Projektionsflächen von Adel 9783110463569, 9783110461367

In recent decades, historians have turned their attention to the aristocracy. They have looked at the aristocracy in anc

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German Pages 230 Year 2016

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Inhalt
Vorwort
Vom Olymp in die Diaspora. Einleitung
I. Adel isst. Der gedeckte Tisch als Projektionsfläche
Herrschaftliches Wohnen unter beengten Verhältnissen? Adel und Schloss in Südwestdeutschland 1850-1945
II. ‚Adligkeit‘ in fiktionalen Welten kodiert. Eduard von Keyserlings „Harmonie“ und „Abendliche Häuser“
Die adlige Familie als Phantasma und Schreckbild. Adelstöchter als Buchautorinnen um 2000
Alter Stand in neuen Medien. Adlige Gruppenkommunikation im Internet und ihre Grenzen
III. Moltke, Hindenburg und von Moser. Adlige Netzwerke als Voraussetzung einer Armeekarriere
Adligsein qua Sozialengagement? Praktiken und Deutungen in Autobiografien adliger Frauen um 1900
Adel auf der Flucht – und das Leben danach. Vorüberlegungen zu einer Erfahrungsgeschichte einer speziellen Flüchtlingsgruppe nach 1944 im migrationsgeschichtlichen Kontext
Regionale Verortung adliger Wiedereinrichter als Projektionsfläche von Adel
Adelsarchive im Landeshauptarchiv Schwerin und die Rückkehr der Familien
Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen
Die Autorinnen und Autoren
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Projektionsflächen von Adel
 9783110463569, 9783110461367

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Projektionsflächen von Adel

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 69 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin

Silke Marburg, Sophia von Kuenheim (Hrsg.)

Projektionsflächen von Adel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

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Dieses Papier ist alterungsbeständig nach din / iso 9706. Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Grafik und Druck, München isbn 978-3-11-046136-7 e-isbn (pdf) 978-3-11-046356-9 e-isbn (epub) 978-3-11-046143-5

Inhalt

Vorwort

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Vom Olymp in die Diaspora. Einleitung // Silke Marburg

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I. Adel isst. Der gedeckte Tisch als Projektionsfläche // Josef Matzerath Herrschaftliches Wohnen unter beengten Verhältnissen? Adel und Schloss in Südwestdeutschland 1850-1945 // Daniel Menning II. ‚Adligkeit‘ in fiktionalen Welten kodiert. Eduard von Keyserlings „Harmonie“ und „Abendliche Häuser“ // Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk Die adlige Familie als Phantasma und Schreckbild. Adelstöchter als Buchautorinnen um 2000 // Jochen Strobel Alter Stand in neuen Medien. Adlige Gruppenkommunikation im Internet und ihre Grenzen // Philipp von Samson-Himmelstjerna

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III. Moltke, Hindenburg und von Moser. Adlige Netzwerke als Voraussetzung einer Armeekarriere // Daniel Kuhn

_____ 127

Adligsein qua Sozialengagement? Praktiken und Deutungen in Autobiografien adliger Frauen um 1900 // Monika Kubrova

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Adel auf der Flucht – und das Leben danach. Vorüberlegungen zu einer Erfahrungsgeschichte einer speziellen Flüchtlingsgruppe nach 1944 im migrationsgeschichtlichen Kontext // Alexander von Plato

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Regionale Verortung adliger Wiedereinrichter als Projektionsfläche von Adel // Sophia von Kuenheim

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Adelsarchive im Landeshauptarchiv Schwerin und die Rückkehr der Familien // Kathleen Jandausch

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Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen

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Die Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Adel hat die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten beschäftigt. Antike, Mittelalter, Neuzeit – die Nachfrage hat die Sichtweisen in den vergangenen Jahren allerorts geschärft und manche Diskussion über Epochengrenzen hinweg ermöglicht. Die chronologische Annäherung der Adelshistoriografie an die Gegenwart dagegen ist im Wesentlichen noch zu leisten. Diesen noch ausstehenden Schritt unternimmt der vorliegende Band gemeinsam mit einer Reihe von Autoren aus unterschiedlichen Arbeitsgebieten. Unser Anliegen ist es insbesondere, bei der Entwicklung neuer Perspektiven auf die Sozialgeschichte des 20.Jahrhunderts konzeptionelle Errungenschaften weiterzuentwickeln, dabei insbesondere Valenzen des interdisziplinären Dialogs auszuloten und so nicht zuletzt den Anschluss der Zeitgeschichte an adelshistorische Langzeitbeobachtungen zu unterstützen. Die Grundlage für den vorliegenden Textband sind die Beiträge einer 2011 gemeinsam mit Josef Matzerath veranstalteten Tagung über Adel im 20.Jahrhundert. Diese Konferenz wurde durch die Vereinigung der deutschen Adelsverbände sowie durch das Hessische Staatsarchiv Marburg gefördert. Gerko Freiherr zu Knyphausen und Daisy Gräfin von Arnim trugen zur Ausstattung der Veranstaltung bei. Jannet Fechner stellte den Dokumentarfilm „Im Damenstift“ aus dem Œuvre ihres verstorbenen Mannes, des Regisseurs Eberhard Fechner, zur Verfügung und gestattete die Aufführung im Rahmen der Tagung. Für all diese finanzielle, organisatorische und inhaltliche Unterstützung sagen wir an dieser Stelle nochmals Dank. Unser Kollege Josef Matzerath, der Fragen der Adelsforschung langjährig vorangetrieben und dabei immer wieder wichtige konzeptionelle Impulse gesetzt hat, feiert in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren ihm dazu mit der vorliegenden Publikation. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Beihefte der Historischen Zeitschrift bedanken wir uns herzlich bei Herrn Professor Andreas Fahrmeir, Herrn Professor Hartmut Leppin und dem gesamten Herausgebergremium und ebenso für die

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angenehme Begleitung der Drucklegung bei Herrn Professor Jürgen Müller, Herrn Dr. Eckhardt Treichel und Herrn Konstantin Götschel. Silke Marburg und Sophia von Kuenheim

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Vom Olymp in die Diaspora Einleitung von Silke Marburg

Für die Adelsgeschichte der vergangenen Dekaden war das 20.Jahrhundert ein ganz besonderes Jahrhundert: irgendwann im Verlauf dieses Zeitraumes – dessen war man sicher – hatte der Adel aufgehört zu existieren. Dieses Ende meinte zunächst allerdings nur die soziale Bedeutungslosigkeit beziehungsweise das Ende eines Abstiegs, in dessen Folge Adlige anderen Gruppen und Schichten gesellschaftlich nichts mehr voraus hatten und daher von einer Führungsformation Adel nicht mehr zu sprechen war. Ob mit diesem Ende aber auch die Atomisierung und vollständige Auflösung des Adels verbunden war, blieb zunächst offen. Der Abstieg allein, so die Meinung, stand in derart krassem Widerspruch zur elitären Selbstsicht des Adels, dass allenfalls mit historiografischem Schulterzucken reagiert wurde. Mit der Elitequalität des Adels waren zunächst auch Legitimation und Interesse verflogen, seinen geschichtlichen Weg weiter zu verfolgen. 1 Die sich nur langsam chronologisch vorantastende Diskussion über das tatsächliche Ende des Adels – 1918? 2 oder 1945? 3 oder gar noch später? 4 – konnte unter die-

1 Diese Auffassung stellt eine Besonderheit der deutschen Adelsgeschichtsschreibung dar, vgl. auch Anm.2. Für produktive Irritation sorgte die Rezeption von Monique de Saint Martin, L’Espace de la Noblesse. Paris 1993, dt.: Der Adel. Soziologie eines Standes. (édition discours, Bd. 8.) Konstanz 2003. 2 Dass die verfassungsrechtliche Aufhebung des Adels durch die Weimarer Verfassung 1919 nicht mit dem Ende des Adels gleichzusetzen war, war frühzeitig bewusst, vgl. etwa Walter von Hueck, Organisationen des deutschen Adels seit der Reichsgründung und das Deutsche Adelsarchiv, in: Kurt Adamy/Kristina Hübener (Hrsg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20.Jahrhundert. (Potsdamer Historische Studien, Bd. 2.) Berlin 1996, 19–37. Die historiografische Legitimation wurde allerdings unterschiedlich gesucht. Zunächst argumentierte man, der Adel habe nach dem Absturz aus seiner ehemals elitären Stellung immer noch einen besonders großen, verhängnisvollen Einfluss beim Erstarken des Nationalsozialismus gehabt, so Hans-Ulrich Wehler, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950. Göttingen 1990, 9–18, hier 14, und Heinrich August Winkler, Deutschland vor Hitler. Der historische Ort der Weimarer Republik, in: Walter H.Pehle (Hrsg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1990, 11–30, hier 28. Dem folgt Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 2003. Vgl. weiter Anm.3.

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sen Umständen zu keinem klaren Ergebnis führen. Diese Fragestellung erübrigt sich jedoch automatisch mit einem Perspektivwechsel, demzufolge der Adel in der Moderne nicht mehr primär über seine gruppenbezogene stratifikatorische Mobilität zu begreifen ist. Denn damit geht es nicht mehr um seinen Abstieg oder sein Obenbleiben, sondern es geht um die Frage, in welcher Weise unter den Bedingungen der Moderne Adel überhaupt existierte, wie diese Gruppe sich samt ihrer traditionalen Legitimation auch weiterhin reproduzierte und dabei immer neu erfand. Aus dieser Sicht muss „Adel“ weder „oben“ sein noch ausnahmslos „unten“, um das historiografische Interesse zu fesseln. 5 Es bedarf auch keiner bestimmten Quote an Ritterguts-

3 Heinz Reif bestätigte das Jahr 1945 als den bereits von Hans Rosenberg postulierten Endpunkt einer „tausendjährigen“ Adelsgeschichte und billigte dem folgenden Geschehen damit lediglich noch epilogische Qualität zu: „Die fast tausendjährige Adelsgeschichte war damit auch in Deutschland endgültig zu Ende gegangen.“ Vgl. Heinz Reif, Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999, 55. Zum selben Zeitpunkt genügte jedoch bereits der legitimatorische Spielraum, den der historiografische „turn“ von der Sozial- zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte mit sich brachte, um adelsgeschichtlichen Fragestellungen nun auch für das ausgehende 20.Jahrhundert Berechtigung zu verleihen, vgl. Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im 20.Jahrhundert. Stuttgart/ München 2000, besonders 28 bzw. 362–396, sowie ders./Monika Wienfort, Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20.Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20.Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004, 1–16, besonders 6–8. Daniel Menning fasste die Zäsur von 1945 als einen Teiluntergang auf, im Zuge dessen sich der von ihm so bezeichnete „Adels-‚Stand‘“ aufgelöst habe, „Adlige“ aber dennoch weiterhin existierten, vgl. Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945. München 2014. Im weiteren chronologischen Fortschreiten der Historiografie entfiel das Szenario des Untergangs gänzlich, etwa bei Michael Seelig, Alltagsadel. Der ehemalige ostelbische Adel in der Bundesrepublik Deutschland 1945/49–1975. (Adelswelten, Bd. 3.) Köln/ Weimar/Wien 2015. 4 Verunsichernd wirkte in der deutschen Forschung die angebliche Gefahr, die als abgelaufen angesehene Lebensdauer des Adels durch fortgesetztes historiografisches Interesse künstlich zu verlängern, vgl. Eckart Conze, Deutscher Adel im 20.Jahrhundert. Forschungsperspektiven eines zeithistorischen Feldes, in: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003.) St. Katharinen 2004, 17–34, hier 30. Für die anderweite europäische Adels- und Elitenforschung spielte diese Überlegung allerdings keine Rolle, vgl. etwa die Beiträge in Yme Kuiper/Nikolaj Bijleveld/ Jaap Dronkers (Eds.), Nobilities in Europe in the Twentieth Century. Reconversion Strategies, Memory Culture, and Elite Formation. (Groningen Studies in Cultural Change, Vol.50.) Leuven 2015. 5 Im Gegensatz zur Adelsforschung, die sich für das sogenannte Obenbleiben des Adels interessierte, widmen sich derzeitige Forschungen in einem Teilprojekt des Tübinger SFB 923 dem „armen Adel“, vgl. Ewald Frie, Armer Adel in nachständischer Gesellschaft, in: Ronald G. Asch/Vázlav Buzek/Volker Trugenberger (Hrsg.), Adel in Südwestdeutschland und Böhmen 1450–1850. Stuttgart 2013, 207–221.

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besitz oder anderer materialisierter Kriterien, von denen aus Adel inhaltlich neu gefasst werden müsste. Vielmehr trägt die hier eingenommene Perspektive der Tatsache Rechnung, dass die soziale Formation in fortschreitendem Maße über Unterschiede auch in Kernbestandteilen des traditionellen Adelsbildes hinweg funktionierte und in der Folge eine Vielfalt von Lebensstilen, Berufsbildern sowie Besitz- und Einkommenslagen integrierte. Die Sozialformation begründete sich nun nicht mehr durch die Gewährleistung bestimmter gesellschaftlicher Funktionen, sondern ermöglichte ihren Mitgliedern Sinnstiftung jenseits der Gravitationskräfte der gesellschaftlichen Felder und deren je eigenen Rationalitäten. 6 Auch wenn eine solche Diversifizierung den Adel vor allem als eines auswies, nämlich als eine unter anderen sozialen Formationen, die auf der Basis hoher Differenziertheit ihrer Glieder existierten und deren Mehrfachvergesellschaftung eine zwingende Voraussetzung beziehungsweise Folge dessen darstellte, bedurfte es doch einiger Anstrengung, um ebendiese Formation als ein Forschungsobjekt zu plausibilisieren, an dessen Beispiel über den Wandel der Vergesellschaftungsformen bis in die Gegenwart hinein Wesentliches beobachtet werden kann. Gerade in der Spannung zwischen traditionaler Legitimation einerseits und gleichermaßen notwendiger wie unausweichlicher Adjustierung der Vergesellschaftungsmechanismen andererseits gerieten gruppenbezogene Fokussierungen des Adels wie auch seine Fähigkeit zu einer konturgebenden Abschließung zum Gegenstand des Interesses, quasi zu Aufgaben, deren Gelingen erklärbar war. Die nahezu vernachlässigbare Quantität des Adels richtete sich in der Moderne gesellschaftlich ein. Entsprechend hatte sich auch der historiografische Blick neu auszurichten. Der Punkt des Interesses verschob sich damit endgültig „vom Obenbleiben zum Zusammenbleiben“ des Adels. 7 Der Fokus auf eben dieses Zusammenbleiben ermöglicht auch eine konsequente Langzeitbetrachtung des Adels. Bereits die Befunde von Uneinheitlichkeit auch im

6 Die mehrfachen Schwierigkeiten, die sich gerade die Adelsforschung durch die Orientierung an eindimensionalen Vergesellschaftungsmodellen bereitete, legt ausführlich dar Josef Matzerath, Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation. (VSWG Beihefte, Bd. 183.) Stuttgart 2006, 15–21. 7 Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Obenbleiben zum Zusammenbleiben. Der Wandel des Adels in der Moderne, in: Walter Schmitz/Jens Stüben/Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien und Mitteleuropa. Literatur und Kultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 48.) München 2013, 299–311.

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Adel am Übergang zur Moderne führten zu der Frage nach den Bindekräften, die die Sozialformation zusammenhielten. 8 Trotz des korporativ geprägten Selbstbildes als einer vornehmen und gesellschaftlich höchstrangigen Formation, auf das sich der Adel bezog und auf das Adlige bezogen wurden, waren deutliche Differenzen zwischen den Lebensrealitäten Adliger hinsichtlich ökonomischer Potenz und sozialen Prestiges bereits vormodern zu konstatieren. Das heißt nicht nur „der Adel“ veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte, sondern – so mit Blick auf die longue durée – auch das, was Adel ausmachte, und die Art und Weise, wie Adlige miteinander zu einer sozialen Formation verbunden waren, wandelte sich. Gängige historiografische Zäsuren sind dann hinsichtlich ihrer Relevanz für die Geschichte des Adels nicht mehr per se plausibel und Epochenkonstruktionen von Adelsgeschichte müssen neu ausgelotet werden. Denn diese orientierten sich bisher ganz überwiegend an politischen Zäsuren, schenkten dagegen der für das Funktionieren sozialer Formationen wichtigen Eigenlogik zu wenig Beachtung. So lässt sich auch der Adel des 20.Jahrhunderts im politisch-weltanschaulichen Spektrum nicht eindeutig zuordnen. 9 Besonders plastisch wird dies in der Diskussion über die Rolle des Adels im Nationalsozialismus, die Adlige sowohl in systemtragenden Strukturen verortete als auch im Widerstand. 10 Daher wird die Geschichte der Sozialformation Adel von den Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes nicht den politikgeschichtlich gängigen Dimensionen untergeordnet. Vielmehr belegen die hier versammelten Beiträge,

8 Zuerst wurde diese Fragestellung formuliert von Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts in: dies. (Hrsg.) Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Köln/Weimar/Wien 2001, 5–15. Zur Problemstellung dann ausführlich Matzerath, Adelsprobe (wie Anm.6), sowie Silke Marburg, Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation. Berlin 2008. 9 Dies greift einen Gedanken auf, der für die Adelsgeschichte des19.Jahrhunderts bereits formuliert wurde, vgl. Josef Matzerath, Der Adel und sein Funktionswandel in der Öffentlichkeit, in: Eckart Conze/Wencke Meteling/Jörg Schuster/Jochen Strobel (Hrsg.), Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945. (Adelswelten, Bd. 1.) Köln 2013, 77–91, hier 80–83. 10

Das in der Bundesrepublik Deutschland über lange Zeit dominierende Bild, der Adel habe sich im Wi-

derstand gegen den Nationalsozialismus befunden, dekonstruiert Eckart Conze, Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20.Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum. Bd. 2: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 2.) Berlin 2001, 269–295; ders., Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 51, 2003, 483–508. Entscheidende Verantwortung für den Aufstieg des Nationalsozialismus weist dem Adel hingegen unterschiedslos zu: Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm.2).

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dass Periodisierungen, die die Felder Wirtschaft und Kultur konturieren und die bislang in der Aufmerksamkeit deutlich zurückstanden, bei der alltagsbezogenen Untersuchung sozialer Sinnproduktion deutlich an Interesse gewinnen. Um an diesem Punkt die Periodisierung der Adelsgeschichte weiter zu hinterfragen und zunächst die teils weitreichenden Implikationen gängiger Epochenkonstruktionen zur Disposition zu stellen, entschlossen sich die Herausgeberinnen, das 20.Jahrhundert als ein „langes“ anzugehen und die Herausbildung der Konsumgesellschaft ab circa 1880 ebenso einzubeziehen wie die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende, mit Hilfe derer sich der Weg gerade des Adels in der Bundesrepublik nach dem Ende der deutschen Teilung besser erkennen lässt. 11 Wenn insbesondere die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts und das beginnende 21.Jahrhundert in die Adelsgeschichte einbezogen werden, so kann dies auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht geschehen, ohne zunächst einen deskriptiven Anspruch zu befriedigen. Vielfach handelt es sich noch immer um erste Erkundungen. Annäherung und Nachforschung, das Aufsuchen „des Adels“ gehören dazu. Um dennoch unterschiedlich arbeitenden Forschern unabhängig von ihren jeweiligen Modellvorstellungen gesellschaftlichen Wandels sowie angesichts methodischer Vielfalt eine konzeptionelle Basis anzubieten, die es ihnen erlaubt, ihre Erkenntnisse und Sichtweisen über Adel im 20.Jahrhundert miteinander zu diskutieren, schlugen die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes den Teilnehmern einer Tagung, die vom 2. bis 4.November 2011 in Marburg stattfand, den Begriff der „Projektionsflächen von Adligkeit“ vor. Unter diesem Begriff sollte gemeinsam ins Auge gefasst werden, wie Adlige Objekte und Praktiken auf das Adligsein bezogen. Zunächst: um welche Objekte und Praktiken handelte es sich im Verlauf des 20.Jahrhunderts? Und wie und in welchem kommunikativen Rahmen wurde ihnen Bedeutsamkeit für ein adliges Leben zugeschrieben? In welchem Maß wurden diese Projektionen gesellschaftlich geteilt, so dass solche Objekte und Praktiken als typisch adlig verstanden wurden? Auf welcherlei gesellschaftlichem Haushalt der Objekte beruhten Projektionen von Adel?

11 Den Zeitabschnitt von 1880 bis1930 als „klassische Moderne“ behandelte aus der Perspektive des 19.Jahrhunderts Monika Wienfort, Adlige Handlungsspielräume und neue Adelstypen in der „Klassischen Moderne“ (1880–1930), in: GG 33, 2007, 416–438. Sie ließ dabei allerdings offen, ob und in welcher Weise diese Periodisierung der Sozialformation Adel in spezifischer Weise gerecht wird. Die Kontur der gängigen historiografischen Erzählung vom Abstieg des Adels novelliert diese Annahme jedenfalls nicht.

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Wenn insbesondere in der Warenwelt der Konsumgesellschaft exklusive Verfügbarkeiten für den Adel nicht mehr vorgesehen waren, wie konnten dann im Haushalt der Objekte dennoch Knappheiten erzeugt werden, die die Zuschreibung sozialer Exklusivität ermöglichten? Die Zuschreibungen von Adel miteinander zu teilen, geriet für die schließlich in permanenter Diaspora lebende soziale Formation zum wichtigen Erkennungszeichen, diente der gegenseitigen Verifizierung der Adelsqualität und stellte die Verständigungsgrundlage her, auf der der nie abgeschlossene Prozess der Deutung von Adel fortschreiten konnte. Nur unter der Voraussetzung, dass dieser Prozess fortgesetzt wird, kann Adel weiterhin existieren. In einer Selbstverortung konstatierte der Autor Jonathan Franzen – in seinem Fall für das Feld der Literatur – den Verlust von Autorität seit dem 19. und frühen 20.Jahrhundert und wählte dafür das Bild des Absturzes „vom Olymp in die Diaspora“. 12 Franzen zeichnet nach, welche Kommunikationsstrategien in der Folge dazu dienen, „im Streben nach Substanz angesichts zunehmender Auflösung“ 13 eine soziale Einbindung herzustellen, in der nunmehr Sinnproduktion stattfinden kann. Aus der so konstituierten Gemeinschaft schöpft das Individuum eine spezifische Relevanz. Vor dieser Aufgabe kann man nicht nur einen Autor der Gegenwart sehen, sondern Franzens Bild taugt durchaus ebenso dazu, selbstvergewissernde Momente zu beleuchten, die Adlige im Zuge von Vergesellschaftung erfahren. In analoger Weise bedient nach dem Verlust vormaliger gesellschaftlicher Autorität die fortgesetzte adlige Vergesellschaftung einen Bedarf an individueller Sinnstiftung. Denn die ehemals hoch stratifizierte Sozialformation Adel genießt unter den Bedingungen der Gegenwart nicht mehr den vormaligen Nimbus, sie wird durch Zuschreibungen der Umwelt nicht mehr ausreichend konturiert. Auch die dem Adel zuzurechnenden Individuen müssen sich ihre Bedeutung und Relevanz von ‚Adel‘ in Prozessen der Selbstverortung daher aneignen. 14 Auch hier kristallisieren sich dien-

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Jonathan Franzen, Why Bother? Der Harper’s Essay, in: ders., Anleitung zum Einsamsein. Essays. Rein-

bek 2002, 69–111. 13

Ebd.107.

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Ebendiese Aneignungsprozesse untersucht auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews die Studie

von Sophia von Kuenheim, Adel in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Konstituierung einer Sozialformation (im Abschluss befindliche Dissertation Technische Universität Dresden). Von Kuenheim legt insbesondere die Breite von Interpretamenten dar und belegt damit die Variabilität der Projektionen sozialer Zugehörigkeit zum Adel.

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liche Strategien der Binnenkommunikation heraus, und der Adel findet einen Weg „vom Olymp in die Diaspora“. Zur Drucklegung der Tagungsergebnisse haben sich die Herausgeberinnen entschlossen, die in Frage stehenden Projektionen begrifflich gänzlich vom in der historischen Forschung eingeführten Begriff der Adligkeit zu entkoppeln. So kommt es, dass der Band nun, vom früheren Tagungskonzept abweichend, „Projektionsflächen von Adel“ betitelt ist. Dies soll Missverständlichkeit ausschließen. Auch wenn die unverändert in Frage stehenden Projektionen Teil der alltagskulturellen Praxis sowohl des Adels selbst als auch der Gesellschaft mit dem Adel waren, schrieben sie doch lediglich die Eigenschaft Adel zu, nicht aber Adligkeit. 15 In der sozialen Praxis stellten Projektionen also Relationen der Zuordnung zur Sozialformation her. Hingegen stellen die in klare Schwerpunkte gefassten Idealtypisierungen, die von der historischen Forschung unter dem Begriff „Adligkeit“ propagiert wurden, bereits ein inhaltlich abgeschlossenes Setting von sogenannten „Bedeutungskernen“ dar. Diese relativ generalisierten, quasi „großformatigen“ und damit ausdeutbaren Seme können zwar jeweils fallweise konkretisiert werden – und sie sind dazu von der neueren Adelshistoriografie auch ausgiebig genutzt worden –, sie kalkulieren überdies auch explizit mit der historischen Veränderlichkeit dieser Deutungen in der sozialen Praxis, dennoch verstellt das Modell in seiner festgefügten, allenfalls ergänzbaren Gesamtheit den Blick auf die grundsätzliche Offenheit der in Frage stehenden semantischen Zuschreibungen. Diese Perspektive hat sich aber mehr und mehr als unverzichtbar erwiesen. So können Projektionen von Adel zwar teils nach wie vor auf die Bedeutungskerne der Adligkeit bezogen werden und stellen mitunter auch das Rückgrat von Traditionsbehauptungen dar. In diesem Sinn operieren auch Beiträger des vorliegenden Bandes bei der Erörterung von Projektionen mit dem Begriff Adligkeit. Jedoch zeigt gerade der hier in das späte 20. und anbrechende 21.Jahrhundert unternommene explorative Kursus, dass Projektionen von Adel zuweilen auch deutlich jenseits der Grenzen dieses Paradigmas zu verorten sind. Es ist keinesfalls so, dass diese Deutungen von ‚Adel‘ sich durchweg auf die bekannten Bedeutungskerne der Adligkeit zurückrechnen ließen, sofern man nur bereit ist, zuweilen einen – etwa durch im Verlauf der Zeit eingetretene Bedeutungsverschiebungen – sozusagen „verlängerten Rechenweg“ in Kauf zu nehmen. 15 Der Begriff der Adligkeit wurde nach seiner Einführung zuweilen unscharf verwendet und nun sogar als Synonym für ‚Adligsein‘ aufgefasst bei Seelig, Alltagsadel (wie Anm.3), 27.

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Durchdenkt man die Beiträge des vorliegenden Bandes, dann fallen immer wieder Projektionsvarianten und Variabilitäten auf, die – und dies im Einklang mit den Traditionsbehauptungen der Sozialformation – auf bemerkenswerten semantischen Innovationen beruhen und die sich mit dem Paradigma Adligkeit nicht in Beziehung setzen lassen, ohne es zu konterkarieren. Vor allem im Bereich der Alltagskultur stärkten solche kreativen Momente, die in gemeinsame Projektionen mündeten, systematisch den Lebensnerv der Gruppe, sie waren eine wichtige Voraussetzung für das gegenseitige Auffinden und das Miteinandervergesellschaften Adliger an der Wende zum 21.Jahrhundert. Adlige beziehen sich auch heutzutage bei der Binnenkommunikation häufig auf Codes, die als ‚kultiviert‘ gelten (sollen). Betrachtet man diese Codes näher, so erweist sich jedoch gerade das Gefüge unterschiedlicher Kontextabhängigkeiten als besonders komplex. Die Beherrschung solcher Codes dürfte daher fast ausschließlich im Rahmen einer Sozialisation erlernbar sein, die durch eine (adlige) Kernfamilie langfristig aktiv gesteuert wird und im Rahmen einer erweiterten (Adels-)Familie erprobt wird. Dies ist etwa bei der Bekleidung der Fall, bei Konversations- und Umgangsformen (vgl. die Beiträge von Jochen Strobel und Alexander von Plato in diesem Band). 16 Es dürfte also keineswegs von einem Rückzug von „Adel“ aus der beruflichen und geselligen Öffentlichkeit zu reden sein und ebenso wenig von einer lediglich noch im Privaten arrondierten adligen Lebenswelt. 17 Denn das Alltagshandeln Adliger in Bezug auf Bekleidung, Ernährungskultur, Umgangsformen, Medienkonsum etc. zeugt durchaus von Projektionen des eigenen Adels, deren Wirksamkeit sich nicht auf die Privatsphäre beschränkt. Adligen ist es in den verschiedensten Öffentlichkeiten auch in der Gegenwart möglich, einander gegenseitig als adlig wahrzunehmen. Ein Set von Markern macht Adel durchaus erkennbar und ermöglicht die Anbahnung adliger Binnenkommunikation auch inmitten einer bezüglich solcher Erkennungszeichen ungeschulten Umwelt und auch in kommunikativen Zusammenhängen, die an „Adel“ grundsätzlich desinteressiert sind. Welche Rolle ein solches Erkennen und Anbahnen spielt, mag deut-

16

Auch auf den Vortrag „Adäquate Garderobe“, den Astrid von Friesen auf der Marburger Konferenz über

die Bekleidung adliger Männer und Frauen in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts hielt, ist an dieser Stelle zu verweisen. Leider kam eine Druckfassung nicht zustande. 17

Den Rückzug ins Private akzentuiert bereits Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne. Göttingen

2006, 154, als einen Weg, auf dem der Adel nach dem grundlegenden Privilegienverlust von 1918 seine Fortexistenz gesucht habe. Als hauptsächliches Kennzeichen der Entwicklung des Adels wird der Rückzug ins Private gesehen von Seelig, Alltagsadel (wie Anm.3).

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licher werden, wenn man sich auch Adlige als Akteure mit mobilen Ausbildungsund Erwerbsbiografien und in von urbaner Anonymität geprägten Lebensräumen vorstellt. Dass Adel aber auch weiterhin als eine öffentlich relevante Tatsache konzipiert und gelebt wird, belegen die von Sophia von Kuenheim angeführten Beispiele adliger sogenannter Wiedereinrichter nach 1990. 18 Hilfreich erscheint hier auch ein Rückgriff auf gängige Ansätze, die von einer Pluralität von Öffentlichkeit ausgehen. Viele Beobachtungen, die für das 20. Jahrhundert als „Rückzug“ des Adels „aus der Öffentlichkeit“ gedeutet wurden, erscheinen dann als neue Foren, das heißt als andere, mitunter neue Öffentlichkeiten, in denen es sich nunmehr adlig leben ließ. Sozial agierte Muster von „Freundschaft“ und „Verwandtschaft“ deuteten gerade im Adel keineswegs auf Intimität hin, sondern es handelte sich um einen kommunikativen Modus, der zur Herstellung von Exklusivität diente und damit der sozialen Integration der Formation. Philipp von Samson verdeutlicht diese Überlegung in seinem hier abgedruckten Beitrag für den Bereich der internetgestützten Kommunikation Adliger. 19 Die folgenden Beiträge gehen Projektionen von Adel in unterschiedlichen Aspekten und an verschiedenartigen Beispielen nach. Die Resultate, die aus diesen wiederkehrenden Fragen nach der historischen Praxis solcher Selbst- und Fremdzuschreibungen von Adel erwachsen, unterstreichen das Potenzial des Ansatzes für die Historiografie sozialer Formationen allgemein, insbesondere aber für den auch von der Adelsgeschichte vielgesuchten interdisziplinären Dialog. Der Band fasst die Beiträge in drei inhaltlichen Schwerpunkten zusammen. Im ersten Teil widmen sich die Autoren Aspekten der Lebensführung und der mit ihr alltäglich verknüpften Projektionen von Adel. Josef Matzerath untersucht, ob und auf welche Weise Speisen und Tafelkultur als Projektionsflächen von Adel dienen. Dabei geht er zunächst der Frage nach, ob es vor dem 20.Jahrhundert eine adlige Küche gegeben habe. Bei näherer Untersuchung von Text- und Bildbeiträgen adliger Kochbuchautoren zeigt Matzerath deren kulinarisch äußerst unterschiedliches Niveau auf. Darüber hinaus kann er belegen, wie durch die Kombination mit Accessoires, die ihrerseits auf den Adel

18 Vgl. im vorliegenden Band Sophia von Kuenheim, Regionale Verortung adliger Wiedereinrichter als Projektionsfläche von Adel. 19 Hierzu ebenso, allerdings mit Blick auf den Hochadel in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, auch Marburg, Europäischer Hochadel (wie Anm.8), insbesondere Kapitel 3.4 Konzepte der Binnenkommunikation 132–159.

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verweisen, innovative Projektionen entworfen werden. Der Adel lässt sich durchaus aus den Beiträgen dieser Autoren herauslesen. Allerdings erfolgen diese Aufladungen mit Adel in so unterschiedlicher Weise, dass sich insgesamt wiederum ein uneinheitliches Bild ergibt und daher trotzdem nicht von einer „typisch adligen Küche“ gesprochen werden kann. Daniel Menning entwirft eine Geschichte des adligen Wohnens zwischen 1850 und 1950 und zeigt, welch wichtige Rolle die Schlösser und Herrenhäuser als Projektionsflächen von Adel spielten und wie sehr dies nicht nur deren Besitz meinte, sondern zunehmend auch bedeutete, über eine Wohnung im Schloss zu verfügen. Unterstützt von allgemeinen agrarromantischen Strömungen der Epoche, garantierte ein solches Wohnen Adligen den Nachweis einer standesgemäßen Lebensführung. Die Beiträge des zweiten Abschnitts untersuchen sprachliche Äußerungen Adliger, das heißt öffentlichkeitswirksame literarische Produktion sowie adelsexklusive Internetkommunikation, daraufhin, wie in ihnen die Zugehörigkeit zum Adel repräsentiert wird. Miłosława Borzyskowska stellt zwei Texte Eduard Graf von Keyserlings (1855–1918) vor und analysiert an Hand dieser sogenannten Schlossgeschichten, mit welchen literarischen Mitteln von Keyserling abgeschlossene soziale Welten entwirft, in denen der Adel lebt. Schlossinterieurs und der Rahmen des ländlichen Gutes stellen die Szenerien mit deutlichem Bezug zu traditionellen adligen Lebenswelten. Von Keyserling entwirft das Bild eines Adels, der kaum noch vitale Züge hat, den kulturellen Umbruch des fin de siècle nicht bewältigen kann und in Dekadenz vergeht. Jochen Strobel nimmt Buchveröffentlichungen adliger Autorinnen der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts in den Blick, die literarisch auf sehr unterschiedlichem Niveau zu verorten sind, sich allerdings dem Thema adliges Leben widmen. Strobel zeichnet nach, wie die Autorinnen regelmäßig etwa als Expertinnen in Fragen des Lebensstils auftreten, wie sie die Konstruktion des Familiengedächtnisses betreiben (Marion Gräfin Dönhoff), wie sie ihre Negation der Adelswelt und des eigenen Adligseins literarisch reflektieren (Elisabeth Plessen) oder für sich selbst das Konzept einer adligen Grenzgängerschaft entwerfen, das sie gleichsam ein Doppelleben in und außerhalb der Adelswelt führen lässt (Christine Gräfin von Brühl). Als wichtigste Projektionsfläche dieser sehr unterschiedlichen Sichtweisen Adliger auf den Adel erweist sich in den Texten der Begriff der Familie. Philipp von Samson gewährt aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Einblicke in die Binnenkommunikation des Adels im Medium des world wide web. Er zeigt an

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deutschsprachigen und niederländischen Beispielen, wie Adlige Internetplattformen nutzen, um eine von der Netzöffentlichkeit und insbesondere von nichtadligen „Unberechtigten“ aktiv abgeschlossene Kommunikation miteinander zu pflegen. Diese Kommunikation dient in erster Linie zur Vernetzung und kopiert beziehungsweise ergänzt damit andere binnenadlige Vernetzungsstrategien. Sie dient gleichzeitig dazu, adelstypische beziehungsweise adelsspezifische Erfahrungen untereinander auszutauschen und sich auch im neuen Medium über bereits anderweit gängige Themen eines adligen Lebensstils zu verständigen. Der dritte Abschnitt des vorliegenden Bandes ist Themen gewidmet, die von der Adelsgeschichte bereits häufig behandelt wurden, hier aber unter Fokussierung auf die Projektionen von Adel beispielhaft noch einmal anders angepackt werden. So geht es etwa um die semantische Konstruktion des standesgemäßen Berufs sowie um topografische Konstruktionen, deren Orte als Projektionsflächen dienen. Der Beitrag von Daniel Kuhn widmet sich zunächst den Biografien dreier adliger Militärs. Der Beruf des Offiziers galt und gilt bis heute als für adlige Männer standesgemäß und bietet mit seinem Lebensstil eine besonders breite Fläche für Projektionen von Adel. Militärische Berufstraditionen können, wie Kuhn zeigt, daher geradezu mit Familientraditionen verknüpft sein. Anhand der Beispiele von Helmuth von Moltke dem Jüngeren (1848–1916), Paul von Hindenburg (1847–1937) und Otto von Moser (1860–1931) legt er dar, wie professionalisiert die Tätigkeit eines Offiziers um 1900 war und dass gleichzeitig adlige Vernetzung militärische Karrieren förderte. Monika Kubrova stellt die Ergebnisse ihrer Untersuchung der Lebenserinnerungen adliger Frauen um 1900 vor: Maximiliane Gräfin Oriola (1818–1894) und Adda von Liliencron (1844–1913). Ein Engagement in der Wohltätigkeit war für adlige Frauen wie für Frauen aus dem Bürgertum ein Weg, um am öffentlichen Leben teilzuhaben. Bei den genannten Autorinnen war diese Tätigkeit besonders ausgeprägt. Monika Kubrova zeigt, wie beide Frauen nicht nur Lebenssinn, sondern auch einen adligen Führungsanspruch aus ihrer Betätigung ableiteten. Literarisch legten sie dar, wie sie im Rahmen ihrer Tätigkeit adlige Netzwerke gleichermaßen nutzten wie bedienten, sie stellten sich dabei mitunter auf einen dezidiert adligen Standpunkt. Damit projizierten sie ihren Adel auf das bei weitem nicht nur von adligen Frauen beackerte Feld der Wohltätigkeit. Alexander von Platos Beitrag gibt den öffentlichen Abendvortrag wieder, zu dem im Rahmen der Marburger Konferenz ein lebhaft interessiertes Publikum erschienen war. Von Plato widmet sich dem bis in die Gegenwart hinein für die Selbstsicht

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deutscher Adliger wichtigen Prozess von Flucht und Vertreibung nach 1945. Diese noch immer zumeist aus Lebens- bzw. Familienerinnerungen gespeiste Erzählung stellt von Plato in den europäischen Kontext der Flüchtlingsströme und Deportationsbewegungen in Folge des Zweiten Weltkriegs. Dadurch wird deutlich, wie sehr die autobiografischen und familiengeschichtlichen Erzählungen durch Projektionen von Adel geprägt sind. Mehr als in anderen Flüchtlingsgruppen wurde der Verlust der Heimat hier auch als ein abrupter Bruch adliger Herrschaftstraditionen erinnert. Der Beitrag schildert darüber hinaus die Aufnahme der adligen Flüchtlinge in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und ihre soziale Eingliederung. Bei ihrer Ankunft konnten sie sich zumeist auf binnenadlige Netzwerke stützen, die allen materiellen Verlusten zum Trotz die Anknüpfung an die Gesellschaft der nichtvertriebenen Adligen ermöglichten. Indem die Flüchtlinge sich darauf fokussierten, Elemente eines adligen Lebensstils auch weiterhin zu realisieren, konnten sie an der Adelsgesellschaft teilhaben. So wandelte sich die Praxis adliger Lebensführung häufig deutlich, während der gemeinsame Rekurs auf Projektionsflächen von Adel seine fundamentale Bedeutung für die Bindekräfte der Formation erwies. Sophia von Kuenheim analysiert in ihrem Beitrag den Heimatbegriff, auf den sich adlige sogenannte Wiedereinrichter stützten, die sich nach der politischen Wende von 1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ansiedelten. Sie kann bei den einzelnen Probanden überraschend unterschiedliche Interpretationen von Heimat aufzeigen. Jedoch ist die Identifizierung der Heimat stets mit der adligen Herkunft der Protagonisten verknüpft. Im Rahmen des regionalen Adelsverbands spielen solche Wiedereinrichter wiederum die Rolle von Gallionsfiguren einer angeblichen „Rückkehr des Adels“ nach Sachsen, die die Mehrheit des in Westdeutschland lebenden „sächsischen Adels“ tatsächlich nicht vollzieht. Stellvertretend erneuern sie den Heimatbegriff und halten ihn für die Verbandsmitglieder verfügbar. Die Archivarin Kathleen Jandausch beschreibt, welchen Weg das nach Enteignung und Flucht der adligen Gutsbesitzer nach 1945 in Mecklenburg zurückgelassene, teils aus Gutsarchiven, teils aus Familienarchiven bestehende Archivgut nahm. Die in Verwahrung des Mecklenburgischen Hauptstaatsarchivs befindlichen Bestände gehörten zu den gesetzlich zur Rückgabe an die ehemaligen Eigentümerfamilien vorgesehenen Mobilia. Sie fanden nach 1989 durchaus das Interesse der früheren Besitzer oder ihrer Erben. Die Motivation, mit der Ordnung des Schriftgutes eine gestörte historische Kontinuität für die Adelsfamilie wiederherzustellen, spielte für die Adligen dabei nachweislich eine Rolle. Archivalien wur-

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den so zu Projektionsflächen von Adel und galten auch als Zielpunkt künftiger Projektionen. Der vorliegende Band präsentiert unterschiedliche Herangehensweisen an die Adelsgeschichte, indem er sprachwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche, militärhistorische, alltagsgeschichtliche, archivarische und im weiteren Sinne kulturgeschichtliche Themen und Methoden zusammenträgt und zeigt, wie sich diese gewinnbringend für die Adelsgeschichte in Anspruch nehmen lassen. Damit werden zum einen adlige Symbole – das heißt traditionell bevorzugte Projektionsflächen von Adel – im Hinblick auf die an sie geknüpften Projektionen noch einmal neu beleuchtet. Andere Beiträge zeigen, dass eine an der häufig schwer zugänglichen Alltagskultur interessierte Adelsgeschichtsschreibung auch der Gegenwart nicht nur möglich, sondern auch weiterhin vielversprechend ist. Das Buch entwirft eine historische Perspektive auf den deutschen Adel, die bis in das beginnende 21. Jahrhundert reicht. Damit bieten die Beiträge Anknüpfung für weitere Forschungen und regen an, dabei konsequent nach den Zuschreibungen zu fragen, auf denen gruppenbezogene Kommunikation beruht. Denn auch im 20. und 21.Jahrhundert stützten und stützen soziale Formationen ihre Existenz weiterhin auf ihre Fähigkeit zu solchen Projektionen der eigenen Typik. Nicht die substanzielle Differenz zwischen diesen Projektionen und Projektionen anderer sozialer Zugehörigkeiten gibt dabei den Ausschlag – ja, diese Differenz steht auch in den hier versammelten Beiträgen allenthalben in Zweifel –, sondern das entscheidende Moment liegt darin, dass dem in Frage stehenden Adel der Austausch solcher Projektionen im Rahmen seiner Binnenkommunikation gelingt.

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I.

Adel isst Der gedeckte Tisch als Projektionsfläche von Josef Matzerath

I. Dass es in Deutschland weder vor noch nach der Gründung des zweiten Kaiserreiches einen Versuch gegeben habe, einen umfassenden deutschen Küchenstil zu entwickeln, liege nicht zuletzt daran, dass „der politisch und gesellschaftlich dominierende deutsche Adel sich bis zum Ersten Weltkrieg ironischerweise an der Küche des französischen Erbfeindes orientiert“ habe, schrieb Rudolf Trefzer noch im Jahre 2009. 1 Abgesehen davon, dass Trefzer den Begriff „Erbfeind“ ohne Distanzierung verwendet, die einschlägigen Werke der hoch entwickelten deutschen Kochkunst im 19.Jahrhundert in seinem ganzen Buch an keiner Stelle erwähnt 2 und die historiografische Debatte um die gesellschaftliche Dominanz der Sozialformation Adel nicht zur Kenntnis genommen hat 3, belegt die zitierte Stelle, mit welch unhinter-

1 Rudolf Trefzer, Klassiker der Kochkunst. Die fünfzehn wichtigsten Rezeptbücher aus acht Jahrhunderten. Zürich 2009, 192. 2 Welches Spektrum von Kochbüchern für die exquisite deutsche Kochkunst des ausgehenden Kaiserreiches relevant war, findet sich etwa im Anhang „Einschlägige Fachwerke“ bei Paul Martin Blüher/Paul Petermann, Meisterwerk der Speisen und Getränke in vier Bänden – Französisch – Deutsch – Englisch ... Bd. 1: Speisen. Leipzig 1893, 956–960. Dass die deutsche Spitzenküche des 19.Jahrhunderts sich nicht allein auf die französische Küche bezog, belegen auch Franz Walcha, Der praktische Koch oder vollständige und fassliche Anleitung alle Arten von Speisen nach französischem, englischem und deutschem Geschmacke zuzubereiten … Dresden/Leipzig 1819; Geist der Kochkunst von Joseph König. Überarb. u. hrsg. v. C. F. von Rumohr. Stuttgart 1822; Johann Friedrich Baumann, Der Dresdner Koch oder Die vereinigte teutsche, franzoesische und englische Koch- und Backkunst. 2 Bde. Dresden 1830. Zweifel an der faktischen Präponderanz der feinen französischen Küche für ganz Europa finden sich auch bei Karin Becker, Der Gourmand, der Bourgeois und der Romancier. Die französische Eßkultur in Literatur und Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt am Main 2000, 225–234. 3 Eckart Conze/Sönke Lorenz (Hrsg.), Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20.Jahrhundert. Ostfildern 2010; Karsten Holste/Dietlind Hüchtker/Michael G. Müller (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19.Jahrhunderts. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 10.) Berlin 2009; Ivo Cerman/Luboš Velek (Hrsg.), Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adligen in der Moderne. München 2009; Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne. Göttingen 2006; Josef Matzerath,

10.1515/9783110463569-003

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fragter Selbstverständlichkeit dem Adel als Kollektivsingular bis ins beginnende 20.Jahrhundert gemeinsame kulinarisch-ästhetische Präferenzen attestiert werden. Der Nachweis für diese Behauptung dürfte kaum zu führen sein. Erklärt werden müsste auch, wie es gelang, die in Frankreich seit der Revolution von 1789 bürgerlich aufgeladene Esskultur 4 in Deutschland zur Konstituierung von adelsspezifischer Gruppenbindung zu instrumentalisieren. Wer von der Ernährungsgeschichte aus das Thema „Adel und Essen“ aufgreift, ist von Trefzers Annahme vielleicht weniger überrascht als jemand, der sich im Feld der geschichtswissenschaftlichen Adelsdebatte bewegt. Denn die soziologisch ausgerichtete Historiografie der Ernährung kennt mindestens zwei prominente Interpretationsmuster, die eng an die Sozialformation Adel geknüpft sind. Im Anschluss an Norbert Elias’ Theorie des Zivilisationsprozesses 5 und Max Webers Kontrastierung aristokratischer Repräsentation und bürgerlicher Schlichtheit 6 wird die These, für den Adel habe im 17. und 18.Jahrhundert und auch beim Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne der Geschmack eine wichtige Rolle bei der sozialen Diffe-

Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763 bis 1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation. (VSWG Beihefte, Bd. 183.) Stuttgart 2006; Ivo Cerman/Luboš Velek (Hrsg.), Adlige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und die Folgen. München 2006; Walter Demel, Der europäische Adel. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2005; Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20.Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004; Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen. Paderborn/München/Wien/Zürich 2001; Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Köln/Weimar/Wien 2001, 5–15; Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 1.) Berlin 2000; ders., Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999; Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848. (Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien, Bd.31.) München 1994; Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Europäischer Adel 1750–1950. (GG Sonderheft, Bd. 13.) Göttingen 1990. Für die Annahme, das Ancien Régime habe bis zum Ersten Weltkrieg fortexistiert, plädiert lediglich Arno Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848– 1918. München 1981. 4 Zur postrevolutionären Adaption der aristokratischen Tafelkultur durch breite Schichten des französischen Bürgertums vgl. Becker, Gourmand (wie Anm.2), 81f. 5 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bern/München 1969. 6 Die einschlägigen Zitate Max Webers finden sich zusammengestellt bei Eva Barlösius, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim/ München 1999, 56–58.

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renzierung übernommen, prominent vertreten. Eva Barlösius beispielsweise führt aus: „Der gute Geschmack war für den Adel, der zunehmend in Bedrängnis geriet, seine soziale Stellung zu rechtfertigen, eine ideale Waffe, seine Überlegenheit gegenüber dem sich ökonomisch emanzipierenden Bürgertum zu verteidigen.“ 7 Nach dieser Deutung soll der Adel schon am Ende der Frühen Neuzeit versucht haben, sich durch geschmackliche Nahrungsvorlieben gegen das aufstrebende Bürgertum abzusichern. Barlösius und andere renommierte Forscher gehen davon aus, dass die Aristokratie den guten Geschmack eingesetzt habe, um sich abzugrenzen. 8 Wer zum Adel gehören wollte, musste demnach in einer salle à manger tafeln und sich seine Speisen von einem professionellen männlichen Koch zubereiten lassen. Das Bürgertum habe eine Köchin beschäftigt, von der man verlangte, nicht „die aristokratische Küche nachzuäffen“. Sie sollte stattdessen „den natürlichen Geschmack nicht verderben und eine gesunde Küche bereiten“. 9 Selbstverständlich stimmt ein solches Klischee schon nicht für die Frühe Neuzeit. Beispielsweise beschäftigte die Familie von Welck in Meißen, die um 1800 zu den vermögendsten des sächsischen Adels zu rechnen war, „nur“ eine Köchin. 10 7 Ebd.143f.; Jean-Louis Flandrin, Der gute Geschmack und die soziale Hierarchie, in: Philippe Ariès/Roger Chartier (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung. Bd. 3. Frankfurt am Main 1991, 269–311. 8 Mit grundsätzlicher Anlehnung an Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969, geht diese These vor allem zurück auf Stephen Mennell, Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main 1988, 150–155. Ähnlich auch Hans-Werner Prahl/Monika Setzwein, Soziologie der Ernährung. Opladen 1999, 32f. und 42. Mit einem kulinarischen Emanzipationsprozess des Bürgertums im Verlaufe der Französischen Revolution kalkulieren auch Becker, Gourmand (wie Anm.2), 168, 172f. und 214–225; Elliott Shore, Auswärts essen. Die Entstehung des Restaurants. in: Paul Freedman (Hrsg.), Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks. Darmstadt 2007, 301–332, hier 305. 9 Barlösius, Soziologie (wie Anm.6),143 f . 10 Zum unterschiedlichen Niveau von Küchen verschiedener Adelshaushalte in Sachsen vgl. Josef Matzerath, An der Tafel des Grafen Günther von Bünau auf Dahlen. Die Küche des Adels im frühen 19.Jahrhundert, in: Martina Schattkowsky (Hrsg.), Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit. (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 27.) Leipzig 2008, 247–257. Zum Gender-Aspekt und zum nach frühneuzeitlichen Verständnis unterschiedlichen Professionalisierungsgrad von Koch und Köchin vgl. Sabine Bühler, Koch und Köchin. Arbeitsplatz Küche, in: Ulrike Zischka/Hans Ottomeyer/Susanne Bäumler (Hrsg.), Die anständige Lust. Von Esskultur und Tafelsitten. München 1993, 539–545; Eva Barlösius, Koch und Köchin. Familial-häusliche Essenszubereitung und berufliches Kochen, in: Trude Ehlert (Hrsg.), Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit. Wiesbaden 1997, 207–218; Barlösius, Soziologie (wie Anm.6), 142–146; Alois Wierlacher, Koch und Köchin als Kulturstifter, in: ders./Regina Bendix (Hrsg.), Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis. Berlin 2008, 358–378.

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Die Küche der deutschen Rittergüter im 18. und 19.Jahrhundert war, soweit sie überhaupt bekannt ist 11, auch nicht „aristokratisch“ 12, sondern bewegte sich auf einem gehobenen Niveau oberhalb des bloßen Sattwerdens. Sie entsprach dem, was man landläufig eine „gutbürgerliche Küche“ nennt. 13 Präziser wäre es, innerhalb der feinen Küche von einer gehobenen und exquisiten Kochweise zu sprechen, um nicht grundsätzlich gruppenspezifische Zuweisungen von Speisequalitäten in Kauf nehmen zu müssen. Nur ein kleiner Teil des Adels konnte sich eine „herrschaftliche Küche“ mit einem Koch leisten. Die kulinarische Differenz, die Barlösius zwischen der Küche der Aristokratie und der des Bürgertums aufmacht, bildete jedenfalls nicht die Ausgangslage für das 20.Jahrhundert. Denn sowohl Bürgerliche als auch Adlige speisten im 19.Jahrhundert auf dem Niveau der sogenannten „gutbürgerlichen Küche“. Zudem sucht man in den Kochbüchern und Rezeptsammlungen der Frühen Neuzeit und der frühen Moderne vergeblich nach einer expliziten Adelskü-

11

Das gilt etwa für die handschriftlichen Rezeptsammlungen des Rittergutes Döben im StA Leipzig,

Gutsarchiv Döben, Nr.453–462. Diese Kochanweisungen des 18.Jahrhunderts sind teilweise publiziert in: Dorothea von Below (Hrsg.), Rezepte aus der Schlossküche Döben bei Grimma. Leipzig 2006. Ebenfalls auf einem gehobenen, aber nicht exquisiten Niveau bewegen sich die Kochanweisungen in den handschriftlichen Rezeptsammlungen: Emma von Schönberg/Leo von Schönberg auf Börnichen, Allerlei Recepte geschrieben von meinem guten, unvergeßlichen Bruder Leo, der am 6ten Novb: 1834 verschied. (Privatbesitz von Edeltraut Erdelt-Hermann in Neckargemünd); Rosa von Schönberg auf Niederreinsberg (1871–1946), Rezeptsammlung, vgl. HStA Dresden, Familiennachlass von Schönberg, Nr.437. Auf entwickelterem kulinarischen Niveau als die vorgenannten befindet sich die Rezeptsammlung der Marianne Sahrer von Sahr auf Dahlen (1857–1941), die sich im Privatbesitz der Familie von Schönberg befindet. 12

Zur Definition von „aristokratischer Kochkunst“ vgl. Eva Barlösius, Eßgenuß als eigenlogisches sozia-

les Gestaltungsprinzip. Zur Soziologie des Essens und Trinkens, dargestellt am Beispiel der grande cuisine Frankreichs. Hannover 1988, 102–112. 13

Der Begriff meint eine gehobene Kochweise, die unterhalb der Spitzenleistungen der zeittypischen

Kochkunst und oberhalb der bloßen Nahrungsaufnahme als physischer Notwendigkeit rangiert. Vgl. hierzu die Kochweise der in Anm.11 aufgeführten Rezeptsammlungen. Allgemein zur Klassifizierung von Kochniveaus vgl. Matzerath, An der Tafel (wie Anm.10), 255; Benedikt Krüger, Gehobene und exquisite Küche in der Konsumgesellschaft. Dresden um 1900. (Land kulinarischer Tradition. Ernährungsgeschichte in Sachsen, Reihe C: Historische Forschungen zur exquisiten Küche, Bd. 2.) Ostfildern 2015, 264–267. Zur ästhetischen Klassifizierung von gehobenen und exquisiten Nahrungsmitteln vgl. Mario Kliewer, Geschmacksgaranten. Sächsische Hoflieferanten für exquisite Nahrungsmittel um 1900. (Land kulinarischer Tradition. Ernährungsgeschichte in Sachsen, Reihe C: Historische Forschungen zur exquisiten Küche, Bd. 1.) Ostfildern 2015, 40. Für die zweite Hälfte des 20.Jahrhundert vgl. auch Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland. München 2012, 100f. und 115. Möhring teilt die Küchen in Spitzengastronomie, gutbürgerliche Küche und Fastfood- beziehungsweise Imbissküchen ein.

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che, die mit einer Bürgerküche kontrastiert worden wäre. Der Begriff „bürgerlich“ beschreibt hier allenfalls Konzessionen wegen teurer Zutaten, aufwendiger Zubereitungsweisen und hoher Lohnkosten. 14 Jedenfalls hat weder die Ernährungsgeschichts- noch die Adelsforschung für den niederen Adel des Alten Reiches oder für den in dessen Nachfolgestaaten belegt, dass Nahrungs- und Genussmittel mit Gruppenspezifik aufgeladen wurden. Das gilt auch für die zweite in der Historiografie der Ernährung häufig rezipierte These von Wolfgang Schivelbusch, das Bürgertum habe seit dem späten 18.Jahrhundert den tagtäglichen frühneuzeitlichen Alkoholkonsum durch das moderne Heißgetränk Kaffee ersetzt, es sei deshalb körperlich so ernüchtert und ermuntert worden, dass es die industrielle Revolution habe in Gang setzen können. 15 Die neueste Ernährungsgeschichtsforschung hat das mit guten Argumenten bestritten. Denn Kaffee wurde in der Frühen Neuzeit nicht immer alkoholfrei verzehrt, nicht jeder Kaffeetrinker wurde gleich zum Abstinenzler und viele Kaffeehäuser standen bei der Obrigkeit im Verdacht, das unerlaubte Glücksspiel und die Prostitution zu begünstigen. 16 Ebenso fragwürdig ist Schivelbuschs Kontrastierung des Kaffees als „protestantisch-nördliches Getränk“ und der Schokolade als dessen „katholisch-südliches“ Gegenstück. Während nach Schivelbusch der Kaffee das Bürgertum schon beim Frühstück „gleichsam ruckartig wach für den Arbeitstag“ gemacht habe, soll die koffeinfreie

14 Die bürgerliche Küche zeichnete sich etwa im Verständnis des Dresdner Kochs Johann Friedrich Baumann durch reduzierte Küchentechnik und eine kleinere Auswahl von Speisen aus, vgl. ders., Der Dresdner Koch oder die vereinigte teutsche, französische und englische Koch- Brat- und Backkunst. 3.Aufl. Dresden 1844 (Ndr. Leipzig 2005), T.1, 154f. Zu Baumanns Stratifizierung der Küchenniveaus vgl. ebd.T.2, 333. Eine vergleichende Analyse von Baumanns Kochstil gibt Marco Iwanzeck, Dresden à la carte. Entstehung und kulinarische Einordnung der Restaurantkultur 1800 bis 1850. (Land kulinarischer Tradition. Ernährungsgeschichte in Sachsen, Reihe C: Historische Forschungen zur exquisiten Küche, Bd. 3.) Ostfildern 2015, 152–154. 15 Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel. München/Wien 1980. 16 Christian Hochmuth, Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden. Konstanz 2008, 14, 136, 164–168 und 175f.; Annerose Menninger, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade (16.–19.Jahrhundert). Stuttgart 2004, 352–354; Sonja Kreiner, Kontroversen um Kaffee und Kaffeehäuser im 18.Jahrhundert, in: Roman Rossfeld (Hrsg.), Genuss und Nüchternheit. Geschichte des Kaffees in der Schweiz vom 18.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zürich 2002, 150–166, hier 159. Zum Instrument der Temperenzlerbewegung wurde Kaffee nachweislich erst am Ende des 19.Jahrhunderts, vgl. Nadine Franci, Mit Kaffee gegen Alkohol. Die Gründung von Kaffeehallen in der Schweiz um 1900, in: Rossfeld (Hrsg.), Genuss und Nüchternheit, 256–276.

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Schokolade die „aristokratische Gesellschaft“ schon beim Frühstück als „untätige Klasse zum gepflegten Nichtstun“ animiert haben. 17 Auch dieser Konnex zwischen Nahrungsgewohnheit und Sozialformation erweist sich nicht als typisch. Denn Schokolade verbreitete sich nicht nur über die europäischen Höfe und in den Adelsgesellschaften, sie wurde zeitgleich auch über die Kaffeehäuser in die reiche bürgerliche Oberschicht hineingetragen. 18 Die exquisite Küche nur dem Adel zuzurechnen, ist daher schon frühneuzeitlich eine zu schablonenhafte Zuweisung. Für das ausgehende 19. und frühe 20. Jahrhundert erscheint sie ebenfalls unangemessen. Denn Auguste Escoffier, der bedeutendste Küchenchef seiner Zeit, kochte in den Grandhotels des César Ritz. Sein berühmtestes Gericht, der Pfirsich Melba, war der Sängerin Nellie Melba gewidmet – nicht einem adligen Dienstherrn. 19 Im Kontrast dazu hatte man zu Zeiten Ludwigs XIV. die Sauce Béchamel oder die Soupe Soubise einer aristokratischen Familie zugeschrieben. 20 Um 1900 benannte Escoffier, der einflussreichste Koch Europas, viele seiner kulinarischen Kreationen nach Künstlern. Spitzenküche war daher grundsätzlich vom Adligsein entkoppelt. 21 Während es die exquisite Küche vor der Französischen Revolution nur in Privathäusern gab, waren die Grandhotels der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert für jeden zugänglich, der sie bezahlen konnte. 22 Eine Abgrenzung des Adels durch be-

17

Schivelbusch, Paradies (wie Anm.15), 96–99.

18

Menninger, Genuss (wie Anm.16), 356; Roman Rossfeld, Schweizer Schokolade. Industrielle Produktion

und kulturelle Konstruktion eines nationalen Symbols 1860–1920. Baden 2007, 69, geht zwar noch von Schivelbuschs gruppenspezifischer Zuweisung der Schokolade an die frühneuzeitliche Aristokratie aus, nimmt aber für das 19.Jahrhundert eine Neubewertung nach einem bürgerlichen Geschlechtermodell an. 19

Zu Escoffier vgl. Timothy Shaw, Die Welt des Auguste Escofier. München 1994, 121; Anne Willan, Koch-

künste aus sieben Jahrhunderten. Berühmte Köche von Taillevent bis Escoffier. Bern/Stuttgart 1977, 176 und 183f.; Mennell, Kultivierung (wie Anm.8), 213 und 215; Karl Heinz Götze, Les Chefs. Die großen französischen Köche des 20.Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1999, 33–54; Trefzer, Klassiker (wie Anm.1), 204– 221; Alain Drouard, Meisterköche, Gourmets und Gourmands. Französische Küche im 19. und 20.Jahrhundert, in: Freedman (Hrsg.), Essen (wie Anm.8), 263–300, hier 285f. Das Rezept für „Pfirsich Melba“ findet sich in Auguste Escoffier, Kochkunstführer. Haan-Gruiten 2008, 661. 20

Hierzu Mennell, Kultivierung (wie Anm.8), 117 und 159.

21

Zu Escoffiers Benennungen von Gerichten mit den Namen zeitgenössischer Prominenz vgl. Shaw,

Welt (wie Anm.19), 120f.; Willan, Kochkünste (wie Anm.19), 176. 22

Shore, Entstehung (wie Anm.8), 324f. kontrastiert die Grandhotels um 1900 explizit mit den Schlös-

sern von Adligen und Kaufleuten, die immer schon „Orte zum Essen, zum Gesehenwerden und für Gesellschaften“ gewesen seien.

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stimmte exquisite Speisen war daher im ausgehenden Kaiserreich weder herkömmlich vorhanden noch innerhalb der kulinarischen Genusstempel herstellbar. Unter den Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft ließ sich anhand der Kochniveaus keine klare kulinarische Trennlinie zwischen vermögenden Adligen und ebenso reichen Nichtadligen ziehen. Außerdem erhielt die tradierte Spitze der Gesellschaft Konkurrenz von unten. Denn seit den 1890er-Jahren stieg die Konsumfähigkeit für das Gros der Bevölkerung rapide an. Die entstehende Konsumgesellschaft brachte den Sonntagsbraten für fast jedermann. Fleisch zu essen, war jahrhundertelang ein gesellschaftliches Unterscheidungsmerkmal gewesen. 23 Seit dem Kaiserreich eroberten Bockwurst und Buletten die Alltagskost der Deutschen. Diese einsetzende Egalisierung erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Entstehung der Massenkonsumgesellschaft noch einen weiteren Schub. Anbaumethoden wurden effizienter, Konservierungsverfahren neu erfunden und Vertriebswege lieferten rascher, günstiger und mehr als zuvor. 24 Allgemein wurden in Deutschland mit dem Wirtschaftswunder der 1950erJahre Nahrungsmittel auch leichter verfügbar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Äpfel, Gurken oder Kopfsalat, Lammfleisch, Wildschwein oder Scholle noch von der Saison abhängige Produkte. Inzwischen sind sie ganzjährig verfügbar. Nur noch weniges ist heute saisonabhängig, wie beispielsweise Kirschen oder Spargel. 25 Zudem hat sich die Küche in Deutschland auch auf breitem Niveau internationalisiert. Zwar rezipierte die exquisite Küche schon frühneuzeitlich Gerichte aus ganz

23 Zum Fleisch als Statuskonsumgut vgl. Hans-Jürgen Teuteberg, Der Fleischverzehr in Deutschland, in: ders./ Günter Wiegelmann (Hrsg.), Unsere tägliche Kost. Münster 1986, 64–66; Jakob Tanner, Der Mensch ist, was er ißt. Ernährungsmythen und Wandel der Esskultur. in: HA 4, 1996, 399–419. 24 Einen Überblick zur Geschichte der Ernährung seit dem ausgehenden Kaiserreich bieten: Roman Rossfeld, Ernährung im Wandel. Lebensmittelproduktion und -konsum zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Frankfurt am Main/New York, 27–45; Hans-Jürgen Teuteberg, Die Geburt des Konsumzeitalters. Innovationen der Esskultur seit 1800, in: Freedman (Hrsg.), Essen (wie Anm.8), 233–261; Gunther Hirschfelder, Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt am Main/ New York 2001, 187–257; Massimo Montanari, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa. München 1999, 183–205. 25 Zur schwindenden Saisonabhängigkeit von Nahrungsmitteln vgl. zuletzt Nadine Ihle-Höppner, Erdbeeren im Winter. Die „sanfteste aller Revolutionen“, in: Kai Budde/Thomas Herzig/Nadine Ihle-Höppner (Hrsg.), Unser täglich Brot. Die Industrialisierung der Ernährung. Katalog zur Großen Landesausstellung 2011 Baden-Württemberg. Mannheim 2011, 58–71. Vgl. außerdem die in Anm.24 genannten Überblicksdarstellungen.

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Europa. 26 Sie nutzte auch seit dem Mittelalter Gewürze und Genussmittel aus den entferntesten Weltregionen. 27 Nur wenige exotische Nahrungs- und Genussmittel, wie etwa der echte Bohnenkaffee 28, blieben bis ins 20.Jahrhundert hinein teuer und konnten somit Distinktion herstellen. Ebenso etablierten sich aber seit den 1970erJahren der Italiener um die Ecke, das Chinarestaurant und die Sushi-Bar. Zugleich verbreiteten sich deutschsprachige Kochbücher über exotische Küchen. Darüber hinaus finden sich inzwischen die Tiefkühlpizza und die asiatische Reispfanne in jedem Supermarkt. Internationale Gerichte sind heute kein Kennzeichen einer hoch rangierten Küche mehr. Sie kommt auch tiefgefroren und als Fastfood daher. 29 Die nachfolgende Überlegung widmet sich zwei Fragen. Sie möchte erkunden, ob Adlige in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts einen besonderen kulinarischen Geschmack kultivierten. Darüber hinaus wird zudem noch erörtert, ob Speisen und Getränke als Projektionsflächen von Adel genutzt wurden. Denn obwohl die umstrittenen Thesen der Frühneuzeitforschung sich keinesfalls eignen, für die Moder-

26

Vgl. hierzu exemplarisch Hans Ottomeyer, Olla Podrida und Pot D’oille. Leitfossilien Europäischer Ta-

felkultur, in: Ilsebill Barta-Fliedl/Andreas Gugler/Peter Parenzan (Hrsg.), Tafeln bei Hofe. Zur Geschichte der fürstlichen Tafelkultur. Wien 1998, 33–42; Ingrid Haslinger, Die Olio- oder Oleosuppe am Wiener Hof, in: ebd.43f. Auf die Wanderung von Zubereitungsweisen innerhalb Europas verweist auch Günter Wiegelmann, Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20.Jahrhundert. 2.Aufl. Münster/New York/München/Berlin 2006, 28f. Eine Analyse der nationalen beziehungsweise regionalen Herkunftsbezeichnungen von Gerichten in den einflussreichsten Kochbüchern der vormodernen und modernen europäischen Spitzenküche steht allerdings noch aus. 27

Elisabeth Vaupel, Gewürze. Acht kulturhistorische Porträts. [München] 2002; Hans-Jürgen Teuteberg,

Gewürze, in: Thomas Hengartner/Christoph Maria Merki (Hrsg.), Genussmittel. Eine Kulturgeschichte. Frankfurt am Main/New York 2001, 300–331. 28

Bohnenkaffee wurde erst in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts selbstverständlich für jeden. Zu

Kaffeepreisen vgl. Laura Rieschbieter, Globalisierungsprozesse vor Ort. Die Interdependenz von Produkt, Handel und Konsum am Beispiel „Kaffee zur Zeit des Kaiserreiches“, in: Comparativ 17, 2007, 28–45; Volker Wünderich, Die „Kaffeekrise“ von 1977. Genussmittel und Verbraucherprotest in der DDR, in: HA 11, 2003, 240–261; Menninger, Genuss (wie Anm.16), 343; Manuel Schramm, Konsum und regionale Identität in Sachsen 1880–2000. Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung. Stuttgart 2003, 86–89. 29

Zur Internationalisierung der Küche vgl. Möhring, Fremdes Essen (wie Anm.13), 11 und 153–158;

Ulrike Thoms, Sehnsucht nach dem guten Leben. Italienische Küche in Deutschland, in: Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.), Essen und Trinken in der Moderne. Münster/New York/München/Berlin 2006, 47–50; Robert Jütte, Vom Notwendigkeitsgeschmack zum Einheitsaroma, in: Dietrich von Engelhard/Rainer Wild (Hrsg.), Geschmackskulturen. Vom Dialog der Sinne beim Essen und Trinken. Frankfurt am Main/New York 2005, 53f.; Jeffrey M. Pilcher, Nahrung und Ernährung in der Menschheitsgeschichte. Essen 2006, 169–175; Hirschfelder, Esskultur (wie Anm.24), 247.

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ne Zusammenhänge zwischen Adel und Ernährung zu erfassen, scheinen Nahrungsmittel dennoch mit sinnstiftenden Zuweisungen für die Zugehörigkeit zur Gruppe konnotiert zu werden. Um solche Projektionsflächen nachzuweisen, befasst sich die Abhandlung zunächst mit dem landbesitzenden Adel, der als Eigentümer ehemaliger Rittergüter über herkömmliche Projektionsflächen von Adel verfügt. In einem zweiten Schritt analysiert der folgende Abschnitt Publikationen, die von Adligen zu kulinarischen Themen verfasst wurden.

II. Auf den großen landwirtschaftlichen Gütern hat sich seit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20.Jahrhunderts in der Küchentechnik und -organisation einiges verändert. Für die Nachkriegszeit schildert Elisabeth von Plessen in ihrem autobiografischen Roman „Mitteilung an den Adel“ das fiktive Gut ihres Vaters noch mit drei Küchen, sechs Köchinnen und vier Tischen: „1 Tisch für Verwalter, Vogt, Eleven, Sekretärin, 1 Tisch für Landarbeiter, Waldarbeiter, Pferdeknechte, Gärtner Melker, Schäfer. 1 Tisch fürs Haus- und Küchenpersonal: 3 Hausmädchen, 3 Küchenmädchen, 1 Schuhputzer, 1 Beschließerin, 1 Diener, Waschfrauen. Der vierte Tisch war der Herrschaftstisch.“ 30 Von Plessen kalkuliert demnach mit einer Tafelhierarchie für Angestellte, Arbeiter, Hauspersonal und Eigentümerfamilie. Heute darf man sich für einen großen landwirtschaftlichen Betrieb nicht einmal mehr so hohe Mitarbeiterzahlen vorstellen, die eine solche Hierarchie zuließe. Die herrschaftliche Tafel besteht zwar als Tisch der Familie weiter, der Rest der Hierarchie ist aber weggebrochen. Wer heute auf einem Rittergut arbeitet, ist in der Regel Selbstversorger bei den täglichen Mahlzeiten. Auch das Küchenpersonal scheint inzwischen weithin zu fehlen. Wenn es unter diesen Umständen im kulinarischen Be-

30 Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel. Roman. Berlin/Weimar 1978, 14; zum Leutetisch vgl. auch Gisa von Barsewisch/Bernhard von Barsewisch, Bei den „Edlen Gänsen“ zu Tisch. Vom Kochen und Leben in märkischen Gutshäusern. Berlin 2008, 112f.; zum Herrschaftstisch ebd.106f.; zu Elisabeth Plessens Buch vgl. Jochen Strobel, Die adlige Familie als Phantasma und Schreckbild. Adelstöchter als Buchautorinnen um 2000, im vorliegenden Band, 87–104.

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reich überhaupt Raum für Projektionsflächen von Adel gibt, liegen sie nicht mehr in der Hierarchie von Herrschaft und Personal. Um den Nachweis anzutreten, dass Adlige im ausgehenden 20. und beginnenden 21.Jahrhundert das Speisen dennoch symbolisch aufluden, stütze ich mich nicht auf eine Feldstudie. Stattdessen ziehe ich Publikationen heran, die von Adligen selbst zum Thema Essen und Trinken veröffentlicht wurden. Neben diesen Selbstzeugnissen greife ich auch noch auf Egodokumente 31 zurück, in diesem Fall auf Literatur, in der Adlige ihr Verhältnis zum Essen durch nichtadlige Autoren haben dokumentieren lassen. Das erscheint insofern gerechtfertigt, als in der heutigen kulturwissenschaftlichen Erforschung von kulinarischer Literatur Kochbücher nur bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts als Speicher für traditionelle Gerichte und Zubereitungsweisen gelten. Seither sind Kochbücher immer mehr zu Medien des Diskurses über Stil und Trend von Kochweisen geworden. Die Verfasser betonen zunehmend ihre innovativen Intentionen. 32 Vor dem Hintergrund dieses Wandels lassen sich auch Publikationen Adliger zu kulinarischen Themen als Indikatoren von kultureller Entwicklung beziehungsweise als Dokumente von Reinventionen verstehen und auf ihren Gehalt an zeitgenössischer Adelszugehörigkeit befragen. In die Kategorie der Egodokumente gehören beispielsweise drei Bände mit dem Titel „Fürstliche Menüs“, die die Kochbuchautorin, Schauspielerin und Moderatorin Marion Kiesewetter mit zwei Fotografen erarbeitet hat. 33 In jedem der Kochbücher werden auf dem Land lebende Adlige aus einem Bundesland mit ihren

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Zur Diskussion über Selbstzeugnisse und Egodokumente vgl. Benigna von Krusenstjern, Was sind

Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17.Jahrhundert, in: HA 2, 1994, 462–471; Winfried Schulze (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 2.) Berlin 1996. 32

Zum Wandel der Kochbücher im 20.Jahrhundert vgl. Trude Ehlert, Kochbücher von Gastronomen und

Köchen als Indikatoren kultureller Entwicklungen, in: Wierlacher/Bendix (Hrsg.), Kulinaristik (wie Anm.10), 248; grundlegend dies., Zum Funktionswandel der Gattung Kochbuch in Deutschland, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder. Berlin 1993, 319–341. 33

Marion Kiesewetter, Fürstliche Menüs: Adelsfamilien in Schleswig-Holstein bitten zu Tisch. Fotos von

Thomas Ruddies. Heide 2005; dies., Fürstliche Menüs: Adlige Familien in Niedersachsen bitten zu Tisch. Fotos Michael Holz. Heide 2006; dies., Fürstliche Menüs. Mecklenburg-Vorpommern: In historischen Gemäuern festlich speisen. Fotos Michael Holz. Heide 2007. Im Gefolge der Buchpublikationen entstand auch eine gleichnamige Sendereihe „Fürstliche Menüs mit Marion Kiesewetter“, die der WDR, HR und NDR ausstrahlten. Vgl. hierzu die Website von Marion Kiesewetter, http://www.marion-kiesewetter.de/biographie.html [Zugriff am 24.2.2012].

