese Idee traf den empfindlichsten Punkt in Leibniz’ Weltanschauung. Leibniz war sich sicher, dass das Reich den deutschen Ländern so viel wie möglich an Autonomie zugestand, sie aber als Band auch so stark umschloss, dass der Friede zwischen ihnen gesichert war. Er verstand das Reich als geradezu vorbildliches Friedensmodell: Die Kaiser hätten nicht Kompetenzen usurpiert, sondern das Reich vor seinem Zerfall in sich bekriegende Einzelstaaten bewahrt. Ohne das Reich und den Kaiser als Einheitssymbol sei zudem das wichtigste europäische außenpolitische Ziel, die Zurückdrängung des Osmanischen Reiches, nicht
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erreichbar. Auch seine utopische Lieblingsidee von der künftigen Aufgabe des Kontinents, nämlich von der Reunifizierung der Christenheit als Voraussetzung einer globalen Kulturgesellschaft, führte er gegen Saint-Pierre ins Feld, einen Plan also, der ohne den kaiserlichen Herrscher als Schutzherrn der christlichen Welt nicht durchsetzbar sei. Achtzig Jahre nach Saint-Pierre, Ende des 18. Jahrhunderts, meldeten sich aus Deutschland der alte Philosoph Immanuel Kant und der junge Dichter Novalis als Europäer zu Wort. Sie boten keine Föderationskonstruktionen an, sondern dachten über die Bedingungen der Möglichkeit eines Friedensbundes nach. Der inzwischen siebzigjährige Kant veröffentlichte 1795 seine so nüchterne wie weitsichtige Schrift „Zum ewigen Frieden“. Der äußere Anlass war der Friedensschluss, der den ersten Koalitionskrieg gegen die revolutionäre Französische Republik für Preußen beendete. Wie oft bei solchen Verträgen kamen Erinnerungen an frühere Pläne auf, und Saint-Pierres Projekt eines Dauerfriedens war nicht vergessen, wie schon der Titel von Kants Schrift andeutete. Kein Geringerer als Jean-Jacques Rousseau hatte 1761 in Genf Saint-Pierres Vorschlag erneut publiziert und mit einem umfangreichen teils bewundernden, teils kritischen Kommentar versehen. Kant war skeptisch gegenüber föderativen Vereinigungen, wie sie von Saint-Pierre vorgeschlagen worden waren. Er meinte, die Einheitsstrategen hätten bisher übersehen, dass den Staaten in Europa durchweg die Paktfähigkeit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Staatenvereinigung oder einem Völkerbund fehle. Paktfähigkeit besäßen nämlich nur jene Staaten, die gewillt seien, sich einem allgemeingültigen Rechtssystem unterzuordnen. Ohne das Vorhandensein eines solchen generellen Rechtssystems könne die Kooperation in einem Staatenverein nicht funktionieren. Allgemeine Rechtssysteme wiederum seien nicht in absolutistisch, sondern nur in republikanisch verfassten Staaten möglich. Ohne die Paktfähigkeit der Einzelstaaten könne ein transnational wirksames Völkerrecht nicht greifen, und ohne Völkerrecht wiederum sei ein Völkerbund nicht denkbar. Die Paktfähigkeit erläuterte Kant in sechs Präliminarartikeln, die nach wie vor bedenkenswert sind. Besonders die Artikel über die Verschuldung eines Staates bei einem anderen sollte in die Konstitution einer jeden Nation aufgenommen werden. Solche Verschuldungen bedeuten nach Kant das Ende von Einheit und Friede und den Beginn von Feindschaft und Krieg. Nach Kants Langzeitperspektive haben multinationale Föderationen, ja sogar ein Völkerbund, in der Zukunft jedoch eine Chance: vorausgesetzt, jedes Mitglied eines solchen föderativen Vereins garantiere seine republikanische Rechtsfähigkeit. Doch von der konnte man damals nicht sprechen. In Europa wurde nach wie vor absolutistisch regiert, und die Französische Republik war gerade durch eine Terrorphase gegangen, durch Jahre extremster Rechtsunsicherheit.
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Um Langzeitperspektiven und um die Bedingung der Möglichkeit einer Einheit Europas ging es auch Novalis. Der theoretische Ansatz des jungen Romantikers weicht aber völlig von jenem Saint-Pierres und Kants ab; er ist weder institutionalistisch noch juristisch, sondern kulturkritisch: Eine erneuerte Christenheit wird als Voraussetzung eines europäischen „Staatenvereins“, eines „Staats der Staaten“, betrachtet. Zentrale Thesen in Novalis’ Schrift „Die Christenheit oder Europa“ dürften auf Leibniz zurückgehen. Die Idee einer Erneuerung des Reiches, die Begeisterung für das ehemalige Schiedsrichteramt des Papstes, das Postulat der Wiedervereinigung der Christenheit und der daraus folgenden weltzivilisatorischen Bedeutung des religiös erneuerten Kontinents, die Überzeugung auch, dass die christliche Frömmigkeit die höchste Stufe humaner Ethik vorstelle: All das konnte Novalis bei Leibniz nachlesen. Andererseits war Leibniz ein leidenschaftlicher Verfechter des europäischen Gleichgewichts, und dieser rationalen Konstruktion konnte Novalis wiederum nichts abgewinnen. Der Kontext von Novalis’ Essay ist der zweite Koalitionskrieg gegen Frankreich. Der hatte 1799 begonnen, und als Novalis seinen Text schrieb, stand es schlecht für die französischen Truppen. Es ist die Situation maximaler Unsicherheit über die künftigen Entwicklungen auf dem Kontinent, und in diesem historischen Augenblick wagt Novalis einen radikalen Neuansatz innerhalb des Europadiskurses. Novalis, ein stiller Revolutionär, bricht mit den Institutionalisten wie Sully und Saint-Pierre, mit den rechtsphilosophischen Regelungsmechanismen Kants, mit der lutherisch-protestantischen Orthodoxie sowie mit den Literatur- und Kulturvorstellungen der deutschen Klassik Goethes und Schillers. Die Einheit einer Kultur, so sein Argument, gründet in ihrer Religion, das heißt die Einheit Europas steht und fällt mit dem Christentum. Aus der religiösen Einheit resultiert auch die politische, und alles Politisch-Gesellschaftliche soll durch das Christentum geprägt sein, auf dass sich eine soziale Harmonie ergebe. Unifikationskonstruktionen rein politischer oder juristischer Art haben nach Novalis keine Chance auf Realisierung, weil sie nicht den Mittelpunkt der Kultur betreffen, nicht ihr Einheitsband berücksichtigen. Was in den Kabinetten der Regierungen unter dem Aspekt von Gleichgewichtspolitik, Rechtskonstruktion oder Friedensschluss ausgeheckt werde, sei kurzsichtig. Die Anstrengungen der Politiker vergleicht Novalis mit der Arbeit des Sisyphos: Wenn die Religion das Zentrum einer Kultur ausmacht, darf sie in sich nicht gespalten sein. Was Novalis über die Einheit des mittelalterlichen Christentums sagt, widersprach schon zur Zeit der Romantik den Kenntnissen über die faktische Geschichte des Sacrum Imperium Romanum. Der Autor war historisch an sich keineswegs schlecht informiert, aber er brachte seine Kenntnisse in eine geschichtsphilosophische Perspektive, für die in der Vergangenheit ein mythisiertes Bild vom christlichen Mittelalter vorgestellt und im Hinblick auf die Zukunft mit der Utopie
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eines neuen Christentums operiert wurde. Die geschichtsphilosophische Einbettung des Historiografischen ist Novalis wichtig, und damit steht er im Gegensatz zur Geschichtsschreibung als wissenschaftliches Fach, wie es sich zu etablieren beginnt. Das Besondere bei Novalis ist, dass er die mythische Beziehung in seiner geschichtlichen Erzählung explizit benennt und profiliert. Von zwei mythischen Polen aus – einer lange vergangenen Zeit der Harmonie und einer weit vor uns liegenden Epoche des Friedens – wird die Gegenwart in einem Zustand maximaler konfessioneller, politischer und sozialer Antagonismen und chaotischer Zerrissenheit gezeigt. Die retrospektiven Schilderungen der Rolle des Papstes und der Priester, der Harmonie zwischen Religion und Politik, Glaube und Alltag im Sacrum Imperium Romanum waren bewusst idealisiert. Sie knüpften an ein mittelalterliches Selbstverständnis an, dem Gottesauftrag und Gebot, Richtlinie und Wunschbild wichtiger waren als Faktum und Versagen. Schon die karolingischen Panegyriker operierten gerne mit dem Begriff Europa. Wenn sie das Reich Karl des Großen an die Seite der „aurea et imperialis Roma“ stellten, wenn sie den Kaiser „pater Europae“ oder „caput Orbis“ nannten, wussten sie sehr wohl, dass dies nicht im realen Sinne zu verstehen war, sondern als Ausdruck einer Herrschaftsrhetorik, die an den Pax-RomanaMythos anknüpfte, wie man ihn bei Vergil, Ovid, Plinius maior und Livius formuliert fand. Die hatten das Römische Imperium als grenzenlos, als Vaterland aller Völker auf dem Erdkreis betrachtet. Wie stark die Wunschrhetorik des Mittelalters nachwirkte, kann man auch Erasmus’ „Klage des Friedens“ entnehmen, ein pazifistischer Appell, der Novalis beeinflusst haben dürfte. Wenn Erasmus 1517 die Potentaten seiner Epoche als Sinnbilder der Herrschaft Christi unter den Menschen ansprach und wenn er den Klerus als Gott geweihte Priester anredete, wusste er sehr wohl, wie wenig sich die Mächtigen um religiöse Gebote bei der Entscheidung über Krieg und Frieden kümmerten und wie verkommen große Teile der Geistlichkeit waren, deren Verhalten Luther im gleichen Jahr zu den Wittenbergschen Thesen veranlasste. Wie in einem Fürstenspiegel wurde bei Erasmus die Weisheit der Regenten apostrophiert, die sie verstehen lasse, dass Christus zu gefallen, das höchste Glück sei. Schon Erasmus stellte die Religion in den Mittelpunkt, sah die Garantie für den Frieden nicht in Bündnissen, sondern in der Befolgung der christlichen Lehre. Die Abgrenzungen, die Novalis vornahm, bezogen sich nicht nur auf die Vernunftprämissen der Aufklärungsautoren, sondern auch auf die mythisierten Antikevorstellungen der deutschen Klassik. Goethe, der sich sowohl der Griechenverehrung Winckelmanns wie dem Humanitätsideal der Aufklärung verbunden fühlte, startete eine verspätete „Querelle“, in der die Klosterbrüder von Wackenroder über Tieck bis Novalis als Abweichler von seiner Iphigenie-Utopie gesehen
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wurden. Im Generationsstreit zwischen Klassik und Romantik ging die Einsicht in die dialogische Komplementarität von Antike und Christentum im Hinblick auf die Grundlagen der europäischen Kultur verloren: Weder ging Goethe auf die christliche Prägung der aktuellen Antikerezeption ein, noch wollte Novalis die klassisch-römische Durchdringung des lateinischen Christentums wahrhaben. Novalis’ Text steht am Anfang jener Beiträge zum Europadiskurs, die daran erinnern, wie das mythisch-religiöse Kraftfeld in der europäischen Geschichte nachwirkt, in seinen Fortsetzungen in der Moderne, seinen Umformulierungen und Veränderungen durch Aufklärung und Säkularisierung, in seiner Entmythologisierung und Rationalisierung. Die kulturkritischen deutschen Essays um 1800 als Anachronismen abzuwerten, ist unangemessen. Man kann die institutionalistischen und die kulturkritischen Beiträge zum Europadiskurs in ihrer Bezogenheit zueinander sehen, und dann merkt man, dass es gerade diese wechselseitige Kritik der Permanenz, jene französisch-deutsche Diskussion ist, die der eigentliche Motor des kontinentalen Europadiskurses bleibt. Das zeigte sich auch, als jener Dialog erneut am Ende der Napoleonischen Epoche in Gang kam. Der französische Kaiser entsprach und widersprach dem Bild von einem französischen Herrscher, wie Sully und Saint-Pierre sich ihn vorgestellt hatten. Es war ihm zwar gelungen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu zerschlagen, doch lag ihm nichts an der Herbeiführung einer europäischen Konföderation gleichberechtigter Staaten. Nach fast zwei Jahrzehnten Napoleonischer Kriege war die Zeit wieder reif für eine neue kontinentale Friedensinitiative. 1814, unmittelbar nachdem der Kaiser der Franzosen zur Abdankung gezwungen worden war, verfasste Claude-Henri de Saint-Simon zusammen mit dem Historiker Augustin Thierry die bemerkenswerte Vision „Von dem Wiederaufbau der europäischen Staaten-Gesellschaft“. Es war der ausgreifendste Europa-Entwurf des 19. Jahrhunderts, weitsichtiger als alles, was damals beim Wiener Kongress an Allianzideen und Gleichgewichtsvorschlägen produziert wurde. Auch hier kann von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden, sogar von einem doppelten: Zum einen wird erstmals ein europäischer Bundesstaat und nicht bloß ein Staatenbund vorgeschlagen, zum anderen eine demokratische Verfassung für Europa gefordert. Die erste Aufgabe des Europaparlaments bestünde nach Saint-Simon und Thierry in der Schaffung eines einheitlichen Rechtssystems in Europa, mit dem Religions- und Gewissensfreiheit garantiert würden. Damit wäre der Kantschen Paktfähigkeit der Mitgliedstaaten Genüge getan. Auch wenn sich die Franzosen nicht explizit auf „Zum ewigen Frieden“ bezogen, waren sie sich der Forderungen Kants bewusst. Die nationalen Vertretungen sollten Delegierte zu einem europäischen Gesamtparlament entsenden, das über das gemeinschaftliche Interesse
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der europäischen Gesellschaft entscheiden werde. Das Europaparlament müsse mit der Macht ausgestattet werden, die Streitigkeiten der Einzelländer zu schlichten. Als Bedingung für das Funktionieren eines kontinentalen Parlaments verstand man die Entwicklung eines europäischen Patriotismus. Beim Entwurf des Modells für eine europäische Regierung orientierten sich die Verfasser am nationalen englischen Vorbild mit konstitutioneller Monarchie, Oberhaus und Unterhaus. Den Aufbau des vereinigten Europa dachten sich die beiden Autoren in Schritten. Die erste Etappe sollte die Union von England und Frankreich bilden, da jene Länder bereits Erfahrungen mit Konstitutionen vorzuweisen hätten. Diese beiden Staaten würden zunächst eine Art Kerneuropa bilden. Die zweite Stufe würde die Assoziation der beiden Länder mit Deutschland bringen. Saint-Simon und Thierry legten eine außerordentliche Hochachtung vor den Deutschen an den Tag: Sobald Deutschland vereinigt sei und eine frei gewählte Regierung habe, werde diese Nation eine besonders wichtige Rolle in Europa spielen. Wenn die drei Nationen England, Frankreich und Deutschland sich zu einer europäischen Gemeinschaft gefunden hätten, würden sich die anderen Länder der Union bald anschließen. Obgleich Saint-Simon und Thierry sich des utopischen Charakters ihres Entwurfs bewusst blieben, waren sie doch überzeugt, dass sie einen Weg wiesen, den die Geschichte des Kontinents in der Zukunft beschreiten würde. Saint-Simon und Thierry schätzten nicht schlecht, als sie dem Vereinigungsprozess eine Entwicklungszeit von zweihundert Jahren gaben, wobei ihnen allerdings ein Bundesstaat und nicht ein Staatenbund vorschwebte. Am Beispiel der direkten und indirekten Auseinandersetzung mit SaintSimon bei Heinrich Heine und Ludwig Börne lässt sich erkennen, dass der Dialog zwischen Vertretern der deutschen kulturalistischen Europavorstellungen und französischen Institutionalisten produktiv war und keineswegs antagonistisch verlaufen musste. Beide Autoren hielten sich in den Jahren nach der Julirevolution von 1830 in der französischen Hauptstadt auf. Heine dachte wie Saint-Simon in den Kategorien der konstitutionellen Monarchie; Börne war entschiedener Republikaner, aber die Unifikationspläne des französischen Philosophen teilte er in einem hohen Grad. Doch bei Heine und Börne stand die deutsch-französische, nicht die französisch-englische Kooperation im Vordergrund des Interesses. Heine schwebte das Gedanken-Tat-Modell vor Augen, dem zufolge Frankreich die politische Avantgarde und Deutschland den geistigen Fortschritt in Europa vertrat: Wie auf die französische Gedankenperiode der Aufklärung die Tat der Revolution von 1789 gefolgt sei, so werde auch in Deutschland nach der Geistes epoche von klassisch-romantischer Literatur und idealistischer Philosophie eine Ära politisch-gesellschaftlicher Aktion beginnen. Heine sah sich in einer Vermittlerrolle zwischen den beiden Ländern: Den Deutschen gedachte er mit den „Fran-
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zösischen Zuständen“ politische Lektionen zu erteilen, und den Franzosen wollte er deutsche Geistigkeit nahebringen, unter anderem mit der im Pariser „L’Europe littéraire“ abgedruckten Artikelserie „Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland“, die später zur „Romantischen Schule“ erweitert wurde. Börne stimmte in seinen „Briefen aus Paris“ mit Heine darin überein, dass Deutschland zur Beförderung des politischen Fortschritts im Sinne wachsender bürgerlicher Freiheiten eine Schulung an französischen Zuständen nur guttun könne. Die Idee, dass Frankreich von einem Philosophieimport aus Deutschland profitieren würde, war bei Börne weniger ausgeprägt als bei Heine. Ihm ging es vor allem um eine Vermittlung revolutionären, demokratischen, republikanischen Denkens aus Frankreich nach Deutschland. Sowohl Heine wie Börne arbeiteten auf ihre Weise quasi propädeutisch im Sinne von Saint-Simon daran, die Voraussetzungen für eine künftige Föderation der beiden Nachbarstaaten zu schaffen. Heine und Börne waren Kosmopoliten jüdischer Herkunft, die gegen nationalistische Beschränkungen und Beschränktheiten argumentierten und für die Vereinigung der europäischen Völker stritten. Heine sprach vom kommenden „großen Völkerbündnis“, von der „Heiligen Allianz der Nationen“, und Börne gründete 1836 „La Balance“: eine (allerdings kurzlebige) Zeitschrift, die zur Verbrüderung, ja zur Vereinigung von Deutschland und Frankreich beitragen sollte. Vierzig Jahre später, nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, unternahm Victor Hugo einen ähnlichen Vorstoß, als er die politische Union zwischen Deutschland und Frankreich vorschlug. Man könnte fortfahren, die französischen Institutionalisten mit den deutschen Kulturalisten zu vergleichen. Da läge es zum Beispiel nahe, Victor Hugos Idee von den „Vereinigten Staaten Europas“ mit Nietzsches Konzept des „guten Europäers“ in einen Zusammenhang zu bringen. Spätestens seit Richard Coudenhove-Kalergis Buch „Pan-Europa“ aus den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnen sich die nationalen Zuordnungen zu den beiden Hauptrichtungen des Europadiskurses zu verwischen. Der Österreicher Coudenhove-Kalergi schrieb in der Tradition der französischen Institutionalisten, und es ist nicht von ungefähr, dass Aristide Briand Ehrenpräsident der Paneuropa-Union wurde. Zwischen dem Europastrategen Coudenhove-Kalergi und dem frankophilen Schriftsteller Heinrich Mann bestand in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ein Gedankenaustausch, den man in Parallele zur Beziehung von Heine und Börne zu Saint-Simon sehen kann. Coudenhove-Kalergi war der letzte Intellektuelle, der sich mit einem großen institutionalistischen Europa-Entwurf einen Namen machte. Nur wenige Jahrzehnte später, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die konkreten Einigungsentwürfe eine Angelegenheit von aktiven Fach-
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leuten aus den Bereichen Wirtschaft, Justiz und Politik wie Jean Monnet, Walter Hallstein oder Paul Henri Spaak, die nun mit Hilfe vieler Sachbearbeiter tatsächlich Institutionen wie die Montanunion und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bauen. Von nun an treten Schriftsteller wie Reinhold Schneider oder Hans Magnus Enzensberger als kulturalistische Europa-Essayisten nicht mehr in einen Dialog mit namentlich bekannten Institutionalisten, sondern fokussieren ihre Kritik auf kollektive Entscheidungsgremien und Verwaltungszentren in Brüssel. Vor zehn Jahren meldete sich ein Politiker der jüngeren Generation zu Wort: Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hielt am 12. Mai 2000 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Vortrag mit dem Titel „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“. Dabei betonte der Redner allerdings, dass er nicht als Minister, sondern lediglich als „deutscher Parlamentarier“ und „überzeugter Europäer“ spreche. Dieser Vortrag lag auf der Linie der pragmatischen französischen Beiträge und war ohne Giscard d’Estaings Verfassungsentwurf für die Europäische Union nicht vorstellbar. Als der Verfassungsentwurf fünf Jahre später am Votum der Franzosen und Niederländer scheiterte, kam Fischer auch nicht mehr auf seine Föderationsidee zu sprechen. Gleich zu Beginn seiner Rede wehrte Fischer sich gegen jene kulturalistischen Europakritiker, die Brüssel „ins Gerede“ gebracht hätten mit ihrer Behauptung, dass es sich da bloß um „eine bürokratische Veranstaltung“, um eine „seelen- und gesichtslose Eurokratie“ handle, die man „bestenfalls als langweilig, schlimmstenfalls aber als gefährlich“ zu bezeichnen habe. Damit war indirekt Hans Magnus Enzensberger angesprochen, der ein Jahrzehnt zuvor mit seinem Essay „Brüssel oder Europa – eins von beiden“ eine Breitseite auf die Europäische Gemeinschaft abgefeuert hatte. Enzensberger hatte der EG-Kommission quasi diktatorisches, auf jeden Fall vorkonstitutionelles Verhalten vorgeworfen und dem Parlament in Straßburg ein chronisches Demokratiedefizit bescheinigt; er prophezeite, dass die Bürger in Europa eines Tages von der Brüsseler Bürokratie genug haben würden. Um Kritikern wie Enzensberger den Wind aus den Segeln zu nehmen, griff Fischer in die Debatte „um die ‚Vollendung‘ der europäischen Integration“ ein und wollte ihr neue Impulse geben. Er plädierte dafür, „den letzten Baustein für das Gebäude“ der europäischen Einheit einzufügen, „nämlich die politische Integration“. Die Institutionen der EU seien vor mehr als vierzig Jahren für sechs Mitgliedstaaten geschaffen worden, nicht jedoch für eine Gruppe von bald siebenundzwanzig Nationen. Daher sei eine „grundlegende Reform der europäischen Institutionen unverzichtbar“, vom derzeitigen „Staatenverbund der Union“ hin zu einer „Europäischen Föderation“, zu einem Bund, der „sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen“ habe. Diese Europäische Föderation könne nicht auf
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dem Wege der üblichen „verstärkten Zusammenarbeit“ der EU-Mitglieder erreicht werden. Hier sei „ein bewusster politischer Neugründungsakt Europas“ erforderlich. Auf Gegenliebe stieß die Idee der Föderation in den Metropolen der Mitgliedsländer nicht: Sie befürchteten einen weiteren und diesmal entscheidenden Souveränitätsverlust, nämlich die Herabstufung ihrer nationalen Hauptstädte zu regionalen Verwaltungszentren. Aber auch unter den Vertretern des kulturalistischen Europadiskurses wurden Proteste laut. Der Schweizer Autor Adolf Muschg hatte sich in den letzten Jahrzehnten schon öfters zu Europa geäußert. Offenbar provoziert durch Fischers Finalitätsföderation sprach er sich 2005 in seinem Buch „Was ist europäisch?“ gegen eine EU aus, die einer „Super-Nation wie den Vereinigten Staaten“ gleichen werde. Er favorisierte den status quo, einen „Staatenbund“, in dem nationale Grenzen zwar relativiert, aber nichtsdestoweniger bestehen bleiben würden. Wie wird es weitergehen im Europadiskurs, im Streit und im Gespräch der Institutionalisten und der Kulturalisten? Im Augenblick stellt sich ein neues Problem: der wieder zunehmende Nationalismus in fast allen Mitgliedsländern der EU. Doch gerade wenn die europäischen Institutionalisten auf dem Weg stecken bleiben, darf es den Kulturalisten nicht die Sprache verschlagen. Sie sollten dem guten Stern Europas folgen, wie es jene mythische Namensgeberin unseres Erdteils im Breisacher Denkmal vormacht.
Der europäische und der amerikanische Traum Merkur 62.3 (2008) Im Jahr 2007 ist die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Europäische Union fünfzig Jahre alt geworden. Es überrascht, wie wenig feierlich es im Jubiläumsjahr zuging. Denn in diesen fünf Jahrzehnten ist etwas in Europa erreicht worden, wovon man in früheren Zeiten nur hat träumen können: die Befriedung eines Kontinents, der bis dahin nicht ohne maßlose militärische Konflikte auskam, ohne jene Kämpfe, die wie der Dreißigjährige Krieg, die Napoleonischen Feldzüge und die beiden Weltkriege große Teile des Kontinents an den Rand des Untergangs führten. Aber nicht nur, dass die siebenundzwanzig Mitgliedsländer der Europäischen Union sich zur Friedensbewahrung in Europa verpflichtet haben, sie haben auch die Anerkennung der Menschenrechte, die demokratische Staatsform sowie die Abschaffung der Todesstrafe zu ihrer Sache gemacht. Das sind Errungenschaften, die noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa als Phantasmagorien abgetan wurden.
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Noch ein weiterer Grund zum Feiern soll erwähnt werden. Zwischen Nationalisierung und Globalisierung hat sich das Phänomen der Kontinentalisierung geschoben, eine Tendenz, die von den Analytikern der Globalisierung zu wenig berücksichtigt wird. Die Europäische Union ist ungewollt zu einem Modell für andere kontinentale Gruppierungen geworden. Schon in den sechziger Jahren schauten die südostasiatischen Staaten, die sich damals zu ASEAN zusammenschlossen, auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, auf die sogenannten Erbfeinde Deutschland und Frankreich, die es offenbar geschafft hatten, sich auf dem Gebiet von Industrie und Handel im Kontext einer kontinental orientierten Gemeinschaft zu verständigen. Heute ist die Association of South-East Asian Nations ein Stabilisierungsfaktor in Asien geworden. Auch die NAFTA in Nordamerika ist ohne die Europäische Union nicht vorstellbar, und in Lateinamerika bewegen sich die Mercosur bzw. die South American Community of Nations auf eine Union zu. Dort wie auch bei der vor einigen Jahren gegründeten Afrikanischen Union, der inzwischen die Länder des ganzen Kontinents angehören, hat man sich die EU zum Modell gewählt. Wie sieht man heute von Europa aus Amerika, und wie schaut man von den USA aus auf Europa? Historisch gesehen haben viele Europäer Amerika als Modell für ein künftiges föderiertes Europa betrachtet. Und die Amerikaner haben besonders im Kulturellen von Europa lernen wollen. Davon sprechen die zahlreichen brieflichen, essayistischen und romanhaften Auslassungen amerikanischer Intellektueller und Schriftsteller von Benjamin Franklin und Thomas Jefferson über Margaret Fuller und Mark Twain, von Nathaniel Hawthorne bis Henry James und Edith Wharton, von F. Scott Fitzgerald bis Ernest Hemingway und Henry Miller. Heute hat sich im beiderseitigen Blick über den Atlantik etwas verändert, es ist eine tiefe Kluft zwischen Amerika und Europa entstanden. Die kulturelle Kluft: Jeremy Rifkin hat in seinem Buch „The European Dream“ geschildert, in welch entgegengesetzte Richtungen grundlegende Wertvorstellungen in Europa und in den USA sich in den letzten Jahren entwickelt haben: Der „American Dream“ habe sich von einer ursprünglich weitsichtigen sozialen Vision der freien demokratischen Gesellschaft verengt auf ein kurzsichtiges materialistisches, individualistisch-egoistisches Ziel hin. Diese Vorstellungen seien mit einer selbstgerechten Religiosität durchaus vereinbar und hätten ihre Wirkung auf die große Politik bereits gezeitigt. Die gegenwärtige amerikanische Innenpolitik sei geprägt durch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Abdriften von Bevölkerungsteilen in Armut und durch die Ignoranz gegenüber industriell verursachten Umweltschäden. Was die Außenpolitik betreffe, habe Amerika einen Krieg ohne Beachtung des Völkerrechts vom Zaun gebrochen. Demgegenüber steht der neue „European Dream“ junger Europäer, die gelernt haben, über Egoismen nationaler Art hinauszudenken. Charakteristisch
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für die Verfechter des „European Dream“ seien das Engagement für die Multikultur, die Verteidigung der Menschenrechte, das Bekenntnis zum Völkerrecht, ein Anstreben sozialer Verantwortung, die Rücksicht auf Natur und Umwelt, der Einsatz für den kontinentalen und globalen Frieden und für die Freiheit nicht nur der eigenen Person, sondern auch die der Mitmenschen. Vom alten „American Dream“ seien gleichsam die besten Bestandteile in den „European Dream“ abgewandert. (Ähnlich argumentieren auch T. R. Reid in „The United States of Europe“ und Mark Leonard in „Why Europe Will Run the 21st Century“.) Rifkins Traumbeschreibungen haben idealtypischen Charakter. Jeder, der die Realität der USA kennt, wird Beispiele für ein nach wie vor verbreitetes soziales Verhalten benennen können, man braucht nur an das „volonteer work“ zahlloser sozial engagierter Amerikaner zu denken. Insgesamt gesehen hat Rifkin den Wechsel des allgemeinen öffentlichen Klimas in den USA jedoch richtig beschrieben. Aber ganz so traumhaft geht es in Europa ja auch nicht zu. Die Revolten armer und minoritärer Arbeitsloser in den europäischen Großstädten führen vor Augen, dass es nicht genug ist, Multikultur zu propagieren, sie muss auch politisch umsetzbar sein. Ghettos mit Arbeitslosen bilden Krisenherde überall auf der Welt. Den „europäischen“ und den „amerikanischen“ Traum so trennscharf zu unterscheiden, wie Rifkin es tut, fällt jenen schwer, die sich abwechselnd auf beiden Kontinenten bewegen. Die Überlappungen in den Wertvorstellungen und Zukunftsvisionen großer Teile der Bevölkerungen Nordamerikas und Europas sind nicht zu übersehen. Rifkins Strategie erinnert an jene von Madame de Staël vor zweihundert Jahren. Die Autorin war entsetzt über die autoritäre und kriegerische Politik Napoleons. So überschritt sie den europäischen Graben jener Zeit, den Rhein, um auf dessen anderer Seite zu entdecken, dass die Deutschen sich einer Kultur erfreuten, die offener, vielseitiger, kosmopolitischer und experimentierfreudiger war als jene im französischen Polizeistaat. Das Lob auf die Deutschen war als Kritik im eigenen Land gemeint, und in Paris war man darüber so ergrimmt, dass das Buch in Frankreich nicht erscheinen konnte. Rifkin überquerte den atlantischen Graben und entdeckte, dass in der Alten Welt manche der liberalen Errungenschaften, die in den USA unter Beschuss geraten waren, nach wie vor geschätzt und geschützt wurden. Eine Schwachstelle in Rifkins Studie ist die, dass er die unübersehbaren Differenzen in vielen der einzelnen Länder des Kontinents übersieht. Das Buch ist letztlich weniger ein Hymnus auf Europa als eine massive Kritik am eigenen Land, und es ist auch darin dem Schicksal von „De l’Allemagne“ verwandt, dass es auf der anderen Seite des Grabens stärker beachtet wurde als in seinem Heimatland. Die politische Kluft: Der Wandel von 1989/90, der Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Sowjetunion, bedeutet für Europa etwas ganz anderes als für die
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USA. Das Ende des Kalten Krieges, das heißt der Aufteilung der Jalta-Welt in zwei Machtsphären, bot Europa neue Möglichkeiten. Die Alte Welt bekam die Chance, sich aus dem Objektstatus, dem Ausgeliefertsein an die beiden Großmächte USA und Sowjetunion zu befreien und wieder zum Subjekt der Geschichte zu werden, wieder Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Souveränität zu erlangen. Die EU hat mit ihrer gezielten Erweiterungspolitik diesen Spielraum genutzt: Heute gehören zu ihren Mitgliedern eine Reihe von mittel- und osteuropäischen Staaten sowie baltische Länder, die früher im politisch-wirtschaftlichen Hegemonialbereich Moskaus lagen. Von einer westeuropäischen Assoziation hat sich dank der PostJalta-Gegebenheit die EU zu einer gesamteuropäischen Vereinigung entwickeln können. Für die USA bedeutet Post-Jalta etwas Anderes, ja Gegenteiliges. Es ist für die Regierung in Washington nicht mehr möglich, sich weiterhin so selbstverständlich wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg für den Vormund Europas zu halten. Die EU nämlich ist den Vereinigten Staaten wirtschaftlich ebenbürtig und im Hinblick auf ihre Bevölkerungsanzahl überlegen. Allerdings hat die EU versäumt, eine abgestimmte und einheitliche Außenpolitik und eine eigenständige Verteidigungspolitik zu betreiben. Die außenpolitische Entscheidungsschwäche hatte während des letzten Balkankrieges katastrophale Konsequenzen, und die Enttäuschung über die Europäische Union hat tiefe Spuren hinterlassen. Robert Cooper, ein englischer Berater in Sachen EU-Außenpolitik, hat sich positiv zum Thema einer aktiven Demokratisierungspolitik ausgesprochen. Dabei hat er einen grundlegenden Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen Vorgehensweise herausgestellt: Die EU versuche, immer mehr ehemals nichtdemokratische Länder in sich aufzunehmen und sie durch die Akzeptanz der Mitgliedskriterien auf friedliche Weise zu demokratisieren. Die USA hingegen hätten keine Hemmungen, beim Anstreben dieser Ziele für den militärischen Einsatz mit einer anschließenden Okkupation zu optieren. Dass allerdings beide Wege zu einem Sichübernehmen führen können, liegt auf der Hand. Die EU wird ihre innere Balance verlieren, wenn sie ständig neue Mitglieder aufnimmt, wird als politische Entität bei zu großer Ausdehnung nicht mehr handlungsfähig sein. Die USA wiederum können ihre Präventivkriege nur mit einer riskanten und die Inflation antreibenden Staatsverschuldung finanzieren. Die ökonomische Kluft: Wenn die Europäer und die Amerikaner über das Phänomen des freien Marktes reden, haben sie häufig Unterschiedliches im Sinn. Die Europäer verstehen den Binnenmarkt meistens als ein Moment der Integration Europas, wenn auch ein besonders wichtiges. Deutlich ist aber, dass der Vereinheitlichungsprozess innerhalb der Europäischen Union mehr umfasst als nur den ökonomischen Bereich. Die Mitglieder der EU sind sich bewusst, dass ihre
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Union bei der bloßen Betonung des Binnenmarktes bald keine Rolle mehr spielen würde, weil die wirtschaftliche Globalisierung solche regionalen wirtschaftlichen Assoziationen überholen und außer Kraft setzen wird. Für die USA ist aber alles, was in Europa in Sachen Vereinheitlichung über den Binnenmarkt hinausgeht, uninteressant oder gar störend. Der Aufbau einer eigenständigen europäischen Supermacht vom Kaliber der USA liegt nicht im Interesse amerikanischer Politik. Die wirtschaftliche Integration dagegen hat für Amerika nur Vorteile, können doch die amerikanischen multinationalen Konzerne in Europa jetzt viel ungehinderter operieren als zu Zeiten der Teilung Europas und der nationalen wirtschaftlichen Souveränität der einzelnen Länder. Auch Amerikas Integrationsanstrengungen auf dem eigenen Kontinent sind immer nur im Sinne eines freien Marktes zu verstehen, wie die NAFTA zeigt und was nun mit der Free Trades Association of America (FTAA) angestrebt wird. Spricht man über wirtschaftliche Gegebenheiten, darf man die demografischen Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren. Auch hier ist die Kluft zwischen den beiden atlantischen Mächten denkbar groß. Allerdings scheinen die USA im Vergleich mit Europa derzeit die wesentlich besseren Karten zu haben. Zwar wird sich bis zum Ende dieses Jahrzehnts in beiden Regionen die Zahl der Pensionsberechtigten fast verdoppeln, aber immerhin führt die alte Einwanderungstradition in den USA dazu, dass die ständige Verjüngung des Landes durch Immigration garantiert sein wird. Die Zuwanderung in den USA wird deren multikulturelle Gegebenheiten noch stärker hervortreten lassen, denn die Einwanderer kommen vor allem aus Lateinamerika, zum Teil aber auch aus Asien und Afrika, zum geringsten Teil aus Europa. Die europäischen Staaten hingegen, die über Jahrhunderte hin Auswanderungsländer gewesen sind, haben da geringere Erfahrungen und entsprechend weniger vorgebaut. Alteingesessene Vorurteile gegenüber Fremden erschweren eine ausländerfreundliche Einwanderungspolitik. Nach den Prognosen wird es in unserer Jahrhundertmitte so aussehen, dass der Durchschnittsbürger der EU ein Alter von Ende vierzig hat, während der Durchschnittsamerikaner Ende dreißig sein wird. Zu der Zeit wird voraussichtlich auch die Zahl der amerikanischen Erwerbstätigen die der europäischen übertreffen: Die Einwohnerzahl in den Vereinigten Staaten wächst ständig, während sie in Europa permanent abnimmt. Abstecher von Amerikanern nach Europa werden sich dann im Wortsinne zu Reisen in die Alte Welt gestalten. Soll man es bei der Benennung der Differenzen, dem Hinweis auf die sich vergrößernde Kluft zwischen Europa und den USA belassen? Oder provozieren nicht gerade die Unterschiede den Wunsch nach gemeinsamen Anstrengungen zur Überwindung der Gegensätze? Die Frage ist letztlich, ob es so etwas wie eine atlantische Gemeinschaft mit gemeinsamen Wertvorstellungen gibt, die auch
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in der Post-Jalta-Situation nahelegen, wieder mehr Gemeinsamkeit anzustreben. Die Krise der atlantischen Nachkriegsallianz liegt offen zutage. Jetzt ist ein Identitätsdiskurs nötig, der sich auf die gemeinsamen Werte und Ziele der atlantischen Gemeinschaft besinnt. Amerika als politisches Faktum ist ohne europäisches Vordenken und ohne die Einwanderer aus Europa nicht zu verstehen, und Europa ohne amerikanisches Beispiel undenkbar. Durch die Verflechtung ihrer Kulturen sind Amerika und Europa das geworden, was sie heute sind. Die Interdependenzen und Interrelationen sind wieder ins Gedächtnis zu rufen, und bei dieser historisch-kulturellen Rekonstruktionsarbeit zeigt sich bald, dass es gemeinsame kulturelle Grundlagen gibt. Im Zentrum übergreifender Werte stehen Demokratie, sozialer Ausgleich, Multikultur, Friedenspolitik und Menschenrechte. Was von der gemeinsamen Geschichte übernommen werden kann ist, sind die athenische Demokratie, der mosaische Dekalog, die christliche Ethik, das römische und germanische Rechtsdenken, die abendländische Wissenschaft seit den mittelalterlichen Universitätsgründungen und die Toleranz der Aufklärung. Um es mit einigen Städtenamen auf den Begriff zu bringen: Weder New York noch Paris sind ohne Athen, Jerusalem, Rom und Bologna denkbar. Ohne ein Ernstnehmen des anspruchsvollen und anstrengenden gemeinsamen Vermächtnisses wird es im kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bereich keine Annäherung geben. Wenn man aber alles auf die Karte des Wirtschaftlichen setzt, geht das gemeinsame kulturelle Band in die Brüche und damit die Basis der atlantischen Verständigung. Bei dieser Arbeit am Diskurs einer atlantischen Identität wird sich bald zeigen, dass der „American“ und der „European Dream“ durchaus ähnlich sind, dass ihr tertium comparationis der „Atlantic Dream“ ist: die Allianz befreundeter politischer Mächte und die Säule globaler Friedensordnung.
Europa und die Türkei. Die Meinung der Schriftsteller Euro Journal 8.4 (2007) Barbara Frischmuth beschäftigt sich in ihrem Aufsatz „Europa, das ich meine“ von 1996 mit der Beziehung zwischen Europäern und Nicht-Europäern. Der Titel ihres Beitrags erinnert an die „Freiheit, die ich meine“, enthält also eine intertextuelle Anspielung auf das Gedicht des romantischen BefreiungskriegsPoeten Max von Schenkendorf, das Karl Groos 1818 vertonte und als Lied bald populär wurde. Allgemein bekannt war ein gutes Jahrhundert lang vor allem die erste Strophe, die lautet: „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt, komm
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mit deinem Scheine, süßes Engelsbild! Magst du nie dich zeigen, der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen, nur am Sternenzelt?“ Wenn man, wie Barbara Frischmuth das macht, sich für Freiheit in Europa einsetzt, ist die Ironie nicht zu überhören, die aus der Spannung von idealisiertem Wunschbild und faktischer Europäischer Union resultiert. Dann heißt es nämlich: „Europa, das ich meine, das mein Herz erfüllt, komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild! Magst du nie dich zeigen, der bedrängten Welt? Führest deinen Reigen, nur am Sternenzelt?“ Barbara Frischmuth war eine der ersten Schriftstellerinnen aus dem deutschsprachigen Bereich der Gegenwart, die die Stellung Europas zum Islam bzw. zur Türkei thematisierte. Sie erinnert an den fruchtbaren Kontakt zwischen Okzident und Orient über die Jahrhunderte hin; daran, dass die Welt des Islams im frühmittelalterlichen Europa tief aufs Selbstverständnis der entstehenden europäischen Literaturen, Wissenschaften und Künste einwirkte. Mathematik und Medizin, islamische Philosophie und Mystik hätten deutliche Spuren im abendländischen Denken und Fühlen hinterlassen. „Die Symbiose“, schreibt Frischmuth, „der drei abrahamitischen Religionen in Andalusien“ sei „das strahlendste Beispiel für ein lernendes Europa, das seine Nachbarn noch für Seinesgleichen“ ansah. Solcherart Goldene Zeitalter halten sich nicht lange, und die Kreuzzüge mit ihren weitreichenden Folgen bis zur Reconquista in Spanien hätten in ihrer Grausamkeit alles zunichte gemacht, was zuvor an Respekt voreinander aufgebaut worden sei. Ergänzen könnte man, dass auch die Expansionskriege des Osmanischen Reiches nicht dazu angetan waren, die interkulturellen Beziehungen zwischen Islam und Christenheit zu verbessern. Wie Huntington sieht auch Frischmuth den clash of civilizations als das Hauptproblem der Ära nach Beendigung des Kalten Krieges. Sie ist sicher, dass der Zusammenstoß zwischen dem Westen und dem Islam der heftigste der anstehenden Konflikte sein wird, und sie schrieb das lange vor dem 11. September 2001. Frischmuth, die früher Turkologie und Iranistik studiert hat, thematisierte in ihren Büchern mehrfach (u.a. in dem Roman „Die Schrift des Freundes“) den Kulturkontakt zwischen Europa und dem Islam. „Auch mir“, gibt sie zu, „fällt es manchmal schwer, angesichts der zunehmenden Radikalisierung von Islamisten und Fundamentalisten optimistisch zu bleiben und immer wieder und nachdrücklicher für beharrliches Sich-kundig-Machen zu plädieren sowie für Aufklärung, Toleranz, Objektivität und was der Tugenden mehr sind, die zur Konfliktbewältigung nötig wären.“ Nichtsdestoweniger gilt ihr die Maxime mitein ander leben zu lernen als unaufgebbar. Dabei denkt sie weniger wie die Globalisierer an das außenpolitische Miteinanderumgehen der Kulturen, Regionen und Staaten, sondern an die europäische Realität, zu der gehört, dass zwölf Millionen Muslime bereits innerhalb der europäischen Grenze leben, und dass weitere acht Millionen auf dem Balkan wohnen. „Die Konfrontation zwischen den europä
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ischen und den islamischen Ländern“, stellt Frischmuth richtig fest, sei „längst im Gange“. Man müsse nur sehen, dass weitere Kriegshandlungen vermieden würden, dass „der Zusammenstoß der Zivilisationen auf die Ebene der Diskussion beschränkt“ werde. Dabei sollten beide Seiten „die Entscheidung zum Einander-Wahrnehmen“ treffen. Die verbreitete Ignoranz will sie durch eine aktive Toleranz ersetzt wissen, eine Toleranz, die grundverschieden sei von Gleichgültigkeit. Übersetzt in die Sprache der Multikultur-Theorie, plädiert sie für eine gegenseitige aktive Anerkennung der Kulturen, eine Anerkennung, wie sie auch von Charles Taylor, Jürgen Habermas und Jean-François Lyotard gefordert wird. Die Türkei habe eine mindestens hundertfünfzigjährige europäische Tradition; sie sei ein Land mit modernen wirtschaftlichen Strukturen. So wie eine europäische Türkei bereits existiere, könnte es auch in den europäischen Ländern eine Art „kleines türkisches Europa geben, eines, das sich zu dieser gemischt kulturellen Herkunft bekennt, das an den vor Jahrhunderten zerstörten Kulturkontakt wieder anknüpft und zur Wiederbelebung des fruchtbaren Austausches“ beitrage. Wenn aber Europa sich wie eine Festung abschotte, werde die Türkei notgedrungen zu einem Vorposten des Islams. Heute entstehen Gesellschaften, beobachtet Frischmuth, nicht mehr aufgrund von Sippen- und Stammeszugehörigkeiten, sondern mithilfe von interessengebundenen Netzwerken, die ihrer Natur nach grenzüberschreitend seien. „Das Europa, das ich meine, das Europa der Freiheit“, fasst Frischmuth ihre Überlegungen zusammen, „müsste so vielfältig, so vielseitig und so vielfach begabt gebaut werden, dass es das Gegenbild zu einer Festung abgebe. Nur dann nähere es sich der Vorstellung, die wir uns in unseren kühnsten Träumen“ von ihm entworfen haben. Frischmuth versteht ihre Vision von einer friedlichen europäisch-türkischen Multikultur als Tagtraum und räumt ein, dass sie sich solche Träume leisten könne, weil sie als Schriftstellerin anders als die Leute der Praxis deren politische Realisierung nicht gewährleisten müsse. Die Nähe des türkisch-deutschen Autors Zafer Şenocak zur Position Barbara Frischmuths ist nicht zu übersehen. Wie Frischmuth erinnert er an die Tradition aufgeklärter Toleranz im Orient, eine Tradition, die im Westen zu oft ignoriert wird. Dazu liest man bei Şenocak in „War Hitler Araber?“: „Die Wurzeln für die Toleranz des Islams liegen in seiner Geschichte, nicht in einer utopisch verklärten, sondern in der praktisch vorgelebten Geschichte eines maurischen Spaniens und eines seldschukischen Anatoliens. Längst überfällig ist heute die Wiederaufnahme und Entwicklung jenes kritischen aufklärerischen Geistes, der vom 9. bis 13. Jahrhundert das morgenländische Denken bestimmte, eine hohe Zivilisation aufblühen ließ und das europäische Mittelalter auf dem Wege zur Neuzeit entscheidend geprägt hat. […] Der islamischen Kultur werden [in Europa] keine Ketzer, keine Dissidenten, keine Freidenker zugetraut. Als hätte es keinen Omar
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Chaijam, keinen Haladsch al Mansur, keinen Rumi, keinen Ibn Arabi, keinen Ibn Rushd gegeben. Als stünde Salman Rushdie in keiner Tradition. Länger als ein Jahrtausend gewährleisteten islamische Kulturen unter vordemokratischen Bedingungen das friedliche Zusammenleben zwischen verschiedenen Völkern und Religionen, so etwa in Spanien, auf dem Balkan und in Anatolien.“ Auch in der Türkei selbst gibt es eine Reihe von Schriftstellern, die sich als Grenzgänger und Vermittler in diesem Sinne verstehen. Ihr prominentester Vertreter ist der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, dessen Romane „Rot ist mein Name“, „Die weiße Festung“, „Das neue Leben“, „Das schwarze Buch“ und „Schnee“ geradezu klassische Beispiele einer neuen interkulturellen Erzähldichtung geworden sind. Auf beide Autoren kommen wir noch zurück. Adolf Muschg, der sich schon öfters zu Fragen der Europäischen Union geäußert hat, publizierte 2005 den Essay „Was ist europäisch?“, fünfzehn Jahre nach dem Einsetzen des kontinentalen Wiedervereinigungsprozesses. Was die künftige politische Form der EU angeht, so spricht Muschg sich gegen eine Super-Nation wie die Vereinigten Staaten aus, favorisiert vielmehr einen Staatenbund mit föderativen Strukturen, wie man sie aus dem zeitgenössischen Modell der Schweiz kennt. Wie jedes politische Gebilde, das Staatsförmigkeit anstrebe, müsse auch die Europäische Union Grenzen anerkennen. Die Einsicht in die Notwendigkeit von Grenzen habe mit der europäischen Tugend des rechten Maßes zu tun. Die Grenze sei ein europäisches Kulturmerkmal, und Grenzenlosigkeit sei Europa von Haus aus fremd. Wann immer europäische Politiker von Maßlosigkeit besessen gewesen seien (wie im Fall Napoleons oder Hitlers), habe das katastrophale Folgen gehabt. Das europäische Bündnis dürfe nicht mehr verschlingen, als es verdauen könne. Seine Kohäsion sei an eine bestimmte, nicht beliebige Größe gebunden. Mit der Aufnahme der Türkei, meint Muschg, würde die EU eine Größe überschreiten, die noch einen inneren Zusammenhalt des Bündnisses ermögliche. Es werde hier vielleicht nicht ihre wirtschaftliche, wohl aber ihre entscheidende Grenze, die politische, überschritten. An die Adresse der Befürworter des TürkeiBeitritts gewandt, argumentiert der Autor: Nur wenn es das Ziel der EU wäre, den Aufstieg zu einer Weltmacht zu erreichen, deren Geltung auf ihrem Interventionspotenzial als Global Player basiere, nur wenn sie den Willen dazu deklarierte und die Mittel dafür einzusetzen bereit wäre, dürfte sie daran denken, ihre Grenzen mitten ins Krisengebiet des Nahen Ostens zu verschieben. Zu diesen außenpolitischen Bedenken kommen bei Muschg kulturelle hinzu. Er war immer Verfechter einer Idee der kulturellen Anerkennung des Anderen im Rahmen einer zivilen Gesellschaft der Verschiedenen. Das macht ihn aber nicht blind gegenüber dem potentiellen und faktischen Gegensatz zwischen säkularisierter Konstitution und islamischer Gesellschaft.
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Muschg befindet sich hier in einem indirekten Dialog mit jenen türkischen Autoren, die in Deutschland leben, und deren prominentester Essayist der bereits erwähnte Zafer Şenocak ist. Şenocak hat sich mehrfach für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Gemeinschaft ausgesprochen, und dies mit bedenkenswerten Argumenten. Bereits 1991 schrieb er dazu in „War Hitler Araber?“: „Gegen eine sofortige oder baldige Mitgliedschaft der Türkei in der EG lässt sich sicherlich vieles einwenden, angefangen von der schwierigen wirtschaftlichen Situation des Landes bis hin zur unsicheren Demokratie, die noch viele Defizite aufweist. Die Europäer aber haben es bislang versäumt, ein generell positives Signal für die Zukunft zu setzen und eine Perspektive zu eröffnen. Das eigentlich Tragische ist, dass die Europäer anscheinend noch gar nicht begriffen haben, wie unverzichtbar die Einbeziehung der Türkei, das einzig säkularisierte, seit einem Jahrhundert westlich orientierte Land mit muslimischer Bevölkerung, für den Diskurs mit der islamischen Welt ist.“ Auch Orhan Pamuk hat sich wiederholt für den Beitritt der Türkei in die EU ausgesprochen. Sich selbst sieht Pamuk als Mittler zwischen Orient und Okzident. So sagte er in einem „Spiegel“-Interview aus dem Jahr 2006: „Meine Bücher sind ein Bekenntnis zu der Tatsache, dass Ost und West zusammenkommen. Ob in Frieden oder Anarchie, sie finden zusammen. Den Zusammenprall zwischen Ost und West, zwischen Islam und Europa muss es nicht geben. Dafür steht mein Werk.“ Bereits in der Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels von 2005 hatte Pamuk seine Verbundenheit mit der europäischen Kultur und Literatur, besonders der Romandichtung, herausgestellt. Auf diese Romantradition beruft er sich, wenn er dort seine Argumente für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zusammenfasst: „Was die Türkei und die Türken Europa zu bieten haben, das ist in erster Linie Frieden, das ist der Wunsch eines muslimischen Landes, an Europa teilzuhaben, und das sind die Sicherheit und das Stärkepotenzial, die Europa und Deutschland gewinnen würden, sollte diesem friedlichen Anliegen der Türkei entsprochen werden. In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen. Europa verdient Anerkennung dafür, dass es auch außerhalb des Westens die Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefördert hat. Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben. Genau wie Europa, das sich nur auf das Christentum stützte, wäre eine Türkei, die ihre Kraft nur aus der Religion bezöge, eine die Realitäten verkennende, nicht in der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandte Festung.“
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Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den deutschsprachigen Ländern und der Türkei sehen die Frage eines eventuellen Beitritts der Türkei zur EU vor allem aus der Perspektive der Kultur. Die Argumente bei den türkischen Essayisten leuchten aus ihrer Perspektive ein, wie auch die vorsichtig-optimistischen, aber doch den Zweifel einbeziehenden Äußerungen bei Barbara Frischmuth und die strikt ablehnenden Thesen Adolf Muschgs aus westeuropäischer Sicht verständlich sind. Dichter sind nicht dazu da, den Politikern die Arbeit abzunehmen oder ihnen Direktiven zu erteilen. Sie problematisieren ein Thema, beleuchten alle nur denkbaren Aspekte, und damit tragen sie zu einer differenzierten öffentlichen Meinungsbildung bei, die wiederum die Politik beeinflusst.
Der Kontinent und die Schriftsteller – eine Bestandsaufnahme Frankfurter Rundschau (8.10.2005) Europa ist zur Zeit wieder das, was es früher immer war: uneinig. War es auch in den anderen Jahrhunderten gespalten, so schäumte es doch vor Entschlossenheit und Aktivität – keineswegs immer zum Vorteil des Kontinents und der von ihm behelligten Erdregionen. Vielleicht kann die derzeitige Handlungshemmung als schöpferische Pause genutzt werden. Was wird nun in Sachen der europäischen Verfassung unternommen? Wie stehen die europäischen Länder zu Amerika und den neuen Großmächten China und Indien? Will man die Erweiterung in Richtung Türkei und Ukraine? Gibt es Vorstellungen über die Aufnahme neuer Mitglieder in den Euro-Club? Und was der Fragen mehr sind. Vor fünfzehn Jahren vereinfachte und verkomplizierte sich mit dem Ende des Kalten Krieges die Lage in Europa. In allen Umbruchs- und Krisenzeiten des Kontinents waren die Schriftsteller als Seismografen ihrer Epoche mit Rückblicken in die Vergangenheit, Analysen der Gegenwart und Zukunftsvisionen zur Stelle. Dieser jahrhundertealte Europadiskurs ist verbunden mit Namen wie Saint-Pierre, Novalis, Saint-Simon, Giuseppe Mazzini, Victor Hugo, CoudenhoveKalergi, Heinrich Mann, Ortega y Gasset, T.S. Eliot, Reinhold Schneider, Milan Kundera, György Konrád und Hans Magnus Enzensberger. Auf diesem Diskurs bauen auch jene Stellungnahmen auf, wie sie seit dem Fall der Berliner Mauer von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren zu den innereuropäischen Turbulenzen und außenpolitischen Unternehmungen bzw. Unterlassungen der Europäischen Union publiziert worden sind. Das Grundmuster des Europadiskurses zeichnet sich auch hier ab. Man beschwört die gemeinsamen Kulturgrundlagen und historischen Erfahrungen des Kontinents: antikes Erbe, Judentum und Christentum, Nationenbildung,
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Renaissance, Reformation und Humanismus, Kolonialzeit, Aufklärung, Revolution und Säkularisierung und die Selbstzerstörung des Kontinents in den beiden Weltkriegen. Neu ist die Diskussion Europas in der Nach-Jalta-Phase, neu sind die Aspekte einer multikulturellen Erfahrung innerhalb Europas, und neu ist der Kontext der Globalisierung. Die Glorifizierung des alten Hellas hat zweihundertfünfzig Jahre nach Winckelmann nicht aufgehört, wie dem Essay „Der Kosmopolit wohnt im Kosmos“ (1995) von Thomas Hürlimann zu entnehmen ist. Da wird allzu schlicht eine heile griechische Naturverbundenheit gegen die Jammertalreligion des Christentums ausgespielt. Günter Grass verzichtete auf alle „Auch ich in Arkadien“-Reminiszenzen, als er 1992 in Sevilla in seiner Kapuzinerpredigt „Europa?“ den Erben ehemaliger Kolonialimperien die Leviten las. Sein Plädoyer für eine zukunftsträchtige Europapolitik gegenüber Ländern der Dritten Welt war wortmächtig und engagiert, wenngleich seine Detailvorschläge (Entschuldung, kein Waffenexport) wenig dazu angetan waren, diese Beziehung zu verändern. Rolf Hochhuth erkannte zu Recht im Ersten Weltkrieg die historische Fehlsituation Europas schlechthin. In „Europa im Zenith: oder, Die Lemminge“ (2001) beschrieb er die katastrophalen Konsequenzen der politischen Entscheidungen. Walter Jens zeigte im Beitrag „Deutschsein in Europa“ (1997), wie sich allmählich die kosmopolitischen Vorstellungen vom europäischen Deutschland gegen die Ansprüche der Nationalisten vom deutschen Europa durchsetzten. Peter Sloterdijks Entdeckung des panikisierten, marktgläubigen Konsumenten als neuem homo europaeus im Essay „Römischer Komplex, römische Verträge“ (1999) zeugte von seinem kulturkritischen Scharfblick. Fünf Jahre zuvor hatte er in „Falls Europa erwacht“ die Chance der Alten Welt beschrieben, nach dem Ende des Kalten Krieges vom Objekt- zum Subjektstatus der Weltpolitik zurückzufinden. Als einer der entschiedensten Kritiker der Europäischen Union erwies sich mit seinem „Europäischen Alphabet“ (1997) Karl-Markus Gauss. Er ließ kein gutes Haar an der Brüsseler Politik. Schaute man genauer hin, merkte man rasch, dass es Gauss schwerfiel, idyllische Vorstellungen von einem alten Peripherie-Europa aufzugeben, von Ländern allerdings, die lieber heute als morgen Mitglied der Europäischen Union werden würden. Differenziert wurde in Barbara Frischmuths Essay „Europa, das ich meine“ (1998) die interne multikulturelle Konstellation der letzten Jahre diskutiert. Weder negierte sie die potentielle Bereicherung, die im Umgang der Zivilisationen miteinander angelegt ist, noch übersah sie die sich häufenden Konflikte und sagte drei Jahre vor dem 11. September 2001 voraus, dass die Zusammenstöße zwischen der westlichen Welt und dem Islam die nächsten Jahrzehnte bestimmen werde. Keiner aber ist auf so komplexe Weise die aktuellen Probleme der Europäischen Union angegangen wie Adolf Muschg in seinem kürzlich erschienenen Buch „Was ist europäisch?“ Es geht auch hier darum, sich des kulturellen Erbes
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zu versichern, die aktuelle Krisensituation zu erfassen und die zukünftige Rolle Europas in der globalisierten Welt zu umreißen. Vor allem warnt er die EU davor, sich lediglich als Freihandelszone zu verstehen und sich im Erweiterungsprozess zu übernehmen. Sicher ist der Essay jene Form, der sich mit Abstand die meisten Teilnehmer am Europadiskurs bedienen. Aber auch der Roman ist eine europäische Schöpfung, die aufs engste mit den kulturellen Entwicklungen des Kontinents verbunden ist. Eigentlich sind alle in Europa geschriebenen Romane „Europa“Romane. Aber ein Europaroman im engeren Sinne geht die großen kulturellen, sozialen und politischen Fragen des Kontinents so direkt und so umfassend wie möglich an. Der bekannteste ist Romain Rollands Werk „Jean-Christophe“, das in den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschien. Der Autor spürt darin jenen Erschütterungen nach, die zur Katastrophe von 1914 führten. Auch Thomas Manns „Der Zauberberg“ – ein gutes Jahrzehnt später geschrieben – versammelt europäische Stimmen, die die Aporien intellektueller, nationaler und sozialer Positionen verdeutlichen, und auch hier endet der Roman mit dem Beginn des europäischen Zusammenbruchs. Solche Erzählwerke, in denen die europäische Krise des 20. Jahrhunderts reflektiert wird, blieben selten. Zu ihnen zählt auch Hermann Brochs Trilogie „Die Schlafwandler“, die kurz vor Hitlers Regierungsantritt erschien. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gibt es zahllose Romane, in denen deutsche Zeitgeschichte thematisiert wird, man denke an die Bücher über die Hitlerzeit, den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Nachkriegstrümmerzeit, das Wirtschaftswunder, die Studentenbewegung und die deutsche Wiedervereinigung. Aber Werke, die noch einmal die Grundprobleme des ganzen Kontinents angehen, gibt es nicht mehr – auch nicht in anderen europäischen Ländern. Den Zugriff auf die europäische Totalität, wie sie im modernen Roman noch zu gestalten versucht wurde, traut sich in der Postmoderne niemand mehr zu. Wie die Essayisten letztlich nur Einzelaspekte herausgreifen und Komplexität durch die Addierung von Spezialeinsichten entsteht, so greift man auch im Roman besondere Fälle auf, die jene Krisensymptome verdeutlichen, die man für epochal hält. Wenn die Romanhandlung etwa in Juli Zehs „Die Stille ist ein Geräusch“ (2002) oder in Norbert Gstreins „Das Handwerk des Tötens“ (2003) mit dem Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien zu tun hat, wird hier sehr wohl ein europäisches Grundproblem angesprochen. Es ist eine doppelte Barbarei, die bewusst gemacht wird: nicht nur die der menschenschlächterischen Aktionen an sich, sondern auch deren mediale Verwertung. Zentrale Fragen europäischer Identität berühren auch die vielen Romane, die mit dem Zusammenstoß unterschiedlicher Zivilisationen in der Gegenwart zu tun haben. Es sind Bücher, die z.B. von Schriftstellerinnen und Schriftstellern arabischer, persischer, türkischer oder japanischer
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Herkunft verfasst wurden, zu denen in Deutschland Rafik Schami, SAID, Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada gehören. Hinzu kommen Erzählwerke, in denen umgekehrt Europäer in der Konfrontation mit fremden Kulturen auf anderen Erdteilen geschildert werden, wie etwa bei Nicolas Born, Hans Christoph Buch, Uwe Timm, Gert Hofmann, Michael Roes, Christian Kracht, Josef Winkler oder Iljia Trojanow.
Europas Intellektuelle setzen auf Kern-Europa Die Welt (4.6.2003) Die sieben Weisen haben gesprochen. Am 31. Mai nahmen sie in europäischen Tageszeitungen zur Lage von „Old Europe“ Stellung: der Deutsche Jürgen Habermas (mit dessen Plädoyer sich der Franzose Jacques Derrida identifizierte), Adolf Muschg aus der Schweiz, die Italiener Gianni Vattimo und Umberto Eco, Fer nando Savater aus Spanien und schließlich der Amerikaner Richard Rorty. Drei Hauptthesen zeichnen sich ab: Erstens wird die Vorstellung einer multipolaren Welt favorisiert. Der „hegemoniale Unilateralismus“ (Habermas) entspringe einer falschen Selbsteinschätzung der Vereinigten Staaten als einzig verbliebener Weltmacht. Zweitens wird die Stärkung der UNO gefordert, die für die Vermittlung in internationalen Krisenfällen unerlässlich sei. Und drittens – dies vor allem – dringt man auf eine politische Einigung der Europäischen Union, damit Europa den bloßen Objektstatus hinter sich lassen und als Subjekt bei der Entscheidung globaler Entwicklungen agieren könne. Der Stern, dem die Weisen aus dem Abendland folgen, heißt „Kerneuropa“. Weil die EU in außenpolitischen Belangen bisher nicht mit einer Stimme sprechen könne, sei es notwendig, die politische Integration zu forcieren. Die sich erweiternde Europäische Union habe jedoch so viele Mitgliedsstaaten, dass es in absehbarer Zeit kaum möglich sei, eine einheitliche europäische Außenpolitik zu betreiben. Um dieses Problem zu lösen, besinnt man sich auf ein „Kerneuropa“, von dem man hofft, dass es in wichtigen weltpolitischen Fragen Konsens erzielen werde. Was ist „Kerneuropa“? Eine Schwäche der genannten Beiträge ist der fehlende Blick in die Geschichte des Europadiskurses. Es wird so getan, als müsste eine Debatte über Europa erst „angezettelt“ werden (Habermas). Den Europadiskurs der Dichter und Philosophen gibt es seit mehr als dreihundert Jahren. Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten haben europäische Schriftsteller diesen Diskurs neu belebt. So alt wie der Europadiskurs ist auch die Vorstellung von „Kerneuropa“. In den Beiträgen der sieben Weisen bleibt dieser Begriff vage.
Kern-Europa
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Man weiß nicht recht, ob von Euro-Land oder der alten Sechsergemeinschaft der EWG die Rede ist. Aber es ist offensichtlich, dass – als Kern des Kerns – die beiden Länder Frankreich und Deutschland gemeint sind, also – nicht zufällig – jene beiden Staaten, die den europäischen Widerspruch artikulierten, als die USA sich zum Präventivkrieg gegen den Irak entschlossen. Habermas und Rorty verstehen die Proteste der Massen in den Metropolen Europas gegen diesen Krieg als eine Art europäisches Referendum für eine eigenständige kontinentale Außenpolitik. Der 15. Februar (Höhepunkt der Demons trationen) ist in ihren Augen ein Kairos-Datum europäischer Unifikation. Damit diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreicht, suchen die sieben Intellektuellen das Bewusstsein von einem eigenständigen Europa publizistisch zu stärken. Vergleichbare Initiativen gab es auch in der Vergangenheit. Die Idee, dass ein Kerneuropa die Avantgarde beim europäischen Einigungsprozess bilden solle, wurde erstmals von Saint-Simon und Thierry 1814 in Paris zu Papier gebracht. Mit den Plänen und Friedensschriften von Sully (aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges) und Saint-Pierre oder Kant (aus dem 18. Jahrhundert) waren sie vertraut. Der Gedanke, die kontinentale Pazifizierung zu befördern, indem man europäische Grundkonflikte neutralisiert oder gar überwindet, war nicht neu. Nur: Wie macht man das praktisch, Europa als Föderation zu bauen? Saint-Simon und Thierry empfahlen den sukzessiven „Wiederaufbau der Europäischen Staaten-Gesellschaft“. Ihr Wunsch-Kerneuropa waren das assoziierte Frankreich und England, weil diese beiden Länder demokratische Erfahrung besaßen. Nach ihrer Verbindung werde es nicht schwer sein, Deutschland als drittes „Kern“-Land zu gewinnen. Diese Trias wiederum sei dann für die anderen europäischen Nationen so attraktiv, dass sich in der Folge die kontinentale Union ergeben werde. Saint-Simons und Thierrys Schrift war gegen zwei Europamodelle gerichtet: erstens gegen das – durch die Geschichte widerlegte – Napoleonische Konzept der Dominanz eines Einzelstaates; zweitens gegen die Restaurationsidee, mit der Metternich während des Wiener Kongresses das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte. Die beiden französischen Visionäre wussten, dass sie damals keine einflussreichen Politiker für ihre Ideen gewinnen konnten. Aber Zukunftsträchtiges will in Kairos-Momenten formuliert werden, auch wenn daraus nur ein Baustein im Diskurs und keiner für die Praxis resultiert. Danach wurde Kerneuropa fast immer als deutsch-französisches Bündnis verstanden. Unter den Grundkonflikten, die europäische Krisen provozierten, war der schwierigste und folgenreichste jener zwischen Frankreich und Deutschland. Der Dreißigjährige Krieg, der Spanische Erbfolgekrieg, die Napoleonischen Feldzüge, der Deutsch-Französische Krieg, der Erste und der Zweite Weltkrieg – sie alle haben direkt oder mittelbar mit diesem europäischen Grundkonflikt zu
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tun. Nach der zweiten französischen Revolution von 1830 zog es Heinrich Heine und Ludwig Börne nach Paris. Hier meinten sie, das Ziffernblatt der europäischen Uhr vor Augen zu haben. Heine und Börne verstanden sich als Vermittler. Sie wollten mit ihrer Publizistik nicht nur den Deutschen etwas von den Vorzügen des politisch liberaleren Frankreichs, sondern den Franzosen auch einiges von der Differenziertheit und Vielfalt deutscher Philosophie und Dichtung mitteilen. Börne träumte von der Einheit beider Länder. Um diese Idee zu verbreiten, gründete er 1836 in Paris die Zeitschrift „La Balance“, in deren Einleitung es heißt: „Frankreich und Deutschland vereinigt, können Alles vollbringen und Alles verhindern. Von der Einigkeit Frankreichs und Deutschlands hängt nicht blos ihr eignes Wohl, sondern auch das Schicksal ganz Europens ab.“ Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 forderte Victor Hugo – einer der aktivsten Teilnehmer am Europadiskurs –, Deutschland und Frankreich müssten sich einigen. Im Februar 1871 sprach er vor der neuen französischen Nationalversammlung. Er forderte, dass Deutschland und Frankreich „in Zukunft ein einziges Volk bilden“ sollten, „eine einzige Republik“. „Keine Grenzen mehr!“ rief er, „seien wir eine Republik, bilden wir die Vereinigten Staaten von Europa, die kontinentale Republik!“ Romain Rolland wollte mit seinem Europaroman „Jean-Christophe“, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erschien, ebenfalls solche Tendenzen unterstützen. Und auch Heinrich Mann setzte sich in den zwanziger Jahren für die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit ein. In ähnliche Richtung wiesen die Arbeiten des Lyrikers und späteren Nobelpreisträgers SaintJohn Perse. Er war sieben Jahre lang Kabinettsdirektor unter Aristide Briand und entwarf das Europa-Memorandum des französischen Politikers von 1930. Briand plädierte dort für die denkbar engste Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, damit die beiden Staaten die Voraussetzungen für die Union Europas schaffen könnten. Die Beiträge der sieben Weisen knüpfen also an einen Europadiskurs an, der eine ehrwürdige Geschichte hat. Gegenwärtig ist ein handlungsfähiges Kern europa – mit Frankreich und Deutschland als maximal kooperierendem Duo – kaum noch nötig, um Kriege auf dem Kontinent zu verhindern. Jetzt soll Kerneuropa als Frieden sichernde Macht im globalen Kontext fungieren. Die Frage ist, ob es Sinn hat, so ausschließlich auf die Karte von Kerneuropa zu setzen. Es besteht die Gefahr, dass durch die Profilierung eines primären Kerneuropas gegenüber einem sekundären Resteuropa der Kontinent eher gespalten als geeint wird. Das Einigungsziel kann auch nicht erreicht werden, wenn man einen Kurs der Konfrontation und aggressiven Abgrenzung gegenüber den USA steuert. Wie der Europadiskurs zeigt, haben die USA seit zweihundert Jahren ein Modell für die künftigen Vereinigten Staaten von Europa abgegeben. Werte wie
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Menschenrechte und Demokratie, Ziele wie politische Einheit und Etablierung von internationalen Institutionen sind amerikanisch in Theorie und Praxis. Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit konnten – wie vor allem Regierungen mit Präsidenten aus der Demokratischen Partei gezeigt haben – auch in den USA wirksam werden. Die avisierten Ideale einer europäischen Agenda der Zukunft erinnern an das Beste in der amerikanischen Politik der Vergangenheit.
Europa: Die aktuelle Debatte hat viele Vorläufer Frankfurter Rundschau (7.7.2003) Jürgen Habermas meint bekanntlich eine Debatte über Europa „anzetteln“ zu müssen. Aber da ist nichts anzuzetteln, denn diese Diskussion gibt es auf der politischen wie der philosophischen Ebene seit Jahrhunderten. Das zeigt auch die Ausstellung „Idee Europa“, die zur Zeit im Historischen Museum in Berlin zu sehen ist, und die hoffentlich in vielen anderen Städten gezeigt werden wird. Sie vergegenwärtigt anschaulich, wie in jeder Epoche Europas seit dem Mittelalter über die kulturelle Eigenart des Kontinents und über politische Einigungsformen nachgedacht worden ist. Keiner der großen europäischen Kriege, der nicht führende Geister der Zeit zu Friedensprojekten animiert hätte, zu konkreten Utopien, die unterschiedliche Formen politischer Zusammenarbeit, eine Konföderation oder gar die Vereinigten Staaten von Europa zum Ziel hatten. Der Herzog von Sully während des Dreißigjährigen Krieges, Saint-Pierre nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, SaintSimon am Ende der Napoleonischen Ära, Giuseppe Mazzini im Widerstand gegen die Metternichsche Restauration, Ludwig Börne als Anhänger der Revolution von 1830, Arnold Ruge während der 48er Revolution, Victor Hugo nach der Schlacht von Sedan, Coudenhouve-Kalergi als Reaktion auf den Friedensschluss von Versailles, Ernst Jünger am Ende des Zweiten Weltkriegs und Klaus Mann 1949 auf dem ersten Höhepunkt des Kalten Krieges: Sie alle setzten die lange Europa debatte fort, die aber in jeder historischen Situation aktualisiert wurde. Man bekennt sich zur europäischen Identität, d.h. zum doppelten religiösen Erbe von Judentum und Christentum und macht sich die kulturellen Leistungen der doppelten Antike (Griechenland und Rom) zu eigen. Wenn eine Ideologie oder politische Bewegung auch nur eine dieser tragenden Säulen herausbräche, so Lion Feuchtwanger, könnte sie sich nicht mehr als „europäisch“ bezeichnen. Andere Emigranten – wie Thomas und Heinrich Mann, Hermann Broch und Stefan Zweig – sahen das ähnlich. Einig zeigten sie sich auch darüber, dass die Säkularisierungswellen seit der Aufklärung dieses vierfache Erbe in sich aufge-
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nommen, nicht jedoch zerstört haben. Von hier aus gesehen war der Nationalsozialismus mit seiner Pervertierung des römischen Rechts, seiner Ignoranz in Sachen griechischer Philosophie, seinem Hass auf das Judentum und seiner Verachtung des Christentums die anti-europäische Bewegung schlechthin. Die Basiselemente europäischer Identität waren von Anfang an dialogisch aufeinander bezogen, haben sich nie zu bloßer Synthese beruhigt. Gerade deswegen trugen sie zur Agilität und Vielfalt der europäischen Kultur bei und ermöglichten Säkularisierungs- und Historisierungstendenzen. Das haben zuletzt französische Intellektuelle wie Edgar Morin, Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Rémi Brague und Jean-Christophe Rufin hervorgehoben. Sie betonten auch, dass die europäische Kultur sich seit ihren Anfängen für Fremdes offen gehalten habe, was man bei der Einschätzung gegenwärtiger Migrationen nach Europa nicht vergessen sollte. In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sich die Politiker an die Zweiteilung des Kontinents gewöhnt. Bei den Intellektuellen östlich des Eisernen Vorhangs war das anders. Milan Kunderas international beachteter Essay von 1984 über die Tragödie Mitteleuropas war ein Fanal. Hier wurde geklagt, dass die Jalta-Teilung unerträglich sei. Es waren Schriftsteller, die – unter Berufung auf den europäischen Freiheitsbegriff – eine Wiedervereinigung des Kontinents verlangten: Durch den Exiltschechen Milan Kundera in Frankreich, György Konrád in Ungarn, Andrej Szczypiorski in Polen und Václav Havel in der Tschechoslowakei wurde artikuliert und verstärkt, was sich in der Bevölkerung Mitteleuropas an Widerstand gegen die sowjetische Bevormundung regte. Als nach dem Fall der Berliner Mauer und den unblutigen Revolutionen in Mitteleuropa die Jalta-Teilung als beendet gelten musste, entwickelten Autoren neue Zukunftsperspektiven. Einen für die Situation bezeichnenden Essay publizierte Peter Sloterdijk 1994 mit „Falls Europa erwacht“. Er sprach von der historischen Chance der Alten Welt, sich aus dem Objektstatus als eingeklemmte Zone zwischen den Großmächten herauszulösen. Europa könne wieder Subjekt der Geschichte, ja ein Imperium werden. Ihre Rolle als Großmacht dürfe die Europäische Union nicht kolonialistisch missbrauchen, solle sie vielmehr im Sinne verantwortungsbewusster Politik gegenüber der Dritten Welt nutzen und den Weltfrieden stabilisieren. Fünf Jahre später modifizierte Sloterdijk allerdings seine Position, wie dem Aufsatz „Römischer Komplex, römische Verträge“ zu entnehmen ist. Im 20. Jahrhundert nämlich sei die translatio imperii von Europa in die USA zu konstatieren. Mit dem Ende der Jalta-Teilung seien die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Weltmacht „die Geschäftsführer des europäischen Projekts“ geworden: der Alten Welt bleibe nur die Rolle des Juniorpartners. Die „Theorie Europas“, heißt es weiter, müsse „in einer atlantischen Definition“ gefunden werden.
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Von dieser Position wollte Sloterdijk Anfang dieses Jahres plötzlich nichts mehr wissen. Donald Rumsfeld hatte vergeblich versucht, Frankreich und Deutschland als Alliierte für den Irakkrieg zu rekrutieren, und so schimpfte der amerikanische Verteidigungsminister auf das unzuverlässige „old Europe“. Jetzt lobte Sloterdijk den „postheroischen Kulturstil“, der in Paris und Berlin gepflegt werde und bezichtigte die US-Regierung des „Realinfantilismus“. Der Konflikt zwischen den USA und „old Europe“ wirkte zweifellos stimulierend auf den Europadiskurs. Durs Grünbein publizierte im Februar den Essay „Die Verführung zur Freiheit“. In dieser Liebeserklärung an Europa sah er in der Trias von Freiheit, Anmut und Neugier die Besonderheit der europäischen Kultur. Auch Grünbein freute sich, dass die Teilung des Kontinents überwunden sei, dass das alte Schisma („hier der Westen, dort der Osten“) nicht mehr gelte, dass Europa eine neue Chance habe, wieder zu sich selbst zu finden. Erst jetzt fühle er sich als „Europäer“. Grünbeins Essay enthält sich jeder direkten Kritik an Amerika, aber er konstatiert doch, dass ihm „die Lieblichkeit der Lagunenstadt Venedig“ erst richtig aufgegangen ist, nachdem er Las Vegas gesehen habe, diese „aufgedonnerte Hure unter den Städten der Neuen Welt“. Auch die Monatsschrift „Literaturen“ hat unlängst ein „Europa“-Themenheft veröffentlicht. Aber die gedruckten Meinungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind durchweg kurze, oft bloß wenige Zeilen zählende Statements. Da finden sich in den Europa-Essays aus den neunziger Jahren wichtigere Stimmen. Der Schweizer Thomas Hürlimann z.B. veröffentlichte 1995 ein Loblied auf die antike Komponente der europäischen Identität mit seinem Essay „Der Kosmopolit wohnt im Kosmos“. Er meinte, dass Nietzsche – wie so viele Verfechter von AntikeRenaissancen vor ihm – das Augenmerk auf die Vorzüge der Lebensformen im alten Hellas gelenkt habe. Hürlimann plädiert für eine neue Lektüre Nietzsches, der sich als Prophet des „guten Europäers“ verstand. Rolf Hochhuth reflektierte vor wenigen Jahren im Beitrag „Europa im Zenith: oder, Die Lemminge“ über die Selbstzerstörung des Kontinents in den beiden Weltkriegen. Diese Kriege und der Holocaust hätten gezeigt, wie rasch eine Zivilisation in die Barbarei absinken könne. Europas Aufgabe bestehe vor allem darin, solche Katastrophen in Zukunft zu verhindern. Einen anderen Aspekt beleuchtete Günter Grass in seinem 1992 in Sevilla gehaltenen Vortrag „Mein Träumlein von Europa“. Als man dort die Entdeckung Amerikas durch Columbus vor fünfhundert Jahren feierte, erinnerte er an dunkle Kapitel der europäischen Geschichte. Ins Zentrum seiner Rede rückte er die Gräueltaten des Kolonialismus. Europa müsse heute faire Beziehungen zu den Ländern der Dritten Welt aufbauen und sich vor Rückfällen in koloniales Verhalten hüten. Barbara Frischmuth plädierte in ihrem Aufsatz „Europa, das ich meine“ von 1998 für die Anerkennung der Nichteuropäer in Europa, für eine aktive Toleranz gegenüber den Muslimen allgemein und den Türken im Beson-
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deren, und Karl-Markus Gauss bestand 1997 darauf, die Europäische Union nicht mit Europa gleichzusetzen. In seinem „Europäischen Alphabet“ ging er – wie vor ihm in den achtziger Jahren schon Hans Magnus Enzensberger – scharf mit den Vereinheitlichungstendenzen der Brüsseler Bürokratie ins Gericht. Er verteidigte die lokalen, regionalen und nationalen Pluralismen, die den eigentlichen Charme der Alten Welt ausmachten. Man sieht, wie komplex der Europadiskurs schon lange diskutiert wird; die jüngste Initiative von Habermas stellt nur eine von vielen Aktualisierungen dar. Allerdings ist seine Idee von einem „Kerneuropa“ kontraproduktiv. Solange die europäische Einheit in vergangenen Jahrzehnten auf die Initiativen einiger Avantgarde-Staaten angewiesen war, gab es zu Kerneuropa keine Alternative. Heute aber, an der Schwelle zur Osterweiterung der EU, würden Aktivitäten eines Kerneuropa die mühsam genug errungene Einheit gefährden. Außenpolitisch muss die Europäische Union mit einer Stimme sprechen, sonst macht sie sich unglaubwürdig, provoziert Zerreißproben und kann zum Spielball anderer Großmächte werden. Auch Peter Handke ist für das erwähnte „Literaturen“-Heft gebeten worden, ein Scherflein zur aktuellen Europadebatte beizusteuern. Sein Kommentar: „Europa? Es war einmal.“ Europa als Ammenmärchen? Die These „Finis Europae“ ist so alt wie der Europadiskurs selber, was nichts daran ändert, dass „old Europe“ viele Erneuerungs-Ressourcen besitzt, und die haben nicht zuletzt mit dem Alter seiner Kultur zu tun. Ferdinand Lion, ein Freund Thomas Manns und einer der produktivsten Europa-Essayisten, bezog während des Ersten Weltkriegs, inmitten der kontinentalen Selbstzerstörung, Zuversicht aus der Überzeugung, dass Proteus, der Gott der ständigen Wandlung und Verwandlung, die emblematische mythologische Figur Europas sei. Reinhold Schneider, der in seinen Reflexionen über europäische Identität neben der antiken auch die alt- und neutestamentarische Weisheit vergegenwärtigte, schöpfte in Gefahrenmomenten des Kalten Krieges Hoffnung aus dem Europamythos, aus der Erzählung vom Hervortreten des Gottes aus dem Stier.
Neue Herausforderungen im wissenschaftlichen Austausch Amerika/Europa Das Parlament (18.4.1997) Wie denken die Amerikaner über Europa? Auf diese Frage hätte man 1960 oder 1980 noch relativ rasch Bescheid geben können. Aber in der Post-1989-Epoche, in einer Phase der Ambivalenz und der Unübersichtlichkeit, geht einem die Antwort
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nicht so rasch von den Lippen. Es ist wohl angemessener, von einer neuen WeltUnordnung zu sprechen als von der vielberufenen „new world order“. Eine generelle amerikanische Sicht auf die internationalen Umbrüche lässt sich kaum ausmachen. Auch in den USA ist die Szene komplizierter, mehrstimmiger und multikultureller geworden. Der alle übrigen Beziehungen prägende Gegensatz zwischen Washington und Moskau ist abgelöst worden durch zahllose regionale Mikro-Antagonismen ideologischer, politischer, sozialer, wirtschaftlicher, nationalistischer, generationsbedingter, religiöser, ethnischer und kultureller Art. Huntingtons Behauptung, das ehemalige Kalte-Kriegs-Muster sei ersetzt worden durch den großen clash of civilizations, wird auch in den USA als unzulässige Vereinfachung eingeschätzt. Weder Ost- noch Westeuropa fasziniert die Amerikaner heute sonderlich. Viele amerikanische Firmen verlieren die Lust, sich durch das Gestrüpp postkommunistischer Übergangsschwierigkeiten durchzukämpfen – das gilt besonders für Russland – und ziehen sich zurück. Aber aus anderen Gründen lässt auch das Interesse an Westeuropa nach. Das kann nicht an Maastricht liegen, denn der Binnenmarkt bringt für US-Konzerne auch Vorteile mit sich. An den amerikanischen Universitäten sind in den letzten fünf Jahren die Einschreibungen in europäischen Sprachen wie Deutsch, Französisch, Italienisch und Russisch um etwa ein Viertel zurückgegangen. Dabei hat das Lernen von Fremdsprachen dort keineswegs nachgelassen. Die Gewinner bei der studentischen Umorientierung sind Asien (Chinesisch, Japanisch), Lateinamerika (Spanisch) und (in geringerem Maße) die arabisch sprechenden Staaten. Was für die Sprachen gilt, gilt auch für den akademischen Austausch: Hier ist bei Asien die Tendenz steigend, bei Europa fallend. Immer mehr Studenten Asiens und Lateinamerikas streben den Abschluss an einer amerikanischen Universität an. Die Hälfte aller Asiaten, die im Ausland studieren, sind an USamerikanischen Universitäten eingeschrieben. Etwa ein Drittel aller Studenten überhaupt, die außerhalb ihres Heimatlandes eine Universität besuchen, tun dies in den USA; auf Deutschland entfallen nur zehn Prozent, genau besehen nur fünf Prozent, denn die Hälfte dieser Studenten haben Eltern, die als Ausländer permanent in Deutschland leben. Die amerikanischen Forschungs-Universitäten (zu diesem Klub zählen über hundert Institutionen) ziehen die akademische Elite aus der ganzen Welt an; sie importieren Intelligenz und exportieren Wissen und Können, wie es – vergleichsweise – im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an europäischen Universitäten in Frankreich, England und Deutschland die Regel war. Was ist los mit Europa? So fragt man allenthalben im universitären Amerika, wenn man feststellt, dass in Europa immer weniger Durchbrüche in der Zukunftstechnologie, den Naturwissenschaften und der Medizin erzielt, immer weniger
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Theoriekonzepte auf geisteswissenschaftlichem Gebiet entwickelt werden. Von Amerika lernen? Das sicher nur bedingt, denn nichts ist naiver und unproduktiver, als Institutionen, die das Resultat anderer gesamtkultureller Konstellationen und Entwicklungen sind, einfach zu imitieren. Aber punktuell lässt sich durchaus einiges im Vergleich lernen: Die europäischen Universitäten werden von zentralen Bürokratien, die sich Kultusministerien nennen, gegründet, unterstützt, reformiert, geschlossen. Mein Eindruck ist, dass die amerikanischen Universitäten deswegen gut funktionieren, weil sie mehr Autonomie haben als ihre Pendants in Europa. Wenn ein Kultusministerium Richtlinien erlässt, hat das gleich an allen Universitäten seines Machtbereichs Konsequenzen, d.h. Fehlentscheidungen multiplizieren sich. Wenn jedoch eine einzelne amerikanische Universität etwas beschließt, berührt das andere akademische Einrichtungen nicht unmittelbar. Bewährt sich das Neue, können andere nachziehen; erweist sich ein Versuch als Schritt in die falsche Richtung, ist keine andere Institution in Mitleidenschaft gezogen worden. Harvard wurde nicht dadurch die beste Universität der Welt, dass ein Kultusminister mit Rahmenrichtlinien experimentierte, sondern weil sich Einzelinitiativen als tragfähig erwiesen. Statt zu Jugendverwahranstalten zu degenerieren, müssten die europäischen Universitäten ihre frühere Anziehungskraft zurückgewinnen. Warum sollte nicht eine Renaissance der europäischen Universität möglich sein mit Elite-Schulen wie ehemals in Bologna oder Prag, in Paris oder Köln, in Oxford oder Krakau? Die europäische Einigung kann ohne eine Vitalisierung ihres akademischen Lebens nicht funktionieren. Die Universitäten (schon ihr Name sagt es) waren immer eine Sache des Internationalismus. Europäische Einheit hat, geschichtlich betrachtet, in den Universitäten ihren Ausgangspunkt. Man kann nicht die europäische Unifikation ohne ihre Kultur auf den Weg bringen. Die Kultur selbst ist die Basis und die Ursache der europäischen Kooperation und Integration; ohne sie ist die Europäische Union wie ein Schiff ohne Steuer. Man braucht allerdings keine Super-Behörde, die als Brüsseler Kultur-Kommission die Hochschullandschaft vereinheitlicht. Wichtiger wäre, den europäischen Universitäten mehr Eigenständigkeit und Freiraum zu gewähren, was ganz im Sinne einer produktiven Vielfalt europäischer Kultur wäre. Erasmus von Rotterdam ist gleichsam eine emblematische Figur, in der sich europäische Einheit als europäische Intellektualität verkörpert. Seine Karriere war damals europäisch; heute gleicht sie eher der eines amerikanischen Akademikers. Er machte sich schon als junger Mann einen Namen, brauchte keine Assistentenzeit zu absolvieren oder ein Habilitationsverfahren hinter sich zu bringen und hatte auf keine ministerielle Beamten-Ernennungsurkunde zu warten. (Die Wortschöpfung „Kultusministerium“ hätte er wahrscheinlich als contradictio in adiecto
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belächelt.) Was zählte, war seine Leistung als Gelehrter. Die amerikanischen Universitäten haben nicht nur mehr Spielraum nach außen, sie sind auch in sich demokratischer strukturiert. Nach Leistung, nicht nach Dienstjahren wird man befördert und bezahlt. Die Amerikaner lassen sich ihre Universitäten etwas kosten; die europäischen Hochschulen dagegen werden vernachlässigt. Bei den jetzigen Budget streichungen ist eine weitere akademische Abwärtsentwicklung vorauszusehen. Und schließlich werden die Universitäten der USA professioneller geführt als die Europas. Universitäts-Administrator zu werden, ist eine Karriere für sich, und man profiliert sich dafür beizeiten. Bevor man Präsident einer Universität wird, muss man als Institutsdirektor, als Dekan oder Vizepräsident (in etwa dieser Reihenfolge) seine Führungsqualitäten (zu denen auch das fund raising gehört) unter Beweis gestellt haben. Man bringt als Dekan oder als Rektor nicht mühsam oder gar widerwillig seine zwei Jahre hinter sich, sondern sieht diese Ämter als Lebensaufgabe an. Wenn die europäischen Universitäten nicht wieder attraktiver werden, verlieren die amerikanischen Studenten, d.h. die Angehörigen der jungen US-Elite, immer mehr das Interesse an Europa. Das ist weder im Sinne Europas noch Amerikas. Beide Kontinente teilten auch in der Post-1989-Epoche gemeinsame Interessen und Aufgaben: Dass von der fortgesetzten Kooperation in Politik, Verteidigung, Wirtschaft und Wissenschaft beide Kontinente nur profitieren können, darüber ist man sich gerade in Zeiten von globaler Ambivalenz und Unübersichtlichkeit auch in den USA im Klaren.
Novalis oder Napoleon? Zur deutschen Europa-Essayistik Neue Rundschau 107.3 (1996) Von europäischer Warte aus gesehen, war Novalis keineswegs der Erfinder des Europa-Essays. Versteht man unter dieser Gattung jene Prosa, in der über europäische Identität, Einheit und Friedenssicherung nachgedacht wird, steht Novalis eher in der Mitte als am Anfang. Die Europa-Essayistik reicht tief ins 17. Jahrhundert zurück, und als ihren Begründer kann man den Herzog von Sully ansehen, der die Ideen zu einem „Großen Plan“ der Pazifizierung und Einheit des Kontinents angeblich dem legendären französischen König Henri IV. verdankte. Sully veröffentlichte seine Memoiren, die den „Grand Dessein“ enthielten, 1638, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Die Geschichte war der große Lehrmeister des Europa-Essays. Der Kontinent war dabei, sich im Namen unterschiedlicher christlicher Religionen auf den
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Schlachtfeldern zu zerfleischen, und diesem Kriegswahn setzte Sully die Vision einer christlich-europäischen Bundesrepublik entgegen, in der man die Bekenntnisse des Katholizismus, Protestantismus und Calvinismus als gleichberechtigt anerkennen würde, in der freier Handel praktiziert werden sollte, und die – mit einer gemeinsam gebildeten Polizeimacht – den Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten sichern würde. Fünfundsiebzig Jahre später schloss man den Utrechter Frieden ab, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, ein Krieg, der für Europa wieder – im wörtlichen Sinne – die verheerendsten Folgen gehabt hat. Damals knüpfte der Abbé de Saint-Pierre mit seinem „Projet de paix perpetuelle entre les souverains chrétiens“ an die Vorstellungen des Herzogs von Sully an. Diese frühen Europa-Essays waren in erster Linie Friedensschriften, und als im späten 18. Jahrhundert im Zuge der Koalitionskriege und Napoleonischen Feldzüge die nationalen Kriege Europa wieder verwüsteten, hatte es an neuen Friedensschriften, die an die Thesen der beiden Vorgänger anknüpften, keinen Mangel. Novalis’ Rede „Die Christenheit oder Europa“ reiht sich ein in die Friedensschriften der Zeit. Aus dem deutschen Sprachbereich sind hier zu nennen Kants „Zum ewigen Frieden“ (1795), Friedrich Schlegels „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ (1796), Fichtes „Zum ewigen Frieden“ (1796) und Görres’ „Der allgemeine Friede, ein Ideal“ (1798). Im Gegensatz zu Novalis’ Europarede wurde in diesen Abhandlungen das Kriegs- und Friedensthema in den konkreten zeithistorischen, völkerrechtlichen und gesellschaftspolitischen Kategorien von Französischer Revolution, Republikanismus und internationaler Rechtspflege diskutiert. Das war beim Herzog von Sully und beim Abbé de Saint-Pierre nicht anders gewesen. Im Unterschied zu ihnen aber fehlte den deutschen Nach-Denkern die Vision der europäischen Einheit. Nur Novalis stellte sie wieder in den Mittelpunkt, aber anders als seine französischen Vor-Denker verankerte er das Friedensprojekt religiös, gab ihm nicht einen politischen Vertrag, sondern die christliche Religion einer „neuen Kirche“ zum Fundament. Interessant ist eine zeitliche Koinzidenz: Novalis verfasste seine allerchristlichste Europadenkschrift just in dem Augenblick, als der denkbar unchristlichste europäische Politiker, Napoleon Bonaparte, am 18. Brumaire (November) 1799 in Paris einen Staatsstreich vom Zaun brach. Damals begann der frischgebackene Erste Konsul sein Leitbild des mazedonischen Alexanders gegen das des fränkischen Karls auszutauschen. Napoleon hat Novalis’ Rede nie zur Kenntnis nehmen können. Hätte er sie gelesen, wäre er sicher versucht gewesen, sie politisch zu funktionalisieren. Die Unifikation Europas hatte er schließlich auch im Sinn, eine neue christliche Einheitsreligion hätte er aus pragmatischen Gründen sicher befürwortet, und etwas Mittelalterschwärmerei wäre seinem Plan, die Nachfolge des Carolus Magnus anzutreten, nur nützlich gewesen. Die Intentio-
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nen des sensiblen Kulturkritikers Novalis und des hartgesottenen Machtpragmatikers Napoleon mochten sich irgendwo am äußersten Ende ihrer Visionen bzw. Pläne berühren. Novalis aber inaugurierte die „neue goldne Zeit“ als „heilige Zeit des ewigen Friedens“. Mit einem solchen Ideal konnte sich sein Zeit- und Altersgenosse in Paris jedoch nicht befreunden. Weltanschaulich gesehen, kann man sich keinen größeren Gegensatz als den zwischen Napoleon und Novalis vorstellen. Novalis misstraute aller Politik, allen politischen Vereinbarungen und Abmachungen. Für seine Behauptung, dass „nur die Religion […] Europa wieder aufwecken und die Völker sichern“ könne, hätte Napoleon nur ein müdes Lächeln gehabt. Nicht auf die neue „Kirche“ wie Novalis, sondern auf sein neues StaatsImperium wollte Napoleon die Einheit Europas gründen. Zukunftsweisend war weder die Rede des Novalis mit ihrer Neuauflage mittelalterlicher Einheitsträume noch die Politik Napoleons mit ihrem Ziel, eine kaiserliche Zentralmacht für ganz Europa zu reetablieren. Im deutschsprachigen Europa-Essay haben sowohl die Visionen des Novalis wie die politischen Pläne Napoleons nachgewirkt. Dabei hat Novalis’ Schrift mehr die Funktion eines Katalysators als die eines Vorbilds gehabt. Schon der Bericht „Reise nach Frankreich“ (1803) seines Freundes Friedrich Schlegel impliziert eine indirekte Ablehnung der Novalisschen Thesen. Hier gibt es keinen Rekurs auf eine postulierte christliche Glanzzeit des Mittelalters, überhaupt keine Rückversicherung bei irgendeiner Phase abendländischer Geschichte. Statt dessen wird (im Gegensatz zu Novalis) von einer „gänzlichen Unfähigkeit zur Religion“ bei den Zeitgenossen gesprochen, von einer „absoluten Erstorbenheit der höhern Organe“. Nach Schlegel kann Europa sich nicht aus sich selbst religiös erneuern, vielmehr müsse es bei der Kultur Indiens bzw. des Orients in die Schule gehen. Nur dort – nicht aber in Europa – sei die Religion noch das Band, das die Kultur zusammenhalte. Schlegel hatte die „Reise nach Frankreich“ als Eröffnungsbeitrag für das erste Heft seiner in Paris neu begründeten Zeitschrift „Europa“ geschrieben, womit der Essay einen manifesthaften Charakter erhielt. Der Titel dieses neuen Journals war in Anspielung auf Novalis’ Rede wie in Opposition zu ihr gewählt worden. Stand nämlich im Mittelpunkt der Novalis-Rede der Begriff der künftigen „Einheit“, so ging es in der Zeitschrift im Gegenteil um das Thema der Mannigfaltigkeit der europäischen Kultur. Die neue Ganzheit im asiatisch-indischen Sinn hatte Schlegel nur als vages Ziel einer Jahrtausende dauernden Entwicklung avisiert. In der Gegenwart war es ihm um Realitätserfassung zu tun, darum, das Spektrum Europas in seinen Trennungen, seiner Zersplitterung und Vielfalt wahrzunehmen. Man wird den Verdacht nicht los, dass Schlegel damals die Europarede seines Freundes nicht publizieren wollte und dass er Goethes Urteil vor allem deswegen einholte, weil er wusste, dass dessen Vorbild-Epoche längst
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nicht mehr das Mittelalter, sondern die griechische Klassik war. Goethe konnte sich, wie zu erwarten, für die Schrift nicht erwärmen, und so erschien sie mit jahrzehntelanger Verspätung erstmals 1826, also mitten in der Restaurationszeit. Gegen Novalis an schrieb auch Heinrich Heine seine zwischen 1826 und 1831 publizierten „Reisebilder“. Die Themen Freiheit und Emanzipation bleiben dort immer der Bezugspunkt von Heines Engagement. „Die Freiheit ist eine neue Religion, die Religion unserer Zeit“ – das klingt wie eine Antwort auf Novalis, der für Europa die „neue Religion“ als innoviertes Christentum ersehnt hatte. Novalis’ Bestimmung der neuen Religion war vage und formal geblieben; bei Heine wurde ihr eine säkularisierte Prägung gegeben, indem die innerweltliche Freiheit zu ihrem Zentrum deklariert wurde. Dass Heine in Napoleon den Heiland der künftigen Humanitäts-Religion für das neue Europa sah, spricht nicht für seinen politischen Scharfblick. Noch entscheidender als Heine setzte Nietzsche sich (wiederum indirekt) mit seinem Konzept des „guten Europäers“ von Novalis ab. Ähnlich wie Heine schwärmt – wenn auch aus anderen Gründen – Nietzsche von Napoleon. Für ihn zählt der französische Kaiser zu den „guten Europäern“, zu den imperialistischen Machtmenschen, die von der selbstverständlichen Dominanz Europas über den Rest des Erdkreises ausgehen. Gegen das Christentum erhebt Nietzsche als „guter Europäer“ die denkbar schwersten Vorwürfe. „Die christliche Kirche“, liest man, „ließ Nichts mit ihrer Verderbniß unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht.“ Die Revision des Christentums nannte er „Europa’s längste und tapferste Selbstüberwindung“. Im Sinne eines radikalen Bruchs mit christlichen Verhaltensnormen traute er dem „guten Europäer“ zu, „alle Verbrechen“ zu begehen, „die gefährlichsten Gedanken und die gefährlichsten Weiber“ zu lieben. Die „guten Europäer“ im Sinne Nietzsches waren „Atheisten und Immoralisten“, eine „verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch emporreissende Art höherer Menschen“. Heinrich Mann war wohl der engagierteste deutschsprachige Europa-Essayist unseres Jahrhunderts. Auch er verstand sich nicht als Apostel, sondern als Gegner des Novalis. Eine gewisse Nähe zu Heine spricht aus seinem Respekt vor Napoleon und aus seinem Freiheitsverständnis, wie es den „Ideen von 1789“, den Ambitionen der Französischen Revolution entspricht. Für das europäische Mittelalter des Novalis hat Heinrich Mann sich nie erwärmen können. In seinem mitten im Weltkrieg geschriebenen Aufsatz „Der Europäer“ (1916) sprach der Autor abwertend vom „halluzinatorischen Wahnwitz unseres Mittelalters“. Nicht die idealistische Europaschrift des Novalis, sondern der pragmatische Europaplan des Herzogs von Sully wurde von Heinrich Mann als Vorbild anerkannt. Sully hatte in seinen Memoiren behauptet, der „Große Plan“ sei von seinem König
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Henri IV entworfen worden. Heinrich Mann fand diese Legende glaubwürdig, und so setzte er dem König mit seinem zweiteiligen Roman ein rühmliches literarisches Denkmal als großem Europäer. Auch Stefan Zweig mochte von einer Mittelalter-Verklärung im Sinne des Novalis nichts wissen. 1932 hielt er in Florenz den Vortrag „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung“. Was bei Zweig nachwirkte, war das dunkle Bild mediävaler Vergangenheit, wie es zur Zeit der Aufklärung vorgeherrscht hatte. Für ihn war nicht Novalis, sondern Erasmus von Rotterdam, dessen Biografie er schrieb, der vorbildliche Europäer schlechthin. Nicht während des Mittelalters, sondern erst zur Zeit des Humanismus sei deutlich geworden, dass Europa eine Einheit darstelle. Das „übernationale Reich des Humanismus“ sei das „unsichtbare Parlament Europas“ gewesen. In Zweigs Rede sind auch Spuren der napoleonisch-imperialen Europaträume von Nietzsche auszumachen. Wie Nietzsche glaubte auch Zweig, dass die europäischen Nationen berufen seien, „die Führung in der Welt zu bewahren und zu behaupten“. Im gleichen Jahr 1932 beginnt aber in den Europa-Essays der Autoren eine Rehabilitierung des Novalis, und Napoleon wird kaum noch erwähnt. Damals erschien der dritte Band von Hermann Brochs Romantrilogie „Die Schlafwandler“ („Huguenau oder die Sachlichkeit“). Darin baute der Autor den Essay „Zerfall der Werte“ ein, der ein geschichtsphilosophisches Koordinatensystem aufweist, das sich erstmals bei Novalis findet. Broch sieht im Mittelalter das Modell einer geeinigten, befriedeten, harmonischen europäischen Kultur, deren Zentrum der christliche Glaube ausmache. Wie Novalis geht es Broch nicht um ein Zurück zu den Zuständen der Vergangenheit, doch meint auch er, dass man eine analoge Einheit für die Zukunft Europas anstreben müsse, dass eine neue Religion nach dem Zerfall der alten Werte das künftige kulturelle Band des Kontinents werde abgeben müssen. Wie viele Modernisten ist auch Broch noch von der Idee der kulturellen Einheit besessen, betrauert die Aufsplitterung und Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Welt in eine immer größer werdende Vielzahl von PartialWertsystemen. Anders als die Postmodernisten der nächsten Generation hat er sich mit dem wachsenden weltanschaulichen Pluralismus noch nicht abgefunden. Für Broch blieb die Vision der neuen Religion als Mitte einer zukünftigen Kultur eine abstrakte Idee. Auf keinen Fall dachte er (auch darin Novalis verwandt) an ein Zurück zur päpstlichen Macht der institutionalisierten Kirche des Mittelalters. Das war bei Ernst Jünger schon anders, der unmittelbar nach dem Krieg seine Europaschrift „Der Friede“ vorlegte. Der antimetaphysische und militaristische Barde der Vorkriegsjahre war zum kirchenfrommen Friedensprediger mutiert. Zur Vereinigung brauche Europa, so schrieb Jünger, die Kirche, denn sie sei „das stärkste der alten Bänder, welche die Zeiten der nationalen Trennung
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überdauerten“. „Die wahre Besiegung des Nihilismus und damit der Friede“, philosophierte er, „wird nur mit Hilfe der Kirche möglich sein.“ Die christliche Religion stand in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bei vielen Europa-Essayisten wieder hoch im Kurs. Frank Thiess bekannte sich in seinem Aufsatz „Europa als politisches Problem“ von 1948 zum Idealismus des Novalis, wenn er (ganz in dessen Sinne) betonte, dass die Verwirklichung der europäischen Einheit nicht „ein Ergebnis politischer Schachzüge“, sondern „einer Lebens- und Geisteshaltung“ sei. In Anspielung auf Novalis heißt es dort: „Die Vorstellung einer übernationalen Einheit im Sinne der europäischen Staaten tauchte seit rund 150 Jahren im Bewußtsein führender Köpfe auf.“ In der Tradition dieser „führenden Köpfe“ sah sich damals auch Werner Bergengruen. Der schwärmte in seiner 1948 gehaltenen Ansprache „über abendländische Universalität“ vom „domglockengleichen Klang des Wortes ,Abendland‘“. In den Europa-Essays von Jünger, Thiess und Bergengruen blieb das größte Verbrechen der Hitlerzeit, der Holocaust, unerwähnt. Wie Bergengruen ohne Eingeständnis dieser Schuld dazu aufrufen konnte, „die abendländische Gesinnung in uns zu erneuern“ und „den Weg der christlichen Lehre, den Weg der abendländischen Mäßigung und Hochherzigkeit“ zu beschreiten, bleibt ein Rätsel. Bergengruen glaubte, im Geist des Novalis zu sprechen. „Nur Geduld“, so wiederholte er die Schlusszeilen aus „Die Christenheit oder Europa“, „sie wird, sie muß kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird.“ Man liest diese Zeilen mit dem unguten Gefühl, dass sich hier ein Mitschuldiger auf einen Schuldlosen, ein Kirchenfrömmler auf einen unabhängigen Geist, ein Epigone auf einen originellen Denker beruft. Seit den sechziger Jahren, seit dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit, knüpft kein Europa-Essayist unter den deutschsprachigen Autoren mehr an Novalis an. Nicht Einheit, sondern Pluralität, nicht Eurozentrismus, sondern Multikultur, nicht Religion, sondern Humanität sind die Kategorien, mit denen das Argumentationsfeld in den Europabeiträgen von Hans Magnus Enzensberger und Peter Schneider, von Carl Améry und Günter Grass, von Adolf Muschg und Peter Bichsel abgesteckt wird. Nicht der Geist des Novalis, sondern der des Napoleon wird in einem der jüngsten deutschsprachigen Europa-Essays beschworen, in Peter Sloterdijks „Falls Europa erwacht“ (1994). Hier flirtet ein Intellektueller erneut mit der Vorstellung von einer imperialen europäischen Großmacht, sieht in der translatio imperii die „mytho-motorische Zelle aller kulturellen, politischen und psychosozialen Prozesse“ in der Geschichte Europas. An der Oberfläche betrachtet, gibt die Novalis-Rede für die aktuelle Diskussion der Schriftsteller über Europa wenig her. Sieht man aber in Novalis den ersten entschiedenen Vertreter einer kulturellen Europavision und erkennt man in Napoleon den ersten radikalen Repräsentanten der politischen Europa-Idee, wird deutlich, dass die
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meisten Gegenwartsautoren sich als Nachfolger des deutschen Romantikers und nicht des französischen Kaisers empfinden würden. Die Literatur- und Kulturhistoriker sehen in Napoleons „Mémorial“ mit seinen Visionen von wirtschaftlicher, monetärer und politischer europäischer Einheit ein Stück geschickter politischer Propaganda, eine nachträgliche Rechtfertigung seiner auf Krieg und national-französischen Imperialismus abgestellten Politik. In der Schrift des Novalis hingegen erkennen sie einen hochherzigen Traum von romantischer Christenheit, eine sympathische Parteinahme für den Frieden und gegen den Krieg, eine notwendige Kritik an den Verflachungserscheinungen der Aufklärung und an der protestantischen Überschätzung der Philologie auf Kosten der Geschichte, eine engagierte Attacke gegen die generelle Poesielosigkeit seiner Gegenwart bzw. gegen die Prosa der Verhältnisse eines zunehmend im Kommerzdenken befangenen Bürgertums.