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Schlössern und einem von ihnen gekochten Festessen vorgestellt. Insgesamt porträtieren die Bücher elf Adelsfamilien aus Schleswig-Holstein, zehn aus Niedersachsen und acht aus Mecklenburg-Vorpommern. 34 Für die Auswahl der Familien hat die Autorin sich den Empfehlungen des informellen Netzwerkes unter adligen Rittergutsbesitzern überlassen. 35 Die Kochbücher von 35 cm Höhe und 25 cm Breite mit zahlreichen großformatigen und teils doppelseitigen Farbabbildungen illustrieren nicht die Zubereitungsschritte beim Kochen. Speisen und Getränken werden durchweg im verzehrfertigen Tafelarrangement abgebildet. Auch die in der Regel vier und in Ausnahmen bis zu sieben Rezepte pro Menü nehmen nur knapp die Hälfte des Buches ein. Denn die drei Kochbücher sind nach Gütern gegliedert und widmen sich auf zumeist sieben Seiten zunächst jeweils dem Herrenhaus und der Familie, die es bewohnt. Danach folgen fünf oder in Ausnahmefällen sechs Seiten mit Speisefolge, Rezepten und Foodfotografie. Der Band über Adelsfamilien in Schleswig-Holstein bietet auf 128 Seiten 43 Rezepte, der Folgeband zu Niedersachsen enthält auf 159 Seiten 50 Rezepte, und der letzte Teilband zu Mecklenburg-Vorpommern weist 41 Rezepte auf 132 Seiten auf. Daher gehören diese Veröffentlichungen in jene Gruppe von Kochbüchern, die sich der Küche spezifischer sozialer Gruppen widmen, um Speisen durch

34 Der Band über Mecklenburg-Vorpommern enthält auch ein Kapitel über die Familie Olbrisch im Gutshaus Langensee, einem Vorwerk des Gutes Boldebuck. Frau Olbrisch wurde als Katharina von Koenigsegg geboren. Inwiefern sich diese Familie dem Adel zurechnet, lässt der Text, in dem die Familie vorgestellt wird, offen. Vgl. ebd.38–43. 35 Auf meine Frage, wie der jeweilige Kreis der Familien zusammengekommen sei, den Marion Kiesewetter in den drei Bände „Fürstliche Menüs“ vorgestellt habe und ob sie bei der Suche von regionalen Adelsverbänden unterstützt worden sei, teilte mir die Autorin am 8.3.2012 in einer E-Mail mit: „Adelsverbände gibt es nicht, vielmehr ist der ganze Adel ein lockerer Verband. Man ist ständig in Verbindung und wenn ich an die Tür eines Schlosses klopfte, wurde mir freudig aufgemacht, denn man wusste schon alles über mich. Die großen Tafeln finden bei Familienfeiern und ähnlichen Anlässen statt und das Besondere ist eigentlich das Stilvolle. Dort findet man noch ausgesuchte Höflichkeit, ehrliche Freundlichkeit und vieles mehr, was heute vielerorts abhanden gekommen ist. Dies alles darzustellen war das Anliegen meiner Freunde. Sensationspresse und ähnliches auszuschließen, war Bedingung.“ Obwohl Kiesewetter die regionalen Adelsverbände nicht konsultiert hat, wurde sie offensichtlich von befreundeten Adligen an andere Adlige, die ehemalige Rittergüter besitzen, weitergeleitet und profitierte von der gruppeninternen Vernetzung. – Anders als Kiesewetter schildert, existiert auch in dieser Region ein Adelsverband. Die Vereinigung des Adels in Hamburg und Schleswig-Holstein wurde am 20.Januar 1952 gegründet und gehört der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände (VdDA) seit deren Gründung im Jahre 1956 an. Die Schleswig-Holsteinische Ritterschaft nennt auf ihrer Website den Vertrag von Ripen vom 2.März 1460 als ihr Gründungsdatum, vgl. http://www.sh-ritterschaft.de/index.php?id=ft-texte&text=3 [Zugriff am 8.3.2012].

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Abb. 1: Matthias Freiherr von Münchhausen auf Apelern und sein Sohn Philipp mit einem Portrait ihres Vorfahren Börries Freiherr von Münchhausen (Foto: Michael Holz).

ein besonderes Ambiente zu profilieren. 36 Bei den „Fürstlichen Menüs“ umrahmt die Lebenswelt adliger Gutsbesitzerfamilien die Kochanweisungen. Abbildungen von Herrenhäusern und Parks, von Räumen und Interieurs, von eingedeckten Festtafeln und Speisen auf Familienporzellan wollen eine harmonische und traditionsreiche Atmosphäre vermitteln. Die Fotos präsentieren ganz genretypisch durchweg gelassen-glückliche Familienmitglieder, die Speisen zubereiten oder sich in vertraut exklusiver Umgebung der Kamera stellen. Verweise auf die Vergangenheit der einzelnen Familien finden sich unter anderem stets am Beginn des Rezeptteils. Denn dieser beginnt immer mit einer Menükarte, über der ein Wappen auf den Adel des jeweiligen Geschlechts verweist. Darüber hinaus werden aber auch Ahnenporträts gezeigt, die lebende Personen unverkennbar in Bezug zur Familiengeschichte stellen. Beispielsweise bildet ein Foto eine Situation ab, in der Matthias Freiherr von Münch-

36

Zur Kategorisierung von Kochbüchern in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts vgl. Ehlert, Zum

Funktionswandel der Gattung Kochbuch (wie Anm.32), 320–325.

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hausen auf Apelern seinem Sohn Philipp das Portrait des Vorfahren Börries Freiherr von Münchhausen erläutert, der laut Bildunterschrift das Schloss 1561 erbaute. 37 Ein Beispiel für die Aufladung eines aktuell arrangierten Interieurs bietet eine Fotografie von Nicolaus Graf zu Reventlow. Er hat sich auf seinem holsteinischen Gut Eckhof 15 km nördlich von Kiel eine moderne Küche neben dem Esszimmer einbauen lassen. 38 Graf zu Reventlow ist Landwirt, kocht aber laut Bildunterschrift und Begleittext auch gerne „schmackhafte Gaumenkitzler“. 39 Die Fotografie, die ihn in seiner Küche zeigt, enthält mehrere Hinweise auf die Zugehörigkeit zum Adel. Ein Kronleuchter aus Hirschgeweihen, der über dem freistehenden Küchenblock hängt, ist ein moderner Bezug auf die Jagd. Dass auch heute noch viele Adlige die Jagd ausüben, steht in einem Traditionszusammenhang zur ehemaligen Grund- oder Gutsherrschaft. Denn dem Rittergutsbesitzer stand vor der Bauernbefreiung zu, auf dem Land seiner Untertanen zu jagen. 40 Im Text zu Gut Eckhof und seinen Bewohnern teilt die Autorin mit, der Kronleuchter symbolisiere für Graf zu Reventlow seinen „besonderen Bezug zum Wildfleisch jeglicher Art, das [er] gerne“ koche. 41 Zur Vorzugsspeise Wild passt auch ein Weimaraner Vorstehhund, der von rechts ins Bild läuft. 42 Außerdem finden sich in der Küche des Grafen zu Reventlow noch zwei Porträts, die vermutlich Verwandte des Grafen zeigen. 43 Auf Gut Eckhof hat eine neu eingerichtete Küche auf dem aktuellen Stand der Technik nicht nur die Nachfolge der vormaligen Herrschaftsküche übernommen, sie wurde zudem mit mehreren Bezügen zum Adel ausgestattet. Aber auch bei den Speisen, die Graf zu Reventlow empfiehlt, lassen sich Projektionsflächen finden. Er stellt als Menü folgendes zusammen: „Eckhöfer Mango-Salat,

37 Kiesewetter, Niedersachsen (wie Anm.33), 12. 38 Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 68, die Abbildungsgenehmigung wurde nicht erteilt. 39 Ebd. 40 Zu Adel und Jagdrecht vgl. Charlotte Tacke, Die „Nobilitierung“ von Rehbock und Fasan, in: Holste/ Hüchtker/Müller (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben (wie Anm.3), 223–247; Matzerath, Adelsprobe (wie Anm.3), 389f., 403f. und 417–420. Zum Stellenwert der Jagd für die Gruppenkohäsion des Adels um 1900, allerdings ohne Rekurs auf den Wandel des Jagdrechts durch die Ablösung der Feudallasten, vgl. Wolfram G. Teilemann, Der Adel im grünen Rock. Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz und die preußische Forstbeamtenschaft 1866–1914. Berlin 2004, 88–121. 41 Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 69. 42 Auf der Website des Gutes Eckhof finden sich Informationen zur Zucht von Weimaranern, vgl. http:/ /www.gut-eckhof.de/weimaraner [Zugriff am 7.3.2012]. 43 Anfragen bei der Familie der Grafen Reventlow und bei der Buchautorin blieben leider unbeantwortet.

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Karpfenfilets mit Bratkartoffeln und grüner Sauce, Mufflonrücken mit Gemüse“ und als Dessert ein Gericht mit dem Namen „Scheiterhaufen“. 44 Die Gerichte selbst folgen keiner alten kulinarischen Ästhetik. Graf Reventlow bevorzugt die Kochweise der Gegenwart: Zutaten wie Balsamico oder Kräuter der Provence, Olivenöl oder Crème fraîche verweisen auf die Internationalisierung seiner Küche. 45 Der „Eckhöfer Mango-Salat“ ist offenbar eine Eigenkreation des Grafen. Da der Name des Rittergutes mit einer Speise verbunden wird, darf man dieses Gericht als Spezifikum des Hauses ansehen. Seinen Namen hat der Salat aber auch von den Mangos, die ursprünglich im tropischen Regenwald Asiens wuchsen. Zudem kommen noch Avocados in den Mangosalat Eckhöfer Art, die der Fauna des tropischen und subtropischen Zentralamerika entstammen. Da beide Früchte an Bäumen oder Büschen wachsen, die weder in Holstein noch überhaupt in Deutschland gedeihen können, müssen sie über den internationalen Nahrungsmittelhandel bezogen werden. Der Salat des Grafen zu Reventlow greift daher keine gruppenspezifisch adlige oder regionale Speisetradition auf, sondern orientiert sich an der heute in Deutschland verfügbaren Palette von Nahrungsmitteln. 46 Der zweite und dritte Gang des Menüs, Karpfen und Mufflon, erweisen sich dagegen als sehr viel bodenständiger. Denn Eckhof hat sowohl eine große Karpfenzucht,

44

Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 73.

45

„Karpfenfilets mit Bratkartoffeln und Grüner Sauce“ kocht Graf zu Reventlow für vier Personen mit

folgenden Zutaten: „2 Karpfenfilets (vom Fischhändler filetieren lassen) | Mehl | Meersalz | schwarzer Pfeffer aus der Mühle | Olivenöl zum Braten | Grüne Sauce: 1 P[äc]k[chen] T[ief]k[ühl]-8-Kräuter (oder frische Kräuter aus dem Garten) | 1 Becher Crème fraîche (150 g) | 1 Becher Sahnequark 40 % (250 g) | Meersalz | schwarzer Pfeffer aus der Mühle“; vgl. Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 75; Der „Mufflonrücken mit Gemüse“ für vier Personen hat folgende Zutatenliste: „1 kg Mufflonrücken (oder Lammrücken) | 5 EL Olivenöl | Kräuter der Provence (oder gemischte Kräuter aus dem Garten) | 2 Zehen Knoblauch | schwarzer Pfeffer aus der Mühle || Sauce: 100 ml Balsamico | 200 ml Rotwein | 100 ml Wildfonds (Glas) | 4 Möhren | 1 Prise Zucker | 1 Schalotte | 1 Zweig Rosmarin“; vgl. Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 76. Allgemein zur Internationalisierung der bundesrepublikanischen Küche vgl. Anm.29. 46

Ein Eigenprodukt lässt sich auch als Identifikation des Gutes und der Familie nutzen und damit als

Teil des adligen Lebens der Familie aufladen beziehungsweise ausweisen. In der Fernsehserie „Von und zu lecker“ sind fünf adlige Frauen zu Gast bei Caroline von Reden auf dem Schloss Wendlinghausen im Teutoburger Wald. Bei der Anfahrt spricht Alexandra Erbprinzessin von Croy, die zu den Eingeladenen zählt, über das Essen, das sie bei ihrer Gastgeberin erwartet. Sie vermutet: „Also wenn die Gäste haben, gibt’s eigentlich immer Karotten, Kartoffeln und Ente.“ Karotten und Kartoffeln kommen aus der gutseigenen Landwirtschaft, die Enten von den Teichen rund ums Schloss. Vgl. Von und zu lecker zu Gast bei Caroline von Reden auf Schloss Gut Wendlinghausen, Minute 17:49–17:53, erste Ausstrahlung 10.September 2011, WDR, 17.50 Uhr.

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deren Erträge gemeinsam mit denen eines anderen Züchters vermarktet werden. Aber auch Mufflons verkauft Graf zu Reventlow direkt vom Hof. 47 Diese Gerichte lassen sich als Beleg interpretieren, dass der Eigentümer von Gut Eckhof auch Marketinginteressen damit verband, sich an dem Buch über „Fürstliche Menüs“ zu beteiligen. Für den Nachtisch hingegen fehlt wie beim Mangosalat ein solcher Bezug. Das Dessert wird durch den Begleittext vielmehr explizit als Projektionsfläche ausgewiesen. Denn das Rezept aus Himbeeren, Baiser und Schlagsahne endet mit dem Hinweis: „Lieblingsspeise der Reventlows, denn die Familienfarben sind Rot und Weiß.“ 48 Dass eine Nachspeise an Familienfarben erinnern soll, meint auch die Familie von Bronsart auf Wasserschloss Hülsede in Niedersachsen. 49 Marion Kiesewetter rapportiert in ihrem Buch zu Menüs von niedersächsischen Adligen nämlich: „Die gelb-weiße ‚Welfenspeise’ wird im Louis XVI.-Wohnzimmer eingenommen. Gelb und Weiß sind die Welfenfarben des alten Königreichs Hannover. Diese Nachspeise wird im Hause geliebt, weil es immer eine Verbindung zum Königshaus gab. Der Großvater der jetzigen Besitzerin Monika von Bronsart, Hermann von Mengersen, diente nach der verlorenen Schlacht bei Langensalza gegen die Preußen in England.“ 50 Zu antipreußischen oder welfischen Gefühlen könnte sich im ehemaligen Kurfürstentum Hannover zwar jeder bekennen. Dafür spricht, dass unter anderem zur Welfenspeise ein Artikel bei Wikipedia existiert, der das Gericht als Spezialität aus Niedersachsen ausweist und mit dem 200-jährigen Thronjubiläum der Welfendynastie in Verbindung bringt. 51 Die Verweise auf die Beziehungen der eigenen Vorfahren zum Hannoveraner Hof und die konsequent antipreußische Gesinnung des Großvaters sind allerdings ein Hinweis auf die vormalige Bedeutung der Familie, der außerhalb des Adels nur schwer zu erbringen sein dürfte. Ob diese Familienerinnerung historiografisch exakt ist, hat beim Verspeisen des Nachtischs sicher nur geringe Relevanz. Wichtig ist vielmehr der Projektionsmechanismus. Die Welfenspeise ist zunächst ein Vehikel, um auf die Vorfahren zu verweisen. Zudem lässt sich mit

47 Kiesewetter, Schleswig-Holstein (wie Anm.33), 69. 48 Ebd.77. 49 Hülsede liegt knapp 40 km westlich von Hannover. 50 Kiesewetter, Niedersachsen (wie Anm.33), 91. 51 http://de.wikipedia.org/wiki/Welfenspeise [Zugriff am 17.3.2012]; vgl. auch die Kommentare zur Welfenspeise bei Chefkoch.de, http://www.chefkoch.de/rezepte/24601006003280/Welfenspeise.html [Zugriff am 17.3.2012].

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Abb. 2: Lauensteiner Gläser aus dem 18. Jahrhundert in einer Halle des 16. Jahrhunderts auf Wasserschloss Hülsede (Foto: Michael Holz).

diesem Dessert ein Bekenntnis der Vorfahren geradezu inkorporieren. Wer von dieser Creme isst, kann die königstreue Gesinnung des Großvaters demonstrativ fortsetzen und an dessen hofnahe Position erinnern. Im Wasserschloss Hülsede gelingen aber auch Verweise, die noch weiter in die Vergangenheit zurück deuten. Das Ehepaar von Bronsart offeriert in seinem Menü ein Orangensorbet mit Wodka. Um dieses Getränk zu präsentieren, entstand ein Foto in der Halle des Hauses, die bereits im Jahre 1548 erbaut wurde. In diesem Ambiente sieht der Betrachter 250 Jahre alte Lauensteiner Gläser, in denen sich bereits eine gefrorene Mischung aus frisch gepresstem Orangensaft, Zucker und Wodka befindet und die soeben mit Champagner aufgefüllt werden. 52 Die Hütte, in der von 1701 bis 1827 Lauensteiner Glas produziert wurde, lag 30 km südlich von Hülsede in Salzhemmendorf. 53 Auch auf dem benachbarten Rittergut Eckerde bei der Familie 52

Kiesewetter, Niedersachsen (wie Anm.33), 89. Die Zutatenliste für „Orangensorbet mit Wodka“ für vier

Personen lautet: „5 Orangen (unbehandelt) | 3 EL Zucker | 4 Schnapsgläschen Wodka | Zitronenmelisse | 200 ml Champagner“. 53

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Zu Lauensteiner Gläsern vgl. Adelheidis von Rohr, Lauensteiner Glas (1701–1827). Ein Beitrag zur Wirt-

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von Heimburg 15 km nordöstlich von Hülsede gibt es 250-jährige Lauensteiner Gläser. 54 Da beide Gutsbesitzerfamilien sie für ihre Menüs in Szene setzen ließen, liefern diese alten Gläser so etwas wie den Nachweis langer Zugehörigkeit zur regionalen Führungsformation. Auf Rittergütern mit einem seit Jahrhunderten tradierten Inventar mag eine solche Aufladung von Essen durch Tafelzubehör recht leicht gelingen. Über das hinaus, was bereits angeführt worden ist, kann man an altes Porzellan denken oder an Silberbesteck mit Wappen oder an Servietten, auf die ein Wappen gestickt ist. Welche Projektionsflächen nutzen aber Adlige, die kein Rittergut haben und die vielleicht auch kein Familiensilber besitzen? Ohne Rückgriff auf solche zur Konnotation prädestinierten Gegenstände beziehungsweise Immobilien wird die Projektionsfläche Nahrungsmittel wesentlich disponibler. Speisen müssen von Adligen durchaus nicht für die Repräsentation ihrer Gruppenzugehörigkeit genutzt werden. Alexander von Schönburg, der mit seinen Publikationen seit dem Jahre 2005 das „stilvolle Verarmen“ Adliger einer breiten Öffentlichkeit publizistisch präsentiert hat 55, kann einer kulinarischen Ästhetik wenig abgewinnen. Unter der Kapitelüberschrift „Essen macht satt. ‚Schön‘ essen gehen und andere Unarten“ distanziert sich von Schönburg von der „Erlebnisgastronomie“ der heutigen deutschen Spitzenköche: „Selbst das, was einmal als Haute Cuisine galt, hat längst aufgehört, Essbares hervorzubringen.“ 56 Als Antidoton zur fortgeschrittenen kulinarischen Ästhetik der Sterneköche empfiehlt der Verfasser eine reduzierte heimische Küchenpraxis: „Meine Mutter kochte, wenn wir Gäste hatten, immer das Gleiche, ihr ganzes Leben lang: ein ungarisches Krautgericht namens Káposztás kocka. Danach gab es ein ungarisches Dessert, ein Kastanienpüree. Genau diese beiden Speisen beherrschte sie, das allerdings perfekt. Nie wurde bei uns ein großes Gewese ums Essen gemacht, mit dem Ergebnis, dass die Gäste sich tatsächlich unterhielten und nicht den halben Abend damit verbrachten, das Menü zu loben, das natürlich hervorragend war, aber darauf verzichtete, sich in den Vordergrund zu drängen.“ 57

schafts- und Kulturgeschichte Niedersachsens. Historisches Museum Hannover. Hannover 1991; Franz Ohlms/Hans-Dieter Kreft, Lauensteiner. Glas aus Osterwald. Karlsruhe 1995. 54 Kiesewetter, Niedersachsen (wie Anm.33), 41. 55 Alexander von Schönburg, Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird. Berlin 2005. 56 Ebd.94. 57 Ebd.99.

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Andererseits vertraut von Schönburg auch nicht auf die Produkte der Nahrungsmittelindustrie, der er unterstellt, „die Folgen der Fresssucht als Wachstumsmarkt entdeckt“ zu haben. 58 Außerdem mische die „Industrie unserem Essen vermehrt chemische Zusätze bei, die es haltbarer, farbiger, geschmacksintensiver“ machten, „unserer Gesundheit aber Schaden“ zufügten. 59 Deshalb plädiert von Schönburg dafür, auch bei schmalem Geldbeutel auf Qualität zu achten und biologisch hergestellte Lebensmittel zu kaufen. 60 Die Positionierung dieses Adligen, dessen Familie zu den ehemaligen Standesherren gehört, gegen die Gourmandise und für eine schlichte Küche aus hochwertigen Zutaten bleibt allerdings ohne Verweise auf seine Zugehörigkeit zum Adel, wie sie sich in den Publikationen von Marion Kiesewetter aufzeigen lassen. Von Schönburg will keine gruppenspezifischen Verhaltensweisen erläutern, sondern gesamtgesellschaftlich gültige Maximen aufstellen. Er ordnet den Genuss von Speisen und Getränken dem Tafelgespräch unter und fordert, den Gästen den Vorrang vor kulinarischen Sensationen zu geben. Sofern ein solches Mahl als Vergesellschaftungsmechanismus innerhalb des Adels gedacht wird, weist es der Teilnahme an adliger Binnenkommunikation die übergeordnete Bedeutung zu. Mit ganz ähnlicher Ausrichtung auf alle sozialen Gruppen, aber entgegengesetzter Bewertung des entwickelten Geschmacks positionieren sich Publikationen von Gert von Paczensky. Er war einer der Begründer der Gastronomiekritik in Westdeutschland 61, dessen selbständige Veröffentlichungen allerdings keine Projektionsflächen von Adel aufweisen. 62 Der Autor verschließt sich dieser Möglichkeit offensichtlich mit Absicht, obwohl er durchaus weiß, dass Essen sich adlig aufladen lässt. In seiner Autobiografie erzählt er nämlich, dass seine männlichen Vorfahren über zwei Jahrhunderte lang preußische Offiziere waren. 63 Sein Großvater war General und sein Vater bereits im Ersten Weltkrieg Fliegeroffizier. Das Lieblings-

58

Ebd.100.

59

Ebd.103.

60

Ebd.104f.

61

Jürgen Dollase, Die Restaurantkritik, in: Satt? kochen. essen. reden. (Katalog der Museumsstiftung Post

und Telekommunikation, Bd. 28.) Frankfurt am Main 2009, 45. 62

Gert von Paczensky, Feinschmeckers Beschwerdebuch. Brevier wider die Sünden der Gastronomie.

Reinbek bei Hamburg 1976; ders., Cognac. Weil der Stadt 1984; ders., Champagner. Weil der Stadt 1987; ders./Anna Dünnebier, Leere Töpfe, volle Töpfe. Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens. München 1997; ders., Wo Frankreich am besten isst. Aquitane, zwischen Pyrenäen und Atlantik. Weil der Stadt 1998. 63

Gert von Paczensky, Journalist mit Appetit. Köln 2003, 116f.; Allgemein zur Familie von Paczensky vgl.

Genealogisches Handbuch des Adels. Bd. 147. Adlige Häuser Band 31. Limburg an der Lahn 2009, 302.

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gericht des Vaters bekam von Paczensky schon als Kleinkind: Der Vater „brockte altes Brot in einen Suppenteller und schöpfte heiße dünne Mehlsuppe darüber. Durch fleißiges, energisches Rühren entstand ein Pamps, den wechselseitige Zugabe von Brot und Suppe vergrößerten, bis der Teller voll war.“ 64 Als Kind aß von Paczensky dieses Gericht mit Begeisterung. Später kommentierte er als Gastronomiekritiker die Speise mit nachsichtigem Verständnis, weil sein Vater seine Jugend in einer Kadettenanstalt zugebracht habe: „Preußischer Offiziersnachwuchs wurde äußerst karg ernährt und spartanisch erzogen.“ 65 Eine solche Adelsküche, die von preußischer Frugalität geprägt ist, konnte den Gourmet Gert von Paczensky offensichtlich nicht ein Leben lang fesseln, auch wenn sie zu seinen kulinarischen Kindheitserinnerungen gehörte. Dieser Autor konnotiert in seinem breiten Œuvre zur Gourmandise die feine Küche nicht mit Adel. Ganz anders fällt dagegen der Befund für die Publikationen der Brigitte von Boch, geb. Engelsberger, aus. Sie ist am 11.September 1976 durch Heirat mit Wendelin von Boch Mitglied des Adels geworden. Wendelin von Boch ist Vorstandsvorsitzender der Villeroy & Boch AG. Seine Familie wurde im Kaiserreich in den Adelsstand erhoben. Diese Tradition nutzt Brigitte von Boch in ihren Publikationen. Vor allem im ersten ihrer zwei Bände mit dem Titel „Einladungen“ zeigt die Autorin Familienfotos aus dem Kaiserreich: eine Tauffeier, eine Hochzeit und die Familie vor der Kamera aufgestellt. Dazu gibt es eine Einladungskarte zum Geburtstagsessen bei Roger von Boch vom 12. Dezember 1912. 66 Über das Porzellan, das Brigitte von Boch in ihren Büchern zeigt, erübrigen sich weitere Ausführungen. Es ist das ökonomische Fundament der Familie und der Grund für ihre soziale Stellung. In den genannten Veröffentlichungen werden so viele unterschiedliche Porzellanservices abgebildet, dass keinem von ihnen die Funktion einer Projektionsfläche von Adel zugewiesen werden kann. Die Bücher von Brigitte von Boch lassen sich in diesem Punkt eher als Verkaufsförderung lesen. Kulinarisch präsentiert auch diese Autorin keine Aufladung von Speisen mit Adelsverweisen. Sie praktiziert eine modische Küche, die weltweit Anleihen nimmt. Ihr Kochbuch hat sie zusammen mit dem Koch Frank Pahlke geschrieben. Pahlke arbeitete bis 2005 im weiteren Umkreis von Saarbrücken beziehungsweise

64 von Paczensky, Journalist (wie Anm.63), 36. 65 Ebd.36. 66 Brigitte von Boch, Einladungen. Frühjahr und Sommer. Luxemburg 1999, 18.

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von Schloss Reinhartshausen, dem Stammsitz der Bochs. Obwohl ein Gourmetkoch an den Rezepten mitschrieb, gehören sie nicht zur exquisiten Küche. Denn Brigitte von Boch will zwar, dass es schmeckt in ihrer Küche. Es „wird [aber] vor allen Dingen schnell und gesund gekocht“. 67 Die Autorin verzichtet daher auf zentrale Kennzeichen der exquisiten Küche. Es geht ihr nicht vorrangig um erstklassige Zutaten und auch nicht um kulinarische Ästhetik. 68 Allenfalls das Ambiente der Zeit um 1900 lässt sich als zurückhaltender Hinweis auf den Adel deuten. Ansonsten dienen in von Bochs Publikationen Nahrungsmittel so wenig als Projektionsflächen wie in denen von Gert von Paczensky und von Alexander von Schönburg. Andere adlige Autoren nutzen in ihren Publikationen jedoch durchaus Kulinarisches als Projektionsflächen von Adel. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhundert haben sich nämlich zwei Varianten einer Erinnerungsliteratur entwickelt, in der Adlige über Ernährung an die Vergangenheit ihrer Familie Anschluss suchen. Der erste Typ ist schon vor der Deutschen Einheit von 1990 entstanden. Eine prominente Protagonistin diese Buchgattung ist Ilse Gräfin von Bredow, die in einem Forsthaus Lochow bei Rathenow aufwuchs, seit dem Beginn der 1950er-Jahre aber in Hamburg lebte. 69 Sie schrieb beispielsweise 1979 den Bestseller „Kartoffeln mit Stippe. Eine Kindheit in der märkischen Heide“. 70 Das Kartoffelgericht im Titel steht für die Kargheit der Rittergutsküche und die märkische Heide für eine glückliche Kindheit in naturhafter Schlichtheit.

67

Dies., Kochbuch. Schnell. Gesund. Einfach. Luxembourg 2000, 4.

68

Zu den Grundmaximen der kulinarischen Ästhetik der deutschen und allgemein der europäischen

Küche seit der Mitte des 17.Jahrhunderts vgl. Eva Barlösius, Soziale und historische Aspekte der deutschen Küche, in: Stephen Mennell (Hrsg.), Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main 1988, 423–444; dies., Eßgenuss (wie Anm.12); Becker, Gourmand (wie Anm.2), 214–225; Harald Lemke, Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Bielefeld 2007; zur aktuellen Diskussion um die kulinarische Ästhetik vgl. beispielsweise Ernst-Ulrich Schassberter (Hrsg.), Eurotoques. Zurück zum Geschmack. Stuttgart/Leipzig 2004; von Engelhard/Wild (Hrsg.), Geschmackskulturen (wie Anm.29); Jürgen Dollase, Kulinarische Intelligenz. Wiesbaden 2006; Hans-Ulrich Grimm, Kulinaristik als Nahrungskritik, in: Wierlacher/Bendix (Hrsg.), Kulinaristik (wie Anm.10), 194–205; Alois Wierlacher, Oralität und Kulturalität von Geschmack und Genuss, in: ebd.157–171; Daniele Dell’Agli (Hrsg.), Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle. Frankfurt am Main 2009; Thomas Vilgis, Kochuniversität – Geschmack. Wiesbaden 2010. 69

Vgl. hierzu den Klappentext von Ilse Gräfin von Bredow, Ich sitze hier und schneide Speck. Die Küche

meiner Kindheit. Mit Rezepten von Dagmar von Cramm. Bern/München/Wien 2000. 70

Dies., Kartoffeln mit Stippe. Eine Kindheit in der märkischen Heide. Bern/München 1979. Stippe ist

eine Mehlsoße mit Speck und Zwiebeln.

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Im Jahr 2000 hat Gräfin von Bredow das Thema ihres erfolgreichen Erinnerungsbuches fortgesetzt. Sie publizierte ein weiteres Werk mit ähnlicher Thematik unter dem Titel „Ich sitze hier und schneide Speck“, schon im darauf folgenden Jahr 2001 veröffentlichte sie „Gieß Wasser in die Suppe – heiß alle willkommen“. 71 In beiden Büchern finden sich episodenhafte Erzählungen vom Leben auf einem märkischen Rittergut vor 1945. Die Geschichten werden mit Kochanweisungen ergänzt, die aber nicht von Gräfin von Bredow abgefasst oder gar aus einer alten Rezeptsammlung der Familie entnommen sind. Die Kochanweisungen steuerte Dagmar Freifrau von Cramm bei, die durch ihre Ehe mit Edgar Freiherr von Cramm Mitglied des Adels geworden ist. Dagmar von Cramm ist eine sehr erfolgreiche und in den Medien immer wieder präsente Ernährungsberaterin, die allerdings weniger der Gourmandise zuneigt als den Schlankheitskuren und der sogenannten bewussten Ernährung. Jedenfalls finden sich in ihren Rezepten keinerlei Hinweise auf einen besonderen adligen Geschmack. Auch die jüngeren Buchtitel der Gräfin von Bredow verweisen auf Frugalität. Die Bücher, die sie gemeinsam mit von Cramm veröffentlicht hat, gehören in die Kategorie von Publikationen, die Speisen mit einem gruppenspezifischen Ambiente umrahmen. Insgesamt inszenieren Gräfin von Bredow und Freifrau von Cramm einen kulinarisch bescheidenen und gesundheitlich klugen Konsum als Adelskennzeichen. Der zweite Typus von Büchern, mit dem Adlige über das Essen an die Vergangenheit ihrer Familie anknüpfen, veröffentlicht alte Rezepte aus der Küche der eigenen Vorfahren. Solche Publikationen sind bislang nur von Adligen vorgelegt worden, die nach 1990 wieder nach Ostdeutschland gezogen sind. 72 Sie wollen mit diesen Veröffentlichungen an die Tradition ihrer Familien anknüpfen. In diese Kategorie gehört das Buch von Gisa und Bernhard von Barsewisch „Bei den ‚Edlen Gänsen‘ zu Tisch“. 73 Die Mutter dieser Geschwister von Barsewisch war eine geborene Gans zu Putlitz. 74 Gisa von Barsewisch arbeitete seit 1970 als Redakteurin bei „essen & trinken“, der ersten Gastronomiezeitschrift der Bundesrepublik. Von Barsewisch hat mehrere Kochbücher publiziert 75, die – wie die Publikationen von Gert von Paczens71 Dies., Ich sitze hier (wie Anm.69); dies., Gieß Wasser in die Suppe – heiße alle willkommen. Mit Rezepten von Dagmar von Cramm. Bern/München/Wien 2000. 72 Vgl. auch von Below, Rezepte (wie Anm.11). 73 von Barsewisch/von Barsewisch, Bei den „Edlen Gänsen“ (wie Anm.30). 74 Ebd.37. 75 Gisa von Barsewisch, Exotische Früchte und Gemüse in unserer Küche. München 1978; dies. (Red.), Das

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ky – rein aufs Kulinarische ausgerichtet sind. Allerdings erreichte von Barsewisch keine so hohe öffentliche Reputation wie Gert von Paczensky. Das Buch „Bei den ‚Edlen Gänsen‘ zu Tisch“ knüpft an die Familiengeschichte der von Barsewischs an. Bernhard von Barsewisch ist Augenarzt und kaufte 1991 das Gutshaus in Groß Pankow 10 km westlich von Pritzwalk. Damit übernahm er eine Außenstelle des dortigen Krankenhauses und betreibt seitdem im Herrenhaus seiner Großeltern zu Putlitz eine Gemeinschaftspraxis. Die Rezepte aus der Rittergutsküche von Groß Pankow sollen nach dem Willen der Herausgeber einen Einblick in die vergangene Gutshauswelt geben. 76 Die Beschreibung der Lebensbedingungen nehmen deshalb im Buch ebensoviel Raum ein wie die Rezepte. 77 Die Familienangehörigen, die Rittergüter der Familie zu Putlitz, das Personal und der Gutshaushalt werden durch Fotos dokumentiert und im Text erläutert. Das Buch präsentiert auch die nachgekochten Speisen auf Familienporzellan. Es bringt immer wieder die Vorfahren als Protagonisten zur Sprache. Ihr Leben ist der zentrale Bezugspunkt aller kulinarischen Themen. Die publizierten Rezepte dienen nicht dazu, ein historisches Geschmacksbild zu rekonstruieren. Sie sind eher gedruckte Quellen zur Kultiviertheit des Lebens auf dem Rittergut. Denn die Autoren haben aus einem Fundus von Kochanweisungen das herausgegriffen, was sie für typisch, interessant oder heute praktisch anwendbar hielten. 78 Sie wollen daher Anknüpfungspunkte an eine Vergangenheit verfügbar machen, deren Erinnerung ihnen bewahrenswert erscheint. Unter solchen Vorzeichen werden auch Festessen thematisierbar. Die Geschwister von Barsewisch drucken eine Menükarte zu einem Hochzeitsessen von 1898 ab, die neun Gänge aufzählt. 79 Da Rezepte für die einzelnen Speisen dieses Menüs fehlen, lässt sich das Niveau der Mahlzeiten am ehesten nach den Weinen beurteilt. Nach diesem Maßstab gehörte das Hochzeitsmahl eindeutig zur exquisiten Küche.

große Buch der Basisernährung. Die schönsten Rezepte der gesunden Küche. Sonderausgabe schöner essen. Hamburg 1985; dies. (Red.), Brevier vom schön gedeckten Tisch: ... schön serviert mit WMF. o.O. 1961; dies./ Heino Banderob (Red.), Das große Buch der Vollwertküche. Die schönsten Gourmet-Rezepte der gesunden Küche. Köln 1989; dies. (Red.), Das neue Buch der Salate. (essen & trinken.) Hamburg 1985; dies. (Red.), Das große Buch der Naturküche. Genießerrezepte ohne Fleisch. Köln 1985; dies. (Red.), Die neue leichte Küche für jeden Tag. (essen & trinken.) Köln 1988. 76

von Barsewisch/von Barsewisch, Bei den „Edlen Gänsen“ (wie Anm.30), 5.

77

Das Buch enthält zwar auf 223 Seiten 191 Rezepte, allerdings enthalten die Rezepte keine Zutaten-

listen und füllen daher nur ausnahmsweise eine ganze Seite.

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Ebd.6.

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Ebd.207.

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Denn man trank Champagner von Frèminet, deutschen Weißwein und französischen Bordeaux aus Spitzenlagen: Rüdesheimer Berg, Château Montrose und Château Citran. Offensichtlich ist daher bei den Geschwistern von Barsewisch die Adelszugehörigkeit nicht wie bei der Gräfin von Bredow mit Frugalität aufgeladen. Die Tafelkultur der Familienfeste erscheint vielmehr als Höhepunkt kulinarischer Kultiviertheit. Implizit setzen die auf das Gut der Großeltern zurückgekehrten Geschwister somit einen Kontrastpunkt zur Kantinenkultur der DDR und deren bis heute spürbaren Folgen. 80 Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR hat die Rittergutsküche bekanntlich mit der Bodenreform des Jahres 1945 ein abruptes Ende gefunden und muss dort heute erst wieder neu erklärt werden. Schließlich hat eine Adlige sich neuerlich selbst öffentlich als „Apfelgräfin“ bezeichnet. 81 Daisy Gräfin von Arnim auf Lichtenhain, einem alten Vorwerk von Boitzenburg, verarbeitet und verkauft seit dem Jahr 2000 Äpfel. 82 Sie hat auch einen Keks kreiert, den sie „Arnim-Thaler“ nennt. Damit wird ein mit der Zugehörigkeit zum Adel aufgeladenes Gebäck auf dem Markt verfügbar. Diese Benennung von Nahrungsmitteln dient aber wohl weniger dazu, die Familie gruppenintern mit einer Projektionsfläche auszustatten, als ein Produkt zu vermarkten und somit zum Unterhalt des betreffenden Adligen beizutragen. Ähnliche lebenspraktische Intentionen lassen sich auch für andere bereits erörterte Beispiele annehmen, in denen von Adligen angebotene Produkte mit der Aura der Herkunftsgruppen vermarktet werden. Als Resümee der Ausführungen ergibt sich ein facettenreiches Bild. Die exquisite Küche der Vorfahren kann ebenso eine Projektionsfläche von Adel sein wie die märkische Frugalität. Es gibt adlige Gastronomiekritiker und Kochbuchautoren, die darauf verzichten, ihre kulinarischen Fachpublikationen adelstypisch aufzuladen. Offenbar war das nicht vereinbar mit den Anforderungen des spezifischen Feldes, auf

80 Vgl. hierzu auch Ulf Matthiesen, Kulinarik und Regionale Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von „Mark und Metropole“. Antrittsvorlesung 27.Mai 2003 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 2005. 81 Daisy Gräfin von Arnim/Kathrin Schultheis, Die Apfelgräfin. Marburg an der Lahn 2010; Daisy Gräfin von Arnim, Himmlische Köstlichkeiten. Marburg an der Lahn 2010. 82 Lichtenhain liegt 4 km von Boitzenburg entfernt. Zur Geschichte der Familie von Arnim auf Boitzenburg vgl. Hartmut Harnisch, Die Herrschaft Boitzenburg. Untersuchungen zur Entwicklung der sozialökonomischen Struktur ländlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14. bis zum 19.Jahrhundert. Weimar 1968. Zum Vorwerk Lichtenhain vgl. auch Gräfin von Arnim/Schultheis, Apfelgräfin (wie Anm.81), 36.

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dem man sich als professioneller Gastronomieautor bewegte. Auf der anderen Seite präsentieren adlige Gutsbesitzer Menüs der heute aktuellen Küche, die sie mit Erinnerungsstücken der Familie umrahmen. Dieser Aufladungsmodus eines Lebensbereichs mittels Siegel und Wappen lässt sich schon vormodern nachweisen, wie das Foto der Freiherrn von Münchhausen (Abb.1) zeigt. Vater und Sohn betrachten ein Porträt eines Vorfahren, das mit einem Familienwappen ausgestattet ist. Es können daher mit diesem Verfahren nicht nur Speisen, sondern auch andere Gegenstände zur Projektionsfläche von Adel werden. Einige Gerichte werden sogar aufgrund ihres Aussehens mit Familienfarben beziehungsweise -wappen assoziiert. Es findet sich daher im kulinarischen Bereich nicht die eine, immer gleiche Projektionsfläche des Adels. Man muss vielmehr von herkömmlichen und auch neu erschlossenen Projektionsflächen wie beispielsweise dem „Eckhöfer Mango-Salat“ ausgehen. Jedenfalls lassen Speisen und Getränke, Tafelgeschirr und Familiensilber Projektionen zu, und sie werden auch genutzt, um Adelszugehörigkeit zu demonstrieren. Einen besonderen gruppenspezifischen kulinarischen Geschmack hat die Analyse dessen, was deutsche Adlige in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhundert zu kulinarischen Themen publizierten, nicht aufzeigen können. Vielmehr erweist sich, dass die Gruppe ein hohes Maß an Toleranz gegenüber divergierenden Positionen zur kulinarischen Ästhetik aufbrachte, um unterschiedliche, teils sogar gegensätzliche Aufladungen von Speisen und Getränken, Verzehrweisen und Tafelkultur als adelstypisch zu akzeptieren.

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Herrschaftliches Wohnen unter beengten Verhältnissen? Adel und Schloss in Südwestdeutschland 1850–1945 von Daniel Menning

Viele Dinge können Projektionsflächen von Adel sein. Manche jedoch scheinen bei einem solchen Zugriff näher zu liegen als andere. So kann man vermuten, dass es sich bei einem Schloss oder Gutshaus um eine Projektionsfläche par excellence handelt. Peter-Michael Hahn hat für die Frühe Neuzeit auf die Bedeutung des Wohnsitzes – seines Alters, seiner Ausstattung, der Besitzdauer und ähnlichem – im Rahmen binnenadliger Konkurrenz hingewiesen. 1 Ewald Frie hat in seiner Arbeit zu Friedrich August Ludwig von der Marwitz die dominierende Stellung des Herrenhauses in Friedersdorf textuell und bildlich eindrücklich verdeutlicht. Distanzierte Repräsentativität und Exklusivität sowie soziale Kontrolle waren hier miteinander verbunden – dies dürfte sich den Bewohnern Friedersdorfs ständig und dem Besucher instinktiv eröffnet haben. 2 In den adligen Memoiren der 1920er- bis 1990er-Jahre, die Stephan Malinowski und Marcus Funck ausgewertet haben, erscheinen die Schlösser aus der Autorenperspektive als Teil der ländlichen Lebenswelt, eingebunden in die dörfliche Gemeinschaft, und als Orte der familiären Vergangenheit, des jugendlichen Aufwachsens und der Lebens- und Arbeitswelt. 3 Wer in der Gegenwart durch die Gebiete östlich der Elbe reist, findet trotz Zweitem Weltkrieg und vierzig Jahren Deutscher Demokratischer Republik auf dem platten Land noch zahllose solche Überreste der adligen Lebenswelt. 4 Und auch in Südwestdeutschland

1 Peter-Michael Hahn, Ein Geburtsstand zwischen Beharrung und Bewegung. Der niedere Adel in der frühen Neuzeit, in: Günther Schulz (Hrsg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. München 2002, 215–219. 2 Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777–1937). Biographien eines Preußen. Paderborn 2001, 105–126. 3 Marcus Funck/Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: HA 7, 1999, 236–270. 4 Katja Schlenker, Die Abbrüche mecklenburgischer Gutsanlagen zwischen 1947 und 1950, in: Ulrich Kluge/Winfried Halder/Katja Schlenker (Hrsg.), Zwischen Bodenreform und Kollektivierung. Vor- und

10.1515/9783110463569-004

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existieren in den ehemaligen Adelsdörfern zahllose Schlösser und Herrenhäuser, die bis in die Gegenwart überdauert haben, zum Teil auch heute noch durch die Familien bewohnt werden, und als Monumente adliger Lebenswelt und Kultur sichtbar bleiben. Die Angelegenheit wird freilich komplizierter, wenn man nach dem intuitiven Zugang Schlösser und Gutshäuser als „Projektionsflächen von Adel“ genauer untersucht. Dann werden die zeitlich spezifischen Bedeutungszuschreibungen, die ländliche Wohnsitze durch den Adel erfuhren, deutlich. Zugleich wird eine breitere Kontextualisierung der Bilder, die auf Schlösser projiziert wurden, über den Adel hinaus notwendig. Schließlich erscheint es aber auch nicht als hinreichend, nur die schnell an Stilisierung heranreichenden Bedeutungszuschreibungen zu untersuchen, sondern auch die Praxis muss in den Blick genommen werden. Entsprach sie den propagierten Bildern oder wich sie davon ab? Welche Bedeutung hatten Abweichungen im Hinblick auf die Anpassung von Bildern an die Praxis oder umgekehrt? Diesem Problemkomplex folgend wird die Untersuchung in drei Schritten vorgehen: Als erstes sollen die Schlossprojektionen Adliger im ideengeschichtlichen Kontext betrachtet werden. Darauf folgt die Untersuchung der praktischen Nutzung der Schlösser, bevor schließlich Bemühungen um die Homogenisierung von Bildern und Praktiken betrachtet werden. Exemplarisch dienen der Untersuchung die Kondominate ehemaliger reichsritterlicher Familien in Baden und Württemberg als Grundlage. Diese hatten 1806 ihre Reichsunmittelbarkeit verloren und waren Untertanen der neuen Mittelstaaten Baden und Württemberg geworden. Die früheren Reichsritter brachten aus der Zeit des Alten Reiches die Tradition der Vererbung ihres Grundbesitzes als Stammgüter oder Fideikommisse mit, allerdings mit einer Besonderheit in zahlreichen Familien – den Kondominaten. Bei diesen erbte nicht nur ein Sohn, sondern alle Söhne erhielten jeweils einen Bruchteil des Besitzes des Erblassers, und in zwei Fällen waren auch die Töchter vom Erbe nicht ausgeschlossen. Ansonsten galten die üblichen Beschränkungen im Hinblick auf die Verfügung über und die Verschuldung der Vermögenssubstanz, die beide starken Restriktionen unterlagen. Folge war somit, dass der Be-

Frühgeschichte der „Sozialistischen Landwirtschaft“ in der SBZ/DDR vom Kriegsende bis in die Fünfziger Jahre. Stuttgart 2001, 91–104; Daniel Menning/Mechthild Notthoff/Stefanie Paufler/Michael Seelig, Ist Adel verschwunden?, in: Siegfried Grillmeyer/Peter Wirtz (Hrsg.), Ortstermine. Politisches Lernen an historischen Orten. Bd. 2. Schwalbach im Taunus 2008, 181–194.

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sitz, da ein Verkauf an hohe Hürden gebunden war, sich über mehrere oder viele Generationen in derselben Familie befand, die Einkünfte aber mehreren Besitzern und nicht nur dem ältesten Sohn zustanden. 5 Dies sorgt für einige Besonderheiten im Hinblick auf den Umgang mit den Schlössern, auf die später eingegangen werden soll. Diese Spezifik erlaubt es zugleich, den Zusammenhang von propagierten Bildern und Reaktionen auf abweichende Praktiken sehr präzise in den Blick zu bekommen. Einschränkend muss noch betont werden, dass im Folgenden hauptsächlich adlige Bedeutungszuschreibungen untersucht werden. Es gab selbstverständlich auch stets konkurrierende Projektionen von Adel auf Schlösser und Gutshäuser – der Adel besaß nie die alleinige Deutungshoheit. So konnten immer auch Gegenbilder von Adel in der Gesellschaft entworfen werden. Möglicherweise könnte man in letzterem Fall im Anschluss an den Gegensatz von Bürgerlichkeit und Anti-Bürgerlichkeit von Anti-Adligkeit sprechen. 6 Darunter ließen sich dann zum Beispiel jene Bilder von Kultur und Gesellschaftsordnung des Adels verorten, die von den Machthabern in der DDR entworfen wurden, sich in Form der Junkerkritik nach 1945 aber auch in den USA ausmachen lassen. 7 Diese Vielfalt von Bildern muss einer größeren Untersuchung vorbehalten bleiben.

I. Schlösser und Gutshäuser als „Projektionsflächen“ innerhalb des Adels Die Zuschreibung von Bedeutung in Gutshäuser ist im Prinzip ein im Adel permanent ablaufender Prozess. Neben eher beiläufigen Projektionen, wie sie in den be5 Vgl. zum Phänomen der Kondominate in der Frühen Neuzeit: Alexander Jendorff, Condominium. Funktionsweisen und Entwicklungspotentiale von Herrschaftsgemeinschaften in Alteuropa anhand hessischer und thüringischer Beispiele. Marburg 2010. Für das 19. und frühe 20.Jahrhundert Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945. München 2014, 201–227. 6 Aus Sicht der Adelsforschung auf Bürgerlichkeit und Anti-Bürgerlichkeit, freilich ähnliche Kategorien für den Adel nicht aufzeigend: Charlotte Tacke, „Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ ‚Adel‘ und ‚Adeligkeit‘ in der modernen Gesellschaft, in: NPL 52, 2007, 94. 7 Schlenker, Abbrüche (wie Anm.4); Heinz Reif, Die Junker, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München 2001, 520–536.

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reits genannten Autobiografien aufscheinen – Familientagen auf Landsitzen, die zur Selbstinszenierung einladen 8, sowie dörflichen Festen, die das Herrenhaus in einer bestimmten Form ins Zentrum stellen 9 – sind vor allem Bildbände und Regionalbeschreibungen Versuche, bestimmte Bilder auf die Fläche Schloss zu projizieren. Für das 19.Jahrhundert könnte man sofort an Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ denken. 10 Und auch im 20.Jahrhundert hat es solche Darstellungen gegeben, wobei hier jene von Adligen selbst besonders interessieren. So gab Hans Olof von Rohr 1935 einen Band mit dem Titel „Großgrundbesitz im Umbruch der Zeit“ heraus, der noch im selben Jahr zwei weitere Auflagen erfuhr. 11 Bereits 1933 hatte Carl von Lorck mit der Herausgabe einer ganzen Buchreihe begonnen, die den Titel trug: „Die deutschen Gutshäuser. Forschungen über Bauart und Kulturgehalt der Landschlösser und Gutshäuser in den deutschen Landschaften“. Sie scheint aber unter anderem kriegsbedingt nicht über den zweiten Band hinausgekommen zu sein. Die beiden erschienenen Bände behandelten Ostpreußen, von Lorcks Heimat, und Württemberg. 12 Solche längeren Werke erlauben es, die von Adligen auf Schlösser und Gutshäuser projizierten Bilder präzise nachzuzeichnen. Die hier geschaffenen Projektionen können zudem als Deutungsangebote und -aufforderungen verstanden werden. Es geht darum, welche Bilder Adlige auf ihre Gutshäuser projiziert sehen wollten. Es geht nicht um die alltägliche Praxis der Schlossprojektionen. Und auch wenn die Autoren zuweilen behaupten, überzeitliche Deutungen und ‚Wahrheiten‘ wiederzugeben, sind die Werke natürlich zutiefst in die kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen ihrer Entstehungszeit eingebettet. Welche adligen Projektionen auf Gutshäuser liefert also die durch von Lorck herausgegebene Buchreihe und der durch von Rohr herausgegebene Sammelband? Wie lassen sie sich in ihren Entstehungskontext der 1930er-Jahre einordnen? Im Geleitwort zum zweiten Band der Reihe „Die deutschen Gutshäuser“, der sich 8 Jens Flemming, „Führersammlung“, „politische Schulung“ und „neue Aristokratie“. Die „Herrengesellschaft Mecklenburg“ in der Weimarer Republik, in: Karl Christian Führer/Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20.Jahrhundert. Münster 2004, 123–154. 9 Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20.Jahrhundert. Stuttgart 2000, 368– 373. 10

Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 8 Bde. Berlin 1994–1997.

11

Hans Olof von Rohr (Hrsg.), Großgrundbesitz im Umbruch der Zeit. 2.Aufl. Berlin 1935.

12

Carl von Lorck, Herrenhäuser Ostpreußens. Bauart und Kulturgehalt. Königsberg 1933; Wilhelm Frei-

herr König von und zu Warthausen, Burgen, Schlösser und Herrenhäuser in Württemberg. Königsberg 1940.

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mit Württemberg beschäftigte, schrieb Carl von Lorck 1940, Ziel der Reihe sei es, mit dem deutschen Gutshaus „ein wenig berücksichtigtes, reiches Kulturerbe des deutschen Volkes zu durchforschen und zu erschließen“, das Ausdruck des deutschen „Erbgutes“ sei. 13 Schon in jungen Jahren – er war 1892 geboren – sei in ihm die Erkenntnis gereift, „daß der Inbegriff einer besonderen Kultur auf unserem deutschen Erdboden im Herrenhause des flachen Landes gesammelt überliefert wird“. Und er führte weiter aus: „Die vereinten Kräfte vieler Geschlechter haben darin etwas geschaffen, was niemals in einem Museum wiederholt werden kann.“ 14 Der Band Hans Olof von Rohrs über „Großgrundbesitz im Umbruch der Zeit“ von 1935 setzte sich zur Aufgabe, zur Klärung der Bedeutung des Großgrundbesitzes in der Gegenwart beizutragen und enthielt dazu elf Aufsätze, die Themen wie Bauerntum und Landarbeiter, Kolonisation und Siedlung, Volkswirtschaft und Volkszahl abschritten, aber auch ein Aufsatz zur Rassenfrage fehlte nicht. Trotz des neutralen Gestus, der in der Einleitung eingenommen wurde, geriet der Band doch zu einer Lobpreisung des Großgrundbesitzes, seiner Besitzer und seiner Bedeutung für die Gesellschaft. Börries Freiherr von Münchhausen wollte mit seinem Beitrag unter dem Stichwort „Kultur“ im von Rohr’schen Band „den Rittergutsbesitz als Kulturträger der Volkheit“ in Erinnerung rufen. Schlösser seien „mit dem wertvollsten Kulturgute geradezu vollgestopft“ – etwas, worin Handel und Industrie, obwohl stadt- und damit kulturnäher, nicht mithalten könnten. 15 Von Rohr sprach davon, das Gut sei „eine der wichtigsten Zellen im Aufbau des sozialistischen Staates preußischer Art“. 16 Wilhelm Freiherr König von und zu Warthausen, der in der Reihe Carl von Lorcks den Band zu Württemberg verfasst hatte, und aufgrund des regionalen Bezugs hier besonders interessiert, stellte in seiner Einleitung klar, dass viel Bausubstanz über die Jahrhunderte verloren gegangen sei, auch in den letzten Jahrzehnten habe der wenig wohlhabende Adel Württembergs Schlösser und Liegenschaften verkaufen müssen. Von den noch existierenden Bauten seien viele nicht besonders repräsentativ. Vor allem jene der ehemaligen Reichsritterschaft im Jagst-, Neckarund Schwarzwaldkreis würden sich vom bäuerlichen Besitz oftmals nur durch ihr Alter unterscheiden. Er wolle mit seinem Werk dennoch „auf die großen kulturellen

13 Carl von Lorck, in: ebd.5. 14 Ebd.6. 15 Börries Freiherr von Münchhausen, Kultur, in: Rohr (Hrsg.), Großgrundbesitz (wie Anm.11), 147 und 150. 16 Hans Olof von Rohr, Politische Aufgabe, in: ders. (Hrsg.), Großgrundbesitz (wie Anm.11), 159.

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Werte hinweisen, welche in diesen heute vielfach gefährdeten Denkmälern liegen“. Aufgabe sei es, „die ideelle Bedeutung dieser tief in Volk und Landschaft wurzelnden Bauten zur Geltung zu bringen und Bestrebungen zu ihrer Erhaltung […] einen Impuls zu geben“. 17 Schlösser und Gutshäuser wurden somit zunächst einmal zu Manifestationen eines tief verwurzelten heimatlichen Charakters, zum Ausdruck deutscher Gesellschaftsordnung, Wesens- und Kulturart. 18 Diese Bilder und Vorstellungen, die mit dem Schloss verbunden wurden, waren jedoch kein Produkt autonom adliger Schöpfung, sondern die Bücher und Aufsätze transportierten rassisch unterlegte Bilder der Agrarromantik. Damit ist eine ideologische Strömung bezeichnet, die sich seit den 1890er-Jahren in Deutschland ausbreitete und vor allem Konservative und Völkische ansprach. Es handelte sich um eine Bewegung, die gegenüber der anonymen, unübersichtlichen, ungeordneten und nivellierenden sogenannten Vermassung der Großstadt ein Loblied auf die angeblich geordneten und übersichtlichen Strukturen des Landes sang, wo man sich gegenseitig und jeder seinen Platz in der Gesellschaft kenne. Nicht zufällig erlebte diese Ideologie in Deutschland im Zuge der rapiden Urbanisierung am Ende des 19. Jahrhunderts einen beachtlichen Aufschwung. Der Kampf gegen den Kapitalismus und die Wertschätzung des „schollentreuen Bauern“ gehörten ebenso zum Programm der Agrarromantiker wie die Sorge vor einer Verringerung des militärischen Potenzials des Staates durch die „generativ versagenden“ und „Menschen verbrauchenden“ Städte. Mit dem aufkommenden Rassismus konnte der ursprünglich vor allem ökonomische Stadt-Land-Gegensatz zusätzlich rassisch unterlegt werden, indem der sogenannte Rassenverfall in der Stadt verortet wurde, der sogenannte Rassenerhalt hingegen durch die ländliche Bevölkerung sichergestellt werden müsse, die aber unter der Aussaugung durch die Städte leide. Die Großstadtkritik steigerte sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem regelrechten Großstadthass, der in den 1920er- und 1930er-Jahren von den Nationalsozialisten erfolgreich aufgegriffen und bedient

17

Freiherrr König von und zu Warthausen, Burgen (wie Anm.12), 12f.

18

Johannes Freiherr von Bodman brachte 1927 Adligkeit und Wohnsitz ebenfalls miteinander in Bezie-

hung, wenn er schrieb: „Es ist klar, daß die neuen Besitzer, welche infolge Aufhebung der Stammgüter nach und nach an die Stelle der alten Adelsfamilien treten werden, bei der Verpachtung nicht immer die gleichen sozialen Rücksichten walten lassen werden, wie die an Land und Leute gebundenen und damit vertrauten alten Besitzer.“ Johannes Freiherr von und zu Bodman, Die badischen Stammgüter. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung des Aufhebungsgesetzes vom 18.Juli 1923. Leipzig 1927, 67.

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wurde. Die Agrarromantik war insofern eine zutiefst antimoderne, antikapitalistische und antidemokratische Bewegung – und als solche nicht nur im Adel anschlussfähig, sondern weiter verbreitet. 19 Aber was taten Adlige, wenn sie agrarromantische Begrifflichkeiten auf ihre Schlösser und Gutshäuser projizierten? Suggeriert wurde damit vor allem, dass auch die Besitzer dieser Behausungen Träger einer agrarromantisch hochgeschätzten sogenannten Wesens- und Kulturart waren – und zwar in vorbildlicher Art und Weise. Der Adel wurde so zur Elite einer agrarromantisch beschriebenen, geordneten, antimodernen, antikapitalistischen und antidemokratischen Gesellschaft stilisiert. Schon seine Vorfahren, so die Selbstdarstellung, hätten diese Werte im Bau der Schlösser zum Ausdruck gebracht, und auch der gegenwärtige Adel halte an den Prinzipien fest. Die Schlösser wurden somit nicht nur selbst als Ausdruck von Volksund Heimatverbundenheit dargestellt, sondern sie wurden gleichzeitig zum Ausdruck dieser Haltungen im Adel stilisiert. 20 Dies waren die Bilder von Adel, die von Mitgliedern der Gruppe auf die Gutshäuser und Schlösser und damit auf sich selbst projiziert wurden. Es waren keine autonom adligen Bilder, sondern der Adel schrieb sich mit ihnen in den völkisch-rassisch-agrarromantischen Diskurs ein und sich selbst eine Vorbildrolle innerhalb einer völkisch-rassischen Gesellschaft zu. 21 Wie sah es aber in der Praxis aus? In welcher Verbindung standen adliger und baulicher Charakter? Lässt sich wirklich, wie hier suggeriert, vom einen aufs andere schließen? Die Kondominate und deren Umgang mit den Familienschlössern sind ein gutes Beispiel für die praktischen Probleme, mit denen die agrarromantischen Bilder des Adels, projiziert auf die Projektionsfläche Schloss, konfrontiert waren.

19 Grundlegend immer noch Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim 1970; außerdem die breitere Untersuchung konservativer Reformbewegungen zwischen 1900 und den 1930er-Jahren Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933. Paderborn 1999. 20 Der Glaube an die Verbindung zwischen Wesens- und Kulturart von Land und Gebäuden und charakterlichen Dispositionen der Bewohner spiegelt auch die Sicht des agrarromantischen Heimatschutzes wider. Vgl. Willi Oberkrome, „Gesundes Land – gesundes Volk“. Deutsche Landschaftsgestaltung und Heimatideologie in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, in: ZAA 53, 2005, 26–38. 21 Für den Rassendiskurs hat dies in vielfältiger Weise Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 2003, gezeigt.

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II. Kondominate und das Verhältnis von Projektionen und Praxis Es wurden zwar vom Adel agrarromantische Bilder auf seine Schlösser ausgestrahlt, was sich bei genauer Betrachtung der Projektionsfläche zeigte, entsprach jedoch im Fall der Kondominate oftmals nicht dem ausgestrahlten Bild. Denn betrachtet man Familien mit gemeinschaftlichem Grundbesitz genauer, so gab es zahlreiche Inkonsistenzen zwischen Projektionen und Praktiken. An erster Stelle gab es in Südwestdeutschland solche ehemaligen Reichsrittergeschlechter, die weder über ein Schloss noch über eine bescheidene Behausung im eigenen Dorf verfügten. Das Rentamt, in dem der von der Familie angestellte Verwalter residierte, stellte hier das Zentrum des Familienbesitzes dar. Dies war in der Familie Roeder von Diersburg der Fall, wo sich der Senior, der für die Agnaten die Oberverwaltung führte, regelmäßig im örtlichen Gasthaus einmietete, wenn er im „eigenen Ort“ übernachten musste. 22 Hier wurden also Bilder von Schloss und Gutshaus in einen leeren Raum ausgestrahlt, weil die Projektionsfläche fehlte. Es folgten zahlreiche Familien, die zwar ein oder mehrere Schlösser besaßen, jedoch nicht genügend, um jedem Kondominatsteilhaber sein eigenes Wohngebäude zur Verfügung stellen zu können. Daraus ergaben sich verschiedene Formen der Aufteilung. Die Freiherren von Woellwarth räumten jeder Linie das Wohnrecht in einem Schloss ein. 23 In der Familie der Grafen Adelmann von Adelmannsfelden beanspruchte 1875 Graf Rudolf, der sich auch an der Verwaltung des Besitzes vor Ort beteiligte, eine eigene abgeschlossene Wohnung im Hohenstädter Schloss. Damit auch die Vettern, die sich nur wochenweise im Schloss aufhielten, zu ihrem Recht kamen, sollte daher der dritte Stock des Schlosses ausgebaut und mit zusätzlichen Küchen ausgestattet werden, so dass jeder Teilhaber möglichst unabhängig von seinen Verwandten unter demselben Dach leben konnte. Man bemühte sich auch, bei der Aufteilung der Räume eine weitestgehende Trennung der Wohnbereiche zu schaffen. Dennoch gab es in den Folgejahren

22

Umlaufschreiben Hermann Freiherr Roeder von Diersburgs, Naumburg, 11.November 1921, in: GLA

Karlsruhe, 69 Roeder v. Diersburg, Karton 41, Fasz. I, Nr.14, unpag. 23

Vertrag zwischen den Kondominatsbesitzern, Essingen, 8.4.1901, StA Ludwigsburg, PL9/3, Bü. 1429,

unpag., 9. Ähnlich Horst-Dieter Freiherr von Enzberg, Das Enzbergische Hausgesetz von 1782 und seine Nachwirkungen bis ins 20.Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Fideikommisse, in: 600 Jahre Haus Enzberg im Raum Mühlheim/Tuttlingen 1409–2009. Hrsg. v. Geschichtsverein Landkreis Tuttlingen, Kreisarchiv Tuttlingen. Ostfildern 2009, 169.

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zahllose Streitigkeiten um die Form der Aufteilung und den Nutzen, den die einzelnen Vettern vom Kondominatsdiener hatten. Ein guter Teil der Verwandten war in der Familie Adelmann von Adelmannsfelden somit zwar nicht regelmäßig, sondern nur wochenweise im Schloss anwesend, beharrte aber auf dem Wohnrecht. Dabei ging es dem Grafen Carl Adelmann von Adelmannsfelden weniger um eine agrarromantische Perspektive auf das Land als um einen rechtlichen Besitzstand: „Ich [kann], schon mit Rücksicht auf meinen Sohn, selbstverständlich auf keines der mir zustehenden Rechte im Allgemeinen sowohl, als im Betreff eines vollständigen selbständigen Aufenthalts, auf eine für mich und meine Familie genügende Wohnung […] nebst Küche daselbst, […] je verzichten.“ 24 Anderen Familien boten sich bei der Aufteilung des Wohnraums in ihren Schlössern noch weit größere Probleme, weil die Anzahl der Teilhaber im 19.Jahrhundert stetig gewachsen war. In der Familie von Stetten ergibt sich aus einer Lektüre der Familiengeschichte zuweilen das Gefühl einer Adelswohngemeinschaft. Von Wilhelm-Albrecht Freiherr von Stetten heißt es: „er bewohnte im mittleren Stock des Buchenbacher Wohnhauses die beiden gegen Berndshofen gelegenen Zimmer“. 25 Später wurden die Zimmer von Freiherr Carl von Stetten und seiner Familie genutzt. 26 Freiherr Wilhelm von Stetten bewohnte im Herrschaftshaus den Saal und das daneben liegende Schlafzimmer. 27 Andere Linien der Familie wichen auf Häuser im Ort aus – so Freiherr Alexander von Stetten, der im ehemaligen Schlosspfarrhaus wohnte. 28 Immer wieder standen die Schlösser der verschiedenen Linien der Familie aber auch leer, weil die jeweiligen Wohnberechtigten den Großteil ihrer Zeit in Städten verbrachten und höchstens für einige Wochen oder Monate im Sommer zu Besuch waren. 29 Freiherr Carl-Heinrich von Stetten-Buchenbach hielt sich jahrzehntelang sogar überhaupt nicht auf dem Besitz auf, an dem er beteiligt war. 30 Ähnliche Wohnverhältnisse fanden sich in zahlreichen anderen Familien. Ein 24 Stellungnahme des Grafen Carl Adelmann von Adelmannsfelden, Rottenburg, 17.Februar 1878, in: StA Ludwigsburg, PL13, Bü. 850, unpag. Zu den Streitigkeiten um die Wohnsituation in der Familie insgesamt vgl. ebd. 25 Eugenie Freiin von Stetten-Buchenbach, Die Reichsfreiherrn von Stetten. Ihr Leben und Wirken nach urkundlichen Quellen. Künzelsau 1998, 215. 26 Ebd.217. 27 Ebd.236. 28 Ebd.312. 29 Ebd.217, 225, 232 und 262. 30 Ebd.232.

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Plan des Schlosses Schöckingen und der umliegenden Gärten, ein Besitz der Freiherren von Gaisberg, zeigt dessen Aufteilung 1853–1858 unter fünf Kondomini, von denen keiner dauerhaft im Ort wohnte. 31 1870 standen Freiherr Max die Herrenstube, Freiherr Wilhelm zwei Torstübchen und Freiherr Hermann zwei Zimmer zu. Auch hier waren, wie die Familiengeschichte vermerkt, die Kondomini zumeist abwesend. 32 Freiherr Sigmund Göler von Ravensburg ging 1885 davon aus, dass ihm und seiner Familie drei Zimmer im Schloss reichen würden, andernfalls könne man auch im örtlichen Gasthaus ganz passabel unterkommen. 33 Wo die Aufteilung einzelner Zimmer nicht opportun erschien, konnte auch die bauliche Trennung eines Schlosses in mehrere Teile mit je eigenen Haustüren vorgeschlagen werden, wie in einem anderen Zweig der Freiherren Göler von Ravensburg. Ein Gegenvorschlag lief darauf hinaus, die Nutzung des Schlosses jeweils auf neun Jahre unter den beteiligten Vettern zu versteigern. 34 Letztere Form bedeutete aber in der Praxis, dass einzelne Teilhaber jeweils über einen längeren Zeitraum überhaupt keine eigene Wohnstätte in „ihrem“ Ort hatten. Aufgrund des Absterbens eines Zweiges kam es schließlich nicht zu einer Drei-, aber doch zu einer Zweiteilung des Gebäudes, was sich jedoch als „ewige Quelle des Verdrußes“ in dem ohnehin stark zerstrittenen Familienzweig herausstellte. 35 Dort wo Familien mit Kondominatsbesitz über ein Haus verfügten, konnte dies zwar als Sammelstätte für die Familienerinnerungsstücke, Ahnenbilder und Ähnliches dienen. 36 Dies bedeutete aber nicht zwangsläufig, dass die Häuser auch regelmäßig bewohnt wurden. Über das Schloss Bödigheim der Freiherren Rüdt von Col-

31

Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen, Schöckingen. o.O. 1983, 112.

32

Ebd.113.

33

Freiherr Sigmund Göler von Ravenstein an Freiherrn Karl Göler von Ravenstein, Karlsruhe 16.Mai

1885, GLA Karlsruhe, 69 Göler v. Ravensburg, A120, unpag. 34

Freiherr August Göler von Ravenstein, Vorschläge zu einer Theilung des Amalienhofes zu Sulzfeld,

Karlsruhe, 14.Dezember 1850, GLA Karlsruhe, A321, unpag. Freiherr Victor Göler von Ravensburg: Auf die Erklärung meines Bruders August, Sulzfeld, 10.2.1851, ebd., unpag. 35

Freiherr Gustav Göler von Ravensburg an Freiherrn Victor Felix Göler von Ravensburg, Mannheim,

28.9.1903, GLA Karlsruhe, A361, unpag., 3. 36

Wilfried Danner, Die Reichsritterschaft im Ritterkantonsbezirk Hegau in der zweiten Hälfte des 17.

und im 18.Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über die Reichsritterschaft im Hegau auf Grund von Familienakten der Freiherrn von Bodman, der Freiherrn von Hornstein und der Freiherrn von Reischach, in: Hegau 15/16, 1970/71, 82, berichtet allerdings mit Blick auf das 18.Jahrhundert im Bezirk Hegau davon, dass die Möbel „nicht selten […] nach dem Tode eines Freiherrn verkauft“ wurden.

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lenberg berichtet die Familiengeschichte, es sei beinahe zwanzig Jahre unbewohnt gewesen. 1863 stellte sich der Zustand folgendermaßen dar: „Die Nordwand an beiden Pavillons, die durch Feuchtigkeit gelitten hatte, [musste] erneuert werden. Auch der Saal war in schlechtem Zustand. Der Boden war schief, die Decke drohte einzustürzen und ein unzweckmäßiger Kamin beengte den Raum.“ Umfangreiche Renovierungsarbeiten waren notwendig. „[A]uch die Familienbilder [wurden im Rahmen der Sanierungsarbeiten] restauriert, gefirnisst und gerahmt.“ 37 Noch trostloser muss es aus herrschaftlicher Perspektive im Schloss Unterdeufstetten der Freiherren von Seckendorff ausgesehen haben. Obwohl hier 1841 ausführliche vertragliche Regelungen für die Bewohnung durch die Teilhaber am Grundbesitz aufgestellt worden waren 38, wurde das Gebäude bis 1874 „nur im Westteil von der Familie des jeweiligen Rentamtmanns bewohnt“. Danach erfolgten kürzere Urlaube des Administrators Freiherr Erwin von Seckendorff, der auch damit begann, den Ostteil des Schlosses wieder einzurichten, der in der Zwischenzeit für „Schul- und Postzwecke zur Verfügung gestellt“ worden war. 39 Die Situation in den Schlössern entsprach also nicht immer den Bildern, die von adligen Autoren auf die Projektionsfläche projiziert wurden. Die Wohnverhältnisse waren für die Familien nicht immer angemessen. Dies war ein Grund, warum die Schlösser nicht regelmäßig und dauerhaft bewohnt wurden. Außerdem brachte der unter mehrere Familienmitglieder aufgeteilte Besitz nicht genug Einkommen, als dass er für die Bestreitung des Lebensunterhalts aller Beteiligten gereicht hätte. So waren die Adligen auf Hinzuverdienste im Militär oder der Staatsverwaltung und damit auf einen städtischen Wohnsitz angewiesen. Weder die Wohnverhältnisse noch die in vielen Fällen nur in wochenweisen Besuchen zum Ausdruck kommende Landbindung entsprachen daher den agrarromantischen Bildern. Die Projektionen adliger Autoren auf Schlösser und Gutshäuser erweisen sich im Hinblick auf die Kondominate somit als Stilisierung.

37 Adolf Freiherr Rüdt von Collenberg [Hrsg.], Festschrift zur 700-Jahr-Feier. Buchen-Waldürn 1986, 19. 38 Vertrag zwischen den gegenwärtigen Theilhabern an dem Rittergut Unterdeufstetten, die künftige Verwaltung desselben betreffend, Wallerstein, 25.Juli 1841, StA Ludwigsburg, PL20/IV, Bü. 14, unpag., 16f. Ebenso war das Schloss Kleiningersheim der Freiherren von Woellwarth 1901 nicht bewohnbar. So der Vertrag zwischen den Kondominatsbesitzern, Essingen, 8.April 1901, StA Ludwigsburg, PL9/3, Bü. 1429, unpag., 9. 39 von Praun: Bericht betreffend Fideikommissauflösung 1939, Ansbach, 12.3.1939, StA Ludwigsburg, PL20/IV, Bü. 18, unpag., 5.