Prophet der europäischen Krise. Rudolf Pannwitz als Briefpartner Hugo von Hofmannsthals DIE ZEIT (28.10.1994) Nie hat Hugo von Hofmannsthal ein Buch so aus der Reserve gelockt, nie hat ein Werk ihn zu solch hymnischem Lob gereizt wie „Die Krisis der europäischen Kultur“ von Rudolf Pannwitz. Der schmale Band erschien 1917, mitten im Weltkrieg. „Das Auftreten von Pannwitz“, bekannte Hofmannsthal damals gegenüber einem Freund, habe in ihm „Epoche“ gemacht. Sein Enthusiasmus steigerte sich noch, als Pannwitz 1919 „Die deutsche Lehre“ publizierte. Hofmannsthal war „völlig gewiß“, dass es ein Buch sei, „worauf die ganze Generation fiebernd warte“. Alfred Döblin war anderer Meinung. In der „Neuen Rundschau“ vom Juni 1920 hielt er das Buch für „ein komplettes Debakel“. Pannwitz ist heute ein vergessener Autor, und man fragt sich, was ihn damals so kontrovers erscheinen ließ. Pannwitz – sieben Jahre jünger als Hofmannsthal – stammte aus einer Lehrerfamilie in Crossen an der Oder, hatte in Berlin und Marburg Philologie (unter anderem Sanskrit) und Philosophie studiert. 1904 gründete er gemeinsam mit Otto zur Linde die antirealistische Berliner Dichtergruppe Charon mit der gleichnamigen exklusiven Zeitschrift. Am lesenswertesten sind nach wie vor seine zahlreichen Europa-Essays, die im Lauf eines halben Jahrhunderts entstanden. „Die Krisis der europäischen Kultur“ war das erste Werk, mit dem Pannwitz einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Nach dem Erscheinen des essayistischen Buches empfand er sich als Prophet der europäischen Krise und als Fortsetzer
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Nietzsches, weil er das Rezept zur Überwindung des abendländischen Nihilismus gefunden zu haben glaubte. Er wollte zur Versöhnung der kriegführenden europäischen Länder beitragen und darüber hinaus die Krise der Gegenwart, d.h. die Krise der Moderne, durch eine „Schulung am asiatischen Geist“ überwinden helfen. Hofmannsthals Begeisterung war verständlich: Er glaubte seine kulturkritischen Lieblingsvorstellungen bei Pannwitz begründet und ausgeführt zu finden. Auch der österreichische Autor trat für den Frieden ein; auch er glaubte, das Heil des selbstzerstörerischen Kontinents liege in der Rückkehr zu einer kulturellen Einheit, wie er sie in Asien vermutete. Beide Schriftsteller schwärmten von einer romantisierten Kultur Alt-Indiens und Alt-Chinas; von den Realitäten im Asien ihrer Gegenwart wussten sie wenig. Der Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Pannwitz dauerte dreieinhalb Jahre, von Mitte 1917 bis Ende 1920. Die Korrespondenz war so intensiv, dass sie im vorliegenden Druck über fünfhundert Seiten ausmacht. Häufig werden Pannwitzens finanzielle Misere, seine eigenartige familiäre Situation (ein Mann zwischen drei Frauen) und sein prophetenhaft-absolutistischer Anspruch berührt. Zudem finden sich einige Hofmannsthalsche Selbstinterpretationen, die für Laien und Germanisten von Interesse sind. Das Hauptthema aber ist Europa: der Zustand der europäischen Kultur und die politische Lage des Kontinents am Ende des Ersten Weltkriegs und in den beiden Nachkriegsjahren. Das „großzügig Europäische“, den „kontinentalen Gedanken“, die „große Idee“ Europa suchte Pannwitz gegen „eine Politik mit nationalistischer Enge“, mit „nationaler Kultursperre“ ins Feld zu führen. Schon 1917 sah er voraus, dass die „europäische Integration“ (er benutzte bereits diesen Terminus) zu sehr von wirtschaftlichen Interessen diktiert sein werde. Leitmotiv artig durchziehen Thesen wie „Man kann Europa nicht wie einen Konsumverein organisieren“ die Korrespondenz. Pannwitz wollte die „materialistische“ und „zynische“ Moderne durch eine weltanschauliche „Welt-Synthese“ überwunden sehen, durch eine „Europäisierung ohne Ent-Orientalisierung“. Die europäische Moderne sei eine „Schule der Imperatoren“; sie werde – schrieb er 1918 – „furchtbare Tyrannen“ hervorbringen, „wie sie noch nie dagewesen“ seien. Am asiatischen Wesen sollte die europäische Welt genesen. Mit dieser frohen Botschaft reihte Pannwitz sich ein in den Kreis jener Schriftsteller, die wie Hermann Hesse, Max Dauthendey, Hermann Graf Keyserling, Rudolf Kassner, Theodor Lessing und Hugo von Hofmannsthal damals darauf erpicht waren, den kulturellen Orientexpress, dessen Endstation durchweg eine europäische Bibliothek war, nicht zu verpassen. Über Geist und Seele des Abendlandes hinaus machten sich die beiden Briefpartner auch Gedanken zu machtpolitischen Gegebenheiten der Alten Welt. Noch 1917 träumten Pannwitz und Hofmannsthal von bedeutenden kontinentalen
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Rollen der Tschechen und der Österreicher in der Zeit nach dem Friedensschluss. Während der letzten Kriegsmonate aber setzte Pannwitz seine Hoffnungen auf England: Im Vereinigten Königreich sah er jetzt die neue abendländische Ordnungsmacht. Großbritannien sei das einzige europäische Land, das als Weltmacht in der Lage sei, den Kontinent aus dem Einflussbereich der USA herauszuhalten. Amerika gegenüber müsse Europa eine eigene Monroedoktrin aufstellen. Nichts fürchtete Pannwitz damals mehr als Amerikanisierung. Am Materialismus der Vereinigten Staaten, so argumentierte er, könne die europäisch-asiatische Kultursynthese scheitern. Gleichzeitig prophezeite er, dass ein durch die Entente „gedemütigtes Deutschland“ der „stärkste Sprengstoff der Welt“ werden müsse. Das Ende des Weltkriegs und die sogenannten Pariser Vorortverträge brachten seine Ideen vom friedlichen Neuaufbau Europas durcheinander. Hofmannsthal ließ sich im November 1918 zu der Bemerkung hinreißen: „Der Welt die untergeht weine ich auch keine Thräne nach.“ Solche Töne überraschten den Korrespondenzpartner, denn Pannwitz dämmerte allmählich, dass die europäische Vorkriegsordnung gegenüber den neuen Verhältnissen durchaus Vorzüge aufzuweisen hatte. Enttäuscht von England, glaubte er eine Weile, Frankreich die Avantgarderolle im europäischen Einigungsprozess zuerkennen zu müssen. Jetzt hing er der Idee von einem „lateinischen Europa“ nach. Wie England Europa vor der Amerikanisierung werde Frankreich den Kontinent vor der Sowjetisierung schützen. Langfristig gestand Pannwitz dem Deutschen Reich die Führungsrolle in Zentraleuropa zu, wobei er sich bewusst vom imperialen Mitteleuropa-Konzept Friedrich Naumanns absetzte. Auf eine dominierende Rolle sei Deutschland aber nicht vorbereitet. Deshalb schrieb er „Die deutsche Lehre“, in der er sich als Volkserzieher gab: Erst wenn die Deutschen sich „entpolitisierten“, erst wenn sie den geistigen und religiösen Durchbruch zum Hölderlinschen Idealismus schafften, dürften sie Führungsansprüche in Europa anmelden. Die Überspanntheit des Projekts forderte Döblins Spott heraus. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Analysen und Prognosen in den Europa-Essays von Pannwitz realitätsgerechter und nüchterner. Er sagte 1931 Hitlers Machtergreifung, den raschen Aufstieg und den noch schnelleren katastrophalen Untergang der Nationalsozialisten in einem von ihnen angezettelten Krieg voraus. Schon damals wusste er, dass auf lange Sicht der sowjetische Sozialismus zum Bankrott verurteilt sei und dass die sowjetischen Machthaber selbst einmal den Übergang zum Kapitalismus einleiten würden. Im Briefwechsel mit Hofmannsthal aber irritiert die größenwahnsinnige Attitüde des sich unfehlbar gebenden Propheten. Pannwitz sah in sich den Erlöser des 20. Jahrhunderts und wollte als Übermensch mit Christus verglichen werden. Seine Gönner hasste er, weil sie nicht bereit waren, ihm ihren ganzen Besitz zu opfern. So erwartete er allen Ernstes, dass Josef Redlich – ein Freund Hofmannsthals – Selbstmord
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begehe und ihn als Erbe einsetze, auf dass er unbeschwert von Alltagssorgen Deutschland, Europa und der Welt seine Heilslehre verkünden könne. Pannwitz war Hofmannsthal auf die Dauer – als Denker, als Bittsteller, als Proselytenmacher, als Chaot in seinem Freundeskreis – zu anstrengend, und nach drei Jahren brach die Korrespondenzbrücke zwischen dem Österreicher und dem Deutschen zusammen. 1922 und 1926 durch Pannwitz unternommene Reparaturversuche schlugen fehl. Unbestechlichkeit allerdings kann man Pannwitz nicht absprechen. Sie dokumentiert sich zum Beispiel darin, dass er antisemitische Bemerkungen Hofmannsthals zurückwies und seinen Dichterkollegen dazu brachte, solche Ausfälle zu unterlassen. Der Briefwechsel Hofmannsthal – Pannwitz ist ein beachtliches literatur- und kulturhistorisches Zeitdokument. Gerhard Schuster hat vorbildliche editorische Arbeit geleistet: Die Anmerkungen, die den Umfang eines Buches ausmachen, erhellen die biografischen, politischen und philosophischen Aspekte der Korres pondenz. Auch Erwin Jaeckles abschließender Essay ist reich an Informationen über Leben und Werk des – zum Teil zu Unrecht – vergessenen Schriftstellers Rudolf Pannwitz. Hugo von Hofmannsthal – Rudolf Pannwitz, Briefwechsel 1907–1926. Hg. v. Gerhard Schuster. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1993.
Studien zur europäischen Mentalitätsgeschichte Neue Zürcher Zeitung (29.6.1994) Die Anthropologie will den Konstanten im Denken, Empfinden und Verhalten der Menschen auf die Spur kommen; die Mentalitätsgeschichte dagegen erforscht und vergleicht die Variationen menschlicher Vorstellungsweisen in unterschiedlichen historischen Epochen. Flaggschiff der Mentalitätsgeschichte wurde die von Marc Bloch und Lucien Febvre 1929 gegründete französische Historikerzeitschrift „Annales“. Seitdem spricht man von einer „Annales“Schule. Ihre Kennzeichen sind das Abrücken von der bloß auf das Politische fixierten Geschichtsschreibung, die Untersuchung von Langzeitstrukturen und die Öffnung gegenüber Nachbardisziplinen wie Anthropologie, Psychologie und empirischer Kulturwissenschaft. Wichtig ist den Annalisten der Begriff historischer Mentalität, verstanden als Ensemble von Empfindungsweisen und Denkinhalten. Dieses Ensemble lässt sich bestimmen durch eine Vernetzung verschiedener wissenschaftlicher Methoden aus der Ideen-, Sozial-, Religionsund Politikgeschichte.
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Um eine solche Vernetzung hat man sich auch in einem neuen Überblick zur europäischen Mentalitätsgeschichte bemüht. Es handelt sich hier um einen gelungenen Versuch, europäische Mentalitätsveränderungen in den Übergängen von der Antike zum Mittelalter und vom Mittelalter zur Neuzeit festzuhalten. Der Herausgeber Peter Dinzelbacher hat dreißig kompetente Kulturhistorikerinnen und Kulturhistoriker aus Deutschland, Österreich, Frankreich und den USA gewonnen, die zentrale Aspekte europäischer Mentalität untersucht haben: Individuum und Gesellschaft, Sexualität und Liebe, Religiosität und Atheismus, Körper und Seele, Gesundheit und Krankheit, Alter und Jugend, Sterben und Tod, Ängste und Hoffnungen, Freude und Glück, Arbeit und Fest, Kommunikation und Isolation, Fremdes und Eigenes, Dienst und Herrschaft, Recht und Anarchie, Natur und Umwelt, Raum und Zeit. Im Kapitel über Individuum und Gesellschaft wird die im Christentum mögliche Absage an familiäre Bindungen herausgestellt, die in dieser Form bei den Römern undenkbar ist. Übergeordnete soziale Instanz kann jetzt die Kirche sein, was zu neuen Gemeinschaftsbildungen wie den Klöstern führt. Während im Hellenismus sexuelle Handlungen nicht mit dem sittlich Bösen in Verbindung gebracht werden, erreicht die moralisch argumentierende Sexualitätsfeindlichkeit im 11. und 12. Jahrhundert einen Höhepunkt. Gleichzeitig wird an den Höfen (Minnesang) und in den Klöstern (Brautmystik) das Konzept der Liebe neu entdeckt. Besteht zwischen antiker und mittelalterlicher Religion noch eine Ähnlichkeit in Hinsicht auf die Verehrung von Schutzgöttern und Schutzheiligen, bringt die Neuzeit Entmythologisierung und Entzauberung mit sich. Denkt man sich in der Antike Körper und Seele als Einheit, wird im Mittelalter der Körper als Gefängnis der Seele verstanden. Werden bei Griechen und Römern Krankheiten mit magischem Heilzauber und Amuletten bekämpft, bildet sich im Mittelalter eine christlich motivierte Krankenversorgung heraus, was zur Begründung einer wissenschaftlichen Medizin in der frühen Neuzeit führt. Das Verständnis von den Lebensaltern bleibt über zwei Jahrtausende konstant: Ein Fünfzigjähriger gilt bis ins 18. Jahrhundert als Greis. Faszinierend ist die Lektüre über die wechselnden Auffassungen vom Tod. Das christliche Mittelalter hat mit der Erfindung des Fegefeuers eine Todesvorstellung begründet, in der die Jenseitsangst die Jenseitshoffnung verdrängt. Die Folge ist der für die Kirche einträgliche Arme-Seelen-Kultus, der durch die Reformatoren bekämpft wird. Lesenswert sind auch die Abschnitte über die religiösen und weltlichen Heilsbringer, die in eigentlich jeder Epoche Europas erwartet werden. Verstehen die antiken Stoiker die Seelenruhe als Voraussetzung von irdischem Glück, sieht man in der mittelalterlichen Eremitenbewegung die Einsamkeit als Glücksgrundlage an. Die Neuzeit schafft mit Fortunatus eine literarische Figur, die wachsende
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Bedeutung von Geld und Mobilität als Garanten des Wohlergehens signalisiert. Die Idee, Arbeit könne eine daseinserfüllende Funktion haben, ist der Antike fremd, wird aber für die Neuzeit bestimmend. Die Römer sind Meister der Kommunikation. Ihr cursus velox (Kurierdienst, Eilpost) schafft hundertundachtzig Kilometer am Tag. Das ist u.a. die Voraussetzung für einen blühenden Tourismus, der Pausanias im 2. Jahrhundert n.Chr. veranlasst, einen populären Reiseführer zu schreiben. Als folgenreich erweist sich die griechische Auffassung vom kulturell Anderen. Dem Fremden als Person bietet man die denkbar entgegenkommendste Gastfreundschaft; das Fremde als Kulturbegriff aber wird unter der Bezeichnung des Barbarischen abgewertet. Neues bieten auch die Abschnitte über Natur und Umwelt. Wegen der Kohleverfeuerung wird die Luftverpestung in englischen Städten wie Nottingham und London im 13. Jahrhundert als unerträglich empfunden. Im französischen Arles verbietet der Rat der Stadt im Jahre 1306 wegen der Luftverschmutzung die Verwendung von Kohle in Schmieden. Die Lüneburger Heide ist das erste deutsche Kahlschlaggebiet: Zur Salzgewinnung braucht man im Mittelalter so viel Holz, dass man mit dem Aufforsten nicht mehr nachkommt. Interessante Beobachtungen finden sich in den Kapiteln über Raum- und Zeitauffassungen: Die Höhentendenz in der gotischen Architektur habe eine Parallele in der Erhöhung der Frau im Minnedienst, in der Verlegung von Adelssitzen auf Höhenburgen und in Wolfram von Eschenbachs olympischer Erzählperspektive. Die sich ändernde Zeitauffassung beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird beschrieben als Paradigmenwechsel von einer religiös zu einer kommerziell orientierten Zivilisation. In fast jedem Beitrag wird auch auf die Wandlungen der Geschlechterrollen eingegangen. Hier kann nur in Andeutungen etwas vom Informationsreichtum dieses gut konzipierten und flüssig geschriebenen Bandes mitgeteilt werden. Deutlich wird, wie fremd uns bestimmte Phasen der europäischen Geschichte geworden sind. Dieses Alteritätserlebnis zu vermitteln wird von den Autorinnen und Autoren beabsichtigt. Schade nur, dass lediglich die europäischen Verhältnisse in den Blickwinkel geraten. Das Vertraute und das Fremde wären noch stärker konturiert worden durch eine Mentalitätskomparatistik, die – zumindest punktuell – auf die Gegebenheiten in anderen Kulturen verwiesen hätte. Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner, 1993.
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Europas kulturelle Pluralität. Zum neuen Jahrbuch „Kultur-Markt Europa“ Neue Zürcher Zeitung (21./22.7.1990) Zwei Entwicklungen vor allem verändern derzeit das Gesicht der Alten Welt: die politische Demokratisierung der ehemaligen kommunistischen Staaten in Mitteleuropa und die wirtschaftliche Binnenmarkt-Integration der Europäischen Gemeinschaft. Die sozioökonomischen Umwälzungen hinterlassen merkliche Spuren im kulturellen Bereich, und das von der Kulturpolitischen Gesellschaft in Köln neubegründete Jahrbuch sucht diese Auswirkungen zu erfassen und kritisch zu analysieren. Das Ziel des Bandes wird von Steve Austen und Hajo Cornel im Vorwort umrissen: auf Risiken und Chancen für die Kultur im Zuge des europäischen Zusammenwachsens aufmerksam zu machen und gleichzeitig das Bewusstsein für die Eigenständigkeiten der Kulturen in Europa zu schärfen. Im Zentrum der sechsundzwanzig Beiträge steht der Begriff der europäischen kulturellen Identität, wobei von Begriffspolaritäten wie Einheit und Vielfalt, Eigenes und Fremdes, Wirtschaft und Kunst ausgegangen wird. Das Einheitliche der europäischen Kultur wird – mit griechisch-römisch-christlichem Erbe – mehr in der Geschichte als in der Gegenwart entdeckt. Die heutige Kultursituation zeichne sich durch eine postmoderne Pluralität, durch Fragmentierung und Desintegration von Ordnungen und Normen aus. Auf dem bunten Kulturmarkt zirkulieren nach Karl Homuth Angebote, die sich wechselseitig dementieren, und so verlaufe die individuelle Identitätsbildung notwendigerweise krisenhaft. Kurt H. Biedenkopf bedauert diesen Tatbestand, Václav Havel hingegen begrüßt ihn, da er nichts bedrückender empfinde als das „standardisierte Leben“. Was die Spannung von Eigen- und Fremdbestimmtheit der europäischen Kultur betrifft, sehen einige in der Revitalisierung der Regionen, andere in der geschichtlichen Neubesinnung der Nationen eine Bereicherung. Cornelius Castoriadis erkennt die positive Besonderheit des Kontinents darin, dass er sich stets anderen Kulturen gegenüber öffnete, wohingegen Thomas Schmid die negative Seite dieser Öffnung mit den Folgen von kolonialer Gewalt, Expansion und Aggressivität herausstellt. Im Hinblick auf die Amerikanisierungsschübe weisen Norbert Rehrmann und Hermann Schwengel die Auffassung, Europa könne sich aus sich selbst heraus verstehen, als eurozentrische Illusion zurück. Die Partnerschaft von EG-Politik und Kultur scheint sich bisher unharmonisch zu gestalten. Vehement wird die Vorstellung von der Kultur als einer Girlande des politischen Prestiges abgelehnt (Kathinka Dittrich van Weringh), und gegen die Brüsseler Behörde, die nur 0,3 Prozent ihres Haushalts für Kulturelles reserviere, wird allenthalben als Normierungsmonster polemisiert. Erste Unter-
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nehmungen einer EG-Kulturpolitik (Europäischer Filmpreis, Kulturhauptstadt Europas) finden noch keinen ungeteilten Beifall. Wie ein Leitmotiv durchzieht das Wort von Jacob Burckhardt über Europa den Band: „Was uns bedroht, ist die Zwangseinheit; was uns rettet, ist unsere Vielfältigkeit.“ Das neue Jahrbuch verkörpert die Pluralität, die es analysiert: Es ist informativ, kontrovers und belebt die Kulturdiskussion in unserem rapide sich wandelnden Kontinent. Kultur-Markt Europa. Jahrbuch für europäische Kulturpolitik. Hg. v. Steve Austen, Michael Haerdter, Olaf Schwencke. Köln: Volksblatt, 1989.
Enzensberger und das „sanfte Monster Brüssel“ Die Welt/Literarische Welt (3.11.2011) Lest Enzensberger! – besonders wenn er den großen Traum von der europäischen Einheit analysiert. Wer erinnert sich nicht an den fabelhaften Essayband „Ach Europa!“ von 1987, in dem der Autor an Länder des Kontinents erinnerte, die – so meinte er – noch nicht von Normierung, Homogenisierung, Supermodernisierung und Machtambition der EG geprägt waren (wie etwa Portugal, Italien, Schweden, Ungarn und Polen). Das Buch enthielt zwei Prophezeiungen: Erstens werde das Integrationsprojekt am Eigensinn der Nationen scheitern; zweitens werde die Berliner Mauer bald fallen, womit der ganze Kalte-Krieg-Gegensatz verschwinde. Das eine traf nicht ein, das andere schneller als erwartet. Zwei Jahre später feuerte der kämpferische Enzensberger eine Breitseite auf die Kommissionsfestung der Europäischen Gemeinschaft ab. Sein Essay „Brüssel oder Europa – eins von beiden“ war im Kontext des Europadiskurses der Schriftstellerinnen und Schriftsteller die damals schärfste Attacke auf die EG und ihre Strategen. Was da von Brüssel gesteuert werde, hieß es, laufe auf die Zerstörung der kulturellen Vielfalt des Kontinents hinaus, sei durch keine demokratischen Wahlen legitimiert und ziele auf die Etablierung einer synthetischen Großmacht ab, deren Überheblichkeit sich bereits abzeichne. Dem würden die Bürger Europas nicht tatenlos zuschauen, sondern schon bald den Aufstand gegen Brüssel proben. Im neuen Essay sind die Angriffe nach wie vor gezielt, doch stimmt der Autor anfänglich sogar ein Loblied auf die Europäische Union an. Dank Integration habe es keine Kriege mehr zwischen den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft gegeben. Aber was, so muss man Enzensberger fragen, hat die Brüssel-Politik mit dem langen Frieden zu tun? Dass der kalte nicht in den heißen Krieg umschlug,
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ergab sich aus Entscheidungen der Supermächte USA und Sowjetunion. Dagegen erwähnt der Autor nicht, was zu den genuin europäischen Verdiensten zählt: die Schaffung einer Menschenrechtskultur mit einklagbaren Human Rights, die in allen Mitgliedstaaten gelten. Zum Schluss baut Enzensberger den Dialog zwischen einem Brüssel-Gegner und einem EU-Vertreter ein. Die beiden treffen sich in einem noblen Lokal der belgischen Hauptstadt, wobei sie in gepflegter Konversation unterschiedliche Meinungen wie freundliche Nachbarn austauschen. Zum Sturm auf die Integrationsburg, so stimmt man überein, werde es nicht kommen, und von der Alternative „Brüssel oder Europa“ ist keine Rede mehr. Man einigt sich auf die poetische Kompromissformel, dass Brüssel zwar in Europa, Europa aber nicht in Brüssel liege, was wohl bedeutet, dass es eine Vorstellung von Europa gibt, die weit über das hinausgeht, was man mit der Europäischen Union verbindet. Ansonsten herrscht Kritik vor. Da werden „Sprachregelungen“ der EU mit ihrem „PR-Theater“ in Werbung und Propaganda aufgedeckt. Die Rhetorik der endlos langen Verträge sei unverständlich: diese Dokumente schöben sich wie „Drahtverhaue“ zwischen die EU und ihre Bürger. Vom „Regelungswahn“ der Kommission ist die Rede, von schikanösen Vorschriften, mit denen sich die Verwaltung ins Alltagsleben von 500 Millionen Menschen einmische. Enzensberger nennt den absurden Plan der dreißigstelligen Kontonummern, die jedem Inhaber einer Bankverbindung zugemutet werden sollen. Unterhaltsam zu lesen sind seine Witze über Titel- und Abkürzungsmarotten in der Union. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse veröffentlichte im vorigen Jahr einen Bericht über seine Erfahrungen in Brüssel. Enzensberger ist wie Menasse fasziniert vom Typus des kompetenten Kommissionsbeamten, der mit seinem Enthusiasmus und Fleiß so gar nichts mit einem grauen, ideenarmen Bürokraten gemein habe. Gleichzeitig aber heckten diese Kosmopoliten unsinnige Verordnungen aus, mit denen der Erdteil entmündigt, gleichsam in eine „Zwangsjacke“ gesteckt werden solle: Dialektik der Brüsseler Aufklärung. Was Enzensberger an Bürokratiekritik vorträgt, gilt eigentlich für jede große Behörde, nur dass die Beamten nicht überall einem Muster an Effizienz gleichen. Bewunderung und Distanz mischen sich auch in Enzensbergers Porträt von Jean Monnet, dem Vater des Brüsselprojekts. Der Autor übernimmt unkritisch das Selbstbildnis Monnets, wie er es in seinen „Erinnerungen“ zeichnete. Die Verdienste des Franzosen sollen nicht geschmälert werden, aber ohne die jahrhundertealte „Europa-Idee“, über die Enzensberger sich lustig macht, hätte Monnet das Vokabular für seinen Plan gefehlt. Dass die Gründung der Montanunion „ein damals noch ganz unwahrscheinlich anmutendes Projekt“ gewesen sei, wie Enzensberger das sieht, kann man nicht behaupten. Fast alles, was Monnet als Ziel vorschwebte, kannte er durch die Publikationen von Richard Coudenhove-
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Kalergi, der wiederum die Europaschriften aus dem 19. und 18. Jahrhundert gelesen hatte. Wie später Monnet wollte schon Coudenhove-Kalergi ein vereintes Europa mit Hilfe politischer Eliten schaffen. Monnets Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ war – anders als Enzensberger annimmt – nicht originell. Von den VSE hatten schon Victor Hugo, Heinrich Mann und viele andere EuropaEssayisten geträumt. Der Pragmatiker Monnet schuf 1950/51 eine Behörde für die transnationale Bewirtschaftung von Kohle und Stahl als Nukleus des künftigen vereinten Europas. Das war die richtige Aktion zur richtigen Zeit. Gerade diesen Anfang aber kritisiert Enzensberger als „Geburtsfehler“ des Europaprojekts, denn von Beginn an habe so die ökonomische, technokratische und interventionistische Rationalität vorgeherrscht, an der die Brüsseler Behörde noch heute kranke. Nach dem historischen Rückblick weist Enzensberger auf Selbstwidersprüche der EU hin, die zum Scheitern des Unternehmens führen könnten. Hier bringt er gute Argumente vor. Unverantwortlich sei es, im Eilverfahren Staaten aufzunehmen, deren ökonomische Potenzen nicht ausreichten, den innereuropäischen Wettbewerb mit den alten EU-Ländern durchzustehen. Besonders krass habe sich das bei der Aufnahme einer Reihe von Staaten in den Euro-Klub gezeigt, deren Währungen den Beitrittsbedingungen nie entsprochen hätten. Nur Luxemburg halte sich in seiner Finanzpolitik noch an die Stabilitätskriterien. Die Krise des Euros liege offen zu Tage, und sie werde nicht behoben, sondern durch eine unverantwortliche Schuldenpolitik verschleiert. Statt Konstruktionsfehler zu beseitigen, werde im Namen einer falschen Solidarität so getan, als ließe sich – wie es die Brüssel-Ideologie will – alles gemeineuropäisch lösen. Enzensberger wiederholt die Argumente gegen das Demokratiedefizit. Die Kommission agiere mit diktatorischer Autorität, so als lebe man noch in vorkonstitutionellen Zeiten. Vor- und nachdemokratische Praxis würden hier ununterscheidbar. Die Kritik an den „postdemokratischen“ Verhältnissen, wie der Autor sie übt, ist jedoch überzogen. Im Lauf der Jahrzehnte wurden die Kompetenzen des Europaparlaments ständig erweitert, und der Europäische Rat, der aus den gewählten Regierungschefs besteht, hat schon immer seinen Einfluss in Brüssel geltend gemacht. Zudem wurden einige bekannte Unifikationsprojekte (etwa die Bolognareform der Universitäten) nicht von der Kommission geplant, sondern gingen auf Ministerinitiativen der Einzelländer zurück. Die aktuellen Probleme der EU primär postdemokratischen Praktiken anzulasten, trifft den Sachverhalt nicht. Von globalen Vorgängen ist auch Europa nicht ausgenommen, aber die EU müsste eigene Vorstellungen und Lösungen zur Steuerung von Krisen entwickeln. Der europäische Patient, den Enzensberger untersucht, ist nicht mehr jung; er wird in diesem Jahr Sechzig. Der Autor meint, es handle sich bei der Brüsseler Krankheit um „Sklerose“, d.h. um eine Verhärtung von Organen wie sie im Alter nicht selten vorkommt. Damit wiederholt er den Befund der „Euroscleroses“, den
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Ronald Reagan schon in den 1980er Jahren – zum Ärger von Jacques Delors – verkündet hatte. Wie sieht Doktor Enzensbergers Therapie aus? Anleihen bei neuen Sprüchen der Linken („Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“), stehen neben Zitaten aus alten CDU-Programmen (Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten). Zudem werden Entschleunigungsübungen empfohlen und gut-katholische Subsidiaritäts-Medikamente verschrieben. Als Drachenbekämpfer wollte Enzensberger in den achtziger Jahren dem Ungeheuer Europäische Gemeinschaft noch den Garaus machen. Inzwischen hat er sich zum verständnisvollen Reha-Arzt gewandelt, der dem „sanften Monster“ ein paar Pillen verordnet, die gleichzeitig gegen die Brüsseler Organverhärtung wie gegen einen Rückfall in die nationalistische Krankheit gut sein sollen. Hans Magnus Enzensberger, Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. Berlin: Suhrkamp, 2011.
Homo Europaeus Enzensbergensis Neue Rundschau 102.1 (1991) Der Tanz auf der Berliner Mauer als Ball paradox wörtlich genommen: In der Freude über die Lichtung des Eisernen Vorhangs, im Glück über die Durchbrechung der nationalen Trennwand dachten nur wenige an neue Grenzverhärtungen. Lief nicht seit Jahr und Tag alles in Europa auf eine Diffusion, ein allmähliches Verschwinden der nationalen Grenzen hinaus? Deutete nicht die plötzliche Funktionslosigkeit der Mauer darauf hin, dass nun auch im östlichen Europa jener Prozess einsetzen werde, der im westlichen Teil des Kontinents schon im vollen Gange war: die Abräumung von Zollschranken und Grenzpfählen unter den 1992-Auspizien, d.h. im Hinblick auf eine wirtschaftlich integrierte Europä ische Gemeinschaft und eine politische Europäische Union. Ist mit dem Schleifen der Berliner Mauer der paradoxe Fall gegeben, dass die Trennung zwischen den beiden Deutschlands zwar aufgehoben ist, gleichzeitig aber die Grenzen um das vereinte Deutschland um so markanter hervortreten? Die Deutschen stehen im Bann des Einigungsprozesses, und von den hehren Zielen einer „Europäischen Union“ ist merklich weniger die Rede. Auch bei den Schriftstellern macht sich die neue Akzentuierung bemerkbar. Nicht etwa, dass die deutschen Autoren jemals einem EG-Rausch verfallen wären. Eine so lebhafte und kontroverse EU-Debatte der Dichter und Intellektuellen wie in der Weimarer hat in der Bonner Republik nie stattgefunden. In den zwanziger Jahren gab es kaum einen Schriftsteller von Rang, der nicht zu den Europa-
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Utopien, die damals im Umlauf waren, Stellung genommen hätte. Man denke an die Abhandlungen von Stefan Zweig und Hugo von Hofmannsthal, von Heinrich und Thomas Mann, von René Schickele und Hermann Hesse. In den achtziger Jahren wurde die Europadiskussion in Politik und Kultur unter neuen Vorzeichen wieder aufgenommen. Das lag zum einen an den greif- und sichtbar werdenden Integrationserfolgen der Brüsseler EG-Kommission, zum anderen an der immer intensiver geführten Mitteleuropa-Debatte. Letztere verdankte sich Schriftstellern wie Milan Kundera aus der Tschechoslowakei und György Konrád aus Ungarn, die sie zum einen als Beitrag zur Bestimmung ihrer nationalen Identitäten verstanden und andererseits als kulturpolitische Waffe im Kampf um die Unabhängigkeit ihrer Länder von der Sowjetunion einsetzten. Während der sechziger und siebziger Jahre existierte Europa als Thema für deutsche Autoren nicht. Auch in den achtziger Jahren ergriffen sie nicht die Initiative zum Europagespräch, vielmehr wurden sie darin einbezogen oder konnten sich ihm nicht entziehen. Das Problem Deutschland, die Teilung der Nation, brannte ihnen mehr auf den Nägeln als die Brüsseler Sorgen der Euromanager oder die mitteleuropäischen Strategien in Budapest und Prag. Erinnert sei an die einschlägigen Publikationen aus den achtziger Jahren von Peter Schneider, Botho Strauß und Martin Walser. In der Schweiz und in Österreich lagen die Dinge anders. Der einzige Roman, der sich mit dem Europa der Brüsseler Kommission beschäftigte, wurde 1985 von dem Schweizer Autor Hans Jörg Mettler vorgelegt. Die Realisierung der 1992Pläne würde für die Schweiz ein ökonomisches Inseldasein mit einer nicht gerade glücklich zu nennenden Isolation bedeuten. Mit den Mitteln der Satire scheint Mettler gegen die Befürchtungen anzuschreiben, die sich in seinem Heimatland mit dem Brüssel-Komplex verbinden: Während einer EG-Tagung in Florenz verwickelt der Zauberer Francesco Boil die Staatschefs der Mitgliedsländer in ein therapeutisches Allianzspiel, in dessen Verlauf die latenten Wünsche der EGPolitiker immer ungehemmter zum Ausdruck kommen. Die Konferenz gipfelt in der Gründungserklärung der Vereinigten Staaten von Europa, der Konstituierung gesamteuropäischer Souveränität und dem Ausscheren aus den West-Ost-Blocksystemen – all dies zum Entsetzen von Washington und Moskau. In Österreich griff man bald in die Mitteleuropa-Diskussion ein, sah man sich doch als Teil einer Kultur- und Staatsgeschichte, an der man gemeinsam mit Nachbarländern wie Ungarn und der Tschechoslowakei teilhatte. Aus den vielfältigen österreichischen Beiträgen zur Mitteleuropa-Diskussion greife ich einen von Christoph Ransmayr 1985 zusammengestellten Band mit Erzählungen heraus. Durch den Titel „Im blinden Winkel“ wird verdeutlicht, dass Mitteleuropa im sogenannten „blinden“ oder „toten“ Winkel des westlichen Kulturbewusstseins liegt. Implizit abgelehnt wird die Identifizierung des Begriffs Mitteleuropa mit der alten Habsburger Monarchie; eine neue Berechtigung erhält er vielmehr durch
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die grenzüberschreitende und grenzauflösende Rolle, die von den Intellektuellen im Dreieck Budapest–Prag–Wien übernommen worden ist. In der DDR hielten die Autoren sich aus der Mitteleuropa-Debatte heraus. Die Reformer unter ihnen waren zu sehr mit der Irrealität des real existierenden Sozialismus im eigenen Land beschäftigt. Im Vergleich mit Honeckers spätstalinistischem Regierungsstil erschien Gorbatschows Sowjetunion als Reform-Vorbild, und so sah man zu antisowjetischen mitteleuropäischen Reflexionen wenig Anlass. Für den 1992-Ehrgeiz in Brüssel, Luxemburg und Straßburg hatte Heiner Müller nur Worte ätzender Kritik übrig: Die Idee des Binnenmarktes entstamme einer Leistungsutopie, die der Ausdruck einer internationalen Solidarität des Kapitals gegen die Armut sei („Stirb schneller Europa!“). Westdeutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller reagierten sowohl auf die Botschaften aus Straßburg wie aus Budapest, und in einigen Fällen bemühte man sich, die Vorstellungen der West- und Mitteleuropäer im Kontext zu sehen. Die ersten zaghaften Versuche aus den achtziger Jahren, Schriftsteller für Europa zu interessieren, wurden 1984 unternommen, als das Zweite Deutsche Fernsehen siebzig Autoren aus westeuropäischen Ländern zu einer Rheinfahrt von Basel bis Rotterdam einlud. Am Pfingstsamstag durften die Dichter das leere Parlament des Europarats in Straßburg bestaunen, was annähernd so inspirierend wirkte, als wäre es vollbesetzt und in Aktion gewesen. Michael Buselmeier kam sich dabei wie ein Schuljunge vor. Namhafte Autoren waren zur Fahrt auf dem Rheindampfer, den man sinnigerweise in „Narrenschiff ’84“ umgetauft hatte, nicht gewonnen worden. Im Herbst 1985 trafen sich Künstler und Intellektuelle aus fast allen europäischen Ländern zum KSZE-Kulturforum in Budapest. Günter Grass schlug damals die Gründung einer gesamteuropäischen Kulturstiftung mit Sitz in Budapest vor. Er stellte sich diese Stiftung als „Dach und Clearingstelle“ von Bemühungen vor, „die zwar widersprüchliche aber auch resistente Einheit Europas auf kreative Weise deutlich [zu] machen und [zu] fördern“. Hier wie auch in seiner Diskussion „Wenn wir von Europa sprechen“ mit Françoise Giroud propagierte Grass den – wie er es nannte – „umfassenderen Europagedanken“, bei dem es nicht um die Legitimation eines EG-Resteuropas gehe, sondern um die Kultur eines Kontinents, in dessen Zentrum Prag zu lokalisieren sei. Für die Mitteleuropa-Ideen seiner Freunde in Budapest und Prag hat Grass immer Verständnis gezeigt. Das war bei Hermann Kant, damals Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, keineswegs der Fall. Die nervöse Abwehr des Grassschen Vorschlags von der europäischen Kulturstiftung ist dokumentiert in Kants satirischem Bericht „Die Summe“, der zwei Jahre nach dem Budapester Treffen erschien. Parallel zur offiziellen KSZE-Konferenz, die von den Warschauer-Pakt-Staaten angeregt worden war, fand damals in Budapest ein Schriftstellertreffen statt,
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das von einigen als Gegenveranstaltung interpretiert wurde. Initiator dieses Treffens war György Konrád, der sich in seiner Wohnung mit Autoren traf, die sich als Dissidenten verstanden, soweit sie in den östlichen Ländern Europas lebten, und die zur unabhängigen, kritischen Intelligenz gehörten, soweit sie aus westlichen Ländern angereist waren. Anwesend waren u.a. Pavel Kohout, Danilo Kiš, Per Wästberg, Susan Sontag, Amos Oz und Hans Magnus Enzensberger. Diskutiert wurde auch die Entwicklung Europas, und Enzensberger hielt fest: „Man hat uns gesagt, daß Osteuropa sowjetisiert und Westeuropa amerikanisiert würde; doch die einzigen Sowjets in Osteuropa sind die Sowjets, und die einzigen Amerikaner in Westeuropa sind die Amerikaner.“ 1987 fand – auf Einladung des französischen Schriftstellerverbandes hin – das erste Europäische Autoren-Festival in Straßburg statt. Im Jahr darauf lud das französische Außenministerium zu einem Schriftstellerkongress in Paris ein, bei dem es um neue Definitionsversuche der „kulturellen Identität Europas“ ging. Den Presseberichten nach zu urteilen erwiesen sich weder das Straßburger noch das Pariser Treffen als sonderlich ergiebig, und aus der Bundesrepublik waren nur wenige Gäste angereist. Offenbar hatten eine Reihe von Eingeladenen den unangenehmen Eindruck, als kulturelle Zugpferde vor den Europakarren der Außenpolitiker und Wirtschaftsstrategen gespannt zu werden. Wiederum ein Jahr später, also 1988, aber raffte sich – nach Konsultationen mit György Konrád – eine Gruppe Berliner Autoren (Hans Christoph Buch, Anna Jonas, Hans Joachim Schädlich und Peter Schneider) dazu auf, ein Schriftstellertreffen nach Berlin (West) einzuberufen, das sie unter das Konrádsche Motto „Ein Traum von Europa“ stellten. Die dort gehaltenen Vorträge erschienen, von Hans Christoph Buch herausgegeben, als „LiteraturMagazin“. Bei dieser Tagung kamen westund ost- bzw. mitteleuropäische Autoren zusammen, um über ihre nationalen und kontinentalen Identitätskrisen zu berichten, ihre Wohnungsprobleme im zu engen und zu weiten europäischen Haus zu erörtern, ihre europäischen Träume und Traumata zu analysieren, Nachrufe auf die europäische Kultur der Väter- und Großvätergeneration zu verlesen sowie Postulate und Visionen zu verkünden. Die Tagung begann mit György Konráds „Unabhängigkeitserklärung europäischer Schriftsteller“ in zehn „Feststellungen“, um nicht zu sagen Geboten. Hier wird gefordert, was schon anderthalb Jahre später möglich wurde: die Umwandlung autoritärer Regime Mitteleuropas in parlamentarische Demokratien. Peter Schneider wünschte sich eine europäische Kultur des Zweifels. „Wenn es wahr ist“, so Schneider, „daß die einzig erkennbare Identität Europas in der Vielfalt, im Stimmengewirr, im Kuddelmuddel liegt, dann kann ein sinnvolles europäisches Projekt nur darin bestehen, diese Vielfalt zu schützen und ihre Autonomie zu entwickeln.“ Europa als „Biotop für die Kultur des Zweifels“ – diesem Traum Peter Schneiders von Europa mochten alle nachhängen.
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Aus den deutschsprachigen Ländern waren Jürg Laederach, Barbara Frischmuth, Adolf Muschg, Peter Bichsel, F.C. Delius, Horst Bienek und Richard Wagner zum Berliner Europakongress der Schriftsteller angereist. Inzwischen aber dominiert bei den Autoren wieder die Auseinandersetzung mit deutscher Politik; man denke an die Stellungnahmen von Walser („Über Deutschland reden“) und Grass („Kurze Rede eines vaterlandslosen Gesellen“). Enzensberger scherte aus der Verhaftung bundesrepublikanischer Autoren mit deutschlandpolitischen Themen aus. In einem Interview berichtet er, dass die Fixierung auf deutsche Themen für seine Generation kennzeichnend sei und dass er sein Europabuch als bewussten Versuch verstanden habe, sich aus dieser Obsession zu lösen. Dichtungen entstehen nicht aus einem Vakuum heraus, und ohne die beiden Tendenzen in Europa: der westlichen 1992-Politik und der östlichen Mitteleuropa-Strategie mit ihren Reaktionen und Evokationen bei den Schriftstellern ist Enzensbergers „Ach Europa!“ nicht zu verstehen. Zudem ist das Buch im Kontext der literarischen Gattung des Reiseberichts zu sehen, wie er uns im deutschsprachigen Bereich unter anderem von Seume, Forster, Goethe, Heine, Börne über Döblin, Kisch, Roth, Benjamin bis Canetti, Koeppen, Andersch, Fichte und Hans Christoph Buch bekannt ist. Ein Nachspüren möglicher intertextueller Verbindungen – etwa zu Heines „Reisebildern“ oder zu Madame de Staëls „De l’Allemagne“ – könnte einige für den Philologen interessante Ergebnisse an den Tag bringen. Es finden sich Hinweise auf literarische Reportagen von Stig Dager man („Deutscher Herbst“, 1947), Guido Piavene („L’Europa semilibra“, 1973) und Kazimierz Brandys („Warschauer Tagebuch“, 1979). Auch wirkt die Europadiskussion deutscher Autoren nach, wie sie vor allem in den zwanziger Jahren durch „Die Neue Rundschau“ angeregt und publiziert wurde, und wie man sie im Exil fortführte (erinnert sei an Thomas Manns „Achtung Europa!“, eine Schrift, auf die Enzensberger mit dem Titel „Ach Europa!“ anspielt). Zwar geht der Autor auf keine der vielfältigen Europastimmen aus der Weimarer Republik direkt ein, aber deutlich ist, dass er deren Akzentsetzung bewusst verkehrt. Vor sechzig oder siebzig Jahren nämlich wurden bei der Diskussion der Polarität von Vielfalt und Einheit in Europa vor allem das gemeinsame Erbe und der Gedanke des Unifizierenden hervorgehoben. Paradigmatische Qualität kommt hier Stefan Zweigs Aufsatz „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung“ von 1932 zu, in dem der Autor „das verbindende Element“ betont, die „Sehnsucht nach Einheit des Gefühls, Wollens, Denkens und Lebens […], die in zweitausend Jahren jenes wunderbare Gemeinschaftsgebilde geschaffen hat, das wir stolz europäische Kultur nennen“. Bei Enzensberger ist es umgekehrt: Er demonstriert den Triumph der Vielfalt, des Inkommensurablen und der Gegensätze über das Gleiche, Ähnliche und Gemeinsame. Von der geradezu rituellen Beschwörung europäischer Einheit qua griechisch-römisch-christlichem Erbe, wie sie die Euro-
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pareflexionen der ersten Jahrhunderthälfte kennzeichnete, wird man bei ihm nichts finden. Enzensbergers Europabuch ist eine Sammlung von Reportagen aus europäischen Hauptstädten, die in den Jahren zwischen 1982 und 1987 geschrieben wurden. Mit den 1992-Perspektiven hat sein Buch kaum etwas zu tun. Es sucht die in allen denkbaren hellen und dunklen Farbtönen schillernde Vielfalt Europas von seiner Peripherie her zu zeigen. Ein Kontinent wird sichtbar, der weder über einen EG-Integrationskamm zu scheren ist, noch insgesamt zur sogenannten westlichen Industriewelt gezählt werden kann, wie die zahlreichen Nachweise einer „Dritten Welt“ in Europa zeigen. Porträts über Staaten wie Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und England sind ausgespart; sie kommen nur in Vergleichen zur Sprache. Für die zukünftige Entwicklung Europas scheinen Enzensberger Länder wie Italien oder Schweden, Norwegen oder Ungarn, Polen oder Spanien und Portugal signifikanter zu sein als die derzeitigen EG-Lokomotiven. Es ist nicht so, dass einem dieser beschriebenen Länder ein Modellcharakter zuerkannt würde. Weder das bürokratisch-moderne schwedische noch das flexible-postmoderne italienische „Modell“ ist für den Export bestimmt. Sie sind jeweils Ergebnis einer besonderen historischen Entwicklung, die Transplantationen in andere Regionen des Kontinents als unratsam erscheinen lassen. Enzensberger legt eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Modellen an den Tag, wenn er die politische Umsetzbarkeit von rationalen Zukunftsentwürfen in Zweifel zieht und einer Deutung der Menschheitsentwicklung als „stochastischem Prozeß“ zuneigt. Dabei wird die Geschichte nicht als Realisierung von Utopien, sondern als durch Zufälle gesteuert verstanden. Nicht nur, dass die Historie in jedem der Länder anders verlaufen ist, sie wird auch überall unterschiedlich vergegenwärtigt. Bei Enzensbergers Wahrnehmungen nationaler Eigenheiten geht es nie ohne historische Rückblicke ab. Die Reflexion auf Geschichte als kollektives Erinnerungsvermögen ist ein Hauptgegenstand seines Buches. Er registriert den Geschichtsverlust der Schweden und den norwegischen Hang zur Geschichtserfindung, die polnische Geschichtsversessenheit und die Geschichtsvergessenheit der Spanier. Pauschale Äußerungen über Europa, wie sie die Modernisten unter den Europa-Essayisten liebten, wird man bei Enzensberger selten finden. Eine einzige generalisierende Stelle ist auszumachen, die aber gleichzeitig ihre Verallgemeinerung wieder aufhebt. Gegen Ende des Buches ruft der Erzähler aus: „Was ist Europa anderes als ein Konglomerat von Fehlern? Fehlern, die so verschieden sind, daß sie einander ergänzen und ausbalancieren. Für sich betrachtet, sind wir alle unerträglich. Jeder auf seine Art. Schaut euch doch die Schweizer an, oder die Griechen! Von den Deutschen ganz zu schweigen“. Der Europäer schlechthin kommt bei Enzensberger nicht vor. Aber es gibt in seiner Vorstellungswelt
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so etwas wie einen Wunsch-Europäer, den man den „Homo Europaeus Enzensbergensis“ nennen könnte. Der lässt sich am besten mit jenen Schlusszeilen aus Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ definieren, dessen verkürzte Überschrift „Böhmen am Meer“ den Titel zum „Epilog“ in „Ach Europa!“ abgibt: „ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält“. Es liegt in der Logik des Buches, dass nicht die großen Europakonzepte wie „Europäische Union“ oder „Mitteleuropa“ im Zentrum des Buches stehen, sondern die Charakteristik einzelner Nationen, Regionen und Städte. Die verstreuten Bemerkungen über die Europäische Gemeinschaft zeugen nicht gerade von einer Sympathie für die konkrete Utopie der Brüsseler Behörde. Ein „hoher europäischer Beamter“ in Lissabon wird als „händereibender“, von einer „kapitalistischen Rationalität“ besessener EG-Bürokrat geschildert, dem es an Sensibilität für die eingefleischte „Vernunftkritik“ der Portugiesen mangelt. Die Europäische Gemeinschaft, so prophezeite Enzensberger, werde sich nicht zu einer Großmacht (halb Über-Japan, halb Super-USA) mit einigen Hundertmillionen fleißiger Einheits-Europäer entwickeln, sondern als „Hühnerstall“ erweisen, als „Knäuel von immer kleiner werdenden Staaten“, die sich nur dann „alle einig“ seien, wenn es darum gehe, die Großmächte „zu brüskieren“. Auch in dem Essay „Brüssel oder Europa – eins von beiden“ polemisiert er gegen ein Europa der Lobbyisten, Großbanken und Konzerne. Hier ist sein Haupteinwand gegen die Brüsseler Kommission ihre fehlende demokratische Legitimation. Auch „Mitteleuropa“ wird nicht im Sinne eines künftigen Staatenkonglomerats mit definierbaren gemeinsamen Interessen und Zielen beschrieben. Im Ungarn seines „Freundes György Konrád“ steht „Mitteleuropa“ für die „urbane Intelligenz“ der Opposition, in Polen dagegen für eine geschichtliche Vergangenheit des 19. Jahrhunderts, in dem es eine bürgerliche Kultur gab, die gleichermaßen in Städten wie „Zagreb, Brünn, Budapest, Wien, Krakau, Triest, Berlin“ anzutreffen war. Wichtiger als europäische Einheitskonzepte sind Enzensberger die nationalen und regionalen Besonderheiten der europäischen Länder. Seit Joseph Görres’ „Europa und die Revolution“ von 1821 sind von einem deutschen Schriftsteller nicht mehr so plastische Porträts nationaler Eigenheiten gezeichnet worden. Auch hier verfällt Enzensberger nicht in den Fehler undifferenzierter Verallgemeinerungen. Nicht nur, dass die Unterschiede der Regionen – etwa im Fall Spaniens oder Italiens – und die Spezifika der Hauptstädte herausgearbeitet werden: auch die sozialen Schichtungen werden nicht simplifizierend auf den imaginären gemeinsamen Nenner „Nationalcharakter“ gebracht. „Gibt es“, fragt Enzensberger, „etwas Öderes als die ,Völkerpsychologie‘, diesen verschimmelten Müllhaufen von Stereotypen […]? Und doch“, räumt er ein, „sind sie nicht auszurotten, die traditionellen Gartenzwerge mit den naiv bemalten Nationalgesichtern“. So geht es auch bei ihm nicht ohne Verallgemeinerungen ab, aber sie sind das Ergebnis
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eines Abstrahierungsprozesses, den der Leser wegen der Fülle des Belegmaterials überprüfen kann. In jedem Kapitel findet oder erfindet Enzensberger eine Figur aus dem Bereich der Allegorese, des Märchens, der Geschichte oder der Romanliteratur, die einen markanten Zug der Bevölkerung, ein hervorstechendes Charaktermerkmal des sozialen Systems oder ein typisches Kennzeichen nationaler Kommunikation benennt. Die religiöse allegorische Figur des „guten Hirten“ verkörpert in ihrer säkularisierten Abwandlung das sozialdemokratische „schwedische Modell“. Seit der Kunst des Urchristentums ist der pastor bonus die sinnbildliche Darstellung Christi, wie sie in den Vergleichen des Lukas- und des Johannes-Evangeliums vorkommt: der gute Hirte, der seine Lämmer weidet oder das verlorene Schaf auf seinen Schultern zur Herde zurückbringt. Das Verhältnis von sozialdemokratischer Regierung und Bevölkerung wird mit dem von Hirt und Herde verglichen, wobei beide Seiten gewillt seien, ihren Part so kooperativ wie möglich zu spielen. „Die Schweden“, beobachtet Enzensberger, „geben sich dem Glauben hin, die Behörden wollten nur ihr Bestes“ und akzeptierten deshalb ein so hohes Maß an Reglementierung, wie es „in freien Gesellschaften beispiellos“ sei. Als Regierung wiederum bringe man „nichts als Hilfsbereitschaft und Verständnis“ den „Schafen entgegen“. Den sozialdemokratischen guten Hirten umwehe der „modrige Geruch einer allgegenwärtigen, sanften, unerbittlichen Pädagogik“, doch die Bevölkerung nehme diesen „weichen Terror“ in Kauf, weil er verbunden werde mit „einem Grad der Daseinsfürsorge, der beispiellos“ sei. Einen größeren Gegensatz zwischen schwedischen und italienischen Sozialverhältnissen kann man sich nicht vorstellen. „Wir brauchen keinen guten Hirten“, betont ein Italiener dem Erzähler gegenüber, jedenfalls nicht im Bereich von Gesellschaft und Politik. Jeder Italiener bzw. jede Italienerin sei „ein Häuptling, ein Chef, eine Diva“. Deshalb könne es „in Italien keine Sozialdemokratie geben“, darum seien „die Gesetze ein Haufen toten Papiers“ und „der Staat“ ein „abstrakter Freßsack, eine nimmersatte Chimäre“. Für den Italiener gelte durchweg die anarchistische Devise „Jeder für sich und für die Seinen“. Nicht der gute Hirte, sondern der Magier verkörpert nach Enzensberger dominierende Tendenzen der italienischen Gesellschaft. „Jede größere Stadt in Italien“, so weiß er zu berichten, verfüge „über Dutzende von Magiern, die auf den Gelben Seiten verzeichnet“ seien. Im ganzen Land würden etwa 100.000 von ihnen praktizieren: „Exorzisten und Pendler, Sterndeuter und Chiromanten, Hellseher und Pranotherapeuten, Magnetiseure und Parapsychologen, Kaffeesatzleser und Prognosten, Dämonologen und Radio-Ästhesisten, Kartenschläger und Geisterseher“. Freilich hätten Rationales und Irrationales im italienischen Alltagsleben einen Rollenwechsel vorgenommen: „Der Mago“ wirke „als Aufklärer“, als „letzte Zuflucht des common sense“, während „in der Welt der Banken und Parteien, der Kran-
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kenkassen und Fernsehsender, die Wirklichkeit immer wahnhafter, der Wahn immer wirklicher“ werde. Aber so wie man die Parteien und die Bürokratie, Staat und Verwaltung nicht ernst nehme, so wenig glaube man letztlich an den Magus. Einer der prominenteren Astrologen teilt mit: „Meine Klienten sind ungläubige Leute. Sie hören mir zu, aber sie nehmen mich nicht allzu ernst. … Sie lieben das Phantastische, aber dann gehen sie nach Hause und denken sich ihren Teil“. Es liegt dem Autor fern, irgendein nationales Modell dem restlichen Europa als Vorbild anzudienen. Aber der „italienische Kuddelmuddel“ sei keine „Frage des ,Volkscharakters‘, sondern eine unter mehreren denkbaren Reaktionen auf eine neuartige historische Lage“. Italien trage die Züge eines „postmodernen Laboratoriums“, in dem „neue Strategien des Überlebens, der Selbsthilfe und der Improvisation“ ausprobiert würden. Diese Strategien könnten sich als mögliche Antwort auf eine Herausforderung, die ganz Europa betrifft“, erweisen. Vielleicht erhält diese Sicht der italienischen Verhältnisse im Hinblick auf die Umbrüche im Osten Europas eine neue Aktualität. Enzensberger ist weit davon entfernt, die italienischen Gegebenheiten in einem rosafarbenen Licht zu sehen und vor den gravierenden Konflikten des Landes die Augen zu verschließen. „Verluderte Parteien, parasitäre Verwaltungen, Subventionsbetrug, Patronagefilz“ – die Liste der Negativposten in der italienischen Bilanz ist deprimierend lang und wirkt als Gegengewicht zur positiven Seite mit den Vorzügen einer individualistischen Anarchie, wie Enzensberger sie liebt. So wird die italienische Gesamtsumme mit „gemischten Gefühlen“ gezogen, mit Emotionen wie „Angst und Bewunderung, Entsetzen und Neid“. Was für Schweden der „gute Hirte“ und für Italien der „Mago“, das sei für das Ungarn des Jahres 1985 die Figur des mitteleuropäischen Oppositionellen, für Portugal der literarische Inselheld Robinson, für Norwegen der Märchentypus des Askeladden (ein männliches Aschenbrödel), für Polen der Priester als Märtyrer und für Spanien der liberale Journalist. Enzensberger gibt sich zuweilen als strenger Richter über die Verhältnisse in den genannten Ländern, aber seine Kritik ist meistens auch Deutschlandkritik. Bei Vergleichen mit dem Heimatstaat Bundesrepublik schneiden seine eigenen Landsleute durchweg nicht gut ab. Denkt Enzensberger an Schweden, erscheinen ihm die Deutschen „wie eine Horde von Egoisten und Asozialen, die sich der Verschwendung, der Prahlerei und der Aggressivität“ hingeben. Bei einem Blick in die italienische Presse mokiert er sich zwar über die etwas hochstaplerische Allwissenheit der Journalisten in Mailand und Rom, denkt aber gleichzeitig an den „mausgrauen Konformismus“ der deutschen Zeitungen, denen eine italienische Prise „Tempo, Brio“ gut täte. Was ist das Spezifische der Enzensbergerschen Europareflexionen, vergleicht man sie mit den Europa-Essays der Modernisten in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts? Die Modernisten der Weimarer Republik waren, wenn sie über Europa
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schrieben, in gewichtigen Universalitätskonzepten und utopischen Einheitsvorstellungen befangen. Der Autor qualifiziert am Schluss des 1984 geschriebenen Norwegen-Kapitels die Theorie von der „Postmoderne“ als „dreiste Behauptung“ ab. Die dreiste Behauptung sei gewagt, dass in Enzensbergers Beobachtungen und Reflexionen sich eine postmoderne Sicht (im Sinne von Calinescu, Hassan, Lyotard und Welsch) bemerkbar macht, die sich in Abgrenzung von der Position der Modernisten so umschreiben lässt: statt Verfallenheit ans große Allgemeine eine Schwäche für das Besondere, statt der Verliebtheit in Abstrakta die Nähe zum Konkreten, statt Eröffnung von Totalitätsperspektiven der Blick aufs Lokale und Regionale, statt monistischer Herleitungen und dogmatischer Erklärungen eine Pluralität von Deutungsversuchen, statt europäischer Unifikationsper spektiven Strategien nationaler und regionaler Diversifizierung, statt Einheitsobsession eine Bevorzugung der Vielfalt der Sprach-, Denk- und Lebensformen, statt der Fixierung auf die kulturellen Großleistungen das Insistieren auf Alltagserfahrungen, statt des Vorgriffs auf die Utopie des immer Morgigen der Dialog mit der Geschichte. Aus seinem Europa-Interview von 1989 in „Der fliegende Robert“ geht übrigens hervor, dass Enzensberger inzwischen eine differenziertere und positivere Einstellung zur Postmoderne gefunden hat. Das sollte niemanden überraschen, denn eine postmodernere, d.h. utopie-skeptischere geschichtsphilosophische Reflexion, wie Enzensberger sie schon im „Kursbuch“ 1978 („Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“) publizierte, kann man sich kaum vorstellen. Dort heißt es, „daß es keinen Weltgeist gibt; daß wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen; daß auch der Klassenkampf ein ,naturwüchsiger‘ Prozeß ist, den keine Avantgarde bewußt planen und leiten kann; daß die gesellschaftliche wie die natürliche Evolution kein Subjekt kennt und daß sie deshalb unvorhersehbar ist; daß wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen, und daß die Krise aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund hat“. Nach dieser Verortung des Buches in der Kulturgeografie der Gegenwart sei ein kurzer Epilog angefügt. Er ist schon deswegen am Platz, weil neben den Porträts der sieben Länder „Ach Europa!“ ebenfalls einen „Epilog“ enthält. Der wurde 1987 aus der Zukunftsperspektive des Jahres 2006 geschrieben. Enzensberger versetzt sich in die Rolle eines US-Journalisten, der einen Artikel für „The New New Yorker“ schreibt. Viel von dem, was hier in der Rückschau berichtet wird, ist bereits eingetroffen bzw. dabei, Wirklichkeit zu werden: Die Mauer hat keine Funktion mehr und wird an bestimmten Stellen Berlins nur noch aus ökologischen und musealen Gründen erhalten. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs haben ihre Truppen aus Deutschland abgezogen. Der Kommunismus hat in den osteuropäischen Ländern kapituliert; dort florieren jetzt westliche Firmen. In
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Rumänien ist vor Jahren Ceauşescu von seinen Landsleuten erschossen worden. Und wie steht es um die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands? Der amerikanische Journalist erinnert sich der „neunziger Jahre, wie damals die nackte Angst vor den Deutschen umging, besonders natürlich bei den Franzosen, aber auch in England erhoben sich besorgte Stimmen; von den Polen ganz zu schweigen, die sahen schon den Dritten Weltkrieg kommen“. Und dann „gar nichts“: „Die Deutschen“, heißt es im „Epilog“, können „einander nicht ausstehen. Ossies und Wessies – das ist wie Hund und Katze! … Sie haben sich an ihre Vergangenheit erinnert: ein Jahrtausend Flickschusterei. Am liebsten hätten sie ihre provinziellen Fürsten und Könige wieder“. Aber da die nicht mehr zu haben waren, blieb es bei jener Ost-West-Teilung, an die man sich seit 1949 gewöhnt hatte. Im Hinblick auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten irrte der Prophet Enzensberger. Ob er mit seiner Skepsis gegenüber dem europäischen Unifikationsprozess recht haben wird, bleibt abzuwarten. Im „Epilog“ liest man: „Die europäische Einheit. Diese Idee stammt noch aus Zeiten, in denen alle Welt an den technischen Fortschritt, an Wachstum und Rationalisierung glaubte. Der sogenannte Europagedanke lief auf die Absicht hinaus, den großen Blöcken einen großen Block entgegenzusetzen. Also nichts als Big Science, High Tech, Raumfahrt, Plutonium, all diese bösen Scherze. Die Politiker haben jahrzehntelang auf dieses Europa der Manager, der Rüstungsexperten und der Technokraten gesetzt, und als leuchtendes Beispiel haben sie uns Japan entgegengehalten. Nur haben sie ihre Rechnung ohne die Bewohner unserer schönen Halbinsel gemacht“. Eine schärfere Absage an die moderne Europa-Utopie, wie sie im 20. Jahrhundert erstmals umfassend von Richard N. Coudenhove-Kalergi 1923 in seiner vielbeachteten Schrift „Pan-Europa“ umrissen wurde, ist seit der Kritik von Willy Haas in seinem Essay „Europäische Rundschau“ in der „Neuen Rundschau“ von 1924 nicht mehr erschienen. Nicht dem rational-bürokratischen Europa der Politiker, sondern dem poetisch-anarchistischen Dichter gilt Enzensbergers Sympathie: Die Mitte Europas ist Böhmen, das seit Shakespeares „The Winter’s Tale“ ans Meer grenzt. An dessen Strand – so spinne ich Enzensbergers poetischen Faden weiter – finden sich Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard, um gemeinsam ein europäisches Wintermärchen zu dichten. (Bernhard hat in „Auslöschung“ mit Maria eine Figur geschaffen, die an Ingeborg Bachmann erinnert.) Zur Einstimmung rezitieren sie im Duett „Böhmen liegt am Meer“, wobei sie die Zeilen „ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält“ wie übermütige Kinder immer lauter aus sich herausrufen.
5. Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen
Die Dichter und der Große Krieg Der Tagesspiegel (12.1.2014) Ende Juni wird es hundert Jahre her sein, dass die Pistolenschüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand das Fanal zu einer Tötungsorgie abgaben, wie sie die Menschheit bis dahin nicht erlebt hatte. Wilhelm Krull hat einen vorzüglich edierten und eingeleiteten Band mit Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Besonders fällt ein Beitrag des Pazifisten Alfred H. Fried auf. In einer Tagebucheintragung vom 20. September 1914 legt der Mitstreiter Bertha von Suttners dar, dass der Konflikt zwischen der Donaumonarchie und dem Königreich Serbien hätte vermieden werden können, wenn es eine internationale Organisation zur Verhinderung von Aggressionsakten zwischen Nationen gegeben hätte. Fried hatte sich jahrzehntelang für Schiedsgerichte dieser Art eingesetzt. Er ahnte, dass ein Krieg zur europäischen „Kulturvernichtung“ führen würde. Das wusste auch Wilhelm Lamszus. In „Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg“ (1912) informierte er über die zerstörerische Wirkung der neuen Bomben, Artilleriegeschosse und Maschinengewehre. Doch was als Warnung gedacht war, wurde nur als belletristische Sensation goutiert. „Krieg – von allen Seiten“ sammelt Erzählendes von Schriftstellern aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Die meisten Texte dokumentieren die Destruktions- und Verstörungskraft des Krieges. In Alfred Lemms „Aufzeichnungen eines Krankenträgers“ summiert sich die Erfahrung dieses Elends „zu einem einzigen Aufschrei der Menschheit vor diesem unsäglichen Krieg“. Zu den Antikriegsbüchern, die trotz Zensur erscheinen konnten, gehörte neben Leonhard Franks „Der Mensch ist gut“ auch Andreas Latzkos „Heldentod“ über das Sterben eines schwerverwundeten Offiziers im Lazarett. Von den Soldaten, die sich im Stellungskampf mit den Gräben ihr eigenes Grab schaufeln oder als „Brüder von Maulwürfen und Vettern von Ratten und Kellerasseln“ dahinvegetieren, berichtet Martin Beradts „Erdarbeiter“. Eine besonders bildmächtige Schilderung enthält Paul Zechs „Grab der Welt“. Darin geht es um 5000 blutjunge Franzosen, die bei Douaumont die deutschen Stellungen durch Frontalangriff nehmen sollen. „Ein Halbkreis von knapp zehn Kilometern wurde zum gewaltigsten Feuerrad der Welt“. In ihm verzehrt sich die „Knaben-Division“. Und in seinem Tagebuch vom November 1914 hält Egon Erwin Kisch über eine österreichische Kampagne in Serbien fest, dass die Mannschaft „vor Frost klappernd und vor Hunger fast sinnlos“ dahinmarschiert. Eine Sonderstellung nehmen Leonhard Franks „Der Kellner“ und Ulrich Steindorffs „Golgatha“ ein. Sie handeln von Vätern, deren Söhne den „Heldentod“ gestorben sind. Franks Kellner, der sein Kind im Sinne eines preußisch-mili-
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Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen
tanten Patriotismus erzogen hat, erlebt eine Umkehr. Er wird zum Kriegsgegner, der christliche Liebe gegen den chauvinistischen Hass setzt. Bei Steindorff macht sich der Vater auf die Suche nach dem Grab seines Sohnes auf einem Schlachtfeld in Galizien und scheut keine Mühe, die Leiche zu finden und in die Heimat zu bringen. Die Väter identifizieren sich hier mit christlichen Leidensorten wie Golgatha oder entdecken die Botschaft von der Bergpredigt als Mittel, sich gegen die Todesmaschinerie aufzulehnen. Walter Flex dagegen hängt einer politischen Religion an. Sein „Wanderer zwischen beiden Welten“ war eines der meistgelesenen Kriegsbücher im nationalistisch-konservativen Bürgertum. Der Tod des Soldaten gilt dort als „das letzte und größte Opfer“. Auf das Grab eines gefallenen Freundes legt Flex einen Strauß völkisch verkitschter Blumen nieder: „Der Stahl, den der Waffenfrohe blank durch sein junges Leben getragen, liegt ihm nahe am Herzen, als ein Gruß von Erde, Luft und Wasser der Heimat, aus dem Marke deutscher Erde geschmiedet, in deutschem Feuer gehärtet und mit deutschem Wasser gekühlt.“ Dann sind da noch die draufgängerischen Offiziere, die die persönliche Bewährung suchen, nach Auszeichnung, Beförderung und Ruhm gieren. Bei den Bodentruppen mit Materialschlacht und Massensterben ist das schwerer zu haben als bei den neuen Jagdfliegern. Sie glauben, den Zweikampf zu rehabilitieren; über ihre Abschüsse führen sie stolz und penibel Buch. Krull druckt ein Kapitel aus dem Bericht des Freiherrn von Richthofen, der als „roter Baron“ noch heute präsent ist. Als er den 16. Gegner abgeschossen hat, erhält er den „pour le mérite“, die höchste Auszeichnung. „Ich stand somit an der Spitze sämtlicher Jagdflieger. Dieses war mein Ziel, das ich erreichen wollte“, notiert er lakonisch. Nun wird die „Jagdstaffel Richthofen“ eingerichtet, die er zu führen hat. Schließlich Ernst Jünger. Er versucht, eine literarische Sprache zu finden, die zeigt, dass beim Heer noch individuelle Beweise von Heroismus und soldatischer Härte möglich sind. In seinen „Stahlgewittern“ wird „ganze Arbeit geschafft“, wenn er einen „Engländer“ auf „150 Meter zwischen zwei Deutschen“ herausschießt, wobei der Feind „wie ein Messer zusammenklappt“. Wilhelm Krull (Hg.), Krieg – von allen Seiten. Prosa aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Göttingen: Wallstein, 2013.
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Zeigt sich die Neue Welt in China? Merkur 62.9/10 (2008) Kehrt man von Chinareisen in europäische Hauptstädte wie Berlin oder Paris zurück, kommt man sich vor wie Gulliver, der Schwierigkeiten hat, sich auf die Kleinteiligkeit der Umgebung einzustellen. Alles an Beijing und Shanghai, Da Lian oder Guangzhou ist kolossaler, sowohl in vertikalen als auch in horizontalen Raumdimensionen. In Europa, aber auch in New York und Chicago, wird die Bausubstanz der Vergangenheit renoviert und restauriert, werden Fassaden erneuert und alte Ornamente vergoldet. In China dagegen konstruiert und experimentiert man städtebaulich im Stil des 21. Jahrhunderts. Hier gibt man der Avantgarde der internationalen Architektenriege Großaufträge, bei deren Ausführung freie Hand gelassen wird. Ihr Baustil war schon immer Gradmesser und Indiz für Identität und Vitalität einer Gesellschaft, und die passionierte Gegenwartsorientierung, die man in China an den Tag legt, zeigt sich auch in vielen anderen Gebieten. Bei den StudentInnen, die ich während meiner Zeit als Gastprofessor in Beijing kennenlernte, merkte ich rasch, wie sie von den Veränderungen in ihrem Land in Atem gehalten wurden. Von Vergangenheitsorientierung und der im Westen so verbreiteten Erinnerungskultur habe ich wenig gemerkt. Jeder ist darauf bedacht, die Karrieresprünge, die heute möglich sind, wahrzunehmen, und man blickt nicht gerne zurück. Diskussionen über die Zeit der Kulturrevolution habe ich nie erlebt und in den Gesprächen, die ich führte, tauchte der Name Mao Tse-tung nicht ein einziges Mal auf. Dabei müssen die Chinesen beim Blick in die Geldbörse tatsächlich auf allen Scheinen das gleiche Mao-Porträt sehen. Mao-Denkmäler sieht man noch oft, und nicht wenige davon befinden sich auf Universitätsgeländen. Meistens schreitet die Podestikone entschlossen gegen einen imaginären Wind der Geschichte an, die linke Hand mit der bekannten Mütze gegen den Mantel gepresst, die Rechte als Wegweiser erhoben. In der Architektur dominiert auch in China die funktionale Moderne, wie sie sich von Adolf Loos über Ludwig Mies van der Rohe bis zu ihrer aktuellen dekonstruktiven Variante bei Rem Koolhaas entwickelt hat. Daneben aber gibt es auch Beispiele jener Postmoderne, wie sie in den 1970er Jahren von Charles Jencks inauguriert wurde. Danach sollte sich die moderne Architektur nicht ständig selbst imitieren und nicht den Eindruck vermitteln, als ob der Funktionalismus in jeder Weltgegend angemessene Lösungen biete. Einzubeziehen seien auch das historische Umfeld und die Bautradition der jeweiligen Kultur. So gibt es im Westen der Stadt Beijing ein Hotel, das auf fabelhafte Weise westliche Moderne und herkömmliche chinesische Baustile im Sinne des Jenckschen double coding vereint. Zu erwähnen ist auch das sogenannte Vogelnest, das Hauptgebäude der
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Olympischen Spiele – eine eindrucksvolle Konstruktion der Postmoderne, auf das die Bevölkerung mit Recht stolz ist. Ein weiteres Beispiel ist das Nationale Kunstmuseum im Zentrum der Hauptstadt. Es sieht äußerlich wie ein altes chinesisches Repräsentationsgebäude aus, aber im Inneren ist es ein typisch moderner Museumsbau. Übrigens gab es in diesem Frühjahr dort zwei deutsche Ausstellungen, die zum einen das chinesische Interesse an der Gegenwartskunst dokumentierten, zum anderen einen Blick zurück in die Entwicklung europäischer Malerei vom 19. Jahrhundert bis heute erlaubten. Gezeigt wurde eine Sammlung von Gemälden Gerhard Richters und Kunstwerke zum Thema „Living Landscapes“ von der Romantik bis zur Gegenwart, d.h. von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch. Allerdings sieht man auch in chinesischen Städten nur allzu oft Gebäude oder ganze Häuserfluchten, die daran erinnern, dass es eine Postmoderne gibt, deren Charakteristikum der historische Mischmasch unterschiedlicher europä ischer Stile ist. So erfasst den Besucher ein leichtes Grauen, wenn er in Da Lian ein gigantisches Wohnsilo mit sündhaft teuren Appartements (Blick aufs Meer) wahrnimmt, das ausschaut wie eine Mixtur aus Warschauer Kulturpalast, Schloss Neuschwanstein und Tower of London. Den Unterschied zwischen vergangenheitsverhaftetem Europa und gegenwartsfixiertem China kann man bis zu einem gewissen Grad auch im Land selbst feststellen. Man braucht nur Shanghai und Hongkong miteinander zu vergleichen. Sicher ist Hongkong nach wie vor eine der schönsten Städte der Welt, die Perle unter den Städten Asiens. Aber der Unterschied zu der konkurrierenden Hafenstadt fällt ins Auge: Shanghai repräsentiert das Wachstum des Landes, steckt voll von Baustellen, Hongkong dagegen stagniert, erscheint wie abgeschlossen; Shanghai pulsiert, ist hellwach, und Hongkong träumt vor sich hin. Shanghai repräsentiert das neue China der Globalisierung, Hongkong erinnert an die europäisch-koloniale Vergangenheit. Auffallend an Shanghai ist, dass man vor allem junge Menschen auf den Straßen sieht, während man in Hongkong mehr älteren Leuten begegnet. Auf dem Papier gehört Hongkong heute zum „Mainland China“, aber de facto fährt man in ein fremdes Land, wenn man die Stadt besucht. Pass- und Zollkontrollen für Chinesen wie Ausländer sind Vorschrift. Statt mit chinesischer Währung bezahlt man mit dem Hongkong-Dollar, und anstelle des vertrauten Rechtsverkehrs wird man mit englischem Linksverkehr konfrontiert. Die Universitäten sind nach dem amerikanischen Campusmodell aufgebaut und die Lehrpläne sowie die Leistungsvoraussetzungen für die akademischen Abschlüsse orientieren sich an US-Vorbildern. Wie in Amerika gibt es einmal im Jahr die Universitätsaufnahmeprüfung, die alle Schüler ablegen müssen und deren Resultat darüber entscheidet, ob man an einer Eliteschule studieren darf
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oder sich mit einem Studienplatz an einer weniger angesehenen Hochschule begnügen muss. Die Studenten mit ihren Jeans, T-Shirts (oft mit amerikanischen Slogans versehen) und Baseballcaps (die allerdings nie verkehrt herum aufgesetzt werden) sind den amerikanischen Kommilitonen zum Verwechseln ähnlich. Der Lieblingssport auf dem Campus ist Basketball. Natürlich wohnen alle B.A.StudentInnen (wie in Amerika) in den sogenannten dorms auf dem Campus. Und für die Professoren gibt es eigene Wohnheime, wie das an manchen amerikanischen Universitäten der Fall ist, nie jedoch an europäischen. Auch die Studiengebühren sind, relativ zum Einkommen, so hoch wie in Amerika. Bis vor zehn Jahren gab es – wie das in einem sozialistischen Land üblich war – allgemeine Gebührenfreiheit. Das ist Geschichte, denn jetzt herrschen die Regeln des Marktes auch in Academia. Die tuition (wie der amerikanische Ausdruck lautet) ist hoch, und die Gebühren in Deutschland sind im Vergleich dazu gering. So haben Eltern die gleichen Sorgen wie in Amerika: Früh beginnen sie fürs College der Kinder zu sparen, übrigens inzwischen auch die Großeltern. Das ist allerdings nicht ganz so schwierig wie in den USA, denn in China ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Ehepaar nicht mehr als ein Kind haben darf (eine Regel, die aber nicht für die Minoritäten des Landes gilt, die etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachen). Die StudentInnen können auch Darlehen bei einer Bank aufnehmen. Arm und hochbegabt ist keine schlechte Kombination, denn für die Überflieger gibt es, wie in den USA, Gebührenfreiheit. Und dazwischen kommen alle denkbaren Mischungen der Finanzierung vor: Oft hat man einen Teilzeitjob, um das Geld für die Seminare und das Wohnheim zu berappen. Eine Studentin erzählte stolz, dass sie für die Zeit der Olympischen Spiele bei McDonald’s auf dem Olympiagelände Hamburger verkaufen dürfe. McDonald’s, Pizza Hut, Burger King und Kentucky Fried Chicken gehören zu den amerikanischen Globalisierungsgewinnern, man sieht ihre Zweigstellen an allen nur denkbaren Ecken in den chinesischen Großstädten. In Da Lian hat man einen Vergnügungspark nach dem Vorbild von Disney World in Florida gebaut. Hier wie dort strömen die Eltern mit ihren Kindern am Wochenende und in den Ferien in die Plastikmärchenwelt der Feen, Monster und Zwerge. Nicht alles ist identisch, was ähnlich ausschaut. Es gibt in China (wie in Amerika) inzwischen eine kleine Schicht der Superreichen, die sich alles leisten kann, und es gibt eine nach wie vor erdrückende Majorität der sehr Armen. Dazwischen entwickelt sich in China die Mittelklasse, die von Jahr zu Jahr größer wird, und das Heer der Ärmsten verringert sich. Die amerikanischen Milliardäre waren noch nie so reich wie heute, die Mittelklasse in den USA schrumpft jedoch zusehends und die Klasse der Habenichtse wird immer größer. Oft bekommt man von den chinesischen KollegInnen zu hören: Der demokratisch gewählte Präsident Bush macht außen- wie innenpolitisch mehr Fehler als
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unsere Regierung, die nichts von einer Demokratie nach Jeffersonschem Muster hält. Die USA befänden sich in einem Krieg, der das Land in die größte Verschuldung seiner Geschichte gestürzt habe, und die Friedenspolitik beschere China einen Devisenüberschuss, wie er einzigartig in der Staatshistorie der Menschheit sei. Die chinesischen Medien berichteten, dass ein Großteil der Reserven international investiert wird, was zu einer Belebung der Weltwirtschaft führen soll. An Demokratiediskussionen war man nicht interessiert, wohl auch deswegen, weil es eine traditionsbildende demokratische Praxis in der Geschichte Chinas nie gegeben hat. Bekanntlich reagieren Chinesen allergisch auf die Art und Weise, wie westliche Politiker Menschenrechtsargumente gegen das Land verwenden. Natürlich sei es das gute Recht des amerikanischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin, so meinten meine chinesischen KollegInnen, die Einhaltung von Menschenrechten anzumahnen. Aber zum einen solle man in dieser Angelegenheit zunächst einmal vor der eigenen Tür kehren, zum anderen seien dies rituelle Veranstaltungen für die Medien und das Wählervolk daheim. Irgendwelche politischen oder ökonomischen Wirkungen hätte diese Rhetorik in China selbst noch nie gezeitigt. Wenn man sich in Beijing auch politisch gerne von den USA distanziert, so ist die Kooperation mit Amerika jedoch nach wie vor einer der primären Gründe für die florierende Wirtschaft. Allerdings nimmt der Anteil Amerikas am Außenhandel relativ gesehen ab im Vergleich zu den wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit den asiatischen Staaten sowie Australien und Neuseeland. Auch werden immer mehr Güter, die man bisher importierte, in China selbst produziert. Bei den Autos dominieren nach wie vor die Modelle aus Europa, den USA und asiatischen Ländern wie Korea und Japan. Immer öfter sieht man jedoch die heimische Limousine „Volksrepublik China“, und ein etwas kleinerer Wagen mit dem Namen „Rote Fahne“ findet ebenfalls guten Absatz. Auch in China wird in den Medien nach der exorbitanten Erhöhung des Erdölpreises über alternative Energien berichtet, wenn die Diskussion darüber auch erst in den Anfängen steckt. Doch will man so rasch wie möglich Anschluss an die Entwicklungen in Europa und den USA finden. Man hat unerschöpfliche Kohlevorkommen, aber deren Nutzung bedeutet ein enormes Problem für die Umwelt. Umweltschutz ist ebenfalls derzeit ein Thema in den Medien des Landes. China ist inzwischen die Nummer eins unter den Umweltverschmutzern, hat also auf diesem Gebiet die USA überholt. Amerika ist auch Vorbild im Bereich des Fernsehens. Wie dort kann man in China mit der Fernbedienung an die sechzig Kanäle anklicken. In beiden Ländern überwiegt mit Seifenopern die seichte Unterhaltung: Im Falle Chinas herrschen dürftige Varianten der Pekingoper vor. Die öden Kriegsfilme sind ebenfalls ver-
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gleichbar, und die Reklameeinschübe sind nach demselben schlichten Muster gestrickt. Wurden bis in die 1980er Jahre in Amerika Streifen wie „Hogan’s Heroes“ ausgestrahlt, in denen die klugen und mutigen amerikanischen GIs die primitiven deutschen Offiziere hereinlegten, so sind die antijapanischen Filme noch heute im täglichen Angebot des chinesischen Fernsehens zu registrieren: Ruhig-heroische Chinesen kämpfen da allnächtlich ihre Schlachten gegen die ewig herumschreienden (oft schielenden) Besatzungsjapaner. Trotz der antijapanischen Ressentiments in China florieren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden asiatischen Nachbarn. An der Oberfläche wirkt China zuweilen amerikanischer als Amerika selbst, ja das Land ist die eigentliche Neue Welt unserer Zeit. Während in den alt wirkenden USA die Moderne bereits in den Zustand ihrer Selbstkritik getreten ist, wird sie in China noch triumphal gefeiert. Man schaue sich die neue U-Bahn in Beijing an. So etwas an Perfektion, schönem Design und technischem Raffinement habe ich in den USA noch nie gesehen. Die New Yorker Subway kommt mir gegen dieses Produkt modernster Technik wie ein Museumsstück vor. Die Mittelklasse in China ähnelt immer mehr der amerikanischen. Zur chinesischen Mittelklasse zählt nach offiziellen Angaben inzwischen ungefähr ein Viertel der Bevölkerung, also etwa 300 Millionen Staatsbürger (die Gesamtbevölkerung beläuft sich auf 1,2 Milliarden, womit China das bevölkerungsreichste Land der Welt ist). Zu den Imitationen des American Way of Life gehört in China, dass die Mittelklasse die Statussymbole der Amerikaner zu übernehmen beginnt. Wer in Amerika etwas gelten will, muss Golf spielen, denn dabei treffen sich die wichtigen Leute (oder solche, die sich dafür halten). Dort werden Geschäfte diskutiert, zuweilen auch abgeschlossen, Personaldebatten und politische Gespräche geführt. Ein wirklicher Volkssport ist Golf weder in den USA noch in China, aber hier wie dort deutet man durch Mitgliedschaft in einem Golfklub an, dass man zur Elite der Mittelklasse gehört. Witzig ist es zu sehen, wie superamerikanisch es beim chinesischen Golfspiel zugeht: noch weitläufiger angelegt die Plätze, noch schicker die Golfcarts, noch diensteifriger das Hilfspersonal, noch aufwendiger die Clubräume. In der chinesischen Presse sind Vergleiche mit den USA an der Tagesordnung. Man sieht sich noch nicht als vollentwickeltes Land wie der reiche Partner auf der anderen Seite der Welt, sondern als sich entwickelnde Nation, und das bedeutet, dass man sich noch als Underdog gibt, der man längst nicht mehr ist. Allerdings ist die These vom Entwicklungsland auch nicht ganz falsch. Sobald man die chinesischen Metropolen verlässt und durch die Provinz fährt, gerät man immer wieder in Landstriche, die vernachlässigt und unterentwickelt aussehen. Aber das geht einem in den USA nicht anders, und trotzdem kommt niemand auf die Idee, Amerika als Entwicklungsland zu bezeichnen.
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Was mir am meisten auffiel bei den Gesprächen mit StudentInnen und KollegInnen, war der nationale Stolz. Der hat vor allem drei aktuelle Gründe: erstens das lang anhaltende wirtschaftliche Wachstum und die beruflichen Möglichkeiten, die der Reichtum des Landes den jüngeren Generationen eröffnet, zweitens die Rettungserfolge nach der Erdbebenkatastrophe vom Mai 2008 in der Region Wenschuan, und drittens die Olympischen Spiele in Beijing. Ich habe eigentlich nie eine negative Bemerkung über die derzeitige Regierung gehört und ich glaube nicht, dass das mit Ängstlichkeit oder prinzipieller Kritiklosigkeit meiner Gastgeber zu erklären wäre. Die Popularität des Ministerpräsidenten Wen hat zugenommen, weil er gleich nach dem Erdbeben in das Katastrophengebiet fuhr. Auch ist es ihm zu verdanken, dass die Medien ausführlich über die Tatsachen des Unglücks berichten konnten und in zahlreichen Sendungen Betroffene und Helfer interviewt wurden. Durch die Medien erfuhr man auch über die internationale Hilfe für die Opfer des Unglücks, wobei sich allerdings die Regie der Staatsführung bemerkbar machte. So fanden die Hilfssendungen der USA, Frankreichs und Deutschlands keine Erwähnung, weil man über die amerikanische Tibetpolitik verärgert war, die Störung des Stafettenlaufs der olympischen Flamme in Paris nicht vergessen hatte und über die Menschenrechtsmahnungen der deutschen Kanzlerin keineswegs erfreut war. Ansonsten aber wurde jedes Zelt erwähnt, das man aus irgendeinem Sultanat oder einer südamerikanischen Bananenrepublik erhielt. Zudem verglich man in den Gesprächen mit den KollegInnen das Engagement des Ministerpräsidenten nach dem Erdbeben mit dem des amerikanischen Präsidenten nach der Flutkatastrophe in New Orleans: Bush habe an Sympathien bei der amerikanischen Bevölkerung, ja innerhalb seiner eigenen Partei, verloren, während Wen an Beliebtheit bei Volk und Partei gewonnen habe. Auch Hu, der Präsident und mächtigste Mann des Landes – er ist gleichzeitig Generalsekretär der KP Chinas –, habe in letzter Zeit, teilte man mir mit, viel Zustimmung erhalten. Das hänge mit seiner diplomatischen Initiative bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Taiwan und Japan zusammen. So ähnlich die chinesischen Universitäten den amerikanischen auf den ersten Blick auch sind, es gibt eine Besonderheit: Neben der akademischen Adminis tration mit ihren Seminarvorständen beziehungsweise Dekanen, Vizepräsidenten und Präsidenten gibt es auch Instanzen auf all diesen Ebenen, die die Interessen der Kommunistischen Partei Chinas vertreten. Der Einfluss der Parteisekretäre, sagte man mir, sei früher groß gewesen, habe sich aber mit zunehmender Marktorientierung und Professionalisierung abgeschwächt. Auch sieht die Situation der Kirchen in China ganz anders aus als in den USA oder Europa. Es gebe, teilte mir eine Kollegin mit, nicht wenige Chinesen, die sich religiösen Vereinigungen oder Kirchen anschlössen, und sie würden dann von
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der Partei nicht als Mitglieder aufgenommen. Wahrscheinlich hat der Atheismus der chinesischen Kommunisten seinen Grund nicht nur darin, dass sie Marx und Feuerbach gelesen haben. Bezeichnend für das heutige China ist eine Rehabilitierung des Konfuzius, also des ältesten Philosophen des Landes, dessen Einfluss auf die Mentalität der Nation kaum überschätzt werden kann. Konfuzius empfahl, über Tao als höchster religiöser Realität deswegen nicht zu sprechen, weil es dem Menschen zu fremd sei. So konzentrierte er sich auf die Analyse menschlicher Verhaltensweisen und entwickelte Regeln für einen harmonischen Umgang der Staatsbürger untereinander. Und diese Regeln galten über weit mehr als zwei Jahrtausende hin als Richtlinien sozialer Kommunikation. Aktuelle Statistiken besagen, dass knapp die Hälfte der chinesischen Bevölkerung atheistisch ist. Der Anteil der Chinesen, die sich zu einer Religion bekennen, sei es zum Buddhismus, zu einer christlichen Kirche oder zum Islam, nehme jedoch wieder zu, wenn man auch nicht von einem rasanten Anstieg sprechen könne. Der Buddhismus hat, von Indien kommend, tiefe Spuren in der Kultur des Landes hinterlassen. Ich sah in Tempeln, die keine ausgesprochenen Tourismusziele sind, Menschen, die den Buddhas opferten, meistens in Form von Räucherstäbchen oder Goldgaben. In der Innenstadt von Guangzhou besuchte ich einen solchen Tempel. Teil der Anlage war eine alte, wunderbar erhaltene Pagode mit inneren Treppen, die zu ihren acht Etagen führten, in deren oberster sich ein Heiligtum befand. Auf jeder Zwischenebene war ein Rondell aufgebaut und auf ihren beiden Seiten waren jeweils drei Buddhas abgebildet. Ich sah ein Brautpaar, das in jedem dieser Etagenaltäre seine Gebete verrichtete. Auch im profanen Alltag erkennt man oft, dass China dann doch nicht Amerika ist. In vielen Taxis steht angeschlagen, dass nur Frauen oder Kinder, keineswegs aber Männer sich vorne neben den Fahrer setzen dürfen. Frauen gelten als friedlicher, und die Taxifahrer wollen Streit mit männlichen Kunden vermeiden, indem sie sie auf die hinteren Plätze verbannen, die vom Fahrer durch einen stabilen Drahtzaun getrennt sind. Ein weiteres Beispiel für Mann-Frau-Differenzen, die man in Amerika so nicht kennt: Viele Mädchen und Frauen tragen, wenn die Sonne scheint, Schirme: Sie wollen nicht braun werden, das gilt als bäuerisch oder proletarisch, helle Haut ist nach wie vor ein weiblicher Schönheitsausweis. Man ahmt nicht nur nach, sondern entdeckt auch eigene Traditionen wieder. Das Drachenbootfest zum Beispiel ist ein chinesisches Fest, das vor Jahrhunderten in der Gegend um Hongkong begann und fast im ganzen Land populär wurde. Der 7. Juni, ein Samstag, war in diesem Jahr der Beginn der dreitägigen Feier. Auf dem Gelände des Himmelstempels in Beijing sangen zahllose kleine und große Chöre sowie Solostimmen chinesische und europäische Volkslieder, Teile aus Pekingopern und Arien aus westlichen Musikdramen (Don Giovanni etc.). Da tanzten die Leute für sich und in Gruppen, musizierten Männer und Frauen auf
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chinesischen oder westlichen Instrumenten: Es verbreitete sich eine ansteckende Freude, wie ich sie sonst während der ganzen Zeit meines Besuches nicht erlebt habe.