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III. Anpassung der Praxis an die Bilder Um eine Anpassung zu erreichen, mussten die Zustände zunächst einmal als kritikwürdig erkannt werden – dies geschah seit der Jahrhundertwende – und es mussten Schritte zur Änderung der Verhältnisse unternommen werden. Prinzipiell konnte dies durch eine Anpassung der Bilder oder eine Veränderung der Wohnsituation der Familienmitglieder erfolgen. Es scheint jedoch so, als hätten politische Grundüberzeugungen in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nur Bemühungen gangbar erscheinen lassen, die auf veränderte Wohnbedingungen hinausliefen. Alle Bemühungen der Adelsgeschlechter liefen auf eine stärkere Rückbindung ihrer Familienangehörigen an den Grundbesitz hinaus. So beklagte Freiherr Karl Roeder von Diersburg, dieser Zustand, „daß man auf eigenem Grund und Boden keine Wohnstätte besitzt“, sei ein „Unding“. 40 „Es ist kein Zweifel“, so der Senior, „daß es ein nicht normales Verhältniß ist, daß eine Familie am alten, traditionellen Besitz keinen Wohnsitz hat, vielleicht ein Verhältniß ohne Beispiel. […] Wenn nun heutzutage, wo die Zeitströmung die alten Traditionen zu verwischen strebt, und uns die Erhaltung und Pflege derselben immer mehr erschwert wird, ja Gesetzgebung, Regierung und Staat uns Preis geben, wenn in solcher Zeit in der Familie der Gedanke aufflammt, demgegenüber Tradition, Familiensinn und Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, so sollte man diesen Augenblick nicht versäumen, dafür einzutreten, wenn irgend die materielle Möglichkeit vorliegt.“ 41

Das Geld erwies sich für solche Maßnahmen jedoch als knapp. So gestand der Senior am Ende seines Schreibens an die Kondomini auch ein, dass es sich bei dem zu bauenden Wohnhaus um „eine mehr ideelle Errungenschaft“ handeln würde. Aus Kostengründen sei es nicht möglich, für alle Teilhaber eigene Räume zu schaffen. Dennoch würde selbst ein solch bescheidenes Familienhaus „eines praktischen Werthes nicht ganz entbehren“, da man dort das Archiv unterbringen und Familientage abhalten könne. 42 Auch Freiherr Hermann Roeder von Diersburg sah diesen

40

Freiherr Karl Roeder von Diersburg an den Senior, Frankfurt, 5.Januar 1903, GLA Karlsruhe, 69 Roeder

von Diersburg, Karton 42, Fasz. I, Nr.10, unpag. 41

Rundschreiben des Seniors der Freiherren Roeder von Diersburg, Freiburg, 25.April 1903, ebd., unpag.,

1f. 42

60

Ebd.6.

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ideellen, durch den geplanten Umfang des Hauses kaum praktisch umzusetzenden Wert, wenn er betonte: „[O]hne Heim keine Heimat.“ 43 Die hochtrabenden ideellen, agrarromantischen Ziele, die durch den Bau des Familienhauses verwirklicht werden sollten, scheiterten bei den Freiherren Roeder von Diersburg jedoch schließlich an den Kosten. Die Teilhaber benötigten ihre Einnahmen aus dem Gutsbesitz für ihren Lebensunterhalt und konnten oder wollten sie nicht für den Bau eines eher ideellen als praktischen Hauses zur Verfügung stellen. Andere Familien waren hingegen erfolgreicher, was die Bereitstellung von Räumlichkeiten zur Rückbindung der Kondomini an den Besitz anbelangte. Im Bödigheimer Schloss der Familie Rüdt von Collenberg, das bisher nur eine Wohnung für den geschäftsführenden Senior geboten hatte, bei dem die Vettern jeweils nur als Besucher absteigen konnten, wurden um 1900 zusätzliche abgeschlossene Wohnungen eingerichtet, auch wenn dies nur in bescheidenem Maße möglich war. 44 Die Teilhaber konnten jetzt dennoch etwas einfacher Zeit auf dem Familienbesitz verbringen, auch wenn damit noch immer kein wirklich den agrarromantischen Projektionen auf Schlösser entsprechender Zustand erreicht war. Es gab jedoch noch einen weiteren Strang der Kritik bzw. der Veränderung. Er zielte weniger auf solche Familien ab, die überhaupt kein Wohnhaus oder nur eingeschränkte Wohnmöglichkeiten für die Kondomini hatten. Er war vielmehr Teil der Befürwortung der Individualsukzession gegenüber der gemeinschaftlichen Erbfolge der Kondominate. Freiherr Peter von Mentzingen argumentierte 1905, dass „es […] wohl keinem Zweifel [unterliegt], daß Condominate heutzutage eine unbequeme und unpraktische Einrichtung sind; sie machen unter anderem auch den notwendigen Kontakt des einzelnen Stammgutsinhabers mit der Bevölkerung in den meisten Fällen unmöglich, weil eben der Condominus seinen Wohnsitz anderwärts wählt und vom Stammgute wenig mehr erwartet, als die jährliche Rente, dem Aktionär vergleichbar, welcher dem Unternehmen, dessen Erträgnisse er genießt, nur in seltenen Fällen ein regeres Interesse betätigen kann.“ 45

Mit dieser Kritik und dem Vergleich mit einem Aktionär mag von Mentzingen über das berechtigte Maß hinausgegangen sein. Das tatsächliche (Des-)Interesse der 43 Freiherr Hermann Roeder von Diersburg an den Senior, Marburg, 29.5.1903, in: ebd., unpag., 5. In der Akte finden sich verschiedene Baupläne. 44 Freiherr Rüdt von Collenberg [Hrsg.], 700-Jahr-Feier (wie Anm.37), 20. 45 Peter Freiherr von und zu Mentzingen, Das badische Stammgut. Heidelberg 1905, 39.

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Stammgutsteilhaber ist in der Praxis nur in Einzelfällen zu ermessen und wird von der Gruppengröße und von den Besitz- und Wohnrechten der Einzelnen abgehangen haben. Aber er erhob die Abwesenheit vom Grundbesitz mit dem Vergleich mit kapitalistischen Aktionären zu einem Prinzipienkonflikt um die Geltung konservativ-völkisch-agrarromantischer Ideen der Gesellschaft als maßgeblicher Kategorie. Die geordnete Gesellschaft auf dem Lande wurde hier dem anonymen Aktionär als Produkt der städtischen Industrie gegenübergestellt. Wer sich verhielt wie ein kapitalistischer Aktionär ohne Bindung an Land und Leute, der konnte kein „wahrer Adliger“ sein, denn er ließ den Rentbeamten zum Sachwalter der Familieninteressen und zur zentralen Kontaktperson der Pächter und Tagelöhner im Ort werden, und damit war nicht das Schloss, sondern de facto das Rentamt das wichtigste Gebäude im Ort. Der Vorbildfunktion, die Landadlige im dörflichen Bereich nach Ansicht des Freiherrn Hans Otto von Ow hatten, konnte nur derjenige nachkommen, der auch tatsächlich im Dorf wohnte. 46 Bei Gütern mit Individualsukzession war die Situation hingegen anders gelagert. Hier konnten die Stammherren durch die Statuten dazu verpflichtet werden, in der Herrschaft ihren Wohnsitz zu haben. 47 Sie waren daher im Alltag präsent und standen mit „ihrer ländlichen Bevölkerung“ im Kontakt. Die Schlösser waren so zudem Lebensmittelpunkt einer adligen Familie und entsprachen dadurch dem agrarromantischen Ideal. Allein, wenn die Familien nicht zur Individualsukzession übergingen, blieben die Wohnverhältnisse und die Abwesenheit weiterhin bestehen. Und nicht einmal die Individualsukzession bot tatsächliche Gewähr für eine Anwesenheit auf den Gütern. Vielfach herrschte offenbar auch hier Abwesenheit vor, unterbrochen nur von

46

Eberhard Gönner, Die historischen und denkmalpflegerischen Bestrebungen der Freiherren von Ow

im 19.Jahrhundert, in: Franz Quarthal/Gerhard Faix (Hrsg.), Adel am oberen Neckar. Beiträge zum 900jährigen Jubiläum der Familie von Ow. Tübingen 1995, 513–539, 514. Ironischerweise entschied er sich jedoch, 1891 selbst in die Residenzstadt Stuttgart zu ziehen und hier den Posten des Vorstandes der landwirtschaftlichen Zentralstelle, einer Regierungsbehörde, zu übernehmen. Er wusste jedoch auch dies in seinem Tagebuch zu rechtfertigen. Vgl. dazu Gisela Herdt, Der württembergische Hof im 19.Jahrhundert. Studien über das Verhältnis zwischen Königtum und Adel in der absoluten und konstitutionellen Monarchie. Diss. Göttingen 1970, 350f. 47

So zum Beispiel in der Familie von Bodman: Albert Freiherr von Bodman, Überblick über die Stamm-

gutsfrage mit besonderer Berücksichtigung der Stammgutsverhältnisse der Gräfl. und Freiherrl. Familie von Bodman. Freiburg im Breisgau 1919, 25.

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Sommerbesuchen. 48 Dies wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Problem, wie aus einer Umfrage des St. Georgenvereins der württembergischen Ritterschaft aus dem Jahr 1919 hervorgeht. Um Menschen aufgrund der städtischen Wohnungsnot unterzubringen, wollte die württembergische Regierung eine Besichtigung sämtlicher Schlösser des Landes vornehmen. Hierdurch sollte das zur Verfügung stehende Unterbringungspotenzial in den Gebäuden festgestellt werden. Die württembergische Ritterschaft suchte solchen Maßnahmen der Regierung zuvorzukommen und bat die Mitglieder des Vereins um Mitteilung freier Zimmer und Wohnungen einerseits, wohnungssuchender Standesgenossen andererseits, damit möglichst nur Adlige in den Schlössern untergebracht würden. 49 Auch der badische Grundherrenverein hatte beschlossen, „dafür einzutreten, daß Herrschaften, die leerstehende Schlösser und Landhäuser haben, sie bei der herrschenden Wohnungsnot in erster Linie Standesgenossen anbieten sollen, ehe sie durch die Behörden etwa zu Kleinwohnungen verwendet werden“. 50 Inwiefern die Befürchtung solcher Beschlagnahmungen begründet war, ist unklar. Entscheidender ist aber, dass das Wohnverhalten des südwestdeutschen Adels solchen Plänen Raum bot. Andererseits setzte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs aber auch in Südwestdeutschland, ähnlich wie es für Nordostdeutschland festgestellt worden ist, ein teilweiser Rückzug des Adels auf „sein Land“ ein. So fand zwar Konrad Freiherr Thumb von Neuburg, als er 1919 den Familienbesitz in Unterbohingen wieder bezog, nicht nur die Küche leer vor, sondern auch sein zukünftiges Wohnzimmer war vollkommen ausgeräumt worden. Zur Bewohnung des Schlosses musste er daher neue Gerätschaften anschaffen beziehungsweise aus seiner ehemaligen Wohnung in Stuttgart mitbringen. 51 Erwin Freiherr von Seckendorff, der schon vor dem Ersten Weltkrieg mit der Remöblierung des Schlosses Unterdeufstetten begonnen hatte, erwog 1920 eine dauerhafte Übersiedlung „in das alte, von allen Bequemlichkeiten und ei-

48 Vertrauliches Schreiben an den grundbesitzenden Adel Württembergs und Hohenzollerns, o.O. 1919, Archiv des St. Georgevereins (zur Zeit im StA Ludwigsburg), Bü. 459, unpag., 1. 49 Aufruf des Ritterhauptmanns Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen, Schöckingen, 5. September 1919, StA Ludwigsburg, PL20/IV, Nr.30, unpag. 50 Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Plochingen, 25.April 1919, Archiv des St. Georgevereins, Nr.374, unpag., 4. 51 Beilage 7 zum Testament Konrad Freiherrn Thumb von Neuburgs, Unterbohingen, 10.6.1909, geändert Unterbohingen, 24.3.1927, ebd., Bü. 369, unpag., 1–3.

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nigermaßen modernen sanitären Anlagen bare Gebäude“. 52 Allerdings sollten erst nach seinem Tod 1924 seine Witwe und seine Tochter in das Schloss übersiedeln. Nachdem das vorige Kapitel die Grenzen adliger Stilisierung deutlich gemacht hat, zeigen die Bemühungen des Adels in diesem Kapitel, dass es nicht an Aufrufen zu und Anstrengungen um Anpassung der Praxis an die propagierten Leitbilder gemangelt hat. Dies gelang freilich in sehr unterschiedlichem Ausmaß – zuweilen vorbildlich, manchmal aber auch gar nicht. Dass Anpassungen nicht durchweg gelangen, änderte aber nichts an den ausgegebenen Idealbildern, wie die adligen Publikationen aus den 1930er Jahren zeigen.

IV. Fazit Schlösser sind hervorragende Projektionsflächen für Adel. Interessant sind jedoch nicht allein die Bilder, die Adlige auf ihre Schlösser projizierten. Auch der Zusammenhang der Bilder mit allgemeinen ideologischen Strömungen und die adlige Praxis sind aufschlussreich. In diesem Sinne konnte gezeigt werden, dass die mit adligen Gutshäusern und Schlössern verbundenen Bilder in der Zeit zwischen 1900 und 1945 eng mit der Agrarromantik in Verbindung standen – einer Ideologie, die das ländliche Leben gegenüber dem städtischen hochhielt und Vertreter auch abseits des Adels hatte. Das Beispiel der Kondominate in Südwestdeutschland zeigt aber auch, wie wichtig es ist, die Dynamik zwischen Bildern und Praxis in den Blick zu nehmen. Denn die Wohnsituation in den Kondominatsschlössern in Baden und Württemberg entsprach den agrarromantischen Bildern oftmals nicht. Dem Adel war bewusst, dass diese Inkongruenz die aus der Agrarromantik hergeleiteten Gesellschaftsbilder und die darin verankerte Stellung des Adels negierte. Die gewachsenen Wohnbedingungen zu ändern, war allerdings trotz Aufforderungen und Bemühungen vielfach nicht möglich, so dass Widersprüchlichkeiten fortexistierten. Der andere Weg, also eine Anpassung der Ideologie an die Praxis, wäre selbstverständlich auch möglich gewesen. Er scheint aber im südwestdeutschen Adel nicht wirklich erwogen worden zu sein. So bestand die Differenz zwischen Bildern und Praxis fort. 52

von Praun: Bericht betreffend Fideikommissauflösung 1939, Ansbach, 12.März 1939, StA Ludwigs-

burg, PL20IV, Bü. 18, unpag., 5.

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II.

‚Adligkeit‘ in fiktionalen Welten kodiert Eduard von Keyserlings „Harmonie“ und „Abendliche Häuser“ von Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

Die fiktionale Literatur stellt ein vielversprechendes Medium für die Untersuchung von Projektionsflächen von Adligkeit 1 dar, da der Autor in der Erzählliteratur sozusagen als Weltschöpfer in Erscheinung tritt. Er entwirft und entfaltet eine Welt beziehungsweise einen Weltausschnitt. Lassen sich direkte autobiografische Bezüge zu jener entworfenen Welt feststellen, so wird die Rezeption des Werkes oft automatisch in eine entsprechende Bahn gelenkt. Auch das Werk von Eduard von Keyserling (1855–1918), das aus literatur- und kulturhistorischer Sicht insbesondere mit dem Impressionismus und dem Fin de Siècle in Verbindung gebracht wird 2, wurde jahrzehntelang vor allem auf die adlige Herkunft des Dichters hin gelesen. Und auch die Fragestellung des vorliegenden Beitrags lässt sich dieser Forschungsperspektive zurechnen. Solch eine fokussierte Interpretation kann allerdings das Bewusstsein für die primäre Literarizität des Textes erheblich beeinträchtigen. Auch dies wird der vorliegende Beitrag kritisch reflektieren. Im Falle Keyserlings verstärkte sich dieser Effekt dadurch, dass der Schriftsteller hauptsächlich mit der Gattung der sogenannten „Schlossgeschichten“ in Verbindung gebracht worden ist. Der Realitätsbezug einer entworfenen, das heißt fiktiven Welt wurde demnach für die Realität gehalten. Beinahe unerschütterlich rezipierte man bis in die 1970er-Jahre hinein diese Prosatexte als Bilder seiner Standesgenossen in der baltischen Heimat, die der Autor mit Sympathie und Mitleid, ohne „soziale Attitüde“ (Thomas Mann) wiedergebe. 3 Dieses Interpretationsmuster entstand bereits zu Keyserlings Lebzeiten. Es wurde unter anderem von Thomas Mann in sei1 Heinz Reif, Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999, 119f.; Josef Matzerath/Silke Marburg, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe, in: dies. (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Köln/Weimar/Wien 2001, 5–15, hier 8. 2 Wolfgang Nehring, Der Beginn der Moderne, in: Karl Konrad Polheim (Hrsg.), Handbuch der deutschen Erzählung. Düsseldorf 1981, 382–408, hier 395. 3 Berit Discherl, Eine fremde Welt. Über das Verhältnis von Mensch und Raum im Erzählwerk Eduard von Keyserlings. Hamburg 2010, 10f.; Jin Ho Hong, Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006, 9f.

10.1515/9783110463569-005

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nem Nachruf in der „Frankfurter Zeitung“ vom 28.September 1918 4 gefestigt und hatte, wenn auch wohl in eher eingeschränktem Maße, eine positive Auswirkung auf die Aufnahme von Keyserlings Werk. Eine Zuspitzung fand dieses Bild in der vielzitierten Äußerung von Jens Malte Fischer, Eduard von Keyserling sei „der wahrscheinlich unbekannteste große deutsche Erzähler“ 5 des 20.Jahrhunderts. Dies hat inzwischen an Gültigkeit verloren; insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten rezipierte die Forschung Keyserlings Schrifttum verstärkt 6, und es erschienen neue Werkausgaben. Die jüngere Germanistik setzt sich zwar „auf ihren weitverzweigten Wegen immer wieder mit der Verzahnung von Literatur und Geschichte“ 7 auseinander, jedoch nur vereinzelt mit dem Phänomen Adel, das heißt mit der Rezeption und Produktion der Texte von Adligen, in denen der adlige Schreibende seine Standeszugehörigkeit reflektiert. 8 Will man fiktionale Texte in Bezug auf die Projektion von Ad-

4 Thomas Mann, Zum Tode Eduards von Keyserling, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 10. Frankfurt am Main 1990, 413–417. 5 Jens Malte Fischer, Rezension zu: Rainer Gruenter (Hrsg.), Eduard von Keyserling. Werke, in: Germanistik 15, 1974, 984f. 6 In diesem Zusammenhang ist eine Reihe von monografischen Abhandlungen zu nennen. Dazu gehören über die bereits in Anm.3 erwähnten hinaus Andreas Sturies, Intimität und Öffentlichkeit. Eine Untersuchung der Erzählungen Eduard von Keyserlings. Frankfurt am Main 1990; Beate Jürgens, „Farbige Augenblicke“. Farbe als Element der Darstellung in Eduard von Keyserlings erzählerischem Werk. Mainz 1992; Ulrike Peter, Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings. Darstellung an ausgewählten Erzählungen und Romanen. Essen 1999; Antonie Alm-Lequeux, Eduard von Keyserling. Sein Werk und der Krieg. Paderborn 1996; Hannelore Gutmann, Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings. Untersuchung zum ironischen Verfahren. Frankfurt am Main 1995; Angela Sendlinger, Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt am Main 1994. 7 Jochen Strobel, Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte, Bd. 66.) Berlin/New York 2010, 9. Das Buch von Jochen Strobel ist zugleich als ein Beispiel für die vereinzelten germanistischen Abhandlungen zu dieser Fragestellung zu verstehen. Im Rahmen der polnischen Germanistik entstand zu dieser Thematik die Dissertation der Autorin des vorliegenden Beitrags, die in gekürzter Fassung herausgegeben wurde, Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk, Pamięć dla przyszłości: Literatura wspomnieniowa potomków szlachty pruskiej z Pomorza Zachodniego i Prus Wschodnich po 1945 roku. (Zrozumieć Niemcy, Vol.7.) Wrocław 2009. Die von kulturgeschichtlichen Ansätzen ausgehende Untersuchung betrifft die nach 1945 veröffentlichten autobiografischen Texte adliger Autoren aus Ostpreußen und Pommern, unter anderem von Christian Graf von Krockow, Marion Gräfin Dönhoff, Ottfried Graf Finckenstein, Walter von Sanden-Guja, Klaus von Bismarck, Hans Graf von Lehndorff und Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten. 8 Ebd.

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ligkeit deuten, so kann zunächst erfragt werden, welche Elemente adliger Mentalität und adligen Habitus der (adlige) Autor bei der Konstruktion seiner fiktionalen Welten aufgreift. Dabei sollte man berücksichtigen, welche Möglichkeiten ein fiktionaler Text zur Verfügung stellt, samt dem Repertoire an Schreibstrategien, das heißt wie das kulturelle Modell in diesem Fall verschlüsselt werden kann und welches Zeichensystem dabei herausgebildet wird. In diesem Kontext könnte man einen fiktionalen Text als eine Projektionsfläche verstehen, die dem adligen Akteur als Individuum den Raum bietet, sich im soziohistorischen und politischen Kontext innerhalb seiner Gruppe beziehungsweise ihr gegenüber zu positionieren, zu behaupten, zu profilieren sowie diese Prozesse zu reflektieren. Es handelt sich demnach um eine Dokumentation der Identitätsfindung beziehungsweise um Sinnzuschreibungen des Autors vor dem Horizont der eigenen Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt. Darüber hinaus wäre zu fragen, wie der Autor die adlige Standeszugehörigkeit reflektiert sowie wessen und welchen Vorstellungen gegenüber sich Keyserling möglicherweise zu positionieren versuchte. Schließlich kann man der Frage nachgehen, ob Keyserlings Texte per se beanspruchen, gerade den adligen Menschen an der Schwelle zur Moderne zu zeigen.

I. Zur Person des Autors Eduard von Keyserling wurde in einer baltischen gräflichen Adelsfamilie als eines von zwölf Kindern geboren und wuchs auf dem mütterlichen Gut Paddern (lettisch: Padure) im historischen Kurland auf. Die Keyserlings dienten als Diplomaten und hohe Offiziere den Deutschen, den Schweden, Russen, Polen und Sachsen. Gerade aus der Familienlinie, zu der Eduard gehört, kommt Hermann (1880–1946) – Eduards Großneffe, der philosophische Schriftsteller, Weltreisende und Begründer der Darmstädter „Schule der Weisheit“. 9 Nach Abbruch des Studiums der Rechte, Philosophie und Kunstgeschichte an der Kaiserlichen Universität Dorpat (heute Tartu in Estland) im Jahr 1877 lebte Eduard von Keyserling eine Zeitlang in Wien. In diesen Zeitraum fiel die Veröffentlichung

9 Michael Schwidtal/Jan Undusk, Baltische Herkunft, weltbürgerliche Gesinnung. Die Familie Keyserling, in: dies. (Hrsg.), Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, 9–22.

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seiner zwei naturalistischen Romane „Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe“ (1887) und „Die dritte Stiege“ (1892). In den Jahren 1889–1895 verwaltete er die Familiengüter. Nach dem Tod seiner Mutter (1895) zog er mit seinen zwei unverheirateten Schwestern 10 nach München, wo er sich der dortigen Bohème anschloss und unter anderen mit Max Halbe, Frank Wedekind, Rudolf Kassner und Lovis Corinth befreundet war. Die Exmatrikulation von der Universität Dorpat gilt als ein folgenreicher Wendepunkt in Keyserlings Leben. Sie erfolgte im fünften Semester des Studiums, Keyserlings Neffen Otto von Taube zufolge „wegen einer Lappalie – einer Inkorrektheit“, der die gesellschaftliche Ächtung durch seine Kaste folgte. 11 Es handelte sich vermutlich um offene Schuldverbindlichkeiten 12, obwohl man in der Literatur auch von einer Duellforderung spricht, der sich Keyserling entzogen haben soll 13. Während seines zweijährigen Studiums in Dorpat konnte er allerdings insgesamt nur ein Semester erfolgreich abschließen. Dagegen genoss er als Mitglied der Landsmannschaft „Curonia“ das Burschenleben intensiv, was auch die Universitätsakten bezeugt haben sollen. 14 Daher wird vermutet, dass sich der künftige Dichter gerade zu diesem Zeitpunkt seines Lebens jene Syphilisinfektion zuzog, die später Rückenmarkschädigungen, 1906 die Erblindung 15 und schließlich wohl auch seinen Tod verursachte. 16

10

Michael Schwidtal/Henning von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren,

in: Schwidtal/Undusk (Hrsg.), Baltisches Welterlebnis (wie Anm.9), 161–172, hier 169. 11

Jochen Meyer, [Eduard von Keyserling], in: Autoren- und Werklexikon. Killy Literaturlexikon, 10172

(beziehungsweise Killy, Bd. 6, 312). Otto Freiherr von Taube, Keyserlings Neffe, berichtet im Nachwort zur Zürcher Ausgabe von „Schwüle Tage und andere Erzählungen“ (1954): „[Keyserling wurde] von der dortigen [kurländischen] guten Gesellschaft gemieden und [musste] ein abseitiges, ungeselliges Dasein führen, […er war auf] den Umgang mit den nächsten Angehörigen [angewiesen].“ Zitiert nach Schwidtal/von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren (wie Anm.10), 161. 12

Ebd.163f.

13

Tilman Krause, Nachwort, in: Eduard von Keyserling, Im stillen Winkel. Zürich 2006, 234.

14

Schwidtal/von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren (wie Anm.10),

164ff. Der Schwerpunkt des Beitrags sind die Ursachen für das Scheitern von Keyserlings Studium in Dorpat, die die Autoren vor allem anhand der im Estnischen Historischen Archiv in Tartu aufbewahrten Universitätsakten zu verfolgen versuchen. 15

Peter Sprengel, Das erzählerische Werk Eduard von Keyserlings im Kontext der Epoche, in: Schwidtal/

Undusk (Hrsg.), Baltisches Welterlebnis (wie Anm.9), 173–184. 16

Schwidtal/von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren (wie Anm.

10), 168.

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Die soziale Isolation Keyserlings seitens seiner Herkunftsschicht könnte nicht nur auf die vermeintliche Geldaffäre zu seiner Studienzeit zurückzuführen sein, sondern – so die neuere Forschung – auch mit seinem ersten Roman „Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe“ zusammenhängen, der als „ein kritischer Spiegel kleinstädtischer Enge“ 17 gelesen wird. In diesem Roman verarbeitet Keyserling die Beziehung seines Vetters und Schulkameraden Otto von Löwenstern zu einem jüdischen Mädchen aus Goldingen – Rosa Herzberg. 18

II. Keyserlings literarisches Werk Keyserlings fiktionales Erzählwerk umfasst insgesamt sechs Romane, neun längere und zwanzig kürzere Erzählungen beziehungsweise Skizzen. 19 Darüber hinaus war er auch als Dramatiker und Essayist tätig. 20 Seinen Nachlass ließ er verbrennen 21, so dass sich dem Interpreten ein weit offener Raum bietet und zugleich Vieles verschlossen bleibt. Der Fokus des vorliegenden Beitrags richtet sich insbesondere auf zwei seiner Schlossgeschichten, nämlich auf die Novelle „Harmonie“ (1906) und auf den Roman „Abendliche Häuser“ (1914). Der Begriff „Schlossgeschichte“ für Keyserlings Prosatexte entstammt dem Untertitel der ersten, im Jahre 1903 veröffentlichten Novelle dieser Reihe: „Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte“. 22 Ihr Erscheinen bedeutete Keyserlings literarischen Durchbruch. Motive und Konstellationen dieser ersten Schlossgeschichte treten in fast allen folgenden Erzählungen und Romanen modifiziert wieder auf und werden fortlaufend künstlerisch vervollkommnet. 23

17 Meyer, [Eduard von Keyserling] (wie Anm.11), 10172 (beziehungsweise Killy, Bd. 6, 312). 18 Nach der lutherischen Taufe nahm sie den Vornamen Elisabeth an und wurde später die Ehefrau von Otto von Löwenstern, vgl. Schwidtal/von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren (wie Anm.10), 169. Den Forschern nach soll Löwenstern die ganze Auflage gekauft haben, demzufolge galt der Roman hundert Jahre als vergriffen. 19 Peter, Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 10. 20 Mit dem letzten Bereich seines Werks setzt sich zum Beispiel die Monografie von Alm-Lequeux, Eduard von Keyserling (wie Anm.6), auseinander. 21 Schwidtal/von Wistinghausen, Aus Eduard von Keyserlings Dorpater Studentenjahren (wie Anm.10), 161. 22 Gutmann, Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 7. 23 Meyer, [Eduard von Keyserling] (wie Anm.11), 10175 (beziehungsweise Killy, Bd. 6, 313).

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Die Handlung beider Texte spielt in der Welt der deutschbaltischen Schlösser, ohne dass der Ort und die historische Zeit der Handlung präzise bestimmt werden, etwa um die Jahrhundertwende. Im Erzählgewebe sind die Ereignisse dabei zeitlich – nach dem Prinzip der Vormoderne – im Lauf der Jahreszeiten und des Tages verortet. Ein typisches Merkmal von Keyserlings Erzählweise sind kunstvolle Beschreibungen der Natur, bei denen der Dichter seine impressionistische Darstellungsweise entwickelt und eine Stimmung der Vergänglichkeit und der Dekadenz evoziert, die zusätzlich schon als Prolepse im Titel des Romans „Abendliche Häuser“ angedeutet wird. Dies wird als Keyserlings Diagnose der „Welt des versinkenden kurländischen und darüber hinaus des preußischen Adels vor 1914 in ,traumhaft schönen‘ Bildern von streng ritualisierter Künstlichkeit als eine Sphäre vollkommener Lebensferne“ 24 interpretiert, obwohl der regionale Bezug kaum in der Erzählstruktur von Keyserlings Texten zum Vorschein kommt.

III. Konstruktion von Keyserlings Adligkeit Keyserlings Projektionen von Adligkeit konzentrieren sich insbesondere auf das Leben innerhalb des Schlosses, auf die Verwaltung des Landbesitzes, auf ein bestimmtes Familienkonzept und eine bestimmte Familienordnung, die jeweils von der alten Generation verkörpert wird. Folgerichtig stellt die Konstruktion der Protagonisten aus der jungen Generation eine Ergänzung beziehungsweise Kehrseite dieser Projektion dar. Diese Jungen sind jedoch nicht imstande, sich erfolgreich dem Gruppenzwang zu entziehen und ihre Individuation unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen des neuen Zeitalters zu bewältigen. Der Landbesitz samt Schloss wird als eine Art Mikrowelt des adligen Lebens 25 und zugleich durch sein Prisma dargestellt. In der Novelle „Harmonie“ ist der Familiensitz der von Bassenows der Handlungsort, im Roman „Abendliche Häuser“ das Schloss Paduren. Das literarische Paduren wird nicht ohne Ironie als die einstige

24

Ebd.10176 (beziehungsweise Killy, Bd. 6, 313).

25

Marcus Funck/Stephan Malinowski, „Charakter ist alles!“ Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in

deutschen Adelsfamilien des 19. und 20.Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 6, 2000, 71–91, hier 73.

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„Hochburg des adligen Lebens in dieser Gegend“ 26 dargestellt. Hier fällt der biografische Bezug auf, der in der Benennung des Handlungsortes nach Keyserlings Heimatort seinen Ausdruck findet.

IV. Die Schlosswelt als Insel Die Schlosswelt wird primär als eine Insel dargestellt, als „eine Welt für sich“ 27, die die Möglichkeit der Abgrenzung ihrer Bewohner gegenüber der sie umgebenden Realität als dem Fremden anerkennt, bietet und gewährleistet. Nicht die Idee der Landbindung wird dabei ins Zentrum gerückt, sondern gerade die gezielte Exklusivität und Prestigesicherung durch Abgrenzung. Diese Abgrenzung steigert sich seitens der Vertreter der älteren Generation bis hin zu einer ostentativen Betonung der Abneigung gegen das großstädtische Leben und findet ihren Ausdruck zum Beispiel auch in einem Menü, das auf dem Landgut serviert wird. So äußert sich Baron von Port nach dem Abendessen bei von Dachhausens: „Gut, es wird also ein Rehbraten serviert, einer unserer ehrlichen, heimatlichen Böcke, aber ringsum auf derselben Schüssel liegen so halbe Orangenschalen voll Orangengefrorenem, so das süße Zeug, dass man beim Konditor kriegt. […] Gut! In Berlin und Paris versucht man mal so abenteuerliches Zeug, aber hier bei uns – ich kann mir nicht helfen, mir kommt so was pervers vor.“ 28

Diese gezielte Abgrenzung schildert der Text in Bezug auf die jüngere Generation als Verhängnis. Im Text wird sie durch die Raumgestaltung entsprechend der Dichotomie innen-außen markiert. 29 Der Erzähler gibt dabei nur sparsam Informationen zur Ausstattung der Räume. Vielmehr vermittelt er eine Stimmung und bedient sich dabei einer Reihe von Adverbien und punktueller Verweise auf Bestandteile des adligen Fundus an Requisiten in der Schlossausstattung, die bestimmte semantische Assoziationen beim (meist bürgerlich sozialisierten) Leser hervorrufen können und die dem adligen Habitus zugeschrieben werden. Dazu gehören zum Beispiel „Ah26 Eduard von Keyserling, Abendliche Häuser. Göttingen 2009, 6. 27 Ebd.19. 28 Ebd.17. 29 Der Raumgestaltung ist die Dissertation von Beate Discherl gewidmet, Discherl, Eine fremde Welt (wie Anm.3).

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nenbilder und altes […] Silber“ 30 oder „das Porzellan mit dem schwarzen Monogramm“ 31. Man könnte diese Motive symbolisch als Verwurzelung in einer langen Tradition deuten, die auf die Familiengeschichte und die Vorstellung von einer langen Kette der Glieder fixiert ist. 32 Das Schloss wird auch zum Hort des adligen Ethos und zugleich zur Heimat stilisiert, zu einer Welt, der die adligen Protagonisten sich zugehörig fühlen, auch wenn die Jungen von dort zugleich ausbrechen wollen. Dennoch verzichtet der Erzähler bei entsprechenden Schilderungen nicht auf seinen ironischen oder sogar parodistischen Ton. So heißt es zum Beispiel in der Novelle „Harmonie“: „Dennoch war ihm [Felix von Bassenow] feierlich und wohlig zumute. Hier war man doch ein anderer als da draußen. […] Gut! Man war zuweilen gewöhnlich und trivial auf Reisen oder im Klub, aber eigentlich gehörte er hierher, das merkte er schon an den hübschen, reinen Gedanken, die ihn wiegten, als er sich im Bette […] ausstreckte.“ 33

V. Raumgestaltung: Dichotomie außen / innen Beate Discherl hat Keyserlings Werk auf der Basis von Jurij Lotmans Konzept der phänomenologischen Raumforschung über den Zusammenhang von Raum und menschlichem Dasein untersucht. 34 Nach Lotman soll ein literarischer Text, wie andere Kunstwerke auch, mit der Darstellung eines einzelnen Ereignisses zugleich ein ganzes Weltbild abbilden, sodass die Raumstruktur eines Textes sich als Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt erweist. 35 Die Sprache räumlicher Relationen wird demnach für ein grundlegendes Mittel zur Deutung der Wirklichkeit und somit Inszenierung der raumorientierten Beziehungsverhältnisse gehalten. Entsprechend nimmt man an, dass auch die Differenzierung zwischen Eigenem und Frem30

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 8.

31

Ebd.22.

32

Marcus Funck/Stephan Malinowski, Masters of Memory. The Strategic Use of Memory in Autobiogra-

phies of the German Nobility, in: Alon Confino/Peter Fritzsche (Eds.), Memory Work in Germany. Urbana 2002, 86–103, hier 86 f.; dies., „Charakter ist alles!“ (wie Anm.25), 71–91. 33

Eduard von Keyserling, Harmonie, in: ders., Im stillen Winkel. Erzählungen. (Manesse Bibliothek der

Weltliteratur.) Zürich 2006, 5–68, hier 16f.

74

34

Discherl, Eine fremde Welt (wie Anm.3), 14.

35

Ebd.14f.; vgl. auch Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. München 1989, 310ff.

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dem in den literarischen Texten wesentlich in den Kategorien des Raums und der Bewegung erfolgt. 36 So vermittelt die literarisch entworfene Architektur eine Grenzziehung, die die menschliche Lebenswelt in Innen- und Außenräume einteilt. 37 Discherls Feststellungen weiterführend lassen sich in der Novelle „Harmonie“ zwei gegensätzliche Attributreihen beziehungsweise Assoziationsketten bilden. Zum einen betreffen sie die Welt drinnen und umfassen folgende Zuschreibungen: vornehm – hübsch – weiß (das betrifft die Ausstattung in „Harmonie“ und die Kleidung der Protagonisten, insbesondere Annemarie, sowie die Farbe des Schlosses) – bleich (bleiche Gesichter der adligen Gestalten) – (über)kultiviert – feierlich. Demgegenüber beziehen sich auf die Welt draußen folgende semantische Zuschreibungen: trivial – rot – gewöhnlich – lebhaft – sinnlich. In „Abendliche Häuser“ wird diese Dichotomie ein wenig modifiziert: drinnen: still – abendlich – traurig – schlicht – vornehm – Enge – Kreis der Pflichten, und draußen: Raum – lebhaft – individuelle Freiheit – Lachen – heiter – sinnlich. Die Farben werden dabei symbolisch aufgeladen, indem ihnen eine bestimmte Bedeutung zugeschrieben wird. In diesem Zusammenhang kann man auch auf die Motive des Fensters und der Vorhänge („Vorhänge gegen die Außenwelt“ 38) hinweisen, die in der Novelle „Harmonie“ für die aufs Ästhetizistische fixierte Annemarie 39 heruntergelassen werden, um sie von der Außenwelt, von der Unkultur und dem Alltag abzutrennen: „Vorhänge, die fest zugezogen werden, – das ist sicher.“ 40

VI. Das Familiengut als Herrschaftsraum Darüber hinaus erscheint das Familiengut bei Keyserling als der Ort, an dem der Protagonist herrscht, wo er als Herr betrachtet wird und sich daher auch seiner Herr-

36 Ortrud Gutjahr, Alterität und Interkulturalität. Neuere deutsche Literatur, in: Claudia Benthien/ Rudolf Velten (Hrsg.), Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002, 345–359, hier 345f. 37 Discherl, Eine fremde Welt (wie Anm.3), 21. 38 Keyserling, Harmonie (wie Anm.33), 19. 39 Gutmann, Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 165. 40 Keyserling, Harmonie (wie Anm.33), 40.

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schaft vergewissern und behaupten kann. Die ironische Erzählhaltung lässt sich allerdings deutlich wahrnehmen. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn man Keyserlings Erzählungen mit der im Jahre 1894 erschienenen Abhandlung von Max Weber kontextualisiert, der den ostelbischen Gutsbesitzer als „Territorialherr en miniature“ 41 bezeichnet. Die Fähigkeit zum Herrschen wird in der von Keyserling geschilderten Optik des Herrschaftsstandes für angeboren gehalten. Zur Verdeutlichung des adelsgeschichtlichen Bezugs wird das Ungleichheitsprinzip von den Protagonisten keinesfalls angezweifelt. So gibt der Erzähler im Text „Harmonie“, mit einer gewissen Distanz, einen Einblick in die Gedanken des heimkehrenden Felix von Bassenow, der von der Herrschaftsausübung träumt: „Er wollte wieder Arbeit, Verantwortlichkeit, – Befehlen wie der Herr – etwas wie der liebe Gott sein, wollte es spüren, wie seine laute Stimme den großen, blonden Bauernjungen in die Glieder fährt.“ 42

Und in einer anderen Szene, die die feierliche Begrüßung des heimkehrenden Herrn auf der Eingangstreppe des Schlosses wiedergibt, erfährt der Leser aus einem Erzählerkommentar: „[e]in angenehmes Herrengefühl kitzelte ihm [Felix von Bassenow] das Herz“. 43

VII. Gruppenkontrolle Die adlige Qualität manifestiert sich nicht nur gerade durch das Leben im Schloss, sondern zugleich unterliegt der Adlige hier auch einer strengen Gruppenkontrolle und den damit verbundenen ständigen Bewertungen. In „Abendliche Häuser“ stilisiert Keyserling den Familienpatriarchen und Schlossherrn auf Paduren, Baron Siegwart von der Warthe, zum „Hüter der Tradition“ 44 (Maurice Halbwachs) und zur personifizierten Gruppenkontrolle, der „eine stille, aber unbestrittene Herrschaft über seine Standesgenossen ausgeübt [hatte]. Der kleine rundliche Herr mit dem strengen, feierlichen Gesicht, das von dem weißen Haar und weißen Backenbart wie von einem silbernen 41

Max Weber, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, in: ders., Gesammelte

Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. 2.Aufl. Tübingen 1988, 474. 42

76

Keyserling, Harmonie (wie Anm.33), 7f.

43

Ebd.12.

44

Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin/Neuwied 1966, 151.

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Heiligenschein umrahmt wurde, war das Gewissen dieses Adelswinkels gewesen. [… S]eine Ansicht war […] stets die ausschlaggebende, und in jeder wichtigen Sache war es die Hauptfrage: Was sagt von der Warthe? In Sachen der Politik und der Landwirtschaft, in Familienangelegenheiten und Ehrenhändeln, überall sprach er das wichtigste Wort mit. [… Er] wachte streng darüber, dass gute altedelmännische Sitte hier nicht in Verfall geriet. Wenn der Baron von der Warthe die greisen Augenbrauen in die Höhe zog, mit der flachen Hand durch die Luft von oben nach unten fuhr, als machte er einen Sargdeckel zu, und leise sagte: ‚Hm – ja, schade, aber der Mann ist erledigt‘, dann war der Mann für diese Gegend wirklich erledigt.“ 45

Nicht ohne ironisches Augenzwinkern schildert dieses Porträt den Prototyp einer strengen Autoritätsperson, die Deutungshoheit für sich beansprucht und auf diese Weise für das Gruppenprestige, den Zusammenhalt und die Bewahrung der adligen Qualität der Gruppenmitglieder sorgt, indem sie etwa über den Ausschluss der ‚Unwürdigen‘, der zum angestrebten Bild der Gruppe nicht Passenden, entscheidet. Schon der der Figur verliehene Name – Siegwart, also Hüter des Siegs – weist auf diese gruppeninterne Rolle hin und ist zugleich Ausdruck der ironischen Erzählweise. Der soziale Ausschluss betrifft hier den bereits als Spieler verrufenen Dietz von Egloff, nachdem dessen Beziehung mit einer Frau von Dachhausen bekannt geworden ist, der aus bürgerlichem Milieu stammenden Ehefrau eines Nachbarn. Baron von der Warthes Aussagen kann man dabei als eine Sammlung von Verhaltens- und Deutungsmustern in „diese[m] Adelswinkel“ 46 interpretieren. Man kann in den Maximen der Figur, die das alte System verkörpert, gewissermaßen auch eine Antwort auf die Moderne sehen. Adlig zu sein wird demnach nicht nur als angeboren betrachtet, sondern es bedarf zusätzlich des individuellen Vorsatzes und wird damit gewissermaßen auch zu einer Leistung der Akteure: „Es genügt nicht, als Edelmann geboren zu sein, man muss auch Edelmann sein wollen.“ 47 Die Rolle der adligen Töchter 48 deutet er dabei gar als einen Beruf. Zugunsten der Statussicherung der Familie erfordert dieser Beruf einen „Verzicht auf Selbstverwirk-

45 Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 6f. 46 Ebd. 47 Ebd.31. 48 Christa Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870. Frankfurt am Main 1998.

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lichung“ 49, der in adelsspezifischer Weise über die Anforderungen der zeitgenössischen Frauenrolle hinausreicht: „Unsere Töchter gehören in unser Haus, bis sie ihr eigenes beziehen. Tochter eines adligen Hauses zu sein ist ein Beruf, der ebenso wichtig ist, wie jeder andere Beruf.“ 50

VIII. Das Ideal der Selbstbeherrschung Zum adligen Verhaltenscodex gehört unter anderem auch ein bestimmtes Benehmen, das die Kontrolle der Emotionen voraussetzt. 51 Dies reicht in Keyserlings Optik von der „gedämpften“ Sprechweise, der „Aufgabe eines jeden […] stillzusitzen, bis man abberufen war“ 52 bis zur Verleugnung des Sinnlichen, zu der die adligen Frauen erzogen sein sollen. 53 Die letzte Eigenschaft wird durch die Polarisierung der „weißen“, keuschen adligen Frau und der „roten“, sinnlichen Nicht-Aristokratin beziehungsweise Nicht-Adligen in der semantischen internen Textstruktur hervorgehoben. 54 Dies kann als Widerspiegelung der zeittypischen Dialektik von „Madonna“ und „Verderberin“ 55 interpretiert werden. Im Text „Harmonie“ steht hierfür Annemarie von Bassenow, geborene zu Elmts, versus Mila, und im Roman „Abendliche Häuser“ Fastrade Baronesse von der Warthe versus Frau von Dachhausen, der „Fa-

49

Heinz Reif, „Erhaltung adligen Stamms und Namens“ – Adelsfamilie und Statussicherung im Münster-

land, in: Neithard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hrsg.), Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20.Jahrhundert. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 48.) Göttingen 1991, 283. 50

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 10.

51

Maria Ossowska, Ethos rycerski i jego odmiany. 3.Aufl. Warschau 2000, 25. Ins Deutsche übersetzt von

Friedrich Griese: Maria Ossowska, Das ritterliche Ethos und seine Spielarten. Berlin 2007. 52

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 67.

53

Hong, Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept (wie Anm.3), 160.

54

Peter, Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 24. Hong behandelt

den Konflikt zwischen den gegensätzlichen Lebensformen – der kultiviert-keuschen und natürlich-triebhaften – als Thema von Keyserlings Schlossgeschichten. Vgl. auch Hong, Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept (wie Anm.3), 144. 55

Formulierung nach Heide Eilert, Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um

1900. Stuttgart 1991, 200, zitiert nach Discherl, Eine fremde Welt (wie Anm.3), 13. Discherl unterstreicht dabei, dass gerade die Dichotomie von Frauenbildern in der Keyserling-Forschung eine große Beachtung findet und belegt es mit einer Reihe von Studien, die sich darauf beziehen.

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brikantentochter“ 56. In der ersten von Keyserlings Schlossgeschichten bildet ein solches Gegensatzpaar sogar den Titel – „Beate und Mareile“. Auch hier werden den Farben, die in der Ausstattung der Räume sowie im Umfeld von bestimmten Figuren und auch in ihrer Kleidung vorkommen, symbolisch bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Offensichtlich an die Theorien Sigmund Freuds anknüpfend, mündet die Verleugnung des Sinnlichen in Keyserlings Schlossgeschichten bei Vertretern der jungen Generation in Reizbarkeit und Nervosität 57, Melancholie, psychische Störungen oder Spielsucht. Ältere Gruppenmitglieder deuten diese Erscheinungen ihrerseits als eine Art Mangel an Haltung. 58 Über die Verleugnung des Sinnlichen hinaus handelt es sich bei den jungen Protagonisten auch um die Unfähigkeit, sich gegenüber der älteren Generation zu behaupten beziehungsweise zugleich den von der Familie geforderten Verzicht auf Selbstverwirklichung zu akzeptieren. Ferner kann man dies vielleicht auf die Austragung extremer sozialer Spannungen, die den Wilhelminismus prägten 59 und in Keyserlings Prosatexten im Hintergrund angedeutet werden, beziehen. So erkrankt beispielsweise die Figur Annemarie in „Harmonie“ nach einer Fehlgeburt, das heißt nachdem sie den adligen Imperativ der Generativität nicht bewältigt hat. Annemarie kommt ins Nervensanatorium, sie bleibt auch in der Folge stets todessüchtig, leidet unter krankhaften Obsessionen und begeht letztlich Selbstmord. Auch Getrud Baronesse von Port im Roman „Abendliche Häuser“ entscheidet sich nach einer heftigen Konfrontation mit ihrem Vater zu körperlichgesundheitlicher Verweigerung: „Also kränklich sein, das war jetzt ihr Beruf, das war jetzt ihr Beruf, sonst nichts.“ 60 Der spielsüchtige Dietz von Egloff, der in der Kon-

56 Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 17. 57 Der Begriff „nervöse Reizsamkeit“, der aus der Psychologie entlehnt wurde, stammt von Karl Lamprecht, der ihn auf die kollektive Psyche der wilhelminischen Zeit bezog. Er sollte in Form der „nervösen Unruhe“ zur zentralen Kategorie für Kaiserreich in der Forschung der 1980er werden; vgl. Rüdiger vom Bruch, Kaiser und Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Adolf M. Birke/Lothar Kettenacker/Helmut Reifeld (Hrsg.), Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus. München 1989, 119–146, hier 137. 58 Ralph-Rainer Wuthenow, Erzählprosa, in: Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg 1982, 104. 59 vom Bruch, Kaiser und Wilhelminismus (wie Anm.57), 134. 60 Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 69.

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vention eines „Zuschauers [seiner] Selbst“ 61 dargestellt wird, versucht sogar im Kreise seiner Altersgenossen auf dieses Generationen-Problem einzugehen: „aber fühlen Sie nicht, wie hier in diesem Zimmer alles Leidenschaftliche und Lebensvolle gleich verklingt, totgeschlagen wird vom – wie soll ich es sagen – Abendlichen, Großmütterlichen, Sirowschen? [… D]as kommt daher, dass unsere alten Herrschaften stärker sind als wir. Sie wollen ruhig und melancholisch ihren Lebensabend feiern, gut, aber wir wurden in diesem Lebensabend erzogen, wir müssen ihm dienen, wir müssen in ihm leben, wir fangen sozusagen mit dem Lebensabend an. Das ist ungerecht. [… D]ieses Abendleben macht uns […] zu reizbar und gefühlvoll.“ 62

In diesem Textausschnitt kommt ein weiteres Konstruktionselement keyserlingscher Figurenkonstellationen zum Tragen, das insbesondere die Struktur des Romans „Abendliche Häuser“ prägt: Keyserling polarisiert die Generationen. 63 Diese Polarisierung manifestiert sich in der Störung der familieninternen Kommunikation, genauer in der Unfähigkeit, Probleme und Bedenken im Gespräch zu thematisieren und nach einer Lösung zu suchen.

IX. Familienbild Bereits unter den Bestandteilen des Modells „Adligkeit“ wurde auch ein durch historische Tiefe gekennzeichnetes Familienkonzept erörtert, das die vergangenen, die gegenwärtigen und die kommenden Generationen umfasst. 64 Dies kommt in der von Keyserling entworfenen fiktiven Welt zum einen in den Motiven der „hohen Zimmer […] voller Ahnenbilder“ 65 und des Familienwaldes auf Schloss Paduren zum Ausdruck. Bei Keyserling ist die Zukunftsvision jedoch eine Vision des Untergangs

61

Diese Bezeichnung kommt im Beitrag von Wuthenow, Erzählprosa (wie Anm.58), 104 vor. Man kann

zu dieser Art von Keyserlings Figuren auch Felix von Bassenow rechnen, als einen Vorgänger von Dietz von Egloff. Der Protagonist der Novelle „Harmonie“ nimmt zwar bestimmte Merkmale seines Umfelds wahr, jedoch reflektiert er nicht kritisch darüber in dem Ausmaß wie Dietz von Egloff. 62

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 52f.

63

Peter bezieht „Polarisierung“ insbesondere auf die Konstellation weiblicher Figuren in Keyserlings

Werk als „durchgängiges, stets gleich ausgeprägtes Merkmal“ der Konstruktionen vom Erzählten, vgl. Peter, Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 21.

80

64

Funck/Malinowski, Masters of Memory (wie Anm.32), 49 und 86f.

65

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 8.

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der adligen Welt. Im Roman „Abendliche Häuser“ etwa fällt der verrufene Dietz von Egloff Bäume, um seine Spielschulden zu begleichen. Baron von der Warthe missbilligt dies, als „Wächter der Tradition“ äußert er sich hierzu folgendermaßen: „Die Wälder sind in unseren Familien recht eigentlich das, was die Generationen verbindet, wir genießen, was unsere Vorfahren gehegt und gepflanzt, und wir hegen und pflanzen für die kommenden Generationen.“ 66

Ohne in diesem Zusammenhang auf die sinnstiftende Bedeutung der Bäume für adlige Selbstwahrnehmung einzugehen, kann man beobachten, dass Keyserling in seinen Erzählungen jener generationentiefen Kontinuitätsbehauptung des Adels nunmehr immer wieder Zukunftsperspektiven von adligen Familien und ihren einzelnen Vertretern entgegensetzt, die auf eine Katastrophe hinauslaufen. Die patriarchalisch-autoritäre Familienstruktur befindet sich demnach in Auflösung. Entsprechend fällt auf, dass in der Konstellation von adligen Protagonisten in „Abendliche Häuser“ und ebenso in „Harmonie“ die Familienkette bei der Generation der jungen Erwachsenen endet. Der dekadenten Weltvision entsprechend kommen letztendlich in „Abendliche Häuser“ alle männlichen Nachfolger ums Leben: Bolko von der Warthe und Herr von Dachhausen im Duell, Dietz von Egloff begeht Selbstmord. Die Novelle „Harmonie“ endet ebenfalls mit dem Selbstmord von Annemarie, jener jungen Ehefrau, die vom Erzähler als „[d]er echte, letzte Spross einer Rasse“ charakterisiert wird, „die immer davon überzeugt war, das für sie die Auslese des Lebens bestimmt sei“. 67 Das Motiv des Todes wird durch die vorangestellte Fehlgeburt noch verstärkt. Eine solche Kette von Todesfällen muss als Reihe symbolischer Schicksalsschläge aufgefasst werden und erscheint so als eine geradezu überdeutliche Metapher des Untergangs 68. Man könnte dieses biologisch-natürliche Scheitern aber auch als einen Ausdruck grundsätzlicher Deplatzierung des Adels in der Moderne lesen beziehungsweise als eine radikale Bestätigung des Narrativs vom Adel als „Verlierergruppe“ 69 des 19.Jahrhunderts, auch wenn diese Deutung von der neueren Adelsforschung für ein anhaltendes Vorurteil gehalten wird. 70

66 Ebd.36. 67 Keyserling, Harmonie (wie Anm.33), 9f. 68 Meyer, [Eduard von Keyserling] (wie Anm.11), 10178 (beziehungsweise Killy, Bd. 6, 314). 69 Eckart Conze, Vom deutschen Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20.Jahrhundert, Stuttgart/München 2000,19. 70 Eckart Conze, „Totgesagte leben länger.“ Adel in Deutschland im 19. und 20.Jahrhundert, in: Mark Hengerer/Elmar Kuhn (Hrsg.), Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegen-

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X. Dialogisierende Positionierung der jeweiligen Projektion Julia Kristeva, die in die Literaturwissenschaft das Dialogizität-Konzept von Michail Bachtin eingeführt hat, leuchtet ein, dass man „den Text in die Geschichte und die Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden, die der Schriftsteller liest, in die er sich einfügt, wenn er schreibt“, hineinlesen soll. 71 Man kann annehmen, dass sich diese Texte ursprünglich an den bürgerlichen Leser des ausgehenden Wilhelminischen Zeitalters richteten, dem zum einen das „Motivarsenal der gesamten Adelskritik des 19.Jahrhunderts“ zu Gebot stand, dessen Adelsbild zum anderen aber auch durch Theodor Fontanes „Schilderung der landadligen Lebenswelt Ostelbien“ geprägt wurde, die „den Ruhm der Junker […] nachhaltig festigte“. 72 Keyserlings Texte kann man in diesem Zusammenhang als eine ironische Art Dialog mit beiden Darstellungsweisen lesen. Der Erzähler selbst versäumt übrigens nicht, jene tradierten Wahrnehmungsmuster explizit im Erzählten zu berücksichtigen, wie zum Beispiel in der parodistischen Äußerung von Inspektor Pitke in „Harmonie“, die man als Anspielung auf das stereotype Bild der Schlossgesellschaft deuten kann: „‚Da sind Herrschaften‘, sagte Pitke und zeigte auf die Kühe, ,fressen und sich bedienen lassen – was?‘“ 73 Bei der jeweiligen Projektion der Adligkeit hat man es mit einer Positionierung eines bestimmten Konstrukts inmitten funktionierender Diskurse in einem gegebenen sozialhistorischen Kontext zu tun. Für „fontanisierend“ könnte man dementsprechend schon die Platzierung der Handlung auf den Schlössern halten, die „Darstellung der versinkenden Adelsgesellschaft“ 74 und die Skizzierung einer Reihe von überzeugenden Porträts beziehungsweise bestimmten adligen Typen, die – in der

wart. Bd.1. Ostfildern 2006, 107–122, hier 107f. Vgl. auch Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Obenbleiben zum Zusammenbleiben. Der Wandel des Adels in der Moderne, in: Walter Schmitz/Jens Stüben/Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien und Mitteleuropa, Literatur und Kultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 48.) München 2013, 299–312. 71 Julia Kristeva, Bachtin. Das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Linguistik III. Frankfurt am Main 1972, 345–375, hier 369. 72

Heinz Reif, Die Junker, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1.

München 2003, 520–536, hier 533. 73

Keyserling, Harmonie (wie Anm.33), 20.

74

Benno von Wiese, Eduard von Keyserling „Am Südhang“, in: ders., Die deutsche Novelle von Goethe bis

Kafka. Interpretationen. Bd. 2. Düsseldorf 1962, 280.

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wilhelminischen Adelskritik der sozialliberalen Kreise zusammenlaufend – die Figur des Junkers zum Objekt von Kritik und Spott machen. 75 Bereits Thomas Mann stellte in seinem Nachruf beide Schriftsteller – Keyserling und Fontane – nebeneinander. Während dies von der Forschung durchaus differenziert behandelt wird 76, apostrophiert eine der gewichtigen Interpretationen die Unterschiedlichkeit beider Autoren auch im Hinblick auf ihre Zukunftsvision – nämlich als Gegensatz zwischen Fontanes Darstellung des „Übergangs“ und Keyserlings Schilderung des „Untergangs“ der Adelswelt. 77

XI. Schlussfolgerungen Über solche expliziten Adelsbezüge wie die Verortung der Handlung in einem Schloss und auf dem Familiengut, die punktuellen Verweise auf adlige Accessoires als Standessymbole und auf adelstypische Lebenspraktiken wie etwa Jagd und Tischkultur, sowie auch über die bereits diskutierte Konstruktion räumlicher Strukturen hinaus wurden bei Keyserling eine Reihe weiterer Projektionen von Adel sichtbar gemacht. Es handelte sich um die Verwaltung des Landbesitzes, um das Ungleichheitsprinzip, um Exklusivität und Familienkonzept, um gezielte Selbst- und Familieninszenierung sowie um den Verzicht auf Selbstverwirklichung. Will man über die Einstellung des Autors zu den geschilderten Lebensformen Schlüsse ziehen, so ist im Falle von Keyserlings Texten auf die distanzierende kritisch-ironische Erzählhaltung hinzuweisen. Der auktoriale Erzähler, der Rückblicke auf die Vorgeschichte seiner Protagonisten gibt, neigt zugleich zu einem personal orientierten Erzählverfahren. Als Orientierungsfiguren wählt er dabei die Vertreter der jungen Generation. In „Harmonie“ orientiert er sich meistens an Felix von Bassenows Sichtweise, im Roman „Abendliche Häuser“ an Fastrades. Das Ironische bezieht sich insbesondere auf ausgewählte Elemente der von Keyserling konturierten Adelsprojektion, indem der Autor unter anderem einen Einblick in das Innere von 75 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 4.) Berlin 2003, 14, auch Reif, Die Junker (wie Anm.72), 520ff. 76 Discherl, Eine fremde Welt (wie Anm.3), 10 Anm.6. 77 Heiko Strech, Die Synthese von Alt und Neu. „Der Stechlin“ als Summe des Gesamtwerks. Berlin 1970, 59.

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Figuren gewährt, die als Verkörperung gängiger Vorstellungen von typischen Adligen gelten können. Der Erzähler nimmt dabei die Stellung eines kritisch beobachtenden Außenseiters ein, dessen wertende Kommentare oft einem ironischen Duktus folgen. Diese Kritik würde ich jedoch nicht allein auf den Adel bezogen lesen, sondern in einem weiteren Sinne auf die conditio humana des Menschen, der in der Zeit des kulturellen Umbruchs zu leben hat und dessen – aus dem Blickwinkel des 21.Jahrhunderts betrachtet – unzeitgemäße Sozialisation ihn nicht mit dem Instrumentarium ausgestattet hat, diesen Spagat auszuhalten. 78 Das Schloss und seine Bewohner stellen in den Schlossgeschichten somit keine Subjekte dar, sondern sie geraten zu Kulissen, die die Möglichkeit bieten, den Menschen des Fin de Siècle mit seinem Hang zu Überästhetisierung und Dekadenz darzustellen. 79 Da seine Figuren sich im Korsett bestimmter Denkraster und Lebensmuster gefangen fühlen, werden sie als handlungsunfähig geschildert; in seiner in „Die Zeit“ veröffentlichten Rezension vermerkt Florian Illies hierzu treffend, dass den „Objekten die Kraft zum eigenen Leben fehlt“. 80 Diese Unfähigkeit pflegen sie in gewissem Maße zugleich auch selbst, indem sie nicht wagen, den Schritt aus dem Schloss beziehungsweise aus dem Schoß der Familie ins Unbekannte – in die Moderne – hinaus zu wagen und dies mit den Beschränkungen ihrer Herkunft erklären. Dieser Lesart zufolge stellen die bei Keyserling dargestellten adligen Denk- und Deutungsmuster eines von mehreren, wenn auch nicht das einzige Hindernis für die Selbstverwirklichung des Individuums dar. Keyserling zeigt gruppenbezogenes adliges Leben vor allem mit seinen Schattenseiten und negativen Folgen für das Individuum. Die ironische Darstellungsweise gibt dem Erzähler zugleich die Möglichkeit, sich von der konstruierten Welt zu distanzieren, obwohl man die Neigung zum personalen Erzählverfahren gleichzeitig wiederum als eine Identifizierung des Erzählers mit den jungen Protagonisten deuten kann. Aus heutiger zeitlicher Distanz erscheinen diese Texte durchaus als Schilderun-

78

Peter, Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings (wie Anm.6), 11. Demgegenüber

unterstreicht Peter, dass es Keyserling dabei weniger um eine Darstellung und Kritik des Adels schlechthin gehe, als vielmehr um eine allgemeine Lebenshaltung, Lebensform und Wahrnehmung der Wirklichkeit, die des ästhetisierenden Lebens, das sich auch im Bürgertum zeige, bzw. zu dem es auch im Adel Gegenmodelle gebe. 79

Hong, Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept (wie Anm.3), 13.

80

Florian Illies, Die Ironie der schwülen Tage. Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling,

in: Die Zeit 27, 25.6.2009, http://www.zeit.de/2009/27/L-Keyserling [Zugriff am 27.2.2016].

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gen des Adels an der Schwelle zur Moderne. Es erscheint ebenfalls plausibel, diese Erzählungen als eine persönliche Abgrenzung von und zugleich Sehnsucht nach der adligen Herkunft zu deuten. In diesem Sinn stellen Keyserlings Texte eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Herkunft des Erzählenden dar, der als alter ego des adligen Schriftstellers gesehen werden kann. Das Thema der Schlossgeschichten lässt sich jedoch auch als Frage nach der Wahlmöglichkeit deuten – oder treffender nach dem Fehlen eben dieser Wahlmöglichkeit eines Individuums, das sich zwischen dem Zeitgeist des Dekadenten, der individuellen Bestrebungen, der menschlichen Suche nach Glück einerseits und der adligen, nach vormodernen Prinzipien der ausgerichteten Sozialisation innerhalb einer adligen Familienordnung andererseits zu orientieren und zu positionieren versucht. Wenn man die keyserlingsche Optik mit den Adelsprojektionen in autobiografischen Texten des Adels aus Ostpreußen und Hinterpommern nach 1945 81 vergleicht, die also circa siebzig Jahre später in einem anderen politischen und soziohistorischen Kontext entstanden, fallen einige wesentliche Unterschiede auf. Diese Unterschiede könnte man zum einen regional deuten, zum anderen aber auch auf Wandel und Kontinuität der Projektionen von Adel und Adligkeit beziehen. Keyserlings Projektion lässt zum Beispiel keine Spur jenes Prinzips sozialen Verantwortungsgefühls und sozialen Engagements des adligen Gutsbesitzers gegenüber den Gutsuntertanen erkennen, während dies nach 1945 einen festen Bestandteil der in autobiografischen Schriften konstruierten adligen Lebenswelten darstellte. Ebenso wenig kommt in Keyserlings Welt das Motiv der deutschen Mission oder der deutschen Ritter als Kulturträger im Osten vor, das in den ostpreußischen Erinnerungen nach 1945 stark ausgeprägt ist. Es fehlt ferner die die ostpreußische Literatur kennzeichnende Vorstellung des existentiellen Grenzdaseins 82, das sich aus der Vorstellung vom eigenen Lebensraum als einem „Bollwerk“ gegen einen als bedrohlich aufgefassten, russisch beziehungsweise slawisch geprägten Osten ergibt. Darüber hinaus kann man auch in Bezug auf Keyserlings Protagonisten eher wenig von der Idee der regionalen Verwurzelung sprechen. Die Identität der Personen 81 Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk, Das Eigene und das Fremde. Kollektive Bilder in den Erinnerungsschriften des deutschen Adels aus Hinterpommern und Ostpreußen nach 1945, in: Regina Hartmann (Hrsg.), Grenzen auf der Landkarte – Grenzen im Kopf? Kulturräume der östlichen Ostsee in der Literatur vom 19.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2010, 111–133. 82 Armin von Ungern-Sternberg‚ Erzählregionen. Überlegungen zu literarischen Räumen. Mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur. Bielefeld 2003, 821.

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und der Handlungsort sind nur mühsam regional definierbar – abgesehen von vereinzelten Hinweisen auf den im Baltikum typischen Einfluss der russischen Kultur. So kommen als Nebenpersonen russische und polnische Grafen und „das silberne Samowar“ 83 als Alltagsgegenstand in Paduren vor. Die Ablehnung von Elementen, die dem zeitgenössischen Adelsbild nicht entsprechen, führt Keyserling nicht auf die privilegierte Stellung des Adels in der Gesellschaft zurück, wie dies etwa in den autobiografischen Texten von Marion Gräfin Dönhoff festzustellen ist. Die Journalistin pflegte hervorzuheben, dass adlige Privilegien eine Gegenleistung verlangt hätten – ein ganz bestimmtes Verhalten. 84 Ebenso wenig bezieht sich Keyserling in diesen Fällen auf eine bewusste Pflege des Gesamtbildes der Gruppe, um den Adel gegenüber dem Bürgertum zu legitimieren. Diese Art der Ablehnung hätte auch als Strategie der Aushandlung der Elitenposition gelten können. 85 In Keyserlings Welten geht es vielmehr ausschließlich um die Akzeptanz innerhalb des eigenen Kreises, er legt dem Leser damit interne Regelmechanismen der Adelswelt offen. Somit kann man wohl die jeweilige Projektion von Adel stets als ein Konstrukt erfassen, kontextbedingt oder vielmehr von den jeweiligen Kontexten abhängig, auf die der Autor sowohl im sozialhistorischen als auch psychologischen Bereich bezogen ist. Ein Schreibprojekt gibt dem Autor eine Möglichkeit, mittels Zuschreibungen und Erzählstrategien in einen Dialog mit vorhandenen Diskursen zu treten. Bei seiner Positionierung greift er zur Indizierung von Adel auf einen weitgehend zeitgebundenen Fundus an Werten, Praktiken und Requisiten zurück.

83

86

Keyserling, Abendliche Häuser (wie Anm.26), 2.

84

U. a. Marion Gräfin Dönhoff, Kindheit in Ostpreußen. Berlin 1998, 57ff.

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Funck/Malinowski, Masters of Memory (wie Anm.32), 88.

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Die adlige Familie als Phantasma und Schreckbild Adelstöchter als Buchautorinnen um 2000 von Jochen Strobel

I. ‚Adel‘ als kulturelles Schema: Das Beispiel der adligen Familie Die Literaturwissenschaftler haben die seit der Jahrtausendwende anhaltende Konjunktur der Familien- und damit auch oft der Generationenromane vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Gedächtnistheorie sehr wohl zur Kenntnis genommen. Fiktionale Texte mit ihren individuellen Familienplots nehmen nicht selten Anleihen beim autobiographischen Schreiben, stellen eine Beziehung her zwischen erzählbarer „kleiner“ Geschichte und auf diese Weise fassbaren Inhalten des kollektiven Gedächtnisses. 1 Es steht dahin, ob, wie Hannes Heer vermutet, Familienromane schon deshalb als „historische Quelle“ gelten dürfen, weil sie häufig selbst Quellen literarisch verdichten, oft erkennbar Tagebücher, Briefe, Fotoalben zitieren und montieren. 2 Harald Welzer hat 2004 sicher zu Recht vermutet, dass Familienromane der „gefühlten Geschichte der Bundesbürger“ näher stehen als „die autoritati1 Vgl. z.B. Gerhard Friedrich, Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman, in: Fabrizio Cambi (Hrsg.), Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg 2008, 169–180; ders., Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als „Familienroman“, in: Thomas Martinec/Claudia Nitschke (Hrsg.), Familie und Identität in der deutschen Literatur. (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 95.) Frankfurt am Main 2009, 205–219; Frederick A. Lubich, Bester Vater … Bestie Vater. Familienromane der Töchter in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: ders., Wendewelten. Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945. Würzburg 2002, 97–109; Simone Costagli/Matteo Galli (Hrsg.), Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. Paderborn 2010; Andrea Geier/Jan Süselbeck (Hrsg.), Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009; zur Begrifflichkeit des ‚Kulturellen Gedächtnisses‘ vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005. 2 Hannes Heer, Speicher der Erinnerung. Der Familienroman als historische Quelle, in: Ellen Ueberschär (Hrsg.), Die Nazizeit als Familiengeheimnis. Literatur und Erinnerungspolitik. (Loccumer Protokolle, Bd. 58/05.) Rehberg-Loccum 2007, 33–50.

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ve Erzählung“ über den Nationalsozialismus. 3 Doch ist im Folgenden unter Familie etwas anderes zu verstehen, als es diese Romane tun und mit ihnen deren Leserinnen und Leser. Gemeint ist diachron ein sich über Jahrhunderte erstreckender genealogisch-kultureller Zusammenhang, synchron ein verzweigtes soziales Netzwerk – die adlige Abstammungsfamilie, die, auch wenn sie ihre einstige Funktion der „Ausübung und Sicherung von Herrschaft“ 4, heute eingebüßt hat, doch um ihre Selbstreproduktion, das Ideal „ständische[r] Endogamie“ 5, bemüht ist, Mesalliancen, also „Heiraten mit Angehörigen nichtadliger Stände“ 6, hat sie von jeher und, freilich mit Abstrichen, bis heute zu vermeiden gesucht. Das Wissen um gemeinsame Vorfahren wird durch ein Familiengedächtnis gestützt; hierzu gehören in der Binnenkommunikation des Adels Institutionen wie Familienarchive, -stiftungen und -verbände. 7 Die Bücher, um die es gehen soll, tragen alle der Tatsache Rechnung, dass mit ‚Adel‘ eine eigene und eigentümliche semantische Welt evoziert ist, und sie neigen dazu, ihre Leser über diese Welt zu informieren oder gar zu belehren, mal ironischer, mal ernsthafter. Die drei Autorinnen sind durchweg adlig, aus gräflichem Haus, und waren oder sind als Journalistin oder Schriftstellerin tätig. Marion Gräfin Dönhoff lebte von 1909 bis 2002, Elisabeth Plessen (recte Elisabeth Charlotte Marguerite Augusta Gräfin von Plessen, ihre Romanheldin trägt den Namen Augusta) kam 1944 zur Welt, Christine Gräfin von Brühl 1962, d.h. jeweils fast eine Generation liegt zwischen den dreien. Hier sollen nicht so sehr empirische Daten interessieren, sondern Zuschreibungen. ‚Kultur‘ scheint mir ein Markt der Aushandlung kollektiv wirksamer Bedeutungen zu sein, der im weitesten Sinn der Generierung von Lebenssinn dient. Homogen erkennbare bestimmte Bedeutungseinheiten mit Wiedererkennungswert bezeichne ich, mit einem in den Kognitionswissenschaften gebräuchlichen Terminus,

3 Harald Welzer, Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane, in: Literatur. Beilage zu Mittelweg 36, Hamburger Institut für Sozialforschung, 1, 2004, 53, zit. nach: Friedrich, Nähe (wie Anm.1), 169. 4 Eckart Conze, Art.„Familie“, in: ders. (Hrsg.), Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen. München 2005, 84; sowie ders., Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20.Jahrhundert. Stuttgart /München 2000. 5 Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, 456. 6 Ebd.457. 7 Eckart Conze, Art.„Familiengedächtnis“, in: ders. (Hrsg.), Lexikon (wie Anm.4), 84f.

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als kulturelle Schemata. Grundlegend für den Terminus des kulturellen Schemas ist die Merkmalhypothese der Semantik, nach der Begriffe nicht ganzheitlich, sondern aus Semen oder Komponenten zusammengesetzt sind. Semantische Merkmale sind „Grundkategorien unserer Perzeption und Kognition“ 8, im weiteren Sinn aber auch unseres Wissens, mag uns auch ein dem semantischen Merkmal zuzuordnender Oberbegriff mitunter fehlen. So assoziieren wir mit den Ahnengalerien, den Familienerzählungen und Stammbäumen von Adligen stets das semantische Merkmal „Primat der Genealogie“, ohne dass uns diese Begriffsprägung bekannt sein muss, ohne dass wir es explizit formulieren müssten. Damit ist das wohl größte Problem bezeichnet: Das Aufrufen des Schemas im Text kann beim Rezipienten unbewusst vor sich gehen. 9 Ein zeitlich variantes, als kollektives Wissen definiertes kulturelles Schema ‚Adel‘, das sich als relativ homogene kulturelle Sinneinheit durch semantische Trennschärfe auszeichnet, schließt sowohl das zeitgenössische Expertenwissen aus als auch da und dort das je individuelle Erfahrungswissen. Daraus folgt, dass sich das kollektive Wissen häufig in enger Nachbarschaft zum Stereotyp bewegen dürfte und empirisch verifizierbaren Tatsachen nicht genügen muss. 10 Es hat aber für die kommunikative Praxis den Vorteil des hohen Wiedererkennungwertes. Verstehen von Texten, aber auch von anderen Zeichenensembles, das meint auch Praktiken,

8 Monika Schwarz-Friesel/Jeannette Chur, Semantik. Ein Arbeitsbuch. 5.Aufl. Tübingen 2007, 42. 9 Jochen Strobel, „…den letzten Rest von Poësie.“ Historische und literarische Semantik eines kulturellen Schemas am Beispiel von ‚Adel‘ in der Moderne, in: KulturPoetik 12, 2012, 187–207, sowie das an der Philipps-Universität Marburg angesiedelte DFG-Projekt „Aristokratismus. Historische und literarische Semantik von ‚Adel‘ zwischen Kulturkritik der Jahrhundertwende und Nationalsozialismus (1890–1945)“, http://www.uni-marburg.de/fb09/ndl/personal/strobel/dfgadel [Zugriff am 22.2.2016]. 10 Zum kollektiven Wissen über den Adel zählt das Vorurteil von seiner Verschwendungssucht, des Anökonomischen – während vermutlich zu allen Zeiten Expertenwissen hierzu gegenteilig lautete und wirtschaftlich sinnvolles Handeln von Adligen historisch durchgehend belegbar ist. Für die Moderne vgl. z.B. Manfred Rasch, Adelige Unternehmer am Ende der Wilhelminischen Epoche, in: Hartmut Berghoff/ Jürgen Kocka/Dieter Ziegler (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Österreichs und Deutschlands. Im Gedenken an Gerald D. Feldman. München 2010, 21–46; Ivo Cerman/Luboš Velek, Adel und Wirtschaft, Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne. (Studien zum Mitteleuropäischen Adel, Bd. 2.) München 2009; András Vári, Herren und Landwirte. Ungarische Aristokraten und Agrarier auf dem Weg in die Moderne (1821–1910). Wiesbaden 2009; Manfred Rasch/Toni Pierenkemper/Nobert Reimann (Hrsg.), Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter. Münster 2006; René Schiller, Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 3.) Berlin 2003.