Peter Schneider über Rebellion und Wahn von 1968 Die Welt/Literarische Welt (12.4.2008) Über die „Achtundsechziger“ sind inzwischen viele Erinnerungsbücher und Studien erschienen. Es herrscht kein Mangel an Informationen über die Studentenbewegung, die Außerparlamentarische Opposition und die Rote Armee Fraktion (RAF). Peter Schneiders autobiografischer Rückblick ragt aus der Fülle der aktuellen Analysen über die Protestgeneration heraus. Es ist das Dokument eines Zeitzeugen, der lieber Widersprüche gelten lässt anstatt komplexe Sachverhalte auf einseitige Thesen zu reduzieren. Was den Erlebnisbericht des Schriftstellers von anderen Büchern zum Thema – etwa von Aly, Kraushaar, Hodenberg, Gilcher-Holtey, Schildt und Siegfried – unterscheidet, sind die beiden Zeitebenen: Der 68jährige Autor schreibt nicht nur aus der Erinnerung über „68“, sondern zitiert auch seine Tagebuchaufzeichnungen aus der unruhigen Zeit. Privatleben und öffentliches Protestverhalten, so belegt das Diarium, waren kaum miteinander in Einklang zu bringen. Hier der selbstmitleidige Ton eines neuen Werthers, der sich nach Harmonie und Zärtlichkeit sehnt, dort der aggressive, die studentischen „Massen“ beeindruckende Jungfunktionär, der ein deutscher Malcolm X werden möchte. Schneider wird in seinen Erinnerungen nicht einfach „fertig“ mit der 68er Vergangenheit. Ihre Vergegenwärtigung wühlt ihn immer noch auf, und so stehen neben distanzierten, selbstironischen und selbstkritischen Urteilen auch harsche Bemerkungen, die sich von der Meinung des Mittzwanzigjährigen von einst nur wenig unterscheiden. Was einen beim Lesen nicht unberührt lässt, sind die unterschiedlichen Schicksale der ehemals Gleichgesinnten: im Nahen Osten verschollen, erstaunliche Fernsehkarriere, in einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommen, erfolgreicher Hochschullehrer, zwanzig Jahre Gefängnishaft, berühmte Filmemacherin etc. In „Rebellion und Wahn“ kommt ein Leit- und Leidmotiv vor, das in der übrigen Literatur keine Erwähnung findet: die Prügel. Während der Kindheit herrschte das Rohrstock-Prinzip der schwarzen Pädagogik, und in der Studentenzeit verwandelten sich Protestkundgebungen oft in Prügelorgien, bei denen die Polizei sich die Rolle überväterlicher Autorität anmaßte. Die Gegenwehr der Studenten erscheint wie eine zeitverzögerte Reaktion auf jene physische Gewalt, der sie als Heranwachsende ausgesetzt gewesen waren. Im Mittelpunkt des Buches
Peter Schneider über die studentische Rebellion
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stehen Befreiungsversuche aus Bindungen, in denen körperliche Züchtigung, emotionale Kälte und das Beschweigen persönlicher Probleme dominieren. Es sind drei persönliche Absetzbewegungen, die Schneider nachzeichnet: Erstens zieht es ihn 1960 aus dem Elternhaus in Freiburg im Breisgau zum Studium nach Berlin, wo er seinen Interessen nachgehen und seine Talente erproben will. Zweitens flieht er 1968 nach Italien, um der politischen Sackgasse zu entkommen, in die er als Revoltierender in Berlin geraten ist. Und drittens – wieder zurück in Berlin – verwirklicht er 1972 den schon lange gehegten Wunsch, Schriftsteller zu werden. Bei seinem Literaturstudium im Berlin der frühen sechziger Jahre begegnete er Walter Höllerer. In dessen Literarischem Kolloquium blühte Schneider auf und entdeckte seine Begabung. Sein Vorbild war der damals sozialistisch gesonnene Enzensberger, in dessen Haus er verkehrte. Durch seine Rede „Wir haben Fehler gemacht“ fiel Schneider dem Propheten der Bewegung, Rudi Dutschke, auf. Dutschke bereitete den internationalen Vietnam-Kongress vom Februar 1968 vor. Damit wollte er die „Massen“ mobilisieren und – bei wahnhafter Überschätzung seiner Möglichkeiten – den Beginn der „Weltrevolution“ einläuten. Dutschke sah sich bereits als Nachfolger von Che Guevara. Wie der Kampfgefährte Fidel Castros war auch er in dem Irrtum befangen, maoistische Revolutionsstrategien, die im China der 1930er und 1940er Jahre entwickelt worden waren, auf Verhältnisse in anderen Ländern und zu anderen Zeiten übertragen zu können. Für Dutschke war Schneider „der Peter vom Springertribunal“. Dieses „Hearing“ von 1967 vorzubereiten, war die einzige Aufgabe, die Dutschke dem „melancholischen Rebellen“ anvertraute. Die Sache ließ sich zunächst gut an. Hamburger Zeitungsverleger steckten dem jungen Mann diskret Schecks über beträchtliche Summen zu, damit dem Berliner Konkurrenten Springer das Geschäft verleidet werde, und führende Intellektuelle der Bundesrepublik waren bereit, für einen Strukturwandel der Öffentlichkeit im Sinne der Studenten zu plädieren. „Entmachtet Springer“ war die Devise des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), dessen Führer sich über die negative Berichterstattung empörten. Die Demonstrationen des SDS wurden vor allem in der „Bildzeitung“ attackiert. Die geplante Aktion scheiterte. Ohne Absprache mit Schneider zeigte bei der ersten Veranstaltung des „Springertribunals“ in Berlin ein Student einen Kurzfilm, der darüber informierte, wie man Molotow-Cocktails herstellt. Sofort sagte die verschreckte Prominenz von Mitscherlich bis Habermas die Mitarbeit im Tribunal auf. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 eskalierte der Hass zwischen den Studenten und der Springerpresse. Bald darauf konnte Schneider die Widersprüche zwischen revolutionärer Pflicht und literarischer Neigung, kol-
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lektivem Auftrag und subjektiver Phantasie, politischer Entschiedenheit und privater Verzweiflung nicht mehr überbrücken. Er setzte sich im Juli 1968 nach Rom ab, und er hätte vielleicht schon dort und damals ein Buch über seine Berlin erfahrungen geschrieben, wäre ihm nicht sein Ruhm als Freund Dutschkes nach Italien vorausgeeilt. Die rebellischen Studenten von Trento baten ihn um Mitarbeit, engagierten ihn als Redner und Ideengeber, besonders in Sachen „Kritische Universität“. Nach kurzer Zeit in der norditalienischen Metropole fühlte Schneider sich wie ein „neuer Mensch“. Was ihm besonders gefiel, war die fehlende „Kultur des Gehorsams“. Die Ferien vom deutschen Ich kamen allerdings nach etwas mehr als einem halben Jahr zu einem abrupten Ende: Er wurde als unerwünschter Ausländer, der „eine Gefahr für die öffentliche Ordnung in Italien“ darstelle, nach Deutschland abgeschoben. Beim erneuten Berlin-Aufenthalt wollte er zunächst noch „die Arbeiterschaft“ in den Betrieben zur gesellschaftlichen Umwälzung motivieren. Drei Monate lang war er Materialfahrer bei einer Filiale der Firma Robert Bosch und unterhielt sich mit den dort beschäftigten Arbeiterinnen. Es kam anders als geplant: Die Frauen bei Bosch machten dem jungen Mann klar, dass sie wenig von seiner revolutionären Botschaft hielten. Sie meinten, er werde sich als Student bald wieder verabschieden, seine Doktorarbeit schreiben und als Mitglied der Elite schnell ihre Sorgen vergessen. Mit den Germanisten in der KPD-Aufbauorganisation, die ihn für ihre Diktatur-Vorstellungen gewinnen wollten, konnte er nichts anfangen: Ihre teutonische Verbissenheit, Weltfremdheit und Unduldsamkeit waren nach der italienischen Reise schwer zu ertragen. Schneider kam gegen Ende seiner revolutionären Lehrjahre dort an, wo er eigentlich schon immer hinwollte: im Literaturbetrieb, den er durch Walter Höllerer schätzen gelernt hatte. Sein erstes Buch war ein sensationeller Erfolg. Der Autor brachte in der 1973 erschienenen Erzählung „Lenz“ jene freiheits- und phantasiefeindlichen Tendenzen zur Sprache, denen man in den marxistischen/maoistischen roten Zellen ausgesetzt war. „Lenz“ hat viel zur Besinnung der Studenten auf ihre eigenen Interessen und Ziele, ihre persönlichen Wünsche und Ambitionen beigetragen. Der Titel des Buches verwies nicht nur auf den traurigen Helden des Büchnerschen Werks, sondern auch auf den Frühling, der mit dem Bekenntnis zur „neuen Subjektivität“ wieder sein blaues Band durch die Lüfte der Literatur flattern ließ. Dass ihn sein Lebensthema, die Irrungen und Wirrungen von 1968, nicht loslassen, zeigt auch sein vor drei Jahren publizierter, gut geschriebener und packender Roman „Skylla“, in dem zwei ehemalige Achtundsechziger von ihrer Vergangenheit eingeholt werden. Peter Schneider, Rebellion und Wahn – Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008.
Der Kaiser und die Weltausstellung in St. Louis
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Des Kaisers neuer Pavillon: Die Deutschen bei der Weltausstellung von 1904 in St. Louis Frankfurter Rundschau (20.1.2004) Ohne die Haitianische Gelbfieber-Fliege hätte es weder 1803 den Verkauf des Louisiana Territoriums, noch 1904 die Weltausstellung in St. Louis gegeben. Napoleon wollte 1802 nicht mit ansehen, wie ihm die reichste aller europäischen Kolonien, die karibische Insel Saint Domingue (das heutige Haiti), verloren ging. Dort hatten die schwarzen Sklaven 1794 – wie Hans Christoph Buch es einmal ausdrückte – Robespierre beim Wort genommen. Sie verkündeten die allgemeinen Menschenrechte und revoltierten gegen ihre französischen Herren so, wie die Bürger von Paris es ihnen beim Aufstand gegen Adel und Monarchie vorgemacht hatten. Im Krieg gegen die ehemaligen Sklaven wurde Napoleon besiegt: zum einen Dank der Entschlossenheit, mit der sich die Rebellen wehrten, zum anderen wegen der Hilfe, die sie von der Gelbfieberfliege erhielten. Im Gegensatz zu den Europäern waren die aus Afrika verschleppten Haitianer weitgehend immun gegen das Gift dieses Insekts. Mit dem verlorenen Krieg war 1803 Napoleons Traum von der Wiedererrichtung des französischen Kolonialreichs auf dem amerikanischen Kontinent ausgeträumt. Kurz entschlossen verkaufte er das Louisiana Territorium (mittleres Drittel der heutigen USA) an die Amerikaner im Frühjahr 1803 für 15 Millionen Dollar. Heute muss man die Summe, um ihren Wert einzuschätzen, mit fünfzig multiplizieren. Dass die USA dieses gigantischste Immobiliengeschäft in der Geschichte der Menschheit hundert Jahre später feiern würden, war keine Frage. Man einigte sich auf die Form einer Weltausstellung. Von St. Louis aus hatte 1804 Jeffersons Expedition zur Erkundung des Louisiana Territoriums unter Lewis und Clark ihren Ausgang genommen. Seitdem war St. Louis „the Gate to the West“, das heißt, von hier aus wurde der Westen der USA im Lauf des nächsten halben Jahrhunderts erschlossen. Daran erinnert heute der berühmte Bogen („the Arch“) der Stadt am Mississippi. St. Louis konnte mit Unterstützung seiner Bürger, des Staates Missouri und nicht zuletzt der Regierung in Washington 1904 jene World’s Fair, jene Louisiana Purchase Exposition veranstalten, die in der einschlägigen Literatur über Weltausstellungen häufig als die größte und schönste ihrer Art bezeichnet wird. David Francis, einer der erfolgreichsten Geschäftsleute und Politiker der Stadt, wurde zum Direktor jener Gesellschaft gewählt, die die „Fair“ durchführte. Er hatte einen guten Draht zum Präsidenten Theodore Roosevelt, und Roosevelt wiederum tat gerne etwas für St. Louis, war diese Metropole des Mittelwestens doch eine der vier reichsten Städte der USA. Roosevelt sorgte auch dafür, dass die
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Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen
dritten Olympischen Spiele der Neuzeit als Teil der Weltausstellung in St. Louis organisiert wurden, obgleich Chicago sich große Hoffnungen auf deren Veranstaltung gemacht hatte. Als Francis merkte, dass die europäischen Großmächte von „Ausstellungsmüdigkeit“ geplagt wurden, mobilisierte er über Roosevelt die amerikanischen Botschaften in der Alten Welt. Francis selbst machte sich auf zu einer Europatour, wobei er von Staatspräsidenten und Königen empfangen wurde, auch vom Deutschen Kaiser. Wilhelm II. hielt viel von den USA, schätzte Roosevelt, und David Francis machte auf den rasch enthusiasmierten Monarchen den besten Eindruck. Francis hatte im Gespräch geschickt auf den großen Anteil der Deutsch-Amerikaner in seiner Heimatstadt hingewiesen: Ein Viertel der St. Louisianer stammte aus Deutschland. Wilhelm war Feuer und Flamme und machte die Weltausstellung von 1904 zur Chefsache. Er lobte alle, die sich an der „Fair“ beteiligten und rüffelte ungnädig die Herren bei Krupp in Essen, weil sie sich aus ihrer Ausstellungslethargie nicht herausreißen ließen. Die Details der Planung überließ der Kaiser Theodor Lewald, dem Kommissar für den deutschen Anteil an der „Fair“. Nur die nach Meinung des Herrschers wichtigsten Dinge schrieb er selbst vor: Der deutsche Pavillon musste nach seinem Willen gebaut werden, und bei den zur Kunstausstellung ausgewählten Bildern duldete kaiserliche Hoheit ebenfalls keinen Widerspruch. Da setzte er seine reaktionäre Meinung durch: von wegen Moderne und Sezession – nichts davon. Stattdessen wurden Bilder von Historienmalern wie Anton von Werner nach St. Louis geschickt. Dass auf vielen dieser Gemälde der Kaiser selbst verherrlicht wurde, versteht sich von selbst. Mit dem Argument „So etwas haben die Amerikaner doch nicht!“ drückte Wilhelm seinen Willen durch, das Schloss Charlottenburg am Mississippi neu erstehen zu lassen. Es wurde (allerdings ohne Seitenflügel) maßstabsgetreu auf dem Gelände der Weltausstellung nachgebaut, und zwar – wie alle anderen Pavillons auch – als Holzkonstruktion, die von außen mit einer besonders widerstandsfähigen Gipsart („staff“) umkleidet wurde. Die Nachahmung sah dem Original zum Verwechseln ähnlich, allerdings wirkte das Ganze seltsam unharmonisch gestutzt, da die Seitenbauten fehlten. Innen waren haargenau imitierte barocke Zimmer aus dem Schloss Charlottenburg und dem Berliner Stadtschloss eingebaut worden. Theodor Lewald war ein erfahrener Ministerialbeamter und ließ, was das nachgeahmte Preußenschloss und die historistischen Schinken in der Kunstausstellung betraf, dem Kaiser seinen Willen, doch sorgte er dafür, dass die moderne, die ganz aktuelle deutsche Innenarchitektur in dem Ausstellungspalast „Varied Industries“ zum Zuge kam. Da waren alle (von Peter Behrens über Max Klinger und Bruno Paul bis Joseph Olbrich) vertreten, die damals in der Phase zwischen Jugendstil und Neuer Sachlichkeit auf dem Gebiet der Innenarchitektur, der
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Plastik und des Kunsthandwerks in Deutschland Rang und Namen hatten. Marianne Weber berichtet in ihren Memoiren, wie sehr ihrem Mann gerade dieser Teil des deutschen Beitrags zur Weltausstellung in St. Louis gefallen habe. Wie kam Max Weber nach St. Louis? David Francis hatte die richtigen Gelehrten zur Leitung des größten und ambitiösesten wissenschaftlichen Kongresses bestellt, der je auf dem amerikanischen Kontinent stattgefunden hat: den Mathematiker Simon Newcomb, den Soziologen Albion Small und den Psychologen Hugo Münsterberg. Eine Woche lang, vom 19. bis 25. September 1904, hielten 350 der bekanntesten Wissenschaftler der Welt aus allen Disziplinen im „Congress of Arts and Science“ Vorträge zum Thema der Einheit und des Fortschritts der Wissenschaft. Ob Medizin oder Theologie, Geschichte oder Soziologie, Chemie oder Philosophie, alle Fächer waren vertreten. Ein Zehntel dieser Wissenschaftler kamen aus Deutschland, und zu ihnen gehörten unter anderen Adolf Harnack, Max Weber, Ernst Troeltsch, Ferdinand Tönnies und Werner Sombart. Auch bei den Universitätsprofessoren waren Vorurteile gegenüber Amerika und St. Louis abzubauen. Wie David Francis den europäischen Monarchen seine Aufwartung gemacht hatte, so reisten die drei Leiter des wissenschaftlichen Kongresses über den Ozean, um die Kollegen in Paris, Oxford oder Berlin anzuwerben. Sie hatten Erfolg. In Deutschland pilgerte der Deutsch-Amerikaner Hugo Münsterberg, Professor an der Harvard University, von Universitätsstadt zu Universitätsstadt, und seiner Überzeugungskraft verdankte sich die prominente deutsche Beteiligung. Die war den Veranstaltern wichtig, denn die deutsche Akademie bildete damals in vielen natur- und geisteswissenschaftlichen Gebieten die Avantgarde. Max Weber war begeistert. Er reiste vor und nach der Weltausstellung wochenlang mit seiner Frau durch den Norden und Süden des Landes und sammelte Quellen für den zweiten Band seines Hauptwerkes über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist. Auch Tönnies hatte positive Eindrücke, fand er für sein Lebenswerk über „Gemeinschaft und Gesellschaft“ in den USA doch großes Interesse. Troeltsch dagegen blieb distanziert. Die Distanz beruhte auf Gegenseitigkeit, denn für seinen durch Kant geprägten Kritizismus konnten sich die amerikanischen Kollegen nicht erwärmen. Sombart fand für seine Skepsis gegenüber dem amerikanischen Kapitalismus weiteres Belegmaterial. In den meisten Fällen hat der St. Louis-Aufenthalt im Werk dieser Wissenschaftler Spuren hinterlassen. Der Hauptvortragssaal, in dem auch Troeltsch sprach, befand sich in der Hall of Congresses auf dem Gelände der Washington University in St. Louis. Heute heißt das Gebäude Ridgley Hall, in dem das Germanistische Institut untergebracht ist. Amerika dominierte mit seinen Exponaten in allen Pavillons. Es war die günstigste Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, sich vor der Welt als Großmacht mit einer vitalen Wirtschaft, einer von Erfindungen nur so strotzenden
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Industrie und einem beachtlichen Bildungssystem zu profilieren. Aber von den europäischen Staaten war Deutschland das Land, dessen Ausstellungen die größte Aufmerksamkeit galt. Der deutsche Pavillon (also das imitierte Schloss Charlottenburg) war prominent platziert, lag im sogenannten main picture des Ausstellungsgeländes im Forest Park. Ob es in den Ausstellungs-Palästen um Transport, Bergbau, Industrie, Landwirtschaft, Ausbildung, Krankenpflege oder Buchwesen ging: Überall hatten die Deutschen Erstklassiges zu bieten, und in der Berichterstattung über die Weltausstellung kam man dauernd auf ihre Beteiligung zu sprechen. Alle teilnehmenden Nationen wurden an einem bestimmten Tag gefeiert. Der „German Day“ fand am 6. Oktober 1904 statt. Es war mit zwanzigtausend Besuchern der mit Abstand größte Nations-Feiertag. Als David Francis, der die Begrüßungsworte sprach, später sein Buch über die Weltausstellung schrieb, hob er den „Deutschen Tag“ als markantes Ereignis hervor. Carl Schurz, der Alt-Achtundvierziger, der bekannteste und erfolgreichste Deutsch-Amerikaner, hielt die Festansprache – auf Deutsch übrigens. Diese Weltausstellung, die sieben Monate dauerte, bildete einen erinnerungswürdigen Höhepunkt deutsch-amerikanischer Kooperation, von der nicht zuletzt die Wissenschaft profitierte.
Bologna-Reform und Grundstudium Frankfurter Rundschau (16.7.2003) Universitäten in den USA haben schon immer von europäischen Vorbildern profitiert. Warum soll Europa nicht bei der aktuellen Reform der eigenen akademischen Institutionen über den großen Teich schauen? In Old Europe möchte man einen „europäischen Hochschulraum“ mit kompatiblen Universitätsabschlüssen schaffen. So will es die gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister vom 19. Juni 1999, kurz Bologna-Erklärung genannt. Empfohlen werden zwei Studienzyklen, die aufeinander aufbauen und in allen Ländern ähnlich strukturiert sein sollen. Sowohl in der englischen wie der deutschen Fassung der Bologna-Erklärung ist von einem undergraduate- und einem graduate-Zyklus die Rede. Man möchte nicht nur eine Harmonisierung der europäischen Hochschulabschlüsse, sondern auch eine „Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems“ erreichen. Man schaut also nach Amerika und möchte wie dort einen B.A. als Abschluss des undergraduate-Studiums und einen M.A. (oder auch Ph.D.) als akademischen Abgangsgrad des graduate-Studiums einführen. Das undergraduate- oder Col-
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lege-Studium in den USA ist aber etwas ganz anderes als das Grundstudium an einer europäischen Universität. Es ist wenig sinnvoll, in Europa das amerikanische undergraduate-Studium zu kopieren. Die jungen Amerikanerinnen und Amerikaner gehen mit siebzehn Jahren ins College und verlassen es nach acht Semestern. Der akademische Abschluss am College ist der B.A., der Bachelor of Arts (oder der B.S., Bachelor of Science). Der B.A. ist etwas sehr Amerikanisches. Das College ist ein Zwischending, das mit den Aufgaben der allgemein bildenden High School mehr zu tun hat als mit spezialisierter Forschung, wie die Graduate School sie anbietet. Je nach Akzentsetzung des College dienen nur ein Viertel bis zur Hälfte der vorgeschriebenen College-Seminare der Ausbildung in einem Einzelfach – in der übrigen Zeit muss man eine Fülle von Kursen in einer Reihe von Fächern belegen. Es gibt zahllose Colleges in den USA, die nur den B.A. anbieten. Alle amerikanischen Universitäten bieten aber neben den Graduate-School-Abschlüssen (Magister und Doktor) auch den College-B.A. an. Der B.A. ist für amerikanische Studenten der wichtigste akademische Grad überhaupt. Der College-Besuch ist aus dem Leben der amerikanischen Middle Class nicht wegzudenken. Die meisten Eltern beginnen früh, für die beträchtlichen Studienkosten des Nachwuchses zu sparen. Die College-Jahre sind in Vorstellung, Erfahrung und Erinnerung der Amerikaner die eigentliche Jugendzeit, und der B.A. dokumentiert, dass man nun ein Graduate ist: Die Welt steht einem offen. Am College löst man sich vom Elternhaus, wird selbstständig, und wenn man es verlässt, gilt man als Erwachsener. Für viele beginnt nun das Berufsleben, für andere das spezialisierte Graduate-Studium. Würde man in Amerika den B.A. abschaffen, bräche eine unersetzliche Säule der amerikanischen Kultur weg. Der deutsche B.A. aber hat keine Tradition, und wenn man ihn dort, wo er inzwischen eingeführt worden ist, wieder abschaffen würde, nähme kaum jemand davon Notiz. Mit dem amerikanischen B.A. hat der deutsche wenig gemein, denn ihm fehlt die primär allgemein bildende Komponente. Eigentlich ist er überflüssig. Ein Grundstudium wurde bisher mit der Zwischenprüfung oder dem Vordiplom abgeschlossen, und dass man jetzt die ungefähr gleiche Qualifikation mit dem B.A. bescheinigt bekommt, bedeutet wenig. Mit dem B.A. die Universität zu verlassen, ist nicht ratsam. Was bedeutet ein Grundstudium, wenn das Hauptstudium fehlt? Ist der B.A. dann nicht so etwas wie ein Trostpflaster für diejenigen, denen man früher geraten hat, das Studium lieber aufzugeben? Warum wird so viel Reformaktivität in etwas investiert, das so wenig bringt? An den englischen B.A. sollte man ebenfalls nicht erinnern, denn der ist ein sehr viel anspruchsvollerer akademischer Grad, und mit ihm eine Universität zu verlassen, ist eine Ehre, keine Peinlichkeit. Die Einführung des B.A. in Deutschland gehört eher zu den
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Scheinreformen. Sie geht an den wirklichen Problemen der Universität vorbei, zu denen unter anderem das Beförderungssystem des akademischen Nachwuchses gehört. Viel wichtiger als die Einführung des B.A. ist etwa die Etablierung der JuniorProfessuren an deutschen Universitäten. In Gesprächen über die Junior-Professur bezieht man sich oft auf den amerikanischen Assistant Professor. Allerdings ist der Karriereabschnitt des Assistant Professor Teil eines spezifischen Beförderungssystems in den USA. Der Knackpunkt ist der Begriff tenure track, also die inaugurierte Festanstellung. Sie ist – sieht man von ganz wenigen Ausnahmen ab – an den Universitäten in Deutschland, wo inzwischen Junior-Professorenstellen eingerichtet worden sind, nicht gegeben. Wenn Akademikerinnen und Akademiker in den USA den Doktorgrad erworben haben und Professoren werden möchten, bewerben sie sich auf tenure track-Stellen an amerikanischen Universitäten (oder Colleges), allerdings nicht an der Universität, bei der sie promoviert haben. Die Universität, die eine tenure track-Stelle ausgeschrieben hat, beabsichtigt, der jungen Akademikerin oder dem jungen Akademiker nach einer Probezeit eigenverantwortlicher Arbeit (mindestens sechs Jahre) eine feste, man könnte auch sagen beamtete Stelle zu geben. Läuft die Phase als Assistant Professor aus, beginnt der Dekan mit dem sogenannten tenure-Verfahren. Da werden Leistungen des Assistant Professors zeitaufwändig überprüft und auch eine Reihe von Außengutachten eingeholt. Es geht um die Bewertung von Lehre, Forschung und Mitarbeit bei der akademischen Selbstverwaltung. Fällt das Ergebnis negativ aus, muss der oder die Betreffende die Universität verlassen. Ist das Resultat aber positiv, erhält der Assistant Professor den Titel eines Associate Professors und hat nun an dieser Universität eine Anstellung auf Lebenszeit. Nach ein paar weiteren Jahren steht die Beförderung zum Full Professor an. Dann wird erneut ein gründliches Beurteilungsverfahren durchgeführt: Associate Professors, die sich auf die faule Haut gelegt haben (was selten genug vorkommt), warten vergebens auf ihre Beförderung. Dieses amerikanische Modell hat sich bewährt. Es eröffnet jungen Akademikerinnen und Akademikern große Chancen, was eigenständige Arbeit, Profilierung und Gehalt betrifft, aber es bietet ihnen auch jene berufliche Sicherheit und Unabhängigkeit, ohne die Forschung und Lehre nicht denkbar sind. Mit der Einführung der Junior-Professur hätte man gleichzeitig das tenure track-Verfahren und das ganze amerikanische Beförderungsmodell übernehmen sollen. Es gibt in Deutschland Zeichen, die in diese Richtung weisen. Das verdient Unterstützung. Die Junior-Professur wäre eine Fehlkonstruktion, wenn sie zur Folge hätte, dass fähige Akademiker am Ende ihrer Probezeit nicht zur Mehrung des Wissens, sondern der Arbeitslosigkeit beitrügen.
US-Universitäten im Vergleich mit Europa
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Die amerikanische Universität als Modell Merkur 56.11 (2002) Vor einiger Zeit hielt ich einen Vortrag an der Universität von Pavia, in Norditalien. Mit Bologna gehört sie zu den ältesten Universitäten Europas. Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert war sie eine Eliteuniversität, zu deren Fakultät noch im 19. Jahrhundert solche Kapazitäten wie der Physiker Volta, der Mediziner Scarpa und der Schriftsteller Foscolo gehörten. Aus ganz Europa strömten die Studenten dorthin, und als Professor einen Ruf nach Pavia zu erhalten, war eine große Ehre. Heute hat die Stadt eine solide Durchschnittsuniversität. Ausgebildet werden dort die Studenten aus der Region, von einer kontinentalen Attraktivität kann man nicht mehr sprechen. Pavia hat eine Universität, wie sie symptomatisch geworden ist für Europa: Man erhält eine gute Ausbildung, aber die Forschung, die dort betrieben wird, gehört nicht mehr zu den internationalen Spitzenleistungen. Wie kommt es, dass so viele Universitäten in Europa, die ehedem Eliteuniversitäten waren, ihren Standard nicht haben halten können? Die europäischen Nationen gehören zu den reichsten auf dem Globus, sollten also über die finanziellen Ressourcen verfügen, sich erstrangige Hochschulen leisten zu können. Das Erfolgsrezept renommierter Universitäten ist nach wie vor, nicht nur aus dem eigenen Land, sondern international exzellente Professoren und Studenten zu rekrutieren. Die etwa hundert amerikanischen Forschungsuniversitäten sind heute führend in der Welt, weil sie attraktiv sind für Spitzenkräfte in Forschung und Lehre aus allen Erdteilen. Etwa 45 000 ausländische Wissenschaftler lehren derzeit an US-Hochschulen; 1500 von ihnen sind aus Deutschland. Über 20 Prozent des akademischen Lehrpersonals in den USA kommt aus anderen Ländern. Etwa 12 Prozent aller in Deutschland promovierten Nachwuchswissenschaftler wandern in die USA ab. In den Schlüsseltechnologien fehlen der EU jährlich 50 000 Forscher, das heißt in einem Jahrzehnt eine halbe Million. Ein Indikator für die wissenschaftliche Innovationskraft eines Landes ist die Zahl der Forscher je tausend Erwerbstätige. Während dies in den USA 8,1 Wissenschaftler sind, kommt die EU auf einen statistischen Wert von nur 5,3. Diese Zahlen stammen aus dem Dossier, das der EU-Forschungskommissar Philippe Busquin im Juni 2001 vorlegte. Will Europa seine frühere Avantgarderolle in den Wissenschaften wieder einnehmen, genügt es nicht, eine europäische Greencard für Wissenschaftler einzuführen. Vielmehr müssten die Bedingungen für Forschung, Lehre und Studium so gut sein, dass sich gleichsam eine Auswanderungswelle von amerikanischen Akademikern in die alte Welt ergeben könnte.
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Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen
Europa müsste in Zukunft ein Wissenschaftsstandort werden, der eine noch größere Anziehungskraft als die USA hat. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Alte Welt bei der Neuen in die Schule gehen. Diesen Satz schreibe ich nicht ohne innere Widerstände. Ich pendle ständig zwischen den Vereinigten Staaten und der EU und weiß, wie viel die USA von Europa auf den verschiedensten Gebieten von Politik, Gesellschaft und Kultur lernen könnten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es im Hochschulbereich in den USA Dinge gibt, die nachahmenswert sind. Die Überlegenheit der besten amerikanischen Universitäten gegenüber jenen in Europa lässt sich in drei Punkten umreißen: die Verwaltung – sie ist effizienter und unbürokratischer; die Professoren – ihre Beförderung ist leistungsorientierter; die Studenten – sie besuchen kleinere Seminare. Es kein Natur- oder Geschichtsgesetz, das Europa daran hindern könnte, Amerika in diesen drei Punkten einzuholen oder gar zu übertreffen. In der Tat zielen die Reformbewegungen, die derzeit in den meisten europäischen Staaten im Gange sind, in diese Richtung. Verwaltung: Was die Verwaltung der Universitäten betrifft, so wird sich eine stärkere Professionalisierung in der Leitung europäischer Universitäten durchsetzen müssen. Dekan- und Präsidentenlaufbahnen sind in Amerika eigenständige Karrieren. Zwar kommen die Leiter von Fakultäten und Universitäten aus der Professorenschaft, aber die Einstellung von Dekanen und Präsidenten wird nicht auf eine bestimmte Zeit befristet. Dass Vertreter der Administration bei Unfähigkeit entlassen werden, versteht sich von selbst. Einem Dekan oder Präsidenten stellt sich in den USA eine Lebensaufgabe. Das fordert mehr Verantwortung und vermittelt mehr Erfahrung als eine kurzfristige administrative Schnupperphase. Das wichtigste für einen Universitätspräsidenten ist der Aktivitätsspielraum, die Möglichkeit, neue Ziele zu setzen, Initiativen zu ergreifen. Das braucht Zeit. In den europäischen Ländern sind die Rektoren noch weitgehend weisungsgebunden, haben sich an die Vorgaben der Ministerien zu halten. Dieser bürokratische Hemmschuh fällt in den USA nicht nur bei den privaten, sondern auch bei den staatlichen Universitäten durchweg fort. Professoren: Nach Beamtentarif wird ein Hochschullehrer in den USA nicht bezahlt. Die Karriere ist jedermanns eigene Sache, und das Gehalt steht in Beziehung zur Reputation, zu den Angeboten von anderen Universitäten, die man als Professor erhält, sowie zur Leistung innerhalb des eigenen Instituts. Im Bereich der Flexibilisierung der Gehälter tut sich derzeit einiges in Europa, besonders in Deutschland. Auch die Beförderungsstufen und -kriterien sind in den USA durchschaubarer. Junge Wissenschaftler beginnen ihre Professorenlaufbahn nach der Promotion. Man fängt als Assistant Professor an und hat maximal sechs Jahre Zeit, sich für den nächst höheren Rang, den Associate Professor, zu qualifizieren. Dieser Rang ist durchweg mit der Beamtung, dem „tenure“, verbunden.
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Die Festanstellung spielt im amerikanischen Universitätssystem eine wichtige Rolle. Kurzsichtige, übereifrige Reformer in Europa wollen heute diese Festanstellung abschaffen. Das wäre ein großer Fehler. Zur Attraktivität der amerikanischen Universität (ob privat oder staatlich) gehört auch das „tenure“. Es geht dabei nicht nur darum, dass der einzelne Gelehrte eine Arbeitssicherheit und eine intellektuelle Unabhängigkeit garantiert bekommt, sondern auch um den Überprüfungsprozess, der der Festanstellung vorausgeht. Bei diesem Verfahren nämlich werden die Leistungen des Wissenschaftlers in Lehre und Forschung genauestens untersucht, und nur die Besten erhalten das „tenure“. Diese Überprüfung durch eigene wie fremde Kollegen aber fällt fort, wenn man die Festanstellung aufgibt. Eine solche detaillierte, aufwendige, Monate dauernde Qualifikationsdebatte kann man – sollte der Verwaltungsapparat nicht völlig überfordert werden – nur einmal für einen Wissenschaftler durchführen. Theoretisch bedeutet die Nichtvergabe der Beamtung zwar, dass man jemanden jederzeit entlassen kann; das tatsächliche Resultat aber ist: Mediokren Kollegen wird nicht gekündigt, weil ein permanentes intensives Überprüfungsverfahren für alle Kollegen nicht durchführbar ist. Die Preisgabe eines „tenure“ bedeutet auf lange Sicht einen Qualitätsverlust für die betreffende Hochschule. Studenten: Die Zahlenrelation Professoren zu Studenten muss in Europa verbessert werden. Überfüllte Seminare sind der akademische Widersinn schlechthin. Es braucht in diesem Fall nicht auf die USA der Gegenwart geschaut zu werden; man kann hier in die eigene Geschichte zurückblicken. Bedenkt man, dass um die Jahrhundertwende an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin auf einen Professor dreizehn Studenten kamen, so war dort europäische Normalität, was heute als amerikanische Besonderheit gewertet wird. In den USA hat es seit den sechziger Jahren wie in Europa die Entwicklung hin zur Massenuniversität gegeben. Während aber in Europa die Zahl der Professoren nicht proportional zur Menge der Studenten wuchs, ist in den USA diese Anpassung erfolgt. Ich selbst unterrichte an einer amerikanischen Universität, in der die Relation Professoren zu Studenten seit über hundert Jahren unverändert eins zu zehn ist. Das ist an der Washington University in St. Louis, und es ist keine Ausnahme. Die engere Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden an den amerikanischen Universitäten ermöglicht die Einbeziehung der Studenten in die Forschung, was ein ausgesprochenes Plus ist und sich als wichtig für die Motivierung des akademischen Nachwuchses erweist. Um auf diesen drei Gebieten etwas zu ändern, bedarf es in Europa großer Anstrengungen. Viele sind heute der Meinung, dass die staatlichen Hochschulen Europas versagt hätten und ihre Nicht-Reformierbarkeit offen zutage liege. So wird unter Universitätsreformern häufig der Ruf nach privaten Universitäten laut. Aber stellen „private universities“ nach amerikanischem Muster wirklich die
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Lösung des Problems für Europa dar? Zur Internationalisierung der Wissenschaften gehört, dass man sich im Zuge der Reform Universitätsmodelle anschaut, die vom europäischen Standard der Staatsuniversität abweichen. Warum also nicht einen Universitätstypus zum Vorbild wählen, der so exzellente Beispiele wie Princeton University oder Stanford University aufweist? In den USA sind die privaten Universitäten älter als die staatlichen. Die ersten amerikanischen Hochschulen, wie die Harvard University, wurden lange vor Gründung der USA etabliert und aus privater Hand finanziert. Seit Bestehen der Vereinigten Staaten gibt es ein Nebeneinander von staatlichen und privaten Universitäten. In Europa hat die Koexistenz zweier Universitätstypen keine Tradition. Überall in der Alten Welt wurden in den letzten Jahrzehnten neue Privatuniversitäten gegründet, wobei allerdings kaum eine von ihnen die Bezeichnung „universitas“ verdient. Die meisten von ihnen sind keine Universitäten, sondern Spezialhochschulen für Wirtschaft oder Medizin oder Jura oder Theologie oder Bibliothekswesen. Zählt man die kirchlichen Hochschulen zu den privaten akademischen Einrichtungen, gibt es inzwischen fast achtzig private Hochschulen allein in Deutschland; zieht man jedoch die kirchlichen Institutionen ab (da sie keine Privatuniversitäten im eigentlichen Sinne sind), reduziert sich die Zahl auf knapp vierzig. Meistens handelt es sich bei diesen privaten Hochschulen im engeren Sinne um Wirtschaftsakademien. Die Etablierung solcher „Business Schools“ ist nicht allzu kostspielig. Optimistisch geschätzt, studieren derzeit etwa 2,5 Prozent der Studenten in Deutschland an privaten und kirchlichen Hochschulen. Das ist ein verschwindend kleiner Teil. Auch wenn sich der Anteil in den nächsten Jahren verdoppeln sollte, geht es hier um den berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Man kann die über dreihundert Jahre alte Tradition amerikanischer Privat universitäten nicht im Eilverfahren nachholen. Hinzu kommt, dass auch in den USA die Staatsuniversitäten das Rückgrat des College- und Universitätswesens ausmachen. Nach Amerika schauen heißt in unserem Zusammenhang nicht, nur auf die privaten Universitäten zu achten. Die besten amerikanischen Staatsuniversitäten wie die University of California at Berkeley, die University of Michigan oder die University of Virginia (die Reihe lässt sich fortsetzen) können sich, was ihre Qualität betrifft, mit den führenden Privatuniversitäten des Landes messen, und in quantitativer Hinsicht sind sie ihnen meistens überlegen. Es gibt in Europa nicht jene amerikanische philanthropische Tradition, dass die reichsten Familien des Landes oder große Stiftungen sich unmittelbar für bestimmte private Universitäten ihrer jeweiligen Kommune oder Region finanziell engagieren. Bei der Einrichtung privater Universitäten kann nicht gekleckert, sondern muss geklotzt werden. Woher aber die dafür notwendigen riesigen Summen nehmen? Dass die beiden neuen Privatuniversitäten in Deutschland,
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die in Zukunft vielleicht den Namen Universität verdienen werden (Private Universität Witten/Herdecke, International University Bremen), ihr Gründungskapital von der jeweiligen Landesregierung erhielten, ist bezeichnend. Eine private Universität aus Mitteln der öffentlichen Hand finanziert? Das klingt wie ein Widerspruch in sich selbst. In den USA ist es gerade umgekehrt: Dort fließen immer mehr Mittel aus privater Hand in die Budgets der Staatsuniversitäten. Hier zeichnet sich für Europa ein Modell ab: das der privat alimentierten Staatsuniversität. Etablierte staatliche Universitäten in den USA erhalten immer mehr Spenden von Stiftungen, Firmen und Privatleuten. Europa besitzt staatliche Universitäten mit einem ausgezeichneten Fundus an Gebäuden, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Fachkräften. Hier ist eine Basis, auf der man aufbauen kann. Es wäre eine Schande, wenn man das, was sich in den europäischen staatlichen Universitäten im Lauf von Jahrhunderten an materiellem und kulturellem Kapital angesammelt hat, verkommen ließe. Zwar müssen viele Gebäude verbessert, Bibliotheken ausgebaut, modernisiert und computerisiert, Forschungslabors auf den neuesten Stand gebracht und Fachkräfte vermehrt werden, aber man hat einen soliden Ausgangspunkt. Nach einer Reform der Universität im Sinne der drei genannten Bereiche muss an den europäischen Staatsuniversitäten der nächste Schritt die großangelegte Einwerbung von Drittmitteln aus dem privaten Sektor sein. Dafür sollten eigene Büros an den Universitäten eingerichtet werden, wieder nach amerikanischem Muster: „Development Offices“, die eine Vielzahl von „fund raisers“ beschäftigen. Für jeden Euro, den man für das Büro ausgibt, müssen etwa zehn Euros eingeworben werden. In Europa, wo man sich bisher zu sehr auf die Unterstützung der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft verlässt, sind diese Dinge nur in Ansätzen im Gange; ihnen fehlt noch die professionelle Systematik. Eine Staatsuniversität wie die Indiana University im Mittleren Westen der USA erhält heute weit mehr als die Hälfte aller Budgetmittel aus privater Hand. Sie könnte ihren Standard gar nicht halten, wäre sie voll auf die Finanzierung durch den Staat Indiana angewiesen. Die amerikanischen Staatsuniversitäten besitzen wie die Privatuniversitäten ein endowment, also ein Stiftungsvermögen. Je größer dieses Stiftungsvermögen, desto unabhängiger ist die Universität in finanzieller Hinsicht. Aus den Zins- oder Kapitalerträgen des endowments wird ein Großteil der anfallenden Kosten bestritten. In Deutschland wird die Idee des Stiftungsvermögens für Staatsuniversitäten vor allem im Wissenschaftsministerium von Niedersachen favorisiert. Öffentlichkeit und private Hand müssen, was die Förderung der Staatsuniversitäten betrifft, kooperieren. Es wäre eine Verschleuderung von Ressourcen, würde
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man die etablierten Staatsuniversitäten vernachlässigen und sich auf das Abenteuer der Gründung einer Serie von privaten Universitäten einlassen, die nur mit größten Schwierigkeiten finanziert werden könnten und nur wenige Studienplätze anzubieten hätten. Weniger die Privat- als die Staatsuniversitäten der USA können ein Modell bei der Reform der europäischen Universitäten abgeben. All das, was man hierzulande als die Vorteile privater Universitäten lobte, gibt es an den amerikanischen Staatsuniversitäten ebenfalls. Eine grundlegende Reform des europäischen Universitätssystems ist nur möglich, wenn man alle Studenten im Auge behält und nicht die zwei oder drei Prozent, die es sich leisten können, hohe Studiengebühren an Privatuniversitäten zu bezahlen. Damit sind wir bei dem leidigen Thema der Finanzierung des Studiums. Auch die amerikanischen Staatsuniversitäten verlangen Studiengebühren. Für die Studenten aus dem eigenen Staat sind sie geringer als für diejenigen, die aus anderen Teilen der USA kommen. Das ist gerecht, denn die Eltern der Studenten tragen durch ihre Steuern zur Finanzierung ihrer Staatsuniversität bei. Durchweg sind die Studiengebühren an den Staatsuniversitäten beträchtlich geringer als an den privaten Hochschulen des Landes. Je nach sozialen Verhältnissen und nach Begabung erhalten die Studenten Stipendien, jedenfalls ist noch niemand durch Studiengebühren davon abgehalten worden, sich an einer Staatsuniversität einzuschreiben. Auch die europäischen Staatsuniversitäten werden auf lange Sicht nicht an der Erhebung moderater Studiengebühren vorbeikommen. Die Gebühren müssen in das Budget der betreffenden Universitäten fließen, dürfen auf keinen Fall den Charakter einer indirekten Steuer annehmen, mit dem die öffentliche Hand beliebige Löcher im Staatssäckel stopft. Die Reformen müssen in Europa forciert werden. Das ist nötig, will man den akademischen Standort Europäische Union attraktiv für die besten Wissenschaftler der Welt machen. Seit 1995 besteht ein Kooperationsabkommen für diese Aktivitäten zwischen der EU und den USA, das ausbaufähig ist. Ohne konkrete Anschauung dessen, was in Amerika besser funktioniert, ohne intime Kenntnisse der privat geförderten staatlichen Universitäten, wird die Reform nicht zu schaffen sein, wird die Hürde des etatistischen Denkens in Europa nicht genommen werden können. Fortschritt der europäischen Kultur ist nur möglich, wenn man vom Besten nichteuropäischer Kulturen lernt. Fortschritt in der Wissenschaft ist nur erreichbar, wenn man sich durch bewährte Organisationsformen von Universitäten anregen lässt. Vieles von dem, was ich angesprochen habe, wird hier und da in Europa bereits ausprobiert, aber es mangelt an einer koordinierten EU-Hochschulpolitik, die bereit wäre, kontinentale Reformen anzugehen und durchzusetzen, Reformen, die zu Spitzenuniversitäten führen könnten.
Claudio Magris über Utopie und Entzauberung
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Claudio Magris über Utopie und Entzauberung DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Dezember 2002) Claudio Magris aus Triest ist der bekannteste italienische Literatur- und Kultur wissenschaftler. Sein neues Buch enthält Essays und Glossen, die er – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den neunziger Jahren geschrieben hat. Die Welt nach dem 11. September 2001 kommt da nicht vor und wird auch nicht vorausgeahnt. An Aktualität aber mangelt es dem Band nicht. Magris schaut nur selten über den europäischen Horizont hinaus, der Autor ist aber auf eine so bewusste und gebildete, gleichzeitig stolze und selbstkritische Art kosmopolitischer Europäer, dass von der Lektüre seiner Essays alle profitieren können, die sich auf den Dialog der Kulturen einlassen. Der Aufsatz „Auf der anderen Seite: Grenzbetrachtungen“ bietet eine subtile Diskussion über die Notwendigkeit, Grenzen sowohl zu setzen als auch zu überwinden. Magris sieht Grenzen in ihrer Doppelfunktion: Einerseits verleihen sie Umriss und Gestalt, bestimmen die Besonderheit von Individuum und Kollektiv; andererseits aber sollten sie durchlässig sein, nicht Instrumente der Unterdrückung und Spaltung. Das Triest am Anfang des 20. Jahrhunderts zitiert er als Beispiel einer vitalen und vielgesichtigen Kommune, in der die Grenzen Brücken und nicht Schranken waren, in der die Stadt vor allem durch ihre jüdischen Komponenten einen weltoffenen Charakter verliehen bekam. Utopieskepsis und -überdruss wo man hinschaute nach der Wende von 1989. Magris schreibt dagegen an, konzediert aber, dass man Utopie und Entzauberung in ihrer Verflechtung und gegenseitigen Bedingung sehen müsse. Ein Plädoyer für die Utopie, die er als philosophisch-kritische Kategorie für unverzichtbar hält, müsse ihre immer zu gewärtigende Instrumentalisierung und ihren potenziellen politischen Missbrauch bedenken. Literatur sei dann utopisch, wenn sie das Strandgut von unerfüllten Wünschen und gescheiterten Hoffnungen in einer „Arche Noah aus Papier“ versammle. Die These illustriert er in einer Studie zum Roman „Dreiundneunzig“ von Victor Hugo. Der französische Romantiker vergegenwärtigt dort den Terror der Französischen Revolution, aber er erinnert auch daran, dass der Konvent die Kodifizierung der Menschenrechte veranlasst habe. Der Zusammenhang von Utopie und Entzauberung wird in vielen dieser Essays thematisiert und variiert. Wenn Magris auf die Theorie der Utopie zu sprechen kommt, zeigt er sich als eigenständiger Schüler Ernst Blochs. Auch Hermann Broch hat das kulturkritische Denken von Claudio Magris geprägt. Brochs Werk ist eine Studie gewidmet, und darüber hinaus wird er häufig zitiert. Magris bewundert den Autor der „Schlafwandler“ und des „Tod des Vergil“, der so hellsichtig die Atomisierung der Wertgebiete und die Ich-Ver-
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einsamung beschrieben hat. Broch fand bestürzend einprägsame Bilder für das Wertvakuum seiner Epoche und versucht gleichzeitig, den Hoffnungshorizont einer neuen europäischen Kultur zu konturieren. Magris lässt sich über Platons Hass auf die Dichter so scharfsinnig aus wie über die Antigone des Sophokles und den Konflikt ihrer Protagonistin zwischen menschlichem und göttlichem Recht. Welcher Nichttheologe könnte so packend die „Offenbarung des Johannes“ mit ihrem Doppelaspekt von Ende und Neubeginn analysieren oder so klar über die Willensfreiheit schreiben, die einmal Gegenstand einer Jahrhundertkontroverse zwischen dem Katholiken Erasmus (pro) und dem Protestanten Luther (contra) war? Ebenso interessant sind die Aufsätze über Goethes Idee der Weltliteratur, die im aktuellen postkolonialen Diskurs wieder ventiliert wird; über Charles Sealsfields Amerika-Romane zwischen Revolution und Restauration; über Fontane als literarische Vaterfigur, die sich mit den naturalistischen Söhnen schwer tut; über den steinigen Weg des Essayisten Thomas Mann zur Demokratie und schließlich über Hermann Hesses Harmoniebedürfnis, ein Beitrag, der mit einem luziden Exkurs über den Vagabunden als literarische Figur endet. Magris profiliert sich seit den achtziger Jahren als Verfasser von EuropaEssays, und die Mitteleuropadiskussion hat er von Triest aus belebt und beeinflusst. Unter dem Titel „Die Wertbörse“ steuert er diesmal einen Aufsatz zur Beziehung von Wirtschaft und Staat im Europa nach Maastricht bei. Wie in anderen Beiträgen insistiert er auf dem primären Wert des Individuums, und er warnt vor einem integrierten Kontinent, in dem sekundäre Tugenden und Zielvorstellungen wie Effizienz und Nutzen an die Spitze der öffentlichen Werthierarchie gelangen. Magris ist kein Etatist, aber er beanstandet mit Recht, dass der Staat sich in den Ländern der Europäischen Union aus immer mehr Verantwortungsbereichen zurückzieht, um sie der Wirtschaft zu überlassen. Claudio Magris, Utopie und Entzauberung. Geschichten, Hoffnungen und Illusionen der Moderne. München: Hanser, 2002.
Literatur im Zeitalter der Globalisierung Neue Zürcher Zeitung (9.2.2001) In den letzten drei Jahrzehnten haben einige wissenschaftliche Diskurse die Kulturdebatten entscheidend beeinflusst: Postmoderne, Feminismus, Multikultur, Postkolonialismus und Globalismus liefern das Vokabular, mit dem soziale, politische und kulturelle Veränderungen der Gegenwart analysiert werden. Diese Diskurse haben neben ihrem Deskriptionsaspekt auch programmatische Komponenten –
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sie argumentieren im Sinne von Demokratisierung und Emanzipation. Wie eng sie miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Namen prominenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit mehreren dieser Diskurse verbunden waren und sind: Jean-François Lyotard (Postmoderne und Multikultur), Linda Hutcheon (Feminismus, Postmoderne, Postkolonialismus), Edward Said (Multikultur, Postkolonialismus, Globalismus), Fredric Jameson (Postmoderne, Globalismus), Homi Bhabha (Multikultur, Postkolonialismus), Gayatri Chakravorty Spivak (Postkolonialismus, Globalismus). Die Postmoderne räumte in Philosophie, Literatur und Kunst festgefahrene Vorstellungen der Moderne über Fortschritt und Kanon beiseite und kam damit den Pionieren der Feminismus- und Multikultur-Diskurse entgegen. Am augenfälligsten sind die Gemeinsamkeiten im Multikultur- und PostkolonialismusDiskurs. In Homi Bhabas Studie „The Location of Culture“ (deutsch: Die Verortung der Kultur) etwa sind beide Diskurse kaum voneinander zu trennen. In der Multikultur-Diskussion wird nicht lediglich wiederholt, was sich der Aufklärung an Toleranzvorstellungen verdankt. Vielmehr wird der Schritt von der passiven Toleranz zur aktiven Anerkennung, von der friedlichen Koexistenz kultureller Monologe zur Annäherung qua Dialog vollzogen. Interessant ist, dass Theoretiker wie Homi Bhabha, Edward Said und Fredric Jameson Goethes Vorstellung von der Weltliteratur aufgegriffen haben und als eine Denkfigur bezeichnen, die es zu aktualisieren gilt. Was am Begriff „Weltliteratur“ und am dahinter stehenden Konzept von Weltbürgertum fasziniert, ist die Einsicht Goethes in die Möglichkeit und Notwendigkeit eines internationalen kulturellen Dialogs, seine Überzeugung von der grundsätzlichen Gleichrangigkeit großer Literatur, gleichgültig, aus welchen Erdteilen sie stammt. Goethe meinte, dass man den persischen Dichter Hafiz kennen müsse, um den spanischen Autor Calderón zu verstehen. Um wie viel mehr gilt Vergleichbares heute: Die US-amerikanische, die lateinamerikanische, die Literatur aus Asien und Afrika, die alle der abendländischen Dichtung viel verdanken, haben ihrerseits einen gar nicht zu überschätzenden Einfluss auf die europäischen Literaturen der Gegenwart. Goethe war überzeugt, dass es geistigen Austausch und kulturelle Wechselwirkungen über Grenzen von Zeit und Raum gebe, dass die Völker eben nicht (wie Herder das sah) auf bloße Selbstverständigung angewiesen seien. Gegen die nationalromantischen Eiferer seiner Zeit hielt er fest: „Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ Im Zeitalter der Globalisierung lässt sich Goethes Sentenz etwa so abwandeln: „Nationalliteratur will im Zeitalter der Globalisierung durchaus noch etwas sagen; die Epoche der Weltliteratur ist zwar an der Zeit, aber nationale Literaturen können das Korrektiv gegen eine Beschleunigung sein, die zu kulturellen Verlusten führt.“
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Das Goethe-Wort hätte das Motto abgeben können zu einem von Manfred Schmeling et al. im vorigen Jahr edierten Sammelband mit dem Titel „Literatur im Zeitalter der Globalisierung“, der die Vorträge zu einem interdisziplinären und internationalen Symposium enthält, das 1998 an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken stattfand. Vielleicht hat sich auch hier die internationale Vernetzung ausgewirkt, denn auffallend ist die Ähnlichkeit mit einem amerikanischen Band, der eine Tagung dokumentiert, die zwei Jahre zuvor an der Duke University in Durham, North Carolina, stattfand. Das Buch aus Durham wurde Edward Said gewidmet, ist von Fredric Jameson und Masao Miyoshi herausgegeben worden und trägt den Titel „The Cultures of Globalization“. In beiden Fällen wird nicht die inzwischen endlose Serie von sozialwissenschaftlichen Publikationen zum Thema Globalisierung fortgesetzt, sondern das Augenmerk gilt den Bereichen Kultur und Literatur. Die Nachwirkungen der Multikultur- und Postkolonialismus-Diskurse sind unübersehbar. Gewarnt wird vor einem neuen Kulturkolonialismus der weichen Art, der nicht mit Kanonenbooten, sondern mit gezielter Werbung operiert, der nicht auf Versklavung aus ist, sondern die Welt in eine Einheitsgesellschaft marktgläubiger Konsumenten verwandeln will. Globalisierung ohne kosmopolitisches Denken, ohne das Prinzip Anerkennung, wie es Charles Taylor in seinem Buch „Multiculturalism“ (deutsch: „Multikulturalismus“) betont hat, wird zu einer Dominanz jener Staaten führen, deren kommerzielle und kulturelle Institutionen die besseren Marketing-Strategien besitzen. Globalisierung gibt es seit Menschengedenken, aber die Verstärkungsschübe interkontinentaler Verflechtungen sind in den letzten fünfhundert Jahren, seit der Entdeckung Amerikas, immer rascher aufeinander gefolgt. Der neueste Globalisierungsschub begann mit Ende der Zweiteilung der Welt, mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion. Aber vielleicht war dieses Ende auch selbst die Folge eines Kommunikations- und Interaktionsdrucks, dessen sich ein erstarrt-dogmatisiertes System nicht mehr erwehren konnte. Roland Robertson hat in seinem Buch „Globalization“ von 1992 richtig erkannt, dass Globalisierung es ermöglicht, das Partikulare universell und das Universelle partikular werden zu lassen. Der literarische Globalisierungs-Diskurs der neuen Jahrhundertwende hat Ähnlichkeit mit dem Europa-Diskurs der achtziger Jahre. Damals wurde (erinnert sei an Enzensbergers „Ach Europa!“) die kulturelle Vielfalt des Kontinents beschworen, die es gegen die Uniformitätstendenzen aus Brüssel zu behaupten gelte. Und heute warnt man sogar vor der Hegemonie Washingtons, vor der sogenannten McDonaldisierung der Welt. Doch schon Jameson und Miyoshi erinnerten daran, dass es neben der Globalisierung auch eine Kontinentalisierung gibt, wobei die USA und Lateinamerika, die EU und Osteuropa sowie Japan und Asien
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Gruppierungen ergeben, die jeweils in sich eine stärkere Internationalisierung erfahren als durch den Kontakt mit anderen Kontinenten. Innerhalb dieser Gruppierungen nimmt die Bedeutung des Nationalstaates ab. Welche Rolle spielt die Literatur im Prozess der Globalisierung? Literatur hat immer mit Mikrowelten, mit dem Besonderen des Besonderen, mit dem Detail des Details zu tun. Ein besseres Gegengewicht gegen die Verflachung und Vereinheitlichung einer Zivilisation als die der Literatur ist kaum vorstellbar. Sie ist auf eine denkbar umfassende Weise das Gedächtnis der lokalen, regionalen, nationalen oder kontinentalen Kultur, in der sie entsteht. Gegenwart wird hier als Ergebnis des Vergangenen durchschaubar gemacht. Und doch ist sie, wie Goethe insistierte, ein Medium der Verständigung zeitlich über Jahrhunderte und räumlich über Erdteile hinweg. Das Partikulare universell und das Universelle partikular erscheinen zu lassen, ist gerade der Dichtung möglich. Literatur war noch nie bloßer Erfüllungsgehilfe übergreifender sozioökonomischer Prozesse. Autoren wie García Márquez, Toni Morrison, Assia Djebar, Derek Walcott oder Salman Rushdie finden gerade deshalb weltweit Anerkennung, weil ihre Werke zwischen dem Lokalen bzw. Individuellen und dem Globalen bzw. Universellen vermitteln. Durch ihre Arbeiten werden früher so beliebte Unterscheidungen wie die zwischen kultureller Peripherie und kulturellem Zentrum obsolet. Wird Dichtung überleben, oder werden die Bilder als Informationsträger neue Wahrnehmungsweisen schaffen, die uns der „Buchstaben-Literatur“ entwöhnen werden? Besteht die Chance der Literatur gerade darin, im Gegenzug zu den gängigen Informationen Wahrheiten aufzuzeigen, die sich anderen Medien entziehen? Die Spannung in der Literatur im globalen Zeitalter liegt darin, sich einerseits den Gesetzen der Internetgesellschaft anzupassen, ohne andererseits das Besondere ihrer écriture einzubüßen: das Individuelle, die Wahl, das Ereignis, das Rätsel, die Utopie, die Kritik. Die Schattenseiten des globalen Zeitalters, Exil und Migration, gehören zum persönlichen Schicksal vieler Schriftsteller unserer Epoche. Aspekte gelungener neuer Symbiosen wie auch der Verlust der eigenen Vergangenheit werden in der zeitgenössischen Exilliteratur thematisiert. In diesem Kontext wird die jüdische Literatur der Gegenwart als Modellfall von Interkulturalität verstanden. Tagungsbände wie der aus Saarbrücken oder wie der Vorläufer von der Duke University haben die Auseinandersetzung um die Zusammenhänge von Globalisierung und Kultur bzw. Literatur befördert. Es lohnt, die Diskussionsfäden, die hier gesponnen wurden, aufzugreifen. Die weitere Forschung wird wohl die Interrelationen von Globalisierung und literarischem Kosmopolitismus noch deutlicher konturieren. Manfred Schmeling, Monika Schmitz-Emans, Kerst Walstra (Hg.: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
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Das Stigma der Arbeitslosigkeit: Identität in der Postmoderne Merkur 52.9/10 (1998) Die Trennung zwischen individueller und kollektiver Identität ist künstlich. Beide Arten von Identität sind aufeinander bezogen, existieren nur in einer Wechselwirkung: keine individuelle Identität ohne Partizipation an der Identität von Kollektiven, und keine Gemeinschaftsidentität, die sich nicht aus einer Vielzahl individueller Identitäten zusammensetzt. Dabei gehen individuelle in kollektiven Identitäten nicht auf. Identitäten von Gruppen lassen sich durch Manifeste, Erklärungen, Programme bestimmen, aber die Summe der Identitäten jener Individuen, die sich zu ihnen bekennen, addiert sich nicht zum Ergebnis einer abstrakt definierten kollektiven Identität. Jede individuelle Identität ist so komplex, zum Teil auch in sich widersprüchlich und vielgestaltig angelegt, dass sie gegenüber theoretisch fixierbaren Kollektividentitäten immer einen Mehrwert, einen Überschuss, einen nicht fassbaren Rest und damit eine kritische Potentialität in sich birgt. Seitdem Erik H. Erikson in den fünfziger Jahren den Begriff der Ego-Identität zur Beschreibung individueller Persönlichkeitsentwicklung eingeführt hat, hat der Terminus „Identität“ eine erstaunliche Karriere durchgemacht. Er wurde ständig erweitert und wird heute besonders häufig zur Umschreibung kollektiver Selbstverständnisse benutzt. Der Streit der Moderne darüber, ob das Ich beziehungsweise das Selbst vielfältig und fragmentarisiert (Hume bis Sartre) oder einheitlich und geschlossen (Descartes bis Husserl) vorzustellen ist, wird auch in der Postmoderne fortgesetzt (man denke an den von Richard D. Ashmore und Lee Jussim herausgegebenen Band „Self and Identity“ von 1997). Stärker als in der Moderne wird in der Postmoderne die Auffassung von einem multiplen-proteushaften Selbst favorisiert. Diese Einstellung beeinflusst auch die Sicht der Beziehung zwischen individueller und kollektiver Identität. Individuen benötigen im Zuge ihrer Sozialisation kollektive Identitäten, aber kollektive Identitäten sind auch auf Individuen als Leitbilder, auf Modelle für individuelles Verhalten angewiesen. Was im Mittelalter Helden und Heilige, in der Renaissance die Heroen der Antike, in der frühen Neuzeit die Seefahrer und Entdecker, das waren in der Moderne Wissenschaftler und Erfinder, Künstler und Schriftsteller. Im postmodernen Medienzeitalter nimmt die Zahl möglicher Identitätsleitbilder explosionsartig zu, und es ist schwieriger geworden, dominante spirituelle oder berufliche Leitbilder auszumachen. Neben der vertikalen, das Historische betonenden Dimension muss die horizontale Ebene der Identitäten, ihre Vielfalt im Nebeneinander der Gleichzeitigkeit erwähnt werden. Der Prozess der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme, wie er
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von Max Weber bis Niklas Luhmann beschrieben worden ist, ist im Zeitalter der Postmoderne weiter intensiviert und radikalisiert worden. Mobilität, Alternativen, Wahlmöglichkeiten, aber auch Selbstverantwortung, Selbstentscheidung, Risiko, Initiativen: All das hat in allen Lebensgebieten zugenommen. Das gilt besonders für ehemals als relativ konstant geltende Bereiche wie die Religion, die früher qua familiärer Tradition vorgegeben war. Durch die Familie bekommt man heute – wenn überhaupt – nur noch die Schwundstufe einer bestimmten Religion vermittelt. Religionsaustritte und -wechsel sind an der Tagesordnung. Das gilt für Eheschließungen – die Scheidungsrate ist höher als jemals seit der Konsolidierung des Christentums im frühen Mittelalter. Das gilt auch für den erlernten Beruf: kaum ein Erwachsener, der am Ende unseres Jahrhunderts nicht zumindest einmal den Beruf gewechselt hätte. Das gilt für den Wohnort, der sich nach den Erfordernissen des Berufs häufig ändern kann. Das gilt für die Identität der Frauen, die sich in immer neuen Emanzipationsschüben von Leitbildern vergangener Jahrhunderte getrennt haben. Das gilt für Minoritäten, die früher im Schatten einer Majoritätsgesellschaft ein Leben in Verachtung oder gar Bedrohung führen mussten und die sich nun zu ihrer Andersheit und Besonderheit bekennen. Das gilt für den ganzen Bereich der Kunst, für die ein bisher ungekannter Pluralismus kennzeichnend ist und die sich nicht mehr auf alles beherrschende Trends und Tendenzen festlegen lässt. Das gilt im Zeitalter der Globalisierung auch zunehmend für die Zugehörigkeit zu einer Nation, mit deren Schicksal man in früheren Jahrhunderten viel enger verbunden war. Das pluralistische Bild wird noch dadurch verstärkt, dass auf jedem Gebiet kollektiver Identität (ob es sich um Nation, Profession oder Geschlecht handelt) zahlreiche Richtungen, Schulen und Bewegungen miteinander konkurrieren. Die Pluralisierungen führen zu Konkurrenzkämpfen um gesellschaftliche Dominanz. Der Wettkampf der Leitbilder führt zu ständigen Überprüfungen von Identitäten, zu neuen Verhandlungen, Revisionen, zum Versuch neuer Definitionen, und so herrscht kein Mangel an Reflexionen über weibliche und männliche, über homo- und heterosexuelle, über professionelle und religiöse, über lokale und regionale, über nationale und kontinentale beziehungsweise globale Identität. Die Bibliografie des Internet zum Thema Identität zeigt, dass es dazu Zehntausende von Artikeln und Büchern gibt. Zu jeder einzelnen Sparte kollektiver Identität wurden zahllose Studien verfasst: Identität und kein Ende. In der Postmoderne werden Thesen, Ideen, Argumente im schnellen Wandel der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen Konstellationen rasch überholt. Gerade die Postmoderne also provoziert die permanente Diskussion über kollektive Leitbilder, muss dies tun, weil es hier keine durch Tradition vorgegebenen Selbstverständlichkeiten mehr gibt.
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Die Entschiedenheit, mit der man sich früher zur Identität einer Nation, einer politischen Partei oder Bewegung, einer Religion oder eines Berufes bekannte, ist einem Pluralismus gewichen, der der Flexibilität und Vielgestaltigkeit, der Komplexität und Veränderbarkeit gesellschaftlichen Lebens in der Postmoderne entspricht. Der einzelne bewegt sich heute in ständig wechselnden sozialen Kreisen, und je nach Situation werden berufsmäßige, parteipolitische, familiäre, geschlechtliche, regionale oder nationale Identitäten betont, hervorgekehrt und aktiviert oder auch unterdrückt und verschwiegen. Das Neben-, Mit- und Gegeneinander diverser Identitäten gehört wie selbstverständlich zum seelischen Haushalt des Einzelmenschen. Das Verhältnis der akzeptierten kollektiven Identitäten zueinander, wie sie sich heute im Individuum kreuzen, ist eher als dialogisch denn als synthetisch vorzustellen. In Anlehnung an Bachtin: Mehrere kollektive Identitäten sind im Individuum in komplexer Weise (komplementär, konkurrierend oder antagonistisch) zu einer unio multiplex miteinander verbunden, ohne dass die Vielfalt in einer Einheit aufginge. Man könnte von einer subsidiär strukturierten Identitätsschichtung sprechen: Was mit familiärer oder lokaler Identität vereinbar und zu bewältigen ist, muss nicht auf der Ebene des Nationalen verhandelt werden; bei der Klärung professioneller Fragen muss nicht unbedingt die religiöse oder geschlechtliche Identität bemüht werden. Dieses Auffinden von Identitätsleitlinien in den jeweils passenden Bereichen trägt sicher zur Lebensbewältigung des einzelnen in komplex strukturierten Gesellschaften bei. Aber häufig geraten zum Beispiel geschlechtliche mit professionellen, politische mit religiösen, familiäre mit nationalen Identitäten in Konflikt. Innerhalb der postmodernen Dialogik müssen dann diese Identitätskontroversen ausgetragen werden. In vielen Fällen ist das Wandern zwischen den Identitätskreisen relativ einfach: Im Tages- und Wochenablauf ist Familiäres, Berufliches, Politisches, Religiöses etc. oft in einer sich wiederholenden Abfolge geregelt, so dass die Herauskehrung der unterschiedlichen Identitäten im Kontext unterschiedlicher Gruppen, die sich zu jeweils anderen kollektiven Identitäten bekennen, wie selbstverständlich geschieht. Die Identitätskreise, in denen man sich bewegt, überlappen sich aber in vielen Fällen, und in diesen Grenz- und Überkreuzungsbereichen kann es zu Konflikten kommen, die der einzelne mit sich oder im Kontext von Gruppen auszutragen und zu bewältigen hat. Charakteristisch für die postmoderne Kondition ist das Ertragen eines gewissen Maßes an Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit der kollektiven Identitäten. Werden die Widersprüche jedoch zu groß, drohen sie den einzelnen in unbewältigbare Krisen zu stürzen, müssen Prioritäten gesetzt werden, was zum Verlassen eines Identitätskreises führen kann. Erfährt das einzelne Selbst sich nicht mehr als Kontinuität, erfordern die Konflikte kollektiver Identitäten Brüche des Selbst, so ist die Individualität in Gefahr, und der einzelne ist zu Wahlentscheidungen gezwun-
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gen. Auch die postmoderne individuelle Identität ist nicht vor Katastrophen, vor tragischen Situationen geschützt. Die postmoderne Kontinuität des Selbst ist sicher eine andere als in früheren Epochen. Es geht nicht um die starre Festlegung, nicht um ein heroisches Beharren, das sich gegen alle historischen Veränderungen zu behaupten versucht. Das Kontinuierliche postmoderner Identität umgreift den Wandel, der ihr integraler Bestandteil ist; sie ist ständig im Fluss (siehe dazu: David J. de Levita: „Der Begriff der Identität“ von 1971). Berufliche Identitäten spielen in der postmodernen Konstellation eine immer größere Rolle. Dabei geht es grundsätzlich um Arbeit, um den Beruf an sich; in zweiter Linie erst um die Identität, die mit einer bestimmten Berufssparte verbunden ist, des Handwerkers etwa, des Bankangestellten oder des Hochschullehrers. Den Luxus, sich auf die Identität eines bestimmten Berufes festzulegen, kann sich im Zeitalter von Mobilität und Flexibilität kaum jemand leisten. Aber die Identifikation mit als sinnvoll empfundener Arbeit an sich, mit beruflicher Tätigkeit, die einem ein menschenwürdiges, das heißt aktives, produktives Dasein garantiert, ist das wichtigste Wertziel des einzelnen in der gegenwärtigen westlich geprägten Gesellschaft. Der Entzug von Arbeit, das Schicksal der Arbeitslosigkeit kommt daher dem nahe, was in archaischen Gesellschaften der Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete, ist vergleichbar Exil und Verbannung in autoritären Gesellschaften der Neuzeit. Nicht die Ausbeutung der Arbeitenden ist in der postmodernen Gesellschaft das primäre soziale Problem, sondern ihre Ausgliederung aus dem Produktionsprozess, der Verzicht auf die Nutzung ihrer Arbeitskraft. Entfremdung resultiert nicht mehr aus einem Übermaß, sondern aus dem Mangel an Arbeit. Die andauernde große Arbeitslosigkeit besonders in Europa hängt mit dem Import billigerer Arbeitskräfte, mit der Verlagerung von Produktionsstätten in die sogenannten Billiglohnländer sowie mit der Computerisierung und Roboterisierung im Zuge der technologischen Revolution zusammen. Wie entwurzelt lebt der Arbeitslose in einer Umgebung, die ihn als Fremdkörper empfindet, verachtet von Umwelt und Bürokratie, ein Bittsteller um Anstellung, ein Bettler um soziale Unterstützung. In der sogenannten Zweidrittelgesellschaft werden am Ende unseres Jahrhunderts Millionen in die Fremde der Arbeitslosigkeit verstoßen, Arbeitsfähige und Arbeitswillige zu Menschen zweiter Klasse degradiert. Exil und Diaspora waren früher vor allem Situationen und Befindlichkeiten des Fremdseins aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen; im Zeitalter kontinentaler, ja globaler Arbeitslosigkeit sind sie zu Kennzeichen einer sozialen Entwurzelung geworden. Mitten im Land, gleichsam im Schoß der Nation zwingt die chronische Arbeitslosigkeit große Bevölkerungsteile zu einer Art innerer Emigration, wobei das Heer der Arbeitslosen kaum noch als Minorität definiert werden kann.
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Anders als beim Arbeitenden ist die Zahl der Identitätskreise, in denen sich der Arbeitslose bewegen kann, minimal. Das Erlebnis von Freiheit, Entfaltung und Produktivität, das ein postmodernes Zirkulieren in unterschiedlichen Identitätsbereichen mit sich bringt, ist dem Arbeitslosen verwehrt. Gerade in der Postmoderne mit ihrer charakteristischen Rollendistanz will niemand auf ein singuläres Rollenspiel festgelegt sein. Dem Arbeitslosen aber bleibt nicht viel mehr als seine negativ erfahrene Identität: die Realisierung, dass er (ganz konkret verstanden) gar keine Rolle mehr spielt. Arbeitslosigkeit wirkt im Gesellschaftlichen wie eine ansteckende Krankheit, und so verschließen sich zahllose soziale Bereiche den Arbeitslosen, die den Vertretern einer vita activa offenstehen. Die Arbeitslosen kommen sich vor wie jene Aussätzigen, die man in früheren Jahrhunderten auf ferne Inseln verbannte. Ihnen fehlt nicht lediglich gesellschaftliche Anerkennung, sie sind auch Stigmatisierte. Erving Goffman hat in seinem Buch „Stigma. Über Technik und Bewältigung beschädigter Identität“ von 1975 bei der Analyse sozialer Identität den Begriff des Stigmas eingeführt, um zwischen diskreditierbaren und diskreditierten Personen unterscheiden zu können. Stigmatisierte sind jene, die von gültigen „Normalitätsstandards“ abweichen und mit ihrer Andersheit angesichts gesellschaftlicher Konformitätserwartungen auffallen. Die Arbeitslosen sind durch das Stigma der Nicht-Anstellung gezeichnet. Da dieses Stigma den Mitgliedern ihrer Gruppe bekannt ist, gehören sie nicht lediglich zu den Diskreditierbaren, sondern zu den bereits Diskreditierten. Welche Krisen, welche Identitätsspaltungen und Identitätsverluste daraus resultieren, kann jeder ermessen, der die gesellschaftlichen Stigmatisierungsprozesse und deren Folgen in unserem Jahrhundert vor Augen hat. Will man die prototypischen Befindlichkeiten bezeichnen, die für die postmodernen identitätsmäßigen Verwerfungen und Prozesse charakteristisch sind, so drängen sich einem Vorstellungen von Heimatlosigkeit, Nomadentum, Exil und Diaspora auf. Diese Vorstellungen sind allerdings mit neuen Bedeutungen aufgeladen, wie sie den sozialen Realitäten am Ende unseres Jahrhunderts entsprechen. Die Relation von Heimat und Vertreibung hat in der Postmoderne zwei Gesichter. Zum einen ist – wie früher – an die zahlreichen Flüchtlinge, Asylanten und Arbeitsmigranten zu denken, die ihr Herkunftsland verlassen haben. Zum anderen aber gibt es die interne Vertreibung qua Arbeitslosigkeit, die neue Erfahrung des arbeitslosen „Fremden im eigenen Land“. Das Verhängnisvolle bei den so unterschiedlichen Vertretern dieser im Wortsinne displaced persons ist, dass sie nicht das Gemeinsame ihres Schicksals erkennen, sondern in Konkurrenz zueinander geraten. Die politische Rechte sucht die Arbeitslosen gegen die Arbeitsmigranten, die sie als Eindringlinge und Fremdkörper diffamiert, aufzuhetzen, ist auf Stimmenfang aus für ihre Politik des Fremdenhasses und des Ras-
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sismus. Dabei könnten beide Gruppen ihre Gemeinsamkeiten und vergleichbaren Interessen in einem gegenseitigen Lernprozess entdecken und fruchtbar machen: Die Arbeitsmigranten leben am Rand der Gesellschaft, sind kulturell und sozial selten integriert, bewegen sich aber hin auf eine zumindest partielle Integration. Die Arbeitslosen dagegen erleben die entgegengesetzte Richtungstendenz, nämlich die sozialer Deklassierung und Ausgliederung. Von Vollbürgern der Majorität bewegen sie sich zunehmend an den Rand einer Gesellschaft, mit der sie sich immer weniger identifizieren können. Ohne die sozialen Probleme der Arbeitsmigranten im mindesten zu unterschätzen, lässt sich sagen, dass sie häufig zeigen, wie Flexibilität und Kompromissbereitschaft in der Arbeitswelt allmählich zu mehr Freiheit und Selbstbewusstsein führen können, ein Erlebnis, das den Arbeitslosen abhanden gekommen ist. Die sogenannten Fremdarbeiter haben sich ein Umfeld geschaffen, in dem sie ihre Herkunftskultur in eine produktive Relation zur Kultur des Landes, in dem sie arbeiten, zu bringen versuchen. Die Arbeitslosen dagegen verlieren oft die Bindung an die Kultur des Heimatlandes, in dem sie nicht mehr produktiv sein können, ohne doch eine andere Kultur zu finden, mit der sie sich in ihrer speziellen Situation identifizieren können. Der Depression im sozialen Abstieg bei den Arbeitslosen steht die Hoffnung auf materielle Verbesserung bei den Arbeitsmigranten entgegen. Die Majorität der alteingesessenen, über Arbeit und Berufschancen verfügenden Vollbürger kümmert sich wenig um das Wohl und Wehe der Arbeitsmigranten und der Arbeitslosen; Erstere werden als notwendige Übel eingeschätzt (am liebsten käme man ohne sie aus); Letztere werden ignoriert und vergessen, weil sie nicht in das optimistische Wunschbild vom demokratisch-freiwirtschaftlich organisierten Staat passen. Die rituelle Beschwörung von „mehr Arbeit“ bei Politikern und Gewerkschaftsführern wird von den Betroffenen der persistenten Arbeitslosigkeit (Alfred Stiassny) schon nicht mehr wahrgenommen. Die Scherenöffnung wird größer: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die Arbeit akkumulieren, immer mehr Arbeit und Arbeitsverantwortung auf sich ziehen, das heißt eigentlich überarbeitet und überlastet sind; auf der anderen Seite befinden sich diejenigen, denen alle Arbeit entzogen wird, die in das schwarze Loch der Verantwortungslosigkeit gestoßen werden. Den immer reicher werdenden Modernisierungsgewinnlern stehen die Modernisierungsverlierer gegenüber, denen nicht mehr als ein materielles Existenzminimum zugestanden wird. Aber was ist das Existenzminimum in psychischer Hinsicht, im Hinblick auf Anerkennung und Entfaltungsmöglichkeit? Das Nomadentum der Arbeitsmigranten ist ein Merkmal postmoderner Verfassung und Identität überhaupt geworden. Und es könnte sein, dass in ihrem Beispiel ein Moment der Hoffnung für die Arbeitslosen liegt. Der Nomade gehört
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durchaus einer bestimmten eigenen, heimatlichen Kultur an, aber er verlässt seinen Ort, weil er weiß oder zumindest vermutet, dass in anderen Regionen das Bessere auf ihn wartet. Der Nomade steht (bei aller Verhaftung an eine bestimmte Kultur) für Mobilität, für Beweglichkeit, für das Undogmatische, für das Wandern zwischen den Welten, für die Faszination durch das Andere, für die Bereitschaft, Vertrautes zu verlassen, für die instabile, proteushafte, nichtfixierte Identität, aber auch für die Rückkehr zum Ausgangsort, der wiederum nie als letzter Zielpunkt verstanden wird. Sowohl auf intellektuellem wie konkret-sozialem Gebiet ist es vor allem der Nomade, dem das postmoderne Zeitalter seine Signatur verdankt. Nomadisches Denken, so haben Deleuze und Guattari („Kafka. Für eine kleine Literatur“) gezeigt, zersprengt das Eindimensionale einer Identität, schafft oder propagiert neue Identitäten, überwindet die Barrieren, auf dass Geist und Körper auf Wanderschaft gehen können. Es steht im Zeichen von Reise und Grenzüberschreitung, ist der Tendenz nach ironisch und daher antiessentialistisch und antifundamentalistisch, ist abenteuerlustig, auf neue Erkenntnisse und Neudefinitionen aus; es unterminiert traditionelle hierarchische Machtstrukturen, dekonstruiert etablierte Bewusstseinslagen, ist fasziniert von Transitorischem und lebt aus der Anerkennung kultureller Vielfalt, Hybridität, der multikulturellen Übergänge und Mischungen. Alles angeblich Reine, Genuine, Authentische und Ursprüngliche ist ihm verdächtig. Wichtig ist, dass nomadisches Denken nicht auf eine geografische Heimat fixiert ist. Die Heimat ist weder durch nationale Räume noch historische Zeiten begrenzt; sie ist gleichsam die Welt, sei es die Welt der Literatur und die Weltliteratur, die Welt des Denkens und die denkende Welt, die Welt der Politik und der politische Globalismus. Im Hinblick auf Identitäten erkennt der nomadische Intellektuelle nichts Permanentes, nichts Fixiertes an. In seinen Streifzügen durch die Kulturen baut er sich seine eigene Identität auf, die weit entfernt sein kann von der seiner Herkunft. Das Eigene und das Fremde stehen in einer sich stets ändernden Konstellation zueinander, wobei sich die Gewichtungen verlagern können. Die hybriden Felder zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschieben sich und sind das eigentliche Gebiet des intellektuellen Interesses. Der Nomade ist ein Übersetzer aus Leidenschaft (vgl. den von James Clifford herausgegebenen Band „Travel and Translation in the Late Twentieth Century“ von 1997). Nicht, dass er (es wäre die seltene Ausnahme) polyglott die Sprachen der Welt beherrschte und sich ohne Hilfen in ihnen bewegen könnte. Ob er andere Sprachen kennt oder ob er Übersetzungen benutzt: Er übersetzt sich immer Fremdkulturelles in Eigenes und sucht (ob selbst oder mit Hilfe anderer) seine intellektuellen Arbeiten in andere Länder zu vermitteln. Nomadisches Denken ist Denken in Übersetzungen, wörtlich verstanden wie im übertragenen (also wiede-
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rum übersetzten) Sinne. Postmoderne Kultur ist eine Kultur der Übersetzung und Adaption. Dem nomadischen Denken geht es nicht darum, die andere Kultur (im Sinne des Kolonialismus) zu dominieren, sondern um den Dialog zwischen den Kulturen, um die Überlieferung des Fremden ans Eigene und des Eigenen ans Fremde. Es ist ein postkoloniales Verhalten, das diesen Dialog kennzeichnet, ein Verhalten lernbereiter Kommunikation. Das Nomadische ist aber nicht bloß Kennzeichen postmoderner intellektueller Verfassung. Es hat auch eine konkrete soziale Dimension. Die vielberufene Globalisierung hat einen weiteren Mobilitätsschub in der Arbeitswelt mit sich gebracht. Sie hat nicht nur zu einer Veränderung der Jetset-Gesellschaft geführt, die sich von einem kleinen exklusiven Club zu einem großen Stab von international agierenden höheren Angestellten oder Beamten in multinationalen Konzernen, Banken und Versicherungen, in Regierungen, internationalen Behörden und Assoziationen entwickelt hat. Die besonders gut und die extrem schlecht bezahlten Arbeitskräfte sind heute Nomaden: Die Direktoren, Vizepräsidenten und Abteilungsleiter der großen Firmen beziehungsweise internationalen Vereinigungen und das neue Proletariat der Arbeitsmigranten aus den armen Ländern sind unterwegs, sind auf der Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Verkehrsmitteln, mit ganz anderen Erwartungen und radikal voneinander abweichenden existenziellen Zwängen. Zum Ärger und Kummer der heimatlichen Arbeitslosen exportieren diese Geschäftsleute Arbeitsplätze, bringen das Kapital dorthin, wo es sich am raschesten vermehrt. So mobil und flexibel wie Kapital (jeden Tag werden zahllose Milliarden Dollar rund um den Globus verschoben) können arbeitsuchende Menschen nie sein. Im Gegensatz zum Geld ist die Plastizität des Menschen nicht unbegrenzt: Wandel und Kontinuität, Heimat und Fremde, Eigenes und Anderes muss in einem menschlich verkraftbaren Gleichgewicht stehen. Die Arbeitsmigranten, deren Elend oft groß ist und deren Existenz nicht romantisiert werden sollte, bringen Hoffnungen auf ein menschenwürdigeres Leben in ihrem kleinen Gepäck mit in die industrialisierten Länder. Ihre nicht aufgegebenen Alltagskulturen vermitteln ihnen ein Gefühl von Heimat. Sie verfügen über kein Business-English; die Arbeit, die Gewohnheiten, das Denken in der fremden Umgebung stellen täglich Herausforderungen dar, denen sie (mit unterschiedlichem Erfolg) zu begegnen versuchen. Dem Heer der einheimischen Arbeitslosen sind die höheren Angestellten so fremd wie das nomadische Proletariat aus ärmeren Ländern. Den Arbeitslosen fehlt weitgehend, was diese beiden so unterschiedlichen Gruppen auszeichnet: die Motivation, die Fähigkeit, das Vermögen, der Wille zum nomadischen Leben. Eingewöhnt in eine monokulturelle Lebensweise, verwurzelt in heimischen Lokalitäten sind die Arbeitslosen oft bis zur Bewegungslosigkeit erstarrt, warten auf den
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nächsten wirtschaftlichen Aufschwung, der ihnen vielleicht wieder eine Arbeitsmöglichkeit verschafft. Die Chancen nomadischen Lebens, die Suche nach Arbeit jenseits der heimatlichen Grenzen, das heißt die Suche nach einer zweiten Heimat, all das könnten sie von den Arbeitsmigranten aus den ärmeren Ländern lernen. Zwischen den Extremen des mit Arbeit bis zum Rand gefüllten heimatlosen Jetsets und der Immobilität inländischer, heimatverhafteter Arbeitsloser schiebt sich das Bild der Arbeitsmigranten als mögliches Modell postmodernen Nomadentums: die Mobilität des Arbeitssuchenden, das Nichtleugnen des Heimatlich-Herkunftsmäßigen, die Anstrengungen eines Lebens im Zwischenbereich der Zivilisationen, das Wagnis, sich auf kulturelle Hybridbildungen einzulassen und die Möglichkeit, dabei gegen alle Widerstände eine neue Heimat zu finden. Innerhalb des postmodernen Nomadentums gibt es verschiedene Möglichkeiten im Umgang mit der Fremdkultur. Da ist zum einen der beschriebene Weg des Dialogs und der Favorisierung hybrider Kulturen als Mischungen aus Herkunfts- und Fremdkultur. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Diasporaexistenz: Man hält weitgehend – auch über Generationen – an der Identität fest, hat sein Herkunftsland als eigentliche Heimat immer vor Augen, lebt nur der Not gehorchend in der Fremde und strebt, wenn es irgend geht, in die Heimat der Vorfahren zurück. In einer Diasporakultur gibt es unterschiedliche Grade der Assimilation beziehungsweise der nostalgischen Verklärung der Kultur des Herkunftslandes. Die Gegenwart steht hier oft im Schatten einer Vergangenheit der Kultur des Herkunftslandes. War die Diasporaexistenz früher für religiöse Minoritäten (etwa für das Judentum in Europa, für Katholiken in protestantischen Gegenden) bezeichnend, so erfahren heute Millionen von Arbeitslosen ihr Leben als eines in der Diaspora: Das Bild des verlorenen Wohlstands in einer funktionierenden bürgerlich-kleinbürgerlichen Welt schwebt ihnen vor Augen, eine sich zur Utopie wandelnde untergegangene Welt von gestern, die ihnen deswegen als sinnvoll erscheint, weil es in ihr Arbeit wie etwas selbstverständlich Vorhandenes gab. Ihre imaginierte Heimat ist der Zustand der Vollbeschäftigung, ihr Hoffnungsemblem ist die Stechkarte am Betriebseingang. Eine weitere Form des Nomadentums ist das Exil. Während die nomadisierenden Intellektuellen und Arbeiter mehr oder weniger freiwillig vertrautes Gelände verlassen, ist der Exilierte ein Verbannter, ein politisch Verfolgter. Sein Verlassen der Heimat wurde erzwungen, und lieber heute als morgen würde er (von Ausnahmen abgesehen) in das Land seiner Herkunft zurückkehren, um dort Einfluss zu nehmen und an der Gestaltung seiner Gesellschaft mitzuarbeiten. Die erzwungene Trennung, das Gefühl des Verlusts, der Riss der Identität, das Außenseitertum, das Gefühl der Unsicherheit und der Diskontinuität: All das empfindet der Exilierte schmerzlicher als der Nomade, der die Bewegung hin zum Fremden als Teil seiner Lebensweise empfindet.
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Eines allerdings verbindet den Exilierten mit dem Nomaden: Auch er lernt, dass Heimat nie etwas Endgültiges, Festes, dass sie immer nur als vorläufig zu verstehen ist. Auch der Exilierte lernt, etwas Positives im Überschreiten von Grenzen, im Niederbrechen von Denk- und Erfahrungsbarrieren, im Erforschen des Anderen zu sehen. Wie beim nomadischen Intellektuellen stellt sich auch beim Exilierten das Gefühl ein, dass das Denken zur Heimat wird, dass sich im Akt des Schreibens Heimat und Exil verwischen, untrennbar eins in einem Dritten werden. Dem exilierten Intellektuellen fallen solche Grenzüberschreitungen nicht leicht; aber viel schwerer als er hat es der Arbeitslose, der in seinem eigenen Land wie im Exil lebt. Hier von den Arbeitsmigranten aus den ärmeren Ländern zu lernen, erscheint als notwendige, aber bisher kaum wahrgenommene aktuelle Aufgabe. Statt auf die Wiederkehr der zur Fata Morgana gewordenen Vollbeschäftigung zu Hause zu warten, müssten Wege gefunden werden, wie Arbeitsuchende der industrialisierten Länder aktiver Teil eines Netzwerkes internationaler Produktions- und Handelsverbindungen werden können. Postmoderne Phänomene wie Über-Setzung, Adaption und Interkultur sollten den Arbeitslosen Anregung sein. Ihr Leben im Vakuum, ihre Existenz als bloß Geduldete, als Außenseiter und Ausgestoßene, könnte dann überwunden werden. Voraussetzung wäre, dass sich die Arbeitslosen als Verband organisierten, um Stimme und Einfluss, Macht und Mandat zu erhalten. Dann könnten sie mit eigener Interessenvertretung Teil einer Art konzertierter Aktion von Arbeitgebern, Politikern, Gewerkschaften, den Medien, den Schulen und Hochschulen und nicht zuletzt den Kirchen im Sinne internationaler Arbeitsbeschaffung werden. Ist aber Arbeit und Arbeitsethos überhaupt bezeichnend für die postmoderne Konstellation? Sprach man nicht jahrelang vom Postmodern-Spielerischen, vom Karnevalesken und Unverbindlichen? Spiel und Karneval sind in der Tat nicht zu unterschätzende Möglichkeiten, Petrifiziertes und Dogmatisches aufzulösen (und die postmoderne Literatur hat seit den sechziger Jahren davon mit Recht Gebrauch gemacht), aber sie haben eine funktionierende Gesellschaft zur Voraussetzung. In einer Gesellschaft jedoch, die einen Großteil ihrer Mitglieder zu Inaktivität verurteilt, zu einem Leben ohne produktive Entfaltungsmöglichkeiten wäre es zynisch, Spiel und Karneval als Therapie anzupreisen. Ein kollektives Arbeitsethos entwickelte sich über Jahrtausende hin und lässt sich nicht in wenigen Dekaden verändern. Den Arbeitslosen kann man nicht empfehlen, sich gefälligst eine Freizeitidentität zuzulegen, um ihren seelischen Haushalt ins Lot zu bringen. Eine Gesellschaft, die ihre kollektive Identität auf Arbeit und Arbeitsethos hin zentriert, müsste die Frage nach dem Recht auf Arbeit positiv bestimmen. Dass bei zunehmender Globalisierung auf diesem Recht als nationalem bestanden werden kann, ist unwahrscheinlich. Allerdings müsste auch im Rahmen einer Nation an der Realisierung dieses Rechts gearbeitet werden.
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Innerhalb der postmodernen Multikultur-Debatte (Charles Taylor: „Multikulturalismus“, 1993) ist das Recht auf Anerkennung als grundlegendes menschliches Bedürfnis bezeichnet worden. Minoritäten besitzen dieses Recht auf Anerkennung ihres spezifischen Lebensstils, und politisch wie juristisch ist in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften viel unternommen worden, um eine solche Anerkennung zu garantieren. Diese Anerkennung des Fremden geht über bloße Toleranz hinaus, ist vielmehr an einem Dialog zwischen Minorität und Majorität interessiert. Nicht nur den ethnischen Minoritäten (wie den Türken in Deutschland, den Marokkanern in Frankreich, den Indianern in Kanada oder den Schwarzen in den USA) muss solche Anerkennung zukommen, sondern auch der neuen sozialen Minorität der Arbeitslosen. Anders als die ethnischen Minoritäten haben sich die Arbeitslosen noch nicht organisiert, verfügen über keine Lobby, keine mit Macht ausgestatteten Organisationen und Medien. Ohne Aktionsbasis wird es eine Anerkennung durch die Majorität der ArbeitBesitzenden kaum geben. So wie die ethnischen Minoritäten ihre Geschichte der Unterdrückung geschrieben haben, werden auch die Arbeitslosen auf ihre Leidensgeschichte hinweisen müssen, um gehört zu werden. Die Kultur im Zeitalter der Postmoderne ist vor allem eine Medienkultur. Nie zuvor haben Bücher und Zeitungen solche Auflagen erlebt, nie zuvor haben die neuen und neuesten Medien von Film und Fernsehen bis zum Internet eine solche Vielfalt von Meinungen und Vorstellungen, Nachrichten und Analysen verbreitet wie am Ende des 20. Jahrhunderts. Die mediale Kulturindustrie hat im Hinblick auf Identitätsformung Institutionen wie die der Familie, der Kirche und Schule längst überholt (vgl. Douglas Kellner: „Media Culture“, 1995). Die Ereignisse der Medienkultur, die im Wortsinne in die Augen springen, demonstrieren, welche gesellschaftlichen Gruppen über Macht verfügen und welche einflusslos sind. Die Arbeitslosen sind, rein numerisch gesehen, die größte Minorität in vielen Ländern. Aber sie beherrscht nicht die Dramaturgie der medialen Ereignisse, sie hat die zentrale Rolle der Medien bei der Formation und Konstruktion von Identitäten noch nicht erkannt und bleibt somit in ihrer depressiven Ohnmacht befangen. Die Minoritäten und Frauen haben in den letzten Jahrzehnten den Zustand ihres Unterprivilegiertseins begriffen und im Gegenzug dazu Modell- und Zielvorstellungen von einer aktiven und gleichberechtigten Mitarbeit in der Gesellschaft artikuliert und mit Hilfe der Medien erfolgreich verbreitet. Etwas Vergleichbares könnten die Arbeitslosen unternehmen; auch ihr „Defizit“ (der Mangel an Arbeit) ist unverschuldet, ist Resultat bestimmter wirtschaftlicher Entwicklungen und Konstellationen, denen der einzelne ausgesetzt ist. Auch sie könnten ihre Befindlichkeiten, Traumata und Wünsche in die Diskurse der Postmoderne einbringen. Das Gespenst, das umgeht in Europa und in anderen Teilen der Welt, ist das der Arbeitslosigkeit. Der Entzug von Sinn, der durch den Entzug von Arbeit
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gegeben ist, verunsichert, führt aufgrund der Stigmatisierung bei den Betroffenen auf Dauer zu Minderwertigkeitsgefühlen, Panik und Aggression. Massenarbeitslosigkeit – das ist die Lehre der dreißiger Jahre – kann zu politischer Radikalisierung führen. Die extremen Parteien und Bewegungen versuchen erneut mit Hilfe falscher Schuldzuweisungen die Misere der Arbeitslosigkeit zu erklären, versuchen die aufgestauten Aggressionen zu kanalisieren im Sinne ihrer dogmatischen Ideologien und Feindbilder, die auf die Zerstörung von Demokratie und Pluralismus abzielen. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich im neuen Jahrhundert die Geschichte der dreißiger Jahre wiederholt, sicher ist, dass die offene, auf Globalismus, Chancenvielfalt, Multikultur, Hybridität und Emanzipation bedachte postmoderne Gesellschaft mit der Massenarbeitslosigkeit den Keim ihrer Zerstörung in sich trägt.