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etwa Rituale, ist bekanntlich davon abhängig, dass die Rezipienten Sachverhalte wiedererkennen und einordnen können. Darüber, was ‚Adel‘ ausmacht, besteht ein Minimalkonsens, der meines Erachtens in Gestalt kognitiver Strukturen bei kompetenten Sprechern und Lesern vorhanden ist. Das mögen der Namenszusatz „von“ sein, ein Schloss als Wohnort, Jagd, Verwaltung von Grundbesitz, generell: Figuren und Requisiten – bereits ein minimales Ensemble kann als Rahmung, als Frame, eines Narrativs dienen. Sogleich erkennt der Leser, dass er sich in der Welt des Adels befindet, es öffnet sich in seinem Gehirn gewissermaßen eine entsprechende „Schublade“. Hinzu können stereotype Handlungssequenzen kommen, die „die einzelnen Handlungsschritte zeitlich und räumlich ziemlich festgelegt“ 11 haben, sogenannte Scripts, also z.B. Eheschließung als Standesheirat. Frames und Scripts sind allerdings variable, mit Komplexität anzureichernde Grundmuster des Verstehens, die für Orientierung und Selbstverständigung des Kollektivs der Leser und Sprecher anschlussfähig sind – und dann werden sie kulturgeschichtlich auch über eine Adelsgeschichtsschreibung im engeren Sinn hinaus interessant. ‚Adel‘ – dies kann hier nur exemplarisch angedeutet werden – ist bis weit ins 20.Jahrhundert hinein, wenn nicht bis zur Gegenwart, ein solches kulturelles Schema. Besonderes Kennzeichen ist eine vielfältig einsetzbare Ambiguität, sprich: eine politisch und ideologisch nicht zu vereindeutigende semantische Gemengelage des Inklusiven oder auch des Exklusiven, deren bevorzugter Ort immer wieder die Literatur sein konnte. Allerdings stellt sich die Frage nach der Aktualität eines solchen Konzepts, gerade im Medium der Literatur um die Wende zum 21.Jahrhundert. Zu prüfen ist folglich, in welche Kontexte das Schemawissen vom Adel heute noch eingeführt wird, etwa: welche Merkmale schreibt man der adligen Familie heute zu, in welchen Kontexten haben diese Zuschreibungen welche Funktionen? Exklusive Binnenkommunikationen sind in einer ausdifferenzierten modernen Gesellschaft kaum mehr denkbar – zumindest müssen sie auf ihre Exklusivitätsansprüche hin untersucht werden; bleibt zu fragen, wie Exklusivität abgesichert oder auch unterlaufen wird, indem nämlich das Arkanum in die massenmediale Kommunikation eingespeist wird. Diesen Vorgang beobachten wir hier anhand exemplarischer Buchpublikationen. Sowohl das Buch als Medium und Verkaufsobjekt als auch die Literatur als materialisierte symbolische Rede, die auch verkäuflich sein soll – Buchmarkt und Literaturbe11

Gert Rickheit/Sabine Weiss/Hans-Jürgen Eikmeyer, Kognitive Linguistik. Theorien, Modelle, Methoden.

Tübingen/Basel 2010, 38f.

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trieb also – sind seit dem 18.Jahrhundert Teile einer bürgerlichen Öffentlichkeit, in der man, wie vielleicht Stefan George 12, Aristokratismen ausspielen kann, in der sich aber doch prinzipiell jeder Kommunikationspartner an alle anderen wendet. Bücher von Adligen über den Adel sind in aller Regel nicht primär an ein adliges Publikum adressiert. Vielleicht wichtigstes Merkmal der adligen Familie ist das Zurücktreten des Individuums – man könnte sagen: des modernen Subjekts oder auch des modernen Autors – hinter das Kollektiv und hinter die Tradition. Alle Autorinnen und alle Texte stehen noch oder wieder an der Grenzlinie zwischen dem Aufgehen in der Tradition und Subjektivität. Biographisch haben sich alle drei für einen modernen Beruf, eben den der Journalistin oder Autorin, entschieden und haben damit den Weg zu einer modernen Existenz eingeschlagen. Welchen Stellenwert kann die adlige Familie hier noch haben, auch in einer ‚nur‘ fiktionalen oder erinnerten, bereits verlorenen Welt? „Zerfall der Familie“ 13 und, gegenläufig dazu, die Rückkehr eines verzweigten sozialen Netzes 14 mögen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte sein. Um Familien geht es in allen vorzustellenden Texten. Sie sind sämtlichen Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen sehr wichtig, doch muss der Leser, wenn er diese Bücher aufschlägt, kulturell zumindest so beschlagen sein, dass er erkennt, welche besondere ‚Welt‘ (ich nenne sie Textwelt) sich hier abzeichnet. Dem Leser muss, damit er diese Texte adäquat versteht, bekannt sein, dass es „den Adel“ gibt, nicht den ostpreußischen oder den sächsischen, nicht die Standesherren oder den Hofadel des wilhelminischen Reiches. Er muss das, was ich als kulturelles Schema ‚Adel‘ bezeichnen möchte, erkennen, sein kulturelles Vorwissen oder auch seine Vorurteile aktivieren, sich dann vorantasten und sich von Neuem, ihm noch Unbekanntem überraschen lassen. In den letzten Jahren haben sich einige AutorInnen explizit als Angehörige von Adelsfamilien zu erkennen gegeben, ja: sie und ihre Verlage wuchern mit diesem Pfund. Der arbeitslose Journalist Alexander von Schönburg legte 2005 im Modus der schwebenden romantischen Ironie ein Benimmbuch namens „Die Kunst des stilvol12 Barbara Stiewe, „Neuen adel den ihr suchet…“ Aristokratismus im George-Kreis, in: Eckart Conze/ Wencke Meteling/Jörg Schuster/Jochen Strobel (Hrsg.), Aristokratismus und Moderne 1890–1945. Bonn 2013, 281–297. 13 Thomas Martinec/Claudia Nitschke, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Familie (wie Anm.1), 9–13, hier 9. 14 Bernhard Jahn, Familienkonstruktion 2005. Zum Problem des Zusammenhangs der Generationen im aktuellen Familienroman, in: Zeitschrift für Germanistik 16, 2006, 581–596.

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len Verarmens“ vor – der Klappentext weist den Autor als Experten aus, der „weiß, wovon er spricht, denn er entstammt einer Familie, die rund 500 Jahre Erfahrung im sozialen Abstieg hat“. 15 Kollektives, weithin tradiertes Wissen sowie die Erfahrung von Solidarität und der Trost, nicht allein zu sein mit seinem Scheitern, zeichnen bei allen Anleihen bei der – gattungsgeschichtlich auf das Mittelalter zurückgehenden – Ständesatire das zu uns sprechende Ich aus. 16 Esoterische Diskurse haben seit 200 Jahren schon etwas von einer demonstrativen und damit scheinbaren Abgrenzungsstrategie, denn die Kommunikationsströme überschreiten die Binnengrenzen aller Sonderdiskurse früher oder später. Am auffälligsten ist Elisabeth Plessens Romantitel – ihr Buch ist ganz gewiss keine Mitteilung an den Adel, sondern ein Roman, der sich an ein Lesepublikum wendet, das sich möglicherweise entscheiden soll, ob „Helden“ für sie die Offiziere des 20.Juli oder Benno Ohnesorg und Ulrike Meinhof sind. Die vermeintlich triviale Variante, Christine Gräfin Brühls Sachbuch „Noblesse oblige“ von 2009, sei hier vorangestellt, betreibt es doch ostentative Exoterisierung scheinbar esoterischen Wissens, sammelt es Zuschreibungen ebenfalls im Stil eines Benimmbuches. Es ist also nach Handlungsanweisungen gegliedert, die freilich nicht als solche für den Leser bestimmt sind, da dieser eben kein Adliger ist. Die Familie wird sogleich als Instanz der Selbstreferentialität und Selbstreproduktion in biologischer wie auch kultureller Hinsicht eingeführt. 17 Brühl vertritt die These von einer „voll funktionierende[n] Parallelgesellschaft“ 18, die diesen Status allerdings auch nach außen hin pflegt, also Binnenkommunikation nach außen hin demonstriert, wie es das Buch selbst ja tut. Über das „pausenlose Absondern und Isolieren“ 19 sind auch diejenigen zu informieren, die eigentlich ausgeschlossen sind. Brühls Buch könnte man als Versuch verstehen, das bestehende kulturelle Wissen über den Adel zu bestätigen und graduell zu diversifizieren – es eröffnet den Blick auf ein Museum, das nur in der Doppelexistenz lebbar ist. Doch nimmt es eine Grenzüber-

15

Alexander von Schönburg, Die Kunst des stilvollen Verarmens. Wie man ohne Geld reich wird. 6.Aufl.

Berlin 2005, Klappentext. 16

Vgl. für einen ersten Überblick über den Satirebegriff: Jürgen Brummack: Art.„Satire“, in: Jan-Dirk Mül-

ler (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 3. Berlin/New York 2003, 355–361. 17

Christine Gräfin von Brühl, Noblesse oblige. Die Kunst, ein adliges Leben zu führen. München/Zürich

2011 [zuerst 2009], 10.

92

18

Ebd.12.

19

Ebd.13.

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schreitung zwischen den beschriebenen Parallelwelten selbst vor, zeigt es, dass hinter dicken Schlossmauern, abweisenden Grenzen also 20, warmherzige Geselligkeit zu Hause ist. Wie der romantische Künstler lebt der Adlige folglich in zwei Welten, wobei die eine unter dem Gesetz strenger Kontinuität steht: Die seit Jahrhunderten gefährdete Adelswelt, so das Rezept, kann nur erhalten werden um den Preis strengsten familialen Zusammenhalts und unbedingter Einhaltung und Tradierung standesgemäßer Praktiken: „In all seinen Gesten, seiner Sprache, seinem Benehmen, ja seiner Aufmachung muss ein Adliger besonders unter Adligen ständig beweisen, dass er ein guter und ein richtiger Adliger ist.“ 21 Die narrativen Anteile sind anekdotischer Art, also so oder ähnlich vielfach erzählte Geschichten, die durch die Nennung von Familienmitgliedern beglaubigt werden, Geschichten, die keinen Autor besitzen. So etwa lesen sich Anekdoten, die die Rigidität adliger Erziehung veranschaulichen: „Wie die Episode von einer meiner Cousinen, die kein Orangeat und Zitronat mochte und es daher fein säuberlich aus dem Christstollen klaubte und sorgfältig auf ihrem Teller zu einem kleinen Haufen aufschichtete. Natürlich wurde sie dabei entdeckt und nach dem Essen dazu verdonnert, bis spät in den Nachmittag vor ihrem Teller sitzen zu bleiben und würgend und spuckend die verhassten Zutaten alle einzeln aufzuessen. Zum Glück durfte sie Wasser dazu trinken. Schlimm und vor allem sehr real ist die Angst, die solche Geschichten, seien sie nun tatsächlich passiert oder nicht, auslösen.“ 22

Das Buch atmet Zeitlosigkeit, ähnliche Geschichten hätten schon Vorfahren erzählen können; zitiert wird aus Tomasi di Lampedusas „Gattopardo“: „Es wird sich nichts ändern.“ 23 Dafür sorgt die sich in der Familie und ihren Ritualen kristallisierende Kontinuität: „Dem überzeugten Adligen ist es fast gleichgültig, ob seine Projektionen den Grundlagen der aktuellen Verfassung und Staatsform entsprechen oder nicht.“ 24 Familienfest und Ball (Kapitel „Tanze Walzer!“) oder das Einüben ehrenhaften Verlierens im Jeu zählen zu diesen Frames und Scripts. 20 Ebd.39. 21 Ebd. 22 Ebd.31. 23 Ebd.250. Das Zitat ist semantisch verkürzend, kehrt den ursprünglichen Sinn geradezu um. Im Original lautet es: „Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.“ (Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.) Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo. Milano 2005, 32. 24 Gräfin von Brühl, Noblesse oblige (wie Anm.17), 252.

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II. Familiengedächtnis: Marion Gräfin Dönhoff Dönhoffs Erinnerungsbuch „Namen die keiner mehr nennt“ bietet in mehreren Episoden ein Tableau von Orten und Ereignissen, die bei ihrer Jugend in Ostpreußen bis hin zu Momentaufnahmen der Flucht einsetzen, dann aber eine Familiengeschichte erzählen, die sich zu einer Geschichte des „guten Europa“ auswächst, das dem Nationalismus widerstanden habe. Hierfür steht etwa ein polnischer Zweig der Dönhoffs ein. Die Autorin möchte zeigen, dass sich „am Schicksal der einzelnen Familie die großen Linien der historischen Strömungen feststellen lassen“. 25 Selbstverständlich kann nur eine adlige Familie gemeint sein, deren Geschichte angesichts des Wechsels der Einflussgebiete in Nordosteuropa „fast aufschlussreicher als die Geschichte der Nation“ ist. 26 Das Buch lehrt uns: nur die Geschichten einzelner Familien vermögen nach dem Zweiten Weltkrieg eine historische Betrachtung Mittelosteuropas aus deutschem Blickwinkel überhaupt noch zu rechtfertigen. Zunächst aber ist Marion Dönhoff 1945 „eine Reiterin, deren Vorfahren vor 700 Jahren von West nach Ost in die große Wildnis jenseits des Flusses gezogen waren und die nun wieder nach Westen zurückritt – 700 Jahre Geschichte ausgelöscht“. 27 Dass die Stände immer wieder neuen Herrschern huldigten, wird gut geheißen als Kennzeichen des vornationalen Europa, „[e]he der Begriff der Nation erfunden wurde und ehe das Gift der Ideologie in alle menschlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen einsickerte“. 28 Indem es um Kolonisation im Sinne von naturgemäßer Kultivierung 29, nicht um Machtpolitik gegangen sei, beruhte dieser Wechsel doch auf dem adligen Dienstgedanken, welcher „die Ausbreitung nationaler Vorurteile und die Verengung des politischen Horizonts“ verhindert habe. 30 Loyalität und zugleich Internationalität kennzeichnen die Familiengeschichte; ein in diplomatischen Diensten in England tätiger Vorfahr begründete angeblich die liberale Ge-

25

Marion Gräfin Dönhoff, Namen die keiner mehr nennt. Ostpreußen – Menschen und Geschichte.

Düsseldorf/Köln 1962, 120. 26

Ebd.

27

Ebd.9.

28

Ebd.123.

29

Vgl. die Überschrift „Stets blieb etwas vom Geist des Ordens“ (ebd.119–197): Kolonisieren wird zu Kul-

tivieren vereindeutigt, der Lehnsherr kann von Zeit zu Zeit auch einmal wechseln. 30

Ebd.123. Die Rede vom Hineingewobenwerden der Dönhoffs in die preußische Geschichte will besa-

gen, dass eine adlige Familie nicht nur einer einzigen Territorialgeschichte angehört. Vgl. ebd.136.

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sinnung, die noch die Verfasserin auszeichnet. Für die Bewertung der Ich-Erzählerin bedeutet dies: Es ist die Geschichte einer adligen Familie, die ein „besseres Deutschland“ nach 1945 mitbegründet hat und mitverantwortet. Trotz dieses Epochenbruchs geht die Familiengeschichte weiter; die 19. Generation wurde noch in Friedrichstein geboren, „aber sie durften nicht mehr dort aufwachsen“. 31 Machtbeziehungen werden heruntergespielt oder verleugnet, das Leben des ostpreußischen Adels war „das Hineinverwobensein in einer vom Praktischen bestimmte[n] Gemeinschaft“ 32, die sowohl Familienmitglieder als auch deren Personal und die Bauern in persönlich geprägten Beziehungen einbegriff. Es ist im Rückblick ein Idyll, aus dem heraus der Cousin Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort (1909– 1944) als Verschwörer des 20.Juli „Verantwortung“ übernahm, und von dem aus gesehen Adolf Hitler als einzig Verantwortlicher für eine Verlängerung des Krieges gelten darf 33: „Dies ist die Welt, in der Heini Lehndorff heranwuchs. Sie mag letzten Endes der Grund gewesen sein, warum er in einer Zeit, da niemand geradestand für das, was in Deutschland geschah, weil jeder sich durch ‚höheren Befehl‘ exkulpiert meinte, warum er damals die volle Verantwortung in die eigenen Hände nahm und sein Leben einsetzte.“ 34

Naturverbunden und zugleich auf Kultivierung bedacht – aus dieser Tradition heraus hat die Familie Dönhoff den Nationalsozialismus abgelehnt. 35 Der Nationalsozialismus – das sind die anderen, das ist vor allem Hitler. Dönhoff aktiviert bei mehrfachem Neueinsetzen ihres Erzählens ein polyphones Familiengedächtnis, geht also über die individuelle Erinnerung hinaus. Bei dem jüdischen Wirtschaftshistoriker Edgar Salin hatte sie über die Geschichte der Bewirtschaftung ihrer Familiengüter promoviert; Familiengeschichte wird, neben dem Erzählen von Kindheitsanekdoten, der Wiedergabe eines Reisetagebuchs der Jugendlichen oder eines ZEIT-Artikels der gestandenen Journalistin also auch Wirtschaftsgeschichtsschreibung, ja: die Autorin dekliniert höchst unterschiedliche Textgattungen und Zugänge durch, um nur immer wieder zu einer Verschränkung von Familiengeschichte und einer Geschichte Ostpreußens und des Baltikums zu 31 Ebd.197. 32 Ebd. 33 Ebd.25. 34 Ebd.86. 35 Ebd.89.

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gelangen. Schon als Doktorandin war das Schreiben nach eigenem Bekunden ein Versuch, „geistig Besitz zu ergreifen, ehe es [Schloss Friedrichstein, J. S.] materiell verloren ging“. 36 Doch der in der Familie beschworene Geist des 1202 gestifteten, bald im Deutschen Orden aufgegangenen Schwertritterordens 37 bedeutet die Bereitschaft zum Wechsel und begründet die Erfolgsgeschichte der Familie, bezeichnet also ein Kontinuum, das die Schrecken der Flucht und den schmerzlichen Verlust von Heimat und Besitz nicht nur überdeckt, sondern ausgleicht. Als Besitz bleibt nun, Anfang der 1960er-Jahre, das Familiengedächtnis. Nicht historischer Wandel ist Thema des Buchs, sondern die Geschichte eines Landes, dessen Grenzen sich über Jahrhunderte nur wenig verschoben hätten 38, zugleich eine Kindheit „im Rhythmus der Natur, die alles bestimmte“ 39. Fast drei Jahrzehnte später wiederholt „Kindheit in Ostpreußen“ manches aus dem ersten Buch, feiert Familie nunmehr im Symbol des Händedrucks zwischen den Generationen. Da ihr Vater bei ihrer Geburt bereits ein alter Mann war, genügen drei solcher Händedrücke, um der großen Zeit um 1800, der Zeit Humboldts und Goethes, nahe zu sein. Sind die Generationen des kommunikativen Gedächtnisses, also die bis zum Großvater, „meine unmittelbare, mich bestimmende Vergangenheit“ 40, dann ist zugleich eine Brücke zur klassischen deutschsprachigen Kultur geschlagen. Familiengeschichte kommt hier ganz traditionell als Anekdotensammlung; Anekdoten haben in der Regel keinen Autor, und es kommt hier auch nicht darauf an, wer von dieser Familie erzählt. Anekdoten sind Gegenstand des intergenerationellen Dialogs, also der Tradierung eines Familiengedächtnisses, das hier wiederum an eine breite Leserschaft weitergereicht wird. Einmal mehr treten die Dönhoffs als Musterfamilie auf, die stets auf der Seite der Guten in die Geschichte eingriff, gegen Napoleon, gegen die Zensur und für Polen, schließlich gegen die Nationalsozialisten. Um die kulturellen Frames und Scripts, soweit der Leser sie nicht wahrnimmt, bereitzustellen, referiert die Autorin in einem Kapitel über ihre eigenen Erfahrungen mit ‚Adel‘ als Lebensgefühl einerseits, als Gegenstand von Wissen andererseits. Spätes-

96

36

Ebd.116.

37

Friedrich Benninghoven, Der Orden der Schwertbrüder. Fratres miliciae Christi de Livonia. Köln 1965.

38

Ebd.105.

39

Ebd.84.

40

Marion Gräfin Dönhoff, Kindheit in Ostpreußen. Berlin 1988, 7.

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tens als Doktorandin hatte sie sich selbst erst mit der im engeren Sinn kognitiven Seite der Adelskultur befasst, wie sie es ja ihren Lesern nun auch nahelegt. 41

III. Negation der Familie: Elisabeth Plessen „Mitteilung an den Adel“ handelt von der Autofahrt der jungen Augusta von München nach Lübeck. Nach dem Tod ihres Vaters, genannt C. A., Graf, Schlossherr, Gutsbesitzer und ehemaliger Wehrmachtsoffizier, mit dem sie eine lange, heftige Auseinandersetzung ausgefochten hatte, befindet sie sich auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Kurz vor Erreichen des Ziels macht sie jedoch kehrt und beendet damit symbolisch diese Beziehung, als es schon nichts mehr zu beenden gibt. Der Text referiert Motive der Studentenbewegung von 1968, die zur Zeit der Handlung gescheitert ist: Im Mai 1970 hatte soeben die gewaltsame Befreiung Andreas Baaders aus der Haft stattgefunden. Das Porträt Ulrike Meinhofs, einer Bekannten der Journalistin Augusta, prangt auf zahllosen Fahndungsplakaten. Zur Schilderung von Augustas Beobachtungen und Begegnungen während der langen Autofahrt tritt ein inneres Zwiegespräch mit dem Vater, zugleich Anklage und Beichte. Die Sprache verrät emotionale Nähe zum Objekt der Abstoßung – man könnte sagen: zur Projektionsfläche ‚Vater‘. Plessens Roman lässt sich literaturgeschichtlich gut verorten und kontextualisieren 42, nehmen wir zwei ‚Klassiker‘: auch Bernward Vespers Romanessay „Die Reise“ (bis 1971 entstanden und 1977 posthum erschienen) und Karin Strucks „Klassenliebe“ von 1973 sind halb Roman, halb Autobiographie. Es sind Abrechnungen von 68ern u.a. mit ihren Vätern, dem NS-Dichter, Patriarchen und bürgerlichen Gutsbesitzer Will Vesper und dem proletarischen Vater Strucks. Gemeinsam ist allen Hauptfiguren eine ins dritte Lebensjahrzehnt verlängerte Adoleszenzkrise, das Erschreiben einer intellektuellen Identität und die Abstoßung vom Übervater. 43 Ples-

41 Ebd.194–201. 42 Vgl. das Standardwerk: Manfred Durzak, Nach der Studentenbewegung: Neue literarische Konzepte und Erzählentwürfe in den siebziger Jahren, in: Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 12.) München 1994, 602–658, hier 602ff. und 615. 43 Augusta ruft dem Toten hinterher: „C.A., ich pfeife auf deine Autorität, ich will endlich ein Verhältnis zu dir.“ Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel. Frankfurt am Main 2006, 38.

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sens Roman hat man, wäre da nicht der Titel, wohl weitgehend als Austragung eines typischen, mehr oder weniger beliebig politisch aufgeladenen Generationskonfliktes gelesen. 44 Was macht die besondere Funktion der adligen Familie in diesem Text aus, ist der adlige Vater nicht einfach nur noch etwas reaktionärer, paternalistischer, als es ein bürgerlicher Vater gewesen wäre? Anders als ein Freund bürgerlicher Herkunft, der pauschal über seinen Vater sagt: „Was immer ich machen werde, mache ich, um mich von ihm abzusetzen“ 45, reist Augusta während der weitgehend als erlebte Rede und imaginierter Dialog ablaufenden Handlung eben nicht zufällig dem Vater und der Familie entgegen, wobei ihre Tante Harriett eine vermittelnde Rolle spielt. Doch steht deren Leben und vielleicht das der Familie überhaupt im Zeichen des Nutzlosen, „ein Leben, […] wo man mit Anstand überflüssig war und sich mit Anstand langweilte“. 46 Zwiespältig sind die Erinnerungen an diese Familie. So hatte der Vater nach dem Krieg 100 Vertriebene, Verwandte und andere Adlige, in sein Schloss aufgenommen – als Patriarch war er „voll hausväterischer Fürsorge“ 47 für alle anderen. Allein er war kein zärtlicher Vater, wie ihn sich die bürgerliche Empfindsamkeit zu Zeiten Lessings ausgemalt hatte. Auch in den 1960er-Jahren des 20.Jahrhunderts gilt das Prinzip der Patrilinearität in dieser Familie, in der eine ehrgeizige Tochter zu kurz kommt. Doch erwächst hieraus ein typisches 68er-Script, kein adliges: es handelt sich um den Aufruhr der von der Frauenbewegung inspirierten Tochter gegen den Vater. Das Montageverfahren des Romans – weniger radikal als Vespers „Reise“, doch wie dort durch Erinnerungsfragmente, Beobachtungen, Dialogfetzen bestimmt – lässt die Evokation eines dominanten kulturellen Schemas nicht zu. Es ist eher schon die Kleinteiligkeit journalistischer Textsorten, die auch im Roman zur Geltung kommt. Das für Augusta zentrale Problem, das namentlich der Vater hellsichtig erkannt hatte, ist das der Gewaltbereitschaft der neuen Linken um 1970. 48 Er, der auf ihre „linken“ Freunde hatte schießen wollen, stirbt nun zugleich mit der Studentenbewe-

44

Vgl. den Artikel zu Elisabeth Plessen im Kritischen Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG-Online),

http://www.nachschlage.net/search/document?index=mol-16&id=16000000440&type=text/html& query.key=PNHO9p9i&template=/publikationen/klg/document.jsp&preview [Zugriff am 1.4.2012].

98

45

Plessen, Mitteilung (wie Anm.43), 11.

46

Ebd.46.

47

Ebd.26.

48

Ebd.52f.

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gung, der er teils kritisch, teils polemisch, aber keineswegs desinteressiert gegenübergestanden hatte. 49 Die Einsicht in ein doppeltes Ende konfiguriert in Plessens Roman die adlige Familie, die sich zum Ritual der Trauerfeier sammelt, neu und bereitet Augustas doppelten Ausstieg – einen zweifachen Abnabelungsprozess – vor: zwei abgelebte, scheinbar einander konträr gegenüberstehende Lebensinhalte sind nun fragwürdig geworden. Dennoch fokussiert der Titel des Romans den Adel, nicht die 68er; verklausuliert steckt dahinter als totum pro parte eine Apostrophe, ein Brief an den Vater. Auf der extratextuellen Ebene entspricht dem der Ausstieg der Autorin aus ihrer Familie, indem sie auf ihren Adelstitel wie auch auf ihren Rufnamen verzichtet. Selbstironisch führt Plessen eine Binnenerzählung ein, die das zwecks Gewissenserleichterung nach 1945 verfasste autobiographische Fragment des Romanvaters referiert. Genau wie die empirische Autorin wählt der väterliche Autor C. A. ein bürgerliches Pseudonym, um sich von der eigenen Vergangenheit zu distanzieren. Er klammert sich an die Form 50, vertritt die Meinung, „[m]it dem Jahrhundertwechsel ist die Gesellschaft an ihr Ende gekommen“. 51 Als historistisch wird C. A. beschrieben, indem ihn seine Tochter in ein Monumentalgemälde Hans Markarts hineinphantasiert, historistisch argumentiert er aber auch, wenn er Hitler mythisierend als verfluchten König mit Uhlands Ballade „Des Sängers Fluch“ abtut. 52 C. A.s Angst angesichts des von ihm im Krieg gehörten Satzes „Sie sind der letzte in Ihrer Familie“ 53 wird von Augusta genüsslich zitiert, wenngleich sie einen Bruder hat, der die Familie fortsetzen wird. In 68er-Manier teilt die Tochter Vorwürfe an den Vater aus, die aber besonders seinen Stand berücksichtigen, denn im Zweiten Weltkrieg habe sich der Adel nicht adlig, nicht heldenhaft verhalten: „Nach dem 20.Juli sind ganze Familien ausgerottet worden. Auch das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß jeder achte, neunte hohe und höchste SS-Führer adlig war.“ 54 Dass adlige Wehrmachtsgeneräle schwere Kriegsverbrechen begangen hätten, aber auch dass es wiederum Adlige (wie Franz von Papen) waren, die Hitler den Weg zur Hochfinanz und zur Kanzlerschaft wesentlich geebnet hatten, wiegt schwer: 49 Ebd.53. 50 Ebd.61. 51 Ebd.40. 52 Ebd.60f. 53 Ebd.109. 54 Ebd.133.

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„Ich würde meinen Klassenjargon aufgegeben haben, wenn ich erlebt hätte, daß ein adliger Bankier andere Bankiers und Schlotbarone zu sich zum Tee lädt, dazu den Unrat, und so dem Unrat das Geld zuschanzt, das dieser braucht, um ein Jahr oder ein halbes Jahr später die Macht in meinem Staat zu übernehmen. Wenigstens den Jargon würde ich aufgegeben haben.“ 55

Der erzählte Familienkonflikt mündet also auch in eine Auseinandersetzung um die Verantwortung des deutschen Adels für den Nationalsozialismus, ein Thema, das die geschichtswissenschaftliche Adelsforschung erst im vergangenen Jahrzehnt systematisch aufzuarbeiten begann. 56 „Mitteilung an den Adel“ überschreitet den Abgesang auf die eigene Familie und wird zur Anklage an eine soziale Schicht.

IV. Hybridisierung: Christine Gräfin von Brühl Der 2009 erschienene Roman „Out of Adel“ gibt sich – was wie der anzitierte Filmtitel „Out of Rosenheim“ Herkunft wie auch Distanz bezeichnet – als zwischen Autobiographie und Fiktion stehend zu erkennen. Eine adlige Diplomatentochter verschlägt es nach der Wende an den wichtigsten Gedächtnisort der Brühls, nach Dresden nämlich, ein erstes Indiz für die Familienkontinuität. Adlige Frames und Scripts finden Eingang in den Plot. Der Roman erschien in demselben Jahr wie das oben angesprochene Benimmbuch und viele Verhaltensregeln sind von dort in die Textwelt des Romans übernommen worden. Dessen Plot weicht nun von den üblichen Scripts ab, er erprobt mehrfache Grenzüberschreitungen zwischen kulturellen Konzepten: die katholische westdeutsche Adelstochter verliebt sich in einen bürgerlichen, ostdeutschen Künstler. Zum Konflikt zwischen romantischer Liebe und adliger Ehekonzeption kommt dreifaches Außenseitertum: neben adliger Herkunft hie und Künstlertum da noch drittens die Ankunft des „Wessis“ im Nachwendeosten. Programm des Romans ist die Aushandlung einer Vereinigung des Gegensätzlichen – ohne dass die immerhin leicht adelsskeptische Protagonistin ihre familialen Bindungen kappen muss. Der

55

Ebd.137.

56

Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im

deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Berlin 2003; Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten. Hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Verbindung mit der Landeshauptstadt Stuttgart. Leinfelden-Echterdingen 2007.

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Roman arbeitet mit zumindest einem weiteren im kollektiven Wissen verbreiteten Rahmen, nämlich dem Dualismus zwischen Ost- und Westdeutschen nach der Wiedervereinigung, einem Dualismus, der sich natürlich nicht verrechnen lässt mit dem zwischen Bürgerlichem und Adliger. Eine Schilderung der noch kohlebeheizten Dresdner Neustadt kurz nach der Wende bietet ein Genrebild; in der Stadt des Grafen Heinrich von Brühl lebt man ähnlich karg wie auf alten Schlössern und findet in nächster Umgebung auch Cousinen, die einem im Alltag beistehen. Doch helfen der Heldin die Verhaltensmaximen der Familienüberlieferung nicht weiter, als sie in einer historisch einmaligen Situation, als die ihr Leben nun begreifbar wird, eine Beziehung mit einem Maler beginnt und nach Berlin zieht. Ihr adliger Habitus schadet der Protagonistin mit den psychisch-emotionalen Hemmschwellen, die nicht zuletzt durch aristokratische oder besser höfische dissimulatio 57 bedingt sind, beim Versuch der Paarbildung. Eine Verbalisierung der Gefühle, sprich eine Liebeserklärung, ist lange unmöglich, denn: „Mir stand […] meine aristokratische Erziehung im Weg.“ 58 Nun jedoch ist sie ‚out of Adel‘, fällt aus der Geborgenheit der Familie heraus. Das Fehlen von Telefonen, die aufgerissenen Straßen verweisen darauf, dass neue Kommunikationskanäle gerade erst aufgebaut werden. Ein problemloser Wechsel zwischen Parallelwelten ist unmöglich geworden, langsam stellt sich eine hybride Existenz ein. Adlige und Künstler kultivieren sogar ihr gesellschaftliches Außenseitertum. Dennoch gelingt es der geborenen Gräfin, sich ihre Familie als Ort der Solidarität und Geselligkeit, als weltweites „Netzwerk“ 59, zu erhalten. Ausgerechnet die Hochzeit, ein rituell hochgradig aufgeladenes Ereignis, bringt die Versöhnung – das Geheimnis dieser Versöhnung ist die Herzlichkeit der Mitglieder der Abstammungsfamilie im Umgang miteinander, die keinen Widerspruch zur anspruchsvollen Ritualität adliger Festkultur bildet. 60

57 Die Bedeutung von simulatio und dissimulatio für die höfisch-politische Kommunikationslehre seit Graciáns „Handorakel“ fasst (mit zahlreichen Literaturhinweisen) zusammen: Juliane Schröter, Offenheit. Die Geschichte eines Kommunikationsideals seit dem 18.Jahrhundert. Berlin/New York 2011, 125–128. 58 Christine Gräfin von Brühl, Out of Adel. Berlin 2009, 88. 59 Ebd.132. 60 Zur adligen Festkultur vgl. exemplarisch zur Frühen Neuzeit: Eva Labouvie, Nachkommenschaft und Dynastie. Geburten und Tauffeste im anhaltinischen Adel zwischen Repräsentation, Präsentation und Präsenz (1607–1772), in: dies. (Hrsg.), Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie. Köln 2007, 207–243.

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Auf dem Weg zu einer ‚modernen‘ Autorin behält, gegen alles Herkommen und „adelsrechtlich gesehen illegal“ 61, die frischgebackene Bürgerliche ihren Adelsnamen als Künstlernamen bei – unter ihm publiziert sie, publiziert auch die Autorin Christine von Brühl ihren Roman.

V. Ein funktionsfähiges kulturelles Schema? Die Autorinnen und ihre Bücher stehen, weit entfernt von historistischem Idyll, noch oder wieder an der Grenze zwischen Subjektivität und Traditionsbezug – die Durchlässigkeit zwischen Fiktionalität und Faktualität erzeugt ein Synthesemodell von moderner Autorschaft und zugleich Fortschreibung familialer Tradition und Bindung. Es ist völlig undenkbar, die Familie hinter sich zu lassen. Vor allem die Texte Plessens und Brühls weisen typische Plotstrukturen der „bürgerlichen Literatur“ seit dem 18.Jahrhundert auf. Hierzu gehören vor allem krisenhafte Adoleszenz, Trennung von den Eltern, Verlassen des Elternhauses, Liebe / Eheschließung sowie der Konflikt zwischen Konnubium und romantischer Liebe. Zudem bedienen beide Romane politische Konfliktmuster; auch Dönhoffs Plot beginnt mit dem Verlust der Familie und unter krisenhaften Bedingungen. Alle drei Bücher stellen aber über das adlige Familienmodell Identitätsangebote zur Debatte. Solche Identitätsangebote sind Kontinuität, Solidarität, die Einbindung des Ich in den großen Zusammenhang, vielleicht auch das Verschwinden des Ich darin. Die adlige Familie bleibt Garantin zeitloser Kontinuität, Agentin einer fast gleichgültig zu nennenden Generationenabfolge. Doch die Protagonistinnen fallen sämtlich aus dem tradierten Schema der Zeitlosigkeit adliger Familie heraus und ‚in die Zeit‘ mit ihren ‚uns alle‘ bis heute prägenden Geschichtsnarrativen: Nationalsozialismus – ‚1968‘ – ‚Wende‘. Bei je unterschiedlichem Gestus (Dönhoff: Gedächtnis, Plessen: Negation, Brühl: Hybridisierung) verhalten sich die Erzählerinnen / Heldinnen der Texte mehr oder weniger kritisch, mehr oder weniger ironisch zu der Tatsache, dass dem adligen Familienkonzept Heilung oder auch Verdeckung familialer oder nationaler historischer Bruchlinien – ob 1945, 1968 oder 1989 – zugetraut wird. Plessen weist dieses Angebot weitestmöglich von sich. Dönhoff gebraucht es und gibt es, selbst kinder61

Ebd.207. Nach dem sogenannten Adelsrecht hätte Christine Gräfin Brühl den Nachnamen ihres Ehe-

mannes anzunehmen, der sie als Nichtadlige ausweisen würde.

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los, an ihre Leserinnen und Leser weiter. Brühls Sachbuch-Ich wie auch ihr hybrides Roman-Ich verhalten sich nicht ironiefrei und kritiklos, möchten aber die lebensbegleitenden Segnungen der Großfamilie nicht missen. Die adlige Familie tritt als schützender (teils auch erdrückender) exterritorialer Zufluchtsort in diesen Texten auf. Die Projektion des Ich als Mitglied einer vielgliedrigen Familienkette mag die Versuchung eines Schutzes vor der Aufarbeitung tiefer sitzender Traumata bieten – etwa der Option des Tätertraumas 62, die in Plessens Roman in Erwägung gezogen wird: Warum ist der Vater der Erzählerin, als er aus dem Krieg nach Hause kommt, ein gebrochener Mann, der Trost in Alkohol und Frauenbekanntschaften sucht, der in einem autobiographischen Manuskript ein fiktives alter ego erschafft, sich offensichtlich nach Entlastung sehnt? War die Geschichte der Dönhoffs nichts als eine preußisch-europäische Erfolgsgeschichte von treuem Dienst und fürsorglicher Herrschaft? Doch ist es auch für alle nachgeborenen Protagonistinnen zur Aufgabe geworden, sich gegen ein übermächtiges Kollektiv erzählend – und seitens der Autorinnen auch lebenspraktisch, etwa beruflich – zu behaupten. 63 Plessens Heldin lässt dem Vater erstaunlich viel Sprach-Raum, er ist einfach nicht wegzudenken. C.A. ist nicht einmal der reaktionäre Alte, der alte Nazi gar; er und sein Schloss, aber auch die anderen zur Sprache kommenden Familienmitglieder stehen für 500 Jahre Tradition – Augusta ist vielleicht die erste, die „ich“ sagt, ohne die ganze Familie oder den ganzen Stand zu meinen. Schema, Klischee oder Projektion sollen hier nicht pejorativ gebrauchte Begriffe sein; wir leben generell mit Vereinfachungen, auf denen erst Differenzierungen aufbauen können. Mit dem Begriff der Projektion geht in der Psychologie eine Vorstellung von der Abspaltung störender eigener Impulse einher sowie komplementär der Wunsch nach Verschmelzung mit idealisierten Wunschobjekten, von denen man sich nicht trennen möchte. 64 Familien sind im Positiven wie im Negativen dankbare Projektionsflächen. Ihre Adoleszenz erzählen unsere Heldinnen als von allem Herkommen abwei62 Zu diesem Begriff vgl. Bernhard Giesen/Christoph Schneider (Hrsg.), Tätertrauma. Konstanz 2004. 63 Vgl. komplementär die Problematik der Holocaust-Überlebenden der zweiten Generation und ihrer Familienromane: Mona Körte, Die Toten am Tisch. ‚Familienromane‘ nach dem Holocaust, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 127, 2008, 573–594. 64 Vgl. etwa C. Becker-Carus, Art.„Projektion“, in: Hartmut O. Häcker/Kurt-H.Stapf (Hrsg.), Dorsch Psychologisches Wörterbuch. 15.Aufl. Bern 2009, 779.

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chende Geschichten. Krieg und Vertreibung, der Schock von 1968, aber auch die Erfahrung der Wende, die eine Gräfin Brühl an die Wirkungsstätte ihres berühmtesten Ahnen führt – alle diese Erfahrungen lösen das Bedürfnis aus, die eigene Position zur Familie zu klären. Das ist ein fast paradoxer Vorgang: man ordnet sich, affirmativ oder im Widerspruch, in eine genealogische Reihe ein, die man schon mit allen den Lebenslauf markierenden Erlebnissen eigentlich hinter sich gelassen hat. Buchautorin ist kein wirklich standesgemäßes Betätigungsfeld, doch steht auch dieses Leben immer noch in der Relation zur Familie. Es ist die Familie, die Traditionspflege oder auch erst Stiftung von Tradition verlangt. Sie kann nicht mehr alles sein, aber ohne die Familie geht nichts.

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Alter Stand in neuen Medien Adlige Gruppenkommunikation im Internet und ihre Grenzen von Philipp von Samson-Himmelstjerna

I. Einleitung und theoretische Vorbemerkungen Seit 2010 findet sich im „Deutschen Adelsblatt“ 1 in der Rubrik „Mitteilungen von Verbänden – Aristo-Telex“ der Hinweis, dass die „Vereinigung des Adels im Rheinland und Westfalen-Lippe“ (VARWL) „auch im Internet unter www.varwl.de und bei Xing unter der Gruppe: ,MdHA-Network‘ 2 zu finden sei“. 3 Unabhängig hiervon finden sich daneben schon länger etwa bei studiVZ Gruppen wie „Adel auf dem Radel“, „Europäischer Adel“, „Adel unter sich“ und weitere. Auch bei Facebook und LinkedIn bleibt die Präsenz adelsbezogener Gruppen den Eingeweihten nicht verborgen, und entsprechende Aktivitäten insbesondere junger Adliger haben in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Wie für viele andere ist das Internet auch für Adlige ein wichtiges Medium der Kommunikation geworden. Im Allgemeinen gestaltet sich die kommunikative Praxis des Adels sehr vielseitig. Das klingt zunächst verhältnismäßig banal, da die alltägliche Kommunikation eines jeden äußerst vielschichtig und differenziert ist. Wir kommunizieren jeden Tag mit den unterschiedlichsten Partnern direkt und mündlich – sowohl face to face als auch telefonisch – oder indirekt schriftlich – d.h. mittels Briefen und Emails – und mitunter auch direkt schriftlich via Chat oder sogenanntem Instant Messaging. 4 Daneben kann auch das Produzieren und Rezipieren von Gedanken in Reden,

1 Deutsches Adelsblatt. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände. Kirchbrak. Siehe auch: http://www.deutsches-adelsblatt.de [Zugriff am 31.10.2011]. 2 Etwa in: Deutsches Adelsblatt. Mitteilung der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände 50, 2011, 21. 3 Auch andere Adelsvereinigungen habe eine Internetpräsenz: Auf der Homepage der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände (VdDA) http://www.vdda.org [Zugriff am 31.10.2011] findet sich eine Liste aller ihr angehörigen Adelsverbände mit Internetadressen und ebenso ein Link zur Homepage des europäischen Dachverbandes Commission d’Information et de Liaison des Associations Nobles d’Europe (CILANE), wo wiederum eine Liste mit Links zu allen europäischen Adelsvereinigungen zu finden ist. 4 Zur Klassifikation verschiedener Kommunikationstypen Hannes Kniffka, Soziolinguistik und empirische Textanalyse, Schlagzeilen und Leadformulierung in amerikanischen Tageszeitungen. (Linguistische

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Ansprachen oder Artikeln und anderen Schriftstücken als eine Form der Kommunikation angesehen werden. Auch hier geht es um das Senden und Empfangen sprachlich vermittelter Informationen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Formen konzeptionell und intentional keine tatsächliche Interaktion zwischen Produzent und Rezipient vorsehen. Sie sind ihrer Art und Gestaltung nach monodirektional, das heißt der Produzent einer sprachlichen Äußerung erwartet primär keine oder zumindest keine direkte Reaktion der Rezipienten. Wie gestaltet sich also die adlige Kommunikationspraxis als auf besondere Weise vielseitig? Dies hängt meines Erachtens mit Besonderheiten der Gruppenkonstitution zusammen: In der sozialen Gruppe des Adels finden wir nebeneinander sehr verschiedene Typen von Kommunikationsräumen vor, die allesamt als adelsspezifisch gelten können und in einem ersten Versuch der Systematisierung folgendermaßen beschrieben werden können: 1. Die Familie: Innerhalb der Familie können wir grundsätzlich davon ausgehen, dass die Kommunikation zwischen den einzelnen Angehörigen überwiegend thematisch ungebunden ist, das heißt, dass über alle denkbaren Themen kommuniziert werden kann. Dennoch können wir insofern von einer gewissen Themenbindung ausgehen, als die Familie wahrscheinlich der primäre Ort ist, um familiäre Angelegenheiten zu besprechen. Die Kommunikation ist dabei im Regelfall von einem privat-vertrauten Stil geprägt. 5 Der Begriff „Familie“ erweist sich bezogen auf den Adel als gegenwärtige soziale Gruppe als sehr komplex und nur schwer fassbar, zumal der Begriff auch in der Literatur meist diffus und unbestimmt und oftmals unbedacht verwendet wird. 6 Ich verwende „Familie“ zunächst bezogen auf die Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern. Gegebenenfalls kann diese Familie ergänzt werden um die Großeltern und sogar um Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Neffen und Nichten, sofern ein naher Verwandtschaftsgrad und eine entsprechende soziale Nähe auch im Alltag gegeben sind. Der Begriff „Familie“ ist dabei klar abzugrenzen Arbeiten, Bd. 94.) Tübingen 1980. Zur sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kommunikation im Internet Jannis K. Androutstoupolos/Friedhelm Debus u.a. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen in der linguistischen Internetforschung. (Germanistische Linguistik, Bd. 186/87.) Hildesheim 2006. 5 Neben sprachlichen Markern sozialer Nähe – etwa bestimmte Anredeformen – weist dieser Stil erwartungsgemäß alle denkbaren Merkmale der Alltagssprache auf, ergänzt um Eigenheiten spezifischer Familiencodes. Grundlegend hierzu: Ulf Bichel, Problem und Begriff der Umgangssprache in der germanistischen Forschung. (Hermaea, NF., Bd. 32.) Tübingen 1973. 6 Zur soziologischen Forschungslage Heike Matthias-Beck, Soziologie der Lebensformen und der privaten Lebensführung – Anmerkungen zu Werner Schneider Soziologie des Privaten, in: Soziale Welt 53, 2002, 423–436.

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vom „Familienverband“ (s.u.), der als Zusammenschluss der weiteren Familie, bestehend aus mehreren Kernfamilien und darüber hinaus mitunter aus verschiedenen teils weit entfernten Familienzweigen, auf vereinsrechtlicher Basis einen stark formellen Charakter hat. 7 2. Der Freundeskreis: Eine Beschreibung des kommunikativen Stils im Freundeskreis kann unter der Prämisse adliger Gruppenkommunikation problematisch sein, da nicht alle Freunde von Angehörigen des Adels per se auch diesem zugehören müssen. 8 Aus diesem Grund gehe ich hier von einem konstruierten rein adligen Freundeskreis aus. Die Kommunikation in diesem Freundeskreis ist durch das Merkmal [+adlig] 9 geprägt, wobei es sich hierbei um ein graduelles Merkmal handelt, das sich zunächst auf die Kommunikationspartner und im Weiteren auf The-

7 Bei einer Begriffsklärung von „Familie“ sollte die Sichtweise des Adels auf diesen Begriff nicht unberücksichtigt bleiben, insbesondere da „Familie“ sowie das adlige Selbstverständnis erheblichen Einfluss auf das kommunikative Verhalten haben. Im Adel herrscht meist ein traditionelles Verständnis von Familie als „Kernfamilie“ auf Basis einer Eheschließung vor, wobei der Begriff zugleich auch auf „Abstammungsfamilie“ sowie auf die gesamte soziale Gruppe bezogen werden kann. 8 Bei der soziolinguistischen Analyse und Interpretation eines adligen Sprachgebrauchs muss man sich grundsätzlich des Umstandes bewusst sein, dass eine trennscharfe Abgrenzung von Adel und Nicht-Adel auf der Basis soziokulturellen Verhaltens grundsätzlich problematisch ist. Dies mag daran liegen, dass in Folge von Modernisierungsprozessen und durch den Verlust eines privilegierten Status in der Gesellschaft der Adel keine herausgehobene Position mehr einnimmt. Die Öffnung der ehemals herkunftsgebundenen Elite und die damit einhergehende Entwicklung von Funktionseliten mögen insbesondere auf Mikroebene zu einer sozialen Annäherung von Adel und Nicht-Adel geführt haben, gerade auch in Bezug auf Habitus und Verhaltensnormen. Laut Eckhardt Treichel hatte die „lebensweltliche Nähe der adeligen Beamten zum verbeamteten Bürgertum“ mit Sicherheit Konsequenzen hinsichtlich des Habitus, wobei ich nicht nur für das beschriebene Gebiet und auch für die Zeit danach zunächst von einer Angleichung des NichtAdels an den Adel ausgehe; Eckhardt Treichel, Adel und Bürokratie im Herzogtum Nassau 1806–1866, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848. München 1994, 45–66, insbesondere 61. Ein weiteres analytisches Problem stellt der Umstand dar, dass sich manche Adlige – etwa im Zuge der gesellschaftlichen Prozesse rund und nach 1968 – eines wie auch immer gearteten adligen Lebensstilkonzeptes (siehe hierzu: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, 212f.) verweigern. Wenn ich mich hier auf die soziale Gruppe des Adels beziehe, so impliziert dies vor allem Adlige, die einerseits nach adelsrechtlichen Maßstäben zum historischen Adel gehören und dies andererseits in ihr Lebensstilkonzept integrieren. 9 Linguistische Merkmale sind kleinste binäre Beschreibungselemente, bezogen auf außersprachliche Gegebenheiten. Hier erfolgt ihre Verwendung als diskursive Merkmale, bezogen auf pragmatische Einheiten und Kategorien wie etwa Äußerungsart oder kommunikativer Stil. So kann der Diskurs einer sprachlichen Äußerung zum Beispiel geprägt sein durch das Merkmal [+offiziell] vs. [–offiziell], wobei das Merkmal [+offiziell] in der Regel zusammengeht mit Merkmalen wie [+formell] und [–vertraut]. Das Merkmal [+/–adlig] bezieht sich als diskursives Merkmal auf die adlige Prägung der Kommunikationssituation

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matik, kommunikativen Stil etc. bezieht. Graduell ist das Merkmal insofern, als es in Abhängigkeit der einzelnen Faktoren wie etwa Anzahl der adligen Kommunikationsteilnehmer schwächer oder stärker ausgeprägt sein kann. Eine solche adlige Gruppenkommunikation im Freundeskreis wird sich wahrscheinlich nur wenig von der familiären Kommunikation unterscheiden. Allerdings sind im Vergleich zur Familienkommunikation thematische Restriktionen sowie ein anderer Vertrautheitsgrad und diesbezügliche Abweichungen in der Verwendung sprachlicher Mittel anzunehmen. 3. Der Familienverband: Die Kommunikation in einem Familienverband 10 legt einen Vergleich mit der Kommunikation innerhalb der Familie nahe. So ist auch hier von einer besonderen sozialen Nähe auszugehen, die sich in entsprechenden sprachlichen Ausdrücken der Vertrautheit zeigt. Jedoch wird der Kommunikationsstil weniger Elemente privater Kommunikation aufweisen als innerhalb der Familie und stärker durch einen offiziell-formellen Stil geprägt sein. Auch wird die Kommunikation im Familienverband eine stärkere thematische Restriktion in Bezug auf Verbandsangelegenheiten erfahren. Dennoch lassen sich – abhängig vom spezifischen Situationskontext – familiäre und freundschaftliche Elemente in der Kommunikation nicht ausschließen. 4. Die Adelsvereinigung: Während die Kommunikation im Familienverband naturgemäß dicht an der familiären Kommunikation anzusiedeln ist, liegt hier der Vergleich mit dem Freundeskreis näher. Das bedeutet mit Sicherheit nicht, dass alle Mitglieder einer Adelsvereinigung Freunde sind. Wie eigene Erfahrungen und teilnehmende Beobachtungen bestätigen, besteht jedoch Aussicht auf freundschaftliche Verbindungen, insbesondere wenn Adelsvereinigungen mit entsprechenden Veranstaltungen wie zum Beispiel Kinderfreizeiten an der Sozialisation junger Adliger einen beträchtlichen Anteil haben. 11 Dennoch dürfte in der Adelsvereinigung und ihre Komponenten; s.u., Susan Ervin-Tripp, An Analysis of the Interaction of Language, Topic and Listener, in: Joshua Fishman (Ed.), Readings in the Sociology of Language. Den Haag 1968, 192–211. 10

Ein Familienverband ist der Zusammenschluss aller Angehörigen einer Familie, das heißt aller Träger

des Familiennamens, die sich in einem Stammbaum unterbringen lassen, zum Teil mit sogenannten ausgeheirateten Töchtern; das sind diejenigen, die aufgrund ihrer Eheschließung und nach adelsrechtlichen Prinzipien eigentlich einer anderen Familie angehören. Dieser Zusammenschluss folgt meist den Regeln einer Vereinsgründung. 11

Vgl. hierzu: Sophia von Kuenheim, Vergesellschaftung und soziale Ordnung nach 1990 – Adel in Meck-

lenburg-Vorpommern, in: Wolf Karge (Hrsg.), Adel in Mecklenburg. (Schriftenreihe der Stiftung Mecklenburg, Wissenschaftliche Beiträge, Bd. 3.) Rostock 2013, 173–186, hier 179.

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im Vergleich zu den anderen (adligen) Kommunikationsräumen der Grad der sozialen Nähe am geringsten sein. Insofern ist hier auch von einem geringeren Grad an Privatheit – bei dennoch gegebener Möglichkeit von Vertrautheit – und einem vorherrschend offiziell-formellen Stil auszugehen. Ebenfalls anzunehmen ist eine entsprechende thematische Restriktion. Bei der soeben vorgenommenen systematischen Einteilung müssen wir allerdings von einer mitunter starken Verwobenheit der genannten sozialen, respektive kommunikativen Räume in der Gruppe des Adels ausgehen. Somit sind auch entsprechende Mischformen der beschriebenen Kommunikationsweisen denkbar. Gemeinsamer Nenner aller Kommunikationsräume und somit grundlegend prägendes Moment der Kommunikation ist das Merkmal [+adlig].

II. Adlige Kommunikationshandlungen im Internet Im Folgenden werde ich vor dem Hintergrund der Frage nach Projektionsflächen von Adel Beispiele von Kommunikationspraktiken Adliger präsentieren. Interessant für eine linguistische Betrachtung des Adels ist diese Frage in ihrem Bezug auf Praktiken, die Adligen dazu dienen sollen, sich ihrer adligen Identität zu versichern beziehungsweise diese sichtbar zu machen. In Anlehnung an Austin ließe sich also fragen: „Wie ist Adel mit sprachlichen Mitteln zu konstruieren?“ 12 Der Fokus muss demnach auf dem Verhältnis zwischen Form und Funktion einzelner sprachlicher Äußerungen liegen, unter Berücksichtigung des Diskurses 13 und des gesamten (sozialen) Kontextes. Ob und inwiefern adlige Gruppenkommunikation als Projektionsfläche fungieren kann, hängt letztlich auch mit der Frage nach Gestaltung, Verwendung und Erklärbarkeit eines kommunikativen sozialen Stils des Adels zusammen. Mit dieser zugegeben sehr weitgreifenden Frage, die im hier gegebenen Rahmen kaum umfassend behandelt werden kann, folge ich gegenwärtigen Entwicklungen im linguistischen Bereich der Pragmatik, wobei ich auf Verfahren, Me12 Vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words? Oxford 1962. 13 Ich folge hier einem Diskursbegriff, der in Analogie zur angloamerikanischen discourse analysis Diskurs als gesprochensprachliche größere Äußerungseinheit und somit als Ergebnis eines interaktiven Prozesses im soziokulturellen Kontext betrachtet. Vgl. Dietrich Busse/Fritz Hermanns/Wolfgang Teibert (Hrsg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen 1994.

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thoden und Erkenntnisse der Soziolinguistik, der ethnografischen Gesprächsanalyse und der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zurückgreife. 14 Die Beispiele sind allesamt verschiedenen Internetforen entnommen, in denen Adlige miteinander in Kontakt stehen. Diese Internetkommunikation bietet die Möglichkeit, adlige Kommunikation in Kontexten zu erfassen, die mit den beschriebenen Kommunikationsräumen korrelieren. Als vorteilhaft erweist sich dabei, dass wir es mit schriftsprachlicher Kommunikation zu tun haben, auf die relativ leicht zugegriffen werden kann. Außerdem sind schriftsprachliche Produktionen oftmals methodisch leichter analysierbar als mündliche Kommunikation, da Letztgenannte entweder flüchtig ist und sich somit dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht, oder nach – mit entsprechendem Aufwand realisierten – Aufnahmen zeitaufwändig transkribiert werden muss. Andererseits habe ich Textproduktionen in Familiengeschichten oder verbandsinternen Publikationen bewusst ausgeschlossen. Zwar möchte ich diesen Textbeispielen eine kommunikative Funktion nicht absprechen – aus der Textlinguistik wissen wir, dass jeder Sorte von Text immer auch eine bestimmte kommunikative Funktion zugeschrieben werden kann –, als kommunikativen Akt im eigentlichen Sinne einer linguistischen Diskursanalyse möchte ich sie indes nicht begreifen. Unter Kommunikation verstehe ich hier als Arbeitsdefinition den Austausch von Informationen mittels eines konsistent angewandten Zeichensystems. Den Begriff des Zeichensystems beschränke ich auf natürliche Sprachen (und schließe somit Bilder, Icons etc. aus), während sich Information auf jeglichen zu übermittelnden Gehalt beziehungsweise Inhalt einer Nachricht bezieht. Der Begriff Austausch macht deutlich, dass die intendiert wechselseitige Übermittlung der Nachrichten sowie eine zumindest teilweise gegebene Interrelation ihrer Ge- und Inhalte konstitutionelle Faktoren der Kommunikation sind. Wichtig ist auch, dass vor dem Hintergrund eines solchen Kommunikationsverständnisses alle sprachlichen Äußerungen, das heißt jegliche Form der Übermittlung von Nachrichten sowie ihre Produktion als Handlungen zu verstehen sind. Wir sprechen darum auch von Kommunikationshandlungen.

14

Siehe hierzu: Agnes Liebknecht, Der soziale Stil des Sprechens der „Frauenliste“. Ethnografische Ge-

sprächsanalyse einer politischen Frauengruppe. Heidelberg 2012; Heinrich Löffler, Germanistische Soziolinguistik. (Grundlagen der Germanistik, Bd. 28.) Berlin 2005; Inken Keim/Wilfried Schütte (Hrsg.), Soziale Welten und kommunikative Stile. Festschrift für Werner Kallmeyer zum 60. Geburtstag. (Studien zur deutschen Sprache, Bd. 32.) Tübingen 2002.

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Eine solche Kommunikationshandlung finden wir zum Beispiel im Forum „Vorstellungen“ der Gruppe „ADEL in Wirtschaft und Gesellschaft“ der Internetplattform Xing 15: Beispiel 1: „Dr. Gret von dem Walde 16 Vorstellung Liebe Mitglieder der Gruppe, Herzlichen Dank für die Aufnahme! Als neues Mitglied möchte ich mich gerne vorstellen: Ich bin promovierte Kunsthistorikerin und habe einige Jahre in den Bereichen Bildarchive, Fotoarchivierung und Datenbanken gearbeitet. Die Familie von dem Walde stammt aus dem östlichen Westfalen oder dem westlichen Niedersachsen – je nach Blickrichtung. Ich arbeite derzeit selbständig und konzipiere wissenschaftliche Webangebote, d.h. Plattformen für verteiltes wissenschaftliches Arbeiten wie etwa Forschungsdokumentationen zu einem bestimmten Thema, online-Publikationsplattformen und eJournals – das alles meist zu den Gebieten Geschichte und Kunstgeschichte. Ich lebe und arbeite zusammen mit meinem Mann Floris in Donaueschingen. Herzliche Grüße“

1. Sprachwissenschaftliche Einordnung Entscheidend für die Analyse und das Verständnis derartiger kommunikativer Akte wird im Folgenden sein, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass Handlungen immer von verschiedenen Faktoren bestimmt werden: (1) Bewusstsein: Eine Handlung geschieht immer bewusst und ist insofern von instinktivem Verhalten zu un-

15 URL: https://www.xing.com/net/pri5e92f5x/adel/vorstellungen-15836/vorstellung-31534674/ [Zugriff am 31.10.2011]. Der Beitrag erscheint unter dem Frame, in dem der Gruppenname (Adel in Wirtschaft und Gesellschaft) sowie das Forum (Vorstellungen) und der Titel des Beitrages (Vorstellung) angeben sind. Direkt über dem Beitrag findet sich die Angabe, dass es sich dabei um den ersten Beitrag im Forum handelt. Neben dem Namen der Verfasserin erscheint ihr Profilfoto. 16 Aus Gründen der Anonymisierung sind hier wie im Folgenden alle im Korpus vorkommenden Personennamen wie auch geografische Namen für die Publikation geändert. Ansonsten sind Wortlaut und Schreibweise sämtlicher sprachlichen Äußerungen, die hier zitiert werden, exakt beibehalten und zum Teil um kommunikative Metaangaben ergänzt. Eine genaue Abbildung, wie sie im Browserfenster erscheint, ist hier indes nicht vonnöten, da der Fokus auf den sprachlichen Äußerungen selbst liegt. Die hypertextuelle Einbindung ist dabei von geringem Interesse.

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terscheiden. (2) Motivation: Jede Handlung geschieht aus einer bestimmten Motivation heraus; häufig handelt es sich dabei um einen Motivationskomplex, etwa das Unterhalten von sozialen Kontakten bei gleichzeitiger Selbstdarstellung der eigenen Person. Einzelne unterschiedliche Motive können also gleichzeitig eine Handlung begründen. (3) Intention: Jede Handlung ist zielgerichtet, der Akteur will mit seiner Handlung ein bestimmtes Ziel erreichen und sei es lediglich die (Beeinflussung der) Wahrnehmung durch andere. Dieses Handlungsmodell bezogen auf Kommunikation wirft hier die Frage auf, ob Handlungen als Projektionsflächen dienen können oder ob sie vielmehr Mittel des Projizierens sind. Auf diese Frage werde ich später zurückkommen. Weiter ausdifferenziert und speziell ausgerichtet auf Kommunikationshandlungen ist das Modell der „Ethnografie der Kommunikation“, hier maßgeblich von Susan Ervin-Tripp. Demnach lassen sich Kommunikationshandlungen hinsichtlich der folgenden Parameter untersuchen 17: message form (Mitteilungsform), message content (Mitteilungsinhalt), setting (Situierung hinsichtlich Raum und Zeit), scene (Szene als psychologische Situierung), speaker (tatsächlicher Sender), addressor (intendierter Adressant), hearer (tatsächlicher Hörer), addressee (intendierter Adressat), purpose-outcome (Ergebnisse), purpose-goals (Zweck, Absichten), key (Schlüssel, z.B. ironischer Tonfall), channels (Kanal, Übertragungsmedium). Für alle von mir herangezogenen Daten lässt sich zunächst Folgendes feststellen: Es handelt sich durchweg um Beiträge, die auf den Seiten adelsbezogener Gruppen in sozialen Netzwerken im Internet veröffentlicht wurden. Insofern handelt es sich eindeutig um interpersonale (jedoch nicht face to face) Kommunikation, deren Wahrnehmungsraum zu unterscheiden wäre in [+gleicher virtueller Raum] und [–gleicher realer Raum]. Der Zeitpunkt der Produktion einer Äußerung und der Zeitpunkt der Rezeption derselben divergieren. Es handelt sich um solche schriftliche Kommunikation, die weniger den Regeln konzeptioneller Mündlichkeit unterliegt 18 als etwa ein Chat (es kann jedoch auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen

17

Ervin-Tripp, Analysis (wie Anm.9).

18

Konzeptioneller Mündlichkeit begegnen wir in schriftsprachlichen Texten, die verstärkt Merkmale

gesprochener Sprache aufweisen. Neben sprachlichen Ausdrücken wie etwa Interjektionen und Partikeln sind auch situative Aspekte prägnant: Je vertrauter sich die Kommunikationspartner sind, desto mehr greifen sie auf gemeinsame außersprachliche Wissensbestände zurück und können auf eine aufwändige Versprachlichung des Kontextes verzichten. Insofern wird konzeptionelle Mündlichkeit von Peter Koch/Wulf Oesterreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld

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werden, dass diese Regeln Anwendung finden, da sich mitunter Elemente der konzeptionellen Mündlichkeit feststellen lassen – dann eher bei jüngeren Kommunikationspartnern). Hinsichtlich gerade skizzierter Parameter gilt, dass alle Kommunikationshandlungen das gleiche Übertragungsmedium, den gleichen Kanal, nutzen. Ebenso können wir davon ausgehen, dass dem intendierten Adressaten und dem intendierten Adressanten das Merkmal [+adlig] zuzuschreiben ist. Gerade dieser Punkt ist insofern von Bedeutung, als er das kommunikative Verhalten entscheidend zu beeinflussen vermag: So lässt sich am Beispiel adliger Vermählungsanzeigen nachweisen, dass der Sprachgebrauch Adliger – teilweise sogar extrem – in Abhängigkeit vom intendierten Adressaten variiert. Die graphisch-sprachliche Realisierung dieser Vermählungsanzeigen unterliegt bestimmten Normen 19, deren Wirksamkeit vom medialen Erscheinungsort abhängig ist. Am stärksten wirken die Normen, wenn die Nachricht von der Vermählung in einem verbandsinternen Mitteilungsorgan veröffentlicht wird. Wird die Anzeige indessen im Freundes- und Verwandtenkreis (postalisch) verbreitet, so zeigt ihre Gestaltung mehr Variabilität. Doch auch hier wirken – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – die Normen noch sehr stark. Der Unterschied zu den in verbandsinternen Mitteilungsorganen veröffentlichten Anzeigen ist äußerst gering. Entschließt sich das Paar jedoch, seine Vermählung auch in einer im Regelfall regionalen Tageszeitung bekannt zu geben, wird auf die Einhaltung der Normen nahezu gänzlich verzichtet; allerdings meist ohne sich den Gestaltungsweisen anderer (nichtadliger) Vermählungsanzeigen vollständig anzupassen. Dies hängt vor allem mit dem Adressatenkreis zusammen. Dieser ist in den Mitteilungsorganen der Adelsverbände nahezu ausschließlich adlig. Ebenso erreichen die posvon Sprachtheorie und Sprachgebrauch, in: Romanistisches Jahrbuch 36,1985, 15–43, auch als Sprache der Nähe umschrieben. Das Modell konzeptioneller Mündlichkeit findet seit einigen Jahren auch Anwendung in der linguistischen Analyse von Kommunikation im Internet: Johannes Schwitalla, Kleine Botschaften – Telegramm- und SMS-Texte, in: Ulrich Schmitz/Eva Lia Wyss (Hrsg.), OBST. Briefkommunikation im 20.Jahrhundert. Duisburg 2002, 33–56. 19 Dass Normen in der adligen Gruppenkommunikation eine wichtigere Rolle spielen, wird auch an späterer Stelle deutlich werden. Der Begriff der Norm hat hier vor allem zwei Dimensionen: Zum einen ist die (sprachliche) Norm eine Regelvorgabe zur Produktion und Bewertung angemessener sprachlicher Äußerungen (vgl. Werner H.Veith, Soziolinguistik. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 2002, 44), zugleich fungiert sie auch als „Richtlinie für das Funktionieren eines sozialen Gefüges“, etwa der Adel (Cor van Bree, Taalnormen, in: Theo Janssen [Hrsg.], Taal in gebruik. Een inleiding in de taalwetenschap. Den Haag 2002, 251). Folglich kann das normgerechte Produzieren sprachlicher Äußerungen als ein notwendiges Kriterium für das Einfügen Einzelner in die soziale Gruppe des Adels als auch für die Konstitution des Adels als soziale Gruppe angesehen werden.

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talisch verschickten Anzeigen einen stark adlig geprägten Adressatenkreis. Anders in den regionalen Tageszeitungen, wo von einem (fast) vollständigen Fehlen adliger Rezipienten ausgegangen wird. Der Gebrauch des spezifischen Codes der eigenen Gruppe (zum Beispiel bestimmte Normen wie die Verwendung oder nicht Verwendung einzelner Ausdrücke) wird von Adligen also oftmals unterlassen, sobald sie davon ausgehen müssen, dass der Adressatenkreis aus nichtadligen Personen besteht. 2. Diskursive Beschreibung und Analyse verschiedener Kommunikationshandlungen Da ich davon ausgehe, dass adlige Gruppenkommunikation vor allem dann eine adlige Spezifik aufweist, wenn die Situation [+adlig] geprägt ist, gilt bei den von mir zur Datensammlung gewählten Gruppen sozialer Netzwerke, dass sie entweder einer strikten Zugangsbeschränkung und Kontrolle unterliegen, die garantiert nur Adlige zulässt, oder dass zumindest aufgrund des Gruppennamens davon ausgegangen wird, dass Nichtadlige sich nicht beteiligen. Wie die folgenden Beispiele aus studiVZ und Xing zeigen, wird diese Bedingung adliger Gruppenkommunikation auch thematisiert: Beispiel 2: „Es wäre nett, wenn man aus Eurem Nachnamen nicht ersehen kann ob ihr mal zum Adel gehört habt, einige Informationen zu eurem Antrag den Moderatoren oder dem Gründer zu senden, damit wir im Gotha nachschlagen können. Das vereinfacht das Aufnahmeverfahren.“ 20 Beispiel 3: „Gernot von Godenstatt Mitgliederauswahl... Prüft jmd. ob alle Mitglieder dieses Forums zum historischen Adel gehören??“ [...] „Jörg von Bär Re: Mitgliederauswahl... Natürlich prüfen wir jeden einzelnen Antrag, so dass wir mit aller größter Sicherheit bestätigen können, dass alle Mitglieder in dieser Gruppe zum his-

20

Die Erläuterung erscheint unter der Kategorie Beschreibung auf der ersten Seite der Gruppe Europäi-

scher Adel bei studiVZ. Oberhalb erscheinen noch Angaben zu Gründer und Moderatoren der Gruppe. Neben den Angaben zur Gruppe erscheint ein Bild, das eine Flagge mit einem schwer erkennbaren Wappen und einem Doppeladler zeigt. URL: http://www.meinvz.net/#Topic:DetailBoard/my_topics/G:u223f9 [Zugriff am 31.10.2011].

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torischen Adel gehören. Sollten wir wirklich mal einem Fehler aufgesessen sein, wird dieser nach Bekanntwerden – hierzu können Sie auch beitragen – mit einem Klick wieder bereinigt. Dieses ist bisher nicht geschehen. Jörg Bär“ 21

Das Bedürfnis unter sich zu bleiben ist deutlich zu erkennen und findet sich wiederholt in der Kommunikation: Es wird in Gruppenbeschreibungen darauf hingewiesen, innerhalb der Gruppen wird danach gefragt beziehungsweise auf Gruppen, die keiner Kontrolle unterliegen, hingewiesen. Insbesondere in solchen Gruppen kann dann die friedliche Kommunikation unter Adligen empfindlich gestört werden, wie das Beispiel aus der studiVZ-Gruppe „Bist Du etwa adelig?“ zeigt: Hier wurde in einer Diskussion unter dem Thema „Bist Du Bluter?“ 22 entdeckt, dass der tatsächliche Sender/Empfänger vom intendierten Adressanten/Adressaten abweicht. Bereits einer der ersten Diskussionsbeiträge richtet sich gegen die Gruppenmitgliedschaft des Initiators der Diskussion: Beispiel 4: „Du mußt ja wohl zugeben, dass es eine ausgesprochene Frechheit ist, Mitglied in einer Gruppe zu werden, in die man nicht reingehört und dann mit der Behauptung hier aufzutreten, wir hätten alle defekte Gene.“ 23

Wie an diesem Beispiel deutlich wird, beeinflusst der bewusste Umgang mit den Gruppengrenzen die Kommunikation Adliger wesentlich. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass sich die soziale, politische und rechtliche Position des Adels in der Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert rasant und massiv geändert hat. Dadurch mögen die eigene Bestandswahrung und somit die Wahrung der Gruppengrenze eine besondere, neue Bedeutung für die soziale Gruppe des Adels erlangt haben. Zwar ist hinsichtlich der Mitgliedschaft in einem der Adelsverbände die Zugehörigkeit zum (historischen) Adel unter Bezugnahme des bis 1919 geltenden Adelsrechtes eindeutig geregelt, doch entspricht dies nicht mehr ohne weiteres der sozialen Alltagsrealität, wie sie viele Adlige erfahren. Das Problem stellt sich bereits

21 URL: https://www.xing.com/net/mddatest/forums [Zugriff am 31.10.2011], mittlerweile jedoch nicht mehr verfügbar. 22 URL: http://www.meinvz.net/#Topic:DetailThread/my_topics/G:u602c2/BD:u602c2/BT:uac529 [Zugriff am 31.10.2011]. 23 URL: http://www.meinvz.net/#Topic:DetailThread/my_topics/G:u602c2/BD:u602c2/BT:uac529 [Zugriff am 31.10.2011].

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in den Familienverbänden, wo die Frage der Mitgliedschaft ausgeheirateter Töchter, ihrer Männer und besonders ihrer Kinder immer wieder neu diskutiert wird. Und die jüngste Reform des deutschen Namensrechtes, die dem adligen Mannesstammprinzip vollkommen widerspricht, verstärkt das Problem noch. 24 Insofern verwundert es kaum, dass diese Thematik oft und in variabler Ausprägung in der Kommunikation Adliger zu finden ist, vor allem auch deshalb, weil Adlige untereinander regelmäßig über die Frage nach Adel und Adligkeit kommunizieren. Im Folgenden möchte ich nun einige Mitteilungsinhalte einer näheren Betrachtung unterziehen. Dazu greife ich zurück auf das erste Beispiel einer adligen Kommunikationshandlung aus der Xing-Gruppe „Adel in Wirtschaft und Gesellschaft“. Es handelt sich unschwer erkennbar um die Selbstvorstellung eines neu in die Gruppe aufgenommen Mitgliedes. Die Person dankt zunächst für die Aufnahme, danach bietet sie Einblick in ihren Lebenslauf. Auffällig ist, dass sie sich dabei nicht auf eine reine Darstellung ihrer Ausbildung und Tätigkeiten beschränkt, sondern auch Bezug nimmt auf ihre adlige Herkunft. Sie signalisiert so, dass sie bereits zum Adel gehört und legitimiert damit noch einmal selbst ihre Aufnahme. Eine andere Selbstvorstellung folgt einer ähnlichen Strategie, wobei sie eine andere Reihenfolge wählt: Beispiel 5: „Ein Gruss aus Zell am See Liebe Gruppenmitglieder, hier also ein paar Worte zu meiner Person. Meine Familie stammt aus dem badischen Erdfeld. Die Ursprünge gehen ins 13.Jahrhundert. Die Hanningens gehörten der Reichsritterschaft an. Heute leben die meisten Familienmitglieder immer noch in Süddeutschland, aber auch sonst überall in Deutschland. Eine ganze Menge gibt es in Kanada und den USA und einige hat es in die Schweiz verschlagen [...]. Ich habe in [...] Starkenburg Architektur studiert und bin dann in dieser schönen Stadt hängen geblieben. Mein Büro ist allerdings in Kluft, sodass ich täglich zweimal 130 km pendle. Ich danke den Moderatoren für die Aufnahme in dieser Gruppe und freue

24

Das Mannesstammprinzip sieht vor, dass nur Männer die Zugehörigkeit zum Adel weitergeben kön-

nen. Nach aktuellem Namensrecht (Inkrafttreten der letzten Änderung: 1.9.2009) ist es nichtadligen Männern möglich, bei Eheschließung den adligen Namen ihrer Frau als Familienname anzunehmen. Diese Praxis widerspricht dem Adelsrecht und Kinder aus solchen Verbindungen werden folglich von den Adelsverbänden nicht als Mitglieder zugelassen. Verschärft wird dies noch dadurch, dass nach einer Scheidung der Ehe der nichtadlige Mann den adligen Namen seiner nunmehr geschiedenen Frau behalten und ihn bei erneuter Eheschließung als Familienname weitergeben kann.