Ein deutsches Missverständnis: Die „Postmoderne“ – Eine Replik DIE ZEIT (1. Oktober 1998) In Deutschland wird jetzt versucht, die lange verdrängte, aufgeschobene und tabuisierte Postmoderne-Diskussion nachzuholen oder besser abzuhaken. Alte Vorurteile über den politischen Zynismus, die philosophische Standpunktlosigkeit und Beliebigkeit, den Irrationalismus und die Geschichtsfeindlichkeit der Postmoderne werden dabei wiederholt. Ein bisschen Ironie wird ihr als Pluspunkt noch zugestanden, ansonsten aber kann und soll man das Ganze als „Schnee von gestern“ – so Thomas Assheuer – vergessen (vgl. DIE ZEIT Nr. 34 vom 13. August 1998). In Deutschland hat die Postmoderne, über die in den USA beziehungsweise Kanada und in europäischen Ländern wie Frankreich und Italien seit den sechziger und siebziger Jahren kontinuierlich reflektiert wird, nur wenige Anhänger und Vertreter gefunden. Das hängt zum Teil mit dem Einfluss der Frankfurter Schule zusammen. Was sollten die postmoderne Kritik des Rationalismus und die Selbstkritik der Aufklärung auch Neues bringen, wie sie in Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ schon vorweggenommen worden waren? Aber waren sie es? Das postmoderne Denken scheut auch vor einer Kritik an der Hegelschen Dialektik und an neomarxistischen Geschichtsdeutungen nicht zurück. Es orientiert sich eher an der Dialogik Bachtins, bei der konkurrierende Dualitäten nicht in Synthesen aufgehen müssen. Vieles von dem, was man als typisch postmodern bezeichnet hat, war bereits in der Moderne angelegt. Nach Zygmunt Bauman erreichte die Moderne erst durch die Postmoderne
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mit Pluralismus und Ambivalenz einige ihrer wichtigsten Ziele. Das bedeutet aber nicht, dass man mit Luhmann behaupten könne, es gebe nichts Neues unter der Sonne moderner Ausdifferenzierung, weshalb man die Theorie der Postmoderne als modische Formel abtun könne. Im Gegenteil: Der Modernebegriff umfasst inzwischen alles und jedes, so dass man gut daran tut, sich zur Beschreibung gegenwärtiger Entwicklungen und Tendenzen eines neuen Periodisierungsbegriffes zu bedienen. Die Theorie der Postmoderne war in ihren Anfängen, d.h. in den 1960er Jahren, vor allem mit literarischen und ästhetischen Phänomenen befasst. Man denke an die frühen Essays von Leslie Fiedler, Susan Sontag und Ihab Hassan. Seit den siebziger Jahren wurde sie weiterentwickelt von Architekten wie Robert Venturi und Charles Jencks, von Philosophen und Kulturkritikern wie Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard, Frederic Jameson und Richard Rorty; von Feministinnen wie Linda Hutcheon, Nancy Fraser und Linda Nicholson; von Soziologen wie Zygmunt Bauman, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Mit anderen Worten, Postmoderne wurde immer mehr zu einem allgemeinen Periodisierungsbegriff, mit dem man die kulturellen Veränderungen in der Gegenwart zu erfassen sucht. Wie die Moderne ist auch die Postmoderne ein europäisch-amerikanisches Phänomen und ist als solches mit Demokratisierungsprozessen in der westlichen Welt verbunden. Ich teile diese Meinung mit Historikern der Postmoderne wie dem Niederländer Hans Bertens. Die Skepsis gegenüber den sogenannten Großerzählungen, wie Lyotard sie herausgestellt hat, ist kennzeichnend für die Postmoderne. Schon früh wurde sie als Stadium der Moderne in ihrer Selbstkritik und Selbstreflexion verstanden. Wenn Theoretiker der Postmoderne die unhinterfragte Akzeptanz aufklärerischer Großerzählungen (wie der vom Fortschritt in Freiheit) nicht gelten ließen, bedeutete das nicht – und hierin liegt das Missverstehen der Postmoderne bei Habermas begründet –, dass ihnen die Ideale der Aufklärung gleichgültig geworden wären. Die Skepsis bezog sich auf die dogmatisierten geschichtsphilosophischen Grundannahmen der Aufklärung, nicht auf die Zielsetzung einer weiteren Demokratisierung und die Durchsetzung der Menschenrechte. Diese Zielsetzung spielt im Gegenteil eine große Rolle in der postmodernen Kritik, wie unter anderem die Arbeiten von Richard Rorty und Wolfgang Welsch zeigen. Die Demokratisierungstendenzen machten sich auch in anderen Diskursen bemerkbar, die als Teil der postmodernen Kondition zu betrachten sind: Feminismus, Multikultur und Postkolonialismus. Diese Diskurse haben ihre eigenen spezifischen Wurzeln, ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Ziele, aber in der Ära der Postmoderne haben sie sich gegenseitig beeinflusst, provoziert, kritisiert und unterstützt. In Politik und Gesellschaft geht es in der Postmoderne um den Wechsel von radikalen Entweder-Oder-Ideologien zu Kompromisshaltungen; von
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einer Favorisierung monistischer Lösungen zu Pluralismusvorstellungen; von einer Priorität des technischen Fortschritts zu einer Höherbewertung der Umwelt, deren Fragilität erkannt wird; von einer männlich dominierten Gesellschaft zu einer sozialen Struktur, für die die Gleichberechtigung der Frau bezeichnend ist; von einer westlichen beziehungsweise eurozentrischen Einstellung zu einer multikulturellen und postkolonialen Identität, in der das Verständnis für Minoritäten und deren Kulturen eine zunehmende Rolle spielt; von nationalen Wirtschaftsund Informationsgemeinschaften zu kontinentalen und globalen ökonomischen Austauschen und kommunikativen Vernetzungen. In Philosophie und Weltanschauung wird das Besondere gegenüber dem Allgemeinen betont, das Einzelne gegenüber dem Totalen; es geht um die Bewegung von monistischen Erklärungen hin zu einer Vielfalt von Interpretationsversuchen; von traditionell fixierten zu hybriden und flexiblen Identitäten; von universalistischen Großerzählungen zu einer Vielfalt von Kleinerzählungen; von einer Annahme historischer Kontinuitäten zu einer Akzeptanz diskontinuierlicher geschichtlicher Prozesse; von einer vorrangig utopischen Ausrichtung hin zu einem Dialog mit Geschichte. In Kunst und Literatur ist seit den siebziger Jahren eine Bewegung weg vom verbissenen Ernst zu einer Einstellung des Spielerischen zu beobachten, was eine Bevorzugung von Pastiche-Techniken mit sich bringt; von einer Vorliebe für elitäre Kunst und „reine“ Stile zu einer Präferenz populärer Formen und eklektischer Stilarten; von aristokratischen und hermetischen zu publikumsfreundlichen Schreibweisen; von einer Sucht nach konstanter, auf Originalität erpichter Innovation zur Rückbesinnung auf ältere Stile; von einem avantgardistischen Antihistorismus zur Beschäftigung mit der Vergangenheit. Postmoderne Architekten berücksichtigen – anders als die Vertreter der internationalen Moderne – bei Planungen das baulich-historische Umfeld. Auch lassen sie das Dogma bloß funktionaler Schönheit nicht mehr gelten. Linda Hutcheon hat das neue Interesse der Postmoderne an der Geschichte unterstrichen, etwa wenn sie die postmoderne Literatur als „historiographic metafiction“ bezeichnet. Moderne Grundannahmen von Subjekt, Identität, Geschlecht, Kontinuität und Originalität werden hier in Frage gestellt und historisiert, ohne sie aber einfach vom Tisch zu fegen. Hutcheon problematisiert Vorstellungen der Moderne aus feministischer, multikultureller und postkolonialer Perspektive. Im Gegensatz zu Hutcheon meint Fredric Jameson, dass in der Postmoderne Nostalgie geschichtliches Denken ersetzt habe. Er definiert die Postmoderne als die Logik des Spätkapitalismus. In der Konsumentengesellschaft werde die Realität zu images entwirklicht, und Geschichte verkomme zu Pastiche-Gesten. Diese Einschätzung der Postmoderne teilt er mit anderen neomarxistischen Kritikern wie Raymond Williams und Terry Eagleton.
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Thomas Assheuer verweist auf das kürzlich erschienene Buch „Achieving Our Country“ von Richard Rorty. Bei den neuen Arbeiten von Rorty geht es aber nicht um „eine Attacke der Postmoderne auf sich selbst“, sondern um die logische Fortsetzung einer postmodern-undogmatischen Orientierung an der Geschichte demokratischer Tradition mit ihren Werten von Freiheit und Gerechtigkeit. Schon in Rortys postmoderner Schrift „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ von 1989 war die Kategorie der „human solidarity“ zentral. Rorty, bei dem sich Ironie und Ernst in bester postmoderner Manier mischen, besteht in seinem neuen Buch weiterhin auf dieser Solidarität und zeigt, was sie unter veränderten gesellschaftlich-politischen Bedingungen der Ära nach 1989 bedeutet: Eines der dringlichsten Themen der amerikanischen Postmoderne heute ist die Kritik an der immer krasser werdenden sozialen Ungleichheit. In Europa müsste entsprechend intensiv die persistente Arbeitslosigkeit diskutiert werden. Als Epoche gesehen, handelt es sich bei der Postmoderne um die Gegenwart der westlichen Welt seit den sechziger Jahren; als Kulturtheorie geht es ihr um die Erfassung der neuen Wirklichkeiten, wobei sie ohne die in ihren Auswirkungen oft fatale Utopiegläubigkeit der Moderne auszukommen sucht. 1989 bedeutete nicht das Ende einer postmodern-geschichtsvergessenen Ideologie, sondern ein verstärktes Einlassen auf Historie im Sinne der Postmoderne. Der epochale Umbruch jenes Jahres ist nicht zu verstehen ohne die internationale Wirkung des auf mehr Demokratie abzielenden Antidogmatismus und Pluralismus.
Der postkoloniale Blick: Deutschsprachige Autoren berichten aus der Dritten Welt Neue Rundschau 107.1 (1996) Innerhalb der gegenwärtigen kulturtheoretischen Diskussion gewinnt der postkoloniale Diskurs an Profil und Einfluss. Er steht in Zusammenhang mit anderen kritischen Debatten um die Postmoderne, den Feminismus und die Multikulturalität. Diese Diskurse beziehen ihre ethischen Impulse aus demokratisch-pluralistischen Bestrebungen. Die postmodernen, feministischen und multikulturellen Diskurse ergeben sich aus der spezifisch westlichen soziopolitischen Situation. Sie sind ohne die europäischen Emanzipationsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts und die sie begleitenden Theoriediskussionen nicht vorstellbar. Der postkoloniale Diskurs jedoch hat seinen Ursprung in der sogenannten Dritten Welt; er führt, wenn auch stark modifiziert, die antikolonialen Aktivitäten der Unabhängigkeitsbewegungen der Jahrhundertmitte fort. Anders als noch im
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frühen 20. Jahrhundert ist die äußere staatliche Autonomie in den ehemaligen Kolonialländern erreicht; was andauert, sind indirekte Formen wirtschaftlicher und politischer Dependenz. Drei Charakteristika der postkolonialen Konstellation in Ländern der Dritten Welt seien hervorgehoben: erstens die Auseinandersetzung mit der Erblast des ehemaligen Kolonialregimes, zweitens die Konfrontation mit neuen parakolonialen Abhängigkeiten von industrialisierten Ländern und drittens die Thematisierung von Konflikten und Problemen, die mit den eigenen kulturellen Traditionen und eigenen Modernisierungsbestrebungen zu tun haben. Es sind die Schriftsteller der Dritten Welt, die den postkolonialen Diskurs begründet haben. Er ist undenkbar ohne Autorinnen und Autoren wie Carlos Pellicer in Mexiko, die in den USA lebende Bharati Mukherjee aus Indien oder – um zwei unterschiedliche Vertreter der Négritude zu nennen – Abdias do Nascimento in Brasilien und Léopold Sédar Senghor im Senegal. Vor allem durch ihre Schriftsteller hat die Dritte Welt sich in das Bewusstsein der Industrienationen eingeschrieben. Die Diskussionen um politische und identitätsmäßige Eigenständigkeit ihrer Länder hätten ohne einen Ernesto Cardenal aus Nicaragua, einen Carlos Fuentes aus Mexiko oder einen Salman Rushdie aus Indien international weniger Beachtung gefunden. Diese Autoren sind bei ihren individuellen Sozialisationsprozessen durch jene Krisen gegangen, die sich ergeben, wenn man – und das ist nicht nur metaphorisch gemeint – ins Kreuzfeuer sich bekämpfender Gruppen, Ethnien, Regionen, Interessen, Ideologien und Kulturen gerät. Die Theorie des Postkolonialismus erarbeiteten bezeichnenderweise Intellektuelle aus der Dritten Welt, die an führenden Universitäten Europas und der USA lehren. Zu ihnen gehören unter anderem Edward W. Said, Homi K. Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak, Djelal Kadir und Rajeswari Sunder Rajan. Ihre Erfahrungen als Angehörige postkolonial konditionierter Gesellschaften ließen sich mit der westlichen Erziehung, die sie erhielten, nur schwer in Einklang bringen. Der Kulturkolonialismus, das heißt die Attitüde überlegener Arroganz, überdauerte an den westlichen Bildungsinstitutionen das Ende des politischen Kolonialismus. Als in der postmodernen Konstellation die Krise der westlichen Moderne offenbar wurde und als die Selbstkritik des Modernismus im Feminismus und im Multikulturalismus verstärkt Ausdruck fand, schlug in Academia die Stunde der neuen Offenheit gegenüber Intellektuellen, bei denen die Verarbeitung von Kulturbrücken zum geistigen wie emotionalen Alltag gehörte. Meilensteine postkolonialer Forschung sind Edward Saids – kontrovers diskutierte – Bücher „Orientialism“ und „Culture and Imperialism“. In ihnen zeigt er, wie stark westliche Wissenschaft und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts im kolonialen Denken befangen blieben und dass sie den genuinen Zivilisationsleistungen des Orients nicht gerecht wurden.
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Wie bereits in die Debatten um die Multikulturalität sind auch in den postkolonialen Diskurs vor allem Intellektuelle mit doppelter Kulturerfahrung involviert. Die Konstruktion einer multikulturellen Identität ist ohne „African-Americans“, „Jewish-Americans“, „French-Americans“ oder „Asian-Australians“ nicht vorstellbar, und eine vergleichbare Rolle spielen die „Anglo-Indians“ oder die „Mexican-Americans“: Jeweils wird durch den Bindestrich die Doppelheit, die Fusion, die Verkreuzung ihrer identitätsmäßigen Perspektiven deutlich. Djelal Kadir benutzt in „The Other Writing“ von 1993 auf neue, verfremdete Weise das Adjektiv „otherwise“, um der „Weisheit“ des „Anderen“ im interkulturellen Dialog Geltung zu verschaffen. Homi Bhabha hat in „The Location of Culture“ von 1994 die Metaphern der „stairwell“, des Treppengangs, und der „interstitial passage“, der Zwischenpassage, in der postkolonialen Diskussion benutzt, um den Ort dieser Intellektuellen zwischen und in den verschiedenen Kulturen zu bezeichnen. Die Multikulturalitäts-Debatte wurde und wird vor allem in jenen westlich geprägten Industriestaaten geführt, die selbst einmal Kolonialländer waren, also in den USA, Kanada und Australien. Es überrascht deshalb nicht, dass in den Staaten, in denen der multikulturelle Dialog seit langem im Gange ist, auch der postkoloniale Diskurs aufgegriffen und intensiviert wurde. Besonders aktiv sind die australischen Literaturwissenschaftler Ashcroft, Griffith und Tiffin an der postkolonialen Diskussion beteiligt. Andere westliche Theoretiker des Postkolonialismus wie Linda Hutcheon, Anne McClintock, Patrick Williams und Laura Chrisman haben aktiv am postmodernen, feministischen und multikulturellen Diskurs in den USA bzw. in Kanada teilgenommen, und von hier aus bauen sie Brücken zur Theorie des postkolonialen Diskurses, wie er von Wissenschaftlern mit doppelter Kulturerfahrung an ihren Universitäten initiiert wurde. Die Interdependenzen zwischen der Ersten und der Dritten Welt, die Schwierigkeiten von postkolonialen Gesellschaften und ihre politischen, sozialen wie identitätsmäßigen Probleme sind auch den deutschen Schriftstellern nicht verborgen geblieben. In den letzten zwanzig Jahren haben viele deutschsprachige Autorinnen und Autoren die Länder der Dritten Welt besucht. Dabei wirkte bis zu einem gewissen Grad der Impetus der Studentenbewegung nach. Doch statt es zuhause bei der Lektüre von „Kursbuch“, „Konkret“ und „Argument“ zu belassen, um sich ein Bild von den Armenhäusern des Globus zu machen, zog man nun die eigene Anschauung vor. Zudem kam man in den deutschsprachigen Ländern selbst stärker als zuvor mit Migranten, Flüchtlingen und Asylanten aus der Dritten Welt in Kontakt. Das zog Berichte in den Medien über Vorgänge in diesen Ländern nach sich und führte zu einer kontroversen Diskussion über Fremden- und Asylanten-Gesetzgebung. Ferner verlagerten auch deutsche, österreichische und schweizerische Großbetriebe eine Reihe von Produktionsstätten
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in die sogenannten Billiglohn-Länder, was den Kontakt mit Staaten der Dritten Welt intensivierte. Schließlich flog der Massentourismus immer mehr Orte der Dritten Welt als Urlaubsziele an, meistens offeriert unter den Reklame-Stichworten „paradiesische Oase“, „exotische Exklave“ oder „Sextopia“. Mit ihren Reiseberichten nehmen die deutschsprachigen Autoren Teil am internationalen postkolonialen Diskurs. Bei sich und ihren Lesern wollen sie das Bewusstsein von den Problemen der Dritten Welt schärfen, wollen Vorurteile über fremde Kulturen abbauen, ohne ihrer Meinung nach negative Seiten in den kulturellen Traditionen der besuchten Länder zu übersehen; sie wollen letztlich zur Verringerung menschenunwürdiger Verhältnisse in der Dritten Welt beitragen. Zu den Erkundern der Dritten Welt in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehören vor allem Hans Christoph Buch, Hubert Fichte, Günter Grass, Bodo Kirchhoff und Hugo Loetscher. Sie haben in einer Vielzahl von fiktionalen Texten und dokumentarischen Berichten ihre Reiseerfahrungen in den armen Ländern der Karibik, Lateinamerikas, Afrikas und Indiens verarbeitet. Zu nennen sind ferner Reiseberichte von Eva Demski, Ingeborg Drewitz, Hans-Jürgen Heise, Franz Xaver Kroetz, Luise Rinser, Erika Runge, Peter Schneider, Hans Joachim Sell, Walter Vogt und Martin Walser. Ihre Tagebücher, Briefe, Berichte und Reportagen aus Indien, Singapur, Indonesien, Marokko, Südafrika, Mexiko, Nicaragua, Trinidad, Brasilien und Peru zeichnen sich durch das aus, was ich den postkolonialen Blick nennen möchte. Mary Louise Pratt hat in ihrem Buch „Imperial Eyes“ von 1992 über koloniale Reiseberichte des 18. und 19. Jahrhunderts den kolonialen Blick umschrieben als jene Autoren-Perspektive, die gleichsam olympisch alles übersieht, alles eindeutig zu bewerten und einzuordnen weiß. Dem kolonialen Blick entsprachen die Herrenattitüde eines „Königs in seinem Reich“ („Monarch of all I survey“) und die Strategie gezielter Eroberung und Beherrschung, wie sie allgemein für koloniales Verhalten bezeichnend war. In den hier behandelten Texten der deutschsprachigen Schriftsteller jedoch hat der postkoloniale den kolonialen Blick abgelöst: Die Autoren anerkennen Unsicherheiten, Irritationen, mögliche Irrtümer und die Begrenztheit ihrer Erfahrung. Sie wissen, dass ein eurozentristischer Blickwinkel den Zugang zu den Problemen der Dritten Welt erschwert, sind sich aber gleichzeitig darüber im Klaren, dass sie bei ihren Reisen europäische Denk- und Verhaltensweisen nur revidieren, nie aber ganz aufgeben können bzw. wollen. Bodo Kirchhoff hat den Wechsel vom kolonialen zum postkolonialen Blick an sich selbst beobachtet und darüber 1982 einen Essay, „Zeichen und Wunder“, geschrieben (erschienen in dem von Michael Rutschky herausgegebenen Band „Errungenschaften. Eine Kasuistik“). Als er 1980 nach Äthiopien aufbrach, versprach er sich von dem Aufenthalt in diesem „schrecklich fremden Land der Dritten Welt“ zunächst nur „reichlich Schreibstoff“. Er vergleicht sich rückbli-
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ckend mit einem „Kaufmann“ der Kolonialzeit, der „auf Rohstoffsuche in ein Land fährt, dessen Bewohner und Kultur ihm einerlei sind“. Erst nach mehreren Gesprächen mit einem jungen Äthiopier habe er „plötzlich sehr viele Fragen“ gestellt, habe „das Überschreiten der (…) Grenze“ hin zum „unheimlich Anderen“, das „Brechenkönnen mit dem Selbstverständlichen“ in den Denk- und Verhaltens-Konventionen seines Herkunftslandes an sich erlebt. Dieses Sich-Öffnen hin auf Ungewissheiten, die Bereitschaft zu „Gedanken- und Gefühlsarbeit“ bei der Erfahrung des Fremden ist Voraussetzung des postkolonialen Blicks. Peter Schneider hat im gleichen Jahr 1980 vier Monate lang Länder Lateinamerikas besucht. Nach dieser Reise hatte er sich so in den postkolonialen Blick eingeübt, dass er ihn zunächst bei seiner Rückkehr in Frankfurt am Main noch beibehielt. Dort beobachtete er bei der Ankunft auf dem Flughafen seine Landsleute bzw. die westlichen Reisenden mit den Augen eines Fremden. Er berichtet in seinem essayistischen Buch „Die Botschaft des Pferdekopfs“ von 1981: „Das sind sie also, die Vielberühmten, die Folgenreichen, die, die die besseren Götter besitzen. (…) Wissen sie nicht, mit welcher Sehnsucht, mit welchem Hass sie vom andern Ende der Welt her beobachtet werden?“ Als er mit immer neuen Alteritätserlebnissen konfrontiert wird, erinnert Hans Joachim Sell sich in seinem Reisetagebuch aus Peru „Monarchie der Armut“ von 1983 der Worte Albert Camus’, der den Wert des Reisens darin erkannte, die „unbestimmte Angst“ auszuhalten und dem „Verlangen, in den Schutz unserer alten Gewohnheiten zurückzukehren“, zu widerstehen. Walter Vogt notiert während seiner Wochen in Marokko, dass man als Europäer eigentlich so lange im Ausland bleiben müsse, bis man über Europa aus der Perspektive der Fremde schreiben könne. Erst dann würde einiges von dem „transparent, was jetzt opak bleiben muß“ („Briefe aus Marokko“, 1974). Günter Grass erkennt in seinem Essay „Zum Beispiel Calcutta“ (aus „Alptraum und Hoffnung“, 1989), dass Calcutta eine „Existenzlage“ habe, die „jenseits von europäischen Kategorien wie Hoffnung und Verzweiflung angesiedelt“ sei. Eva Demski kann in Singapur nicht über ihren touristischen Schatten springen und gesteht sich ein, dass sie eine westliche Besucherin bleibt: „Wie tief ich immer (…) vordringen werde, ich gehöre nicht dazu.“ („Nähen für Deutschland“, aus: „Unterwegs“, 1988). Derjenige Ort, der die zeitgenössischen europäischen Reisenden daran erinnert, wie stark man den Bedingungen des Tourismus verhaftet bleibt, ist das Hotel. Das Hotel spielt in eigentlich allen Berichten der Autoren eine Hauptrolle. Meistens ist es im Stil der internationalen Moderne gebaut und gehört einer amerikanischen Hotelkette an. Hans Magnus Enzensberger hat bereits 1958 eine „Theorie des Tourismus“ (in: „Einzelheiten I“, 1964) skizziert. Darin charakterisiert er das Hotel als „Schloss des Großbürgertums“ und „Kathedrale des Tourismus“. Heute wären Bezeichnungen wie ‚Stadion des Massentourismus‘ oder
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‚Villa der westlichen middle class‘ angemessener. Einheimische kommen in den Hotels vor allem als Dienstpersonal vor. Martin Walser prophezeit während des Aufenthalts in Trinidad und Tobago, dass noch „eine politische Epoche vergehen muß, bis (…) eine farbige Majorität das Hotel bevölkern wird“, in dem er untergebracht ist. Das „Crown Reef“ in der Hauptstadt Port of Spain sei „für Amerikaner“ gebaut, ebenso der dortige „Riesenrohbauriegel eines häßlichen Holiday Inn“ („Tobago“, aus: „Variationen eines Würgegriffs“, 1985). Hans Joachim Sell errichtet dem Sheraton Hotel in Lima/Peru in „Monarchie der Armut“ ein unrühmliches literarisches Denkmal: „Wie es in dieser reichlich wüsten Stadt dort steht, ist es eine Abnormität. Eine Aufreizung! Es paßt in das heutige Lima ganz und gar nicht. Ein Protzprodukt. Wer mag schon in einer Stadt, von deren Armut und Notsituation ich erst einige Proben habe, in diesem pervers anmutenden Luxus wohnen?“. Ingeborg Drewitz fühlt sich, wie sie im Bericht „Calcutta“ (aus: „Mein indisches Tagebuch“, 1983) schreibt, im „Nirgendort“ ihres „Hotels im Kolonialstil“ in Calcutta „von allen Verbindungen zum eigenen Leben abgetrennt“. Obszön kommt es Eva Demski vor, wenn sie sich „jeden Abend (…) in den klimatisierten Luxus“ des Raffles-Hotels von Singapur zurückzieht, um „etwa fünf Tageslöhne“ von Fabrikarbeitern zu „verfressen“ („Nähen für Deutschland“). Um Obszönes im Wortsinne geht es in Bodo Kirchhoffs Beschreibungen des Sex-Tourismus in Bangkok. Sein Hotel hat für die Kundschaft aus der Bundesrepublik einen „Deutschen Biergarten“ eingerichtet, von dem aus es nur „ein kurzer Weg (…) zum Grace-Hotel“ ist, dem – wie es in der Sprache der Touristen heißt – „größten Puff der Welt“ („Im Reich der Ungeliebten“, in: „TransAtlantik“, 1982). Häufig sind die Autoren bei ihren Reisen in die Dritte Welt – besonders im Fall der lateinamerikanischen Länder – darauf bedacht, Kontakte zu ihren Kollegen am Zielort aufzunehmen, um in Gesprächen mit ihnen eine genauere Vorstellung von der Situation des Landes zu erhalten. Wie vor ihm Günter Wallraff („Nicaragua von innen“, 1983) und Hans Christoph Buch („Karibische Kaltluft“, 1985), legte auch Franz Xaver Kroetz („Nicaragua Tagebuch“, 1985) bei seinem Aufenthalt in Nicaragua Wert darauf, Ernesto Cardenal zu besuchen. Der Priester Cardenal hatte vor der Revolution gegen die Somoza-Diktatur „eine scharfe politische Sprache“ geführt, und Kroetz liefert von der Umgebung des Predigers und Lyrikers in seinen politischen Anfängen ein etwas romantisiertes Bild: „Es war eine kommunistische Urgemeinde, hier auf einer dieser 37 Paradiesinseln, wo den ganzen Tag über die Vögel das Wort führen, wo ein paar Pferde fett durch unverbrauchtes Grün stampfen.“ Zu seiner Enttäuschung verkürzte sich das Gespräch mit Cardenal, der damals Minister der sandinistischen Revolutionsregierung war, auf einen „freundlichen Fototermin“. Weniger über Nicaragua selbst als über die Funktion von Dichtung in Lateinamerika klärt Cardenal seinen deutschen Kollegen auf. Als Kroetz ihn fragte, „was er von der These halte, die
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Politik zerstöre die Poesie, und man habe beide getrennt zu halten“, antwortete ihm Cardenal, „diese Trennung gäbe es in der gesamten Literatur Lateinamerikas nicht, da hätten die Dichter politisch gedacht und gehandelt, das beginne mit dem Cubaner José Martí und gehe bis zu Sergio Ramirez.“ Cardenals These von der engen Beziehung zwischen Literatur und Politik in Lateinamerika wird in Hans-Jürgen Heises Bericht über Mexiko bestätigt. Wenn Octavio Paz und Carlos Fuentes, Juan Rulfo und Carlos Pellicer sich um die Bestimmung einer mexikanischen Identität bemühen, so steht dahinter immer auch die Abgrenzung gegenüber dem allzu mächtigen und dominierenden Nachbarn USA. Die Besonderheit der mexikanischen Identität herauszustellen, wird von Heise als wichtige Aufgabe zeitgenössischer mexikanischer Dichtung erkannt. Carlos Fuentes ist der Autor, der dabei weder in die Fiktion einer Nachfolge des längst vergangenen Inka-Reiches flüchten möchte noch die bloße Imitation der Amerikaner propagiert. „Wir können nicht zu Quetzalcoatl zurückkehren“, stellt er fest und fragt gleichzeitig: „Doch müssen wir uns deshalb restlos an den Pepsicoatl verlieren?“. Heise erkennt in Fuentes, dem „erfolgreichsten mexikanischen Autor“ der Gegenwart, den „großen Kritiker Mexicos“, der mit Recht „sein Augenmerk“ auf das lenke, „was in der Hauptstadt“ und „an den neuralgischen Punkten der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik“ passiere („Vom Quetzalcoatl zum Pepsicoatl“, in: „Merkur“, 1980). Hugo Loetscher sucht bei seinem Aufenthalt im brasilianischen Rio de Janeiro den afro-brasilianischen Autor Abdias do Nascimento auf, dem es um die Hervorkehrung „afrikanischer Präsenz in brasilianischer Kultur“ geht. In „Brasilien als Beispiel“ (in: „Das Hugo Loetscher Lesebuch“, 1984) berichtet Loetscher: Nascimento führte einen entschiedenen ideologischen Krieg gegen die Vorstellung von der „ethischen Demokratie“ Brasilien, wie sie seit Gilberto Freyres 1933 erstmals veröffentlichtem Buch „Casa-Grande & Senzala“ („Herrenhaus und Sklavenhütte“) international verbreitet ist. Dabei handle es sich um eine harmonisierende Legende. „Das ist alles Lüge“, schreibt Nascimento, „es gibt hier keine Gleichheit der Rassen. Die Weißen sitzen oben und die Schwarzen unten. Dieser Rassismus ist ärger als in den USA, denn er ist unsichtbar. Hier wurde die Widerstandskraft der Neger gebrochen; sie fügten sich, sie haben sich aufgegeben.“ Er führt die typisch lateinamerikanische Doppelexistenz als Politiker und Schriftsteller, und in beiden Rollen setzte er sich für eine Stärkung schwarz-brasilianischer Identität und Interessen ein. Bei der Lektüre seines Buches „O negro revoltado / Der Neger in der Revolte“ (1950) fragt Loetscher sich allerdings, ob Abdias do Nascimento „im Kampf gegen den Rassismus“ nicht auf dem Wege sei, „selber zum Rassisten“ zu werden. Das deutsche Wochenmagazin „Stern“ hatte 1972 bei Martin Walser angefragt, ob er nicht für eine geplante (dann nie zustande gekommene) Serie
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„Dichter suchen ihre Paradiese“ einen Beitrag schreiben könne; die Reisekosten werde das Wochenblatt tragen. Walser nahm das Angebot an und entschied sich für die mittelamerikanische Republik Trinidad und Tobago (vgl. den erwähnten Aufsatz „Tobago“). Die Inseln waren über Jahrhunderte europäische Kolonien; zuerst spanische (bereits von Kolumbus entdeckt), dann bis zur Unabhängigkeit von 1962 englisch. Statt eines Paradieses fand Walser in der Hauptstadt Port of Spain eine „Höllenstadt“, ein Zentrum des Rassismus und der ökonomischen Ausbeutung, eine Illustration der These, dass „ganz Südamerika“ sich im „Würgegriff“ der USA befinde, also „de facto eine Yankee-Kolonie“ sei. Ein Lehrbeispiel ist ihm das Hotel, in dem er untergebracht ist: Es gehört zu einer US-amerikanischen Kette, und in ihm werde „das alte Kolonialverhältnis“ zwischen den Rassen wiederhergestellt: „Weiß am Tisch, und Schwarz rennt herum und bedient Weiß.“ Die Arbeiter hätten für „fünf Dollar (…) pro Tag“ zu schuften. Nicht, dass Walser für die Reize der Landschaft und den „karibischen Farbfilmhimmel“ unempfänglich wäre. Sein Bericht enthält ein geradezu hymnisches Lob des „karibischen Wassers“ mit seinen „runden und glatten Wellen“. Der „Strand“ von Tobago „könnte der schönste der Welt sein“, und „das Paradies könnte jederzeit beginnen“, spekuliert der Autor, wenn der Neokolonialismus abgeschafft werde. „Ist denn das das Paradies“, fragt Walser, „wenn die Leute, denen es gehören müßte, von ihm nichts haben?“ Die staatliche Unabhängigkeit der Inselrepublik sei eine Fiktion, doch lege man großen Wert darauf, den Eindruck der Eigenständigkeit hervorzurufen. Das geschehe zum Beispiel durch die Einstellung eines „Alibischwarzen“ im Mitarbeiterstab des Hotelketten-Besitzers und durch die Beteiligung einiger Einheimischer an „ein paar Image-Prozentchen“ des Hotelbesitzes. Walsers kritischer TouristenReport wurde vom „Stern“ nicht akzeptiert. „Für Ihren Bericht“, entschied der Chefredakteur, „hätte das Thema anders lauten müssen, etwa: Dichter suchen Elendsgebiete der Welt“. Die deutschen Autoren der Gegenwart haben – das wurde schon häufig dokumentiert – mit Kritik an der amerikanischen Außenpolitik nie gegeizt. Ähnlich wie Martin Walser sah auch Franz Xaver Kroetz Lateinamerika als Wirtschaftskolonie der USA. Wie Wallraff und Buch faszinierte Kroetz, dass die Sandinisten in Nicaragua nicht nur die Somoza-Diktatur beseitigten, sondern auch ihre Wirtschaft in eigener Regie führen wollten. Dazu gehörte die Verstaatlichung des Somoza-Besitzes. Die USA, die den sandinistischen Sozialismus nicht vom sowjetisch orientierten Kommunismus unterscheiden wollten, befürchteten ein zweites Cuba und reagierten mit einem Wirtschaftsboykott. Als Kroetz Mitte der achtziger Jahre Nicaragua besuchte, dauerte dieser Boykott seit über fünf Jahren an. Er fand einen ökonomisch ruinierten Staat vor, und er meinte, dass die Amerikaner das Land „aus der Billigpreisabteilung für arme Länder“ bald „nachge-
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schmissen“ erhielten, wenn sie „den Wirtschaftskrieg noch zwei oder drei Jahre weiterführen“ („Nicaragua Tagebuch“). Den Spuren eines vergangenen spanischen und eines gegenwärtigen amerikanischen Kolonialismus begegnete Hans-Jürgen Heise („Vom Quetzalcoatl zum Pepsicoatl“) in Mexiko auf Schritt und Tritt. Octavio Paz sehe in seinem Essay „El laberinto de la soledad / Das Labyrinth der Einsamkeit“ (1947) die Problematik der mexikanischen Identität begründet „in der Conquista, der Eroberung durch die Spanier“. Die Spanier hätten „ihren Sieg ganz auf Verrat und Gewalt begründet“, was „sie bis heute verhaßt“ mache. Aber nicht erst die Spanier hätten einen Zustand „der totalen Abhängigkeit“ geschaffen; dieser sei vielmehr bereits unter den Azteken gegeben gewesen. Denn die aztekische „Kaste der Priester und der Adligen“ habe sowohl das eigene Volk als auch die „benachbarten Stämme (…) unterjocht.“ Die Azteken seien „in mancherlei Hinsicht die direkten Vorläufer der Spanier“ als koloniale Unterdrücker gewesen. Als fataler Störfaktor bei der Konstruktion einer „Mexikanität“ erweise sich die kolonialgeschichtliche Hypothek: „Die Mexikaner haben keinen nationalen Stammbaum, dessen sie sich rühmen können“, schreibt Heise. In „seinem Herzen“ meint der Autor, sei der Mexikaner nach wie vor „antispanisch“. Hundertfünfzig Jahre „nach der Vertreibung der Kolonialmacht“ habe sich „ein guter Teil des Hasses“, den die Mexikaner Spanien entgegenbrachten, auf die USA übertragen. Das Verhältnis Mexikos „zu seinem mächtigen Nachbarn im Norden“ sei schon deswegen seit hundertfünfzig Jahren „problemüberladen“, weil „die Vereinigten Staaten nach dem Krieg von 1846/47 ein Drittel des mexikanischen Staatsgebietes annektierten, die Territorien der heutigen Bundesstaaten Texas, Kalifornien, Neumexiko, Arizona, Nevada und Utah“. „Auf diese politische Schmach“ schreibt Heise, „folgte die Ausbeutung durch amerikanische Wirtschaftsunternehmen“. Die koloniale Erblast kommt ausführlich auch in Peter Schneiders Lateinamerika-Bericht „Die Botschaft des Pferdekopfs“ zur Sprache. Er rekapituliert die Eroberung des Azteken-Reiches durch die Spanier und betont, dass die koloniale Eroberung nicht lediglich eine Sache der Geschichte sei, sondern berichtet von den Amazonas-Indianern, die sich – anders als ihre Vorfahren vor fünfhundert Jahren – mit Gewalt gegen das Eindringen der Weißen in ihre Reservate wehren. Aber wie weit geht das Sich-Wehren-Können gegen die Infiltration europäischer Kultur, fragt Schneider, wenn der Häuptling Raoni der militanten Garotire bereits fließend Portugiesisch spricht? Die Präsenz der Ersten in der Dritten Welt bzw. die Sehnsucht der Dritten Welt nach dem Lebensstil der Ersten ist das Hauptthema in Schneiders Essay. Die Nachwirkungen des Kolonialismus sind in Marokko, das seine Unabhängigkeit von Frankreich und Spanien vor knapp fünfzig Jahren erhielt, noch spürbar. Den Angehörigen der ehemaligen kolonialen Herrenschicht gehören
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Walter Vogts Sympathien keineswegs. „Was Marokko braucht“, schreibt er in „Briefe aus Marokko“, „sind Leute mit technischem und wissenschaftlichem Know-how. Die alten ‚Kolonialisten‘, die nichts anderes können als dubiose Geschäfte“ machen, seien „verunsichert, verbittert, verängstigt und in einer ausweglosen Situation“. Vergleichbar negativ äußert er sich auch über die Sprösslinge aus französischen Kolonialfamilien. Sie sind kurz vor oder nach der Unabhängigkeit im Jahre 1956 geboren und gehören für ihn zum „Deprimierendsten“, dem er in Marokko begegnet sei: „Kein Wort arabisch, keine Ahnung von dem Land, in dem sie wohnen – wirklich nichts als Hochmut und Angst (…). Wenn am Fernsehen arabische Schrift erscheint, sagten sie ‚Spaghetti‘ und grinsten“. In keinem der bisher genannten Länder gibt es einen gesetzlich geschützten rassistischen Kolonialismus. Den aber konnte man mit seinen Auswirkungen in den frühen siebziger Jahren in Südafrika noch studieren. Erika Runge tat es vor Ort und schrieb darüber eine Reportage. Während die USA in Lateinamerika als Kolonialmacht angesehen werden, erschienen amerikanische Firmen, die in Südafrika Niederlassungen unterhielten, dort häufig als Boten künftiger Gleichberechtigung der Rassen. Wie Erika Runge zeigt, stimmten schon damals viele Industrielle ganz allgemein „den Forderungen nach einer Demokratisierung der südafrikanischen Gesellschaft zu“ („Südafrika“, 1974), weil es ökonomischen Prinzipien widerspricht, Hautfarbe statt Leistung zu honorieren. Noch in den 1970er Jahren herrschten in Südafrika Kolonialverhältnisse wie im 19. Jahrhundert. Hoffnungsträger einer antirassistischen und antikolonialen Politik war damals, berichtet Erika Runge, vor allem die schwarze Arbeiterschaft. Nelson Mandela wurde von der Regierung auf der Zuchthaus-Insel Robben Island gefangen gehalten. Erika Runge wurde von der Regierung als „kaffir boetie“, als „Kaffernfreund“ eingestuft und deswegen vom südafrikanischen Geheimdienst überwacht. Züge von Neokolonialismus tragen nach Ingeborg Drewitz die Beziehungen zwischen den westlichen Industrienationen und Indien. Ihr Resümee des Ergebnisses eines Indienbesuchs von François Mitterand lautet: „Wie zu erwarten ein Geschäft im alten Stil, Frankreich fördert die Atomindustrie, Indien bietet die billigere Arbeitskraft seiner Flugzeugwerkstätten an.“ („Mein indisches Tagebuch“). Nach Günter Grass („Zum Beispiel Calcutta“) ist das Elend Calcuttas symptomatisch „für den wachsenden oder sich stabilisierenden Wohlstand der Industriestaaten auf Kosten der Dritten Welt“. Anders als in den übrigen Texten der Autoren sieht Grass den Neokolonialismus nicht nur im Sinne des Nord-SüdGefälles, sondern erkennt im Elend der Großstädte in der Dritten Welt das Menetekel für die Ruinierung der westlichen Metropolen: „Überall dort“, schreibt er, „wo in den westlichen Industriestaaten das neo-kapitalistische Konzept der Zweidrittelgesellschaft Wirkung zeigt, besonders in den Großstädten (…) mit
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ihren Hunderttausenden von Obdachlosen“ sei „eine Annäherung an Calcutta“ gegeben. Während aber die Reste der Welt mit dem Phänomen extremer Armut und der Verslumung ganzer Stadtteile nicht fertig werden, seien Städte wie Calcutta im Überleben geübter“. Für die Zukunft sei diese Stadt auf die „kommenden Schrecknisse“ der Verelendung „besser gerüstet“ als „London oder New York“. „New Yorks South Bronx“, meint Grass, werde, mit „solcher Zukunft konfrontiert, nicht überdauern“. Calcutta sei „verzweifelter und vitaler mit sich und ihrem Überleben beschäftigt“ als irgendeine Metropole der Industrienationen. Ein technisches Mittel, den Alltag in den verarmten Großstädten zu bestehen, sei die Rikscha. Grass hält sie für „das Fahrzeug der Zukunft“, und er meint, es könne „gut sein, daß sich in wenigen Jahren die Verkehrspolitiker der europäischen Großstädte, deren innerstädtischer Autoverkehr jetzt schon von blecherner Absurdität ist, auf die Rikscha und ihre Möglichkeiten besinnen müssen. Es wäre nicht die einzige Lektion, die die Dritte Welt den erst- und zweitrangigen Welten erteilen könnte.“ In seinem Roman „Unkenrufe“ (1992) hat Grass den raschen Erfolg eines indischen Rikscha-Fahrunternehmens in Danzig fiktional vorweggenommen. In ihrem Bericht über den Besuch der Lepra-Insel Levoleba skizziert Luise Rinser die Kolonialhistorie Indonesiens („Auf der Lepra-Insel“, aus: „Dem Tode geweiht?“ von 1974). Sie ist überzeugt, dass „die heutige Lage“ des Inselstaates, der – bis 1946 – „dreihundertfünfzig Jahre lang“ Koloniebesitz war, in seiner Geschichte begründet sei. Die „Kolonialherren“, ob Portugiesen oder Holländer, hätten das Land ausgebeutet; „die Indonesen selbst blieben arm“. Allerdings sei es möglich, dass Indonesien, „weil es in Fülle Erdöl besitzt“, eines „der reichsten Länder der Erde“ werden könne. Ob das Land angesichts der Geografie mit seinen „dreizehntausend Inseln und Inselchen“ allerdings in der Lage ist, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen und eine effiziente Zentralregierung zu etablieren, sei fraglich. Parakoloniale Verhältnisse fallen Eva Demski („Nähen für Deutschland“) bei ihrem Besuch im Stadtstaat Singapur auf. Er sei für die deutsche Textilindustrie ein „Billiglohnland ohne jede soziale Leistung für die Arbeiter“. Der „Einstellungslohn“ per Arbeitskraft pro Stunde betrage umgerechnet „eins komma null acht D-Mark“. Die westlichen Länder seien hier auf „Ausbeutung“ aus. „So ziemlich alles, was wir anhaben“, werde in asiatischen Ländern „hergestellt“: Man kaufe „Stoffe in Indien“ billig ein, die „nach Singapur, Hongkong oder Manila transportiert, dort verarbeitet und dann per Schiff über zehntausend Kilometer“ in ein europäisches Bestimmungslande verfrachtet würden. Im Fall der Erzeugnisse aus der Näherei in Singapur, die sie besichtigt, stehe schließlich „auf dem Etikett eine deutsche Firma“. Eine besondere Form der Ausbeutung allerdings, die sexuelle, sei in Singapur verschwunden. „So gut wie nichts“ sei geblieben von
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der „Lasterhöhle Asiens“, die „Rauschgift, Alkohol und Prostitution“ angezogen habe. Auf Rauschgift stehe die Todesstrafe, der Alkohol sei zu teuer, und „für die Prostitution“ sei „Bangkok zuständig“. Der deutsche Sextourismus ist das Thema von Bodo Kirchhoffs Reisebericht aus Bangkok. Der Autor fuhr mit einschlägigen literarischen Erfahrungen aus dem Reich der Un-Liebe nach Asien. Niemand hat so präzise wie er das steril Anti-Erotische an der käuflichen Lust, die Banalität der Verworfenheit im Rotlicht-Distrikt beschrieben wie er. Diese spezifische Variante Frankfurter Heimatkunde, wie er sie in „Die Einsamkeit der Haut“ (1981) betrieben hat, kam ihm beim Erkunden der thailändischen Hotel-Prostitution zugute. Kirchhoff beschreibt, wie sich auf Pat Pong, der Vergnügungsstraße von Bangkok, in Clubs oder Hotels der deutsche Sex-Tourismus gestaltet („Im Reich der Ungeliebten“). Eine Momentaufnahme im Butterfly-Club zeigt „ein Fähnlein Deutscher“, das „Einzug“ hält, „Männer wie die Kontrolleure in der Straßenbahn, Stammgäste, die lärmend Wiedersehen feiern“, die daheimgebliebenen deutschen Frauen als „Elefantenkühe“ und „Teufelsweiber“ beschimpfen und sich an den thailändischen „Naturmädchen“ begeistern. Allein „im Coffee-Shop“ des Grace Hotel finden die Fernost-Erkunder „300 bis 400 Mädchen“ zur freien Auswahl. Und an der Bartheke lehnen die „geheimnislosen Deutschen“ mit „mehreren Mädchen, drei, vier, die sich klammern“. Dass „40 Prozent“ dieser Frauen geschlechtskrank sind, nehmen die Sex-Touristen in Kauf. Über die neokoloniale Sexual-Ausbeutung wird von Kirchhoff unterkühlt und ohne jedes pastorenhafte Anklagepathos berichtet. Gerade diese – an der Oberfläche – emotional nicht engagierte Reportage ist wirkungsvoll, zeigt auch etwas von der Hoffnungslosigkeit der Situation. Offiziell sind „Striptease und Prostitution in Thailand verboten“ notiert Kirchhoff lakonisch. Bangkok ist der international bekannte Extremfall sexueller Ausbeutung der Dritten Welt durch die Erste, aber sie kommt in anderen armen Ländern ebenfalls vor. Hubert Fichte berichtet in „Psyche. Glossen“ (1990) aus Dakar, der Hauptstadt des Senegal, von einem Einzelfall, der kein Einzelfall ist. Ein aus der Armee entlassener Soldat erzählt: „Ich habe keine Arbeit und gehe demnächst in die Fremdenlegion. Ich muß meine Familie ernähren. Und dafür tu ich alles. Die europäischen Ehepaare lassen mich aufs Zimmer kommen. Die Frauen lassen sich von mir nehmen, und die Männer sehen zu und machen Fotos.“ Fichte ist „entsetzt über das, was aus Tourismus und Sexualität geworden ist.“ Eigentlich alle diese Autoren reisen in die Staaten der Dritten Welt, um zu lernen und um mit ihren Berichten Lesern in den deutschsprachigen Ländern zu einem genaueren Verständnis der Beziehung zwischen Erster und Dritter Welt zu verhelfen. Nicht mit dem überlegenen, besserwisserischen, ausbeuterischen und missionarischen kolonialen, sondern mit dem offenen, wissbegierigen, solidarischen und gleichwohl kritischen postkolonialen Blick suchen sie das kultu-
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Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen
rell Andere zu erkennen. Martin Walser („Tobago“) empfand seinen Bericht „als Beschreibung unseres immerwährenden Unverhältnisses zur Dritten Welt“, und er hält fest, dass er durch seine Reise nach Trinidad „um eine Erfahrung reicher geworden“ sei, „sowohl was jene Welt wie auch was unsere angeht“. Ingeborg Drewitz („Mein indisches Tagebuch“) formuliert ihr Fazit der Erkundungen in Indien so: Wer sich auf das Erlebnis einer Stadt wie Calcutta eingelassen habe, bleibe „verletzt, irritiert“, sehe das „Leben anders“ und stelle „andere Fragen“. Bei aller Ratlosigkeit fragen sich die meisten Autoren, wie die Verhältnisse in den Ländern der Dritten Welt verbessert werden könnten. Zwar hüten sie sich vor konkreten Ratschlägen, zu denen ihnen Kompetenz und Detailkenntnis fehlt, doch ist ihrer Darstellung und Kritik zu entnehmen, dass sie – von Ausnahmen abgesehen – die Etablierung freier und prosperierender Gesellschaften in den besuchten Staaten grundsätzlich für möglich halten. Günter Grass gehört zu den Ausnahmen; er ist der Skeptiker, ja Apokalyptiker unter den kritischen DritteWelt-Touristen. Grass hatte Reminiszenzen an seinen ersten Calcutta-Besuch im Kapitel „Vasco kehrt heim“, des „Butt“ (1977) verarbeitet, und über seinen zweiten, längeren Aufenthalt in der bengalischen Stadt das Buch „Zunge zeigen“ (1988) geschrieben. In seinem Essay „Zum Beispiel Calcutta“ fasste er seine Erfahrungen nochmals zusammen, ohne jedoch erneut auf die religiöse Funktion der zungezeigenden Göttin Kali einzugehen, um die es in den beiden Büchern geht. Die Titelüberschrift seines Essays verstand er wörtlich: Calcutta sei exemplarisch für die Verhältnisse der Dritten Welt. Und da Calcutta „vor der Tür“ des Westens stehe und „sich nicht abweisen“ lasse, müsse man in den Industrienationen einen „lernenden Blick auf das gemeinschaftliche Leben vieler hundert Millionen Menschen in Asiens und Südamerikas Slumregionen werfen“. Für Grass sind die Slums der Großstädte in der Dritten Welt Beispiele für eine Misere, die morgen oder übermorgen zur Realität der Metropolen in den westlichen Industriestaaten gehören werde. In der historischen Wegstrecke vom Kolonialismus zum Postkolonialismus hat nach Grass gleichsam eine Inversion der Richtungstendenz stattgefunden: Der Verbreitung des westlichen Lebensstils in Asien, Afrika und Lateinamerika folge nun die Verelendung der Cities in der Ersten nach dem Muster der Dritten Welt. Im weltweiten Öko-Debakel werde die negative Interdependenz der beiden Welten bereits heute deutlich. Unter Berufung auf den Bericht des Club of Rome über „The Limits of Growth / Die Grenzen des Wachstums“ (1972) spricht Grass von „einer Vielzahl katastrophaler Entwicklungen“, die sich nicht mehr als „isolierte Vorgänge“ begreifen lassen, sondern „miteinander verquickt“ sind „und sich so potenzieren“. Die „ungehemmte industrielle Expansion mit wachsender Umweltzerstörung und klimatischen Veränderungen“ sei „als insgesamt zerstörerischer Zusammenhang zu begreifen“; sie laufe auf eine Globalisierung des Calcutta-Syndroms hinaus.
Editorische Notiz Der Band versammelt Essays und Rezensionen aus Zeitungen und Kulturzeitschriften. Entfernt wurden die Überschriften oder sie wurden so belassen, wie sie ursprünglich im Manuskript gestanden hatten. Titel zu Zeitungsbeiträgen werden von der Redaktion im Hinblick auf den Kontext des jeweiligen Feuilletons formuliert und würden in einem Sammelband unpassend erscheinen. Hier habe ich nur jene publizistischen Beiträge aufgenommen, die gedruckt erschienen sind. Abgesehen wurde davon, meine Besprechungen, Essays und Interviews für den Rundfunk und das Fernsehen zu berücksichtigen, wie sie ausgestrahlt wurden vom Österreichischen Rundfunk (Wien), Norddeutschen Rundfunk (Hannover), Westdeutschen Rundfunk (Köln), Hessischen Rundfunk (Frankfurt am Main), Deutschlandfunk (Köln), von der Deutschen Welle (Köln/Berlin), dem Südwestrundfunk (Baden-Baden) und dem Bayerischen Rundfunk (München). Bedanken möchte ich mich bei Günter Blamberger, Dietrich Boschung und Martin Roussel vom Morphomata Kolleg, dem Institute for Advanced Study der Universität zu Köln, wo ich in den Sommermonaten von 2014 als Fellow durch Gespräche über das Zusammenbringen von Kritik, Germanistik und Dichtung zu diesem Band inspiriert wurde, auch wenn mein Forschungsschwerpunkt dort ein anderer war. Dank sage ich den vielen RedakteurInnen, die mich zu den hier im Zusammenhang präsentierten einzelnen Arbeiten anregten und mit denen ich Rhetorik und Fokussierung der Beiträge diskutierte; Iljoma Mangold für die Gespräche während seiner Zeit als Max Kade Critic in Residence Anfang 2015 in St. Louis; ferner meinen Research Assistants Anne-Dorothea Klopf, Caroline Rehner, AnnMarie Riesner und Christin Zenker für die Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts und – last but not least – Manuela Gerlof und Susanne Rade für die gute Kooperation mit dem De Gruyter Verlag in Berlin und Boston.