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mich auf interessante Diskussionen. Herzliche Grüsse aus Zell am See Hans-Ruprecht Baron v. Hanningen-Gintal“ 25

Die Zugehörigkeit zum Adel ist ein stets wiederkehrender Gegenstand in der Kommunikation. In einer Gruppe einer Internetplattform, zu der von vornherein nur adlige Personen zugelassen werden, erscheint es zunächst redundant, wenn neu aufgenommene Gruppenmitglieder ihre Zugehörigkeit zum Adel in einer Selbstvorstellung darlegen. Offensichtlich ist jedoch diese Zugehörigkeit zum Adel derart prägend in der Selbstwahrnehmung beziehungsweise für die Identität des einzelnen Adligen, dass diese ein zentrales Thema in der Kommunikation bildet. Zugleich kann durch die Thematisierung der Zugehörigkeit zum Adel das Gruppengefühl gestärkt werden. Dazu passen Beobachtungen in anderen kommunikativen Settings, in denen Adlige sich gegenseitig erläutern, wie sie selbst oder dritte in die Gruppe einzuordnen sind. 26 Darüber hinaus kann auch eine Abgrenzung zum Nicht-Adel inszeniert werden. Interessant erscheint mir dabei, dass diese Abgrenzung beziehungsweise ihre Inszenierung aufgrund der Zulassungsbeschränkung der Internetgruppe nur nach innen hin vollzogen wird. Nichtadlige Personen sind davon im kommunikativen Setting nicht betroffen. Die Thematisierung von Adel und der Zugehörigkeit dazu erstreckt sich im Weiteren auch auf selbstreflektive Kommunikationsbeiträge. Es handelt sich dabei also um ein beliebtes Thema, das in allen möglichen Variationen vom Erfahrungsaustausch bis hin zu philosophischen Betrachtungen anregenden Gesprächsstoff bietet. Ein Blick auf die Diskussionsthemen und die Anzahl der Diskussionsbeiträge in der Xing-Gruppe „Adel in Wirtschaft und Gesellschaft“, der studiVZ-Gruppe „Bist Du etwa adelig“ und der LinkedIn-Gruppe „Adel in Nederland“ mag dies veranschaulichen: Beispiel 6: Xing Verantwortung in der Demokratie. 12 hits, 0 posts Adel heute? 125 hits, 6 posts Frans Herzog von Bayern – König von England und Schottland? 16 hits, 0 posts

25 URL: https://www.xing.com/net/prie75e94x/adel/vorstellungen-15836/ [Zugriff am 31.10.2011]. 26 Dies erfolgt üblicherweise durch die Darstellung der jeweiligen Abstammungsgeschichte und Verwandtschaftsbeziehungen einerseits wie auch andererseits der Zugehörigkeit zu anderen Adelsvereinigungen.

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Berliner Stadtschloss kontrovers. 55 hits, 3 posts Das Monokel im deutschen Adel. 31 hits, 1 post Ketzerisches zu Adel und Demokratie. 56 hits, 3 posts 27 Beispiel 7: studiVZ Namenszusatz. 6 posts irischer landadel. 1 post verwandte. 31 posts welche titel? 49 posts Genitus Ritus. 1 post Wie peinlich kann man werden? 7 posts kunstausstellung. 1 post Bist du etwa Bluter? 14 posts Gruppenname. 33 posts Wie kommt ihr zu eurem „von“? 158 posts 28 Beispiel 8: LinkedIn „Most Popular Discussions (a) Niet echt een discussiepunt, maar wat is de grappigste reactie die je ooit hebt gehad op je titel/predicaat? 12 comments (b) Hoe denken jullie over het wel/niet vermelden van je adelijke titel op je visitekaartje, enz.? Waarom niet? Waarom wel? 71 comments (c) Wat betekent voor jou het „Noblesse Oblige“ in leven, wonen en werken? 16 comments“ 29

Innerhalb des weiten Feldes Adel und Zugehörigkeit zum Adel beziehungsweise adlige Identität finden sich Subthemen, die in kleinen Abweichungen immer wiederkehren: (1) Familie hinsichtlich Verwandtschaft und Herkunft, (2) persönlicher Umgang mit der eigenen adligen Herkunft und Erfahrungen, (3) Definition von Adel und seine Bedeutung im heutigen Leben (persönlich und allgemein) inklusive Normen und Werte.

27

URL: https://www.xing.com/net/prie75e94x/adel/forums [Zugriff am 31.10.2011].

28

URL: http://www.meinvz.net/#Topic:MyList [Zugriff am 31.10.2011].

29

URL: http://www.linkedin.com/groups?gid=3694253&trk=myg_ugrp_ovr [Zugriff am 31.10.2011]. –

Übersetzung aus dem Niederländischen: a) Nicht wirklich ein Diskussionspunkt, aber was ist die witzigste Reaktion auf euren Titel/euer Prädikat, die ihr jemals hattet? – b) Wie denkt ihr über das (nicht) Angeben adliger Titel auf Visitenkarten etc.? Warum? Warum nicht? – c) Was bedeutet für dich das „Noblesse Oblige“ in Leben, Wohnen und Arbeiten?

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Zu (1) Familie hinsichtlich Verwandtschaft und Herkunft: Die Familie ist ein zentrales und besonders prominentes Gesprächsthema im Adel. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass es selten länger als zehn Minuten dauert, bis zwei Adlige, die sich noch nicht persönlich kannten, auf ihre Familie, Familiengeschichte und ihre mögliche Verwandtschaft miteinander zu sprechen kommen. Die soziale Vernetzung, die oftmals bereits Jahrhunderte andauert, nimmt eine zentrale Position im adligen Bewusstsein ein. 30 Insofern ist ihre Thematisierung in adliger Kommunikation nicht wirklich verwunderlich und kann meines Erachtens als charakteristisch angesehen werden. In einer Diskussion kumuliert dieser Umstand in der Bemerkung „Im Zweifelsfall sind wir alle verwandt“, wie das folgende Beispiel zeigt. Beispiel 9: „Thema: Mit wem seid ihr Verwandt? Konstantin von Brühl schrieb: Im Zweifelsfall sind wir alle verwandt; Konrad K. hat dieses Thema erstellt: Neugierig wie ich bin. Mit welchen adligen Familien seid ihr Verwandt? Mit welchem regierenden Adelshäusern seid ihr Verwandt? Ich fange mal an... Die Grafen und Fürsten Henckel von Donnersmarck Die Barone von Cetto Da wir uns allen Anschein nach aus den Wittelsbachern entwickelt haben, sind wir u.a. mit den Prinzen von Bayern und anderen Familien aus diesem Geschlecht verwandt. Die Prinzen von und zu Schoenaich-Carolath [...]“ 31

Zu (2) Persönlicher Umgang mit der eigenen adligen Herkunft und Erfahrungen: Anders als die Frage nach der Familie gestaltet sich dieser Punkt kontrovers. So wird die eigene Zugehörigkeit immer wieder an der Frage nach dem, was zeitgemäß ist, und der Sichtweise auf die heutige Gesellschaft gespiegelt. Standpunkte reichen hier von einer gewissen Distanzierung vom eigenen Adel (zumindest im Alltag), was dann als zeitgemäß angesehen wird, bis hin zur Trauer um verlorengegangene Wer-

30 Nicht zuletzt auch dadurch, dass sie explizit und implizit in historischen Artikeln und anderen Beiträgen in verbandsinternen Zeitungen immer wieder dargestellt und erläutert wird. 31 URL: http://www.meinvz.net/#Topic:DetailThread/my_topics/G:u71fce4/BD:u71fce4/BT:u66ee [Zugriff am 31.10.2011].

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te, die – wenn überhaupt – nur noch vom Adel gelebt und verkörpert werden. Diskussionsbeiträge wie die folgenden sind keine Seltenheit und belegen dies eindrücklich. Beispiel 10: „Dann hat der Adel das Problem, dass er (ich übrigens auch) nicht vorhat, seine Manieren nach unten hin anzupassen“ 32 Beispiel 11: „In den Zeiten der ,gestrig Privilegierten‘ war man ein Flegel, wenn man sich aus der Verantwortung gegenüber seiner anvertrauten Mitmenschen wie Familie > Ehefrauen, Personal und evtl. Kundschaft entzog. Man übernahm Verantwortung gegenüber seines Umfeldes. Das kommt in der heutigen großschnäuzigen und neureichen ,Privilegierten-Gesellschaft‘ eindeutigst nicht mehr vor, ansonsten wäre man der Underdog Und dann kommt noch das Element derjenigen dazu, die steif und fest behaupten ,da habe ich ein Recht drauf‘ ohne was dafür zu tun.“ 33

Und auch außerhalb solcher Internetforen fällt immer wieder auf, wie sehr sich der Adel mit sich selbst und seiner Bedeutung in heutiger Zeit auseinandersetzt. So beleuchtete zum Beispiel der 2005 in Den Haag stattfindende Kongress des Dachverbandes europäischer Adelsvereinigungen CILANE in mehreren Workshops die Frage nach der Bedeutung und Rolle des Adels in der heutigen Gesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven: politisch, wirtschaftlich, sozial, religiös. Doch auch in kleinerem Kreis oder weniger offiziellen Veranstaltungen und Treffen werden derartige Probleme oftmals thematisiert, wie ich im Rahmen teilnehmender Beobachtung feststellen konnte. Zu (3) Definition von Adel und seine Bedeutung im heutigen Leben: Hier schließt unweigerlich die Frage nach dem Adel an sich an. Und so, wie der persönliche Umgang mit der eigenen Zugehörigkeit zum Adel mitunter recht divergent ist, wird auch die Frage, was denn Adel überhaupt sei, sehr unterschiedlich beantwortet. Dabei wird häufig vom eigenen Umgang mit der Zugehörigkeit ausgegangen oder dar32

Diskussion „Gräfin gesucht...“ Adel im Fernsehen in der Gruppe MdHA-Network der Plattform XING.

URL: https://www.xing.com/net/prie75e94x/mddatest/forums [Zugriff am 31.10.2011], mittlerweile nicht

mehr verfügbar. 33

Diskussion Adel heute? in der Gruppe ADEL in Wirtschaft und Gesellschaft der Plattform XING. URL:

https://www.xing.com/net/prie75e94x/adel/gesellschaft-kultur-5740/adel-heute-9743980/ 31.10.2011].

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auf Bezug genommen. Ebenso wird immer wieder betont, dass die Werte, die mit Adel assoziiert werden, nicht exklusiv nur für Adlige selbst gelten. Eine adlige Haltung und Gesinnung kann auch einnehmen, wer nicht von Adel ist. Doch gerade diese Normen und Werte bilden einen stets wiederkehrenden Bezugspunkt in der Diskussion. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des adligen Selbstverständnisses und der adligen Identität. Dies geht bis hin zu sprachlichen Normen, die ebenfalls gern diskutiert und besprochen werden; gern auch vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen, wie das folgende Beispiel aus der studiVZ-Gruppe „Bist du etwa adlig?“ in dem Diskussionsforum „Korrekte Anreden“ 34 zur Frage, wie Nichtadlige mit Adel umgehen, zeigt: Beispiel 12: „Meine Familie und mich sprechen sie manchmal mit ,Herr/Frau Busch‘ an. Also ohne ,von‘. Find das ne Frechheit. Viele denen ich das sage meinen das sei doch egal, ist ja nur ein Zusatz. Aber da stimmt nicht! Ich spreche Herrn Müller ja auch nicht mit ,Herr Üller‘ an, oder wie seht ihr das?“

Als sprachliche oder kommunikative Norm erscheint hier die Frage nach der namentlichen Anrede. Grundsätzlich ist die Art und Weise, wie eine Person angeredet werden kann oder sollte und wie man sich oder andere vorstellt, im Adel stark normiert. 35 Zum Beispiel wird ein Freiherr in mündlicher face to face-Kommunikation mit Baron angeredet, zugleich ist es üblich, das „von“ im Namen wegzulassen, wenn man unter sich ist. Andererseits wird – auch im Internet – immer wieder diskutiert, ob man in der Kommunikation mit Nichtadligen – etwa in beruflichen Kontexten – sich durch vollständige Namensnennung als Adliger zu erkennen geben kann, darf, sollte oder nicht.

34 URL: http://www.meinvz.net/#Topic:DetailThread/my_topics/G:u602c2/BD:u602c2/BT:u1168fa [Zugriff am 31.10.2011]. 35 Derartige Normen sind ein zentraler Aspekt adliger Sozialisation und werden in der Regel bereits im Laufe der Kindeserziehung vermittelt. Sie können darüber hinaus in unterschiedlichen Publikationen nachgeschlagen werden. Vgl. Otto Krabs, Von Erlaucht bis Spektabilis. Kleines Lexikon der Titel und Anreden. München 2004; Alessandra Borghese, Gloria Fürstin von Thurn und Taxis, Unsere Umgangsformen – Die Welt der guten Sitten von A–Z. Niedernhausen 2000; Agnies Pauw van Wieldrecht, Het dialect van de adel. Amsterdam 1991. Diese Publikationen müssen jedoch insofern kritisch betrachtet werden, als die sozialund sprachwissenschaftliche Expertise respektive der entsprechende Erfahrungshintergrund der Autoren nicht immer zweifelsfrei gesichert sind. Andererseits decken sich etliche der dort aufgeführten Normen mit meinen Befunden aus teilnehmenden Beobachtungen.

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Beispiel 13: „Wie denkt Ihr über das wohl/nicht nennen Eures adligen Titels auf der Visitenkarte etc.? Warum nicht? Warum? [...] Nie! Vielleicht in Belgien, aber in den Niederlanden wird das als ein faux pas gesehen. Jeder, der das wissen soll, weiß es bereits. 36“

Auch hier werden wieder auf komplexe Weise Gruppengrenzen sichtbar. Und auch hier kann festgestellt werden, dass das sprachlich-kommunikative Verhalten innerhalb der Gruppe des Adels eindeutiger geregelt erscheint und Normen eher nach innen wirken als gegenüber Außenstehenden. Es bleibt abschließend die Frage, ob Kommunikation eine Projektionsfläche von Adel bildet. Oder anders formuliert: Können solche Handlungen, wie ich sie oben als Kommunikationsakte beschrieben habe, Projektionsflächen sein? Als bewusste, motivierte und intendierte Tätigkeiten sind Handlungen ein wichtiges Mittel der sozialen Verortung und Positionierung. Als solche richten sie sich auf Personen und Objekte und setzen diese in Bezug zum Handelnden. Auch performative Handlungen, wie zum Beispiel Rituale, können in ganz besonderer Weise dazu dienen, sich im sozialen Raum zu positionieren. Aus linguistischer Perspektive eröffnet sich gerade hier ein interessantes Feld, ist doch ein großer Teil alltäglicher Kommunikation von ritualisierten Sprachhandlungen, etwa Formeln zur Gesprächseröffnung oder Bitt- und Dankesformeln sowie ihr konversationeller Austausch, geprägt. 37 Als symbolische, formalisierte Handlungen dienen Rituale als „Steuerzeichen unserer Kultur“ und „Gestalter des Alltagslebens“ 38 und werden oftmals erst auffällig, wenn sie uns unbekannt sind und wir sie nicht verstehen, deuten oder befolgen können. Einzelne Rituale sowie ihre spezifische Ausformung können unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden und spiegeln das jeweilige Normsystem der Gruppe wieder. Sprachlich tritt dies zum Beispiel im Bereich kommunikativer Höflichkeit zutage:

36

URL: https://www.linkedin.com/groups/3694253/3694253–71946580 [Zugriff am 31.10.2011]. – Origi-

nalzitat: Hoe denken jullie over het wel/niet vermelden van je adellijke titel op je visitekaartje, enz.? Waarom niet? Waarom wel? Nooit! Misschien in België, maar in Nederland wordt dit as een faux pas beschouwd. Iedereen die dit hoeft te weten weet het al. 37

Iwar Werlen, Rituelle Muster in Gesprächen, in: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann/

Sven F. Sager (Hrsg.), Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16/2.) Berlin/New York 2001, 1263–1278. 38

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Wolfgang Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie. München 1999, 184f.

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Eine falsch formulierte Begrüßung kann schlimmstenfalls als Beleidigung gewertet werden oder markiert zumindest die fehlende Gruppenzugehörigkeit, wie in Beispiel 12 deutlich wird. 39 Wenn wir hier Projektionsflächen als Objekte und Praktiken definieren wollen, mithilfe derer Angehörige des Adels sich als Adlige im sozialen Raum positionieren, so kann dies durchaus auch durch bestimmte Kommunikationshandlungen geschehen. Besonders Rituale oder ritualisierte Handlungen spielen dabei eine zentrale Rolle, etwa die Vorstellung oder Selbstvorstellung einer adligen Person: In bestimmten Settings wie einem Empfang anlässlich eines Balles einer Adelsvereinigung spielt die Vorstellung der Gäste an die Gastgeber ein wichtige Rolle. In diesem ritualisierten Kommunikationsakt werden Gast und Gastgeber sowie Gäste untereinander sozial positioniert, wobei bestimmte Normen einzuhalten sind. 40 Die Einhaltung der Normen ist dabei insofern wichtig, als nur dadurch eine Abgrenzung zum Nicht-Adel möglich wird, und zwar in zweierlei Hinsicht. So kann zum Beispiel die korrekte Art der Vorstellung bereits deutlich machen, wer als adlig gelten darf und wer nicht: Wird ein Gast dem Gastgeber durch eine dritte Person vorgestellt und ist der Diskurs besonders geprägt durch das Merkmal [+adlig], so wird diese immer den Titel oder das Prädikat mit nennen. Hingegen kann bei einer Selbstvorstellung die – unabsichtliche – Missachtung bestimmter Normen dem adligen Gegenüber bisweilen sogar vor Nennung des eigenen Namens deutlich werden, dass er mit einem Nichtadligen zu tun hat. Die Einhaltung von Normen signalisiert also direkt und indirekt die Zugehörigkeit zur Gruppe. Auffällig ist dabei, dass diese Normen primär gruppeninterne Relevanz haben und nach Innen wirken. Dies wird gerade am erwähnten Beispiel der Vermählungsanzeige aber auch am Beispiel der Anredeformen deutlich. Normen spielen demnach eine wichtige Rolle in der Frage nach den Projektionsflächen. Ich vertrete die These, dass adelsspezifischer Sprachgebrauch sowohl auf adelsspezifische Normen referiert als auch solchen folgt – je nachdem, ob beispielsweise die Einhaltung sprachlicher Normen die Zugehörigkeit zum Adel markieren soll oder ob bestehende adelsspezifische, soziale Normen den Sprachgebrauch innerhalb bestimmter kommunikativer Settings prägen.

39 Diese Feststellung wird auch durch weitere Daten, die ich u.a. aus teilnehmender Beobachtung gewonnen habe, unterstützt. Aufschlussreich sind dabei beispielsweise metakommunikative Diskurse, in denen über bestimmte Sprechakte – wie etwa Begrüßung – und die dazugehörigen Normen verhandelt wird. 40 Vgl. Anm.34.

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So normierter, adelsspezifischer Sprachgebrauch kann unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden als ein Repertoire an „Bausteinen“ zur Aushandlung adligen Selbstverständnisses und somit zur Konstitution des Adels als soziale Gruppe beitragen. Daraus lässt sich indes nicht automatisch schlussfolgern, dass adelsspezifischer Sprachgebrauch zugleich eine Projektionsfläche von Adel darstellt. Dies mag da der Fall sein, wo bestimmte Redewendungen als adlig erfahren werden und diesen Redewendungen zugleich ein explizit nichtadliges Pendant zugeschrieben wird. Auf die Verwendung sowohl der einen als auch der anderen Ausdrucksweise mag dann Adel respektive Nicht-Adel projiziert werden. Insgesamt stellt sich meines Erachtens aber die Frage, ob nicht vielmehr bestimmte sprachliche und den Sprachgebrauch bestimmende soziale Normen als Projektionsfläche dienen, wobei der Sprachgebrauch als Indikator für diese Normen dient. Was diese Projektionsfläche konkret ausmacht, wie sie möglicherweise beschrieben und erklärt werden kann, dazu haben die von mir gesammelten Daten Hinweise gegeben.

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III.

Moltke, Hindenburg und von Moser Adlige Netzwerke als Voraussetzung einer Armeekarriere von Daniel Kuhn

Adel und Militär sind seit jeher eng miteinander verknüpft. Als funktional-soziale Gruppe, sei es in ihrer militärischen Funktion, zum Beispiel als Offiziere, oder durch ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besetzten Adlige wichtige Positionen in der Armee, konnten dabei aber nicht immer die Offiziere aus anderen gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel solche mit bürgerlichem Hintergrund, verdrängen. 1 Armee und Adel scheinen, so zumindest in der Literatur, eine Symbiose eingegangen zu sein, beide Institutionen sind spätestens im 19.Jahrhundert nicht mehr getrennt voneinander zu denken. Dies gilt auch für die „bürgerlichen Armeen“ der amerikanischen Revolution, deren Offiziere zwar nicht immer formell adlig geprägt waren (wie zum Beispiel der eingewanderte General Friedrich Wilhelm von Steuben 2), die aber doch der vermögenden Schicht und damit einem amerikanischen Ständeadel entstammten. 3 Jedoch war „der“ Adel keine abgeschlossene und hermetisch abgeschirmte gesellschaftliche Gruppe, so wurden herausragende Vertreter, sei es in Kunst und Wissenschaft oder eben im Militär, nobilitiert. 4 Ebenso sind die verschiedenen Adelstitel voneinander zu unterscheiden, Standesherren und Freiherren wa-

1 Dazu zum Beispiel die Darstellung und Wirkung der Roon’schen Heeresreformen bei Dierk Walter, Preußische Heeresreformen 1807–1870. Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“. (Krieg in der Geschichte, Bd. 16.) Paderborn 2003. 2 Zu Steuben vgl. Armin Brandt, Friedrich Wilhelm von Steuben. Preußischer Offizier und amerikanischer Freiheitsheld. Halle an der Saale 2006. 3 Die amerikanischen Generalmajore und Brigadegeneräle waren meist begütert (Philip Schuyler 1733– 1804), besaßen Privatlehrer (Artemas Ward 1727–1800) oder gehörten zu den Honoratioren (Seth Pomeroy 1706–1777, Richard Montgomery 1736–1775) und studierten beispielsweise in Harvard. Eine grundlegende Übersicht bietet Alan Cate, Founding Fathers. The Battlefield Leaders Who Made American Independence. Westport 2006. 4 Zum 20.Jahrhundert vgl. Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. Darmstadt 2008, sowie die Beiträge in Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 1.) Berlin 2008, und ders. (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 2: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 2.) Berlin 2001.

10.1515/9783110463569-006

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ren zwar beide adlig, sie trennten aber innerhalb ihrer gesellschaftlichen Gruppe soziale Welten. Umso größer war der gesellschaftliche Fall des Adels zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 5 Zunächst noch geprägt vom Status- und Vermögensverlust durch die Folgen der Napoleonischen Ära hundert Jahre zuvor, versuchte sich der Adel langfristig durch seine politische Beteiligung wieder in seine verlorenen Rechte einsetzen zu lassen 6 – eine Strategie, die mit der Reichsgründung 1871 endgültig scheiterte. Diese Erfahrung des Verlusts sollte sich schließlichwiederholen. Zunächst noch im Kaiserreich geduldet und benötigt, büßte der Adel seine prestigeträchtigen Positionen im Militär durch den verlorenen Ersten Weltkrieg vollständig ein. 7 Mit der Niederlage von 1918 standen auch die letzten Privilegien zur Disposition. 8 Wenn auch die Verbürgerlichung des Adels das Selbstverständnis schwer traf 9, so konnte sie den Adel in der Armee doch als Institut freilich nicht beseitigten. In dieser kurzen, sicher überzeichneten Abfolge der Ereignisse wird gefragt werden, wie der Adel in der Armee diese Umwälzungen und Brüche sah und welche Folgen diese für sein Selbstverständnis, ja für die Betonung oder Ablehnung der neuen Republik hatten. Denn das Konzept des Adligseins dient als Projektionsfläche von Adligen wie Nichtadligen. Nach innen bot der Militärdienst eine „standesgemäße“ Beschäftigung, die zudem dem Wertekanon des Adels entsprach. Nach außen war die Beteiligung des Adels an der Armee Anlass zu Fragen nach seiner Bedeutung, der

5 Dies gilt allerdings nicht nur an der Wende des 20.Jahrhunderts, sondern genauso für das Zeitalter der Säkularisation, die Frühe Neuzeit und das Mittelalter im Gesamten. 6 Rolf Schier, Standesherren. Zur Auflösung der Adelsvorherrschaft in Deutschland (1815–1918). (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 11.) Heidelberg 1978; Ulrich Netz, Standesherren und liberale Bewegung. Der Kampf des württembergischen standesherrlichen Adels um seine Rechtsstellung in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 9.) Stuttgart 1970; allgemein Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815–1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte. 2.Aufl. Göttingen 1964. 7 Zum Beispiel Wencke Meteling, Der deutsche Zusammenbruch 1918 in den Selbstzeugnissen adliger preußischer Offiziere, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20.Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004, 289–322. 8 Eckart Conze, Adliges Familienbewusstsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bernstorffschen Fideikommiss Gartow nach 1919, in: GG 25, 1999, 455–479. 9 Dazu auch Marcus Funck, Vom Höfling zum adligen Mann. Varianten und Umwandlungen adliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Conze/Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne (wie Anm.7), 205–236.

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Frage von beruflichen wie privaten Netzwerken und ganz allgemein der Bedeutung von Adligsein in der Armee. War das Adligsein Voraussetzung für eine Militärkarriere, beförderte sie diese oder war die deutsche Armee im Kaiserreich eine „Adelsarmee“? Um diese Fragen beantworten zu können, ist zunächst zu klären, welche Funktion der Adel tatsächlich im Militär hatte, wie er seine Rolle selbst interpretierte und wie sie von außen interpretiert wurde. Schließlich stellt sich die Frage, ob die Eigenschaft adlig zu sein, einen Vorteil bei der Verfolgung der militärischen Karriere darstellte oder ob diese Eigenschaft nur schmückendes Beiwerk war. Diente diese nur dazu, gesellschaftlich zu glänzen bzw. hatte die Eigenschaft Adliger zu sein, kaum Auswirkungen auf die tatsächliche Arbeit in der Armee, sind die damit verbundenen Fragen. Nachdem diese geklärt wurden, wird anhand dreier Militärkarrieren von Adligen dargestellt, wie sich die beschriebenen Faktoren auswirkten und wie die Projektionsfläche Adel konstruiert wurde. Wenden wir uns also zunächst den Mentalitätsbedingungen des Adels am Ende des 19.Jahrhunderts zu. Ist ein Unterschied in der adligen Mentalität vor dem Ersten Weltkrieg bis nach der Niederlage zu erkennen oder hatte der Erste Weltkrieg kaum einen Einfluss auf die Mentalität der adligen Offiziere?

I. Die Ausgangslage – Mentalitätsbedingungen des Adels am Ende des 19.Jahrhunderts Die Umgestaltung Europas durch die Französische Revolution und die Napoleonischen Umwälzungen prägten und verunsicherten den deutschen Adel nachhaltig. Zum einen wurden die adligen Privilegien in Süddeutschland 1806 über Nacht abgeschafft, und dies weniger durch dem Adel feindlich eingestellte Kräfte als vielmehr durch die Regenten der neu geschaffenen bzw. erhöhten Staaten, also gewissermaßen durch ihn selbst. 10 Die neu entstandenen Mittelstaaten hatten kein Inter-

10 Zur Mediatisierungspolitik König Friedrichs I. vgl. Rudolf Endres, Lieber Sauhirt in der Türkei als Standesherr in Württemberg ... Die Mediatisierung des Adels in Südwestdeutschland, in: Hans Ulrich Rudolf/ Volker Himmelein (Hrsg.), Alte Klöster – Neue Herren. Die Mediatisierung, Auswirkung von Säkularisation und Mediatisierung. Bd. 2/2. Ostfildern 2003, 837–856. Ebenso Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hrsg. v. der Gesellschaft Oberschwaben. 2 Bde. Ostfildern 2006.

D . KUHN

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esse an eigenständigen, kleinen Adelsherrschaften und inkorporierten diese in ihr Territorium. 11 Gleichzeitig demütigten sie den mediatisierten, enteigneten Adel, indem zum Beispiel in Württemberg König Friedrich gebot, dass die Standesherren zwecks besserer Kontrolle sich mindestens ein halbes Jahr in der Residenzstadt Stuttgart aufhalten mussten. 12 Gleichzeitig versuchten der badische Großherzog, der bayerische und der württembergische König den Adel in die politische Neuordnung ihrer Staaten einzubeziehen und gewährten ihnen durch Partizipation in der Ersten Kammer der Parlamente eine freilich nur scheinbare Kontrolle über den Staat. 13 Die adligen Standesherren entzogen sich zunächst der Arbeit in der Kammer, nutzten aber schließlich die Parlamentsarbeit, um ihre alten Rechte zurückzuerlangen und zumindest auf eine Wiederherstellung ihrer alten Privilegien durch den Deutschen Bund oder auf ein vereinigtes Deutschland unter preußischer Führung zu hoffen. 14 Je weiter das 19.Jahrhundert fortschritt, desto offensichtlicher wurde schließlich die Vergeblichkeit dieser Hoffnung. Die Reichsgründung führte dann auch nicht mehr zu einer Restauration des Adels, sondern gerade zu dessen politischer Vernichtung als souveräne Regenten, indem die bisherigen souveränen Staaten in ein geeintes Deutschland eingebunden wurden. Diese Haltung des Abseitsstehens und des partiellen Ablehnens der neuen Staaten durch den südwestdeutschen Adel findet sich auch unter denjenigen Adligen, die in der Armee ihre Karriere suchten. So zeigt sich zum Beispiel im württembergischen Offizierskorps, dass weder vor 1871 noch danach die Söhne von Standesherren verantwortliche Positionen bekleideten. 15 Vielmehr fanden sich dort überdurchschnittlich viele Vertreter des Personaladels oder der ehemaligen Reichsritter, Grafen und Freiherren. Deren Vermögenssituation, zumal für die nachgeborenen

11

Bernhard Mann, Württemberg 1800 bis 1866, in: Hansmartin Schwarzmaier/Meinrad Schaab (Hrsg.),

Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Bd. 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien. Stuttgart 1992, 235–332, hier 256. 12

Endres, Sauhirt (wie Anm.10), 850.

13

Zur Beteiligung der Standesherren an den jeweiligen Ersten Kammern der neu eingerichteten Parla-

mente vgl. ebd.854f. 14

Ebd.855.

15

Daniel Kirn, „Nix preußisch“. Der Adel im XIII. königlich-württembergischen Armeekorps zur Zeit des

Kaiserreiches (1871–1914), in: Eckart Conze/Sönke Lorenz (Hrsg.), Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20.Jahrhundert. (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 67.) Ostfildern 2010, 35–50, hier 41f. Der Autor Daniel Kirn ist identisch mit dem Autor dieses Beitrags Daniel Kuhn.

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Söhne, war eher angespannt, der Zwang im Beruf Geld zu verdienen, war entsprechend hoch und somit auch der Wille, sich bei einem Landesherrn zu verdingen. 16

II. Rollen und Konzepte: Adlige Netzwerke als Voraussetzung für militärische Karrieren? Wenn die Zustimmung und die Zugehörigkeit des Adels zur Armee zumindest teilweise von der Vermögenssituation abhing, so ist unklar, was denn einen adligen Offizier auszeichnete. Definierte sich der Offizier über seine berufliche Rolle als Militär oder spielte die Eigenschaft Adel die größere Rolle? Und wie kann die Zuschreibung in den Quellen aufscheinen, in denen der Adel als Eigenschaft meist vorausgesetzt und nicht darüber reflektiert wurde, eben weil man sowohl Adliger als auch Offizier war. Dass eine solche Rollenzuschreibung zudem in Württemberg anders ausfallen muss als in Preußen, ist ebenso anzunehmen. So überrascht es auch nicht, dass das preußische Offizierskorps viel „adelsfixierter“ war. 17 Hier qualifizierte weniger die individuelle, militärische Leistung und Eignung für einen herausragenden Posten – auch wenn dieses Bild von der Forschung zunehmend korrigiert wird. 18 Auffällig bleibt jedoch, dass in der preußischen Armee hohe Militärkarrieren nur durch den entsprechenden Familiennamen möglich wurden. 19 So ermöglichte erst die Eigenschaft Adel überhaupt, die für die Karriere wichtigen Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Der adlige Hintergrund führte zu regelmäßigen Treffen innerhalb und außerhalb des Offizierskorps, im Fall der preußischen Offiziere auch auf deren Landgütern. Empfänge, Familienfeiern und Jubiläen führten zu einem dichten Netz gegenseitiger Kontakte, die sich für das berufliche Fortkommen nutzen ließen. 20

16 Ebd.40f. 17 Als Übersicht Heinz Reif, Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999, 78. 18 So für den Ersten Weltkrieg Wenke Meteling, Ehre, Einheit, Ordnung. Preußische und französische Städte und ihre Regimenter im Krieg 1870/71 und 1914–19. (Historische Grundlagen der Moderne, Bd. 1.) Baden-Baden 2010, 250–273. 19 Man vergleiche die Rangliste des Generalstabs und der übrigen hohen und angesehenen Kommandeursstellen ebd.78. 20 So die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse zu Vertrauen und Freundschaft in sozialen Netzwerken Malcolm Parks, Personal Relationships and Personal Networks. Mahwah 2007.

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Gab es ein solches Kommunikationsnetz nun nur im Fall der adligen Soldaten? Grundsätzlich zeigt die Theorie der sozialen Netzwerke, dass sich Verbindungen aufbauen, wenn diese auf Gegenseitigkeit und Vertrauen beruhen sowie regelmäßig gepflegt werden. 21 Daher ist anzunehmen, dass sich die Eigenschaft Adel lediglich in einem Umfeld auswirken konnte, in dem die Eigenschaft Adel auch geschätzt wurde. Dies war am Hof des Kaisers sicher der Fall, für die süddeutschen Territorien, vor allem für Württemberg, galt dies wohl weniger. So nutzten im XIII. (königlich-württembergischen) Armeekorps bürgerliche Offiziere ihre eigenen familiären Beziehungen und prägten dieses auf diese Weise. Durch die Zugehörigkeit zur Ehrbarkeit 22, der ohnehin räumlichen Nähe im Königreich, die Enge in der Landeshauptstadt Stuttgart und der Garnisonsstadt Ludwigsburg 23 und die Heirat im evangelisch-pietistischen Umfeld konnten sich die bürgerlichen Soldaten ähnliche Netzwerkstrukturen wie die adligen Offiziere schaffen. Nur eines war den bürgerlichen Offizieren verwehrt, der Aufstieg in höchste Kommandopositionen. So waren die kommandierenden Generale des XIII. Armeekorps durchweg adlig und vor dem Ersten Weltkrieg durch preußische Generale besetzt worden, die mit der württembergischen Mentalität kaum etwas anfangen konnten. 24 Um Missverständnissen vorzubeugen, es wird nicht behauptet, dass Adligsein keine oder nur eine geringe Rolle innerhalb des Offizierskorps gespielt hätte, sondern, dass diese Rolle nur in einem bestimmten Umfeld zum Tragen kam. Neben der Rolle Adliger hatten die Offiziere auch noch viele andere Rollen zu erfüllen, so eben die militärisch-berufliche Rolle, die Rolle als Vater, als Ernährer, gesellschaftlicher Gastgeber usw. 25, die Reihe ließe sich fortsetzen.

21

Zur Netzwerktheorie vgl. Noah Friedkin, Social Influence Network Theory. A Sociological Examina-

tion of Small Group Dynamics. (Structural Analysis in Social Sciences, Vol.33.) Cambridge 2011. 22

Zur Ehrbarkeit als soziale Gruppe vgl. Otto K. Deutelmoser, Die Ehrbarkeit und andere württembergi-

sche Eliten. Stuttgart 2010, und Gabriele Haug-Moritz, Die württembergische Ehrbarkeit. Annäherungen an eine bürgerliche Machtelite der Frühen Neuzeit. (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, Bd. 13.) Ostfildern 2009. Auch wenn diese Studien sich hauptsächlich mit der Frühen Neuzeit beschäftigen, treffen die grundlegenden Aussagen zur Ehrbarkeit als soziale Gruppe auch für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert zu. 23

Wolfgang Läpple, Schwäbisches Potsdam. Die Garnison Ludwigsburg von den Anfängen bis zur Auflö-

sung. 2 Tle. Ludwigsburg 2009. 24

Zum Auftreten des kommandierenden Generals des XIII. (königlich-württembergischen) Armeekorps

Ferdinand von Stülpnagel nach der Reichsgründung 1871 vgl. Kirn, „Nix preußisch“ (wie Anm.15), 35–50. 25

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Generell zur Entwicklung männlicher Werte im 19.Jahrhundert vgl. Karen Hagemann, Mannlicher

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Dass die Zugehörigkeit zum Adel auch in Württemberg durchaus eine, wenn auch eine kleine Rolle spielte, zeigt dass Beispiel eines Offiziersjagdvereins des Grenadierregiments Königin Olga (1. württembergisches) Nr.119. 26 Dort trafen sich adlige Mitglieder des Regiments zu gemeinsamen Sitzungen, vereinbarten und planten Jagdgesellschaften. Dass gerade Adel, Militär und Jagd in einem Verein zusammenfanden, spricht für sich, gerade die Jagd galt und gilt vielen Adligen als adäquater Zeitvertreib und legt vom adligen Selbstbild Zeugnis ab. Ob aber diese Jagden tatsächlich stattfanden, lässt sich wegen fehlender Belege nicht klären. In diesem Offiziersjagdverein waren nur Offiziere zugelassen, allerdings konnten auch bürgerliche Offiziere aufgenommen werden. Sogar ehemalige Angehörige des Regiments waren zugelassen, meist wurde auf eine deutliche Trennung zwischen Aktiven, Reservisten und Veteranen Wert gelegt. 27 Die breite Öffnung zeigt, dass sich der Verein schwertat. Der Offiziersjagdverein existierte nur wenige Jahre, hatte kaum mehr als zehn Mitglieder und erlangte auch im Regiment keinerlei Bedeutung. Das Beispiel des Jagdvereins belegt, dass trotz seiner Gründung als adliger Offiziersjagdverein aus Mangel an Kandidaten zum einen Veteranen miteinbezogen und zum anderen der Verein der bürgerlich geprägten Umwelt angepasst wurde. Wollten die adligen Offiziere ihre soziale Rolle durch diese Vereinsgründung ausfüllen, scheiterte dies an den herrschenden sozialen Strukturen. Eine Verbindung von Adligsein und der Militärzugehörigkeit brachte den Offizieren also keine sozialen Vorteile. Der Adel war in diesem Regiment bereits so unbedeutend geworden, dass die soziale Distinktion noch nicht einmal mehr wahrgenommen wurde. Das Konzept des Adligseins als soziales Unterscheidungsmerkmal konnte unter diesen Bedingungen nicht verankert werden. Zudem waren die wenigen adligen Mitglieder des Regiments nicht bereit, sich in diesem Verein zu engagieren. Vermutlich fanden Jagdveranstaltungen innerhalb des gleichen Adelsrangs und eher in familiärer Atmosphäre außerhalb des beruflichen Alltags statt, zumal eine Vereins-

Muth und Teutsche Ehre. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens. (Krieg in der Geschichte, Bd. 8.) Paderborn 2002, und für die Schweizerische Armee im 20. Jahrhundert Christof Dejung/Regula Stämpfli, Armee, Staat und Geschlecht. Die Schweiz im internationalen Vergleich 1918–1945. Zürich 2003. 26 Daniel Kirn, Soldatenleben in Württemberg 1871–1914. Zur Sozialgeschichte des deutschen Militärs. (Krieg in der Geschichte, Bd. 46.) Paderborn 2009, 259. 27 Dies gilt zum Beispiel sehr deutlich für die Kriegervereine Daniel Kirn, „Krieg ist es nicht, was wir wollen“. Veteranen- und Kriegervereine in Württemberg im 19.Jahrhundert, in: MGZ 66, 2007, 281–308.

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gründung ein typisch bürgerliches Verhalten war. Adlige organisierten üblicherweise ihren Zeitvertreib gerade nicht in Vereinen, sondern benutzten ihre sozialen und familiären Kontakte, um solche Veranstaltungen zu planen und durchzuführen. Dass nun gerade adlige Offiziere den Typus des bürgerlichen Vereins als Klammer für Jagdveranstaltungen benötigten, zeigt, wie sehr sich die Rolle der Adligen und damit ihrer Netzwerke gewandelt hatte. Untereinander scheinen die Offiziere des Regiments kaum miteinander in Kontakt gestanden zu haben, wohl weil sich ihre adligen Lebenswelten zu stark voneinander unterschieden. Der Versuch der Vereinsgründung zeigt daher deutlich, wie sehr bürgerliche Verhaltensweisen übernommen und wie sozial isoliert die Adligen im württembergischen Regiment waren. Wenn also im beruflichen Umfeld die Eigenschaft Adel nur in bestimmten Fällen zum Tragen kam, machte sie sich vielleicht in der Ausbildung der späteren Offiziere bemerkbar, zum Beispiel auf der Kadettenschule, durch das Knüpfen von lebenslangen und später beruflich relevanten Freundschaften oder ähnlichem exklusiven Zugang zu abgeschlossenen, aber einflussreichen Netzwerken?

III. Prägungen des adligen Militärs – Welche Rollen forderte und förderte die Armee? In Württemberg galt schon seit dem 18.Jahrhundert ein grundlegender, alle Bereiche der Armee und des öffentlichen Lebens durchdringender sozialer Egalitarismus. Bereits die Hohe Karlsschule 28 stand den Kindern bewährter Militärs und Verwaltungsfachleute offen, relativ unabhängig von Stand und Namen. 29 Im 19.Jahrhundert entwickelte sich in Ludwigsburg aus der ursprünglichen Militärwaisenanstalt bald eine Militärakademie, die auch auf aufgeklärte Prinzipien setzte. Adelstitel waren verboten, die Anrede erfolgte nur mit „Sie“. Diese Bestimmungen

28

Zur Hohen Karlsschule vgl. Robert Uhland, Geschichte der Hohen Karlsschule in Stuttgart. (Darstel-

lungen aus der württembergischen Geschichte, Bd. 37.) Stuttgart 1953, und Franz Quarthal, Die Hohe Carlsschule, in: Christoph Jamme (Hrsg.), „O Fürstin der Heimath Glükliches Stutgard“ – Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800. Stuttgart 1988, 35–54. 29

Das bekannteste Beispiel ist Friedrich Schiller (erst seit 1802 Friedrich von Schiller), dessen Vater als

einfacher Regimentsfeldscher diente. Vgl. zu den einzelnen Schülern und ihrem sozialen Hintergrund Werner Gebhardt, Die Schüler der Hohen Karlsschule. Ein biographisches Lexikon. Stuttgart 2011.

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galten auch, obwohl die Söhne adliger wie bürgerlicher Familien gemeinsam unterrichtet wurden und die Nennung der Titel daher durchaus ein soziales Distinktionsmerkmal war. Es war also eine bewusste Entscheidung und diente der „Verbürgerlichung“ des Armeekorps, in dem ein königlicher Prinz mit einem freiherrlichen Zögling und dem bürgerlichen Sohn auf der gleichen Stufe rangierte. Dieses Konzept der Ausbildung von Offizieren, ausgehend von den Prinzipien der 1794 aufgelösten Hohen Karlsschule, setzte König Friedrich I. von Württemberg aus purer Notwendigkeit fort, denn als Bundesgenosse Frankreichs im Rheinbund benötigte Friedrich fähige Offiziere. Da die württembergischen Truppen im 18. Jahrhundert als nicht zuverlässig und überaus schlecht ausgebildet galten, reformierte König Friedrich die württembergische Armee grundlegend. 30 Ein Grund für die schlechte militärische Ausbildung war der Soldatenverkauf unter den Herzögen, vor allem unter Herzog Carl Eugen (1728–1793), um dadurch die Staatsfinanzen aufzubessern. Ebenso wie in Hessen verliehen oder verkauften die Herzöge größere Truppenverbände, die dann kaum ausgebildet und quasi als Söldner meist nach Frankreich gesandt wurden, um so die getroffenen Bündniszusagen, zum Beispiel im Siebenjährigen Krieg, einhalten zu können. 31 Traurige Berühmtheit erlangte dabei das sogenannte Kapregiment, dessen Einsätze nur wenige Teilnehmer überlebten. 32 König Friedrich I. brach mit dieser Tradition, er schuf das Einsteherwesen ab – also die gezielte Bezahlung von Personen, die anstelle der eigentlich Militärpflichtigen deren Platz in der Truppe einnahmen – führte die allgemeine Wehrpflicht ein, ließ das Reglement verbessern und formte so eine verhältnismäßig schlagkräftige Armee. 33 Die Verbesserungen betrafen auch das Offizierskorps, so förderte auch hier König Friedrich die Leistung seiner Offiziere, indem er ihnen bei persönlicher Bewährung und dem Erreichen des Dienstranges eines Hauptmanns den persönlichen Adel verlieh. Dies galt allerdings nicht nur in der Armee, sondern auch in der

30 Paul Sauer, Die Neuorganisation des württembergischen Heerwesens unter Herzog, Kurfürst und König Friedrich (1797–1816), in: ZWLG 26, 1967, 395–420. 31 Zum Beispiel der Subsidienvertrag von 1752, vgl. Gerhard Storz, Herzog Carl Eugen, in: Robert Uhland (Hrsg.), 900 Jahre Haus Württemberg. Stuttgart 1984, 246; Robert Uhland, Karl Eugen, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 11. Berlin 1977, 267–269, hier 268. 32 Hans-Martin Maurer, Das Württembergische Kapregiment. Söldner im Dienste früher Kolonialpolitik (1787–1808), in: ZWLG 47, 1988, 291–307. 33 Ebd.

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Verwaltung, so erhielt beispielsweise Philipp Christian Graf von Normann-Ehrenfels seinen Grafentitel durch König Friedrich I. 1806 zum Dank für seine Leistungen. 34 Aufgrund dieser Reformen war in Württemberg nicht die Eigenschaft Adel Voraussetzung für die Militärkarriere, sondern diese konnte den Adelstitel überhaupt erst ermöglichen. Diese Tradition wurde sowohl in das VIII. Bundeskorps wie auch in das XIII. (königlich-württembergische) Armeekorps übernommen. Leistung stand in der württembergischen Armee immer über einzelnen gesellschaftlichen Merkmalen. Allerdings war es auch in der preußischen Armee möglich, durch Verdienst ausgezeichnet zu werden, berühmte Beispiele hierfür sind zum Beispiel die Aufwertung des Adelstitels Ottos von Bismarck (1815–1898) 35 oder die des älteren Moltke (1800– 1891) 36. Aufgrund des größeren Reservoirs an möglichen Offiziersanwärtern war es allerdings wohl kaum möglich, als bürgerlicher Offizier nobilitiert zu werden. Als Merkmal der zusätzlichen Auszeichnung bereits Adliger war die Nobilitierung in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts also bekannt, aber wenig einflussreich. Dieser äußeren Anerkennung der adligen Offiziere durch den Hof, wenn sich diese in der Armee bewährt hatten, stand das adlige Selbstbild der im Militär befindlichen Adligen gegenüber. Denn im Fall der Nobilitierung entschieden armeefremde Personen über die Verleihung, während innerhalb der Armee adlige Offiziere durch ihr Selbstbild eine gruppenverbindende Funktion einnehmen konnten. Gab es also eine Art verbindliches „Klassenbewusstsein“ adliger Offiziere? Unterschieden sich adlige von nichtadligen Offizieren in ihrer Ausbildung und in ihrem Dienst, definierten sie sich als eigene Gruppe oder überlagerten und verdrängten die militärischen Merkmale die gesellschaftlichen? Üblicherweise begann die militärische Laufbahn des jungen Adligen in der Kadettenschule. 37 Bereits in diesen, seit 1871, faktisch 1874, rein preußisch geführten 34

Eugen Schneider, Normann, Philipp Christian Friedrich von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd.

24. München 1886, 20. 35

Bismarck wurde durch seine militärischen Erfolge 1865 zum Grafen und 1871 zum Fürsten ernannt,

vgl. Otto zu Stolberg-Wernigerode, Otto von Bismarck, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 2. Berlin 1955, 268– 277, hier 268. 36

Helmuth Moltke der Ältere wurde 1843 preußischer Freiherr und 1870 zum Graf ernannt. Bernhard

von Poten, Moltke, Helmuth Graf von, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 52. Leipzig 1906, 447–458, hier 447. 37

Zu den Kadettenanstalten vgl. Heiger Ostertag, Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierskorps

im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918. Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit. (Europäische Hochschul-

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Kadettenschulen 38, wurde eine standesgemäße Differenzierung gepflegt. Als adliger Kadett wurde man strikt von den anderen Offiziersanwärtern und den nichtadligen Mannschaften getrennt und so mit einem besonderen Standesdünkel ausgestattet. Dieser war aber nur zum Teil adlig bestimmt, in der Binnenhierarchie des Heeres waren ebenso das wirtschaftliche Leistungsvermögen und die Tradition bzw. die Leistungen der anderen Familienmitglieder, die bereits gedient hatten, wichtig. Die Zugehörigkeit eines Kadetten zum Adel führte aber nicht automatisch in hohe Positionen. Zwar standen den adligen Kadetten die Offiziersränge offen, die für die einfachen wehrpflichtigen Rekruten unerreichbar waren, doch mehr als ein Regimentskommandeursposten mussten sich auch die adligen Offiziere erst durch Leistung verdienen. Die hier entwickelte und vorgeschlagene These also lautet, die Eigenschaft Adel konnte den Aufstieg in der militärischen Hierarchie erleichtern, indem soziale Netzwerke genutzt wurden, sie war eine förderliche Ausgangsbedingung für eine Karriere, indem sie Berufsperspektiven eröffnete; die Zugehörigkeit zum Adel führte aber nicht automatisch in hohe Positionen, persönliches Auftreten und Fachwissen im ausgehenden 19.Jahrhundert waren ebenso wichtig, um innerhalb der Armee aufsteigen zu können. Das nötige Fachwissen vermittelten die Offiziersschulen, vor allem aber die praktische Arbeit im Regiment. 39 Einzelne Offiziere konnten sich weitergehende technisch-wissenschaftliche Kenntnisse bei einem kurzen technischen Studium als Gasthörer erwerben. Diese Möglichkeit wurde vor allem von den bayerischen und württembergischen Offizieren genutzt. 40 Für zwei Semester, manchmal auch länger, konnten Offiziere, die sich im täglichen Dienst bewährt hatten, zum Beispiel an der Technischen Hochschule Stuttgart Vorlesungen hören. 41 Dies war Verpflichtung und Auszeichnung, mit den dort vermittelten Grundlagen in Physik, Mathe-

schriften, Bd. 416.) Frankfurt am Main 1990; Heinz Stübig, „Leopold von Wieses Kadettenjahre“. Zum System der kasernierten Anstaltserziehung im 19.Jahrhundert, in: ders., Bildung, Militär und Gesellschaft in Deutschland. Studien zur Entwicklung im 19.Jahrhundert. (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 54.) Köln 1994, 119–137; Jürgen Zabel, Das preußische Kadettenkorps. Militärische Jugenderziehung als Herrschaftsmittel im preußischen Militärsystem. (Studien zur Politikdidaktik, Bd. 5.) Frankfurt am Main 1978. 38 Kirn, Soldatenleben (wie Anm.26), 32f. 39 Zur schlechten Bildung der Unteroffiziere, die zu einem deutlichen Rückgang der Anzahl an Unteroffizieren während des Kaiserreichs führte, vgl. ebd.50. 40 Zu Bayern vgl. Reif, Adel (wie Anm.17), 79f. 41 Kirn, Soldatenleben (wie Anm.26), 50.

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matik und Optik konnten insbesondere die Offiziere der Artillerie glänzen. Im Rahmen eines Studium Generale wurde quasi das naturwissenschaftliche Fundament für eine „wissenschaftliche“ Militärausbildung gelegt und dies von den Offizieren selbst als Auszeichnung verstanden. Die württembergischen Offiziere unterschieden sich also in Kenntnis, Ausbildung und Mentalität deutlich von den Offizieren der preußischen Regimenter. Zwar gab es in Württemberg keine dem Generalstab vergleichbare Einrichtung, die württembergischen Offiziere mussten also, wenn sie Karriere machen wollten, an die preußischen Kriegsschulen wechseln beziehungsweise ab 1893 für eine bestimmte Zeit in der preußischen Armee dienen 42, um genauer in militärischen Dingen ausgebildet zu werden. Dort standen jedoch eher Drill und technische Anwendung im Vordergrund. Wie im Bereich der Bildung, so unterschied sich auch die Selbstrekrutierung des Offizierskorps deutlich voneinander. Während in Württemberg der Adelsanteil kurz vor dem Ersten Weltkrieg bei rund 20 Prozent stagnierte, bot die Zugehörigkeit zum Adel in Preußen den Zugang zu hohen militärischen Ämtern. 43 Dabei war das Merkmal Adel weniger soziales Distinktionsmerkmal, das bewusst zum Ausschluss ebenso geeigneter, aber bürgerlicher Offiziere führte, vielmehr schuf dieses Merkmal eine Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe Adel, man konnte leichter Kontakte knüpfen, erfuhr schneller von freien Stellen und nutzte familiäre Beziehungen, um sich protegieren zu lassen oder dies selbst zu tun. Mangels einer „kritischen Masse“ bürgerlicher Offiziere, konnten sich diese – obwohl ihnen diese Kontaktpflege selbstverständlich ebenso offenstand – nicht so schnell in den Netzwerken bewegen und sich ihrer weniger bedienen. In Württemberg hingegen war es quasi umgekehrt, nur eine geringe Zahl von Offizieren mit adligem Hintergrund stand einer großen Anzahl bürgerlicher Offiziere gegenüber, die sich ebenso jener sozialen Mechanismen bedienten. Die Zugehörigkeit zum Adel ist also nicht das zentrale Unterscheidungsmerkmal, wie bei einer statistischen Auswertung angenommen werden könn-

42

Die Debatte um die Entsendung der Offiziere in die preußischen Kontingente wurde in aller Öffent-

lichkeit ausgetragen. Vgl. dazu Daniel Kirn, Zwischen „Verpreußung“ und souveränem Staat. Die politische Kultur in Württemberg am Beispiel der Bebenhäuser Konvention von 1893, in: Daniel Kirn/Gerhard Fritz (Hrsg.), Florilegium Suevicum. Beiträge zur südwestdeutschen Landeskunde. Festschrift für Franz Quarthal zum 65. Geburtstag. (Stuttgarter historische Studien zur Landes- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 12.) Ostfildern 2008, 275–292. 43

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Reif, Adel (wie Anm.17), 17f.

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te, vielmehr eröffnete sie den Zugang zu bestimmten – aber nicht allein dem Adel offenstehenden militärinternen Netzwerken. Auch besetzte der Adel längst nicht alle hohen Stellen. Zwar war die Zugehörigkeit zum Adel fast Voraussetzung für eine Generalstabsausbildung sowie für den Dienst in den prestigeträchtigen Regimentern der Garde, weniger angesehene Regimenter in von Berlin weit entfernten Standorten weisen aber meist einen höheren Anteil an bürgerlichen Offizieren auf. 44 Das Bürgertum wurde also nicht aus den preußischen Regimentern ferngehalten, vielmehr waren meist adlige Offiziere innerhalb der preußischen Armee räumlich eher ungleich verteilt. Für besonders verdiente Offiziere war auch in Preußen die Erhebung in den Adelsstand möglich bzw. eine Verleihung eines höheren Adelsgrades prinzipiell denkbar, Ausmaße wie in Württemberg erreichte diese Politik aber nicht.

IV. Die Bedeutung der adligen Netzwerke und die Rolle der „Adelskonzepte“ Die Bedeutung der adligen Netzwerke für eine mögliche militärische Karriere wurde nun deutlich dargestellt. Gemessen an der Situation der Armee des Kaiserreichs wird sich an der Untersuchung dreier Offiziere zeigen, welche Wirkung die beschriebenen sozialen Netzwerke hatten. Gleichzeitig wird sichtbar, dass diese Netzwerke und das Selbstverständnis der Offiziere – seien es bürgerliche, seien es adlige – durch den Ersten Weltkrieg grundlegend erschüttert wurden und sich schließlich in der Weimarer Republik ihre Funktion und ihr Selbstbild wandelten. Dieser Niedergang führte zu einer Phase der Selbstvergewisserung der nun arbeitslos gewordenen und in ihrem Selbstbild in Frage gestellten adligen Offiziere – insbesondere durch die Publikation mehr oder minder kritischer Untersuchungen zum Verlauf und Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Die Eigenschaft Adel wurde völlig durch die „Weltkriegserfahrung“ verdrängt, in der Weimarer Republik sollten eher politische Einstellungen soziale Gruppen formen als die Zugehörigkeit zur Gruppe des Adels. Zwar finden sich natürlich auch in der Weimarer Republik und der späteren Reichswehr viele adlige Offiziere, aber diese konnten die Eigenschaft Adel nicht mehr so nutzen, wie dies die vorhergegangene Generation noch machen konnte. 44 Zum preußischen Offizierskorps vgl. vor allem Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer, Moderne Preußische Geschichte 1648–1947. Bd. 2, T.4: Militärsystem und Gesellschaftsordnung. Berlin 1981, 749–871.

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Am Beispiel von Helmuth von Moltke dem Jüngeren wird gezeigt, wie wertvoll das adlige Netzwerk im Kaiserreich war, wie man durch Protektion hoch aufsteigen konnte und dass der Zugang zu adligen Netzwerken Voraussetzung dafür war. Bei Paul von Hindenburg zählte seine Eigenschaft als Adliger kaum, viel wichtiger waren sein persönliches Charisma und das Ergreifen günstiger Gelegenheiten, vor allem aber die mediale Vermittlung des Krieges durch die Mittel der Massenkommunikation. Das Beispiel Otto von Mosers schließlich wird zeigen, dass die Eigenschaft Adel in Württemberg mit militärischer Leistung einherging, vor allem aber wird zu zeigen sein, wie er in Schriften, die er nach 1918 veröffentlichte, den Ersten Weltkrieg doch noch gewinnen wollte, in dem er durch Analyse und Beschreibung des Krieges die Einordnung in und das Urteil der Geschichte zu ändern hoffte. 1. Eine preußische Militärkarriere – Helmuth von Moltke der Jüngere Dass Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (1848–1916) eine führende militärische Rolle in der deutschen Armee übernehmen sollte, war so nicht zu erwarten. Zunächst erklomm er die militärische Karriereleiter, wurde bereits als 32-jähriger Leutnant in den Großen Generalstab aufgenommen 45 und 1888 persönlicher Adjutant seines Onkels, der preußischen Legende Karl Bernhard von Moltke (1800–1891). 46 Nach dessen Tode bewegte sich Moltke im engsten Umfeld Kaiser Wilhelms II., der im 1. Garderegiment zu Fuß gedient hatte, das überdies zugleich Moltkes letztes Truppenkommando gewesen war. 47 Moltke übernahm das Kommando über die Schlossgardekompanie und wurde nach der Absolvierung weiterer Kommandos schließlich zum Oberstleutnant befördert. 48 Diese Stellung ermöglichte ihm durch die kaiserliche Protektion und seinen berühmten Nachnamen einen raschen Aufstieg. 49 Er wurde Kommandeur der 1. Division des Gardekorps und Generalleutnant, 1904 Generalquartiermeister und 1906 schließlich Chef des Großen Generalstabes. 50 Moltke war für die Planung und Umsetzung des Schlieffenplans verantwortlich.

45

Heinrich Walle, Moltke Helmuth, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 18. Berlin 1997, 17.

46

Ebd.17.

47

Ebd.

48

Ebd.

49

Ebd.18: „Moltke wurde in erster Linie aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehungen zu Wil-

helm II. von diesem für dieses Amt ausgesucht.“ 50

140

Ebd.17f.

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Differenzen zwischen ihm und dem Kaiser gab es während des Ersten Weltkrieges wegen der Besetzung des neutralen Belgien, welche zum Kriegseintritt von Großbritannien führte, vor allem aber wegen der Verlegung von Truppen von der Westfront an die Ostfront, wo sie die schneller als erwartet vorrückenden russischen Truppen zum Halten zu bringen sollten. Bereits nach wenigen Wochen wurde Moltke nach einem psychischen Zusammenbruch vom Kommando entbunden und, wenn formal auch erst Ende des Jahres, durch Erich von Falkenhayn ersetzt. 51 Bereits 1916 starb Moltke an einem Schlaganfall. 52 Dass ein 32-Jähriger in eine verantwortungsvolle Position im Großen Generalstab berufen wurde, war zwar möglich, aber recht selten. Der Umstand, dass Moltke für diese Position berücksichtigt wurde, hatte ohne Zweifel mit Moltkes Verwandtschaft zu tun. Als Flügeladjutant seines Onkels konnte er seinen eigenen Namen bekanntmachen, Kontakte inner- und außerhalb des Generalstabs knüpfen und diese nach dem Tode des Onkels gewinnbringend einsetzen. Moltke partizipierte also am Nimbus seines Onkels und konnte so Kaiser Wilhelm II. für sich einnehmen und schließlich bei der Besetzung des Chefs des Generalstabs seine Mitbewerber ausstechen. Dass Moltke nicht unbedingt höchster Militär werden wollte, ist offensichtlich, seine Interessen waren recht zeittypisch, indem er Spiritismus und Theosophie nahestand. 53 Dass diese Neigungen aber seine militärische Eignung beeinträchtigt hätten, ist üble Nachrede. Moltke war bereits seit 1911 gesundheitlich angeschlagen, verfügte über zu wenig Erfahrung in der bürokratischen Arbeit des Generalstabs und besaß nicht das Charisma seines Onkels. 54 Auch war für die Niederlage in der Marneschlacht die unzureichende Kommunikation zwischen Großem Generalstab und den Truppen sowie das Einräumen größtmöglicher Selbstständigkeit der Truppenkommandeure vor Ort wesentlich mitverantwortlich. 55 Moltke war selbstverständlich ein fähiger Armeekommandeur, das zeigen seine Kommandierungen und Beförderungen, er konnte sich durchaus auch aus eigener Kraft emporarbeiten; dass er aber so rasch in so hohe verantwortungsvolle Positionen gelangte und

51 Ebd.18. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd.

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schließlich Chef des Generalstabs wurde, hatte er eben auch seinem Namen und seiner Zugehörigkeit zum Adel zu verdanken. Wie wichtig und vorteilhaft diese Beziehungen sein konnten, belegt eine Anekdote, die nicht wahr zu sein braucht, sie illustriert vielmehr, wie sehr Name und Titel helfen konnten. So soll kurz vor der Entscheidungsschlacht bei Sedan im DeutschFranzösischen Krieg ein Adjutant des Generalstabschefs den einfachen Offiziersanwärter Moltke im Bereich des Liegnitzer Grenadierregiments Nr.7 gesucht haben, um ihm mitzuteilen, dass die Schlacht unmittelbar bevorstehe. Solche Geschichten halfen dann auch bei der späteren Karriere, so belegen solche Erzählungen, dass Moltke schon in jungen Jahren für Höheres ausersehen gewesen sei. Das Streuen beziehungsweise Lancieren solcher Anekdoten ist ein erstes Anzeichen für eine verstärkte „Öffentlichkeitsarbeit“, die sich zunehmend bei allen Generalstabschefs und höchsten Offizieren in der einen oder anderen Form findet. Militärs, die solche Spitzenpositionen einnehmen wollten, benötigten zum Aufstieg eine ausgefeilte Strategie, um ihren Namen bekanntzumachen. Wie wir sehen werden, nutzte Hindenburg dieses Mittel konsequent, indem er zum Beispiel aufwändig gestellte Fotografien verbreitete. Eine andere Möglichkeit war, wie bei Moltke, der ständige – offene oder verdeckte – Verweis auf seinen Familiennamen. Dieser Befund führt zu einer weiteren Frage, nämlich inwieweit militärische Kompetenz und Know-how bereits über in der Armee in höheren Rängen dienenden Familienangehörigen vermittelt wurde. Als persönlicher Adjutant seines Onkels war Moltke der Jüngere beispielsweise im täglichen Austausch mit seinem Onkel und wurde zu administrativen Arbeiten für militärische operative Pläne herangezogen. 56 Wie stark sich Moltke zwischen Spiritismus, Fatalismus und Denkfeldern preußischer Ehre bewegte, zeigt eine letzte Beobachtung. Moltke sei nach dem nicht planmäßigen Vorrücken der deutschen Truppen in Belgien so außer sich gewesen, dass er an die Front gehen wollte, um sich dort vom Feind töten zu lassen. 57 Nur mit Mühe habe man Moltke von diesem eher verzweifelten Plan abhalten können. Auch diese Aufzeichnung dürfte uns eher weniger vom realen Moltke erzählen als von dem Bild, das man sich von ihm machte. In seiner Hinwendung zum Übersinnlichen

56

Dazu zum Beispiel Annika Mombauer, Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War.

Cambridge 2001. 57

So mehrere Quellen, die eine seelische Zerrüttung Moltkes nach der Marneschlacht nahelegen. Walle,

Moltke (wie Anm.45), 18.

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und mit seiner sogenannten „nervösen Gereiztheit“ war Moltke ein typisches Kind seiner Zeit. 2. Paul von Hindenburg – der funktionale Adel erobert neue Räume Paul von Hindenburg hatte einen ähnlichen Werdegang wie Moltke. 58 Hindenburg war Sohn eines Gutsbesitzers aus Ostpreußen, der selbst preußischer Offizier war und die Armee kannte. 59 Hindenburg besuchte die Kadettenanstalt und wurde 1865 Page der Königin Elisabeth, der Witwe des verstorbenen Königs Friedrich Wilhelm IV. Er kämpfte 1870/71 im 3. Garderegiment, wurde noch nicht 30-jährig in den Großen Generalstab berufen und begann durch diese herausragende Auszeichnung eine zunächst glanzvolle Militärkarriere. 60 Um 1900 stagnierte diese allerdings. Zwar wurde er Chef des Generalstabs für das VIII. Armeekorps und Generalmajor, ummünzen in politischen Einfluss konnte er dies jedoch nicht. Es scheint eher, als ob Hindenburg seine Ansprüche zurückschrauben musste, er wurde jedenfalls nicht für noch höhere Aufgaben in Betracht gezogen. 1911 schied er freiwillig aus dem aktiven Dienst aus und ging in den Ruhestand. 61 Dass Hindenburg bei Kriegsbeginn wieder in den aktiven Dienst zurückkehren und mit dem VIII. Armeekorps betraut werden würde, war zunächst nicht abzusehen gewesen. 62 Zu verdanken hatte Hindenburg die militärische „Wiedereingliederung“ vor allem den günstigen Umständen und seinem Einbringen zum richtigen Zeitpunkt; er hatte schlicht mit vielen Militärs brieflich Kontakt gehalten, in Hannover nahm er regelmäßig an Veranstaltungen seines Klubs teil, wo er ebenfalls hohe Generalskollegen traf. 63 Diesen Beziehungen war es zu verdanken, dass Hindenburg ein Oberkommando erhielt. Dass er durch diesen Umstand zum „Held von Tannenberg“ werden konnte, war für Hindenburg ein Glücksfall. Das eigentlich als Endstation vorgesehene Kommando wurde für Hindenburg zum Sprungbrett. 64

58 Als beste Biografie Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007. 59 Ebd.14. 60 Pyta bezeichnet diese Karriere als „mehr als respektabel“, ebd.13–40. 61 Darüber hinaus wurde er nicht in der Dienstalterliste geführt, in einem eventuellen Krieg war Hindenburg daher nicht zu verwenden, ebd.36f. 62 Ebd.41–43. 63 Ebd.38. 64 Pyta spricht vom „märchenhaften Aufstieg des Pensionärs“, ebd.41–56.

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Dass Hindenburg dem preußischen Adel entstammte, hatte ihm in der zweiten Hälfte seiner Karriere kaum geholfen. Zwar waren alle Armeekommandeure adlig, aber als alleinige Qualifikation taugte dieses Merkmal kaum. Vielmehr gab seine Beharrlichkeit den Ausschlag für seine Berufung, das Ereignis „Tannenberg“ war nicht vorauszusehen. Dass aber Hindenburg den Nimbus des Siegers von Tannenberg nutzen konnte und tatsächlich auch nutzte, war seinen politischen Ambitionen geschuldet. Je länger Hindenburg dies tat, desto mehr verdrängte er den Primat der Politik und wurde vom politischen Offizier zum militärischen Politiker. Seine Zugehörigkeit zum Adel suggerierte der Bevölkerung eine konservative Grundhaltung, mehr aber auch nicht. Sein Beharrungsvermögen und sein politisches Kalkül waren für die weitere Karriere weitaus wichtiger. Es zeigt sich also zunächst, dass die Eigenschaft Adel eine schnelle und rasante Karriere ermöglichte, aber nicht davor schützte, von einflussreichen Vorgesetzten oder Rivalen „kaltgestellt“ zu werden. Doch auch Hindenburg arbeitete nicht allein. Mit Erich Ludendorff 65 verband ihn eine intensive Arbeitsbeziehung, die weniger von militärisch-operativen oder verwaltungstechnischen Fragen gekennzeichnet war, als vielmehr dadurch, dass Hindenburg die militärischen Erfolge Ludendorffs nach außen repräsentierte, während Ludendorff für die militärischen Siege zu sorgen hatte. Diese wurden jedoch immer weniger und fielen geringer aus – ein zweites „Tannenberg“ sollte es nicht geben. Der Nimbus Hindenburgs fiel damit auch auf Ludendorff, was seine spätere Bedeutung und Rolle in der Weimarer Republik festigen und bestimmen sollte. Es profitierte also nicht nur Hindenburg von dieser Arbeitsteilung. Die Zusammenarbeit von Hindenburg und Ludendorff wurde durch die Übernahme der 3. Obersten Heeresleitung 1916 gekrönt. 66 Erstmals war es einem Militär gelungen, den Primat der Politik zu umgehen und eine Militärdiktatur in Deutschland zu errichten. 67 Die militärischen Ergebnisse blieben zwar überschaubar, dennoch sollte sich Hindenburg bis zum Ende des Weltkrieges halten. Der Erste Weltkrieg ermöglichte es also dem adligen Weltkriegsoffizier, neue Handlungsräume in der Politik zu erobern. Die Eigenschaft Adel allein führte nicht zu einer Militärkarriere, das Beispiel Herzog Albrechts von Württemberg belegt dies anschaulich. Albrecht hatte trotz seiner

65

Zu Ludendorff vgl. Bruno Thoß, Erich Ludendorff, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 15. Berlin 1987,

285–290.

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66

Ebd.205.

67

Pyta, Hindenburg (wie Anm.58), 285–295, hier 285.

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glänzenden militärischen Fähigkeiten keine mit Hindenburg oder Moltke vergleichbare Karriere vorzuweisen, auch wenn er von höherem Stand war. Herzog Albrecht konnte zwar bereits vor dem Krieg die Führung zweier Armeekorps erlangen, doch gelang es ihm nicht, sich zum Beispiel im Vergleich mit Hindenburg militärisch so auszuzeichnen, dass er sich für höchste Aufgaben empfahl. 68 Auch wurde ihm mehrmals das Führen „seines“ Armeekorps, also des XIII. (königlich-württembergischen) Armeekorps verweigert, was nicht nur ihn, sondern auch die eigenen Offiziere verstimmte. Grund hierfür war, dass das württembergische Armeekorps nur durch einen preußischen kommandierenden General befehligt werden sollte. Erst während des Ersten Weltkrieges gelang es Albrecht, das Kommando über württembergische Truppen zu erlangen. Im Vergleich zu den militärisch-politischen Positionen der Generalstäbler war die Übernahme von Armeekorps gleichwohl weniger glanzvoll, wenn er sich in der täglichen Arbeit auch überaus bewährte. Warum also wurde Albrecht kein zweiter Hindenburg, warum schaffte er es nicht, die allerhöchste Aufgabe zu erreichen? Vor allem verfügte Albrecht als Angehöriger des Hochadels über andere Netzwerke als die protestantischen preußischen Offiziere, er war katholisch, als Württemberger galt er in preußischen Augen in der politischen Gesinnung als unzuverlässig und stellte überdies durchaus Forderungen nach ihm genehmen Stellen – alles Eigenheiten, die ihm zum Nachteil gereichten. 69 Er war deshalb innerhalb der höchsten Offiziere isoliert und versah seinen Dienst, Einfluss auf militärische Stellen oder gar im Großen Generalstab hatte er kaum. Hätte das Merkmal Adel also in der kaiserlichen Armee wirklich einen derart großen Einfluss auf die Karrierechancen von Offizieren gehabt, so hätte eine Karriere wie die Albrechts nicht vorkommen dürfen. Ebenso ist auffällig, dass sich unter den führenden Protagonisten kein Mitglied der regierenden Fürstenhäuser fand, sieht man einmal vom Kaiser ab. Angehörige der fürstlichen Häuser waren noch nicht einmal für eine Generalstabsausbildung vorgesehen, was ebenfalls dazu beitrug, ihre Karrierechancen zu minimieren. Durchweg waren es die Niederadligen, die in verantwortungsvolle Posten aufstiegen und Karriere machten. Für diese war es

68 Eine Übersicht über die militärische Leistungsfähigkeit bei Theodor Pfizer, Albrecht Herzog von Württemberg (1865–1939), in: Uhland (Hrsg.), 900 Jahre Haus Württemberg (wie Anm.31), 363–378, hier 367– 374. 69 Ebd.365.

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schlicht notwendig, in der Armee zu reüssieren, um sich einen Namen zu machen und sich eine auskömmliche Position zu verschaffen. 70 Freiherren und Grafen bestimmten daher fast ausschließlich das Bild des deutschen Offizierskorps. Diesen Befund hatten wir bereits beim württembergischen Offizierskorps 71 gesehen, aber auch das preußische scheint cum grano salis so organisiert gewesen zu sein. Das Erobern neuer Räume blieb aber nicht auf die Angehörigen des Großen Generalstabs und die Generalsränge beschränkt. Auch in den niedrigeren Offiziersrängen erweiterte sich das Aufgabenspektrum. Nicht länger waren sie nur mit der fachgebundenen Planung betraut, vielmehr entwickelten sie sich im Laufe des Krieges immer mehr zu Organisatoren der Kriegsgesellschaft. 72 Die mit Kriegsbeginn gegründeten stellvertretenden Armeekorps organisierten das alltägliche Leben mit Nahrungsmittelbewirtschaftung, Zensur, Rekrutierung sowie Versorgung/Nachschub und griffen so zentral in das zivile Leben ein. Verwaltung statt Kriegsdienst war nun eine Option, die sich nach der Niederlage 1918 in der bürgerlichen Zivilgesellschaft der Weimarer Republik als Vorteil erweisen konnte. 3. Otto von Moser – oder Wie gewinnt man einen verlorenen Krieg? Das Kriegsende brachte grundlegende Änderungen für die adligen Offiziere, ähnlich wie zu Beginn des 19.Jahrhunderts. Über Nacht verloren die adligen Offiziere ihre Lebensgrundlage durch den Zusammenbruch der Armee und darüber hinaus auch noch ihre gesellschaftlich einflussreiche Position. Insbesondere die Niederadligen litten unter der Situation. Durch die Auflösung der Armee verloren sie ihre wirtschaftliche Grundlage, während die ehemaligen Regenten und Standesherren zumindest von den ihnen verbliebenen Gütern noch einträglich leben konnten. 73 Die adligen Weltkriegsoffiziere standen nun ebenfalls vor der Frage, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollten. Arrangieren mussten sie sich mit der militä70

Kirn, „Nix preußisch“ (wie Anm.15).

71

Ebd.

72

Umfassende Untersuchungen zu den stellvertretenden Armeekorps stehen noch aus. Zu erwähnen ist

Wolf-Rüdiger Schrumpf, Territoriale Kommandogewalt und zivile Verwaltungskompetenz im Ersten Weltkrieg. Konsens, Kooperation, Konflikt. Eine Studie über die Aktivitäten des Stellvertretenden Generalkommandos des VII. Armeekorps und der Mittelbehörden der Provinz Westfalen bei der Versorgung der Zivilbevölkerung. Münster 1995. 73

Schier, Standesherren (wie Anm.6); Netz, Standesherren und liberale Bewegung (wie Anm.6); Gollwit-

zer, Die Standesherren (wie Anm.6). Zur Situation der adligen Militärs in der Weimarer Republik vgl. auch Reif, Adel (wie Anm.17), 96–99.

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rischen Niederlage, doch ob man dies auch mit den gesellschaftlichen Umständen tun musste, ob man sich lieber ins Privatleben zurückzog, sofern dies finanziell überhaupt möglich war, oder ob man die in Offizierskreisen geknüpften Kontakte dazu nutzte, Arbeit, Brot und Anerkennung zu erhalten, war eine persönliche Entscheidung. Die älteren Offiziere entschieden sich eher gegen die Republik und für eine „Kapitulation vor den Verhältnissen“, die jüngeren erkannten die Chance, die zum Beispiel in einer Beteiligung an den Freikorps lag. 74 Hier konnten sie den Vorteil ihrer militärischen Ausbildung nutzen. Adlige Soldaten traten dann auch in konservativen und liberalen politischen Diskursen in Erscheinung. 75 So schwankte auch Hindenburg während seiner Reichspräsidentschaft zwischen Aufrechterhaltung der Weimarer Verfassung, der Verteidigung der Weimarer Republik und der Einführung einer Wahlmonarchie auf konservativ-nationaler Grundlage. 76 Während sich einige Offiziere aktiv in Politik und Freikorps betätigten, verlegten sich viele im Ersten Weltkrieg hochstehende Militärs auch auf die Deutung der Geschichte. Sie wollten den nicht mehr zu gewinnenden Krieg in ihren Schriften noch nachträglich umdeuten. In diese Richtung zielte die Dolchstoßlegende, die Hindenburg im Untersuchungsausschuss des Reichstages öffentlich machte und die unter anderem dazu dienen sollte, das Versagen der Militärs zu verschleiern. 77 Dies fiel dem „Sieger von Tannenberg“ aufgrund seiner Popularität leicht, gleichzeitig bot es aber anderen Offizieren eine Entschuldigung für den Verlust ihrer Stellung. Die Dolchstoßlegende hatte also neben der nach außen entschuldigenden Funktion auch eine nach innen stabilisierende Funktion für die adligen Militärs, die sich mit der Republik nicht arrangieren mochten. Das Beispiel eines vermeintlich unpolitischen Militärschriftstellers bietet Generalleutnant Otto von Moser. Auch er durchlief eine klassische Militärkarriere 78, 74 Zu einer neuen Beurteilung der Freikorps vgl. Peter Keller, „Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921. (Krieg in der Geschichte, Bd. 84.) Paderborn 2014. 75 Ebd.102–107. 76 Ebd.108–111. 77 Boris Barth, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 61.) Düsseldorf 2003. 78 Zum folgenden Lebenslauf vgl. Hanns Möller, Geschichte der Ritter des Ordens pour le mérite im Weltkrieg. Bd. 2. Berlin 1935, 57–59, und Stephan Miller, Moser, Otto von, kgl. württ. Generalleutnant und Militärschriftsteller, in: Württembergische Biographien. Bd. 1. Stuttgart 2006, 183f. Vgl. auch ders., Generalleutnant Otto von Moser (1860–1931), in: ZWLG 63, 2004, 369–380.

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wurde zunächst an die militärische Turnanstalt und schließlich zur preußischen Militärakademie kommandiert, wo er drei Jahre lang ausgebildet wurde. Auch von Moser wurde in den Großen Generalstab aufgenommen und anschließend Regimentskommandeur. 79 Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges war von Moser Kommandeur der 53. Infanteriebrigade, er diente in verschiedenen Positionen an Ostund Westfront und wurde im Juli 1918 in den Ruhestand verabschiedet. 80 Bereits während seiner aktiven Zeit verfasste von Moser einige Schriften 81, darunter 1908 eine Analyse des Deutsch-Französischen Krieges 82 sowie Schriften zur Ausbildung und Führung militärischer Einheiten 83. Während des Weltkriegs gab er seine Tagebuchaufzeichnungen zum Jahr 1914 heraus, 1920 sogar eine Gesamtausgabe. 84 Erst jetzt begann von Moser politisch-historische Schriften zu veröffentlichen, die immer mehr apologetischen Charakter gewannen. Das bis heute vielgelesene Buch „Die Württemberger im Weltkrieg“ gilt als eine Art Kriegstagebuch „für das einfache Volk“. Die Beteiligung der württembergischen Regimenter am Ersten Weltkrieg wird hier als Schlachtengeschichte dargestellt. Das Buch enthält einen kurzen historischen Rückblick, ein Organisationsschema des Armeekorps in Krieg und Frieden sowie eine Liste der Ordensträger des württembergischen Militärverdienstordens. 85 Das Buch fand sich in vielen württembergischen Haushalten und prägte daher ganz entscheidend das Bild des württembergischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Eine grundlegende Auseinandersetzung über den Weltkrieg veröffentlichte von Moser unter dem Titel „Kurzer strategischer Blick über den Weltkrieg 1914–1918“ 86, danach verfasst er „Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg: Eine militärisch-po-

79

Moser übernahm zuerst das (1. württembergische) Grenadierregiment Königin Olga Nr.119, 1906

übernahm er das II. Bataillon des (2. württembergischen) Infanterieregiments Kaiser Wilhelm Nr.120 und 1912 erhielt er das (3. württembergische) Infanterieregiment Altwürttemberg Nr.121. 80

Möller, Geschichte (wie Anm.78), 58f.

81

Otto von Moser, Reimereien eines Soldaten. Stuttgart 1895.

82

Ders., Kurzer strategischer Überblick über den Krieg 1870/71. Berlin 1908.

83

Ders., Die Führung des Armeekorps im Feldkriege. Berlin 1913; ders., Ausbildung und Führung des Ba-

taillons, des Regiments und der Brigade: Gedanken und Vorschläge. Berlin 1914. 84

Ders., Kampf- und Siegestage 1914: Feldzugsaufzeichnungen. Berlin 1915: ders., Feldzugsaufzeichnun-

gen 1914–1918 als Brigade-Divisionskommandeur und als Kommandierender General. Stuttgart 1920.

148

85

Ders., Die Württemberger im Weltkriege. Stuttgart 1927.

86

Ders., Kurzer strategischer Überblick über den Weltkrieg 1914–1918. Berlin 1921.

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litische Geschichte des Krieges für Fachleute und Nichtfachleute“ 87, dem „Das militärisch und politisch Wichtigste vom Weltkriege“ 88 folgte. 1931 veröffentlichte von Moser schließlich „Die obersten Gewalten im Weltkrieg“. 89 Alle diese Publikationen belegen freilich weder die politische Gesinnung des Autors noch die des Lesers, es ist sogar anzunehmen, dass die hohe Verbreitung auch dadurch erreicht wurde, dass insbesondere die Regimentsgeschichten als kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg fungierten und die Bände einfach in den Bücherschrank wanderten. Gleichzeitig belegt die hohe Verbreitung aber dennoch das immense Interesse an solchen Themen. Von Moser schrieb also nicht nur für den kleinen Teil der württembergischen Bevölkerung, der tatsächlich an der Front gekämpft hatte, sondern vor allem auch für die Zivilisten, die wissen wollten, „wie es eigentlich gewesen“ war, wie der Krieg verlorengehen konnte und welche Maßnahmen zu einem positiven Ende geführt hätten. 90 Die Schriften dienten daher vor allem der Selbstvergewisserung der württembergischen Bevölkerung im Allgemeinen und der adligen Militärs im Besonderen. Von Moser war also einer der wichtigsten und produktivsten Militärschriftsteller seiner Zeit 91, 1927 wurde ihm sogar die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen verliehen. Sein Einfluss auf die öffentliche Meinung über den Ersten Weltkrieg war unbestreitbar hoch, seine ausdauernde Betätigung suggerierte, dass weniger das Militär an der Niederlage Schuld trage, vielmehr habe die politische Führung, insbesondere das Eingreifen Einzelner, also vor allem des Kaisers in den ersten Kriegstagen, dazu geführt, dass Deutschland den Krieg verloren habe. Seiner Ansicht nach wäre der Feldzug mit besserer Strategie und Taktik und weniger politischer Rücksichtnahme erfolgreicher verlaufen. Unausgesprochen sollte mit diesen Schriften der von preußischer Seite stets erhobene Vorwurf entkräftet werden, die württembergischen Truppen seien unzuverlässig und wenig einsatzfähig gewesen. Die Werke stellten eine Apologetik des verlorenen Krieges nach innen und außen dar, das ganze Werk Mosers atmet diesen Geist. Diese Botschaft versteckte Moser aber geschickt in recht langen Darstellungen 87 Ders., Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg. Eine kritisch, militär-politische Geschichte des Krieges für Fachleute und Nichtfachleute. Stuttgart 1925. 88 Ders., Das militärisch und politisch Wichtigste vom Weltkriege. Stuttgart 1926. 89 Ders., Die obersten Gewalten im Weltkrieg. Stuttgart 1931. 90 Allein das Buch „Die Württemberger im Weltkrieg“ erreichte innerhalb kurzer Zeit drei Auflagen. 91 Seine Bücher erreichten alle die zweite beziehungsweise dritte Auflage.

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einzelner Schlachten, nur in kurzen Überblicken oder zusammenfassenden Kommentaren wurde er deutlicher. Gerade das Subtile seiner Publikationen führte zu deren Popularität. Ob seine Thesen zutrafen oder nicht, interessierte das Publikum weniger. Auch seine politische Gesinnung wurde in den Publikationen nicht recht deutlich, da er ein breites Publikum ansprechen wollte. So ließ von Moser den Leser stets im Unklaren, wie er persönlich zur Weimarer Republik stand, offen attackiert hat er sie freilich nicht. Dies hätte seiner Intention widersprochen, denn er wollte erzählen, wie es hätte sein können und welchen Wert die württembergischen Truppen im Ersten Weltkrieg gehabt hatten. Von Moser äußerte also keine radikalen oder außergewöhnlich konservative Positionen, er artikuliert aber das Lebensgefühl der ehemaligen adligen Offiziere in besonderer Weise.

V. Resümee Das Konzept des Adligseins und die Projektionsflächen von Adel zeigen sich in der kaiserzeitlichen deutschen Armee deutlich: Die Bedeutung der Eigenschaft Adel war abhängig vom gesellschaftlichen Kontext und der Anforderung der zunehmend bürgerlichen Umwelt. Die Zugehörigkeit zum Adel bot den Militärs zwar noch einen gewissen gesellschaftlichen Status, verlor aber durch die Professionalisierung der deutschen Armee zunehmend an Bedeutung bzw. besaß aufgrund spezifischer Faktoren im kleinen Württemberg schlicht nicht die Bedeutung, die man dem Konzept Adel zuvor zugeschrieben hatte. Die Armee war im 19. und beginnenden 20.Jahrhundert wesentlich funktionaler, das heißt weniger personenbezogen und stärker durch Sachzwänge organisiert als durch familiäre Netzwerke und gruppenspezifische Mentalitäten geprägt. Gleichzeitig zeigen die drei gewählten Beispiele von Moltke, von Hindenburg und von Moser, wie unterschiedlich die Angehörigen des Adels in der Armee auftreten konnten und dass allein aufgrund dieser sozialen Unterschiede kein gemeinsames Handeln möglich war bzw. andere Faktoren wie die Zugehörigkeit zu einer Generation, unterschiedliche Kurse im Großen Generalstab oder politische Ansichten bestimmend wurden. Kurzum, Adligsein ist ein Konzept, das nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches einen großen Teil seines Prestiges eingebüßt hatte und gerade in der Armee durch andere soziale Faktoren begrenzt bzw. schließlich ganz abgelöst wurde. Dies heißt aber nicht, dass Adligsein überhaupt keine Rolle mehr gespielt hätte. Die Projektionsfläche Adel erlaubte auch

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weiterhin die Funktionen der gesellschaftlichen Gruppe bzw. die entgegengebrachten Zuschreibungen von Nichtadligen zu nutzen, nur innerhalb der Armee bot das Konzept Adligsein keinen wesentlichen Vorteil mehr. Der Adel verschwand im Laufe des Untersuchungszeitraums also nicht aus der Armee, sondern er veränderte vielmehr seinen sozialen Status und bot damit neue Projektionsflächen, die im Laufe des 20.Jahrhunderts weiter genutzt werden konnten und genutzt wurden. Kurz gesagt, je weniger Adligsein Status und Funktion der Mitglieder bedingte, umso wichtiger wurden soziale Selbstzuschreibung und Wahrnehmung von außen. In diesen Beziehungen und Abhängigkeiten liegt noch großer Forschungsbedarf.

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Adligsein qua Sozialengagement? Praktiken und Deutungen in Autobiografien adliger Frauen um 1900 von Monika Kubrova

I. Seit dem Aufkommen der modernen Autobiografie um 1800 war diese vornehmlich ein Medium der Selbstpräsentation bürgerlicher Künstler, Gelehrter und Schriftsteller. Spätestens seit dem letzten Drittel des 19.Jahrhunderts erweiterte sich das soziale Spektrum dann allerdings erheblich. Dienstboten und Strafentlassene, Hausfrauen und Aktivistinnen der Frauenbewegung, Arbeiterinnen und Arbeiter nutzten das Genre, um ihr jeweiliges Selbst-Weltverhältnis öffentlich zu artikulieren. Zu diesem um 1900 deutlich anschwellenden Strom von Lebenserinnerungen trugen auch die Publikationen von adligen Frauen und Männern bei. 1 Als Quellen der Geschichtswissenschaft werden Autobiografien unter dem Oberbegriff „Ego-Dokumente“ geführt. 2 Die in jüngerer Zeit unterbreiteten Vorschläge des methodischen Gebrauchs von Autobiografien weisen vielfältige Überlegungen auf, wie dem komplexen Wechselspiel von Subjekt, Textualität und Referenzialität

1 Zur Geschichte der Autobiografie allgemein Günther Niggl (Hrsg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989; Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000. Zur Autobiografie um 1900 und im frühen 20.Jahrhundert: Volker Hoffmann, Tendenzen in der deutschsprachigen autobiografischen Literatur 1890–1923, in: Niggl (Hrsg.), Autobiographie (wie Anm.1), 482–519; Erhard Schütz, Autobiographien und Reiseliteratur, in: Bernhard Weyergraf (Hrsg.), Literatur in der Weimarer Republik 1918–1933. München/Wien 1995, 548–600. Zu sozialen Gruppen zum Beispiel Charlotte Heinritz, Auf ungebahnten Wegen. Frauenautobiographien um 1900. Königstein, Taunus 2000; Marcus Funck/Stephan Malinowski, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozialund Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: HA 7, 1999, 236–270. 2 „Ego-Dokumente“ werden als Texte definiert, die über „die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren“. Vgl. Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, in: Bea Lundt/Helma Reimöller (Hrsg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Köln 1992, 435. Vgl. auch ders. (Hrsg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996.

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beizukommen ist. Dabei wird deutlich, dass es keinen Königsweg gibt, sondern mehr oder minder plausible Lesarten im Umgang mit dieser Quelle existieren. 3 Die folgende Darstellung beruht auf einem hermeneutischen Ansatz, der Autobiografien als Quelle personaler Identität betrachtet. 4 Hierbei greife ich auf einen von Heiner Keupp und KollegInnen herausgearbeiteten Aspekt zurück: Als „Identitätsbaustein“ neben anderen heben sie die Bedeutung biografischer Kernnarrationen als „Selbstideologie einer Person“ hervor. Darunter wird die bewusste, sprachlich verfasste Arbeit an der eigenen Identität in Abgrenzung zum teilweise unbewussten und unartikulierten Identitätsgefühl einer Person verstanden. Kernnarrationen bieten „Lesarten des eigenen Selbst“ und dienen sowohl der Verständigung mit anderen als auch der aktuellen Selbstvergewisserung einer Person. 5 In Hinblick auf Autobiografien ließe sich auch von „zentralen Lebensthemen“ oder „zentralen Lebenslinien“ sprechen. Gemeint ist die formale und inhaltliche Gestaltung des gelebten Lebens zu einer oder mehreren Kernerzählungen. 6 Nutzt man Kernnarrationen als Sonde durch das autobiografische Material, so öffnen sich an die Ich-Erzählerin rückgebundene Erzählungsräume, die Aufschluss darüber geben, welche vergangenen Handlungs- und Erfahrungskontexte vergegenwärtigt wurden und welche Bedeu-

3 Vgl. etwa Dagmar Günther, Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs. Tübingen 2004, besonders 1–19; dies., And Now for Something Completely Different. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: HZ 272, 2001, 25–61; Volker Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, in: GG 29, 2003, 441–476; Günter Müller, „Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir...“ Über Zugangsweisen zur popularen Autobiografik am Beispiel der „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ in Wien, in: HA 5, 1997, 302–318. Zum systematischen Ort der Autobiografie in der Literaturwissenschaft, zur älteren und aktuellen theoretischen Diskussion vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (wie Anm.1). 4 Zum Zusammenhang von Identität und Autobiografie unter anderem Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit (wie Anm.3), besonders 466–468; Michael von Engelhardt, Biographie und Identität. Die Rekonstruktion und Präsentation von Identität im mündlichen autobiographischen Erzählen, in: Walter Sparn (Hrsg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge. Gütersloh 1990, 197–247; die Beiträge in Kapitel 3 „Identität und Autobiographie“ von Manfred Fuhrmann, Odo Marquard, Manfred Sommer, Wolfhart Pannenberg, Hans Ulrich Gumprecht und Hans Robert Jauss, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität. München 1979. 5 Heiner Keupp/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999, 217, 229–235, Zitate 242, 232. 6 So Heinritz, Auf ungebahnten Wegen (wie Anm.1), 434ff.; Michael von Engelhardt, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens im 20.Jahrhundert, in: Magdalene Heuser (Hrsg.), Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Tübingen 1996, 368–392, besonders 371ff.

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tungen die Autobiografinnen diesen zuschrieben, um sich selbst in der eigenen Gegenwart zu vergewissern. Betrachtet man die Autobiografien daraufhin, was adlige Verfasserinnen aus ihrem Leben als erwachsene Person erinnerten, so lassen sich als kleinster gemeinsamer Nenner vier Erzählräume identifizieren, die einander überlappen und von den Autorinnen quantitativ und qualitativ unterschiedlich gestaltet wurden. Zu den Räumen, in denen sie ihr Selbst und dessen Beziehungen zu Anderen artikulierten, gehörten Ehe und Kernfamilie, jener der männlich geprägten Berufswelt, der der Hof- und guten Gesellschaft und der Raum des sozialen Engagements. Diese Räume können als sensibel für die adlige Existenz gelten: Die Ehe war traditionelle Voraussetzung für die Zeugung legitimer Nachkommen und sorgte so auf generativer Ebene für die Fortexistenz des Adels. Mit der männlich geprägten Berufswelt ist neben den grund- beziehungsweise gutsherrschaftlichen Aufgaben der militärische und diplomatische Dienst erfasst, das heißt tradierte Berufsfelder, denen der Adel auch im 19.Jahrhundert trotz aller Veränderungen stets verhaftet blieb. Ebenso blieben die Höfe bis 1918 eine Domäne des Adels. Und das Sozialengagement schließlich gehörte gerade in seiner patriarchalischen Ausprägung zum tradierten Bestand von Adelsherrschaft und Adelskultur. 7 Im Folgenden geht es um den Erzählraum des Sozialengagements. 8 Obwohl christlich-soziale Aktivitäten im 19.Jahrhundert von hoher Bedeutung für das Selbstbild einer Gruppe waren, die sich im besonderen Maße auf Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl berief, ist das historiografische Forschungsinteresse an den Wegen des Adels in die politischen Parteien und Verbände ausgeprägter als am ehrenamtlichen Engagement außerhalb dieser Institutionen. 9 Für die Frauen- und

7 Zu Handlungsfeldern des Adels im 19.Jahrhundert Heinz Reif, Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 55.) München 1999, besonders 15–29 und 74–89. 8 Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines Aspekts meiner Dissertation, der das Sozialengagement in Autobiografien adliger Frauen thematisiert, vgl. Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 12.) Berlin 2011, besonders 170–196. 9 Zu Selbstbild und karitativem Engagement Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite. Göttingen 1979, 449–456; Silke Marburg, ... sub estos signis militamus. Adlige Selbstsymbolisierung in der Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: dies./ Josef Matzerath (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Köln/ Weimar/Wien 2001, 17–44; sehr knapp und damit das Desiderat bestätigend dazu die überblicksartige Einführung zum Adel von Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne. Göttingen 2006, 29 und 142–150. Zu

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Geschlechtergeschichte hingegen gehören Karitas, Wohltätigkeit und soziale Arbeit inzwischen zum Handbuchwissen. Hierbei steht das weibliche Engagement insbesondere für Notleidende zumeist im Deutungsmodell sich erweiternder Handlungsspielräume und einer zunehmenden Partizipation an der politischen Öffentlichkeit. 10 Da adlige im Gegensatz zu bürgerlichen Frauen kaum einmal Gegenstand der Neueren und Neuesten Geschichte gewesen sind 11, ist es keinesfalls zwingend, deren sozialengagiertes Handeln als Strang einer umfassenden Emanzipationsgeschichte zu interpretieren. 12 Insofern ist die Frage nach dem sozial-kulturellen Sinn des Sozialengagements im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert zunächst als offen zu betrachten. Im Hinblick auf die Lebenserinnerungen wird im Folgenden gefragt, welche Handlungslogik die Verfasserinnen ihren Aktivitäten unterlegten und in welche Deutungszusammenhänge sie diese rückten. Waren diese Sinnkonstruktionen geeignet, Adligsein zu profilieren und somit Gruppenzugehörigkeit zu symbolisieren? Präziser gefragt, war das Sozialengagement ein Erzählraum, in dem Autorinnen sich selbst und ihre eigene Geschichte in einer als kollektivbindend verstandenen Leitvorstellung präsentierten? „Adligsein“ markiert nachfolgend eine Differenz zum Begriff der „Adligkeit“, das als statisches, in seinen Grundzügen verbindliches und historische Kontinuität behauptendes Kulturmodell herausgearbeitet wurde. Das Modell beansprucht ein Set kollektiv geteilter Werte und Vorstellungen, die den Einzelnen maßgeblich prägten und hierüber den Gruppenzusammenhalt konstituierten. 13 Im Zentrum des Modells steht neben der Familie die über Jahrhunderte ausgeübte Herrschaft über ‚Land und Leute‘, mit der der Adel bis in das 20.Jahrhundert hinein politische Führung und gesellschaftliche

den Wegen in die Parteien und Verbände im Forschungsüberblick Reif, Adel im 19. und 20.Jahrhundert (wie Anm.7), 108–112; Hansjoachim Henning, „Noblesse oblige?“ Fragen zum ehrenamtlichen Engagement des deutschen Adels 1870–1914, in: VSWG 79, 1992, 305–340; speziell zum Weg Adliger in die Verbände der Neuen Rechten im Kaiserreich Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2004,175–189. 10 Mit weiterführenden Hinweisen Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2000,156–163; Michelle Perrot, Ausbrüche, in: Geneviève Fraisse/Michelle Perrot (Hrsg.), Geschichte der Frauen. Bd.4: Das 19.Jahrhundert. Frankfurt am Main/New York 1994, 506–513. 11

Zum Forschungsstand Kubrova, Vom guten Leben (wie Anm.8), 10–17.

12

So bei Eckart Conze, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert.

Stuttgart/ München 2000, 320–324. 13

Funck/Malinowski, Geschichte von oben (wie Anm.1); Malinowski, Vom König zum Führer (wie

Anm.9), 47–117.

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Sonderstellung beanspruchte. 14 Die von mir untersuchten Autobiografien kamen hingegen über weite Strecken ohne Rückbezüge auf solche Leitvorstellungen aus, was schlicht darin begründet ist, dass Kernnarrationen zunächst das eigene Selbst thematisieren, wobei es den Autorinnen unbenommen bleibt, ihrer eigenen Geschichte in Hinblick auf einen kollektiven Zusammenhang Bedeutsamkeit zu verleihen. Hierbei lässt sich beobachten, dass die erzählerische Hervorbringung von Adelssinn an bestimmte Situationen und Kontexte gebunden und kaum mit weit zurückreichenden Kontinuitätsbehauptungen aufgeladen war. „Adligsein“ ist aufgrund dieser Beobachtung kein Gegenbegriff zu „Adligkeit“, sondern meint eine Untersuchungsperspektive, die in Anlehnung an den „Wertehimmel“ in der Bürgertumsforschung davon ausgeht, dass überindividuelle Sinnkategorien je nach gesellschaftlichen und zeitlichen Kontexten Veränderungen unterliegen und ihre Wirkungsmacht genau in dem Maße besitzen, wie sie von den Individuen praktisch und geistig angeeignet werden. 15 In diesem Sinn lässt sich die Frage nach Adligsein qua Sozialengagement unter das Thema „Projektionsflächen von Adel“ rubrizieren. Bis in die Gegenwart gelten Benefizveranstaltungen zugunsten Bedürftiger als eine Form gesellschaftlichen Engagements, mit der nichtstaatliche Akteure ihre Orientierung auf das Gemeinwohl demonstrieren können. Und heute wie in der Vergangenheit kann darüber gestritten werden, zu wessen Nutzen das geschieht. In sozialreformerischen Kreisen um 1900 wurden beispielsweise Wohltätigkeitsbasare, Dilettantenkonzerte und Amateurtheateraufführungen zugunsten Hilfsbedürftiger wie Armer, Kranker, Waisen und Kriegsinvaliden als „Wohltätigkeitsrummel“ betrachtet. Die Kritik lautete, dass dieser dem Prestige und Vergnügen der Wohltäter, nicht aber der Sache galt. 16 Dessen ungeachtet waren solche Aktivitäten im Bürgertum wie Adel verbreitet und besaßen nicht zuletzt für adlige Angehörige der guten Gesellschaft ihren spezifischen Sinn. 14 Funck/Malinowski, Geschichte von oben (wie Anm.1), 253–266; Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm.9), 104–117. 15 Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19.Jahrhundert, in: GG 23, 1997, 333–360; dies. (Hrsg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19.Jahrhunderts. Göttingen 2000; Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997). Göttingen 2000, 319–339; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850). Göttingen 2000. 16 Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871– 1929. 2., überarb. Aufl. Opladen 1994, 78.

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II. Die um 1890 verfassten Lebenserinnerungen von Maximiliane Gräfin Oriola (1818–1894) fassen diese Spezifik besonders prägnant. Oriola war kraft ihrer Herkunft, auch durch die persönliche Bekanntschaft mit Angehörigen des Hauses Hohenzollern sowie durch ihre Heirat mit Eduard Graf Oriola (1809–1862) ein hochangesehenes Mitglied der Berliner Hofgesellschaft. Als ihr Mann 1862 als Divisionskommandeur im Rang eines Generalleutnants verstarb, übernahm sie die Erziehung ihrer fünf unmündigen Kinder. Oriolas Text zeigt, dass wohltätige Aktivitäten Teil der Geselligkeit der höfisch orientierten Gesellschaft im Berlin der 1860er- und 1870er-Jahre waren. Die permanente Pflege sozialer Beziehungen stellte eine Möglichkeit dar, das Familienansehen zu wahren, und das Investieren in Wohltätigkeit konnte sich in Prestigegewinn ummünzen. Die Gräfin erhielt und mehrte auf diesem Weg das mit dem Familiennamen verbundene symbolische Kapital für die heranwachsende Generation. Die Autorin erinnert sich an die Jahre vor und nach dem Krieg von 1870/71 als eine Zeit der „Hochflut der Wohltätigkeitsbasare“, welche die „Berliner Gesellschaft überschwemmte“. 17 Auf Initiative und unter dem Protektorat der Frauen des Hauses Hohenzollern folgte in kurzen Abständen Basar auf Basar. Die Reaktion darauf formuliert sie wie folgt: „Jedesmal, wenn ein neuer Basar angekündigt wurde, ging ein allgemeines Seufzen durch die Gesellschaft: die Damen seufzten, weil sie nun wieder neue Handarbeiten machen oder zum Verkauf geeignete Gegenstände selbst kaufen oder schenken mußten, am meisten seufzten die, die von hoher Stelle mit dem Arrangement des Ganzen betraut wurden, und die Herren seufzten wegen des Angriffs auf ihre Börse – aber entziehen konnte sich niemand dieser gesellschaftlichen Verpflichtung. Es kamen ja auf diese Weise auch große Summen für gute Zwecke zusammen, und schließlich amüsierte sich im Trubel dieser Feste doch ein jeder so gut es eben ging.“ 18

Dieser Stimmungsbericht ist hinsichtlich der Handlungslogik von Wohltätigkeit aufschlussreich: Die tradierte Karitas war keine stetig praktizierte Tugend und auch das Gebot „Adel verpflichtet“ war keine selbstverständliche Handlungsorien17

Johannes Werner, Maxe von Arnim, Tochter Bettinas/Gräfin von Oriola 1818–1894. Ein Lebens- und

Zeitbild aus alten Quellen geschöpft von Johannes Werner. Leipzig 1937, 253 (verfasst um 1891). 18

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Ebd.253f.

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tierung. 19 Es bedurfte vielmehr der Aufforderung. Einmal als „gesellschaftliche Verpflichtung“ akzeptiert, besaß Wohltätigkeit die Macht, Menschen der ‚guten Gesellschaft‘ in ihren Bestrebungen zusammenzuschweißen. Diese waren nicht zuerst darauf gerichtet, Notleidenden zu helfen, sondern einer Forderung von höchster Stelle zu folgen. Hierüber banden sich Gesellschaftsangehörige auf spezifisch höfische Weise. Wohltätige Aktivitäten gehörten zum gesellschaftlich-geselligen Verkehr und seinem „eigentümliche[n] Doppelgesicht“, das zugleich dem Vergnügen und der Selbstbehauptung diente. 20 Das heißt, Wohltätigkeit wurde für die ‚gute Gesellschaft‘ dann zum Handlungsfeld, wenn sich die Mitglieder derselben durch Nichtteilnahme in die Gefahr brachten, ihre Stellung zu verlieren oder aber die Teilnahme daran die Möglichkeit barg, ihre Position im Vergleich zu anderen zu verbessern. Wohltätigkeit besaß somit das Potential einer „Arena“, in der die Angehörigen des „Experten der Sichtbarkeit“ (Heinz Reif) um größtmögliche Aufmerksamkeit rangen. 21 Gräfin Oriola nutzte die karitativ-geselligen Aktivitäten, um soziale Beziehungen zu pflegen, zu verstetigen und auszubauen. Letztlich kam dies – ohne dass es explizit intendiert gewesen wäre – den Kindern zugute. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Als verwitwete Offiziersfrau agierte Gräfin Oriola auch nach dem Tod ihres Mannes weiterhin in Militärkreisen. So gehörte sie dem Vorstand des Friedrichsstifts an, einer königlichen Stiftung für Militärwaisen. 22 Außerdem gründete sie nach 1872 gemeinsam mit dem befreundeten Colmar Freiherr von der Goltz (1843–1916), dem späteren Generalfeldmarschall und Militärtheoretiker, die Stiftung „Invalidendank“, die Kriegsinvaliden Unterstützung gewähren und Arbeit verschaffen sollte. Beiden gelang es, die Stiftung zu einer Organisation auszubauen, die jährlich be-

19 Zu Tugend und Gebot Reif, Westfälischer Adel (wie Anm.9), 445–456; Conze, Von deutschem Adel (wie Anm.12), 388ff. 20 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. 7.Aufl. Frankfurt am Main 1994, 84. 21 Zur kulturell praktizierten Wohltätigkeit unter dem Gesichtspunkt von Elitenvergesellschaftung (hier: Aristokratie und Künstlertum) Halina Beresnevičiūtė-Nosálová, Kulturelle Öffentlichkeit als Arena der Elitenvergesellschaftung. Wilna und Brünn in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in: Karsten Holste/ Dietlind Hüchtker/Michael G. Müller (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19.Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 10.) Berlin 2009, 269–292. 22 Werner, Maxe von Arnim (wie Anm.17), 254.

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trächtliche Unterstützungsgelder an das Kriegsministerium abgab. 23 Im Zuge ihrer Wohltätigkeit für Angehörige im Militär lernte Oriola Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800–1891) kennen. Sie stellt ihn nicht als militärischen Strategen und kriegerischen Mitbegründer des Kaiserreiches vor, sondern als einen in ihrem Haus verkehrenden Musikliebhaber. Sie selbst wiederum war Mitglied des Chorvereins, der in Moltkes Haus probte und gemeinsam mit einem sich aus Offizieren zusammensetzenden Orchester Wohltätigkeitskonzerte in der Kriegsakademie veranstaltete. 24 Später traten dann zwei Söhne der Gräfin in die Armee ein. Die Wahrscheinlichkeit dafür war bei einer nicht gutsbesitzenden Adelsfamilie in Preußen hoch. Die wohltätigen Aktivitäten der Mutter im Kontext des Militärs dürften den Namen Oriola im aktuellen Gedächtnis der Mitstreiter und womöglich auch die Erinnerung an den General Oriola bewahrt haben. „Die Spezialität meines Hauses wurden Theateraufführungen zugunsten der Armen“ 25, benennt Oriola ihren weiteren Beitrag an wohltätigen Unternehmungen. Die Aufführungen fanden innerhalb der Saison, der intensivsten Zeit gesellig-gesellschaftlichen Lebens, statt und wurden mit der Zeit so „[b]erühmt“, der „Andrang so groß“, dass sie mehrfach wiederholt werden mussten. 26 Oriola war die Regisseurin, als Schauspieler agierten ihre eigenen Kinder und die männliche wie weibliche Jugend, zumeist Angehörige ihres weiten Bekannten- und Verwandtenkreises. 27 Das ‚Karitas-Theater‘ fungierte sogar als Heiratsmarkt. 28 Darüber hinaus mochte das Theaterspiel den am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehenden Männern und den jungen Frauen, die im Begriff waren, „in die Welt“ einzutreten, Übung im geselligen Umgang sowie einen Vorsprung an Bekanntheit verschafft haben. Wenn Oriola konstatiert, „[m]ein Verkehrskreis hatte sich immer mehr erweitert“ 29, so stand dies auf jeden Fall im Zusammenhang mit ihrem wohltätig-geselligen Engagement. Die Gräfin richtete einen festen Empfangsabend ein, an dem sie regelmäßig „Diplomaten, Parlamentarier, Gelehrte, Künstler und Offiziere mit ihren Damen“ als Gäste empfing. 30

23

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Ebd.265f.

24

Ebd.269, 289.

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Ebd.259.

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Ebd.259f.

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Ebd.257–259.

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Ebd.257.

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Ebd.270.

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Ebd.270.

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Noch um 1890 – sie war inzwischen über siebzig Jahre alt und nahm nur noch selten am geselligen Leben teil – bezeichnete sie ihren Salon als „merkwürdig gut besucht“ 31, womit sie den Erfolg der Empfangsabende und damit den Zugewinn an Ansehen unterstrich. Zu guter Letzt trugen die sozialen Aktivitäten auch dazu bei, die persönliche Beziehung zum Monarchenpaar zu verstetigen. Die persönliche Bekanntschaft mit Prinz Wilhelm (1797–1888), dem späteren König und Kaiser, rührte von den zahlreichen offiziellen Empfängen und Festen her, an denen die Autorin seit ihrem Debüt als junge Erwachsene regelmäßig teilgenommen hatte. 32 Über die Ehe mit Oriola wurde auch der Kontakt zur späteren Kaiserin Augusta (1811–1890) persönlicher. Graf Oriola war der Prinzessin ein „vertrauter Ratgeber“ 33, und diese war häufig im Hause Oriola zu Gast. In Berlin wurde das Paar regelmäßig zu den „intimen Teeabenden [...] befohlen“, die Gräfin Oriola nach dem Tod ihres Gatten weiterhin besuchte. 34 Eine aktivere Stellung in der selbstverständlich formalisierten Beziehung zum Thron gewann die Gräfin, als der Kaiser das Protektorat über den „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen“ übernahm, dessen Vorstandsmitglied sie war. Zu ihren Aufgaben gehörte es nun etwa, den Kaiser durch Ausstellungen zu führen und bei seinen Ankäufen zu beraten, so dass sie dem Förderverein außerordentlich nützlich wurde. 35 Zugleich war Oriola regelmäßig bei den „Kaiserwochen“ im September in Baden-Baden anwesend, um ihre Schwester, die Ehefrau des preußischen Gesandten im Großherzogtum, bei repräsentativen Aufgaben zu unterstützen. 36 Ihr oblag auch hier „die Sorge für die kleinen Aufführungen, die der Kaiser jedesmal nach dem Diner von meinen und Armgarts Töchtern erwartete“. 37 Das gesellschaftliche Entree der Oriola-Töchter, dessen Funktion als Weichensteller für die künftige soziale Platzierung adliger Frauen von großer Bedeutung war, wurde später ein glänzendes. 38

31 Ebd.292. 32 Ebd. zum Beispiel 79, 91, 131, 164f. 33 Ebd.215. 34 Ebd.219, 270, passim. 35 Ebd.253, 270. 36 Ebd.278. 37 Ebd.279, auch 260. 38 Ebd.271f. Zu Funktion und Bedeutung des Entrees für biografische Verläufe adliger Frauen Kubrova, Vom guten Leben (wie Anm.8), 115–128.

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Trotz der beschriebenen Auswirkungen der wohltätigen Aktivitäten auf das gesellschaftliche Prestige kann kein unmittelbarer Zusammenhang von persönlichem Engagement und dem Namenserhalt einer Familie hergestellt werden. Zumindest enthalten Oriolas Erinnerungen keine Hinweise darauf, dass eine Familie etwa wegen Abstinenz einen deutlichen Ansehensverlust erlitten hätte. Wohltätige Aktivitäten stellten jedoch eine Möglichkeit dar, die Position einer Familie zu erhalten oder zu verbessern. Mit diesem spezifischen Sinn präsentiert sich Oriola als Angehörige der ‚guten Gesellschaft‘. Allerdings fällt auf, dass Adligsein als kollektivbindende, handlungsorientierende Vorstellung kaum profiliert wurde. Zwar bezeichnete Oriola Wohltätigkeit als „gesellschaftliche Verpflichtung“ aller, doch wurden keine Bedeutungen beigelegt, die die Verpflichtung als Adelscharakteristikum erkennen lassen. Der Mangel an Deutung scheint damit zusammenzuhängen, dass in Oriolas Lebenserinnerungen die höfisch orientierte Gesellschaft ganz selbstverständlich von Angehörigen des Adels dominiert wurde. Aufgrund dieser Selbstverständlichkeit aber bestand an einem rückblickenden Nachdenken über die Qualitäten der eigenen Herkunftsgruppe offenkundig kein Bedarf.

III. Adda von Liliencron (1844–1913), geborene von Wrangel, veröffentlichte ihre Lebenserinnerungen 1912. Die Jahre 1900 bis 1911 stellen hierin den Erzählungsschwerpunkt des Sozialengagements dar. Zu Oriola gibt es hinsichtlich wohltätiger Aktionsformen einige Ähnlichkeiten, doch betont der Text stärker ihre Vereinsarbeit, die sie insbesondere nach ihrer Verwitwung im Alter von 56 Jahren entfaltete. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Liliencron ihr Engagement in einen anderen sozialen Zusammenhang stellte. In diesem wurde ihre Adelszugehörigkeit durch sozial relevante Andere herausgefordert und bildete den Ausgangspunkt dafür, das eigene Handeln und Denken mit Adligsein aufzuladen. Bereits im Vorwort ordnet sie ihre „Bilder aus dem Arbeitsfelde“ der „Liebesarbeit, die uns Frauen glück- und segenverheißend ihr weites Arbeitsfeld öffnet“ zu. 39 An entsprechender Stelle im Text heißt es dann: „Der Aufgaben sind viele und Arbeits39

Adda Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden. Erinnerungen aus dem Leben einer Offiziersfrau, Ber-

lin 1912, IV.

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kräfte dringend nötig. Je nach Begabung, Neigung und je nach Kräften können wir uns das Feld erwählen und werden das Glück schätzen lernen, das in einer gesegneten Tätigkeit liegt.“ 40 Während sich Oriola innerhalb einer kleinen, exklusiven, gemischtgeschlechtlichen Gruppe verortete, zielte Liliencrons Wir-Bezug in eine andere Richtung. Gemeint waren Frauen, die freiwillig und frei vom Zwang zur Erwerbsarbeit ihre individuellen Fähigkeiten zum Nutzen der Gesamtgesellschaft einsetzten. Diese zeitgenössisch als „Liebesarbeit“ 41 bezeichnete unbezahlte Arbeit versprach Akteurinnen im Rahmen der polaren Geschlechterordnung vor allem Lebenssinn. Liliencrons Auffassung war für das ausgehende Kaiserreich durchaus typisch. Hier wurden die Belange von Frauen in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert, war die Kaiserin Protektorin des größten deutschen Frauenvereins – des Vaterländischen Frauenvereins. Adlige Damen waren in den Vorständen konservativer Frauenvereinigungen vertreten und auch politische Parteien öffneten sich der Mitarbeit von Frauen. 42 Liliencrons „Wir“ bezog sich auf ein Handlungs- und Diskursfeld, das zum Teil nicht zuletzt von Feministinnen initiiert, denen die soziale Arbeit als eigentliche Aufgabe der Frauenbewegung galt, weiblich und bürgerlich konnotiert war. 43 In diesem Zusammenhang kommunizierte Liliencron, dass Frauen am Gesellschaftsganzen mitwirken konnten, wollten und sollten. Insofern formulierte sie unter dem Stichwort der „Liebesarbeit“ eine durchaus konsensfähige Meinung. Ebenso zeittypisch stellten sich Adda von Liliencrons Vereinsaktivitäten dar. Zwischen 1902 und 1912 war sie in unterschiedlich ausgerichteten Vereinen tätig. Als Vorsitzende eines Vereins für kirchliche Armenpflege engagierte sie sich für die 40 Ebd.259. 41 Vgl. den inzwischen klassischen Beitrag Gisela Bock/Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen Juli 1976. Berlin 1977, 118–199. 42 Ulla Wischermann, Frauenbewegungen und Öffentlichkeit um 1900. Netzwerke – Gegenöffentlichkeiten – Protestinszenierungen. Königstein 2003; Andrea Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“. Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900–1937. Düsseldorf 2002. Widerstand hätte aus den Reihen des Antifeminismus kommen können, vgl. Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität. Göttingen 1998. 43 Zum Zusammenhang von Frauenbewegung und sozialer Arbeit und der spezifischen Entwicklung zum Beruf der Sozialarbeiterin vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf (wie Anm.16). Zu Überschneidungen zwischen Frauenbewegung und bürgerlicher Sozialreform Elisabeth Meyer-Renschhausen, Weibliche Kultur und soziale Arbeit. Eine Geschichte der Frauenbewegung am Beispiel Bremens 1810–1927. Köln 1989; Christina Klausmann, Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1997.

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Einrichtung einer Volksküche. Mädchenarbeit leistete sie im Verein „Freundinnen junger Mädchen“ sowie in einem von ihr begründeten informellen Kreis, der sich um die Wiedereingliederung junger Prostituierter kümmerte. Nach ihrem Umzug nach Posen 1907 wurde Liliencron dort Vorsitzende der städtisch und regional agierenden Vereine „Volkswohl“ und „Jugendhort“. Ersterer widmete sich der Aufgabe, innerhalb der deutsch-polnischen Bevölkerung das ‚Deutschtum‘ kulturell zu fördern. Letzterer bot Jungen und Mädchen aus ärmeren und berufstätigen Familien Freizeitbeschäftigungen an, um sie vor Gefahren der Straße wie Prostitution und Kriminalität zu schützen. 44 1907 war sie Gründungsvorsitzende des „Frauenbundes der deutschen Kolonialgesellschaft“. Zwei Jahre später legte sie den Bundesvorsitz des reichsweit agierenden Vereins nieder und konzentrierte sich im Folgenden in Posen auf die Gründung und den Aufbau von Abteilungen des Frauenbundes, die sie dann zu einem Gauverband zusammenfasste. Ihre Leitungsarbeit orientierte sich hierbei am Ziel des Bundes, das ‚Deutschtum‘ durch die Rekrutierung junger Frauen zu fördern, die als Hilfskräfte und potentielle Bräute in die neu erworbenen Kolonien gingen. 45 Als dieser konservativ-nationalistische Frauenbund 46 1911 dem Bund deutscher Frauenvereine beitrat, war sie noch Ehrenvorsitzende der Deutschen Kolonialgesellschaft. Liliencrons Vereinsaktivitäten lassen sich in die Phase der Fundamentalpolitisierung im Kaiserreich einordnen. 47 Den Frauenbund gründete sie in einer Zeit, als sich Frauenbewegungen in Europa zu Massenbewegungen entwickelten und sich deren

44

Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 258–310, passim. Dass die verstreut erzählten

Vereinsaktivitäten ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft und Zusammenarbeit mit anderen Vereinen erforderten, geht aus Lokalstudien sehr viel deutlicher hervor, vgl. zum Beispiel Meyer-Renschhausen, Weibliche Kultur und soziale Arbeit (wie Anm.43). 45

Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 298f., 302. Zur Vereinsgeschichte des Bundes

Lora Wildenthal, German Women for Empire, 1884–1945. Durham 2001. Zur Einordnung des Bundes im Spektrum konservativ-nationalistischer Frauenvereine Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie Anm.42), 67–76. Zur Einordnung der Deutschen Kolonialgesellschaft in adelsgeschichtlicher Perspektive unter dem Gesichtspunkt politischer Radikalisierung Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm.9), 175–189. 46

Einen umfangreichen und noch immer instruktiven Forschungsbericht bietet die Sammelrezension

von Christiane Streubel, Frauen der politischen Rechten in Kaiserreich und Republik. Ein Überblick und Forschungsbericht, in: H-Soz-u-Kult, 10.06.2003, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003– 2-141 [Zugriff am 20.4.2012]. Die überarbeitete Fassung: dies., Historical Social Research 28, 2003, 103–166. 47

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Hans-Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918. Frankfurt am Main 1995, 126–137.

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Organisationen, Verbände und Vereine zunehmend diversifizierten. 48 Das Thema „Frauen und Kolonien“ war dabei nicht ausschließlich auf diesen kolonialgesellschaftlichen Frauenbund beschränkt, sondern gehörte in das breitere Spektrum der nationalen Frauenbewegungen. 49 Und wie diese zielte auch Liliencrons Engagement insbesondere in der Mädchen- und Jungenarbeit darauf ab, durch Verbesserung der Lebensbedingungen der ärmeren Bevölkerungsgruppen soziale Spannungen zu befrieden und Klassengegensätze abzumildern. 50 Analog zu weiten Teilen der Frauenbewegungen war Liliencrons Sozialengagement in den Vereinen an einem modernen Konzept sozialer Arbeit orientiert, das auf persönlicher Beziehung zu den Hilfeempfängern beruhte und die „Hilfe zur Selbsthilfe“ zum Prinzip im Kampf gegen die Armut erhob. 51 Auch wenn Liliencrons Handlungsziele mit jenen in den Frauenbewegungen verbreiteten korrespondierten, geht ihre Erzählung nicht in solchen bekannten Narrativen auf, mit denen in der Frauen- und Geschlechtergeschichte dem organisierten sozialen Engagement von Frauen ein kollektiver Sinn beigelegt wird: Liliencrons Gebrauch des Personalpronomens „wir“ impliziert zwar ein Gruppenbewusstsein, geht aber kaum über die Benennung der weiblichen Teilhabe an gesamtgesellschaftlicher Arbeit hinaus. Ihre Erzählung ist keine explizite und exemplarisch an der eigenen Person präsentierte Emanzipationsgeschichte, die davon handelt, wie sich aus der Beschäftigung mit dem sozialen Elend ein Bewusstsein für die eigene, unterlegene Lage herausbildete, aus dem dann feministische Initiativen zur Überwindung derselben folgten, die zugleich beanspruchten, hierüber die Gesellschaft als

48 Sylvia Paletschek/Bianca Pietrow-Ennker, Women’s Emancipation Movements in Europe in the Long Nineteenth Century: Conclusions, in: dies. (Hrsg.), Women’s Emancipation Movements in the Nineteenth Century. Stanford 2004, 301–333. 49 Ebd.318ff.; Ute Frevert, Die Zukunft der Geschlechterordnung. Diagnosen und Erwartungen an der Jahrhundertwende, in: dies. (Hrsg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Diagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Göttingen 2000, 146ff. Ob und wie Frauen für die Kolonien zu interessieren seien, war auch Anliegen im radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung. Knapp bei Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie Anm.42), 71. 50 Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 298, 304–306. 51 In der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung ist das Konzept untrennbar mit der Person Alice Salomon verbunden, vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf (wie Anm.16), 98–136; Anja Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog 1889–1933. Stuttgart 2004.

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Ganzes zumindest zu verbessern. 52 Liliencron erzählt ebensowenig eine explizit anti-emanzipatorische Ich-Geschichte, die sich als personalisiertes Instrument konservativer Frauenvereine verstünde, um die Forderungen der Frauenbewegung nach gesellschaftlich-politischer Teilhabe zu unterlaufen. 53 Und obwohl der Frauenbund ein nationalistischer Agitationsverein war, präsentiert sich Liliencron auch keinesfalls als Künderin eines imperialen Traums, in dem weiße Frauen als Trägerinnen deutscher Kultur erscheinen. 54 Liliencron erzählt eine andere Geschichte. Es ist eine dezente Herrschaftsgeschichte, die davon handelt, wie sie gebeten wurde, die Leitung von Vereinen zu übernehmen und dieser Position dann durch persönliche Leistung gerecht wurde. Im Zentrum der Handlung steht ein Ich, das zurückhaltend den Führungsanspruch des Adels im Feld sozialer Arbeit für sich beansprucht. Den Beginn dieser Geschichte markiert eine Infragestellung der Protagonistin auf Grund ihres Adels. Liliencron besuchte das städtische Armenhaus, um mit dem „Hausvater“ ein Anliegen ihres Krankenvereins zu erörtern. „An den [Hausvater] wandte ich mich [...] und nannte ihm meinen Namen. Kaum aber hatte ich den über meine Lippen gebracht, so sah ich, wie der Zorn in ihm aufstieg. Mit gerötetem Gesicht, erhobener Stimme und einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung erklärte er mir: ‚Hier kommt mir keine Adlige über die Schwelle!‘“

Auf ihre Nachfrage nach dem Grund erhält sie die wütend erzählte Geschichte von einer Adligen, die „viele Querelen und seine Pflegebefohlenen aufsässig gemacht hätte“. Ihre Gegenfrage lautet: „Und nun nehmen Sie an, daß ich genau so bin wie jenes adlige Fräulein?“ 55 Liliencrons „Hausvater“-Geschichte ist die einzige in der Darstellung, in der sie explizit als Angehörige des Adels angesprochen wird. Das Handlungsfeld Wohltätigkeit markiert Liliencrons Text damit als eines der Auseinandersetzung zwischen

52

Etwa bei Bock, Frauen in der europäischen Geschichte (wie Anm.10), 153–163; Perrot, Ausbrüche (wie

Anm.10), 506–513. 53

Die These, dass insbesondere der Vaterländische Frauenverein von seinen Spitzen dafür genutzt wur-

de, die Forderungen der Frauenbewegung seit den 1890er-Jahren zu torpedieren und zu unterlaufen, vertritt Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie Anm.42), 26–50. 54

Katharina Walgenbach, „Die weiße Frau als Träger deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Ge-

schlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich. Frankfurt am Main 2005. 55

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Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 266f.

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unterschiedlichen sozialen Akteuren, in welcher der Adligen die Kompetenz ‚richtigen‘ Handelns abgesprochen wird. Im Unterschied zur ‚guten Gesellschaft‘ Oriolas, in denen der Zuschnitt des sozialen Engagements von den Spielregeln des Adels bestimmt ist, stellt das Armenhaus einen Ort dar, an dem adlige Aktivitäten ausdrücklich zurückgewiesen werden. Man wird davon ausgehen können, dass dieser in die Zuständigkeit der kommunalen Fürsorge gehörte und wie in anderen Städten auch vom Engagement des lokalen Bürgertums getragen wurde. 56 Insofern symbolisiert das Armenhaus konkurrierende Gemeinwohl-Eliten. 57 Bezogen auf den Text stellt Liliencrons „Liebesarbeit“ eine Antwort der in ihrem Adligsein Herausgeforderten auf die Zurückweisung des Hausvaters dar. Fortan präsentiert sich Liliencron als vorbildliche Adlige mit Gestaltungskraft und Einflussnahme und demonstriert damit die Leistungsfähigkeit des Adels auf diesem Gebiet. Mehrfach betont Liliencron, dass sie darum gebeten wurde, die Vereinsleitung zu übernehmen. Damit weist sie zum einen jeden Eigennutz von sich, zum anderen stellt sie ihr Handeln in zwei Begründungszusammenhänge. Einerseits kann man von einem ‚Auftrag von unten‘ sprechen, andererseits von einem ‚Herrschaftsauftrag von oben‘. Zu ersterem: Es sind ihre bürgerlichen Mitstreiterinnen, die sie um Führung bitten. „Die Damen des Vorstandes von den Vereinen, die ich leitete, kamen zu mir und baten, daß ich unter allen Umständen den Vorsitz behalten möchte. Ich zögerte mit der Annahme [...], auch erschien es mir richtiger, das Amt meinen Stellvertreterinnen zu überlassen. Diese aber weigerten sich auf das entschiedenste, den Vorsitz zu übernehmen, und wiesen auf die Gefahr hin, daß die Polen 58, die mir persönlich die Unterstützung für die Horte versprochen hätten, das zurückziehen könnten, wenn ich die Leitung niederlegte.“ 59

56 Zu den Grundlagen kommunaler Armenfürsorge im Kaiserreich vgl. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf (wie Anm.16), 19–35, zur lokalen Praxis Meinolf Nitsch, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Die praktische Umsetzung der bürgerlichen Sozialreform in Berlin. Berlin/New York 1999. 57 Zur Elitenkonkurrenz, konkret auf dem Gebiet der Gemeindepolitik der ersten Jahrhunderthälfte vgl. Bernhard Löffler, Adel und Gemeindeprotest in Bayern zwischen Restauration und Revolution (1815–1848), in: Heinz Reif (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19.Jahrhundert. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 1.) Berlin 2000, 123–155. 58 Liliencron agierte in der preußischen Provinz Posen, die sich im 19.Jahrhundert zum Krisenherd zwischen Deutschen und Polen entwickelte. Dazu Thomas Serrier, Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschen und Polen 1848–1914. Marburg 2005. 59 Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 309.

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Von einer Zurückweisung analog zum „Hausvater“ des Armenhauses kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr verlangen die Vereinsdamen aus Liliencrons Sicht nach ihrer Leitung und sehen andernfalls wichtige Vereinsziele in Gefahr. Den ‚Herrschaftsauftrag von oben‘ erhält sie von Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg-Schwerin (1857–1920), dem Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft. An ihn tritt sie „mit der Bitte, sich gnädigst über eine eventuelle Gründung dieses Frauenbundes zu äußern und im Falle des Einverständnisses eine Leiterin vorzuschlagen, die besser als ich es verstehen würde, eine so große Sache zu organisieren. Sr. Hoheit dem Herzoge wie der Frau Herzogin waren die Vorschläge ganz genehm, doch wünschten beide, daß ich Gründung und Leitung des Bundes übernähme. So ging ich denn an die Arbeit [...].“ 60

Was im Ton von Höflichkeit, Bescheidenheit und Bestätigung der Adelshierarchie unterzugehen droht, ist die symbolische Aussage, dass hier eine ‚Amtseinsetzung‘ nach tradiertem Vorbild erfolgt. Liliencron erhält einen Auftrag, und dieser entspricht sehr genau dem, was gegenwärtig unter einer Ausprägung – die andere umfasst das Modell „Gutsherrschaft“ – von Adelsherrschaft als eigenständigem Typus verstanden wird. Es ist die Ausprägung „in Form der Herrschaft als Verpflichtung, als persönlich begründeter, verantwortungsvoller ‚Dienst‘ in einem vom Souverän verliehenen Amt“. 61 In diesem Verständnis war Liliencron geradezu von hoher Autorität berufen worden, die Leitung des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft zu übernehmen. 1909 ‚herrschte‘ Liliencron nach eigenen Angaben über 4000–5000 Mitglieder, die vornehmlich bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Kreisen angehörten. 62 Wurde die Bitte der Vereinsdamen als verpflichtend dargestellt, so galt der Wunsch des herzoglichen Paares sogar als zwingend. Mit dieser Legitimation präsentiert sich Liliencron auf dem Feld des Sozialengagements als herrschaftlich Handelnde, die kraft ihrer persönlichen Leistung das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigt. Das Erzählmuster bleibt hierbei das gleiche: Während die bürgerlichen Mitstreiterinnen als furchtsam, zögerlich und handlungsunfähig beschrieben werden, schreitet Liliencron entschlossen, mutig und zielgerichtet zur 60

Ebd.300.

61

Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm.9), 110.

62

Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 302. Zur sozialen Zusammensetzung des Bun-

des, der 1910 ca. 7000 Mitglieder und 71 Zweigvereine umfasste, vgl. Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie Anm.42), 71f.

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Tat. Ob es sich um Gründung und Unterhalt eines Knabenhortes in Posen oder eine Kleinkinderschule in Südwestafrika handelt, immer ist es Liliencron, die die Projekte vorantreibt und andere mitzieht. Zu ihren konkreten Leitungs- und Leistungskompetenzen gehören in der Stilisierung des Textes Selbständigkeit, Selbstsicherheit im Handeln und die Autorität, den eigenen Willen durchzusetzen. Diese Persönlichkeitsqualitäten waren, auch wenn sie teils bürgerlich, teils adlig, vor allem aber männlich anmuten, im Grunde generalisierbar. Doch Liliencron belässt es nicht dabei, sondern ordnet ihre Leitung und Leistung überdies in den Sinnzusammenhang ihrer Familie ein. Sie fühlt sich mit ihren „teueren Vorangegangenen in unzerstörbarer Gemeinschaft“ und ist sich bei dem Gedanken sicher, „sie hätten Freude an meiner Arbeit“. 63 In ihren Lebenserinnerungen nehmen Heldengeschichten männlicher Familienmitglieder einen breiten Raum ein. Sie werden als tapfere und für König und Vaterland opferbereite preußische Offiziere beschrieben. Indem Liliencron ihnen ein literarisches Denkmal setzt, hat sie teil an einem Kollektivkonstrukt, das „Spitzenleistungen einzelner (toter oder lebender) Familienmitglieder als Beleg für die Leistungsfähigkeit ‚des‘ Adels“ ausgibt. 64 Zugleich avanciert das männlich-militärische Familienmotto zum Maßstab des eigenen Handelns: „Auch für mich nahm ich jetzt das Losungswort: ‚Vorwärts mit Gott, frisch drauf und sieghaft durch.‘“ 65 Mit der Bezugnahme auf die Familie und den ‚Herrschaftsauftrag von oben‘ unterstreicht Liliencron nachdrücklich, dass sie ihre persönlichen Leistungen als adlige Leistungen verstanden wissen will. Auch lässt sie keinen Zweifel aufkommen, dass ihre Arbeit gesamtgesellschaftliche Wirkung besaß und insbesondere im gemischtethnischen Posen zur Einebnung deutsch-polnischer Differenzen führte. 66 Symbolisch lässt sie ihre Wirkung anlässlich eines Festes, mit dem sie sich aus Posen verabschiedet, hervortreten: „[Hier vereinigten] sich alle Kreise und Stände, mit denen mich meine Arbeit zusammengeführt hatte. Da traten alle Gegensätze der Nationalität, der Religion und des Standes zurück, und in vollster und ungetrübter Harmonie klang das Abschiedsgeläute aus.“ 67

63 Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 262. 64 Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm.9), 56. 65 Freifrau von Liliencron, Krieg und Frieden (wie Anm.39), 273. 66 So präsentiert sie sich als Initiatorin einer polnisch-deutschen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fürsorge, die vorher undenkbar schien, vgl. ebd.266, 304–306. 67 Ebd.310.

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Was sich hier in einem Sozialfrieden manifestiert, ist weniger der „Glauben an eine bessere Welt“ als ein von Frauen und Männern getragenes zentrales Motiv bürgerlichen Engagements 68, sondern stärker die Behauptung von Adelsstatus und Ansehen. 69 Am Anfang der organisierten „Liebesarbeit“ stand die strikte Zurückweisung im städtisch verankerten fürsorgerischen Vereinswesen, die Liliencron in ihrer Gruppenzugehörigkeit herausforderte. Als Antwort profilierte Liliencron ein Adligsein, das der Herausforderung mehr als gerecht wurde und den Adel im Konkurrieren um den Status einer Gemeinwohlelite als überlegen präsentiert. Damit erweist sich Adligsein als Effekt einer bürgerlich-adligen Konkurrenz. Erst in dieser Beziehung wird das persönliche Handeln einer sozial engagierten Akteurin mit einem spezifisch adligen Sinn aufgeladen, der hier auf die zeitgenössischen Leitbegriffe von Herrschaft und Familie verweist.

IV. Dass man das Sozialengagement nicht mit Adelssinn überwölben konnte, wenn man in seinen Handlungsabsichten und Fähigkeiten nicht auf der Höhe der Zeit war, unterstreicht der Deutungszusammenhang tradierter Karitas. In Lebenserinnerungen adliger Frauen initiierten Landesfürstinnen vaterländische Frauenvereine, protegierten Kinder- und Altenheime, ordneten Wohltätigkeitsbasare zugunsten Bedürftiger an und waren überhaupt wohltätiger Gesinnung. Vor diesem Hintergrund hätte man erwarten können, dass sich Frauen aus regierenden oder standesherrlichen Häusern im Erzählraum des Sozialengagements besonders exponierten, um Wohltätigkeit als ein genuin (hoch)adliges Alleinstellungsmerkmal erscheinen zu lassen. Das ist jedoch nicht der Fall. Im Vergleich zu Liliencrons Aktivitäten und Deutungen ist geradezu von einer Leerstelle in den Texten zu sprechen. Die Karitas wurde als eine in der Erziehung vermittelte Verpflichtung begriffen. Zum Beispiel teilt die rumänische Königin Elisabeth, geborene Prinzessin zu Wied (1843–1916) brieflich der österreichischen Kronprinzessin Stephanie (1864–1945)

68

Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914. Frankfurt

am Main/New York 2001, 328–334. 69

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Reif, Westfälischer Adel (wie Anm.9), 446–449.

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einige Erziehungsratschläge für ihre Tochter mit, neben anderen diesen: „Immer helfen, helfen, dazu sind die Reichen auf der Welt und allein existenzberechtigt.“ 70 Sich an die eigene Erziehung erinnernd, schreibt die Kronprinzessin: „Seit meiner frühesten Jugend gewöhnte man mich, die Armen nicht zu meiden, den Unglücklichen beizustehen und die Freude kennenzulernen, die im Helfen, Schenken und Trösten liegt.“ 71 Und auch Marie Fürstin zu Erbach-Schönberg (1852–1923), geborene Prinzessin von Battenberg, gibt an, sie sei in der „Tradition [aufgewachsen], daß es das schönste Vorrecht der Prinzen und Prinzessinnen [sei], zu helfen“. 72 In keiner dieser Äußerungen wurde Karitas als Verhaltensanforderung an Frauen vorgestellt, sondern bezog sich auf Reichtum und Status. Die Tugend, freigiebig gegen Bedürftige zu sein, gehörte in der ständischen und nachständischen Gesellschaft zu den allgemeinen religiösen Normen, die im Adel dazu genutzt werden konnte, den Stand beziehungsweise Status zu rechtfertigen. Heinz Reif spricht vom „symbiotischen Verhältnis zwischen Armut und Reichtum“. 73 Es verpflichtete den Adligen, seinen Reichtum zugunsten des eigenen Seelenheils zu nutzen, wozu die Linderung der Armut anderer ein probates Mittel darstellte. Der Arme hingegen hatte die Verpflichtung, seine Armut zu ertragen und besaß mit dem Leiden daran die Gewissheit, sein Seelenheil zu erlangen. 74 In dieser Konstruktion waren Arme notwendiger Bestandteil der Gesellschaftsordnung, und im „Helfen, Schenken, Trösten“ sicherten sich Reiche ihre Legitimation. Die von hochadligen Frauen erinnerte Karitas zielte nicht darauf ab, soziale Probleme zu erkennen, sondern galt der Einübung praktischer Hilfeleistungen, welche das Gegenüber zum Empfänger milder Gaben machte und die Gebenden persönlichen Einsatz lehrte. 75 Im Ergebnis liest man von hochadligen Frauen, die sich insbesondere in Kriegsjahren persönlich der Verwundetenpflege widmeten und an religiösen Feiertagen entsprechende Anstalten besuchten oder sich anderweitig „rührend“ um „ihre Leute“ kümmerten. 76 Obwohl die so praktizier70 Stephanie Prinzessin von Belgien, Ich sollte Kaiserin werden. Lebenserinnerungen der letzten Kronprinzessin von Österreich-Ungarn. Leipzig 1935, 220. 71 Ebd.31. 72 Marie Fürstin Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre 1859/1866/1870. Aus meiner Kindheit und Mädchenzeit. Darmstadt 1923, 45. 73 Reif, Westfälischer Adel (wie Anm.9), 445. 74 Ebd.445f. 75 Zum Beispiel Fürstin Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (wie Anm.72), 146, 211. 76 Prinzessin von Belgien, Ich sollte Kaiserin werden (wie Anm.70), 41f., 30; Fürstin Erbach-Schönberg, Entscheidende Jahre (wie Anm.72), 9.

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te Karitas zu den tradierten Anforderungen im Adel gehörte, gelingt es den Autorinnen nicht, sie jenseits der Nennung von Reichtum und Status mit einer herkunftsbezogenen Bedeutung auszustatten. In einer Zeit, in der die soziale Frage breit diskutiert, die Lösung sozialer Probleme von bürgerlicher Sozialreform und Frauenbewegung vorangetrieben sowie von Kommunen, freien Trägern (kirchlichen und humanitären Vereinen) und Großbetrieben erwartet wurde, scheint die Karitas eine unzeitgemäße Ressource gewesen zu sein, um Handlungskompetenz und damit korrelierende (hoch)adlige Bedeutungszuschreibungen erzählerisch hervorzubringen. 77 Zum konsensfähigen, zeitgenössischen Verständnis der sozialen Frage gehörte zumindest das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“, das Armut als Effekt sozialer und ökonomischer Bedingungen verstand, der nicht mit Almosen beizukommen war, sondern mit planerischer Fürsorge, Erziehung und Ausbildung. An dem Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ etwa orientierten sich sowohl katholische Adlige in Westfalen als auch Frauen im DeutschEvangelischen Frauenbund 78, und es war für Liliencron so selbstverständlich, dass sie in ihrer Vereinsarbeit nicht eigens darüber reflektierte. Demgegenüber wurde etwa die deutsche Kronprinzessin Cecilie (1886–1954) – sie veröffentlichte ihre Lebenserinnerungen 1930 – erst im letzten Kriegswinter damit konfrontiert, dass die Karitas wohl ungeeignet sei, um allgemeine soziale Probleme zu beheben. Hedwig Heyl (1850–1934), im Ersten Weltkrieg eine Art Mittlerin zwischen Berliner Hof und dem Nationalen Frauendienst, der die Kriegsarbeit von Frauen organisierte 79, gab der Kronprinzessin „Einblick in die brennenden sozialen Frauenaufgaben“ und veranstaltete eine Vortragsreihe für sie: „Namen wie Gertrud Bäumer, Elisabeth Lüders, Alice Salomon, Anna von Gierke sagen hinreichend, wie inhaltsvoll diese Vorträge waren [...]“. Aus diesen bezieht sie das Wissen, „daß zum Verständnis der großen sozialen Fragen mehr gehört als nur ein warm empfindendes Herz und guter Wille; gewisse fachmännische Kenntnisse sind unbedingt erforderlich.“ 80 Es waren führende Protagonistinnen der Frauenbewegung, welche die Kronprinzessin für so-

77

Allgemein Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd.1: Arbeitswelt und Bürgergeist.

München 1993, 367–373. 78

Reif, Westfälischer Adel (wie Anm.9), 447–449; Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie

Anm.42), 56. 79

Süchting-Hänger, Das „Gewissen der Nation“ (wie Anm.42), 93ff. mit weiterführenden Literaturhin-

weisen. 80

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Cecilie Kronprinzessin [des deutschen Kaiserreiches], Erinnerungen. Leipzig 1930, 214f.

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ziale Probleme sensibilisierten, und es war die Ausnahmesituation des Krieges, die den Brückenschlag zwischen sozialer Bewegung und der zu diesem Zeitpunkt noch künftigen Monarchin ermöglichte. Mit „sozialer Arbeit“ besaß die Frauenbewegung ein Konzept gesellschaftlichen Handelns. Es stellte die bisher geübte Wohltätigkeit auf die Grundlage von Systematik, wissenschaftlich-fachlicher Kompetenz und planmäßigem Handeln. Und es zielte darauf ab, die Emanzipation bürgerlicher Frauen mit der in den sozialreformerischen Bestrebungen enthaltenen Verpflichtung des besitzenden Bürgertums, eine sittlich-moralische Verpflichtung gegenüber sozial Schwachen zu haben, zu verbinden. 81 Hierüber ergab sich die Wechselbeziehung von „Frauenwohl“ und Beitrag zum „Gemeinwohl“, aus der sich das politisch-utopische Leitbild von Wohlfahrt und Wohlfahrtsstaat herauskristallisierte. Die Frauenbewegung war damit aktiv an der Gestaltung des sich herausbildenden Sozialstaates beteiligt. 82 Das Kompetenzgefälle zwischen dem hier angerissenen Handlungskonzept, soziale Probleme zu lösen und dem ‚guten Willen‘ der Kronprinzessin, soziale Fragen zu verstehen, könnte kaum größer sein. Es ist die Kronprinzessin selbst, die im oben angeführten Zitat den Vertreterinnen der Frauenbewegung den Status eines überlegenen Akteurs und sich selbst die Position einer Lernenden zuschreibt. Das Vertrautwerden mit den sozialen Problemen der Zeit sei, so die Kronprinzessin, „ein großer Gewinn für mein Leben geworden“. 83 Worin der Gewinn bestand, ob ihm Handlungen folgten, wird nicht ausgeführt. Während sich Liliencron auf der Höhe der Zeit agierend präsentierte, scheint die Kronprinzessin zwischen tradierter Karitas und dem Kennenlernen eines neuartigen Handlungsmodells beinahe sprachlos zu verharren. Die Leerstelle im Text indiziert auf der Folie zeitgenössisch zu bewältigender sozialer Probleme zum einen die tradierte Karitas als überholte Praxis sozialen Engagements. Diese korrespondierte mit dem Bedeutungsverlust von Karitas als Möglichkeit kollektiver Selbstdeutung. In keinem der hier genannten Fälle ließ sich die tradierte Praxis in den sozialen Sinn (hoch)adliger Verantwortung für die Gesamtgesellschaft ummünzen. Zum anderen verweist die Leerstelle ex negativo und im Vergleich mit den Erinnerungen Liliencrons darauf, dass die tätige Fürsorge auf der Grundlage zeitgenös-

81 Zum Konzept „soziale Arbeit“ als bürgerlichem Projekt von Frauenbewegung und Sozialreform Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt (wie Anm.68), 277–327. 82 Ebd.38–114; zu Alice Salomon vgl. Schüler, Frauenbewegung (wie Anm.51), 187–348. 83 Kronprinzessin, Erinnerungen (wie Anm.80), 215.

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sischer Sachkompetenz eine Voraussetzung darstellte, um das persönliche Sozialengagement mit adligem Führungssinn zu versehen.

V. Eingangs wurde danach gefragt, ob und inwiefern im Erzählraum „Sozialengagement“ Adligsein profiliert werden konnte. Festzuhalten ist, dass dies unter bestimmten Bedingungen der Fall war. Folgt man den Lebenserinnerungen adliger Frauen, so war es nicht nötig, an den Adel gebundene Qualitäten zu behaupten, wenn die sozialen Aktivitäten innerhalb der eigenen Herkunftsgruppe ausgeübt wurden. Hier folgten Handlungslogik und Handlungssinn dem Gebot des Familienerhalts und der Steigerung des Familienansehens. Stellte das Sozialengagement hingegen einen gesellschaftlichen Teilbereich dar, in dem Akteure unterschiedlicher sozialer Herkunft und mit verschiedenen Interessen beanspruchten, für das Allgemeinwohl zu arbeiten, so waren Kontext und Situation gegeben, Adligsein als Handlungsorientierung hervorzubringen. Zur Selbstvergewisserung im kollektiven Sinnzusammenhang gehörten persönliche Qualitäten wie Leistungsbereitschaft, Leitungskompetenzen und vor allem Sachkompetenz in Bezug auf die sozialen Probleme. Waren diese gegeben, so ließ sich unter Rückgriff auf Herrschaft und Familie ein ‚Adel der Tat‘ beweisen, der zugleich den Führungsanspruch des Adels behauptete. Wenn für nicht wenige Protagonistinnen der Frauenbewegung soziale Arbeit und Frauenbewegung identisch waren, so dürften – zugespitzt formuliert – für nicht wenige adlige Frauen soziales Engagement und Führungsanspruch ein- und dasselbe gewesen sein. Adligsein zeigt sich in den Lebenserinnerungen nicht als dem Individuum vorgängig Gegebenes, sondern als Effekt von Auseinandersetzungen mit relevanten Anderen in einem bestimmten Feld.

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Adel auf der Flucht – und das Leben danach Vorüberlegungen zu einer Erfahrungsgeschichte einer speziellen Flüchtlingsgruppe nach 1944 im migrationsgeschichtlichen Kontext von Alexander von Plato

Der deutsche Adel aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße sowie aus der Sowjetischen Besatzungszone verlor am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach Besitz, Privilegien, gesellschaftliche Stellung und politischen Einfluss. Die Flucht und Vertreibung der Angehörigen dieses „Standes“ gliedert sich ein in diejenige von mindestens 14 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges bzw. danach und – weiter gefasst: in die Umsiedlungen nach ethnischen oder nationalen Zuordnungen im 20.Jahrhundert. 1 Wie entwickelten sie sich nach 1945? Welche Erfahrungen machten sie, die zumeist in den Westen flohen, in den Besatzungszonen und in den neuen deutschen Staaten? Der Beitrag gliedert sich in vier Teile: Im ersten geht es um eine kurze Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung im Europa des 20.Jahrhunderts, im zweiten um die Flucht vor der Roten Armee und ihren Verbündeten sowie um die Vertreibungen und gezielten Umsiedlungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, besonders nach dem Potsdamer Abkommen; im dritten um die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone und deren Folgen, im vierten mit einem erfahrungsge-

1 Seit 1980 habe ich mich immer wieder mit Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen der Fluchtbewegungen in Europa im 20.Jahrhundert befasst, vgl. Alexander von Plato/Wolfgang Meinicke, Alte Heimat – Neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der SBZ und DDR. Berlin 1992; Alexander von Plato, Flüchtlinge, Umgesiedelte und Vertriebene in Ost und West, in: Jan-Pieter Barbian/ Ludger Heid (Hrsg.), Zwischen gestern und morgen. Kriegsende und Wiederaufbau. Essen 1995, 106–123; ders., Vergangene Perspektiven? Schwerpunkte, Fragen und Probleme der Flüchtlingsforschung vor und nach der Wende, in: Dierk Hoffman/Marita Krauss/Michael Schwartz (Hrsg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven. München 2000, 87–107; ders./Almut Leh, Ein unglaublicher Frühling. Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945–1948. 2.Aufl. Bonn 2011. Auf diese Arbeiten stütze ich mich hier in den allgemeinen Ausführungen zu Umsiedlungen, Flucht und Vertreibungen. Mit dem Adel auf der Flucht habe ich mich erst in jüngster Zeit beschäftigt, und zwar auf Anregung des Adelsforschers Josef Matzerath (Dresden) und dessen Kolleginnen Sophia von Kuenheim und Silke Marburg. Sie baten mich um einen Vortrag meiner Thesen auf der Konferenz „Projektionsflächen von Adligkeit“ in Marburg Ende 2011, auf dem dieser Aufsatz basiert.