Quellennachweis 1. Gegenwartsliteratur: Roman und Poetik Christian Kracht „Imperium“ (2012), Die Welt/Literarische Welt (11.2.2012) Peter Stephan Jungk „Das elektrische Herz“ (2011), Literatur und Kritik (Juli 2011) Peter Stephan Jungk „Der König von Amerika“ (2001), DIE ZEIT (29.11.2001) Uwe Timm „Von Anfang und Ende. Über die Lesbarkeit der Welt“ (2009), Der Tagesspiegel (2.2.2010) Uwe Wittstock „Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur“ (2009), Der Tagesspiegel (27.12.2009) Hans Christoph Buch „Sansibar Blues oder Wie ich Livingstone fand“ (2008), Der Tagesspiegel (14.12.2008) Hans Christoph Buch „Kain und Abel in Afrika“ (2001), Neue Zürcher Zeitung (13.6.2001) Ulf Erdmann Ziegler „Hamburger Hochbahn“ (2007), Die Welt/Literarische Welt (14.4.2007) Christoph Hein „Frau Paula Trousseau“ (2007), Der Tagesspiegel (21.3.2007) Walter Hinck „Roman-Chronik des 20. Jahrhunderts“ (2006), Frankfurter Rundschau (20.12.2006) Ulrike Draesner „Spiele“ (2005), DIE ZEIT/ZEITliteratur (Oktober 2005) Dieter Kühn „Schillers Schreibtisch in Buchenwald“ (2005), DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Mai 2005) Dieter Forte „Auf der anderen Seite der Welt“ (2004), Der Tagesspiegel (31.10.2004) Elisabeth Plessen „Das Kavalierhaus“ (2004), DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Oktober 2004) Doron Rabinovici „Ohnehin“ (2004), DIE ZEIT (29.7.2004) Norbert Niemann/Eberhard Rathgeb (Hg.) „Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003“ (2003), DIE ZEIT/ZEITLiteratur (Oktober 2003) Friedrich Christian Delius „Warum ich schon immer Recht hatte – und andere Irrtümer“ (2003), DIE ZEIT (16.10.2003) Volker Hage „Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg“ (2003), DIE ZEIT (21.8.2003) Juli Zeh „Adler und Engel“ (2001), Salz. Zeitschrift für Literatur (Januar 2002) Bodo Morshäuser „In seinen Armen das Kind“ (2002), ZEIT/ZEITLiteratur (März 2002) Michael Schneider „Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners“ (2001), DIE ZEIT (12.7.2001) Barbara Honigmann „Alles, alles Liebe!“ (2000), DIE ZEIT (16.11.2000) Angelika Mechtel „Das kurze heldenhafte Leben des Don Roberto“ (1999), DIE ZEIT (17.6.1999) Hanns-Josef Ortheil „Im Licht der Lagune“ (1999), DIE ZEIT (18.2.1999) Hanns-Josef Ortheil „Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann“ (1994), Neue Zürcher Zeitung (13.10.1994) Hanns-Josef Ortheil „Schauprozesse“ (1990), Neue Zürcher Zeitung (17.1.1991) Angela Krauß „Sommer auf dem Eis“ (1998), DIE ZEIT (15.10.1998) Angela Krauß „Die Überfliegerin“ (1995), Neue Rundschau 109.3 (1998) Barbara Frischmuth „Die Schrift des Freundes“ (1998), DIE ZEIT (27.8.1998) Barbara Frischmuth „Über die Verhältnisse“ (1987), Neue Zürcher Zeitung (9.10.1987) Klaus Briegleb/Sigrid Weigel (Hg.) „Gegenwartsliteratur seit 1968“ (1992), DIE ZEIT (6.11.1992) Paul Nizon „Über den Tag und durch die Jahre“ (1991), Neue Zürcher Zeitung (6.12.1991) Sten Nadolny „Das Erzählen und die guten Absichten“ (1990), Neue Zürcher Zeitung (18.7.1991)
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Personenregister Aalto, Alvar 41 Abaelardus, Petrus 166 Abraham a Sancta Clara 46 Ackermann, Irmgard 18 Adelson, Leslie A. 17 Adenauer, Konrad 52, 55, 81 Adler, H.G. 164 Adorno, Theodor W. 3, 34, 59, 81, 122, 248, 255, 381 Agamben, Giorgio 229 Agar, Herbert 154 Agassi, Joseph 167 Aichinger, Ilse 59 Albee, Edward 115 Alexander der Große 312 Alexis, Willibald 269, 270 Alkibiades 166 Allesch, Ea von 196 Aly, Götz 350 Améry, Carl 316 Andersch, Alfred 46, 77, 178, 331 Andress, Reinhard 157, 159, 161 Antonioni, Michelangelo 193 Anz, Thomas 2, 10, 17, 104, 121, 126 Arendt, Hannah 14, 59, 60, 137, 154, 166, 192 Aristoteles 242 Arkan 66 Arnau, Frank 160 Arndt, Ernst Moritz 253, 256, 258 Arnim, Achim von 107, 247, 249, 252, 256, 258 Arnim, Bettina von 255 Ashmore, Richard D. 370 Assheuer, Thomas 381, 384 Auernheimer, Raoul 142, 143 Augstein, Franziska 235, 237 Augustin, Ernst 104 Augustinus 38 Augustus 124, 202 Ausländer, Rose 59, 77 Austen, Steve 323, 324 Aydelotte, Frank 154
Baasner, Rainer 2 Bab, Julius 2 Bachmann, Ingeborg 32, 60, 63, 65, 112, 333, 337 Bachofen, Johann Jakob 219 Bachtin, Michail 4, 129, 372, 381 Bacon, Francis 5 Bahr, Hermann 2 Balzac, Honoré de 115 Barraqué, Jean 193, 194 Barthes, Roland 125, 128 Baudrillard, Jean 382 Bauer, Viktor (A. Ben-Ikar) 143 Baum, Vicki 142, 144 Bauman, Zygmunt 381, 382 Baumgart, Reinhard 6, 18, 19 Bayerdörfer, Hans-Peter 16 Beauvoir, Simone de 128 Becher, Johannes R. 50, 137 Becher, Ulrich 186 Becker, Jurek 18, 124 Beckett, Samuel 113 Beckmann, Max 41 Beer-Hofmann, Richard 186 Beethoven, Ludwig van 53, 255 Behrens, Peter 354 Beloussowa, Ljudmila 84 Benatzky, Ralph 143, 144 Benjamin, Walter 6, 33, 82, 137, 331 Benn, Gottfried 189 Bense, Max 190 Beradt, Martin 341 Bergengruen, Werner 219, 316 Bergman, Ingmar 140 Berlichingen, Götz von 168 Bermann Fischer, Brigitte 171 Bermann Fischer, Gottfried 171, 187 Bernhard, Thomas 16, 17, 46, 64, 104, 113, 127, 130, 131, 193, 219, 337 Berndt, Fred 224 Bertens, Hans 382 Betz, Albrecht 14, 182–184 Beuys, Joseph 52 Beyer, Marcel 17, 46, 60
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Personenregister
Bhabha, Homi K. 367, 385, 386 Bichsel, Peter 60, 316, 331 Biedenkopf, Kurt H. 323 Bienek, Horst 331 Biermann, Wolf 64, 72, 73 Biller, Maxim 7 Billinger, Richard 219, 224 Binder, Hartmut 13, 190 Bindseil, Reinhard 39 Bismarck, Otto von 26, 37 Blake, William 255, 256 Blamberger, Günter 397 Blanchot, Maurice 193 Blankenburg, Friedrich von 199 Blatter, Silvio 18, 116–119, 211 Bleiweiß, Celino 251 Bloch, Ernst 53, 365 Bloch, Marc 320 Bloodworth, Jimmy 143 Bloom, Harold 229 Blücher, Franz 52 Blum, Léon 185 Blumenberg, Hans 59 Bodmer, Johann Jakob 272 Böll, Heinrich 16, 46, 117, 178 Börne, Ludwig 82, 260–269, 286, 287, 304, 305, 331 Bohrer, Karl Heinz 275 Boisserée, Sulpiz 240 Bonaparte (siehe: Napoleon) Bontempelli, Massimo 143 Borchardt, Rudolf 260, 261 Borchert, Wolfgang 64 Borchmeyer, Dieter 7 Borgese, Giuseppe Antonio 154, 156, 214 Born, Nicolas 62, 302 Boschung, Dietrich 397 Boulanger, Nadia 167 Brague, Rémi 306 Brahe, Tycho 167 Brahms, Johannes 247 Brancusi, Constantin 34 Brandys, Kazimierz 331 Brasch, Thomas 73 Braun, Felix 186 Braun, Michael 20
Brecht, Bertolt 34, 55, 64, 72, 137–139, 140, 168, 174, 189 Breitinger, Johann Jakob 272 Brentano, Bernard von 138 Brentano, Clemens 247, 249, 252, 259 Breuer, Marcel 41 Breughel, Pieter 115 Briand, Aristide 183, 287, 304 Briegleb, Klaus 98–100 Brill, Alice 159 Brill, Marte 159–161 Brinkmann, Rolf Dieter 60, 81 Broch, Hermann 11, 13, 14, 51, 59, 60, 81, 83, 93, 95, 96, 110, 122, 124, 126, 131, 132, 137, 154, 155, 170, 180, 185–225, 236, 260, 261, 301, 305, 315, 365 Brode, Heinrich 37 Brody, Daisy 216, 221 Brody, Daniel 199, 200, 216, 221 Bronnen, Barbara 115 Brooks, Van Wyck 154 Bruckner, Ferdinand 186, 187 Brüning, Heinrich 223 Brussig, Thomas 82, 85 Brynner, Yul 89 Bubis, Ignatz 63 Buch, Hans Christoph 25, 36–39, 74, 129, 302, 330, 331, 353, 387, 389, 391 Büchner, Georg 27, 71, 104, 352 Bürger, Peter 120 Büsching, Gustav Gottlieb 258 Buhl, Marc 25 Burckhardt, Jacob 188, 324 Burger, Hermann 104 Burmeister, Brigitte 82 Burton, Richard Francis 25 Buselmeier, Michael 329 Bush, George W. 345, 346 Busquin, Philippe 359 Byron, George Gordon 38, 75, 255 Caldecott, Ernest 146, 147 Calderón de la Barca, Pedro 250, 367 Calinescu, Mattei 120, 205, 336 Calvin, Jean 146 Calvino, Italo 126 Camus, Albert 33, 62, 388
Personenregister
Canetti, Elias 56, 113, 186, 188, 189, 191, 192, 213, 331 Canning, George 266 Caprivi, Leo von 37 Capus, Alexander 25 Cardenal, Ernesto 385, 389 Carl Eugen (Herzog) 71 Carlucci, Frank 36 Carnap, Rudolf 198 Casanova, Giacomo 77, 106, 115 Castellio, Sebastian 146 Castoriadis, Cornelius 323 Castro, Fidel 351 Cavefors, Bo 14 Ceauşescu, Nicolae 337 Celan, Paul 16, 55, 59, 207 Cervantes, Miguel de 256 Cézanne, Paul 60, 122 Chaplin, Charlie 147 Chateaubriand, François René de 242, 255, 276 Chevalier, Maurice 140 Chirico, Giorgio de 194 Chrisman, Laura 386 Christie, Agatha 95 Clark, William 353 Claudius, Matthias 86 Clausen, Bettina 17, 99 Clifford, James 376 Coelho, Paulo 229 Cohen, Hermann 209 Coleridge, Samuel Taylor 38, 242, 255 Colin, Amy 18 Cooper, Robert 292 Comstock, Ada Louise 154 Conrad, Joseph 38, 130 Conrady, Karl Otto 85 Contat, Michel 100 Corash, David 69 Cornell, Hajo 323 Cortázar, Julio 62 Cotta, Johann Friedrich 238–242 Coudenhove-Kalergi, Richard 276, 287, 299, 305, 325, 326, 337 Craig, Gordon A. 194 Czurda, Elfriede 99
405
Dagerman, Stig 331 Dahlke, Sigrid 17 Dahn, Daniela 82 Daladier, Édouard 185 Dante 51, 52, 131, 202, 207, 256 Danton, George 71 Dauthendey, Max 318 Defoe, Daniel 75 Delacroix, Eugène 100 Deleuze, Gilles 124, 128, 376 Delius, Friedrich Christian 60, 61–63, 331 Delors, Jacques 327 Demetz, Peter 7, 13 Demski, Eva 77, 387–389, 394 Derrida, Jacques 4, 128, 302, 306 Descartes, René 128, 370 Detering, Heinrich 16, 20, 144–148, 235 Dickens, Charles 27, 117 Dieterich, Albert 219 Dietrich, Marlene 140 Dikmen, Sinasi 99 Diner, Dan 177 Dinzelbacher, Peter 321, 322 Dischereit, Esther 99 Disney, Walt 30, 31, 32, 345 Dittrich van Weringh, Kathinka 323 Djebar, Assia 369 Doctorow, E.L. 132 Doderer, Heimito von 56, 59 Döblin, Alfred 46, 52, 62, 67, 112, 122, 126, 132, 140, 189, 192, 260, 261, 317, 319, 331 Dollfuß, Engelbert 213 Dorn, Thea 8 Dos Passos, John 170 Dostojewski, Fjodor M. 199 Dotzauer, Gregor 12, 18, 20 Draesner, Ulrike 46–48 Drake, Francis 75 Drewitz, Ingeborg 387, 389, 393, 396 Drews, Jörg 13 Duden, Anne 99, 104 Dürer, Albrecht 260 Dunant, Henri 51 Dutschke, Rudi 351, 352 Eagleton, Terry 383 Eckermann, Johann Peter 241
406
Personenregister
Eco, Umberto 62, 75, 124, 126, 131, 302 Edschmid, Kasimir 100 Ehrenburg, Ilja 221 Ehrenstein, Albert 186 Eich, Günter 55, 59 Eichendorff, Joseph von 86, 107, 117, 175, 247–251, 253, 254, 258, 259 Eichendorff, Wilhelm von 248 Eichmann, Adolf 55, 70 Einstein, Albert 83, 193 Einstein, Carl 179 Eisenhower, Dwight D. 52 Eisler, Hanns 137 Eissler, Kurt 241 Eliot, Marc 30 Eliot, T.S. 131, 276, 299 Elliott, William Yandell 154 Elsner, Gisela 60 Emerson, Ralph Waldo 93, 145, 146 Emrich, Wilhelm 236 Endres, Ria 99 Engel, Erich 169 Engelhardt, August 25, 26, 27 Enzensberger, Hans Magnus 34, 60, 129, 130, 241, 276, 288, 299, 308, 316, 324–337, 351, 368, 388 Erasmus von Rotterdam 261, 284, 310, 315, 366 Erb, Elke 60 Erhard, Ludwig 52 Erhart, Walter 16 Erikson, Erik H. 370 Erlenberger, Maria 104 Erpenbeck, Fritz 137, 138 Estain, Giscard d’ 279, 288 Fallada, Hans 46 Faschinger, Lilian 56 Faulkner, William 132 Febvre, Lucien 320 Feuchtwanger, Lion 55, 137, 157, 305 Feuerbach, Ludwig 349 Fichte, Hubert 38, 74, 81, 331, 387, 395 Fichte, Johann Gottlieb 245, 252, 253, 312 Fiedler, Leslie 34, 119, 122–124, 382 Finger, Evelyn 14, 20 Fischer, Joschka 288 Fisher, Dorothy Canfield 154
Fitzgerald, F. Scott 290 Fleischmann, Lea 99 Flake, Otto 151 Flesch-Brunningen, Hans 186 Flex, Walter 342 Fokkema, Douwe 120 Fontane, Theodor 43, 46, 250, 269, 270, 366 Forsayth-Coe, Emma 27 Forster, Georg 71, 331 Forte, Dieter 51–53, 64 Foscolo, Hugo 256, 359 Foucault, Michel 128, 193, 194, 254 Fouqué, Friedrich de la Motte 107, 249, 256 Fouqué, Caroline 255 Fox, Thomas 17 Francis, David 353–356 Frank, Bruno 186 Frank, Leonhard 341 Franklin, Benjamin 290 Franklin, John 103 Franz Ferdinand (Erzherzog) 142, 341 Fraser, Nancy 382 Freisler, Roland 27 Freud, Sigmund 128, 166, 208 Freundlich, Elisabeth 186 Freyre, Gilberto 390 Frick, Werner 20 Fried, Alfred H. 341 Fried, Erich 186 Friedrich, Caspar David 255, 344 Frischauer, Paul 160 Frischmuth, Barbara 18, 56, 94–97, 194, 211, 276, 294–296, 299, 300, 307, 331 Fritchman, Stephen 147, 148 Fritsch, Gerhard 219 Froeschel, George 140 Frühwald, Wolfgang 103 Fry, Varian 146 Fuentes, Carlos 62, 132, 194, 211, 385, 390 Fukuyama, Francis 122 Fuller, Margaret 290 Gaddis, William 193 Galilei, Galileo 138 Garbo, Greta 140 García Lorca, Federico 73 García Márquez, Gabriel 369
Personenregister
Gass, William 41 Gauss, Christian 154 Gauss, Karl Markus 300, 308 Genazino, Wilhelm 17 Genette, Gérard 4 George, Stefan 166, 254 Gerlof, Manuela 397 Gernhardt, Robert 35 Gide, André 122, 183, 184, 192, 276 Gilcher-Holtey, Ingrid 350 Giordano, Ralph 64 Girke, Raimund 43 Giroud, Françoise 329 Goebbels, Joseph 49, 50, 141, 143, 237 Göring, Hermann 141 Görres, Joseph 215, 242, 245, 248, 249, 312, 333 Görtz, Franz Josef 17, 18 Goethe, August 241 Goethe, Johann Wolfgang 1, 33, 48, 49, 69, 71, 72, 77, 78, 88, 109, 145, 165, 175, 199, 232–242, 247, 249, 252, 253, 257, 258, 260, 262, 269–271, 283–285, 313, 331, 366, 367, 369 Götz, Rainald 60, 104 Goffman, Erving 374 Gogh, Vincent van 101 Goldoni, Carlo 77 Goll, Claire 190 Goll, Ivan 221 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 329 Gottsched, Johann Christoph 272 Goya, Francisco de 70 Graf, Oskar Maria 186 Grass, Günter 17, 33, 38, 44, 46, 51, 52, 59, 60, 74, 127, 129, 130, 133, 178, 300, 307, 316, 329, 331, 387, 388, 393, 394, 396 Greenberg, Clement 4, 34, 122 Greiner, Ulrich 11, 14, 20 Grengg, Maria 219 Grimm, Jakob 73, 114, 252, 258 Grimm, Wilhelm 73, 114, 252, 258 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 106 Grimminger, Rolf 100 Groos, Karl 294 Grosz, George 137
407
Grünbein, Durs 16, 17, 20, 60, 307 Gstrein, Norbert 301 Guattari, Félix 124, 128, 376 Günderode, Karoline von 255 Guevara, Che 36, 351 Haarmann, Hermann 137–139 Haas, Willy 189, 337 Habermas, Jürgen 122, 128, 296, 302, 303, 305, 351, 382 Habsburg, Otto 186 Hädecke, Wolfgang 13 Händler, Ernst-Wilhelm 194 Haerdter, Michael 324 Hafis 367 Hafner, Johann Ev. 229 Hafner, Philipp 73 Hage, Volker 4, 14, 17, 21, 63–65 Hagen, Friedrich von der 258 Hahl, Albert 27 Haladsch al Mansur 297 Hall, Peter 229 Hallstein, Walter 288 Halsey, Edward 25 Handke, Peter 17, 60, 81, 124, 127, 130, 133, 193, 308 Hanenberg, Peter 20 Harden, Maximilian 2 Hardt, Petra 17 Harnack, Adolf 355 Hartung, Gustav 222 Hartwig, Ina 12, 18, 20 Haslinger, Josef 16, 56 Hassan, Ihab 119, 120, 200, 205, 336, 382 Hassel, Inge von 170 Hassel, Ulrich von 169 Hauff, Wilhelm 53 Hauptmann, Elisabeth 137 Hauptmann, Gerhart 11 Hauser, Kaspar 51 Havel, Václav 276, 306, 323 Hawthorne, Nathaniel 290 Hay, Julius 186, 188 Hearn, Lafcadio 175 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 122, 127, 130, 258, 381
408
Personenregister
Heidegger, Martin 3, 128, 166, 167, 189, 190, 251, 254 Heidenreich, Elke 8 Hein, Christoph 16, 41–44 Heine, Heinrich 247, 254, 258–269, 276, 286, 287, 304, 314, 331 Heise, Hans-Jürgen 387, 390, 392 Heißenbüttel, Helmut 127 Heltau, Michael 224 Hemingway, Ernest 80, 290 Henisch, Peter 115 Henri IV (franz. König) 245, 246, 279, 280, 311, 315 Herdan-Zuckmayer, Alice 171, 172 Herder, Johann Gottfried 50, 252, 367 Herles, Wolfgang 8 Hermann der Cherusker 256 Herz, Henriette 255 Herzfelde, Wieland 137, 186 Herzog, Anja 224 Hesse, Christoph 137, 139 Hesse, Hermann 26, 27, 77, 117, 189, 250, 318, 328, 366 Hessel, Franz 67 Heuss, Theodor 52 Hieber, Jochen 13 Hilbig, Wolfgang 35, 82 Hildesheimer, Wolfgang 81, 132 Hiller, Kurt 260, 261 Hilsenrath, Edgar 124 Himmler, Heinrich 141 Hinck, Walter 13, 44–46 Hinderer, Walter 13 Hitler, Adolf 25–27, 49, 51, 56, 63, 73, 95, 114, 133, 139, 140, 141, 143, 146, 147, 149–156, 158, 164, 168, 169, 173, 176, 178, 183–190, 197, 206–216, 218, 254, 272, 296, 297, 301, 316, 319 Hoboken, Anthony van 172 Hochhuth, Rolf 64, 300, 307 Hodenberg, Christina von 350 Hölderlin, Friedrich 11, 54, 104, 255, 319 Höllerer, Walter 62, 351, 352 Hörbiger, Maresa 224 Hoesslin, Manfred von 237 Hoesterey, Ingeborg 120 Hoffer, Klaus 18
Hoffmann, E.T.A. 27, 107, 249, 253, 256 Hoffmann, Gerd E. 75 Hoffmann, Rainer 14 Hofmann, Gert 81, 99, 109–116, 131, 178, 179, 302 Hofmann, Michael 16 Hofmannsthal, Hugo von 77, 78, 175, 195, 250, 276, 277, 317–320, 328 Hohenlohe, Stefanie 141 Homer 165 Homuth, Karl 323 Honecker, Erich 73, 251, 329 Honigmann, Barbara 18, 20, 72–74, 94 Hoover, Edgar 30 Hopkins, Leroy T. 18 Horaz 271 Horkheimer, Max 122, 255, 381 Horváth, Ödön von 186, 187, 223 Hu, Jintao 348 Huchel, Peter 77 Hürlimann, Thomas 300, 307 Hugo, Victor 242, 276, 287, 299, 304, 305, 326, 365 Humboldt, Alexander von 25 Hume, David 370 Huntington, Samuel P. 295, 309 Husserl, Edmund 128, 167, 370 Hutcheon, Linda 120, 132, 367, 382, 383, 386 Huxley, Aldous 189, 192 Huyssen, Andreas 120 Ibn Arabi 297 Ibn Rushd 297 Ihering, Herbert 137 Innerhofer, Franz 219 Iser, Wolfgang 125 Jacobi, Hansres 11 Jacobsen, Wolfgang 144 Jaeckle, Erwin 320 Jahnn, Hans Henny 60 James, Henry 290 Jameson, Fredric 122, 367, 368, 382, 383 Jandl, Paul 14 Jacques-Dalcroze, Émile 180 Jaspers, Karl 190 Jászi, Oscar 155
Personenregister
Jauss, Hans Robert 125 Jean Paul 272 Jefferson, Thomas 145, 290, 346, 353 Jelinek, Elfriede 16, 17, 46, 99, 124 Jencks, Charles 41, 119, 343, 382 Jens, Walter 300 Jesus 115, 166, 167, 334 Jirgl, Reinhard 85, 319 Johannes (Evangelist) 33, 166, 229, 231, 334, 366 Johnson, Alvin 154 Johnson, Lyndon B. 32 Johnson, Philip 41 Johnson, Uwe 11 Jonas, Anna 330 Joyce, James 34, 43, 122, 126, 132, 189, 192, 195, 198, 208, 209, 221 Judas 167 Jünger, Ernst 59, 174, 183, 254, 276, 305, 315, 342 Jung, Carl Gustav 128, 193, 200 Jung, Franz 254 Jungen, Oliver 14 Jungk, Peter Stephan 28–32 Jussim, Lee 370 Kadir, Djelal 385, 386 Kässens, Wend 14 Kästner, Erich 67 Kafka, Franz 27, 44, 87, 122, 165, 191, 376 Kafka, Hans 140 Kahler, Erich von 190, 192 Kahlert, August 247 Kandt, Richard 25, 39 Kant, Hermann 329 Kant, Immanuel 209, 245, 272, 282, 283, 285, 303, 312, 355 Kapczynski, Jennifer M. 20 Kapuscinski, Ryszard 36 Karasek,, Helmut 7 Karl der Große 265, 267, 284, 312 Kasack, Hermann 180, 190 Kaschnitz, Marie Luise 59 Kassner, Rudolf 318 Kaus, Gina 140 Keats, John 256 Kehlmann, Daniel 3, 25, 35
Keller, Gottfried 27, 117 Kellner, Douglas 380 Kellog, John 25 Kemper, Hans-Georg 120 Kempowski, Walter 64 Kennedy, John F. 154, 162 Kepler, Johannes 167 Kerr, Alfred 2, 6 Kessler, Michael 14 Kesten, Hermann 218 Keyserling, Hermann Graf 318 Khalil, Iman O. 18 Kiepenheuer, Gustav 180 Kiesel, Helmuth 13 Kinder, Anna 16 Kippenberg, Anton 241 Kipphardt, Heinar 62, 104 Kirchhoff, Bodo 387, 389, 395 Kiš, Danilo 330 Kisch, Egon Erwin 331, 341 Klages, Ludwig 219 Klapdor, Heike 144 Klein, Oskar 52 Klein, Yves 43 Kleist, Heinrich von 83, 87, 104, 115, 229–232, 249, 253, 255, 258 Kling, Thomas 60 Klinger, Max 354 Klopf, Anne-Dorothea 397 Klopstock, Friedrich Gottlieb 38, 71 Klüger, Ruth 12, 13, 161–165 Kluge, Alexander 64, 65, 133 Knigge, Adolph 54 Knott, Suzuko Mousel 20 Köhler, Andrea 11, 18, 20 Königsdorf, Helga 82 Köpf, Gerhard 81 Köppen, Edlef 180 Koeppen, Wolfgang 51, 62, 77, 178, 331 Körner, Theodor 248 Kogon, Eugen 278 Kohlhaas, Rem 343 Kohn, Hans 155 Kohner, Paul 139–141, 143 Kohout, Pavel 330 Konfuzius 349
409
410
Personenregister
Konrád, György 82, 276, 299, 306, 328, 330, 333 Konstantin (röm. Kaiser) 277 Koopmann, Helmut 7 Korsakow, Sergei 57 Kortner, Fritz 140, 143, 144 Košenina, Alexander 20 Koslowski, Peter 120 Kracht, Christian 25–27, 302 Kramer, Theodor 186 Krass, Stephan 20 Kraus, Karl 2, 191, 210, 213 Krause, Tilman 12 Kraushaar, Wolfgang 350 Krauß, Angela 16, 20, 82–93 Krechel, Ursula 17, 18 Kreisky, Bruno 188 Kreuder, Ernst 59 Kristeva, Julia 128 Kroetz, Franz Xaver 387, 389, 391 Kronberg, Simon 179–182 Krüger, Michael 127 Krull, Wilhelm 341, 342 Kühn, Dieter 48–50, 104, 129, 133 Kühn, Dorothea 240 Kürten, Peter 51 Kuhn, Thomas S. 119 Kundera, Milan 62, 81, 82, 127, 131, 194, 211, 276, 299, 306, 328 Lacan, Jacques 128 Laclau, Ernesto 382 Laederach, Jürg 331 Lämmert, Eberhard 235 Laemmle, Carl 139 La Fayette, Marie Joseph de 265 Lamennais, Félicité Robert de 262 Lamszus, Wilhelm 341 Lander, Jeannette 99 Lang, Roland 115 Langgässer, Elisabeth 190, 219 La Rochelle, Drieu 183 Lasker-Schüler, Else 224 Latzko, Andreas 341 Laughton, Charles 138 Ledig, Gert 64 Le Fort, Gertrud von 219
Leibniz, Gottfried Wilhelm 280–283 Lenz, Hermann 178, 179 Lenz, Jakob Michael Reinhold 104, 114, 352 Leonard, Mark 291 Leopold II (König von Belgien) 37 Lepenies, Wolf 6 Lepper, Marcel 16 Le Rider, Jacques 120 Lessing, Gotthold Ephraim 148, 272 Lessing, Theodor 318 Leuschner, Wilhelm 169 Levering, Harold 147, 148 Levi, Primo 164 Levin, Rahel 255, 259 Levita, David J. de 373 Lewald, Theodor 354 Lewis, Meriwether 353 Liebrand, Claudia 17 Limbach, Jutta 235 Lincoln, Abraham 145 Linde, Otto zur 317 Lindtberg, Leopold 137 Lion, Ferdinand 260, 261, 308 Livingstone, David 37 Livius 284 Lochner, Stefan 260 Loeben, Otto Heinrich von 248 Löffler, Sigrid 7 Loerke, Oskar 180 Loetscher, Hugo 38, 60, 387, 390 Löwenstein, Hubertus Prinz zu 160 Loher, Dea 34 Loos, Adolf 343 Lothar, Ernst 186 Louis Philippe (franz. König) 261, 264, 265 Lovecraft, H. P. 27 Lovenberg, Felicitas von 8 Ludwig XIV. 183, 265, 281 Ludwig XVI. 71 Lüdke, Martin 8, 14 Lützow, Ludwig Adolf Wilhelm von 248 Lützow, Max 26 Luhmann, Niklas 59, 371, 382 Lukács, Georg 122, 123, 126, 199 Lukas (Evangelist) 231, 334 Lustig, Jan 140 Luther, Martin 51, 148, 256, 284, 366
Personenregister
Lutz, Helmut 278 Lykurgos 243 Lyotard, Jean-François 34, 120, 122, 128, 200, 205, 296, 306, 336, 367, 382 Magris, Claudio 365, 366 Mahler, Anna 196 Malcolm X 350 Mallarmé, Stéphane 122 Malraux, André, 183 Mandela, Nelson 393 Mangold, Ijoma 9, 397 Mann, Angelica 146 Mann, Elisabeth 154 Mann, Frido 146, 148 Mann, Golo 146 Mann, Heinrich 44, 51, 140, 141, 144, 152, 182–184, 279, 280, 299, 304, 305, 314, 326, 328 Mann, Klaus 140, 141, 144, 146, 152, 157, 183, 305 Mann, Thomas 35, 44, 52, 64, 70, 77, 80, 81, 122, 126, 137, 141, 144–156, 160, 168, 175, 182, 189, 201, 209, 218, 232, 233, 250, 254, 270, 272, 276, 287, 301, 305, 308, 328, 331, 366 Manson, Charles 69 Manthey, Jürgen 13 Manzoni, Alessandro 256 Mao Tse-tung 343, 351 Marck, Siegfried 184 Marcuse, Herbert 254 Maria Stuart 49 Maria Theresia 225 Markus (Evangelist) 232 Maron, Monika 64 Marshall, George 170 Martí, José 390 Martin, Karlheinz 169 Martínez, Matías 16 Martini, Fritz 13 Marx, Julius 143 Marx, Karl 122, 128, 130, 254, 349 Mastroianni, Marcello 193 Matt, Beatrice von 11, 13, 18 Matt, Peter von 7 Matthäus (Evangelist) 115
411
Mazarin, Jules de 246 Mazzini, Giuseppe 276, 299, 305 McCarthy, Joseph 30, 147 McClintock, Anne 386 McGlothlin, Erin 20 McHale, Brian 120, 131 Mechtel, Angelika 38, 74–76 Meckel, Christoph 115, 251 Mehring, Walter 186, 218 Meier-Graefe, Annemarie 14 Melanchthon, Philipp 38 Melville, Herman 27 Menasse, Robert 56, 276, 325 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 247 Metternich, Clemens von 94, 238, 254, 267, 303, 305 Mettler, Hans Jörg 328 Meyer, Agnes E. 150 Meyerbeer, Giacomo 264 Michaelis, Rolf 11 Mickiewicz, Adam 276 Mierendorff, Carlo 169 Mies van der Rohe, Ludwig 34, 343 Miljanović, Ana 195 Miller, Henry 290 Miller, Norbert 4, 6 Minetti, Bernhard 236 Mirabeau, Honoré de 265, 267 Mitscherlich, Alexander 177–179, 351 Mitscherlich, Margarete 177–179 Mitterand, François 393 Mittler, Leo 142, 143 Miyoshi, Masao 368 Mörike, Eduard 247 Molina, César Antonio 13 Molo, Walter von 151 Moltke, Freya von 170 Moltke, Helmuth James Graf von 169 Mommsen, Katharina 232–235 Monnet, Jean 288, 325, 326 Monroe, James 319 Montaigne, Michel de 5 Montessori, Maria 154 Montgomery, Robert 151 Moreau, Jeanne 193 Morgan, Henry 75 Morgenstern, Soma 186
412
Personenregister
Morin, Edgar 306 Moritz, Karl Philipp 109 Morrison, Jim 73 Morrison, Toni 369 Morshäuser, Bodo 67–69 Moscherosch, Johann Michael 28 Mosebach, Martin 35 Moses 33, 243, 244 Mouffe, Chantal 382 Mozart, Wolfgang Amadeus 55 Mühlen, Hermynia zur 186 Müller, Adam 232, 249 Müller, Friedrich von 240 Müller, Heiner 34, 35, 60, 62, 124, 133, 329 Müller, Herta 17, 46, 124, 129, 161 Münsterberg, Hugo 355 Müntzer, Thomas 51 Mukherjee, Bharati 385 Mulisch, Harry 65 Mumford, Lewis 147, 154 Mundt, Theodor 248 Munzinger, Werner 25 Muschg, Adolf 60, 276, 279, 289, 297, 299, 300, 302, 316, 331 Musil, Robert 52, 56, 81, 122, 126, 186, 187, 191, 192, 209, 272 Mussolini, Benito 49, 154 Nadolny, Sten 18, 94, 102, 103, 125, 126, 129, 130 Nagel, Gustav 25 Naipaul, V.S. 194 Napoleon 49, 238, 241, 242, 246, 248, 253, 255, 257, 258, 263, 265, 267, 272, 285, 291, 297, 303, 311–317, 353 Nascimento, Abdias do 385, 390 Naumann, Friedrich 319 Nawrocka, Irene 171 Necker, Jacques 248 Neilson, William Allan 154 Neumann, Alfred 140 Neumann, Robert 187 Neumeister, Andreas 124, 127 Newcomb, Simon 355 Newman, Charles 120 Nicholson, Linda 382 Nickel, Gunther 1, 8, 171, 172, 174
Niebuhr, Renhold 154 Niemann, Norbert 58–61 Nietzsche, Friedrich 6, 77, 128, 132, 144, 183, 251, 254, 272, 276, 287, 307, 314, 315, 318 Nizon, Paul 18, 38, 100, 101, 211 Nossack, Hans Erich 59, 64 Noth, Ernst Erich 184 Novalis 242, 245, 248, 249, 252, 255, 276, 279, 280, 282–285, 299, 311–317 Ören, Aras 94, 99 Özdamar, Emine Sevgi 16, 94, 302 Offenbach, Jacques 30 Ohlbaum, Isolde 229 Olbrich, Joseph 354 Omar Chaijam 296, 297 Ortega y Gasset, José 276, 299 Ortheil, Hanns-Josef 17, 18, 77–82, 103, 120, 124, 126, 178 Osterkamp, Ernst 13 Otten, Carl 179 Otway, Thomas 77 Overbeck, Ida 6 Ovid 138, 284 Oz, Amos 330 Pamuk, Orhan 297, 298 Pannwitz, Rudolf 179, 317–320 Paul, Angus 13 Paul, Bruno 354 Pauli, Hertha 186, 188 Paz, Octavio 390, 392 Pazarkaya, Yüksel 18 Pedretti, Erica 18, 60 Pelinka, Anton 192 Pellicer, Carlos 385, 390 Peltzer, Ulrich 60 Pelz, Annegret 17 Périer, Casimir 264, 265 Petersdorff, Dirk von 35 Pfeiffer, Martin 168 Pfemfert, Franz 180 Pfitzner, Hans 247 Piaf, Edith 100 Piavene, Guido 331 Picasso, Pablo 34
Personenregister
Pick, Robert 192 Pindar 271 Piovene, Guido 77 Piscator, Erwin 137, 138 Planck, Max 83 Platon 166, 242, 366 Plessen, Elisabeth 53–55, 115, 178 Plinius major 284 Polgar, Alfred 2, 186, 187 Politzer, Heinz 162 Pommer, Erich 169 Popper, Karl 167 Pound, Ezra 81 Pratt, Mary Louise 387 Preminger, Otto 225 Prendergast, Christopher 6 Presley, Elvis 251 Prinz Eugen 225 Pross, Harry 186, 211 Protopopow, Oleg Alexejewitsch 84 Proust, Marcel 126 Przygode, Wolf 180 Puschkin, Alexander 256 Pynchon, Thomas 93, 126, 129 Raabe, Wilhelm 163 Rabinovici, Doron 56–58 Rade, Susanne 397 Radisch, Iris 7, 11 Rajan, Rajeswari Sunder 385 Ramirez, Sergio 390 Ramuz, C.F. 221 Ransmayr, Christoph 35, 124, 129, 131, 133, 328 Rathgeb, Eberhard 58–61 Rauch, Neo 344 Rauschning, Hermann 215 Reagan, Ronald 32, 327 Rectanus, Mark W. 19, 20 Redlich, Josef 319 Reed, Dean 251 Reger, Erik 223 Rehner, Caroline 397 Rehrmann, Norbert 323 Reich-Ranicki, Marcel 7, 8, 9, 12, 65, 163 Reid, T.R. 291 Reisch, Walter 140
413
Reisiger, Hans 144 Remarque, Erich Maria 64, 143, 157, 168 Renner, Rolf G. 120 Renoldner, Klemens 224 Richardson, Samuel 72 Richelieu, Armand-Jean du Plessis 246 Richle, Urs 124 Richter, Gerhard 344 Richthofen, Manfred von 342 Riemer, Friedrich Wilhelm 241 Riesner, Ann-Marie 397 Rifkin, Jeremy 290, 291 Rilke, Rainer Maria 77, 116, 175 Rinser, Luise 387, 394 Rizzo, Roberto 190 Roberts, David 17 Robertson, Roland 368 Robespierre, Maximilien de 70, 71 Roes, Michael 302 Rogers, Fanny 196 Rolland, Romain 183, 276, 301, 304 Roosevelt, Ann Eleanor 152 Roosevelt, Franklin D. 149, 150, 151, 153, 154, 214 Roosevelt, Theodore 353, 354 Rorty, Richard 302, 303, 382, 384 Rosei, Peter 77 Rosenberg, Alfred 184 Rosendorfer, Herbert 77 Rosenlöcher, Thomas 85 Roth, Gerhard 64 Roth, Joseph 140–142, 144, 186, 331 Rougemont, Denis de 183 Rousseau, Jean-Jaques 71, 72, 243, 276, 282 Roussel, Martin 397 Rühmkorf, Peter 60, 251 Ruete, Emily 37 Ruete, Rudolph Heinrich 37 Rufin, Jean-Christophe 306 Ruge, Arnold 305 Rulfo, Juan 390 Rumi 297 Runge, Erika 387, 393 Runge, Philipp Otto 255 Rushdie, Salman 62, 133, 297, 369, 385 Rutschky, Michael 387 Ryan, Judith 17
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Personenregister
Saarinen, Eero 41 Sachs, Nelly 59 Safranski, Rüdiger 251–256 SAID 302 Said, Edward W. 367, 368, 385 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 6 Saint-John Perse 304 Saint-Just, Louis Antoine de 70 Saint-Pierre, Abbé de 276, 281–283, 285, 299, 303, 305, 312 Saint-Simon, Claude Henri de 263, 268, 276, 285, 286, 299, 303, 305 Salamander, Rachel 12 Salomon, Bruno 141 Salomon, Ernst 141 Salvemini, Gaetano 155 Sartre, Jean-Paul 80, 370 Sassmann, Hanns 225 Savater, Fernando 302 Scarpa, Antonio 359 Schädlich, Hans Joachim 330 Schallück, Paul 59 Schami, Rafik 94, 302 Schaxel, Hedwig 195 Scheck, Denis 9 Scheel, Kurt 12 Schelling, Friedrich Wilhelm 272 Schenkendorf, Max von 294 Scherpe, Klaus W. 120 Schewig-Pfoser, Kristina 185, 188 Schickele, René 179, 221, 328 Schildt, Axel 350 Schiller, Friedrich 48–50, 77, 165, 232, 238, 240–246, 251–253, 259, 283 Schindler, Rudolph M. 41 Schlant, Ernestine 177–179 Schlegel, August Wilhelm 252, 255–257 Schlegel, Caroline 72, 252, 255 Schlegel, Dorothea 65, 249, 255 Schlegel, Friedrich 6, 62, 73, 232, 245, 249, 252, 253, 255, 256, 312, 313 Schleiermacher, Friedrich 253 Schlick, Moritz 198 Schlink, Bernhard 17 Schmeling, Manfred 368, 369 Schmid, Thomas 323 Schmidt, Arno 59
Schmidt, Jochen 271, 272 Schmidt, Kathrin 16 Schmidt-Dengler, Wendelin 7, 13, 16, 17 Schmitz-Emans, Monika 369 Schneider, Eulogius 70, 71 Schneider, Michael 70–72 Schneider, Peter 18, 20, 38, 67, 104, 178, 276, 316, 328, 330, 350–352, 387, 388, 392 Schneider, Reinhold 219, 276, 288, 299, 308 Schnitzer, Eduard 37 Schnitzler, Arthur 77, 175 Schoeck, Othmar 247 Schönberg, Arnold 34 Scholl, Hans 49 Scholl, Inge 170 Scholl, Sophie 49 Schopenhauer, Arthur 144, 251 Schopenhauer, Johanna 258 Schostack, Renate 20 Schröder, Gesine 144 Schrön, Johanna 171 Schulz, Gerhard 256–258 Schulze, Ingo 60 Schumann, Robert 247, 248 Schurz, Carl 356 Schuschnigg, Kurt 213, 219 Schuster, Gerhard 320 Schutting, Jutta 115 Schwager, Ernst 185, 188 Schwaiger, Brigitte 104, 115 Schwarz, Dorle 176 Schwarz, Egon 13, 157, 159, 174–177 Schwencke, Olaf 324 Schwengel, Hermann 323 Schwerdtfeger, Inge 235 Scott, Walter 70, 256, 269, 270 Sealsfield, Charles 269, 366 Sebald, W.G. 17, 51, 63, 65, 178 Seelig, Carl 212, 222 Seghers, Anna 46, 157 Seidel, Annemarie 172–174 Seligmann, Rafael 94 Sell, Hans Joachim 387–389 Semprun, Jorge 131 Senghor, Léopold Sédar 385 Şenocak, Zafer 296, 298
Personenregister
Servet, Michel 146 Seume, Johann Gottfried 331 Shakespeare, William 77, 142, 165, 256, 272, 337 Shelley, Percy Bysshe 256 Siebenpfeiffer, Philipp Jacob 266 Sieburg, Friedrich 183 Siegfried, Detlef 350 Silcher, Friedrich 247 Singelmann, Karsten 99 Singh, Khushwant 194 Siodmak, Curt 140 Sittewalt, Philander von (siehe: Moscherosch, Johann Michael) Sloterdijk, Peter 104, 300, 306, 316 Small, Albion 355 Sørensen, Villy 192, 211 Sokrates 166, 167 Solf, Hanna 27 Solf, Wilhelm 27 Solon 243 Sombart, Werner 355 Somoza DeBayle, Anastasio 389, 391 Sontag, Susan 34, 124, 194, 330, 382 Spaak, Paul Henri 288 Späth, Gerold 81, 105–107, 127, 129 Sparschuh, Jens 82, 85 Spengler, Oswald 183, 198, 199 Spiel, Hilde 187 Spivak, Gayatri Chakravorty 367, 385 Stadler, Arnold 20 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 241, 248, 255, 291, 331 Stalin 52, 153, 184 Stamm, Sara 70 Stanley, Henry Morton 37 Steckel, Leonard 222 Steffens, Günter 104 Stein, Charlotte von 241 Steinecke, Hartmut 269, 270 Steiner, George 13, 48, 110, 165–168 Steiner, Herbert 185 Steinert, Hajo 20 Steinmetz, Otto 237 Steinsdorff, Ulrich 341 Steinwachs, Ginka 99 Steinwendtner, Brita 14, 16, 18
415
Stiassny, Alfred 375 Stifter, Adalbert 33 Stolz, Dieter 4, 6 Storz, Claudia 104 Strauß, Botho 130, 328 Strauss, Richard 247 Streeruwitz, Marlene 56, 60 Stresemann, Gustav 182 Stroheim, Erich von 140 Stroux, Karl Heinz 169 Struck, Karin 104 Suchy, Viktor 185 Süskind, Patrick 126, 127, 131 Suhrkamp, Peter 137, 139, 170, 172, 173 Sully, Maximilien de 276, 279, 280, 281, 283, 285, 303, 305, 311, 312, 314 Sundermeier, Jörg 3, 5 Suttner, Bertha von 276, 341 Svevo, Italo 221 Swedenborg, Emanuel 27 Szczypiorski, Andrej 306 Tanner, Michael 13 Tate, Sharon 69 Taufiq, Suleman 94 Tawada, Yoko 20, 94, 302 Taylor, Charles 296, 368, 380 Tennyson, Alfred 27 Than, Josef 143 Thierry, Augustin 268, 285, 286, 303 Thiess, Frank 151, 225, 316 Thomas, Adrienne 186 Thompson, Dorothy 170 Thor, Jesse 186 Thoreau, Henry David 27 Thyssen, Fritz 141 Tieck, Ludwig 252, 256, 284 Timm, Uwe 16, 17, 19, 32–34, 38, 302 Tippu-Tip 37 Tönnies, Ferdinand 355 Torberg, Friedrich 140, 186, 187, 208 TORKAN 94 Traxler, Hans 251 Treichel, Hans-Ulrich 16, 20 Trenker, Luis 143 Troeltsch, Ernst 355 Trojanow, Ilija 25, 302
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Personenregister
Truman, Harry 31 Tucholsky, Kurt 260, 261 Turek, Toni 53 Turner, William 78 Twain, Mark 31, 117, 125, 290 Ueding, Gert 14 Ulbricht, Walter 36, 83 Ullmann, Liv 140 Unger, Adolf 186 Unger, Alfred H. 143 Unruh, Fritz von 218 Unseld, Siegfried 18–21, 238–242 Urzidil, Johannes 186 Vaget, Hans Rudolf 149–152 Valéry, Paul 183 Vargas, Getulio 160 Varnhagen, Rahel 72 Varon, Benno Weiser 156–159 Vattimo, Gianni 120, 302 Veit, Philipp 249 Venturi, Robert 382 Vergil 51, 52, 124, 131, 214, 284 Verne, Jules 88 Vesper, Bernward 115, 178 Viertel, Berthold 197 Viertel, Salka 140 Vietta, Egon 189, 190 Voegelin, Eric W. 194 Vogel, Henriette 232 Vogt, Walter 387, 388, 393 Volta, Alessandro 359 Voltaire 71 Vonnegut, Kurt 65 Vormweg, Heinrich 14, 18 Vulpius, Christiane 241 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 284 Waestberg, Per 330 Wagener, Hans 171 Waggerl, Karl Heinrich 219 Wagner, Richard (Komponist) 144, 254 Wagner, Richard (Schriftsteller) 331 Wagner-Egelhaaf, Martina 16 Walcott, Derek 369 Waldheim, Kurt 97
Waldinger, Ernst 186 Wallas, Arnim A. 179, 180, 182 Wallraff, Günter 389, 391 Walser, Martin 46, 63, 104, 163, 328, 331, 387, 389–391, 396 Walser, Robert 101 Walstra, Kerst 369 Walter, Bruno 247 Walter, Fritz 61 Wapnewski, Peter 13 Weber, Carl Maria von 255 Weber, Marianne 355 Weber, Max 355, 371 Weidermann, Volker 7, 16, 20 Weigand, Hermann J. 192 Weigel, Sigrid 98–100 Weill, Kurt 137 Weinrich, Harald 265 Weinzierl, Ulrich 14, 18, 184–188 Weisenborn, Günther 170 Weiss, Peter 104 Wellershoff, Dieter 46 Welsch, Wolfgang 120, 336, 382 Wen, Jiabao 348 Wenders, Wim 229 Werfel, Franz 184–187 Werner, Anton von 354 Westermann, Christine 7 Wharton, Edith 290 White, Hayden 132 Whitman, Walt 145, 147 Wibmer-Pedit, Fanny 219 Wiechert, Ernst 50 Wieck, Clara 247 Wied, Martina 186 Wiedemann, Conrad 235 Wierlacher, Alois 17 Wilder, Billy 140 Wilder, Thornton 169, 186, 192 Wilhelm II. (Kaiser) 354 Williams, Patrick 386 Williams, Raymond 383 Winckelmann, Johann Joachim 234, 284, 300 Winkelried, Arnold 256 Winkels, Hubert 12, 126 Winkler, Joseph 302 Wirth, Johann Georg August 266
Personenregister
Wissmann, Hermann 37 Wittstock, Uwe 12, 14, 34–35 Wohl, Jeanette 263 Wohmann, Gabriele 107–109 Wolf, Christa 43, 64, 99, 104, 124, 130, 133 Wolf, Felix 222 Wolf, Friedrich 186 Wolf, Hugo 247 Wolf, Victoria 140 Wolff, Karin 235 Wollschläger, Hans 60 Wordsworth, William 242, 255 Wreede, Fritz 137, 138 Wright, Frank Lloyd 154 Yeats, W.B. 124 Yorck, Marion Gräfin 170
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Zech, Paul 341 Zeh, Juli 16, 65–67, 301 Zelter, Carl Friedrich 247 Zenker, Christin 397 Zernatto, Guido 186, 219 Ziegler, Ulf Erdmann 18, 20, 40, 41 Zinner, Hedda 186 Zola, Émile 270 Zorn, Fritz 104 Zuckmayer, Carl 139, 168–174, 186, 223 Zühlsdorff, Volkmar von 160, 170, 195 Zweig, Arnold 137 Zweig, Stefan 6, 146, 160, 180, 187, 260, 261, 276, 305, 315, 328, 331