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schichtlichen Ansatz „um das Leben danach“ unter Berücksichtigung einiger Besonderheiten des Adels, die mir bei meinen allgemeinen Arbeiten über Flucht, Vertreibung und Bodenreform begegnet sind.

I. Zur Vorgeschichte Flucht vor Armeen oder Unterdrückung, gezielte Vertreibungen oder Umsiedlungen gab es nicht nur im 20.Jahrhundert, dem sogenannten Jahrhundert der Vertreibungen, und auch dann nicht erst mit der Flucht der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Wesentlich und beispielhaft für die folgenden Behandlungen solcher „ethnischen Lösungen“ waren die Umsiedlungen nach dem Versailler Vertrag (1919) beziehungsweise den Folgeverträgen von St. Germain (1919, Österreich betreffend), von Trianon (1920, Ungarn betreffend) oder von Sèvres (1920, das Osmanische Reich betreffend) und Flucht beziehungsweise Vertreibung im und nach dem Krieg zwischen Griechenland und der Türkei (dem Osmanischen „Restreich“) 1919–1922. Die Besetzung der Tschechoslowakei Ende der 1930er-Jahre durch deutsche (und ungarische) Truppen führte zur Flucht oder Verschleppung einer unbekannten Zahl von Tschechen, besonders von tschechischen Juden und Roma. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem „geheimen Zusatzabkommen“ eine Woche vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde sowohl von sowjetischer wie von deutscher Seite eine Okkupationspolitik betrieben, die den ganzen Zwischengürtel zwischen den Großmächten betraf, von Karelien und dem Baltikum über Galizien und die Bukowina bis hin zu Bessarabien beziehungsweise Moldawien. Es wurden „demographische Umgruppierungen“ in den nun abgesteckten sowjetischen beziehungsweise deutschen Einflusssphären vorgenommen: – um die 400000 Deutsche kamen in das sogenannte „Altreich“, während eine bis heute nicht genau bekannte Zahl von Polen, darunter viele Juden, aus dem von der deutschen Reichswehr okkupierten Gebiet flohen oder emigrierten, vertrieben oder umgebracht wurden. 2

2 Vorgeschichte und Verlauf der Flucht und Vertreibung sind in den letzten Jahrzehnten vielfach bearbeitet worden, so von: Theodor Schieder (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit Adolf Distelkamp/Rudolf Laun/Peter Rassow/Hans Rothfels hrsg. v. Bundesminis-

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– Einige Schätzungen sprechen von ca. 1,2 Millionen Polen, die ihre Heimat verlassen mussten, wobei verschleppte Juden in diese Zahl nicht eingeschlossen sind. 3 – Bei der „Heim-ins-Reich“-Aktion der deutschen nationalsozialistischen Regierung wurden ca. 800000 sogenannte „Volksdeutsche“ aus anderen Staaten heimgeholt, wie es in der damaligen Sprache hieß, wobei der „Anschluss“ Österreichs oder die Einverleibung des Sudetenlandes nicht mit gemeint sind. Die Hälfte von diesen 800000 war 1944 in den besetzten Ostgebieten angesiedelt worden, während die andere Hälfte ein Flüchtlingsdasein in provisorischen Unterkünften im „Altreich“ fristete. 4 Ein Teil dieser neu angesiedelten Personen wurde später bei Kriegsende erneut umgesiedelt oder vertrieben. Sie erhielten auch zumeist den Status als Vertriebene, aber sie sind zum Beispiel aus polnischer Perspektive keine „wirklichen“ Vertriebenen. – In die während des Krieges von der deutschen Wehrmacht besetzten Ostgebiete, meistens in Polen, aber auch auf dem Balkan, im Baltikum und in der UdSSR, kam im Zuge der nationalsozialistischen Volk-ohne-Raum-Ideologie eine immer noch nicht bekannte Zahl von „Reichsdeutschen“ und siedelte sich, häufig entsprechend strategischer Pläne des „Dritten Reichs“, dort an. Immerhin weiß man, dass

terium für Vertriebene. 5 Bde. Berlin 1954–1961, Ndr. München 1984; Bernhard Pfister (Hrsg.), Reihe der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften: Untersuchungen zum deutschen Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem; in dieser Reihe erschienen u.a. Helmut Rudi Kollai, Die Eingliederung der Vertriebenen und Zuwanderer in Niedersachsen. Berlin 1959; Friedrich Edding, Die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in Schleswig-Holstein. Berlin 1959; Bodo Spiethoff, Untersuchungen zum bayerischen Flüchtlingsproblem. Berlin 1955; Gertrude Stahlberg, Die Vertriebenen in Nordrhein-Westfalen. Berlin 1957; Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen. 3. erg.Aufl. München 1985; Peter Waldmann, Die Eingliederung der ostdeutschen Vertriebenen, in: Josef Becker/Theo Stammen/Peter Waldmann (Hrsg.), Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Grundgesetz. München 1979, 163–192, hier 166f.; Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Frankfurt am Main 1985; darin auch seine einleitenden Bemerkungen unter dem Titel „Vierzig Jahre nach der Vertreibung“, 7–11, und sein Aufsatz „Der Generalplan Ost. Zur Germanisierungspolitik des NS-Regimes in den besetzten Ostgebieten 1939–1945“, 39–48; Albrecht Lehmann, Im Fremden ungewollt zu Hause. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945–1990. München 1991; Hoffman/Krauss/Schwartz (Hrsg.), Vertriebene in Deutschland (wie Anm.1). Jüngst erschien die Arbeit von Ray M. Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. München 2012; diese Studie richtet sich vor allem an eine angloamerikanische Leserschaft und berücksichtigt kaum die bisherige deutsche, polnische oder tschechische Forschung. 3 Benz, Vertreibung (wie Anm.2), 7. 4 Schieder, Dokumentation, Band 1/1 (wie Anm.2), 2E.

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noch 1950 circa 686000 Personen in der Bundesrepublik registriert 5 waren, die erst nach 1939 in die sogenannten Vertreibungsregionen gekommen waren (das ist die Definition von Flüchtlingen). Auch sie wurden wieder ausgesiedelt, aber sie sind wohl – nicht nur aus polnischer Sicht – keine Vertriebenen, denn sie kamen in ihre alte Heimat zurück und wurden nicht in eine neue vertrieben. Aber immerhin: Sie hatten Vertreibungs- und Fluchterfahrungen. – Bereits im Februar/März 1944 gab es 825000 Evakuierte, die aus den bombengefährdeten deutschen Großstädten in Gebiete östlich der Oder und Neiße evakuiert worden waren, und bald müssen es erheblich mehr gewesen sein. Denn insgesamt wurden von den 22,5 Millionen Großstadtbewohnern des Deutschen Reiches circa 7,5 Millionen – überwiegend Frauen und Kinder 6 – evakuiert, also eine nicht unerhebliche Zahl. 7 Von ihnen waren noch im April 1947 circa 3,1 Millionen nicht wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückgekehrt. 8 – Mindestens 14 Millionen von „Fremd“- beziehungsweise Zwangsarbeitern gehören in diesen Zusammenhang; denn noch bei Kriegsende waren circa 8–10 Millionen von ihnen in Deutschland und mussten nun „rückgeführt“ werden.

II. Flucht und Vertreibung um 1945 Millionen von Deutschen flohen vor der Roten Armee und ihren Verbündeten in Ost- und Mitteleuropa oder waren nach Artikel 13 des Potsdamer Abkommens in die vier Besatzungszonen vertrieben worden, in denen bereits Chaos in der Versorgung, Wohnraummangel, Hunger und Kälte herrschten. Insgesamt sollen zwischen 11 und 18 Millionen 9 Menschen gegen Ende des Zwei-

5 Ebd.1E. 6 In Essen gab es zum Beispiel bei Kriegsbeginn 170555 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Im April 1945 waren es nur circa 50000. Vgl. von Plato/Leh, Ein unglaublicher Frühling (wie Anm.1), 15. 7 Schieder, Dokumentation, Band 1/1 (wie Anm.2), 2E und 4Ef. 8 Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Göttingen 1982, 355 (Dokument 10). 9 Die Zahl von 18 Millionen Flüchtlingen, eine der höchsten überhaupt, ist mir erstaunlicherweise im Nachlass von Wilhelm Pieck begegnet, also im Nachlass des Ministerpräsidenten der DDR, der zugleich mit Otto Grotewohl der erste Chef der SED war. Er schrieb diese Zahl von 18 Millionen in das Manuskript einer Rede von 1947, die er auch gehalten haben soll, vgl. Bundesarchiv, SAPMO-BArch. NY 4036–726, Bl. 1–2. Die höchste Schätzung von 18,1 Millionen stammt vom Schweizerischen Roten Kreuz aus dem Jahre 1949, zi-

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ten Weltkrieges vor der Roten Armee geflohen, nach Vereinbarungen zwischen der UdSSR und Polen 1945 oder nach dem Artikel 13 des Potsdamer Abkommens ausoder umgesiedelt worden sein. Schätzungen westdeutscher Historiker, die demographische Zahlen vor und nach 1945 verglichen, gingen davon aus, dass bis zu zwei Millionen Menschen bei der Flucht umkamen. Diese Zahlen werden heute als zu hoch angesehen, tschechische und polnische Autoren gehen von 30000 bis 40000 Toten aus, jüngere deutsche Schätzungen von 120000 10, Ray M. Douglas im Jahre 2012 von maximal 500000. 11 Bei der Volkszählung vom 13.September 1950 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 7977000 Vertriebene gezählt. Davon stammten: – 4541000 oder 56,9 Prozent aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, – 1918000 oder 24,0 Prozent aus der Tschechoslowakei, – 650000 oder 8,2 Prozent aus der ehemaligen Republik Polen und der Freien Stadt Danzig, – 639000 oder 8,0 Prozent aus Ost- und Südosteuropa, – 229000 oder 2,9 Prozent aus westlichen Ländern oder aus Übersee. 1970 waren es 9598000 1985 (vermutlich inklusive der Aussiedler) 12 10750000. Die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise die DDR taucht in diesen Zahlen nicht auf, war jedoch die Zone beziehungsweise der Teil mit der höchsten Aufnahmequote 13: 10,72 Millionen Umsiedler gab es Anfang Januar 1948 nach einer Statistik der sowjetischen Militäradministration in den vier Besatzungszonen insgesamt; davon – 4,38 Millionen in der sowjetischen Besatzungszone (= 40,9 Prozent, am 1. Januar 1949: 37,2 Prozent) – 3,32 Millionen (= 31 Prozent, 1949: 32,8 Prozent) in der britischen Besatzungszone tiert nach de Zayas, Anglo-Amerikaner (wie Anm.2), 199; Douglas geht von 12 bis 14 Millionen Flüchtlingen aus; Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“ (wie Anm.2), 13. 10 Jan Křen, Tschechisch-deutsche Beziehungen in der Geschichte. Von Böhmen aus betrachtet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28, 1996, 21–27, hier 25. 11 Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“ (wie Anm.2). 12 Diese Zahlen sind zitiert nach Gerhard Reichling, Die deutschen Vertriebenen in Zahlen. T.2: 40 Jahre Eingliederung in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1989, 14. 13 Allgemein zur SBZ/DDR-Flüchtlingsproblematik von Plato/Meinicke, Alte Heimat – Neue Zeit (wie Anm.1).

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– 2,96 Millionen (= 27 Prozent, 1949: 28,2 Prozent) in der amerikanischen Besatzungszone – 0,06 Millionen (= 0,6 Prozent, 1949: 1,4 Prozent) in der französischen Besatzungszone. Der Anteil der „Umsiedler“ an der Gesamtbevölkerung betrug 1948: – 24,3 Prozent in der sowjetischen Besatzungszone (am 1.Januar 1949: 24,2 Prozent) – 17,7 Prozent in der amerikanischen Besatzungszone (1949: 18,1 Prozent) – 14,5 Prozent in der britischen Besatzungszone (1949: 15,9 Prozent) und – 1,0 Prozent in der französischen Besatzungszone (1949: 3 Prozent). 14 In manchen Ländern der SBZ/DDR betrug der Anteil der Umsiedler an der Bevölkerung über 40 Prozent, wie in Mecklenburg (mit 42 Prozent). In den Westzonen waren es vor allem Schleswig-Holstein (ca. 33 Prozent), Niedersachsen und Bayern, die die meisten Flüchtlinge aufnahmen. In einige Gebiete kamen sie erst spät, weil dort Zuzugsbeschränkungen bestanden, wie zum Beispiel im Ruhrgebiet. In Artikel 13 des Potsdamer Abkommens wird die Aussiedlung aus den ehemaligen Reichsgebieten in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei festgelegt, und zwar eine „geordnete und humane Umsiedlung“. 15 Der Alliierte Kontrollrat ging im November 1945 von 6,65 Millionen Deutschen aus, die insgesamt umzusiedeln seien. Davon sollten – 2,75 Millionen in die sowjetische Besatzungszone, – 2,25 Millionen in die amerikanische Besatzungszone, – 1,5 Millionen in die britische Besatzungszone und – 150000 in die französische Besatzungszone gebracht werden. Die Bedingungen waren allerdings in allen Besatzungszonen katastrophal, bei

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Die Zahlen für 1948 stammen vom Umsiedleramt in Sachsen aus dem Jahre 1948, das sich seinerseits

auf eine Statistik der sowjetischen Militäradministration stützte, zitiert nach dem Aufsatz der DDR-Historikerin Regine Just, Zur Lösung des Umsiedlerproblems auf dem Gebiet der DDR 1945 bis Anfang der 50er Jahre, in: ZfG 35, 1987, 971–984. Regine Just schrieb auch ihre Dissertation zu diesem Thema: Regine Just, Die Lösung der Umsiedlerfrage auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, dargestellt am Beispiel des Landes Sachsen (1945–1952). Diss. A Magdeburg 1985. In beiden Arbeiten stützt sie sich vor allem auf das Staatsarchiv Dresden und das Bezirksparteiarchiv der SED Dresden. Die Zahlen für 1949 sind zitiert nach Wolfgang Meinicke, Zur Integration der Umsiedler in die Gesellschaft 1945–1952, in: ZfG 26, 1988, 867–878, hier 868. 15

Daher der Titel von Douglas „Orderly and Humane“ in der englischen oder „Ordnungsgemäße Über-

führung“ in der deutschen Ausgabe, vgl. Douglas, „Ordnungsgemäße Überführung“ (wie Anm.2).

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starken Unterschieden zwischen Stadt und Land, so dass die Militärregierungen die meisten Vertriebenen in ländliche Regionen schickten. Alfred M. de Zayas schätzte für das Jahr 1966 die Gesamtzahl der Vertriebenen auf 14,6 Millionen, davon in der Bundesrepublik Deutschland 10,6 Millionen, 3,5 Millionen in der DDR 16 und 0,5 Millionen in Österreich und anderen westlichen Ländern. Douglas geht von 14 Millionen aus. Hinzu kommen die Toten, deren Zahl heute – wie erwähnt – mit circa 120000 beziehungsweise 500000 angegeben wird. Obwohl oder weil die Sowjetische Besatzungszone und die DDR die meisten Flüchtlinge aufzunehmen hatten, wurden sie dort offiziell ab Anfang der 1950er Jahre nicht mehr statistisch geführt. Der Hauptgrund dafür dürfte gewesen sein, dass damals in der Bevölkerung die Sowjetunion als Hauptverursacherin der Vertreibung gesehen wurde und man es vermeiden wollte, mit diesen Angaben Unmut gegen die Besatzer zu schüren. 1. Vertriebene und Einheimische im Vergleich Die Wohn, Arbeits- und Versorgungslage war in allen Besatzungszonen katastrophal; naturgemäß ging es den meisten Flüchtlingen und Vertriebenen schlechter als den Einheimischen. In den vier Besatzungszonen inklusive Berlins nahm die Bevölkerung durch den Zuzug von Flüchtlingen erheblich zu, und zwar von 59,794 Millionen 1939 auf 65,930 Millionen im Jahre 1946. Die Bevölkerungsdichte stieg von 167,5 Menschen pro Quadratkilometer 1939 auf 184,6 pro Quadratkilometer 1946. Für diese gewachsene Bevölkerung in einem kleiner gewordenen Territorium stand weniger Wohnraum zu Verfügung; denn 2,25 Millionen Wohnungen waren zerstört, 2,5 Millionen beschädigt. Flüchtlinge lebten im Allgemeinen in schlechteren Wohnverhältnissen; so sah die Wohnungsverteilung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen in Westdeutschland 17 im Jahre 1950 folgendermaßen aus: Notwohnungen Mieter Untermieter

Vertriebene 11,0 Prozent 22,4 Prozent 66,6 Prozent

Einheimische 5,0 Prozent 61,1 Prozent 33,9 Prozent

16 Seit 1948 waren viele Umgesiedelte aus der SBZ/DDR geflohen oder nach einigen Jahren weitergezogen, vermutlich um die 1 Million; von 1945 bis 1961 vermutlich 2,7 Millionen Personen insgesamt, also nicht nur Vertriebene, die vermutlich auch nicht genau beziffert werden konnten, wenn sie nur nach mehr oder minder kurzen Aufenthalten weiterzogen. 17 Reichling, Die deutschen Vertriebenen (wie Anm.12), 44ff.

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Im Jahre 1968 hatte sich die Lage etwas verbessert: Vertriebene 4,3 Prozent 92,2 Prozent 3,5 Prozent

Notwohnungen Mieter Untermieter

Einheimische 2,9 Prozent 92,7 Prozent 4,4 Prozent

Der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen betrug 34,3 Prozent (1950), in Schleswig-Holstein sogar 57,5 Prozent. Der Anteil der berufsfremd arbeitenden Vertriebenen war im Verhältnis zu den Einheimischen sehr hoch. Vergleicht man den Bildungsstand zwischen Flüchtlingen und dem Durchschnitt der Bevölkerung, so zeigen sich in der Bundesrepublik (für die DDR gibt es wegen der mangelnden Statistik keine vergleichbaren Zahlen) sowohl 1961 als auch 1970 erstaunlich geringe Unterschiede: Bei Auszubildenden war ihr Anteil etwas höher (18,0 zu 15,5 Prozent 1961, 16,7 zu 16,0 Prozent 1970), bei dem Schulabschluss glich er sich an (66,0 zu 68,6 Prozent 1961, 62,5 zu 62,5 Prozent 1970), die Zahl der Personen mit Fachhochschulabschluss war 1961 gleich und 1970 minimal verändert (3,2 Prozent 1961 beziehungsweise 8,1 zu 8,4 Prozent 1970), die Zahl derjenigen mit Hochschulabschluss war bei den Flüchtlingen 1961 mit 1,7 Prozent etwas höher als bei dem Durchschnitt der Bevölkerung (1,6 Prozent) und verbesserte sich auf beiden Seiten (im Jahre 1970 2,4 beziehungsweise 2,3 Prozent). Diese Zahlen zum Bildungsstand sind nicht leicht zu interpretieren, aber es könnte eine Rolle spielen, dass mehr Angehörige von Funktionseliten und Akademiker in den Westen weiterzogen, eventuell auch, dass die Flüchtlinge alles daransetzten, ihren Kindern entgegen allen widrigen Umständen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Dass durch die Flucht und die Neuansiedlungen eine religiöse Durchmischung der Gesellschaft stattfand, liegt auf der Hand. Wie es mit der Säkularisierung beziehungsweise der Zunahme der Bekenntnislosigkeit zwischen 1950 und 1970 bei Vertriebenen, bei DDR-Flüchtlingen und Einheimischen aussah, deuten die folgenden Zahlen an: 1950 waren ohne Bekenntnis 1,8 Prozent der Vertriebenen, 2,9 Prozent der DDR-Flüchtlinge und 4,5 Prozent der Einheimischen. Bis zum Jahr 1970 wuchs die Zahl bei Vertriebenen auf 3,8 Prozent, bei DDR-Flüchtlingen auf 6,0 Prozent und bei Einheimischen auf 3,6 Prozent. Das heißt, dass bei Vertriebenen eine Zunahme der Bekenntnislosigkeit um das Doppelte ebenso wie bei den DDR-Flüchtlingen zu

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beobachten ist, während bei den Einheimischen die Zahl derjenigen ohne Bekenntnis im selben Zeitraum von 1950 bis 1970 sank. 2. Einige Besonderheiten der Form der Flucht Die ersten Fluchtbewegungen folgten im Osten der Entwicklung des Frontverlaufs; daher verliefen sie zunächst „ungeordnet“, mit dem Näherrücken der östlichen Fronten zumeist gegen den Willen der örtlichen Behörden, dann auf Befehl der deutschen Besatzungsbehörden oder der Bürgermeister und Landräte sowie der nationalsozialistischen Führer, wie der Ortsbauernführer. Auch die ersten großen Trecks aus Ostpreußen und aus dem Baltikum zogen Ende 1944/Anfang 1945 gen Westen. Die offiziellen Vertreibungen dagegen folgten vor allem dem Artikel 13 des Potsdamer Abkommens im Sommer 1945 und hatten ihre höchsten Zahlen im Frühjahr 1946. Das Organisieren der Flucht auf privater Ebene übernahmen vor allem die Frauen und alten Männer, manchmal auch Halbwüchsige, da die meisten Männer im Alter zwischen 19 und 40 Jahren eingezogen waren oder in Kriegsgefangenschaft. Vermutlich um die 2,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene zogen im Laufe der ersten Nachkriegsjahre weiter in die Westzonen beziehungsweise in die Bundesrepublik.

III. Die Bodenreform in der DDR und die Folgen Für die sowjetische Besatzungszone beziehungsweise die DDR war die hauptsächliche Besonderheit die Bodenreform und die bevorzugte Landvergabe an Flüchtlinge zur Schaffung von Neubauernstellen. Es waren große Güter enteignet worden („Junkerland in Bauernhand“) und anschließend Ländereien ungefähr in der Größe des Landes Niedersachsen zur Verteilung gekommen. Landarbeiter, Arbeiter und Flüchtlinge wurden bei der Landvergabe bevorzugt. Bis zum 1. Oktober 1947 nahmen 85701 Umsiedler eine Neubauernstelle an und erhielten insgesamt 708338 Hektar Land. Im März 1950 waren rund 43 Prozent der Neubauern Flüchtlinge. Ihr Anteil an den Nutznießern der Bodenreform lag damit weit über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Zählt man die Familienmitglieder hinzu, so waren rund 350000 Personen oder 8 Prozent aller Umsiedler in den Genuss der Bodenreform gekommen. Trotz der Gewinnung von Boden und Möglichkeiten der Ernährung und Arbeit

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begannen dann die Schwierigkeiten der Existenzneugründung. Es ging um die Ausstattung der Wirtschaften mit den unbedingt notwendigen landwirtschaftlichen Geräten, den Besatz an Vieh, ja vor allem erst einmal um die Bereitstellung von Wohnhäusern, Stallungen und Scheunen. Diese blieb aber in jeder Beziehung unzureichend, so dass zu fragen bleibt, ob hier überhaupt von Bauernwirtschaften im eigentlichen Sinn des Wortes gesprochen werden kann. Insgesamt gab es durch die Bodenreform eine Diskrepanz zwischen dem Anspruch, die landwirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, und den vorhandenen technischen Möglichkeiten, der Ausgabe von Saatgut oder der Errichtung von Stallungen usw. Die Ausgangsbedingungen der einzelnen Gruppen von Bauern waren und blieben auf viele Jahre sehr unterschiedlich, eine weitere soziale Differenzierung auf dem Lande war damit unausweichlich. Der tägliche Kampf um das Überleben der eigenen Wirtschaft bestimmte das Handeln der Umsiedler-Neubauern selbst noch fünf Jahre nach der Bodenreform. Von einer wirklichen Konsolidierung ihrer Neubauernwirtschaften waren sie noch weit entfernt. Am 1. Oktober 1950 besaßen rund 41600 von ihnen noch kein eigenes Wohnhaus (45 Prozent) und etwa 43800 keine eigenen Ställe (48 Prozent). Im Ansehen der Dorfbewohner blieben die Neubauern weiterhin die „Flüchtlinge“ – die, die „nichts hatten“. Diese Situation veranlasste in den folgenden Jahren eine ganze Reihe von Neubauern, ihre Höfe wieder aufzugeben. Allein im Zeitraum von 1946 bis 1952 betraf das rund 80600 Neubauernstellen, immerhin über 38 Prozent aller eingerichteten Neubauernstellen in der SBZ. Diese Größenordnung verdeutlicht, dass die Bodenreform nur zum Teil den gewünschten Erfolg hatte. Die Möglichkeiten der Nachkriegszeit blieben zu begrenzt, um allen Neubauern günstige Startbedingungen zu eröffnen. Hinzu kam, dass manche Neubauern auch an der eigenen Unfähigkeit, an der mangelnden Qualifikation als Berufsfremde beziehungsweise an anderen Umständen scheiterten. 18 Daher ist es nicht erstaunlich, dass vermutlich zwischen einem Drittel und der Hälfte der Umgesiedelten in der näheren und weiteren Nachkriegszeit aus der DDR in den Westen weiterzogen. Ein Jahr nach Gründung der DDR wurde – sicherlich in Konkurrenz zum westdeutschen „Lastenausgleich“ – das „Gesetz über die weitere Verbesserung der Lage 18

Alle in diesem Abschnitt genannten Zahlen stützen sich auf ein Manuskript von Wolfgang Meinicke,

das einging in von Plato/Leh, Ein unglaublicher Frühling (wie Anm.1), 28ff.

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der ehemaligen Umsiedler“ erlassen (8. September 1950). Es gewährte allen bedürftigen Umsiedlerfamilien einen zinslosen Kredit in einer Höhe von bis zu 1000 Mark für die Beschaffung von Möbeln und Hausrat. Bis zum 30. Mai 1953 erhielten daraufhin fast 700000 Familien diesen Kredit in einer Gesamthöhe von mehr als 400 Millionen Mark. Das wesentliche Element, das die Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen zumindest erleichterte, war die Entwicklung des Arbeitsmarktes besonders in der Bundesrepublik. Aber auch in der DDR gab es einen, wenn auch langsameren Aufschwung und Aufbau – besonders wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Masse der Deutschen in Ost und West nach dem Krieg von einem länger andauernden Elend ausgingen. Die DDR erholte sich im Übrigen schneller als die meisten mittelost- und osteuropäischen Staaten, die die deutschen Truppen nur wenige Jahre zuvor besetzt hatten. Neben den genannten Bedingungen, die die Durchmischung und Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen beschleunigten, gibt es eine ganz andere Dimension dieser Eingliederung, nämlich die häufig ähnlichen Probleme der Einheimischen trotz aller schrecklichen Bedingungen des Heimatverlustes und der Flucht auf der Seite der Flüchtlinge: Die Einheimischen, insbesondere die aus den Industriestädten, mussten ebenso wie die Vertriebenen den Krieg, den Nationalsozialismus und die politischen Umorientierungen nach der Niederlage des Faschismus verarbeiten. Auch die meisten Einheimischen hatten Tote, Kriegsversehrte, Spätheimkehrer zu beklagen, viele waren durch Ausbombung oder Evakuierung „entwurzelt“ worden; viele hatten ihre nationalsozialistische Orientierung verloren und die Verbrechen des NS-Regimes zur Kenntnis zu nehmen beziehungsweise die Strafen der Siegermächte hinzunehmen. Alle mussten sich in der Nachkriegsnot zurechtfinden, lebten in den Städten mit bis zu 30 Prozent unvollständigen Familien, mussten „hamstern“ auf dem Lande, klauen und „organisieren“. Daher scheint mir die folgende These geradezu evident zu sein: Die Einpassung von Vertriebenen und Einheimischen erfolgte unter anderem deshalb so unblutig und relativ rasch, weil sich beide Seiten – Einheimische wie Umgesiedelte – in einer „neuen Fremdheit“ der Nachkriegsgesellschaft zurechtfinden mussten, beide Seiten waren in ihrem Lebenspragmatismus vor ähnliche Probleme gestellt. So allgemein gilt dies sowohl für den Westen als auch für die Sowjetische Besatzungszone. In der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR mussten sich beide Seiten, Einheimische wie Vertriebene, über die allgemeine Umorientie-

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rung hinaus in extremer Weise politisch und gesellschaftlich neu orientieren: An den sozialistischen Zielen und Normen, an der Freundschaft mit der UdSSR, vor deren Truppen man gerade noch geflohen war – kurz man musste in einer von der ungeliebten Besatzungsmacht eingesetzten „Erziehungsdiktatur“ zurechtkommen. Einheimische wie Vertriebene, insbesondere die Jugendlichen, fanden sich in neuen gemeinsamen Massenorganisationen zusammen, die eben nicht nach Flüchtlingen und Eingesessenen unterteilt waren. Und beide Seiten hatten die Flucht vieler Verwandter, Freunde, Kollegen und Nachbarn in den Westen zu verarbeiten, den 17. Juni und den Mauerbau und – vielleicht als Wichtigstes – den gegenüber dem Westen zurückbleibenden Lebensstandard. Diese gemeinsame Fremdheit dürfte ein Näherrücken zur Folge gehabt haben, ebenso wie die Anpassungsmechanismen, die Kontinuität der „Durchwieselei“ durch immerhin zwei autoritäre Regime. Da die Flüchtlinge und Vertriebenen in Ost und West den Verlust ihrer bisherigen Existenz zu kompensieren hatten, waren sie besonders fleißig und aktiv, um ihre früheren Lebensbedingungen wieder zu erreichen. Sie waren auch besonders mobil, und zwar sowohl sozial wie lokal: Viele mussten die ersten Jahre berufsfremd arbeiten, wenn sie überhaupt Arbeit fanden. Sie versuchten Weiterbildungen und Umschulungen, viele von ihnen stiegen bald auch in ihren neuen Berufen auf und waren hochmobil bei der Annahme von Arbeiten an anderen Orten und nahmen dabei lange Trennungen von ihren Familien in Kauf. Flüchtlinge durften sich zwar zunächst in Ost und West nicht politisch organisieren, aber sie trugen dazu bei, dass die früheren Honoratiorenstrukturen in ihrer „neuen Heimat“ durchbrochen wurden und nicht selten – gerade im Vergleich zu Frankreich oder England – erodierten. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen wesentlich zur Modernisierung der Gesellschaft in der Bundesrepublik und wohl auch in der DDR beitrugen. 19

19

Ich stütze mich in dieser knappen Zusammenfassung des letzten Absatzes auf meine erfahrungsge-

schichtlichen Studien zu Flüchtlingen und Vertriebenen, vor allem die erwähnte Arbeit zusammen mit Wolfgang Meinicke zu Flüchtlingen in der SBZ und DDR, von Plato/Meinicke, Alte Heimat (wie Anm.1), die Arbeit zu Flüchtlingen und Einheimischen im Ruhrgebiet; Alexander von Plato, Fremde Heimat. Zur Integration von Flüchtlingen und Einheimischen in die Neue Zeit, in: Lutz Niethammer/ders. (Hrsg.), Wir kriegen jetzt andere Zeiten. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Bonn/Berlin 1985, 172–219; ders., Flüchtlinge, Umgesiedelte und Vertriebene in Ost und West (wie Anm.1); ders., Vergangene Perspektiven? (wie Anm.1), sowie ders., Flüchtlinge und Fluchtverarbeitung in

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IV. Der geflohene Adel 1. Verluste Die Ähnlichkeiten in den Berichten von Flucht und Vertreibung im Allgemeinen und in denen von adligen Befragten im Besonderen sind groß, was den Heimat- und den Existenzverlust, die Anstrengungen und Demütigungen der Flucht selbst, die Schwierigkeiten des Neuaufbaus und das berufsfremde Arbeiten betrifft. Dennoch gibt es einige Besonderheiten. 20 Zunächst einmal fand der Fall des Adels aus großer Höhe statt. Sein Niedergang, also der Verlust an Besitz, sozialer Lage und Einfluss in Politik, Militär und Diplomatie, war schon nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu beobachten gewesen. Er beschleunigte sich in den Wirtschaftskrisen der Weimarer Zeit und am Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem in Ost- und Mitteldeutschland. In Ostpreußen, im Baltikum und in den Gebieten östlich der Oder und Neiße wurden 1944/45 die alten Güter und Besitztümer von den sowjetischen und polnischen Siegern in Besitz genommen, nachdem sie zumeist viel zu spät verlassen worden waren. Ganze Güter mit Besitzern und Angestellten bildeten Trecks, zogen während des Vormarschs der Roten Armee nach Westen und wurden häufig von dieser überrollt. Über die damit verbundenen Verluste, Leiden und Leistungen ist oft berichtet worden. Wie viele Personen dies betraf, ist bis heute unklar. 21 Das Potsdamer Abkommen hatte unter anderem die „ostelbischen Junker“ zu den Mitverantwortlichen an Krieg und NS-Verbrechen gezählt. Ihre Enteignung gehörte in der Sowjetischen Besatzungszone zu den Maßnahmen, die die „Nazis und Kriegsverbrecher“ entmachten sollten. Die Güter in der Sowjetischen Besatzungszone wurden daher mit der Bodenreform seit September 1945 weitgehend enteignet, ob sie Nazis beziehungsweise Kriegsverbrecher waren oder nicht. Ein SED-Minister Sachsen-Anhalts, der Altkommunist Robert Siebert, berichtete 1959 von der Boden-

Ost und West, in: Clemens Burrichter/Delef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Berlin 2003, 1211–1233. 20 Unter den von mir befragten Flüchtlingen und Vertriebenen (vgl. Fußnote 19) waren insgesamt 19 Adlige. 21 Vgl. hierzu vor allem Agnes von Kopp-Colomb/Henning von Kopp-Colomb/Adam von Watzdorf (Hrsg.), Schicksalsbuch I des Sächsisch-Thüringischen Adels. 1945. (Aus dem Deutschen Adelsarchiv, Bd. 5.) Limburg an der Lahn 2005.

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reform in Sachsen Anhalt. Seine Zahlen sind von verschiedenen Autoren wiederholt worden. 22 Demnach wurden in Sachsen-Anhalt dem Bodenfonds bis 1950 übergeben: „3146 Objekte mit 719777 Hektar; davon – Ackerland 400000 Hektar – Wald 221000 Hektar – der Rest Wiesen, Weiden und anderes. Enteignet wurden: – 1841 Großgrundbesitzer mit über 100 Hektar – 739 Nazis und Kriegsverbrecher. Insgesamt also 2580 Personen.“ 23 Siebert führte dann eine Fülle von Namen an, Fürsten, Herzöge, Grafen und Barone – Großbauern wurden hier aber nicht erwähnt. Er berichtet, dass – „34329 Landarbeiter und landlose Bauern […] – 19376 landarme Bauern […] – 22915 Kleinpächter […] – 13986 Umsiedler […] – 32488 Industriearbeiter und sonstige Werktätige“ mit Zuwendungen an Land in der Größe von jeweils 0,5 bis 7,5 Hektar in den Genuss der Bodenreform gekommen seien – also verhältnismäßig wenig Umsiedler. Er fasst zusammen: „2580 Fürsten, Grafen, Barone, Junker, Nazi- und Kriegsverbrecher wurden ohne Entschädigung [enteignet], aber 123094 Landarbeiter, landlose Bauern und Umsiedler“ erhielten Land, Vieh, Gebäude usw. 24 In Sachsen wurden 1155 Gutswirtschaften im Zuge der Bodenreform enteignet. Und wie überall wurde das Inventar inklusive des Mobiliars, der Kunstgegenstände, des Geschirrs, des Silbers usw. abtransportiert, wenn die Besitzer nicht rechtzeitig etwas in den Westen bringen konnten. 25 Die betroffenen Adligen selbst betonen nicht nur die Unrechtmäßigkeit dieser Enteignung, sondern auch die wirtschaftliche Un22

Das Dokument ist abgedruckt in von Plato/Leh, Unglaublicher Frühling (wie Anm.1), 263ff.

23

Ebd.264.

24

Ebd.265.

25

Die Zahl wird genannt von Henning von Kopp-Colomb, 60 Jahre Kampf um Heimat und Rückkehr, in:

Agnes von Kopp-Colomb/Henning von Kopp-Colomb (Hrsg.), Schicksalsbuch II des Sächsisch-Thüringischen Adels 1945 bis 1989 und von der Wende bis 2005. (Aus dem deutschen Adelsarchiv, Bd. 6.) Limburg

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sinnigkeit und erklären, dass die Masse derjenigen, die in den Genuss dieser Bodenreform kamen, ebenfalls gegen die Bodenreform gewesen sei. Eine Reihe der adligen Grundbesitzer wurde im Umfeld der Bodenreform verhaftet, in Sammellagern zusammengefasst und/oder in Speziallagern inhaftiert. Unter den circa 150000 Häftlingen der sowjetischen Speziallager in der Sowjetischen Besatzungszone waren auch adlige Grundbesitzer. Es gibt zwar inzwischen viele Transport- und einige Totenlisten aus den entsprechenden Gedenkstätten, aber meines Wissens sind sie nicht systematisch nach adligen Inhaftierten durchgesehen worden oder können dies vermutlich auch nicht wegen der mangelhaften Angaben. Aber die Totenlisten weisen eine Reihe von Namen aus, die im „Genealogischen Handbuch des Adels“ verzeichnet sind, von denen aber zumeist nicht klar ist, wann und in welchem Zusammenhang sie verhaftet wurden oder starben. Es gibt jedoch Dokumente, die belegen, dass es nach der Enteignung zu Verhaftungen gekommen ist. 26 Die meisten derjenigen, die ihr Land verloren, gingen in den Westen und mussten nun wie zuvor bereits viele Adlige aus den Ostgebieten zuvor einen Neuanfang versuchen. 2. Erfahrungsgeschichtliche Annäherungen Eine erfahrungsgeschichtliche Untersuchung über den geflohenen Adel gibt es noch nicht. Auch ich habe nicht speziell über adlige Flüchtlinge gearbeitet, aber in meinen allgemeinen Forschungen über Flüchtlinge und Vertriebene oder in meinen anderen erfahrungsgeschichtlichen Arbeiten zur Nachkriegszeit, besonders im Ruhrgebiet oder in Dresden und zur Wiedervereinigung, sind mir auch einige adelige Vertriebene und Flüchtlinge „untergekommen“, insgesamt 19, also eine relativ kleine Gruppe. Dennoch geben diese lebensgeschichtlichen Interviews einige Hinweise oder eröffnen Fragekomplexe, die zu weiteren Forschungen anregen. So hoch der Fall des Adels – betrachtet man den Verlust an Eigentum, Einfluss und Privilegien – auch ist, auf den zweiten Blick ist dieser Fall dennoch abgefederter als bei der Masse der Vertriebenen. Im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen an der Lahn 2005, 14–39. Beide Schicksalsbücher publizieren neben Vorworten und Einleitungen eine Fülle von persönlichen Lebensberichten. 26 Ebd. In einem Projekt zu den sowjetischen Speziallagern in Deutschland kamen wir zu dem Schluss, dass dort vermutlich insgesamt circa 189000 Personen interniert waren inklusive der verhafteten sowjetischen Soldaten. Etwas mehr als ein Drittel der Insassen ist umgekommen. Vgl. Alexander von Plato (Hrsg.), Studien und Berichte. (Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, Bd. 1.) Berlin 1998.

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fällt bei den Adligen auf, dass sie über soziales und kulturelles Kapital verfügten, das ihnen Chancen eröffnete, die andere nicht hatten. Dieses soziale Kapital zeigte sich schon während der Organisierung und Durchführung der Trecks, die über lange Strecken, manchmal über tausend und mehr Kilometer gingen. Schaut man sich die Stationen der Trecks an, so fällt auf, dass sie überwiegend von Gut zu Gut gen Westen zogen, häufig bei Verwandten auf ebenfalls bedrohten Gütern Halt machten, so gut es ging ernährt wurden und für Tiere und Menschen Rast bekamen. Auch andere Raststationen konnten von adligen Bekannten oder Verwandten organisiert werden. Sogar noch in den Westzonen zogen sie zunächst zu anderen Gütern 27, ehe sie sich auflösten, die Einzelnen ausgemachte Treffpunkte aufsuchten und allein oder bei Verwandten eine Ausgangsbasis erhielten, von wo aus sie sich auf das neue Leben vorbereiteten. Hier gab es also Verbindungen, häufig verwandtschaftliche, die andere Gruppierungen nicht oder nicht in diesem Ausmaß besaßen. Manche erhielten von ihren Verwandten mehr als nur eine kurze Aufnahme, wurden an andere Standesgenossen in neue Berufe vermittelt oder erhielten zeitweilig oder länger Unterstützung von Familien- beziehungsweise Adelsverbänden. Eberhard Fechner beispielsweise hat in seinem Film „Im Damenstift“ einige solcher alleinstehenden Damen befragt, die sogar langfristig Wohnraum und Unterstützung bekamen. Bei meinen Arbeiten über das Ruhrgebiet 28 war auffällig, dass eine ganze Reihe ehemaliger Stabsoffiziere aus dem Adel höhere Funktionen in Industrievorständen erhalten hatten. 29 Es gab „Konnexe“ sowohl aus dem Militär als auch aus – häufig schlagenden – Studentenverbindungen sowie dem sonstigen gemeinsamen Umfeld. Dasselbe galt etwas später für Diplomaten und nach Gründung der Bundeswehr auch für Militärs. Es wurde jungen Adligen schnell klargemacht, zu welchen militä-

27

In dieser Frage sind meine Eltern, begrenzt auch ich, Zeugen dieser Zeit und der Entwicklung in die-

sem Milieu, da ich von einem Gut stamme, das 1945/46 bis zu 99 Flüchtlinge aufnahm. Meine Mutter gewann außerdem ziemlich resolut andere Gutsbesitzer für die Aufnahme von Flüchtlingsgruppen oder Trecks, die auf unserem Hof nicht mehr unterkommen konnten. Meistens handelte es sich um Verwandte und ihren Anhang, mit denen meine Familie zum Teil bis heute Kontakt hat. 28

Vgl. hierzu von Plato, Fremde Heimat (wie Anm.19); ders., Flüchtlinge, Umgesiedelte und Vertriebene

in Ost und West (wie Anm.1); ders., Vergangene Perspektiven? (wie Anm.1); ders., Flüchtlinge und Fluchtverarbeitung in Ost und West (wie Anm.19). 29

Beispielsweise Victor von Schweinitz (1908–1985), der als Stabsoffizier an den Verhandlungen über

die Teilkapitulation der deutschen Wehrmacht in Italien beteiligt war und später eine leitende Funktion bei Ferro-Stahl einnahm. Mit ihm führte ich bereits 1981 ein Gespräch.

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rischen Verbänden sie zu gehen hatten; in Niedersachsen beispielsweise – und wohl nicht nur dort – ging „man“ zu den Panzeraufklärern, ob Spross einer adligen Einheimischen- oder einer adligen Flüchtlingsfamilie. Man lernte auch schnell, welche Schulen „man“ zu besuchen hatte, wo die adligen Kinder ihresgleichen fanden und manchmal auch Unterstützung. In manchen Internaten gab es das Bonmot, dass zwei reiche – Hamburger, Frankfurter oder sonstige – Bürger mit Ihrem Schulgeld einen verarmten Adelsflüchtling aus dem Osten durchzubringen hatten. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren lernten manche ältesten Söhne noch Berufe, die sie auf ihren Einsatz in der alten Heimat, zum Teil als Landwirte oder Förster, vorbereiten sollten. Das scheint nach meinen Gesprächen vor allem für jene zu gelten, die aus der SBZ/DDR kamen, während die aus dem entfernten Osten schon früher, vermutlich seit dem Ende der 1960er-Jahre und der Entspannungspolitik, nicht (mehr) an eine baldige Heimkehr glaubten. In den adligen Flüchtlingsfamilien achtete man besonders auf gute Manieren und Umgangsformen. Diese wurden in einem Interview explizit als „Kapital“ bezeichnet 30, das die Jungen und Mädchen aus ihren nun besitzlosen Familien mitbrächten und das wesentlich für das Fortkommen in der Nachkriegswelt gewesen sei – und dies in einer „Vor-Bourdieu’schen“ Zeit. In jeder Gruppe, besonders in Eliten, gibt es Verhaltensweisen, Kleidernormen, Umgangsformen, Ausdrucksweisen und „Signets“, durch die man sich von anderen absetzen will („distinction“ à la Bourdieu 31). Bei Adligen ist dies nicht anders und war wesentlich vor allem für die „Habenichtse“ aus dem Osten, um wenigstens ideell oder habituell dazuzugehören. Dazu zählen neben den „guten Manieren“ die dezente Eleganz, in der alles „zu“ abgelehnt wurde: nicht zu auffällig sollte man auftreten, ohne zu weite Ausschnitte, zu hohe Stöckelschuhe oder zu „knalligen“ Lippenstift oder Make-up. Verbreitet waren (und sind) dagegen die Schottenröcke mit Pulli und Perlenkette oder die Tweedjacke mit Cord- oder Jägerhose und dick besohlten Lederschuhen. Schwer war es für adlige Flüchtlinge, das antike Geschirr und das Silberbesteck möglichst mit Wappen, die antiken Möbel, „geschmackvolle“ Gardi-

30 So der Interviewpartner Herr von Menges, den ich 1989 interviewte und der ebenfalls eine leitende Funktion in der Ruhrindustrie innehatte. 31 Pierre Bourdieu, La Distinction. Critique sociale du Jugement. Paris 1979; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982.

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nen, Tapeten, Kissenbezüge und Lampenschirme zu besorgen, die man sich aber so bald wie möglich wieder anschaffte; auch Ölgemälde durften nicht fehlen, manchmal von echten Vorfahren, die man von Nicht-Flüchtlingen aus der Verwandtschaft bekommen hatte, manchmal waren es „unechte“. Das wichtigste Signet war und ist jedoch der Siegelring mit dem Familienwappen, den Jünglinge und junge Mädchen zur Initiation, meistens zur Konfirmation in der protestantischen Welt, bekamen und bekommen. Auch bestimmte Ausdrucksformen waren wichtig: Wer beispielsweise als Antwort auf eine Vorstellung „Angenehm“ sagte, war und ist „out“; zum guten Ton gehörte, dass man oder frau dann beispielsweise fragte: „Ach, Sie sind also die Mutter/Vater/Tochter/Sohn/Tante/Onkel/Cousin oder Cousine von XY“ (das „von“ wurde und wird nicht genannt). Und meistens lag man dabei richtig, so eng wie die heutigen circa 85000 Adligen in Deutschland untereinander verflochten sind, zumindest regional. Der richtige Handkuss gehörte dazu und natürlich die richtige Anrede (zum Beispiel „gnädige Frau“) bei persönlichen Treffen oder bei Anschreiben („IH“ beziehungsweise „SH“= Ihre beziehungsweise Seine Hochwohlgeboren plus Namen), wobei die familiären Anschreiben nur an den Mann gingen und häufig immer noch gehen. Überhaupt stellt das Geschlechterproblem eine echte Herausforderung für die Adelsverbände nach Flucht und Vertreibung dar; denn eigentlich konnte „mann“ nur Ritter in einer Ritterschaft, der meist regionalen Interessensvertretung des Adels werden, wenn man einen größeren Grundbesitz und ein Kastell vorweisen konnte. Das wurde nach Flucht, Vertreibung und Bodenreform im Osten, aber auch nach den vielen Pleitegängen von Gütern im Westen zunehmend obsolet, so dass man diese Voraussetzungen abschwächte. Zu einer solchen Art Distinktion gehört natürlich das Heiratsverhalten. Um Heiraten innerhalb des Adels zu ermöglichen, wurden Veranstaltungen oder Jugendfahrten („Adel auf Radel“), vorzugsweise von Gut zu Gut oder in die verlorenen Ostgebiete und natürlich die Adelsbälle organisiert, sobald dies möglich war. Manchmal waren dies regionale Bälle (zum Beispiel der „Kurmärker Ball“), auf denen die Flüchtlingsfamilien sich beziehungsweise ihren Nachwuchs präsentieren oder mit dem „hiesigen“ Adel verbinden konnten. Manchmal führte dies zu Aufspaltungen zwischen den bürgerlichen, wenig standesgemäßen Freunden und Kollegen aus der Nachbarschaft oder der Schule einerseits und den standesgemäßen Freunden aus dem adligen Milieu andererseits. Und waren die Adelsveranstaltungen erfolgreich, das heißt folgten daraus Hochzeiten, dann „zeigte“ der Bräutigam die bevorstehende Heirat mit XY „an“, während die Braut von ihren Eltern als Zukünftige des Herrn YZ

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vorgestellt wurde. All dies und mehr lernten die adligen Jugendlichen von ihren Eltern, auch wenn sie selber in ganz anderen Milieus, besonders nach Flucht und Vertreibung, aufgewachsen waren. 32 Das ist die eine Seite – die abfedernde. Aber es gab natürlich auch die andere: die vielen Klagen über die Behandlung als die „armen Schlucker“ aus dem Osten, über die mangelnde Hilfe von einem Teil der Standesgenossen, über die Demütigung, wie ein „Irgendwer“ behandelt worden zu sein, obwohl man aus demselben Milieu (demselben „Stall“), häufig sogar mit größeren Gütern, höheren Adelsprädikaten und bedeutungsvolleren Stellungen im Osten stammte. Es gibt überdies Berichte über innerfamiliäre Auseinandersetzungen, weil manche Kinder aus vertriebenen Adelsfamilien nicht in dieser Standeswelt leben wollten, die für sie kaum mit der Wirklichkeit von heute in Einklang zu bringen sei. 33 Das hieße, dass diese „Strategien der Distinktion“, die eigentlich als Abgrenzung des eigenen Milieus nach außen funktionierten, auch eine Seite der Distinktion nach innen hatten. Die gab es schon zuvor, wenn nicht immer, als Widersprüche zwischen dem städtisch-höfischen und dem ländlichen Adel, zwischen den verschiedenen Hierarchien und anderen mehr. Aber sie erscheint mir verschärft als eine Folge der Flucht und Vertreibung, auch wegen des allgemeinen Rückgangs des adligen Grundbesitzes in der Nachkriegszeit im Westen. Diese Abgrenzung nach innen musste natürlich von adligen Flüchtlingen als Zumutung empfunden werden. Ein Exkurs zum Schluss: 1989/90 und danach versuchte eine ganze Reihe von adligen Familien in der noch existierenden DDR und danach in den neuen Bundesländern, ihre alten Ländereien mit oder ohne die alten Herrenhäuser wiederzubekommen. Dass ihnen das verwehrt wurde oder sie dafür bezahlen mussten, dass es also keine einfache Rückgabe gab, hat große Empörung bei ihnen ausgelöst, obwohl auch ihnen klar war, dass nach fünfzig Jahren neuer Besitzverhältnisse die einfache Rückgabe zur Empörung, wenn nicht zu sozialen Verwerfungen auf der Seite der neuen Besitzer geführt hätte. Es gab Annoncen in großen Tageszeitungen, in denen

32 Adlige Frauen übrigens, die einen „Bürgerlichen“ heirateten, wurden aus dem Adelsregister gestrichen, dagegen „bürgerliche“ Frauen, die einen Adligen ehelichten, in dasselbe aufgenommen. Das mutet nicht nur „vormodern“ an, sondern steht in Widerspruch zu der großen Bedeutung, die den adligen Flüchtlingsfrauen zu Recht zugeschrieben wurde, die – wie erwähnt – maßgeblich die Flucht und das Nachkriegsleben organisierten. 33 So hat zum Beispiel die Publizistin und Politikerin Jutta von Ditfurth, die 1951 geboren wurde, das „von“ aus ihrem Namen gestrichen.

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frühere Großgrundbesitzer die Angehörigen der Regierungen Kohl und de Maizière als Betrüger bezeichneten, weil sie die Enteignungen in der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone nachträglich gerechtfertigt hätten. Die Regierungen und später auch das Verfassungsgericht hatten in der Tat argumentiert, dass die sowjetische Regierung unter Michael S.Gorbatschow der Wiedervereinigung nur unter der Bedingung zugestimmt habe, dass die wesentlichen Maßnahmen unter der sowjetischen Besatzung bis 1949 nicht rückgängig gemacht würden; dazu zählte auch die Bodenreform mit den Enteignungen bis 1949 im Gegensatz zu denen nach 1949. Gorbatschow selbst hat sich dazu verschwommen oder sogar verneinend geäußert. 34 Dennoch gehe ich nach meinen Arbeiten zu den internationalen Aspekten der Wiedervereinigung davon aus, dass Gorbatschow und sein damaliger Außenminister Eduard Schewardnadse diese Bedingungen als Voraussetzungen für die Unterzeichnung des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ gestellt hatten. 35 Um diese Bedingungen festzuhalten, musste nämlich ein Brief auch mit einem Siegel der DDR angefertigt werden, das erst aus der alten DDR-Botschaft besorgt werden musste, wie Lothar de Maizière berichtete. 36 Einige der von mir zu diesem Thema befragten Adligen, darunter einer, der bei den Verhandlungen dabei war 37, meinen allerdings, dass ein solcher Brief nicht dieselbe völkerrechtliche Bedeutung hat wie der Vertrag selbst und dass die Bundesregierung die Rückgabe trotz dieses Briefes hätte ermöglichen können. Diejenigen, die ihre alten Ländereien und Herrenhäuser wiederbeschafft haben, nehmen für sich in Anspruch, dass diese heute in besserem Zustand seien als diejenigen, die die Kommunen oder Länder bewirtschaften. Überdies seien die Besitztümer und die Finanzen der Bundesrepublik durch die faktische Fortsetzung der Enteignung extrem verbessert worden. Dass jedoch auf der anderen Seite die neuen Besitzer nach der Enteignung durch die Bodenreform eine solche Aktion „Bauernland in Junkerhand“ 38 als eine neue Enteignung nach der Wiedervereinigung und als ein neues unakzeptables Unrecht empfanden, liegt auf der Hand.

34

Soviel Kleinkram. Ein Brief Gorbatschows macht enteigneten deutschen Grundeigentümern Hoff-

nung – zu Unrecht, in: Der Spiegel 36, 1994, 27–31. 35

Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands. Ein internationales Machtspiel. Berlin 2010.

36

Vgl. dazu im einzelnen ebd. das Kapitel „Exkurs zum Grundbesitz – Rückgabe vor Entschädigung?“,

358–362. 37

Der Befragte möchte anonym bleiben.

38

So formulierte es in Abwandlung eines historischen Zitats („Junkerland in Bauernhand“) der PDS-

Slogan „Bauernland in Junkerhand?“, vgl. Privatarchiv des Autors, Foto des Plakats in Salzwedel 1989.

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Regionale Verortung adliger Wiedereinrichter als Projektionsfläche von Adel von Sophia von Kuenheim

Im Jahr 1951 wurde in Hannover der Verband „Der Sächsische Adel“ gegründet. 1 Zahlreiche Adlige hatten ihren Wohnort in Sachsen in Folge von Flucht und Vertreibung 2 verlassen. 3 Angehörige sächsischer Adelsfamilien verfolgten mit der Gründung des Vereins das Ziel, die im gesamten Bundesgebiet lebenden Adligen miteinander zu vernetzen und an ihre gemeinsame Herkunft zu erinnern. Die aus dem Sächsischen stammenden Adligen sind in diesen Bestrebungen sehr aktiv gewesen. Das unterscheidet sie etwa von Adligen aus Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, die einen ähnlichen Erfahrungshintergrund hatten. Die „Vereinigung des Adels in Berlin“ erweiterte sich nach 1990 zwar um Mitglieder aus Brandenburg und nennt sich seitdem „Vereinigung des Adels in Berlin und Brandenburg“. Eine Vernetzung brandenburgischer Adliger aus dem gesamten Bundesgebiet war aber nicht das Ziel des Verbandes, und die Verbandsaktivitäten gingen kaum über gelegentliche 1 Zur Geschichte des Vereins Henning von Kopp-Colomb, Sächsischer Adel heute (1945–1995), in: Kathrin Keller/Josef Matzerath (Hrsg.), Geschichte des sächsischen Adels. Köln/Weimar/Wien 1997, 327–343. Erst im Jahr 1986 wurde ein Vorstandsbeschluss gefasst, den Verband als e. V. einzutragen. Vgl. Sigrid von Moisy, Aus der Adelskapitel-Sitzung in Kaufungen (3.–4.Mai 1986), in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 28, 1986, 23–24, hier 24. 2 Zum Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ vgl. unter anderem Mathias Beer, „Flucht und Vertreibung“. Eine deutsche Streitgeschichte, in: Peter Haslinger/K. Erik Franzen/Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 108.) München 2008, 261–277; Susanne Greiter, Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ. (Geschichtswissenschaften, Bd. 29.) München 2014, 89–92. 3 Diese Ereignisse sind noch nicht systematisch erfasst. Einen Einblick geben die Erfahrungsberichte einzelner Adliger in zwei Quellensammlungen, die von ehemaligen Mitgliedern des Vereinsvorstandes herausgegeben wurden: Agnes von Kopp-Colomb/Henning von Kopp-Colomb/Adam von Watzdorf (Hrsg.), Schicksalsbuch I des Sächsisch-Thüringischen Adels. 1945. (Aus dem Deutschen Adelsarchiv NF., Bd. 5.) Limburg an der Lahn 2005; Agnes von Kopp-Colomb/Henning von Kopp-Colomb (Hrsg.), Schicksalsbuch II des SächsischThüringischen Adels. 1945 bis 1989 und von der Wende bis 2005. (Aus dem Deutschen Adelsarchiv NF., Bd.6.) Limburg an der Lahn 2005. Zu Flucht und Vertreibung des Adels generell vgl. den Beitrag von Alexander von Plato in diesem Band.

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Treffen der Mitglieder hinaus. 4 In Mecklenburg gab es keinen vergleichbaren Verein. 5 Die Vereinigung des auch weiterhin „sächsischen Adels“ nutzte zur Erinnerung an Sachsen ihre Verbandszeitschrift, die seit 1973 zweimal jährlich unter dem Namen „Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel. Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt“ erschien. Hier thematisierte sie die Geschichte der Region, und die Mitglieder verliehen ihrem Verbundenheitsgefühl Ausdruck. 6 Das macht das „Nachrichtenblatt“ zu einer geeigneten Quelle, um die Heimatbezüge einer größeren Gruppe von Adligen genauer zu betrachten. Viele Adlige entschieden sich nach 1990 gegen einen Umzug in die Herkunftsregion der Vorfahren, einige jedoch auch für einen persönlichen Neuanfang auf ehemals in Familienbesitz befindlichem Boden. Das Ausgleichsleistungsgesetz nennt sie Wiedereinrichter. Der Begriff bezeichnet „natürliche Personen“, die nach dem Ende der DDR „ihren ursprünglichen Betrieb wieder eingerichtet haben und ortsansässig sind“. 7 Für den sächsischen Adelsverband war diese rechtliche und wirtschaftliche Dimension des Begriffes jedoch nicht zentral. Als Wiedereinrichter wurden im Verband Mitglieder bezeichnet, die sich nach 1990 in der Region ansiedelten oder dort Land kauften. Diese Definition war wesentlich weiter gefasst, wie im Folgenden noch gezeigt wird. Es handelte sich in der Regel um den ursprünglichen Besitzer oder dessen Nachfahren, die sich dort ansiedelten, wo ihre Familie bis 1945 lebte. Nicht nur nach Sachsen, auch in andere Gebiete der ehemaligen DDR zogen

4 Auskunft der Vorsitzenden Heidi Freifrau von Kettler, Telefonat vom 28.Februar 2012. 5 Zur gleichwohl vorhandenen Vernetzung vgl. Sophia von Kuenheim, Vergesellschaftung und soziale Ordnung nach 1990. Adel in Mecklenburg-Vorpommern, in: Wolf Karge (Hrsg.), Adel in Mecklenburg. (Wissenschaftliche Beiträge der Stiftung Mecklenburg, Bd. 3.) Rostock 2013, 173–186. 6 So beispielsweise in der Berichterstattung über die Entscheidung den Verband für Adelsfamilien aus Thüringen, der ehemaligen Provinz Sachsen und Anhalt zu öffnen, o. A., o. T., in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 1, 1973, 1. Trotz der Erweiterung des Bezugsrahmens blieb der Verbandsname ausschließlich auf Sachsen bezogen, anders als etwa bei den „Schicksalsbüchern“ (vgl. Anm.3). 7 Gesetz über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (AusglLeistG), § 3, Abs. 2, vom 27.9.1994 (BGBl. I 2626, 2628), berichtigt durch Gesetz vom 12.1.1995 (BGBl. I 110). Das Gesetz wurde von vielen Betroffenen stark kritisiert, vgl. hierzu Henning v. Kopp-Colomb, Es ist nichts endgültig geregelt, was nicht gerecht geregelt ist, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel e. V. Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 18, 1991, 1 sowie den Beitrag von Alexander von Plato in diesem Band.

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nach 1990 Adlige. Sie beriefen sich auf die Wurzeln ihrer Familien, indem sie ihren persönlichen Neuanfang vor Ort als Rückkehr werteten. 8 Der Verband „Der Sächsische Adel“ hat während der Zeit der DDR stets seine Verbundenheit zur Region betont und unterstrichen, dass er sich aus der individuellen Bezogenheit der Mitglieder zu Sachsen konstituiert. 9 Dabei hofften die Autoren auf eine Wiedervereinigung. 10 Der gemeinsame Erfahrungshintergrund der Mitglieder veränderte sich nach 1990. Jetzt stellte sich die Frage nach dem Umgang mit den neuen Möglichkeiten. Mit der Entscheidung Einzelner zum Neuanfang in der Herkunftsregion der Vorfahren verband die Nichtverfügbarkeit Sachsens als Wohnort nicht mehr alle Mitglieder miteinander. Das Selbstverständnis als „vertriebener Adliger in Westdeutschland“ war nicht mehr für alle Vereinsangehörigen aktuell. Die Wiedereinrichter hatten nun andere Heimatbezüge, und damit stellt sich auch die Frage nach den Veränderungen, die sich innerhalb des Verbandes ergaben. In der Erinnerung an Sachsen nahmen die Rittergüter eine zentrale Stellung in der Berichterstattung der Verbandszeitschrift ein. Die Rittergutsthematik wurde prominent behandelt, gleichzeitig war jedoch die Frage nach der Zahl der sächsischen Rittergüter, die 1945 tatsächlich in adliger Hand waren, zweitrangig. Präzise Daten liegen hier lediglich für einen Teil der Bezugsregion vor. Tim S. Müller hat die Anzahl der vogtländischen Rittergüter in adligem Besitz für die Jahre 1763–1945 er-

8 Publizistisch nutzten den Umzug u.a. Daisy Gräfin von Arnim/Kathrin Schultheis, Die Apfelgräfin. Marburg an der Lahn 2010; Bernhard von Barsewisch/Gisa von Barsewisch, Bei den „Edlen Gänsen“ zu Tisch. Vom Kochen und Leben in märkischen Gutshäusern. Ein Zeitbild mit alten Rezepten. Berlin 2008; Ilse Gräfin von Bredow, Denn Engel wohnen nebenan. Rückkehr in die märkische Heide. München 2003. Berichte über und Porträts von Wiedereinrichtern haben Konjunktur, siehe unter anderem Marion Kiesewetter, Fürstliche Menüs. T.3: In historischen Gemäuern festlich speisen – Mecklenburg-Vorpommern. Heide 2007; Bernd Lasdin, Die Rückkehr zu den Familien. Ein Jahrzehnt später. Röbel/Müritz 2011. Neben Porträts bietet Martina Schellhorn, Heimat verpflichtet. Märkische Adlige – eine Bilanz nach 20 Jahren. Großbeeren 2012, ein ausgesprochen einseitiges Bild des Adels im Nationalsozialismus, das sich auf den Widerstand beschränkt. 9 Für den Bezug Einzelner zur Region stehen etwa die Reiseberichte mancher Mitglieder, etwa o. A., Wense. Zum 80. Geburtstag nach 40 Jahren gemeinsam wieder in der Heimat, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 13, 1985, 26. 10 Beispielsweise im ersten Rundschreiben des Verbandes von 1951, zitiert in Henning von Kopp-Colomb, Einleitung, in: von Kopp-Colomb/von Kopp-Colomb/von Watzdorf (Hrsg.), Schicksalsbuch I (wie Anm.3), 17–45, hier 17 oder auch in o. A., Oberfläche und Tiefe, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 2, 1974, 1.

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hoben. 11 Unter den 120 im Landtagswahlverzeichnis von 1832 aufgeführten Rittergütern waren 1945 lediglich 22 Güter noch im Besitz Adliger. 12 Diese geringe Zahl – es handelt sich hier überdies um nur 16 adlige Besitzer – mag ein erster Hinweis dafür sein, dass die Bedeutung des ehemaligen Rittergutsbesitzes für den Regionalbezug des Vereins im Bereich des Symbolischen lag. Der folgende Beitrag geht anhand von Beispielen der Frage nach, wie das Verbundenheitsgefühl, auf das sich Wiedereinrichter beriefen, entsteht und welchen Inhalt es hat. Als Wiedereinrichter werden hier solche Adlige betrachtet, die sich nach 1990 in Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg ansiedelten. Der Begriff orientiert sich dabei nicht an der rechtlichen Dimension, sondern an dem weiter gefassten Begriff des Adelsverbandes und spiegelt damit das Selbstverständnis der Mitglieder wider. Es gilt zu überprüfen, ob diese Adligen über ein spezifisches Heimatverständnis verfügten und welche Projektionsmöglichkeiten sich damit verbanden. Der vorliegende Beitrag thematisiert damit Heimatbezüge, die eine Differenz zwischen dem Ort der eigenen Geburt und dem der Vorfahren sichtbar machen. Diese unterschiedlichen Bezüge sind in den Lebensentwürfen dieser Adligen leicht erkennbar, anders etwa als bei adligen Familien, die über Generationen ortsansässig waren. Der Begriff der Heimat ist mehrdimensional. Er umfasst, vor allem im 20. Jahrhundert, politische, individualpsychologische, literarische, philosophische und gesellschaftliche Aspekte. 13 Im Vordergrund des vorliegenden Beitrages stehen nicht die definitorischen und weltanschaulichen Ambivalenzen, die der Begriff mit sich

11

Tim S. Müller, Verlusterfahrung und Konsolidierung. Adliger Rittergutsbesitz zwischen Rétablisse-

ment und Bodenreform – Eine Regionalstudie aus dem sächsischen Vogtland, in: Ivo Cerman/Lubos Velek (Hrsg.), Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne. (Studien zum Mitteleuropäischen Adel, Bd. 2.) München 2009, 285–299. 12

Ebd.299.

13

Zur historischen Dimension des Begriffes Bernd Hüppauf, Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten

Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung, in: Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter (Hrsg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld 2007, 109– 140. Aus der Vielzahl der Werke, die sich mit dem Heimatbegriff befassen, seien hier nur zwei genannt Friederike Eigler/Jens Kugele (Hrsg.), Heimat. At the Intersection of Space and Memory. Berlin 2012; Geschlechterdifferenzen bei der Heimatdefinition betrachtet Miriam Kanne, Andere Heimaten. Transformationen klassischer „Heimat“-Konzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur. (Kulturwissenschaftliche Gender Studies, Bd. 16.) Sulzbach 2011.

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bringt, der daher auch als „Assoziationsgenerator“ 14 bezeichnet wird, sondern vielmehr der Prozess der „Beheimatung“ 15. In diesem Sinne soll ergründet werden, wie Adlige, die sich nach 1990 zu einem Neuanfang entschlossen, ihren Heimatbegriff entwickelten. Dabei ist auch zu fragen, ob es über die individuellen Bestrebungen nach Verortung hinaus auch eine gesellschaftliche Konstruktion des Begriffes innerhalb der Sozialformation gegeben hat und wenn ja, welchen Interessen diese folgte. 16 Die Perspektive, unter der Heimat nicht mehr als konkreter Ort betrachtet wird, sondern als Bemühen um die Beheimatung, wird auch als „Entlokalisierung von Heimat“ bezeichnet. 17 Gemäß diesem Ansatz liegt der Fokus auch dieses Beitrages weniger auf dem konkreten Ort als Heimat. Es wird vielmehr die ideelle Beheimatung betrachtet, die sich mit der regionalen Verortung verbindet sowie die Projektionsmöglichkeiten, die sich aus diesen Zugehörigkeitsaussagen ergeben. Als Fallbeispiel verdeutlicht die Geschichte des Ehepaares Dorothee und HansGeorg von der Marwitz, wie sich Heimatbezüge Adliger gestalten konnten. HansGeorg von der Marwitz war zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Landwirt. Er zog 1990 mit seiner Frau nach Friedersdorf im Landkreis Märkisch-Oderland und kaufte beziehungsweise pachtete dort Land. Das Schloss, in dem sein Großvater bis 1945 gelebt hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Zu Beginn lebte das Ehepaar in einem Wohnwagen, bis es später das Wohnhaus beziehen konnte. Der Landwirt gründete drei verschiedene landwirtschaftliche Betriebe und bewirtschaftete 2011 etwa 900 Hektar. Sein politischer Weg führte ihn über den Gemeinderat Friedersdorf und den Kreistag 2009 in den Bundestag. Dort gehörte er der CDU/CSUFraktion an. Darüber hinaus engagierte er sich in zahlreichen Verbänden ehrenamtlich, beispielsweise in der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Branden-

14 Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter, Heimatdenken; Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Heimat (wie Anm.13), 9–56, hier 9. 15 Beate Mitzscherlich, „Heimat ist etwas, was ich mache“. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. (Münchner Studien zur Kultur- und Sozialpsychologie, Bd. 9.) Pfaffenweiler 1997, 141ff. 16 Vgl. Manfred Seifert, Das Projekt „Heimat“ – Positionen und Perspektiven. Zur Einführung, in: ders. (Hrsg.), Zwischen Emotion und Kalkül. ‚Heimat‘ als Argument im Prozess der Moderne. (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 35.) Leipzig 2010, 9–22, hier 12. 17 Sönke Friedreich, Die Entstehung des Heimatgedankens aus der Mobilität. Das historische Beispiel des sächsischen Erzgebirges, in: Seifert (Hrsg.), Zwischen Emotion und Kalkül (wie Anm.16), 87–101, 87.

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burg-schlesische Oberlausitz, im Johanniterorden und in der Krebshilfe MärkischOderland. 18 Das Ehepaar Dorothea und Hubertus von Below präsentierte eine andere Art der Verbundenheit zu einem spezifischen Ort. Diese soll hier als Vergleichsfall thematisiert werden. Sie fühlten sich dem Schlossberg Döben im Landkreis Leipzig verbunden. Der Schlossberg war bis 1945 im Besitz einer Familie von Böhlau, die als sächsischer Zweig der Familie von Below gilt. Das Schloss wurde 1972 gesprengt. Als das Paar gemeinsam mit den Eltern des Ehemannes den Schlosshügel erwarb, bestand dieser hauptsächlich aus verfallenden Nebengebäuden. Die Familie errichtete dort ein Haus, das sie 1993 bezog. 19 Hubertus von Below war als niedergelassener Augenarzt tätig. Seine regionale Verortung unterstrich er unter anderem durch sein politisches Engagement in Sachsen. 20 Die Auseinandersetzung des Ehepaares mit der Geschichte des Schlosses spiegelte sich in seiner Mitgliedschaft im „Freundeskreis Dorf und Schloss Döben e. V.“ wider sowie auch in der Publikation einer Rezeptsammlung. Das Kochbuch versammelt Rezepte aus der Döbener Schlossküche des 18.Jahrhunderts, es wurde von Dorothea von Below in Zusammenarbeit mit dem Staatsarchiv Leipzig bearbeitet und herausgegeben. 21

18

Zu seiner Person unter anderem: „Lebenslauf“, http://www.von-der-marwitz-mdb.de/index.php?ka=2

&ska=-1 [Zugriff am 22.1.2012]; Christian Graf von Krockow, Fahrten durch die Mark Brandenburg. Wege in unsere Geschichte. Stuttgart 1991, 326ff.; Ulrike Gentz, Hans-Georg von der Marwitz: Der Landwirt aus dem Allgäu, in: Adlige Rückkehrer im Land Brandenburg. Ihr heutiges Engagement und das Wirken ihrer Vorfahren 1806–2000. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Geschichtswerkstatt e. V. Berlin 2001, 67–76; Schellhorn, Heimat (wie Anm.8), 66–79; Lars Fischer/Kenneth Anders, „Der Erfolg braucht viele Väter. Im Gespräch mit dem Landwirt und engagierten Friedersdorfer Kommunal- und Bundespolitiker Hans-Georg von der Marwitz“, April 2010, http://www.oderbruchpavillon.de/bausteine/kolonisten/vondermarwitz.html [Zugriff am 1.7.2015]. Die Einschätzungen seiner Frau fließen zwar stets in die Berichte mit ein, Publikationen über sie oder von ihr gibt es jedoch nicht. 19

Hubertus von Below, Auf den Spuren der Familie, in: Bruno J. Sobotka/Jürgen Strauss (Hrsg.), Burgen,

Schlösser, Gutshäuser in Sachsen. (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e. V., Reihe C.) Witten 1996, 383–386, in ähnlicher Form zuvor schon veröffentlicht in: Hubertus von Below, Auf den Spuren der Familie, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel e. V. Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 21, 1994, 14f. 20

Hubertus von Below war in verschiedenen konservativen beziehungsweise nationalkonservativen

Parteien in Sachsen aktiv, unter anderem als Stadtrat in Grimma sowie als Beisitzer des Landesvorstandes der Alternative für Deutschland. Vgl. hierzu http://afdsachsen.de/anlagen_db/info/35.pdf [Zugriff am 2.7.2015]. 21

Dorothea von Below (Hrsg.), Rezepte aus der Schlossküche. Geschichten und Gerichte vom Schloss

Döben bei Grimma. Leipzig 2006.

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Beide Männer, Hans-Georg von der Marwitz und Hubertus von Below, sprachen davon, dass sie die Entscheidung für den Neuanfang nicht für sich allein getroffen haben. Hubertus von Below hob etwa hervor, dass sowohl seine Eltern als auch die Eltern seiner Frau Flüchtlinge gewesen seien und dieser Umstand ihn und seine Frau stark beeinflusst und geprägt habe. 22 Er legte Wert darauf, seine Motive für den Umzug nach Sachsen darzulegen und benannte sie mit dem Wunsch, für die Familie wieder einen „Kristallisationspunkt“ zu schaffen. 23 Hans-Georg von der Marwitz begründete die Entscheidung anders, er betonte die Bedeutung, die ein Denken in Generationen für seine Entscheidung gehabt habe 24 und sagte darüber hinaus, „dass das, was ich heute verwalten darf, nicht zum Verzehr gesetzt ist, sondern zum Erhalt und zur Weitergabe in die nächste Generation“. 25 Das Ehepaar von Below vergesellschaftete sich als Mitglied des sächsischen Adelsvereins mit anderen adligen Familien. Es bot dem Verband die Möglichkeit, das ehemalige Schlossgelände für Veranstaltungen zu nutzen 26 und veröffentlichte im „Nachrichtenblatt“ einen Erfahrungsbericht in der Rubrik „Wiedereinrichter“. 27 Die in dieser Rubrik erschienen Artikel wurden, ebenso wie die Mehrzahl der anderen Beiträge der Zeitschrift, von Verbandsangehörigen verfasst. An der Themenwahl und den Schwerpunkten der Berichterstattung lässt sich ablesen, was im Verband als angemessen aufgefasst wurde, welche Themen und Sinnsetzungen also innerhalb der Sozialformation als akzeptabel galten. 28 Das „Nachrichtenblatt“ bildete insofern das Gruppenleben ab und prägte es gleichermaßen. Ähnliches gilt auch für

22 von Below, Spuren (wie Anm.19), 14. 23 Ebd. 24

Hans-Georg von der Marwitz in der ZDF-Sendung „Aspekte“ vom 11.März 2011, http://www.zdf.de/

ZDFmediathek/beitrag/video/1281282/Bauernland-in-Junkerhand#/beitrag/video/1281282/Bauernlandin-Junkerhand [Zugriff am 19.1.2012]. 25 In: Deutsche Welle – euromaxx, „Alter Adel – Neue Aufgaben: Hans Georg von der Marwitz“, vom 15.März 2011, http://www.youtube.com/watch?v=L1yOGM2DPi4&feature=relmfu [Zugriff am 22.1.2012]. 26 Anlässlich des sogenannten Adelstages, einer Wochenendveranstaltung mit Mitgliederversammlung, Ausflügen und Ball, war der Verband in den Jahren 1997 und 2000 beim Ehepaar von Below in Döben zu Gast, vgl. Wilhelma von Albert, 45. Adelstag in Bad Lausick, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel e. V. Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 25, 1998, 4; dies., Adelstag 2000 in Bad Lausick, in: Nachrichtenblatt des Verbandes Der Sächsische Adel e. V. Sachsen – Provinz Sachsen – Thüringen – Anhalt 28, 2001, 3f., hier 4. 27 von Below, Spuren (wie Anm.19). 28 Zur Verhandlung der Zugehörigkeit zur Sozialformation vgl. unter anderem Josef Matzerath, Der durchschossene Hut des Freiherrn von Friesen. Zur Institutionalisierung von Adeligkeit, in: Eckart Conze/

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die erwähnten Bände „Schicksalsbuch I des Sächsisch-Thüringischen Adels. 1945“ und „Schicksalsbuch II des Sächsisch-Thüringischen Adels. 1945 bis 1989 und von der Wende bis 2005“. 29 Auch diese Bände bilden das Gruppenleben und die Akzeptanzkriterien der Sozialformation ab, indem die Berichte einem Muster folgen, das den Bezug des Einzelnen zur eigenen Herkunftsregion beziehungsweise der der Vorfahren betont. Zu Zeiten der deutschen Teilung lag diese Region jenseits des Erreichbaren. Der Heimatbegriff wurde auf diese Weise zum Defizitbegriff. Die individuelle Entscheidung der Wiedereinrichter für den Neuanfang bedeutete somit, dass sie eine defizitäre Situation beendeten, einen „Mangelzustand“ abstellten. Obwohl diese Bücher Berichte von Wiedereinrichtern enthielten und obwohl in der Verbandszeitschrift regelmäßig über sie und ihre Aktivitäten berichtet wurde, erfasst der sächsische Adelsverein ihre genaue Zahl nicht. Dem Vorsitzenden waren 2012 rund 40 Wiedereinrichter persönlich bekannt, das entspricht 2,67 Prozent der Verbandsmitglieder. 30 Einen ähnlich aktiven Verein wie den sächsischen Adelsverein, in dem sich das Ehepaar von der Marwitz hätte vergesellschaften könnte, gab es für die Region Brandenburg nicht. Die „Vereinigung des Adels in Berlin und Brandenburg“ trifft sich zwar jährlich zum „Kurmärker Ball“, für Brandenburg gab es jedoch kein Forum, das eine stetige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den persönlichen Lebenswegen der Wiedereinrichter ermöglichte. 31 Die Erfahrungen des Ehepaares von der Marwitz sind aber medial vielfach betrachtet worden. Anders als bei Dorothea und Hubertus von Below geht der Wirkradius der Erzählungen daher über die regionale Adelsgesellschaft hinaus, so dass sie eine größere Öffentlichkeit erreichen. Am Beispiel von Hans-Georg von der Marwitz lässt sich die Wirksamkeit familieninterner Vermittlungsleistungen beobachten. Er betonte, keine Erziehung genossen zu haben, die ihn auf seinen Neuanfang vorbereitet hätte: „Ich bin der 18. Enkel Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2004, 237–246, 240ff. 29

von Kopp-Colomb/von Kopp-Colomb/von Watzdorf (Hrsg.), Schicksalsbuch I (wie Anm.3); von Kopp-

Colomb/von Kopp-Colomb (Hrsg.), Schicksalsbuch II (wie Anm.3). Es bleibt unklar, ob diese eine ähnliche Verbreitung erfuhren wie das Nachrichtenblatt. 30

Auskunft des Vorsitzenden des „Verband[es] Der Sächsische Adel e. V. Sachsen – Provinz Sachsen –

Thüringen – Anhalt“ Wolf von Watzdorf in einer Email vom 22.Februar 2012. In von Kopp-Colomb/von Kopp-Colomb (Hrsg.), Schicksalsbuch II (wie Anm.3), sind 30 Berichte von Wiedereinrichtern enthalten. 31

Der Verband hat etwa 220 Mitglieder (Auskunft der Vorsitzenden Heidi Freifrau von Kettler, Tele-

fonat vom 28.Februar 2012).

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meines Großvaters, unter normalen Bedingungen wäre ich nicht Besitzer von Friedersdorf geworden. Also insofern hatte ich nie das Gefühl, Friedersdorf wäre im weitesten Sinne meins oder unser.“ 32 Nichtsdestotrotz stand sein Leben und Arbeiten in Friedersdorf in enger Verbindung zur Familiengeschichte. Als Abgeordneter des Bundestages war er Mitglied des Ausschusses für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz. Auf der Homepage, die seine Arbeit als Bundestagsabgeordneter vorstellte, verwies er auf seine Familiengeschichte. 33 Die Begründung für sein politisches Engagement und die Leitbilder seines politischen Handelns fand von der Marwitz innerhalb der Familie. Er vertrat als Politiker keine adligen Sonderinteressen, indem er aber die Vorbilder seines politischen Handelns innerhalb seiner Abstammungsfamilie suchte, konnte er sein politisches Engagement zur Projektionsfläche seiner Zugehörigkeit zum Adel machen. Die Arbeit als Landwirt stellte er in Beziehung zur Guts- und Grundherrschaft, die seine Vorfahren pflegten. 34 Er präsentierte somit ein Modell des Vergangenheitsbezuges, mit dem er sowohl seine Arbeit als Politiker als auch die Tätigkeit als Landwirt mit der Familiengeschichte verband. Als Projektionsfläche von Adel konnte daher auch sein Wohnort dienen, der die Geschichte und das Alter der adligen Abstammungsfamilie symbolisiert. Hans-Georg von der Marwitz und seine Frau leben mit ihren Kindern im ehemaligen Torhaus des in den 1950er-Jahren gesprengten Schlosses. Der Wohnort der Familie symbolisiert zugleich die historische Verbundenheit der Familie mit dem Ort Friedersdorf als auch den persönlichen Neubeginn des Ehepaares. Hubertus von Below betonte, wie erwähnt, dass er in Döben den „Kristallisationspunkt“ für die Familie sah. 35 Mit dem Umzug dorthin verband sich der Versuch, dem Defizit an Heimat zu begegnen. Dabei wurden der vorherige Heimatverlust und das dadurch entstandene Defizit nicht nur als individuell prägende Ereignisse darge-

32 Hans Georg von der Marwitz, in: Lange Schatten. Brandenburger Landtag befasst sich mit der Bodenreform von 1945, Deutschlandradio Kultur 24.Februar 2009, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/laenderreport/921260/ [Zugriff am 7.2.2012]. 33 http://www.von-der-marwitz-mdb.de/index.php?ka=2&ska=20 [Zugriff am 19.1.2012]. Er schließt hier an das Handeln seines Großvaters Bodo von der Marwitz an, der sich um die Familiengeschichte bemühte: Dorothee von der Marwitz/Hans Georg von der Marwitz, Friedersdorf und die Familie von der Marwitz – gestern und heute, in: Bruno J. Sobotka/Jürgen Strauss (Hrsg.), Burgen, Schlösser, Gutshäuser in Brandenburg und Berlin. (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e. V., Reihe C.) Stuttgart 1993, 54–57, hier 56. 34 Gentz, Marwitz (wie Anm.18), 74. 35 von Below, Spuren (wie Anm.19), 15.

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stellt, sondern auch auf die Großfamilie bezogen. 36 Auch diese verfügte durch den Umzug nun über die Möglichkeit, die Projektionsfläche zu nutzen, die der Schlossberg Döben bot. Die persönlichen Bestrebungen zur regionalen Verortung erfuhren auch Bestätigung und Verstärkung von außen. Von der Marwitz repräsentierte als Mitglied des Bundestages seine Region. Damit brachte seine politische Tätigkeit ihn stärker mit dem Oderbruch in Verbindung. Auch von Below nutzte die Politik, um seiner Verbundenheit zur Region Ausdruck zu verleihen, in seinem Fall erst auf lokaler und später dann auf Landesebene. Der aktive Prozess der Beheimatung lässt sich darüber hinaus anhand des Engagements der beiden Adligen in lokalen Vereinen nachzeichnen, und auch die regionale Bedeutung der Familiengeschichte war im Prozess der Heimataneignung relevant, repräsentierten doch Adlige für ihre direkte Umwelt eine historische Tradition. Anders als im Allgäu trugen der Name „von der Marwitz“ und seine Bedeutung für die regionale Geschichte dazu bei, die Wiedereinrichter mit der Region zu verbinden. 37 Eine ähnliche Wirkung hatte es, wenn von Below auf den Zusammenhang zwischen den Namen Böhlau und Below angesprochen wurde. 38 Die beiden vorgestellten Beispiele adliger Wiedereinrichter zeigen unterschiedliche Wege, einen Heimatbezug herzustellen. Hans-Georg von der Marwitz und seine Frau wählten den Ort für ihren Neuanfang, an dem der Großvater des Mannes als Gutsherr gelebt hatte. Hubertus von Below dagegen legt ein anderes Modell eines Heimatbezuges dar, eine ideelle Beheimatung, die sich mithilfe eines entfernten Familienzweiges konstruieren ließ. Obwohl weder Hubertus noch Dorothea von Below direkte Nachfahren der letzten Schlossbesitzer waren, sahen sie in Döben die Möglichkeit, sich „auf den Spuren der Familie“ zu bewegen. 39 Sie stellten den Bezug zur Familie indirekt her und präsentierten damit eine neue Facette des Heimatbegriffes. Die Aufnahme ihrer Heimatkonstruktion in den Kanon von Erfahrungsbe-

36

Ebd.

37

„[…] ein Marwitz in der Uckermark oder ein Marwitz in der Prignitz oder ein Marwitz im Ruppiner

Land wäre nur ein Rückkehrer oder Wiedereinrichter von vielen gewesen, vielleicht mit einem altehrwürdigen Namen. Aber diese Kombination – Marwitz und Friedersdorf – […] das ist eine Verbindung, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit provoziert.“ Von der Marwitz im Interview mit Ulrike Gentz, Gentz, Marwitz (wie Anm.18), 76.

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38

von Below, Spuren (wie Anm.19), 14.

39

So der Titel des Beitrages, von Below, Spuren (wie Anm.19).

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richten macht deutlich, dass sowohl die direkte als auch die indirekte Herstellung von Heimatbezügen akzeptierte Modelle innerhalb der Sozialformation waren. 40 Die Erinnerung der Sozialformation und der einzelnen Familien daran, dass sie sich einer bestimmten Region zugehörig fühlten, schuf ein sowohl familiengebundenes als auch gruppentypisches Heimatverständnis. Die Adelsspezifik des Heimatbezuges ergab sich dabei aus der Verbindung mit Vergangenheit und Familie. 41 Die individuelle Definition von Heimat wurde mit der Bezugnahme auf die Familie nicht ausgelöscht, aber zurückgestellt. Hier wirkten familieninterne Sinnsetzungen und Vermittlungsleistungen, die sich als so leistungsfähig erwiesen, dass der bisherige Lebensentwurf „vertriebener Adliger im Westen“ wirkungslos wurde und sich durch den individuellen Lebensentwurf der „Wiedereinrichter“ ersetzen ließ. Die Herstellung regionaler Bezüge über ein familiengebundenes Heimatverständnis machte die Frage nach der Heimat zu einer möglichen Projektionsfläche von Adel. Die Definition einer individuellen Heimat transportiert aber keinesfalls grundsätzlich Adelsspezifik. Wurde der Heimatbegriff an die Familie und ihre Vergangenheit gekoppelt, so führte dies dazu, dass sich die Frage nach der Heimat als eine Frage nach dem Adel liest. Es war also nicht die Frage nach der Heimat selbst, die als adelsspezifisch anzusehen ist, sondern die mit ihrer Beantwortung verbundene Symbolisierung der Familiengeschichte, ein für den Adel wiederum spezifischer Vergangenheitsbezug. 42 Und darin könnte für die Wiedereinrichter der „psychische Gewinn“ dieses Neuanfangs gelegen haben. 43 Sie betonten die Zugehörigkeit zu ihrer Familie und deren Geschichte und verorteten sich so in zweifacher Hinsicht, zum einen geografisch und zum anderen ideell. Ihre Beheimatungsstrategie unterstrich nicht nur

40 von Kopp-Colomb/von Kopp-Colomb (Hrsg.), Schicksalsbuch II (wie Anm.3). 41 Zur gruppenkonstituierenden Wirkung des Vergangenheitsbezuges vgl. Silke Marburg/Josef Matzerath, Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Der Schritt in die Moderne. Sächsischer Adel zwischen 1763 und 1918. Köln/Weimar/Wien 2001, 5–15, sowie dies., Vom Obenbleiben zum Zusammenbleiben. Der Wandel des Adels in der Moderne, in: Walter Schmitz/Jens Stüben/Matthias Weber (Hrsg.), Adel in Schlesien und Mitteleuropa. Literatur und Kultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 48.) München 2012, 299–311. 42 Ebd. 43 „Für den Fall, dass eine Person subjektiv diesem Gegenstand [der Heimat, S.v. K.] eine hohe Bedeutsamkeit und eine substantielle Bedeutung beimisst, worin liegt dann der psychische Gewinn?“ Karl Hausser, Zur subjektiven Bedeutsamkeit und Bedeutung von Heimat als regionaler Identität, in: Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 10, 2000, 17–23, hier 19.

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ihre Familienzugehörigkeit und den Anspruch, die Familientradition fortzusetzen, sondern es machte sie auch zum Mitglied einer größeren Gruppe von Adligen mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund. Es betonte mithin ihre Zugehörigkeit zur Sozialformation. Dass der Begriff der Heimat seinen defizitären Charakter durch solche neuen Beheimatungen verlor, war nicht nur für die Wiedereinrichter selbst und ihre Familien von Bedeutung. Denn diejenigen Adligen, die sich nach 1990 zu einem Neuanfang entschlossen, wurden vom Adelsverband in Anspruch genommen, um die Verbundenheit zur Region zu versinnbildlichen. 44 Der Verweis auf die Wenigen diente der Verortung Vieler. Dies setzte voraus, dass die Projektion von Adel, wie sie die Wiedereinrichter nach ihrem Umzug nutzen konnten, anschlussfähig an die Gruppe war. Die gruppenbezogene Bedeutung der individuellen Entscheidungen für den Neuanfang erschließt sich, sobald man sich die starke Einbindung der Wiedereinrichter in Vereinsaktivitäten vor Augen ruft. Nicht nur der sächsische Adelsverein war in ihren Häusern oder auf ihren Gütern zu Gast, auch die „Vereinigung der Deutschen Adelsverbände“ nutzte Veranstaltungsmöglichkeiten, die Wiedereinrichter ihnen boten. 45 Damit sprachen ihnen die Verbände die Anerkennung für ihre Beheimatungsstrategien aus. Bis 1990 verfügte der Verband des sächsischen Adels über einen einheitlichen, auf die nicht-erreichbare Region bezogenen Heimatbegriff. Dieser Begriff veränderte sich, nachdem sich einzelne Mitglieder für einen Neuanfang entschieden hatten. Der aktualisierte Heimatbegriff der Wiedereinrichter stand nun demjenigen der Nichtwiedereinrichter gegenüber. Vor diesem Hintergrund übernahmen die Erfahrungsberichte im „Nachrichtenblatt“ zweierlei Funktion: Sie sorgten zum einen dafür, den unterschiedlichen Erfahrungshintergrund zu überbrücken und dienten so der Kohäsion der Gruppe. Zum anderen führte die Berichterstattung aber auch dazu, dass die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung weiterhin thematisiert und neu diskutiert wurden. Dieses für den Verband ohnehin zentrale Thema wurde damit

44

Dies scheint nicht nur innerhalb der Sozialformation gültig zu sein. Der Journalist Gustav Seibt stellt

beispielsweise fest: „Der deutsche Adel ist wieder heimisch geworden“, in: Gustav Seibt, Die Rückkehr der Krautjunker, in: Süddeutsche Zeitung, 24.August 2011, 10. 45

Die Mitgliederversammlung der Vereinigung der Deutschen Adelsverbände fand 2009 auf Schloss

Thammenhain (Landkreis Leipzig) und 2011 auf Schloss Lübbenau (Spreewald) statt, vgl. hierzu die Einladungen der Vereinigung der deutschen Adelsverbände zur Mitgliederversammlung vom 21.April 2009 und 21.März 2011.

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hervorgehoben und neu konturiert. Sowohl für Wiedereinrichter als auch für diejenigen Adligen, die sich nach 1990 nicht für einen Neuanfang entschieden hatten, war diese Aktualisierung Teil der gemeinsamen adligen Erinnerungskultur.

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Adelsarchive im Landeshauptarchiv Schwerin und die Rückkehr der Familien von Kathleen Jandausch

Dienen Adelsarchive als „Projektionsflächen von Adel“ im 20. und 21.Jahrhundert, können sie als Objekte adliger Projektion beschrieben werden? Dies ist die zentrale Frage, die im Folgenden am Beispiel der im Landeshauptarchiv Schwerin verwahrten Archive des landsässigen Adels Mecklenburgs dem Versuch einer Beantwortung unterzogen werden soll. Die sich mehrfach verändernden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Brüche des 20.Jahrhunderts beeinflussten die Lage der Adelsarchive in Mecklenburg – ihre Überlieferung, die rechtlichen Vorgaben und die sich daraus ergebenden Eigentumsverhältnisse – in großem Maße. Überlieferungssituation und sich wandelnde Eigentumsverhältnisse gestalteten somit den Handlungsrahmen für den Umgang der Adelsfamilien mit ihrem im Landeshauptarchiv Schwerin hinterlegten historischen Erbe und bestimmten ihre Reaktion auf die veränderte Verfügbarkeit der Archive. Als Quellen dienen die Aussagen der adligen Hinterleger und Eigentümer von Adelsarchiven sowie ihrer Erben und Rechtsnachfolger aus der Korrespondenz mit dem Landeshauptarchiv Schwerin, insbesondere die im Umgang mit ihrem Archivgut getroffenen Entscheidungen und hierfür angezeigten Beweggründe. 1 Wenn es um Adelsarchive in Mecklenburg geht, muss man zunächst kurz auf den Grundbesitz und seine Bedeutung für den mecklenburgischen Adel seit dem Mittelalter bis in das 20.Jahrhundert zu sprechen kommen. Der Grundbesitz wurde teils seit Jahrhunderten innerhalb einer Adelsfamilie weitergegeben und an sie gebunden. Hierfür gab es verschiedene Strategien, beispielsweise über die erbliche Belehnung oder über die Stiftung von Familienfideikommissen. 2 Der Besitz eines oder 1 Die aus den Registraturakten des Landeshauptarchivs Schwerin entnommenen Angaben sind aus Datenschutzgründen anonymisiert, soweit es sich um personenbezogene Daten, aktuelle Rechtsverträge bzw. die zum Teil noch laufenden Verhandlungen handelt. Eine öffentliche Benutzung ist nicht möglich. 2 Bei der Stiftung von Fideikommissen wurde der Grundbesitz einem Familienmitglied zur Nutznießung überlassen und über eine festgelegte Erbfolge innerhalb der Familie weitergegeben. Der Grundbesitz war nur begrenzt verschuldbar und veräußerbar. Zu Familienfideikommissen in Mecklenburg: Ilona Buch-

10.1515/9783110463569-012

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mehrerer Rittergüter spielte in Mecklenburg als Agrarland über die ökonomische und herrschaftliche Bedeutung hinaus auch eine politische Rolle. Mit dem Besitz eines solchen Gutes war man Teil der Ritterschaft, erhielt Sitz und Stimme im mecklenburgischen Landtag und damit die Teilhabe an der politischen Führung des Landes. 3 Bis zum Ende des 18.Jahrhunderts konnte der mecklenburgische Adel seine dominante Stellung im Großgrundbesitz behaupten. Spätestens seit 1755 mit dem Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich existierten jedoch für Bürgerliche zumindest keine rechtlichen Beschränkungen beim Erwerb von Gütern mehr. Seit dem Ende des 18.Jahrhunderts wurden viele adlige Güter nach Verschuldung und Konkurs verkauft, vor allem an Hamburger Kaufleute und Industrielle. Dementsprechend

steiner, Adliger Großgrundbesitz in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in: Der Festungskurier. Bd. 3. Dömitz 2002, 30–44, 39; dies., Besitzverhältnisse des mecklenburgischen Landadels vom ausgehenden 18.Jahrhundert bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hrsg.), Deutscher Adel im 19. und 20.Jahrhundert. (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003.) St. Katharinen 2004, 141–163, hier 155–157; Kathleen Jandausch, Ein Name, Schild und Geburt. Niederadlige Familienverbände der Neuzeit im südlichen Ostseeraum. (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, Bd. 12.) Bremen 2011, 45–120; dies., Fideikommisse im mecklenburgischen Adel im 18. und 19.Jahrhundert, in: Wolf Karge (Hrsg.), Adel in Mecklenburg. Wissenschaftliche Tagung am 26. und 27.11.2010 in Schwerin. (Schriftenreihe der Stiftung Mecklenburg, Bd. 1.) Rostock 2012, 171–185; Mario Niemann, Mecklenburgischer Großgrundbesitz im Dritten Reich (1933–1945). Untersuchungen zur sozialen Struktur, wirtschaftlichen Stellung und politischen Rolle. Diss. Rostock 1999, 42f. Zu Fideikommissen als adlige Strategien siehe aktuell auch: Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945. (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 42.) München 2014; Dirk H. Müller, Adliges Eigentumsrecht und Landesverfassung. Die Auseinandersetzungen um die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19.Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns. (Elitenwandel in der Moderne, Bd. 11.) Berlin 2011. 3 Zur landständischen Verfassung in Mecklenburg: Uwe Heck, Geschichte des Landtages in Mecklenburg. Ein Abriß. Rostock 1997; ders., Stände und frühe ständische Aktivitäten in Mecklenburg. Von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 15.Jahrhunderts. Rostock 1999; Matthias Manke/Ernst Münch (Hrsg.), Verfassung und Lebenswirklichkeit. Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg, Rh. B, Bd. 1.) Lübeck 2006; Michael Busch, Machtstreben, Standesbewusstsein, Streitlust. Landesherrschaft und Stände in Mecklenburg von 1755 bis 1806. (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, Bd. 13.) Köln/Weimar/Wien 2013; Anke John, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten im Spannungsfeld von Landesgrundgesetzlichem Erbvergleich und Bundes- bzw. Reichsverfassung vom Norddeutschen Bund bis zur Weimarer Republik. (Rostocker Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 2.) Rostock 1997; Bernd Kasten, Herren und Knechte. Gesellschaftlicher und politischer Wandel in Mecklenburg-Schwerin 1867– 1945. (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns, Bd. 11.) Bremen 2011; ders., Der mecklenburgische Landtag 1866–1918, in: Mecklenburgische Jahrbücher 127, 2012, 191–254.

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nahm im Verlauf des 19.Jahrhunderts die Zahl der bürgerlichen Gutsbesitzer innerhalb der Gruppe der mecklenburgischen Ritterschaft stetig zu. 4 1797 gab es bereits 39 Prozent Gutsbesitzer bürgerlicher Herkunft, Mitte des 19.Jahrhunderts dominierten sie in der Anzahl erstmals. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts sind für Mecklenburg-Schwerin mit 327 zu 272 nach kurzer rückläufiger Entwicklung endgültig mehr bürgerliche als adlige Grundeigentümer nachgewiesen, auch wenn der Adel weiterhin die größere Anzahl an Gütern auf sich vereinigte. 5 Innerhalb der Adelsfamilien ging dagegen Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts der Anteil an Gutsbesitzern zurück, immer weniger Familienmitglieder konnten mit Grund und Boden versorgt werden. Dies hatte nach Ilona Buchsteiner vor allem in adligen Familien ohne Grundbesitz eine stark von bürgerlichen Einflüssen geprägte Sozialisation zur Folge. 6 Trotz dieser Entwicklung konnten viele Adelsfamilien im Vergleich zu bürgerlichen auf eine längere Tradition als Gutsbesitzer zurückblicken. Auf die Strategien, den Grundbesitz an die adligen Familien zu binden, ist oben bereits verwiesen worden. Mario Niemann hat berechnet, dass insgesamt ein Drittel der im Jahr 1937 noch existierenden adligen Güter sich seit mindestens 1800 ununterbrochen im Besitz einer adligen Familie befand. 7 Und auch die politische Führungsposition in der Ritterschaft und auf den Landtagen bewahrten sich die adligen Rittergutsbesitzer bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts. 8

4 Zum Wandel in der Eigentums- und Besitzstruktur im 19. und 20.Jahrhundert in Mecklenburg: Ilona Buchsteiner, Wirtschaftlicher und sozialer Wandel in den mecklenburgischen Gutswirtschaften im Kaiserreich, in: Mecklenburgische Jahrbücher 115, 2000, 218–221; dies., Adliger Großgrundbesitz (wie Anm.2), vor allem Abb.1, 36; dies., Besitzverhältnisse (wie Anm.2), 141–163; Mario Niemann, Land und Leute. Zum Gutserwerb in Mecklenburg durch Hamburger Industrielle, Bankiers und Kaufleute vom 18. bis zum 20.Jahrhundert, in: Ernst Münch/Mario Niemann/Wolfgang E. Wagner (Hrsg.), Land – Stadt – Universität. Historische Lebensräume von Ständen, Schichten und Personen. Hamburg 2010, 251–316; Gerhard Heitz, Bürgerliche Gutseigentümer im mecklenburgischen Landtag am Ende des 19.Jahrhunderts, in: Manfred Hettling/Uwe Schirmer/Susanne Schötz (Hrsg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, 277–290; Kasten, Landtag (wie Anm.3), 216–224; Niemann, Mecklenburgischer Großgrundbesitz (wie Anm.2), 44ff. 5 Buchsteiner, Wirtschaftlicher und sozialer Wandel (wie Anm.4), 218–220 und Tab. 3, 219. 6 Dies., Mecklenburgischer Adel im Umbruch, in: dies. (Hrsg.), Rostocker Landes- und agrargeschichtliche Forschungen nach 1990. Bilanz – Einblick – Ausblick. Rostock 2001, 83–86, 93; dies., Besitzverhältnisse (wie Anm.2), 159. 7 Niemann, Mecklenburgischer Großgrundbesitz (wie Anm.2), 42f. 8 Kasten, Herren und Knechte (wie Anm.3), 33–37, 127f., 298–303.

K . JANDAUSCH

/ ADELSARCHIVE IM LANDESHAUPTARCHIV SCHWERIN UND DIE RÜCKKEHR DER FAMILIEN

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Adelsarchive waren bis 1918 eng mit dem durch Lehen oder Fideikommisse befestigten familiären Grundbesitz verbunden. Bereits sehr früh entstanden auf den Stammgütern der Adelsfamilien aus der Sammlung von Urkunden und Akten umfangreiche Archive, die vor allem der Herrschaftssicherung und dem Erhalt der Ansprüche auf den Grundbesitz sowie der Verwaltung des Gutes dienten. Dementsprechend finden sich hierin hauptsächlich Lehnsbriefe, Erbverträge, Urkunden und Schriftwechsel zu den Herrschaftsrechten (Guts-, Gerichts- und Kirchenherrschaft) sowie zur allgemeinen Bewirtschaftung und Verwaltung des Gutsbetriebes. Die Archive auf den Gütern wurden aber nicht nur zur Sicherung von Rechtsansprüchen genutzt, sondern entwickelten sich auch zum Aufbewahrungsort für die Quellen des gemeinsamen familiären Gedächtnisses. Gesammelt wurden private Korrespondenzen und familienbezogene Unterlagen zum Beispiel zu Rangerhöhungen, Ämtern, beruflichen Karriereverläufen, zur Familienforschung und anderen allgemeinen Angelegenheiten des eigenen Hauses oder des gesamten Geschlechts. Typischerweise bestehen diese Gutsarchive – hier verstanden als auf den Gütern entstandene Archive – also aus den drei Teilen Guts-, Herrschafts- und Familienarchiv (siehe Tabelle im Anhang Nr.16–28). Adlige Familien nutzten aber nicht nur die historisch gewachsenen Archive auf den traditionsreichen Gütern des jeweiligen Geschlechts. Einen anderen Typus von Adelsarchiven im Landeshauptarchiv Schwerin stellen die oftmals auf Initiative der Familienverbände oder von engagierten Einzelpersonen errichteten Familienarchive dar, die eher als familiengeschichtliche Sammlungen beschrieben werden können (siehe Tabelle im Anhang Nr.1–15). In diesen sollten alle das Gesamtgeschlecht oder einen bestimmten Familienzweig betreffenden Quellen und die Literatur an einem zentralen Ort zusammengetragen und somit die gemeinschaftliche Erinnerung und Geschichte auf Ewigkeit bewahrt werden. Derartige Familienarchive wurden oft ebenfalls gern auf einem der alten Familienstammgüter verwahrt oder in einem öffentlichen Archiv untergebracht, um sie noch stärker vor Verlust zu sichern. 9 9 Zur Differenzierung der „Gutsarchive“ in Guts-, Herrschafts- und Familienarchiv siehe auch: Liselott Enders, Ordnungsprobleme bei Guts- und Familienarchiven im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam, in: Archivmitteilungen 10, 1960, 96–106; Berent Schwineköper, Das „Gutsarchiv“ als Archivtypus, in: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner. Berlin 1956, 72–88. Zur Unterbringung der Adelsarchive auf den befestigten Familiengütern: Jandausch, Name, Schild und Geburt (wie Anm.2), 215–218.

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Die Überlieferung der Adelsarchive in Anzahl und Umfang ist in den staatlichen Archiven der neuen Bundesländer durchaus unterschiedlich. Wurden nach 1945 beispielsweise in Sachsen-Anhalt umfangreiche Guts-, Herrschafts- und Familienarchive von den Gütern geborgen und auch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg als Deposita an das Landesarchiv abgegeben – Ulrike Höroldt hat 2008 die beeindruckende Zahl von 261 Herrschafts- und Gutsarchivbeständen im Umfang von ca. 4000 laufenden Metern genannt – , stellt sich die Überlieferung in Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern deutlich schlechter dar. Meist sind hier nur wenige größere, demgegenüber aber zahlreiche Kleinst- und Splitterbestände erhalten. 10 Wie gering die Überlieferung ist, zeigen die konkreten Zahlen für Mecklenburg und das Landeshauptarchiv Schwerin. In der Tabelle im Anhang sind die 28 nachweisbar adligen Familienarchive und Gutsarchive mit ihrem Umfang aufgeführt, die im 19. und 20.Jahrhundert in das Geheime und Hauptarchiv Schwerin (heute Landeshauptarchiv Schwerin) und in das Hauptarchiv Neustrelitz (bis 1934 Landesarchiv für Mecklenburg-Strelitz) gelangt sind. Gutsarchive sind aufgrund der oben geschilderten Besitzstruktur in der Hauptsache, aber nicht ausschließlich, für die Familien des niederen Adels überliefert, trotz der zunehmenden Anzahl bürgerlicher Gutsbesitzer. 11 Die Übersicht zeigt, dass generalisierende Aussagen für den Umgang der Adelsfamilien mit ihren Archiven für das Landeshauptarchiv Schwerin nur bedingt möglich sind. Benennen lassen sich allenfalls Fallbeispiele und daraus ableitbare Tendenzen. Bei den Archiven, die sich noch auf den Gütern befanden, hat es demnach vor und

10 Ulrike Höroldt, Adelsarchivpflege nach Bodenreform und EALG – Herausforderungen in den neuen Bundesländern, in: Andreas Hedwig/Karl Murk (Hrsg.), Adelsarchive – zentrale Quellenbestände oder Curiosa? (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Bd. 22.) Marburg 2009, 53–69, 61f. Siehe auch Birgit Richter, Adelsarchive in Sachsen zwischen staatlichem Anspruch und Familientradition vom 19.Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Der Archivar 56, 2003, 313–317; Werner Heegewaldt, Vom Volkseigentum zum Depositum – Zur Situation der Gutsarchive im Brandenburgischen Landeshauptarchiv, in: Der Archivar 57, 2004, 119–123; Kathleen Jandausch, Überlieferung und Zugänglichkeit von Adelsarchiven in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Erfahrungsbericht aus der Forschungspraxis, in: Hedwig/Murk (Hrsg.), Adelsarchive (wie Anm.10), 97–105. 11 In der Übersicht nicht aufgeführt sind die ca. 100 Kleinst- und Splitterbestände von Gutsarchiven, da sie aufgrund des Fehlens von Familienakten keine eindeutige Zuordnung zu einer Adelsfamilie zulassen. Übersicht siehe: Peter-Joachim Rakow/Christel Schütt/Christa Sieverkropp (Bearb.), Die Bestände des Landeshauptarchivs Schwerin. Bd. 1: Urkunden- und Aktenbestände 1158–1945. (Findbücher, Inventare und kleine Schriften des Landeshauptarchivs Schwerin, Bd. 4.) Schwerin 1998, 270.

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nach 1945 in Mecklenburg große Verluste gegeben. Verursacht wurde dies vor 1945 vor allem durch die Eigentumsverhältnisse und die dadurch bedingt sehr unterschiedliche fachliche Betreuung. Eine im Sommer 1913 durch Wilhelm Jesse, Archivvolontär am Geheimen und Hauptarchiv Schwerin, im Auftrag der Herausgeber des Mecklenburgischen Urkundenbuchs begonnene Bestandserfassung der kleineren Archive in Mecklenburg konnte durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht fortgesetzt werden und wurde auch nach dem Krieg nicht beendet. Jesse hatte jedoch 1913 neben den Pfarr- und Stadtarchiven immerhin 42 Gutsarchive im Westen Mecklenburg-Schwerins inventarisieren können. Dabei hatte er die ältesten Urkunden „naturgemäß in den Gutsarchiven und vorzugsweise aus solchen Besitzungen, die lange in der Hand derselben Familie geblieben, wo Guts- und Familiengeschichte miteinander verwachsen waren oder die Archivalien den Bestandteil eines Fideikommisses bildeten“, gefunden. 12 Die Adelsarchive waren bis auf wenige Ausnahmen im Privatbesitz der Familien auf den Gütern untergebracht. Ordnung und Pflege der Archive oblagen den Gutsbesitzern und wurden durch dieselben mehr oder weniger aufwändig betrieben. Man musste von staatlicher Seite auf das Eigeninteresse der Besitzerfamilien an der Erhaltung ihrer Unterlagen vertrauen, konnte nur auf eine archivgerechte Lagerung hinweisen. Einige Archivbestände lagen vollkommen ungeordnet und ungeschützt, wie Jesse bei seinen Besichtigungen kritisch feststellte. Andere Archive vor allem auf den größeren Gütern wurden dagegen teils seit Jahrhunderten verwaltet und geordnet durch die Besitzer, Familienmitglieder oder deren Angestellte. 13 12

Wilhelm Jesse, Die Verzeichnung der kleineren Archive Mecklenburgs, in: Mecklenburgische Jahrbü-

cher 78, 1913, 343–372. Zitat, ebd.352. Die Erfassung betraf die Archive der Pfarren, Superintendenturen, Ämter, Städte sowie Rittergüter. Sie sollte zusätzliches Quellenmaterial für das Mecklenburgische Urkundenbuch sowie für die landeshistorische Forschung erbringen. Dementsprechend wurde die Verzeichnung auf Akten und Urkunden vor 1800 beschränkt, die für die Lokal- oder Landesgeschichte, für politische, wirtschafts-und rechtsgeschichtliche und statistische Fragen, sowie allgemein für kulturelle Verhältnisse relevant erschienen. Nach 1800 wurden nur ausgewählte Quellen aufgenommen, wie z.B. zur napoleonischen Zeit, zum Revolutionsjahr 1848 oder über die bäuerlichen Verhältnisse (ebd.349f.). Die Inventare wurden nicht mehr veröffentlicht, finden sich aber im Archivbestand des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde: LHA Schwerin, 10.63–1 Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Nr.267: Tagebuch des Dr. Wilhelm Jesse über die Reisen zur Verzeichnung der kleineren Archive Mecklenburgs, 1913; ebd.Nr.269: Archivinventare der Pfarr-, Guts- und Stadtarchive, 1913–1914. 13

Jesse, Kleinere Archive (wie Anm.12), 352, 355f. Vgl. die Situation in Brandenburg und Sachsen: Hee-

gewaldt, Volkseigentum zum Depositum (wie Anm.10), 119; Richter, Adelsarchive in Sachsen (wie Anm.

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Das Vertrauen in ein Eigeninteresse der mecklenburgischen Adelsfamilien an der Erhaltung ihrer schriftlichen Überlieferung war oft also durchaus berechtigt. Dies veranschaulichen neben den Beobachtungen von Jesse auch die Satzungen und Geschäftsberichte der adligen Familienverbände über ihre auf den Stammgütern verwalteten Familienarchive. 14 Ebenso zeigen dies die Anträge adliger Personen, Familien und Familienverbände, ihr Schriftgut im Geheimen und Hauptarchiv Schwerin und im Hauptarchiv Neustrelitz deponieren zu dürfen, wenn sich dieselben dazu selbst nicht in der Lage sahen. Auf diesem Weg gelangte die Mehrzahl der heute überlieferten Familienarchive zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in die beiden mecklenburgischen Landesarchive. Vor allem adlige Familienverbände aber auch Einzelpersonen, nutzten das öffentliche Archiv als scheinbar krisenfeste Unterbringungsmöglichkeit. Die Namen, die in der Tabelle im Anhang aufgelistet sind, zählen zu den bedeutenden uradligen mecklenburgischen Adelsfamilien: Bassewitz, Blücher, Brandenstein, Bülow, Horn, Maltzahn, Oertzen, Pressentin. In allen Fällen wurde zunächst ein Depositalvertrag abgeschlossen, das Eigentum verblieb also bei der Adelsfamilie bzw. dem Familienverband. Eine Benutzung durch die Öffentlichkeit war zudem nicht gestattet, nur die jeweiligen Adelsfamilien und ausgewählte Personen hatten mit Erlaubnis der Hinterleger Zugang und sind als Nutzer bis 1945 nachgewiesen. Als Gründe für die Deponierung im öffentlichen Archiv wurden mangelhafte Aufbewahrungsmöglichkeiten auf Familienstammgütern oder ein fehlender Familienverband genannt, letztendlich die Angst vor Verlust durch Zerstörung oder Zerstreuung. 15 So bat ein Adliger das mecklenburgische Ministerium des Innern im Februar 1880 um Deponierung seiner familiengeschichtlichen Sammlung, da aus Mangel an befestigtem Grundbesitz (Fideikommiss oder Lehen) kein Familienarchiv existiere. Deshalb bestehe in der Familie der Wunsch, für die kommenden Zeiten diese Papiere an einem sicheren Ort zu bewahren. 16 Ebenso 10), 315. Zu den Problemen der Archivpflege der Gutsarchive im 19. und zu Beginn des 20.Jh.s: Max Bär/ Hubert Ermisch/Dr. Knapp, Über eine gesetzliche Regelung des Schutzes von Archivalien und der Beaufsichtigung nicht fachmännisch verwalteter Archive und Registraturen, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 52, 1904, Sp.376–400; Armin Tille, Pflege und Inventarisation nichtstaatlicher Archive, in: ebd.55, 1907, Sp.161–175, zu Mecklenburg Sp.171; Otto Grotefend, Die Inventarisation der nicht-staatlichen Archive, in: ebd.68, 1920, Sp.228f. 14 Beispielhaft für die mecklenburgische Adelsfamilie von Bülow: Jandausch, Name, Schild und Geburt (wie Anm.2), 216–218. 15 LHA Schwerin, Registratur, Deposita. 16 LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.1470.

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war die Motivation für die anderen Familienverbände und adligen Hinterleger. Noch in den 1930er-Jahren schrieb ein weiterer Adliger, er hätte nach dem Tod seines Vaters die überwiegend sehr wertvollen Akten und Urkunden der Familie übernommen. Er wolle sie nun in Verwahrung geben, da sie nicht laufend vom Schriftführer des Familienverbandes gebraucht würden und bei ihm nicht sicher genug lägen. Übergeben wurde in diesem Fall ein geordnetes Familienarchiv mit typischem Inhalt. Es enthielt nicht nur die gesammelten Akten und Urkunden des Adelsgeschlechts seit dem Spätmittelalter, sondern auch Stammbäume, Bücher, Zeitschriften, Gemälde und Familienandenken, darunter Orden, Münzen, Medaillen, kleine Büsten etc. 17 In einem anderen Fall wurde das Depositum nach wenigen Jahren dem Geheimen und Hauptarchiv Schwerin vom Hinterleger dauerhaft zum Eigentum übertragen, mit der Auflage, jedem Familienmitglied den Zugang jederzeit zu ermöglichen. 18 Als weiteres Argument für die Unterbringung in einem öffentlichen Archiv wurde auch ein gewisser Vertrauensvorschuss ins Feld geführt: So wurde einem adligen Antragsteller mitgeteilt, dass sich seine Familienurkunden und Akten zu den bereits verwahrten Familienarchiven anderer Adelsfamilien gesellen würden. 19 Die beiden mecklenburgischen Landesarchive wurden in der Zeit vor 1945 (Neustrelitz bis 1934) vor allem in solchen Fällen selbst aktiv, wenn der Verkauf eines Gutes an familienfremde und ausländische Personen sowie Siedlungsgesellschaften bekannt wurde und damit das auf dem Gut befindliche historisch wertvolle Archivgut gefährdet schien. Güterkonkurse und -verkäufe mit anschließender Aufsiedlung hatten mit dem Reichssiedlungsgesetz vom 11.August 1919 und der Agrarkrise seit den 1920er-Jahren auch im adligen Grundbesitz in Mecklenburg weiter zugenommen. 20 Wurden die Güter außerhalb der Familie verkauft, drohte die Vernichtung bzw. Zerstreuung der darauf befindlichen Archive, da die Käufer oft nur Interesse an den für die Verwaltung des Gutes wichtigen Unterlagen zeigten, nicht

17

LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.30.95.

18

LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.235x.

19

LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.183o.

20

Bis 1932 wurden nach Mario Niemann in Mecklenburg ca. 71000 ha Land aufgesiedelt, bis 1938 folg-

ten weitere 72000 ha. Siedlungsgesellschaften zur Durchführung und Verwaltung der Siedlungsmaßnahmen nahmen in dieser Zeit großen Aufschwung. Niemann, Mecklenburgischer Großgrundbesitz (wie Anm.2), 18, 44–45; Kasten, Herren und Knechte (wie Anm.3), 299–303. Vgl. auch zur adligen Eigenperspektive dieser Zeit: Mario Niemann (Hrsg.), Mecklenburgische Gutsherren im 20.Jahrhundert. Rostock 2000.

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jedoch an der familienhistorischen Überlieferung ihrer Vorbesitzer. Die Bindung der Adelsarchive an die Güter ist bereits herausgehoben worden. Auf einigen Stammgütern waren über die Jahrhunderte bedeutende Archive entstanden, das war bekannt. 21 So wandte sich das Hauptarchiv Neustrelitz 1927 an einen adligen Familienverband, als der Verkauf des Familiengutes öffentlich wurde: Da Mitglieder des Familienzweiges eine große Rolle in der mecklenburgischen Geschichte gespielt hätten, müsse es dort ein reichhaltiges Archiv geben. Die Antwort vom Vorsitzenden des Familienverbandes bestätigte die Vermutung. Auf dem Gut existiere ein wertvolles und gut geordnetes Archiv. Ein Depositalvertrag wurde vereinbart und das Guts-, Herrschafts- und Familienarchiv bis auf die für den Käufer wesentlichen Geschäftsunterlagen an das Hauptarchiv Neustrelitz abgegeben. 22 Als nicht so gut geordnet, aber als das umfangreichste übernommene erwies sich ein anderes adliges Gutsarchiv. Verstreut auf dem Boden und in den Zimmern des Herrenhauses, gelangte es nach dem Verkauf des Gutes als Depositum in das Hauptarchiv Neustrelitz. 23 Gleiches passierte wenige Jahre später, als das Stammgut eines alten Adelsgeschlechts zwangsversteigert werden musste. Das Geheime und Hauptarchiv Schwerin zeigte Interesse an der Verwahrung, man verwies dabei erneut auf bereits deponierte Archive bedeutender mecklenburgischer Adelsgeschlechter. Die Hoffnung der letzten Besitzerin auf einen Rückkauf des Gutes durch Mitglieder der Familie zerschlug sich, so dass die Räumung bevorstand. Nachdem der letzte Erbe alles nach seiner Ansicht Unwesentliche verbrannt hatte, wurde ein Verwahrungsvertrag mit den Nachkommen geschlossen und die immerhin noch ca. 30000 verbliebenen Dokumente an das staatliche Archiv übergeben. 24 Kam keine Vereinbarung mit der letzten Besitzerfamilie zustande, konnten in vielen Fällen nur noch „Reste“ durch das Geheime und Hauptarchiv Schwerin sichergestellt werden, sowohl in der Zeit vor als auch nach 1945. Eins der größeren vor 1945 übernommenen Gutsarchive ist das der Grafen Schlieffen auf Schlieffenberg (Abb.1).

21 Jesse, Kleinere Archive (wie Anm.12), 343–372. Jesse hatte auch auf die Gefährdung des Archivguts bei Gutsverkäufen und Verpachtungen hingewiesen. Ebd.355f. 22 LHA Schwerin, Registratur, Deposita. 23 Ebd. 24 Ebd.

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Abb. 1: Herrenhaus von Schlieffenberg, Postkarte um 1900. Bildvorlage: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Abt. Landesarchiv, 13.2–1/1 Postkartensammlung Mecklenburg, Schlieffenberg Nr. 2.

Das Archiv, bestehend aus Guts-, Majorats- und Familienarchiv, war im Turmzimmer des Schlosses Schlieffenberg untergebracht gewesen, jedoch „vom letzten Besitzer unbeachtet“. 1933 wurde das Gut an eine Siedlungsgesellschaft, die Mecklenburgische Landgesellschaft veräußert, welche das Archivgut ein Jahr später dem Geheimen und Hauptarchiv Schwerin überließ. 25 Auch das Archiv auf dem Gut Remplin (Abb.2), das sich seit Beginn des 15.Jahrhunderts bis 1816 im Besitz der Familie von Hahn befunden hatte und seit der Mitte des 19.Jahrhunderts der großher25 LHA Schwerin, Registratur, Zugang Nr.30.175. Zur Konjunktur der Siedlungsgesellschaften in dieser Zeit vgl. Niemann, Mecklenburgischer Großgrundbesitz (wie Anm.2), 18f.

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Abb. 2: Schloss Remplin, Postkarte um 1900. Bildvorlage: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Abt. Landesarchiv, 13.2–1/1 Postkartensammlung Mecklenburg, Remplin Nr. 2.

zoglichen Familie von Mecklenburg-Strelitz gehörte, wurde 1938 dem Geheimen und Hauptarchiv Schwerin von der Herzoglichen Rentkammer als Eigentum übergeben. 26 Nach 1945 konnten nur noch fünf größere „Reste“ mit einem Umfang von über einem laufenden Meter sowie die bereits genannten ca. 100 Kleinst- und Splitterbestände, zumeist bestehend aus nur wenigen Einzelakten, von den Gütern bzw. den späteren Auslagerungsstandorten geborgen werden. Andere Gutsarchive waren nach den Erkundigungen der Archivare, welche die Güter nach 1945 zu Nachforschungen aufgesucht hatten, „zugrunde gegangen“, waren geplündert, als Brennmaterial genutzt oder in die Papiermühle gegeben worden. 27 Wie hoch der Verlust an Gutsarchiven vor und auch nach 1945 zu beziffern ist, lässt sich nicht mehr genau 26 LHA Schwerin, Registratur, Zugang Nr.90/38. 27 LHA Schwerin, 6.11–11 Ministerium des Innern (1946–1952), Nr.54: Bericht des Meckl. Landeshauptarchivs Schwerin an das Ministerium des Innern über die Archivpflege, 28.Mai 1949; LHA Schwerin, Registratur, Zugang Nrn. 16/47, 6/48, 7/48, 3/49, 8/50.

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ermitteln, da Jesse die Gesamterfassung für Mecklenburg nicht beenden konnte. Dass der größte Teil jedoch sowohl in Anzahl als auch Umfang verloren ist, lässt sich erahnen, wenn man die 485 mecklenburgischen adligen Güter mit 272 Eigentümern im Jahr 1913 und die von Jesse im selben Jahr erstellten 42 Inventare der Rittergutsarchive für das westliche Mecklenburg der im Landeshauptarchiv Schwerin heute verbliebenen Überlieferung gegenüberstellt (siehe Tabelle im Anhang). 28 Die bereits im Archiv deponierten Familien- und Gutsarchive waren nach 1945 zusammen mit den von den Gütern geborgenen Archivresten zunächst gar nicht, danach nur mit Einschränkungen zugänglich. So wurde beispielsweise dem Vorsitzenden eines adligen Familienverbandes auf seine Anfragen bis in die 1950er-Jahre der Zugang zu seinem Archivgut mit dem Hinweis verweigert, dass die Benutzung der Familienarchive auf ministerielle Verfügung verboten sei. Das staatliche Archiv dürfe keine Auskunft geben, da die dort deponierten Familienarchive gesperrt wären. Von Seiten des Geheimen und Hauptarchivs Schwerin war man durchaus bereit gewesen, Teile des Archivguts, vor allem die reinen Familienpapiere, dem adligen Hinterleger auszuhändigen. Doch durch das Ministerium des Innern der DDR wurde die grundsätzliche Ablehnung einer Ausleihe oder Rückgabe verfügt. Die Erteilung einer Erlaubnis für die Benutzung der deponierten Familienarchive stand nur der Staatlichen Archivverwaltung in Potsdam zu. 29 Trotz der Verbote und Einschränkungen sind in den Unterlagen des Geheimen und Hauptarchivs, später Staatsarchivs Schwerin, weitere Benutzungsanträge, Besuche und sogar Nachlieferungen der ehemaligen Eigentümer der hinterlegten Adelsarchive nachweisbar. Die Adelsfamilien versuchten also auch unter erschwerten Bedingungen die Verbindung zu ihrem im Schweriner Archiv deponierten Schriftgut aufrechtzuerhalten. 30

28

Zur Anzahl der adligen Güter und Eigentümer im Jahr 1913: Buchsteiner, Wirtschaftlicher und sozialer

Wandel (wie Anm.4), Tab. 3, 219. Zur Überlieferung der Rittergutsarchive: Jesse, Kleinere Archive (wie Anm.12); LHA Schwerin, 10.63–1 Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Nr.267: Tagebuch des Dr. Wilhelm Jesse über die Reisen zur Verzeichnung der kleineren Archive Mecklenburgs, 1913; ebd.Nr.269: Archivinventare der Pfarr-, Guts- und Stadtarchive, 1913–1914. Zur Überlieferung der Guts- und Familienarchive im Landeshauptarchiv Schwerin: Rakow/Schütt/Sieverkropp (Bearb.), Bestände (wie Anm.11), 270. 29

LHA Schwerin, 7.12–18 Meckl. Landeshauptarchiv, Nr.869: Familiendepots und -archive.

30

Zur Situation der Guts- und Familienarchive im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin

1945 bis 1990: LHA Schwerin, 6.11–11 Ministerium des Innern (1946–1952), Nr.54: Bericht des Meckl. Landeshauptarchivs Schwerin an das Ministerium des Innern über die Archivpflege, 28.Mai 1949; ebd.Nr.132: Überprüfung der im Geheimen und Hauptarchiv gelagerten Schränke, Truhen und Koffer der enteigneten

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Seit 1990 wurde die Behandlung der Adelsarchive in den öffentlichen Archiven maßgeblich durch das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen vom 23. September 1990 (Vermögensgesetz) und darauf aufbauend durch das Entschädigungsund Ausgleichsleistungsgesetz vom 27.September 1994 bestimmt. Nach dem Vermögensgesetz waren die vor 1945 durch die Nationalsozialisten enteigneten sowie die durch die DDR-Behörden in Volkseigentum überführten Güter rückgabefähig. Von einer Rückübertragung ausgenommen wurden nach § 1 Abs. 8 unter anderem Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage. Das heißt, die durch die Bodenreform zwischen 1945 und 1949 enteigneten Güter sollten nicht restituiert werden. 31 Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 gab den Enteigneten schließlich die Möglichkeit, Anträge auf Entschädigung von Vermögensverlusten zu stellen sowie nach Art.2 § 5 das Recht auf die Rückübertragung beweglicher Sachen. In den staatlichen Archiven betraf diese Regelung vor allem die nach 1945 von den Gütern geborgenen Guts- und Familienarchive. 32 Für die bis 1945 als Deposita an das Archiv abgegebenen Guts- und Familienarchive galten seit 1990 wieder die Bestimmungen der alten Verwahrungsverträge. Einige der Familienarchive sowie der Gutsarchive sind zudem bereits vor 1945 in das Eigentum des Archivs übergegangen, durch Schenkung, zeitliche Befristungen in den Verwahrungsverträgen oder durch Überlassung durch die Käufer eines der Güter (siehe Tabelle im Anhang). Die geschilderten gesetzlichen Bestimmungen, die Eigentumsverhältnisse sowie die oben bereits ausgeführte Überlieferungssituation im Landeshauptarchiv SchweJunker, Militaristen und Nazis, 7.März 1949; LHA Schwerin, 7.12–18 Meckl. Landeshauptarchiv, Nr.861: Archivpflege. Fachliche Betreuung für Kreis-, Stadt-, Verwaltungs- und Betriebsarchive im Bezirk Rostock, Gutsarchive, Krs. Grimmen und Grevesmühlen; ebd.Nr.869: Familiendepots und -archive; LHA Schwerin, Registratur, Deposita. Vgl. dazu auch die Aktion „Licht“: Andreas Röpcke, Politik vor Fachlichkeit. Die Absetzung des Schweriner Archivdirektors Dr. Hugo Cordshagen 1964, in: Archivalische Zeitschrift 88, 2006, Teilbd. 2, 761–775. 31 Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz – VermG) vom 23.September 1990 in der Neufassung vom 2.Dezember 1994, in: Bundesgesetzblatt 1994, Teil I, 3610–3629, hier insbesondere 3611f. nach §§ 1 und 3 Abs. 1 sowie die Einschränkung des Geltungsbereichs nach § 1 Abs. 8a. 32 Gesetz über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen und über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage (Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz – EALG) vom 27. Sept. 1994, in: Bundesgesetzblatt 1994, Teil I, 2624–2639, hier insbesondere 2631f. zur Rückgabe beweglicher Sachen nach § 5. Vgl. auch Christoph Franke, Bemerkungen zur Lage der Adelsarchive in der Bundesrepublik, in: Hedwig/Murk (Hrsg.), Adelsarchive (wie Anm.10), 15.

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rin bestimmten und bestimmen den Handlungsrahmen der Erben der Depositalgeber und Gutsbesitzer nach 1990. Wie reagierten die adligen Rechtsnachfolger auf die nun erneut veränderte Verfügbarkeit ihrer Archivbestände? Gab es eine Kontaktaufnahme mit der Heimat der Vorfahren oder sogar eine tatsächliche „Rückkehr der Familien“ nach Mecklenburg? Wie äußerte sich das Interesse des Adels an dem im Landeshauptarchiv Schwerin deponierten Schriftgut der Vorfahren? Schaut man sich die Anfragen an das Landeshauptarchiv Schwerin zu Beginn der 1990er-Jahre an, so fallen zunächst die zahlreichen Anfragen zum Eigentumsnachweis der Güter nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen von 1990 ins Auge, sowie für 1994 und 1995 die Anfragen zur Auffindung beweglicher Vermögenswerte aus den mecklenburgischen Guts- und Herrenhäusern nach dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. 33 Bestandteil dieser Anfragen war in einigen Fällen auch der Verbleib der Guts- und Familienarchive, vor allem durch Nachkommen der ehemaligen Gutsbesitzerfamilien, die alte Familiengüter zurückgekauft hatten. 34 In den Anfragen wurde unter anderem durch den Bezug zur jahrhundertealten Geschichte auf die historische Kontinuität der eigenen Vorfahren in Mecklenburg und auf die dortigen ehemaligen Familiengüter hingewiesen. Auch die Verbindung der traditionsreichen Gutsarchive mit den Stammgütern der Familie wurde herausgestellt. So schrieb ein adliger Anfrager in einem Brief, er stamme aus einer alten mecklenburgischen Familie, die seit mehr als 600 Jahren hier ansässig gewesen wäre und er sei mit der Wende nach Mecklenburg zurückgekehrt. Er suche nun zum einen nach Hinweisen auf Möbel und Kunstgegenstände für die Rückgabe nach dem Ausgleichsleistungsgesetz, zum anderen aber auch nach einer Übersicht des Gutsarchivbestandes vom ehemaligen Stammsitz seiner Familie. 35 Auch ein anderer Adliger hatte das Herrenhaus seiner Vorfahren zurückgekauft und verwies 1995 in seiner Anfrage auf eine dort ehemals vorhandene wertvolle Bibliothek, bekannte Bilder sowie auf ein berühmtes Archiv. Hier konnte das Landeshauptarchiv Schwerin jedoch nur vom Verlust des Gutsarchivs berichten. Bemühungen um eine Sicherstellung

33

LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1990–1995.

34

LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1993–1997. Hierzu wäre auch eine Auswertung der Anfragen an

das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen speziell zu den Guts- und Familienarchiven interessant, die derzeit wegen laufender Verfahren und Aufbewahrungsfristen noch nicht an das staatliche Archiv abgegeben worden sind. Auch die Zahl der „Wiedereinrichter“, die ein nicht rückgabefähiges Gut ihrer Vorfahren zurückkauften, lässt sich aufgrund fehlender statistischer Erhebungen nicht angeben. 35

222

LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1995–1996.

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desselben seien in den Nachkriegsjahren erfolglos geblieben, da das Gutshaus wie viele andere nach 1945 bereits verwüstet und geplündert worden war. 36 Andere Anfragen bzw. Auskünfte zu Beginn der 1990er-Jahre zeigen, dass das Wissen um die Existenz der bis 1946 im Landeshauptarchiv Schwerin deponierten Archivbestände in einigen Fällen an die Nachkommen weitergegeben worden war. So antwortete der Vorsitzende eines adligen Familienverbandes auf die Anfrage des staatlichen Archivs nach einer Neugestaltung des Depositalvertrages, dass die Familie vom Vorhandensein des Archivdepots wisse und er selbst sich bereits einige Jahre zuvor bei einem Besuch von seinem Fortbestehen überzeugt habe. 37 Bereits im Februar 1990 hatte der Schriftführer eines weiteren adligen Familienverbandes an das Staatsarchiv Schwerin geschrieben. Sein Vater habe schon als Schriftführer das Familienarchiv auf einem der mecklenburgischen Stammgüter betreut und dieses noch 1946, nach erfolgter Enteignung des Gutes, als Depot dem Geheimen und Hauptarchiv Schwerin übergeben. Nun bestünde der Plan zur Fortschreibung der Familiengeschichte, er bitte deshalb um Auskunft über die Zugänglichkeit zum Archivgut im Staatsarchiv Schwerin. Es folgten in den nächsten Monaten mehrere Besuche, während denen er das Schriftgut seiner Familie grob ordnete und ein Verzeichnis erarbeitete, das er dem Landeshauptarchiv Schwerin als Findhilfsmittel zur Verfügung stellte. 38 Neben der Hervorhebung der traditionsreichen Familiengeschichte und Stammgüter in Mecklenburg kommt hier ein weiteres Element zum Tragen: der hohe Organisationsgrad einiger Adelsfamilien durch die Existenz und Wiederbegründung von Familienverbänden. Die als Depositum im Landeshauptarchiv Schwerin verwahrten Familienarchive waren ursprünglich oftmals durch solche Verbände aufgebaut und betreut worden. Nach der Zerstreuung der Familienmitglieder nach 1945 wurden einige derselben in späteren Jahren neu begründet. Sie verfolgten über ihre Satzung – in der Tradition ihrer Vorgängerinstitutionen – fast dieselben Schwerpunkte, darunter auch die Fortschreibung der Familiengeschichte sowie die Bewahrung der familiären Überlieferung durch die Einrichtung von Archiven. Das Interesse der Adelsfamilien an ihrem im Landeshauptarchiv Schwerin deponierten Archivgut ist also durchaus nachweisbar, auch wenn man demgegenüber genauso feststellen muss, dass es für ein paar der Archivdepots noch immer

36 LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1995. 37 LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.161o. 38 LHA Schwerin, Registratur, Deposita; LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1990–1992.

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Klärungsbedarf und zum Teil schleppende Verhandlungen über die Rechtsnachfolge sowie über die weitere Aufbewahrung und Behandlung der Bestände gibt. Einige der im Landeshauptarchiv Schwerin deponierten Adelsarchive waren nach 1990 aufgrund der Vertragsbestimmungen bereits in das Eigentum des staatlichen Archivs übergegangen. Für die noch existenten Deposita mussten jedoch angepasst an die aktuelle Rechtslage und im Interesse einer öffentlichen Benutzung neue Verwahrungsverträge abgeschlossen werden, falls sich die Rechtsnachfolger für eine fortdauernde Unterbringung im staatlichen Archiv aussprachen. In welcher Form wurde der Rechtsstatus der Adelsarchive im Vergleich zur ursprünglichen Hinterlegung neu vereinbart? Mit welcher Intention und unter welchen Bedingungen erfolgte die weitere Deponierung, Rücknahme oder Überlassung? Eine wesentliche Rolle spielte auch hier die Wahrung historischer Kontinuität, jedoch auf verschiedene Art und Weise interpretiert und umgesetzt. Ein Adelsarchiv wurde dem Landeshauptarchiv Schwerin als Eigentum überlassen. Für drei adlige Familienarchive wurde zwischen den Eigentümern und dem Landeshauptarchiv Schwerin ein neuer Depositalvertrag abgeschlossen (siehe Tabelle im Anhang). In allen diesen Fällen handelte sich um die Rechtsnachfolger der alten Familienverbände, die sich das Eigentum somit weiter vorbehielten. Die Benutzungseinschränkungen für die öffentliche Forschung aus den alten Verträgen wurden jedoch mit dem neuen Vertrag aufgehoben. Auch Nachträge sind bereits zu den alten Deposita geliefert worden. Als Gründe für die erneute bzw. fortgesetzte Verwahrung im öffentlichen Archiv wurden unter anderem die jahrhundertelangen Verbindungen der Adelsfamilie zur angestammten Heimat Mecklenburg und die fachgerechte Aufbewahrung der Bestände angeführt. 39 Für einen anderen Depositalvertrag wurde hervorgehoben, dass die urkundliche Erwähnung der Familie in Mecklenburg bis in das 13. Jahrhundert zurückreiche und die entsprechenden historischen Dokumente deshalb im für Mecklenburg zuständigen Landesarchiv überliefert werden sollten. 40 Vier der Adelsfamilien nahmen ihr Archivgut zurück. Als Hauptgrund nannten die Eigentümer die Zusammenführung des hinterlegten Archivguts in bereits bestehende Privat- bzw. Familienarchive. So entschied sich ein adliger Familienverband zur Überführung seines Schriftguts in sein Archiv auf dem Familiengut in den alten

39

LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.30.147.

40

LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1992. Siehe auch LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zu-

gang Nr.365o.

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Bundesländern. 41 Ein anderer Verband beschloss die Rücknahme des Familienarchivs und die Verwahrung desselben zusammen mit dem nach 1945 neubegründeten Archiv des Familienverbandes. Perspektivisch sollte dieses in seiner Gesamtheit auf einem zurückgekauften mecklenburgischen Gut als altem Stammsitz im Besitz eines Familienmitgliedes untergebracht werden. 42 Auch eine andere Adelsfamilie wählte die Zusammenführung ihres Familienarchivs an einem Ort, in diesem Fall jedoch in einem staatlichen Archiv in den alten Bundesländern. Dorthin war bereits in den 1970er-Jahren das bei der Adelsfamilie überlieferte Familienarchiv als Depot abgegeben worden, hier sollten nun beide Teile als Einheit zusammengefasst werden. 43 Besonders deutlich wird die Betonung historischer Kontinuität auch durch die bereits im Zusammenhang mit dem Archivgut angedeutete Rückkehr zahlreicher Nachkommen der alten Gutsbesitzerfamilien nach Mecklenburg. Das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen von 1990 und das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 bestimmten, dass die in der Besatzungszeit enteigneten Güter nicht restituiert werden sollten. Einige Familien kauften daraufhin den ehemaligen Landbesitz und/oder die Häuser und zogen in die Heimat ihrer Vorfahren zurück. 44 Eine Zahl der „Rückkehrer“ lässt sich nicht ermitteln, hierfür fehlen derzeit die Quellen bzw. belastbare statistische Zahlen. Manifestiert hat sich die „Rückkehr der Familien“ aber im Zusammenschluss der „neuen-alten“ Gutsbesitzer in der „Landschaft Mecklenburg-Vorpommern“. Das Ziel der 2009 gegründeten „Landschaft“ ist es laut Satzung, als Nachkommen der Eigentümer von ritterschaftlichen Gütern auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern auf den Wirkungsfeldern der früheren Gutsbesitzer – Kultur, Soziales, Geschichte, Denkmalspflege, jedoch nicht Politik – tätig zu werden, wie „dies seit Jahrhunderten der Fall gewesen ist“. Die Landschaft besteht entsprechend der Besitzstruktur vor 1945 aus adligen und bürgerlichen Mitgliedern. Schaut man sich die Mitgliederliste an, sind jedoch die alten mecklenburgischen und pommerschen Adelsgeschlechter in der Mehrzahl vertreten: Bassewitz, Bernstorff, Bonin, Branden-

41 LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.296#. 42 LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.170#. 43 LHA Schwerin, Registratur, Deposita und Zugang Nr.12/1945 und LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 2000. Siehe auch LHA Schwerin, Registratur, F-Akten 1990–1992. 44 Vgl. auch Höroldt, Adelsarchivpflege (wie Anm.10), 61; Niemann, Land und Leute (wie Anm.4), 315.

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stein, Bülow, Hahn, Dewitz, Lowtzow, Lühe, Maltzahn, Massenbach, Oertzen, Paepcke, Pentz, Plessen, Randow, Schack, Schwerin, Stralendorff, Viereck, Winterfeld und auch die Nachfahren des Herzogshauses von Mecklenburg. 45 Ausgehend von der primären Frage nach Adelsarchiven als „Projektionsflächen von Adel“ im 20.Jahrhundert lassen sich zwei Beobachtungen festhalten: Zum einen wird nach 1990 sowohl im Umgang der mecklenburgischen Adligen mit ihrem im Landeshauptarchiv Schwerin deponierten Archivgut als auch bei der Rückerwerbung alter Familiengüter die historische Kontinuität durch den Bezug auf die jahrhundertealte Familiengeschichte und die jahrhundertelange Ansässigkeit auf einem Familienstammgut in Mecklenburg immer wieder betont. Zum zweiten lässt sich der hohe Organisationsgrad der aufgezählten mecklenburgischen Adelsfamilien in Familienverbänden herausheben. Die von den Eigentümern der Adelsarchive und den Erben der Gutsbesitzer heute verwendeten Schlagworte – Tradition, Familie, Geschichte, Stammgut – entsprechen denen ihrer Vorfahren zum Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhunderts bei der Hinterlegung der Deposita im staatlichen Archiv oder bei der Begründung der Familienarchive auf den Gütern. Die Schaffung eines Bewusstseins für die historische Kontinuität über die Archivpflege und die Überlieferung der jahrhundertealten Familiengeschichte wird durch die hier genannten adligen Familienverbände und Erben der Hinterleger also fortgeführt. Dies gehört auch heute noch zu den Hauptaufgaben der adligen Familienverbände und bestimmt ihr Selbstverständnis als familiäre Gemeinschaft. Dienen diese Mechanismen demzufolge den Adelsfamilien auch heute noch als Objekte adliger Lebensführung, werden sie als adlig präsentiert? Eine Selbstzuschreibung von Adel durch die jüngere Generation erfolgt in den hier ausgewerteten Aussagen nicht, auf diese Weise lässt sich eine Verbindung von Adelszugehörigkeit und in diesem Fall Archivpflege nicht herstellen. Eine Zuschreibung von außen auf die adlige Generation des späten 20.Jahrhunderts ist für Mecklenburg nur bedingt möglich. Archivpflege, Vermittlung der Familien- und Besitzgeschichte, Familienverbände sind seit längerem nicht mehr nur für den Adel exklusiv. Vor allem gilt dies für Mecklenburg, wo schon früh bürgerliche Familien Rittergüter erwerben konnten und teilweise ebenfalls eine langjährige Besitztradition aufbauten. Ebenso errichte-

45

Zur Satzung und Mitgliederliste der „Landschaft Mecklenburg-Vorpommern“ siehe http://www.land-

schaft-mv.de / DL_satzung.php, und http://www.landschaft-mv.de / DL_mitglieder.php [Zugriff am 19.10.2011].

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ten einige derselben Archive auf ihren Gütern oder hinterlegten familiäre Sammlungen im öffentlichen Archiv. Und schließlich sind die Nachfahren bürgerlicher Gutsbesitzerfamilien genauso in der „Landschaft Mecklenburg-Vorpommern“ vertreten, indem sie Besitzungen ihrer Familie in der alten Heimat zurückkauften und an die Tradition ihrer Vorfahren anknüpften. Wird von den mecklenburgischen Adelsfamilien über die Archivpflege also überhaupt eine adlige Identität konstruiert? Oder ist die Archivpflege im 21.Jahrhundert nicht vielmehr Ausdruck eines Familiensinns, der nicht mehr mit der Zugehörigkeit zum Adel verbunden werden kann und durch die adligen Familienmitglieder selbst auch nicht mehr damit verbunden wird? Die Schlussfolgerung aus den bisherigen Ausführungen ist bewusst als offene Frage formuliert, aufgrund der Überlieferungssituation in Mecklenburg kann eben nur eine Tendenz aufgezeigt werden. Durch einen Vergleich der Situation in den neuen Bundesländern könnten die hier getroffenen Aussagen überprüft werden: Werden durch den Adel dieselben Argumentationsmuster im Dialog mit den Behörden und dem staatlichen Archiv verwandt? Und inwiefern sind diese tatsächlich als adelstypisch zu beschreiben? 46

46 Zur Überlieferung der Adelsarchive in anderen Bundesländern: Franke, Bemerkungen (wie Anm.32), 13–16; Andreas Hedwig, Die Archive des Adels – Problemzonen aus archivischer Sicht, in: ders./Murk (Hrsg.) Adelsarchive (wie Anm.10), 7–11. Zur speziellen Situation in den neuen Bundesländern vgl. Literatur in Anm.10.

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Anhang: Übersicht der Adelsarchive im Landeshauptarchiv Schwerin: Familienarchive (FA) und Guts-, Herrschafts- und Familienarchive (GA) Nr. Adelsfamilie

Typ Umfang Hinterleger/Geber

1

von Bassewitz

FA

2,5 lfm

Familienverband

2 3

von Blücher von Borck

FA FA

1,7 lfm 0,3 lfm

x –

Depositum Depositum

4

von Brandenstein

FA

2,0 lfm



Depositum

Rückgabe

5

von Bülow

FA

5,3 lfm

Familienverband Familie/ Familienverband Einzelperson/ Familienverband Familienverband

Eigentum nach 1990 Depositum (neu) LHAS (neu) Depositum

x

Depositum

6

Herwarth von Bittenfeld von Horn von Koppelow von der Lühe

FA

0,5 lfm

Einzelperson



Sicherstellung

Depositum (neu) Rückgabe

FA FA FA

0,4 lfm 0,7 lfm 2,0 lfm

Familienverband Einzelperson Familienverband

– x x

Depositum Depositum Depositum

10 von Monroy

FA

?

Einzelperson



11 von Oertzen

FA

1,6 lfm

x

12 von Pentz–Volzrade FA 13 von Pressentin FA 14 von Suckow FA

3,5 lfm 7,3 lfm 1,4 lfm

Einzelperson/Familienverband Einzelperson Familienverband Einzelperson

Depositum/ Rückgabe Depositum

– x x

15 von Zepelin

FA

1,2 lfm

Familienverband



– Depositum Depositum/ LHAS Depositum

16 von Bassewitz auf GA Dalwitz 17 von Bothmer auf GA Bothmer 18 von Ditten, von GA Restorff auf Werle 19 von Eyben, von GA Paepcke auf Lütgenhof 20 von Hahn auf Base- GA dow 21 von Hahn auf Rem- GA plin 22 von Koppelow, von GA Maltzahn, von Plessen auf Ivenack 23 von Maltzan auf GA Penzlin 24 von Oertzen auf GA Leppin 25 von Preen auf Klein GA Dratow 26 von Raven auf Pos- GA telwitz 27 von Rieben auf GA Galenbeck 28 von Schlieffen auf GA Schlieffenberg

1,0 lfm





Sicherstellung

Rückgabe (Depositum) Sicherstellung

13 lfm



x

Sicherstellung

Sicherstellung

1,5 lfm

Einzelperson

x

LHAS

LHAS

14 lfm





Sicherstellung

Sicherstellung

8,4 lfm





Sicherstellung

Sicherstellung

Herzogliches Rentamt 10,8 lfm –



LHAS

LHAS



Sicherstellung

Sicherstellung

8,0 lfm

Familienzweig



Depositum

Rückgabe

4,9 lfm

Familienzweig



Depositum

Depositum

Familienzweig/ Einzelperson 0,15 lfm Familienzweig/ Familienverband 21,7 lfm Familienzweig

x

Depositum

LHAS



LHAS

LHAS



Depositum

Depositum

8,3 lfm



LHAS

LHAS

7 8 9

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2,8 lfm

1,9 lfm

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Siedlungsgesellschaft

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Nach- Eigentum vor trag 1990 – Depositum

Depositum LHAS Depositum (neu) – Rückgabe LHAS Depositum LHAS

Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen

GG GLA HA HStA LHA MGZ NPL Ndr. o. A. o. J. o. O. o. T. Red. StA VfZ VSWG ZAA ZfG ZWLG

Geschichte und Gesellschaft Generallandesarchiv Historische Anthropologie Hauptstaatsarchiv Landeshauptarchiv Militärgeschichtliche Zeitschrift Neue Politische Literatur Nachdruck ohne Autor ohne Jahr ohne Ort ohne Titel Redaktion Staatsarchiv Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk, Literaturwissenschaftlerin, Universität Gdansk Dr. Kathleen Jandausch, Archivarin, Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Abteilung Landesarchiv Dr. Monika Kubrova, Historikerin, Halle/Saale Sophia von Kuenheim, M.A., Historikerin, Doktorandin an der Technischen Universität Dresden Dr. Daniel Kuhn, Historiker, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd Dr. Silke Marburg, Historikerin, Graduiertenkolleg „Geschichte der Sächsischen Landtage“ an der Technischen Universität Dresden Professor Dr. Josef Matzerath, Historiker, Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden Dr. Daniel Menning, Historiker, Fachbereich Geschichte der Universität Tübingen Professor Dr. Alexander von Plato, Historiker, Fernuniversität Hagen Philipp von Samson-Himmelstjerna, M.A., Sprachwissenschaftler, Dozent an der Fakulteit der Letteren, Universität Leiden Professor Dr. Jochen Strobel, Literaturwissenschaftler, Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg

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